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II. Mays literarische Entwicklung

1. Die Frühwerke und die Kolportageromane

In seiner Autobiographie verlegt Karl May seine schriftstellerischen Anfänge in sein sechzehntes Lebensjahr: damals habe er eine "Indianergeschichte" geschrieben und an die "Gartenlaube" eingesandt. Auf die wiederholte Rückforderung des Manuskripts habe er einen "vier Quartseiten lang(en)" Brief Ernst Keils, des Begründers der Zeitschrift, erhalten, "der erste literarische Erfolg, den ich zu verzeichnen habe", Erfolg, obwohl Keil ihm "gewissenhaft alle Missetaten", d.h. die Schwächen der Erzählung vorgehalten habe(1). Der Wahrheitsgehalt dieses Berichts muß angesichts des völligen Fehlens von Zeugnissen ebenso offenbleiben wie die Angabe des Erzählers in "Weihnacht!", er habe ein (höchstwahrscheinlich real in Mays Zwickauer Haftzeit entstandenes) Weihnachtsgedicht in der Schulzeit zu einem Preisausschreiben eingesandt und von der veranstaltenden Zeitschrift den ersten Preis erhalten(2). Während Kompositionen und Gedichtparodien aus Mays Feder für das Jahr 1864 mit Sicherheit nachzuweisen, für 1863 mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermuten sind (3), läßt sich über die erzählerischen Anfänge kaum Sicheres aussagen. Die Datierung in der Autobiographie, er habe in der Zeit nach der Chemnitzer Strafhaft, also1863/64, endgültig damit begonnen, das Kindheitsziel, "Schriftsteller werden, Dichter werden!" zu verwirklichen(4), ist nach den Forschungen Hainer Plauls durchaus glaubhaft, wobei möglicherweise bereits zu diesem frühen


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Zeitpunkt Kontakte zu dem Kolporteur Heinrich Gotthold Münchmeyer bestanden. Dieser war eng mit der Umgebung von Mays Geburtsort Ernstthal verbunden, da seine Frau Pauline, geb. Ey, aus Oberlungwitz, "etwa einen Kilometer südlich von Ernstthal" (5), stammte, und er selbst dort 1860 seinen festen Wohnsitz hatte. 1862 erhielt er im Herbst eine Konzession als "Verlagsbuchhändler" in Dresden. Obwohl es bisher nicht gelang, in den ersten Ausgaben des Verlags Münchmeyer May-Texte zu identifizieren, ist es doch nicht ausgeschlossen, daß May bereits 1863/64, als er sich überwiegend in Ernstthal aufhielt, eine, wenn auch sicherlich bescheidene und finanziell keineswegs hinreichende Publikationsmöglichkeit bei Münchmeyer fand. Er selbst hat 1910 in der Wiener Zeitschrift "Freistatt" (6) (und ähnlich in "Mein Leben und Streben" (7)) behauptet:

Meine ersten Veröffentlichungen erschienen schon im Jahre 1863. Ich schrieb von da an eine ganze Menge Humoresken, erzgebirgische Dorfgeschichten und andere Charaktersachen, welche durch hunderte von Zeitungen gingen.

Diese Angaben erscheinen nicht zuletzt deshalb wahrscheinlich, weil ohne schriftstellerische Tätigkeit Mays nach 1862 das Entstehen des "Repertorium C.May" in der Zwickauer Haftzeit kaum erklärbar wäre.(8) Dieses Heft enthält neben Titeln, Stichwortnotizen, Gattungsangaben und Exzerpten auch einen Werkentwurf: "Mensch und Teufel. Socialer Roman in 6 Bänden." Mit Sicherheit entstand es in der zweiten Hälfte der Zwickauer Strafzeit, sehr wahrscheinlich 1868 (9).


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Nicht nur der große Umfang dieser Liste - 137 fortlaufende Nummern, dazu noch fast 100 weitere Einzel- oder Untertitel -, sondern auch ihre thematische Vielfalt rechtfertigen Mays Einschätzung als eine "Art von Buchhaltung" über seine damaligen schriftstellerischen "Pläne und ihre Ausführung" (10) . Zwar ist die überwiegende Mehrzahl der Titel dem Bereich der Humoresken oder Erzgebirgischen Dorfgeschichten zuzuordnen (z.B. Nr."79.) Im alten Neste. Aus dem Leben kleiner Städte." mit 62 einzelnen Untertiteln); daneben finden sich aber auch exotische und fremdsprachige Stichworte ebenso wie populärwissenschaftliche Exzerpte, wobei ein größerer Komplex mit Notizen zu historischen Themen auffällt. Hier wird, bezeichnenderweise unter dem Gegensatztitel "Romane und Germane", eine ganze Reihe der damals namhaftesten Historiker wie Ranke, Droysen oder Sybel genannt und jeweils mit kurzen Kommentaren charakterisiert.

Die Titel zeigen, daß May bereits ein gutes Gespür für publikumswirksame, plastische Themen hatte; die manchen Überschriften beigefügten Textbruchstücke weisen auf konkrete Schreibvorstellungen hin (11) Die Tatsache, daß mehrfach wesentliche Stichworte des späteren Werks in diesem Repertorium auftauchen, besonders deutlich in dem Entwurf "Mensch und Teufel", bestätigt im Prinzip, bei allen Einwänden im einzelnen, Mays spätere Aussage, er habe diese Pläne, "welche damals in mir entstanden, [...], festgehalten und befolgt [...] bis auf den heutigen Tag." (12)

Hervorzuheben an den Zeugnissen aus Mays Zwickauer Gefängniszeit sind vor allem zwei Gesichtspunkte: zum


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einen der tastende, experimentierende Umgang mit Themen und sprachlichen Mitteln, gepaart mit einer großen Offenheit gegenüber möglichen Sujets, wobei May allerdings primär bei den ihm zunächstliegenden Erfahrungen (Leben in Hohenstein-Ernstthal, Gefängnissituation) ansetzte und weitergehende Aspekte nur als Titelstichworte oder als Exzerpthinweise festhielt; zum anderen aber verblüffen der große Ernst und die Zielstrebigkeit, mit denen hier ein noch völlig unbekannter und wohl auch unerfahrener Autor versuchte, Grundlagen für seinen künftigen Beruf zu schaffen. Nachdem durch die Vorstrafen der Weg zurück in die Schule versperrt war, mußte er sich neu orientieren, und er war offenbar fest entschlossen, Schriftsteller zu werden. Daß er ein derart umfangreiches Verzeichnis konzipierte, ohne bereits erste schriftstellerische Versuche unternommen zu haben, erscheint recht unwahrscheinlich, zumal das "Repertorium" erkennen läßt, daß sein Verfasser ansatzweise auch die Verwertungsmöglichkeiten seiner Entwürfe bei der Schreibstrategie berücksichtigte. Darauf verweist neben fast plagiatorischen Angaben wie "Nr.74.) In der Rockenstube. Erzählungskalender nach Horns Spinnstube. Populärer Styl." auch die Neigung, Erzählungen von vornherein im Rahmen eines Zyklus zu planen, wobei daran zu erinnern ist, daß auch die ersten bekannten Publikationen Mays aus dem Jahre 1875 diese Tendenz zur Reihenbildung aufweisen (13). Es mag sein, wie Hainer Plaul vermutet, daß May durch die günstigen Haftbedingungen in Zwickau "die Zukunft


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attraktiver" eingeschätzt hatte, als die realen Möglichkeiten waren, die der Verlag Münchmeyer dem jungen Autor bot (14). Damit war der Rückfall in die Kriminalität trotz der günstigen Prognose der Anstaltsleitung unvermeidlich. Aber May hatte nun ein solides Fundament, auf dem er beim zweiten, erfolgreicheren Anlauf nach der Entlassung aus dem Zuchthaus Waldheim 1874 aufbauen konnte.

Hainer Plaul hat ausführlich und gründlich die Ursachen dargelegt, warum dieser erneute Versuch endgültig den erhofften Erfolg brachte (15). Neben den durch eine steigende Nachfrage bedingten technischen Neuerungen und einer dadurch bedingten Produktionsausweitung nennt er vor allem das "Reichspreßgesetz" vom 7.5.1874 als Grund für den "volle[n] Durchbruch kapitalistischer Produktions- und Verbreitungsmethoden" auf dem Literaturmarkt. Dieses Gesetz führte unmittelbar zu einem "neuen Aufschwung in der Produktion von Unterhaltungs- und Trivialliteratur", zusätzlich begünstigt durch die Vergrößerung des "lesefähige[n] Publikum[s]" und durch die Entstehung der großen Ballungsgebiete in der zweiten Jahrhunderthälfte.

Die gerade 1874 zu beobachtende, "außerordentlich starke Vermehrung der periodischen Zeitschriften" bot auch den Autoren verbesserte Absatzmöglichkeiten. Das neugestaltete Urheberrechtsgesetz vom 11.6.1870 erleichterte es, die literarischen Verdienstmöglichkeiten wahrzunehmen und finanziell abzusichern (16).


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May nützte die Gunst der Stunde und arbeitete in den nächsten Jahren zielstrebig an seinen schriftstellerischen Ausdrucksmöglichkeiten. Dabei legte er, was sich schon im "Repertorium" abzeichnete, den Gattungsschwerpunkt sehr deutlich auf die "Erzgebirgischen Dorgeschichten", einmal, weil Münchmeyers Zeitschriften in dieser Zeit vom Verlagsort Dresden aus vor allem im Erzgebirge und in Sachsen vertrieben wurden, zum anderen aber auch, weil er hier an die eigenen, konkreten Erfahrungen in der Kleinstadt Ernstthal anknüpfen konnte. Nur zögernd und vorsichtig tastete er nach exotischen Sujets, ohne schon deutliche geographische Schwerpunkte zu setzen. Der Titel "Aus allen Zeiten und Zonen" kennzeichnet treffend Mays quantitativ immer mehr anschwellende Produktion (17). Vermitteln die für Münchmeyer geschriebenen "Erstlingswerke" thematisch noch sehr stark den Eindruck, von Zufälligkeiten der Verlagsplanung bestimmt zu sein, so bilden die Erzählungen in den "Frohen Stunden" (Verlag Radelli, Dresden, 1877 f.) bereits sehr deutlich grundlegende Strukturen des späteren Werks aus, so daß sie auch schon als "Programm der zukünftigen Reiseerzählungen" (18) bezeichnet wurden. Die Berechtigung dieser Einschätzung ergibt sich nicht zuletzt daraus, daß May später fast alle diese Werke stark erweiterte und in umgearbeiteter Form im "Deutschen Hausschatz" oder in den "Gesammelten Reiseerzählungen" publizierte, wobei bei einzelnen Texten sogar noch weitere Fassungen (Zwischenstufen) existieren (19).


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Die nach heutigem Informationsstand sicher als erste veröffentlichten Erzählungen Mays zeigen noch deutliche Schwächen in kompositorischer und sprachlicher Hinsicht: in "Wanda" sind die verschiedenen Handlungsstränge nur ungenügend verflochten und die Geschehensabläufe kaum stimmig durchgeführt (20). Gleichzeitig werden hier und noch stärker in "Die Rose von Ernstthal"

die sprachlichen Mittel derart hyperbolisch gebraucht, daß an zahlreichen Stellen unfreiwillige Komik entsteht.

"Die Rose von Ernstthal" (21) allerdings zeigt im Aufbau bereits den Willen zu einem durchgehaltenen Zeitgerüst, das die einzelnen, durch römische Ziffern ohne Überschriften bezeichneten Abschnitte Jahres- bzw. Tageszeiten zuordnet:

I:JuliMorgen
II: JuliMittag
III: SommerAbend
IV: HerbstGanzer Tag
V: WinterMehrere Tage

Die sich überlagernden Jahres- und Tageszeiten, verbunden mit der Ausweitung der Handlungszeit der einzelnen Abschnitte, werden in der Erzählung zur metaphorischen Deutung und Uberhöhung der Handlung verwendet; etwa, wenn die einleitenden Erzählerreflexionen des IV. Teils - Herbstgedanken - "schon beim Morgengrauen die Mutter begrüßt und in den Garten begleitet hatten" (R Waldkönig, S. 229). Am Ende wird die im Titel vorgegebene Blumenmetaphorik mit der symbolischen Bedeutung der


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Jahreszeit verknüpft, wenn der scheinbare Schmiedegeselle Richard Goldschmidt (in Wirklichkeit Rittmeister von Göbern) sagt:

Herr Doktor und Kamerad, ich habe die herzliche Freude, Euch hier die Rose von Ernstthal vorzustellen, welche ich unter duftenden Erdbeeren fand und jetzt zur Winterszeit in meinen Garten versetzen möchte, damit sie da geschützt vor rauhen Stürmen sei und blühen könne, mir zum Glücke und denEltern zur Freude. (R Waldkönig, S. 238)

Trotz dieser und anderer Ansätze, einen festen Rahmen dem Aufbau des Textes zugrundezulegen, sind die meisten der frühen Erzählungen episodenhaft; entweder bestehen sie nur aus einer einzigen Episode oder sie reihen einzelne Erzählkerne aneinander, ohne die Handlungsstränge miteinander zu verknüpfen. Ebenso zeigen die bereits genannten sprachlichen Obertreibungen (Adjektivhäufung, hyperbolische Metaphorik, disparate Sprachebenen) die große stilistische Unsicherheit des Anfängers.

Die Textgeschichte dieser Frühwerke zeigt jedoch, daß May sich schon sehr bald bemühte, bei Nachdrucken

sprachliche und inhaltliche Korrekturen vorzunehmen.

Diese ersten Bearbeitungsvorgänge behalten in der Regel den Handlungsablauf und (in etwa) den Umfang des Erstdrucks bei, korrigieren aber sprachliche Schwächen,Druck- und Orthographiefehler, ergänzen Fehlendes und verbessern unklare Passagen:

Die neue Version ist dem Autor wesentlich flüssiger und ausgereifter geraten. Der Handlungsablauf ist straffer und logischer aufgebaut als bei der "Verhängnisvollen Neujahrsnacht"II.(22)

Daneben finden sich aber auch schon teilweise umfangreiche Erweiterungen der Handlung und der Darstellungs-


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weise: "Ein Stücklein vom alten Dessauer", 1875 erstmals erschienen, wird in der Neufassung (unter dem Titel "Ein Pflaumendieb") 1879

durch die Aufnahme eines zusätzlichen, in sich geschlossenen Handlungsteils zu einer verhältnismäßig umfangreichen neuen Erzählung erweitert. (23)

Darüber hinaus beginnt May schon sehr bald, Einzelmotive aus Erzählungen in andere zu übernehmen, nicht zuletzt aufgrund des ökonomischen Zwangs, möglichst viel Text zu liefern, um ohne feste Redakteursstellung den Lebensunterhalt zu verdienen. Die Überarbeitung bzw. Neufassung mancher Erzählungen hat ebenfalls einen ökonomischen Hintergrund: bei den Verlagen sollte der Eindruck entstehen, das Werk sei noch unpubliziert. Dazu mußte eine handschriftliche Druckvorlage geliefert werden. Der Text war also noch einmal abzuschreiben, was in der Regel zu einer veränderten Fassung führte.(23a) Die Übernahme von Druckfehlern läßt allerdings teilweise erkennen, daß Nachdrucke im Fall Mays auch nach den Erstdrucken gesetzt wurden. Neben die Erzählungen tritt in Mays Werk schon sehr bald die Romanproduktion, anfangs bedingt durch momentane Manuskriptengpässe des Münchmeyerschen Verlags. Die vier frühen Romane - ein "Historischer Roman" (24), ein "Criminalroman" (25), und zwei umfangreiche "Original-Roman(e)" (26) - sind in der Handlungsführung wenig gegliedert und sprachlich ähnlich disparat gestaltet wie manche der frühen Erzählungen: durch den Titel ausgelöste Erwartungen werden nicht erfüllt, Handlungsstränge werden vorzeitig abgebrochen oder nur angekündigt, sprachliche Ubertreibungen ersetzen eine präzise Darstellung:


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[Sie] sind ein Konglomerat aus Familien- und Gesellschaftsroman, sozialkritischem Traktat, Seemanns- und Piratengeschichte, Humoreske und Groteske, exotischer Abenteuererzählung, angereichert mit einer düster-romantischen Zigeunerfabel bzw. mit einer handfesten Kriminalstory und mit bewegenden Liebesschicksalen Karl Ma als "all-round"-Dichter. Hoffnungslos überfordert. (27)

Weitaus stärker als die gleichzeitig entstandenen kürzeren Erzählungen weisen sie alle wichtigen Merkmale der Kolportage-Literatur auf:

häufiger Szenenwechsel, ein bestimmtes, zahlenmäßig noch überschaubares Figurenarsenal, eine bis zur Unübersichtlichkeit gesteigerte Stoffülle, die kaum noch das eigentliche Handlungsgerüst erkennen läßt, und viele Teilhandlungen, die immer wieder unterbrochen, dann erneut aufgenommen und fortgesetzt werden. (28)

Damit zeigt sich Mays frühe Entwicklung als zwiespältig. Auf der einen Seite ist das deutliche Bemühen erkennbar, Stil, Handlungsaufbau und Sprachgestaltung seiner Erzählungen zu verbessern. May schreibt sich frei von literarischen Vorbildern, er gewinnt mehr und mehr eine eigene Sprache und bemüht sich darum, verstärkt realistisch-soziale Bezüge in seine Handlungsentwürfe zu integrieren. (29) Andererseits weisen, wie bereits angedeutet, die frühen Romane alle Merkmale der Kolportageliteratur auf. Es ist verständlich, daß eine präzise Durchformung dieser Werke bei Mays geringer schriftstellerischer Erfahrung nicht zu erwarten ist; allein das Schreibquantum, das von ihm in diesen Jahren - zudem unter stetem Zeitdruck - bewältigt wurde, ist erstaunlich, so daß keine Zeit blieb, Handlungskonzepte exakt zu entwerfen, Textpartien in den Details durchzuarbeiten und auf sprachliche Genauigkeit und stilistische Angemessenheit zu achten.


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Die Wende schien sich 1879 im Angebot des Verlags Pustet, Regensburg, anzudeuten, er werde alle von May angebotenen Manuskripte sofort prüfen und das Honorar nach Annahme überweisen. Zwar war das vom "Deutschen Hausschatz", dem katholischen Familienblatt des Verlags, gezahlte Honorar relativ gering, aber es bot May doch die Sicherheit, seine Arbeiten schnell verkaufen zu können, ohne sie erst bei den verschiedensten Verlagen mit hohem Unkostenaufwand herumreichen zu müssen. Zudem schrieb Venanz Müller, der Schriftleiter des "Hausschatz", noch im Jahr des ersten Kontakts: "Ich bitte Sie freundlichst, mir alle Ihre Geistesprodukte nach deren Vollendung sofort senden zu wollen" (30). Damit schien die Möglichkeit geboten, ohne feste Anstellung allein von der schriftstellerischen Arbeit zu leben. Der Auftrieb, den May durch diese literarische Verbindung erhielt, äußerte sich sowohl biographisch wie in seinem Werk.

Der "Umstand, daß alle meine Manuskripte vorausbestellt waren und sicher an- und aufgenommen wurden" (31) , ermöglichte ihm die Eheschließung mit Emma Pollmer im Spätsommer 1880.

Gleichzeitig vollzieht sich nun ein deutlicher Um

bruch in seiner schriftstellerischen Entwicklung. Er verwendet die frühen Erzählungen als Rohmaterial, aus dem er durch Erweiterung der Handlung und sprachliche Neuformung die ersten Erzählungen für den "Hausschatz" gestaltet:

"Unter Würgern" [...] ist ein augenfälliges Beispiel für die Entwicklung, die Mays schriftstellerische Fähigkeiten innerhalb kurzer Zeit genommen haben: schon zwei Jahre nach der Veröffentlichung des


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Vorläufers "Die Gum" im Jahre 1877 in den "Frohen Stunden" von Bruno Radelli, Dresden, ist aus der hart, relativ farblos und knapp ausgeführten Novelle eine wesentlich umgestaltete und spannender geschilderte, ausgereifte, ins Detail gehende Erzählung geworden.[...] Aus der kurzen Geschichte, die nur zwei Episoden enthält, miteinander lose verknüpft durch die Person des vom "Ich"-Erzähler vom Tod geretteten Anführers der Wüstenräuber, hat May für den "Deutschen Hausschatz" eine erheblich erweiterte, vier Kapitel umfassende Abenteuererzählung mit kriminalistischem Einschlag gestaltet. (32)

Zwar weisen auch diese Fassungen noch inhaltliche Schwächen und sprachliche Mängel auf, aber sie sind "schon phantasievoller, gekonnter gestaltet, als die harten, knappen Schilderungen seiner 'archaischen' Periode" (33). Zudem beschränkt sich May nicht auf die Erweiterung der Vorlagen, sondern er verknüpft Motive aus mehreren seiner frühen Erzählungen zu neuen Handlungsstrukturen. (34) Mehr und mehr bildet er nun ein Handlungs- und Stilrepertoire aus, das in seinen Grundzügen für sein Werk bis etwa 1900 bestimmend bleiben wird. (35)

Aus dem passiv-beobachtenden Ich-Erzähler der ersten Münchmeyer-Zeit wird allmählich der auf sich allein gestellte, in allen Sätteln gerechte und in allen Erdteilen erfolgreiche 'Vielgereiste'. Bereits die ersten beiden "Hausschatz"-Erzählungen, "Three carde monte" und "Unter Würgern" (1879), spielen an den beiden Hauptschauplätzen der späteren Reiseerzählungen, in Nordamerika, bzw. in den arabisch bestimmten Teilen des Orients und Nordafrikas, während der folgende Jahrgang (1879 f.) Erzählungen "aus allen Zeiten und Zonen", fast durchweg aus dem Handlungsund Motivrepertoire der Frühwerke in "Frohe Stunden", enthält und damit die Weltläuferpose fortsetzt, durch die


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"Unter Würgern" eingeleitet worden war:

Ich hatte in Australien den Emu und das Känguruh, in Bengalen den Tiger und in den Prairien der Vereinigten Staaten den Grizzly und den Bison gejagt. Drüben im "far west" habe ich einen Mann getroffen, der sich ebenso wie ich aus reiner Abenteuerlust ganz allein in die "finstern und blutigen Gründe" des Indianergebiets gewagt hatte und mir bei allen Fährlichkeiten ein treuer Freund und Maat geblieben war. (36)

Besonders fallen die Erzählungen mit mehreren Schauplätzen auf; sie zeigen nicht nur in der kriminalistischen Handlungsstruktur, sondern auch durch die vielfältigen Ortswechsel Berührungspunkte zu den frühen Romanen und den Kolportageromanen für Münchmeyer (37). Mays "kleinere Hausschatz-Erzählungen" (38) schließen mit dem VIII.Jahrgang(1881/82). Inzwischen hatte er mit "Giölgeda padishanün" einen umfangreichen Orient-/Balkan-Roman begonnen, der in den folgenden Jahren - wenn auch mit sehr stockender Erscheinungsweise - der einzige May-Beitrag für die katholische Zeitschrift blieb (39). Der Grund dafür, daß von 1882-1887 zwei Jahrgänge ganz ohne May-Text blieben und in den anderen die Fortsetzungen nur lückenhaft erscheinen konnten, lag in Mays erneuerter Beziehung zum Verleger Münchmeyer, aus dessen Firma er 1876 im Groll ausgeschieden war, weil er (zur Festigung des Bundes Schriftsteller-Verleger) mit Münchmeyers Schwägerin Minna Ey verheiratet werden sollte (40).

Der Kolportageverleger brachte May dazu, erneut für seinen Verlag zu schreiben, diesmal allerdings nicht als Redakteur; er erhoffte sich vielmehr einen Kolportageroman mit einer - nach Mays späterer Aussage - Auflage von 20.000 Exemplaren(41). Für den Verleger wie für den Autor


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waren primär wirtschaftliche Gründe dafür ausschlaggebend, daß es zu einer erneuten Zusammenarbeit kam: Münchmeyer steckte - angeblich - in Absatzschwierigkeiten, und Mays Einkünfte vom "Deutschen Hausschatz" und anderen Zeitschriften hatten sich in den Jahren seit 1879 als nicht ausreichend erwiesen, um einen angemessenen Lebensstandard zu gewährleisten. Gerade wegen seines großen Fleißes hatte er Mühe, seine Werke bei Zeitschriften unterzubringen; die Publikationsmöglichkeiten hielten nicht Schritt mit der Quantität seiner Produktion(42). Seine Absicht, mit Emma aus Hohenstein nach Dresden, in die Großstadt, überzusiedeln, erforderte ein gesichertes, zumindest über das ganze Jahr hin kalkulierbares Einkommen.

Aus dem einen Roman für Münchmeyer wurden im Lauf der folgenden Jahre fünf; eine derart umfangreiche Textproduktion, daß May kaum noch Zeit blieb, seine anderen Verlagsverbindungen zu pflegen. Er schrieb in der Folgezeit, innerhalb von fünf Jahren(1882-1887), zehntausende von Manuskriptseiten für die Kolportage. Sie

verderben ihm die Hand, und nicht nur die Hand: bringen ihm eine heillose Geläufigkeit ein und zögern seine ohnehin sehr späte Entwicklung zur Literatur um weitere Jahre hinaus.(43)

Leider ist aus dieser Zeit selbst kaum authentisches biographisches Material erhalten; die späteren Selbstaussagen über diese Epoche sind durchaus mit Vorsicht zu betrachten, da die negativen Erfahrungen mit der Firma Münchmeyer nach dem Tod des Inhabers Heinrich Gotthold 1892 und vor allem dann nach dem Verkauf der Firma 1899 auch Mays Urteil über seine Kolportagejahre tiefgreifend veränderte. Während er noch 1894 Teile aus dem


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ersten Lieferungsroman, "Das Waldröschen", ohne größere Änderungen in die "Gesammelten Reiseromane" übernahm und damit seinem autorisierten Oeuvre einfügte ("Old Surehand" II), sah er nach 1900 diese Zeit und ihre Produkte im düstersten Licht: "Also diese Romane sind Fälschungen, sind unsittlich, sind Gift. Ich warne!" (44)

Einen sechsten Roman für Münchmeyer brach May nach "70-80 Seiten" des Manuskripts ab und trennte sich damit von der Kolportageproduktion(45). Erleichtert wurde ihm der literarische Neubeginn durch den Stuttgarter Verleger Wilhelm Spemann. Dieser plante 1886 eine neue Jugendzeitschrift, deren ursprünglicher Titel "Gaudeamus" noch vor Erscheinen des ersten Hefts in "Der gute Kamerad" abgeändert wurde(46).

Am 7.Januar 1887 übersandte Spemann an May "die erste Nummer der neuen Knabenzeitschrift" (47); sie wurde eröffnet durch Mays Erzählung "Der Sohn des Bärenjägers". Da der Roman bei den Lesern "allseitig Anklang" fand und auch die Redaktion dem Autor mitteilte, "daß die eigenartige Frische und Lustigkeit Ihres Stils uns ganz außerordentlich zusagt" (48), fragte sie für den zweiten Jahrgang ebenfalls bei May an, "ob Sie nicht etwas Ähnliches in petto hätten, oder uns mit sonstigen Vorschlägen an die Hand gehen könnten."(49) . Bis 1894 folgten im "Guten Kameraden" fünf weitere Fortsetzungsromane aus Mays Feder; von 1890 an erschienen sie nach und nach auch im Union-Verlag, einem Zusammenschluß, in den Spemann seinen Verlag eingebracht hatte, als Buchausgaben.


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Den Nachzügler in dieser Reihe bildete "Der schwarze Mustang"; 1896/97 in der Zeitschrift erschienen, eröffnete er 1899 als "Band l" eine neugegründete Buchreihe, die "Kamerad-Bibliothek", Zeichen der Wertschätzung von Mays Werk durch den Verlag (50).

Spemann bot May schon sehr bald einen festen Kontrakt. Durch diesen Vertrag vom 1.Dezember 1888 erhielt der Verlag "ein Vorrecht auf eine große Reihe noch nicht geschriebener Romane unter dem Sammeltitel "Ein Weltläufer", aber er hat diesen Vertrag nicht ausgenützt." (51) Das lag vor allem daran, daß May sich nun auch verstärkt wieder dem "Deutschen Hausschatz" zuwandte:

[ ... ] der Dürre [folgte] eine Überschwemmung. Von Januar bis September 1888 muß [Venanz] Müller May-Text im Umfang von mehr als 1315 Fehsenfeldseiten unterbringen, d.h. mehr als die Hälfte des Inhalts der betreffenden Hefte stammt von May. (52)

Er lieferte nach dem Abschluß der großen Orientserie (1888) und nach der "Winnetou"-Vorstufe "Der Scout" (1888 f.) eine Reihe umfangreicher "Reiseerzählungen", die alle jeweils über zwei oder mehr Jahre fortgesetzt wurden. Diese beiden Werkgruppen, "Jugenderzählungen" im "Guten Kamerad" und "Reiseerzählungen" im "Deutschen Hausschatz", gilt es, gesondert zu betrachten, da sich bei beiden unterschiedliche Entwicklungen in Mays Erzähltechnik abzeichnen; Sprache und Erzählstruktur werden vom Autor bewußt auf die jeweilige Zielgruppe abgestimmt.


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2. Die Jugenderzählungen

In den Erzählungen für die Jugendzeitschrift "Der gute Kamerad", bestimmt für Jungen des gehobenen Bürgertums, erzählt May aus der auktorialen Perspektive: nicht Old Shatterhand berichtet in der Ich-Form über selbsterlebte Abenteuer, sondern ein neutral berichtender Erzähler gibt Ereignisse wieder, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten spielen. Zudem treten Old Shatterhand und Winnetou nur in vier der "Kamerad"-Erzählungen auf, während die Position des überlegenen Helden in den anderen durch nur im jeweiligen Werk vorkommende Figuren besetzt wird(53) . Neben die Protagonisten tritt, ausgeprägter als in den gleichzeitig entstehenden "Hausschatz"-Erzählungen, eine ganze Reihe von Personen mit unterschiedlicher Funktion. Sie alle ziehen das Interesse des jugendlichen Lesers von den zentralen Helden ab und ermöglichen eine große Vielfalt der Erzähltechnik.

Besonders deutlich wird diese, nicht ohne "pädagogische List" (54) verfolgte Erzählstrategie an den im Wilden Westen spielenden Texten, so daß diese im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen sollen.

Weitgehend gleichberechtigt neben Old Shatterhand und Winnetou treten die verschiedenen Westmänner. Durch die auktoriale Erzählhaltung können sie selbständig, ohne Bindung an einen Ich-Erzähler, auftreten und immer wieder ihre Tüchtigkeit beweisen. Ihre Gesellschaft stellt sich dar als loser Bund gleichberechtigter Mitglieder; alle kennen sich gegenseitig, wenn nicht persönlich,


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so doch vom Hörensagen. Nicht selten haben sie ein schweres Schicksal hinter sich, Anlaß ihres Aufenthalts in der Wildnis und zugleich für den Erzähler die Gelegenheit, durch die Figuren vorgetragene Binnenerzählungenin den Erzählablauf einzuflechten. Sie unterbrechen, ergänzen oder kommentieren das Geschehen; der Leser erfährt die Vorgeschichte nicht nur der Agierenden, sondern meist auchder gerade in Gang befindlichen Aktion. Durch diese Möglichkeit der indirekten Information erweitert May sein erzählerisches Repertoire, da er nun den Erzählbericht sprachlich differenzieren und je nach Sprecher unterschiedlich akzentuieren kann (ernst/komisch, knapp/weitschweifig etc.). Zudem ergänzen oder präzisieren die jeweiligen Zuhörer diese Binnenerzählungen aufgrund eigener Erfahrungen: selbst Geschehnisse, an denen keiner der Anwesenden beteiligt war, fließen über die Wiedergabe von Berichten Dritter in die Handlung ein. Die räumlichen und zeitlichen Begrenzungen des Erzählten werden hier weit stärker ausgedehnt als in den parallelen "Hausschatz"-Erzählungen, wo die Aktion des Ich-Erzählers im Mittelpunkt steht, und zusätzliche, längere Rückblenden besonders auffallen(55). Die Handlungsinformationen werden überwiegend im Dialog vermittelt, lebendiger und anschaulicher, als es durch reinen Erzählerbericht möglich wäre.

Neben die Westmänner treten in fast allen "Kamerad"-Erzählungen jugendliche Identifikationsfiguren, meist ein Weißer und ein Angehöriger einer anderen Rasse. Sie haben in der Regel trotz ihrer Jugend bereits umfangreiche


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Kenntnisse erworben und werden in verschiedenen Bewährungssituationen geschildert. Damit tragen sie vor allem "die didaktische Grundkonzeption" (56) : "Von der Ferne in die Nähe, vom exotischen Traum zu besonnener Leistung, vom Abenteuer zur Arbeit." (57) .

Eine weitere Gruppe bilden Figuren, die durch ihre Sprachverwendung Komik auslösen. In der ersten Jugenderzählung, "Die Helden des Westens" (so der Titel der Buchausgabe), hat der Hobble-Frank diese Form der 'Bildungs-Komik' allein zu tragen; er erweist sich als sprudelnde, unerschöpfliche Quelle von Kalauern, falschem Fremdwortgebrauch und fehlerhaft wiedergegebenen Dichterzitaten. Seine Umgebung korrigiert ihn oft und ruft dadurch immer wieder zornige Belehrungen hervor, die dem falschen Wortgebrauch überraschenderweise doch noch eine in sich stimmige, wenn auch in der Sache falsche Erklärung abgewinnen.(58)

Die pädagogisch durchdachte Zielsetzung dieser Chargen wird noch deutlicher in den folgenden Romanen: hier zeigt May gerade die komischen Figuren als in Wirklichkeit tüchtige, beruflich erfolgreiche Personen. Zugleich vermitteln sie Wissensstoff, geschickt in das Geschehen integriert. Dadurch wird die belehrende Absicht überspielt und ein möglicher Abwehrreflex des lernmüden jugendlichen Lesers von vornherein ausgeschaltet. Heinz Stolte hat in seiner Analyse der "Sklavenkarawane" die pädagogische Technik Mays treffend herausgearbeitet: durch große Genauigkeit in der Detailwiedergabe, Präzision


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der Angaben und den leitmotivischen Einsatz bestimmter Themenbereiche erreicht May große Anschaulichkeit und zugleich eine geschickte Strukturierung der Erzählung.(59)

Eine weitere Gruppe, eher am Rande des Abenteuergeschehens stehend, läßt sich dem 'Dienstleistungsbreich' zuordnen: Buchhalter, Kaufleute, Ingenieure Bankiers etc. Sie agieren zwar nicht auf der gleichen Handlungsebene wie die Westmänner, teilen mit ihnen aber den Handlungsraum, treten teilweise als ihre Helfer in Erscheinung, und verknüpfen dadurch Wildnis und Zivilisation (60).

Die letzte Gruppe der Weißen, die Verbrecher, ist weder sozial noch räumlich verwurzelt, darin negatives Bild der Westmänner. Ihr wesentlichstes Kennzeichen, die ständige Ortsveränderung, ergibt sich aus dem Streben nach Beute ebenso wie aus ihrer Vorgeschichte. Aufgrund ihrer früheren Verbrechen sind sie genötigt, immer neue Räume aufzusuchen, wo man sie noch nicht kennt, und immer neue Identitäten anzunehmen bzw. Verkleidungen anzulegen. Im Hier und Jetzt der jeweiligen Erzählung findensie in der Regel ihre Strafe (61).

Der Vergleich mit Mays vorhergehenden Wildwest-Erzählungen zeigt nicht nur eine differenziertere Personenzeichnung und eine pädagogisch ausgerichtete Informationsvermittlung innerhalb des Handlungsablaufs, sondern auch ein ganz neues schriftstellerisches Bemühen um die Erzählstruktur.

In den Jugenderzählungen gelingt May eine Synthese aus der verwirrenden und auch vom Erzähler kaum bewältigten Handlungs- und Personenvielfalt der Lieferungsromane


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und der einsträngig reihenden Episodenstruktur der frühen Erzählungen. "Giölgeda padishanün", das einzige größere nicht für die Kolportage bestimmte Werk der Münchmeyer-Jahre, reihte fast ausschließlich Einzelepisoden an einem Erzählstrang, eine formale Gestaltung, die schon durch die von der Abfolge der Reisestationen bestimmte Ich-Erzählung zwingend nahegelegt wird, und setzte damit nur die Technik der Frühwerke fort.

Im Gegensatz dazu zeigen die ersten beiden "Kamerad"Erzählungen einen geradezu experimentellen Charakter: hier reihen sich nicht, wie in "Giölgeda", Einzelepisoden geographisch bestimmt aneinander, sondern May verflicht mehrere Erzählstränge und läßt die Ereignisse konzentrisch auf einen Punkt zulaufen. Dies gilt für "Der Sohn des Bärenjägers" ebenso wie für "Der Geist des Llano estacado", wo, wie Helmut Schmiedt detailliert

nachgewiesen hat, ein höchst artifizielles "Spiel mit Räumen" und Handlungszeiten vorliegt (62).

Die Handlung setzt mehrfach an verschiedenen Punkten rings um die Llano-Wüste ein; unterschiedliche Gruppen brechen am Rand der Wüste auf, um sie zu durchqueren. Ohne daß der Leser und die Figuren es zunächst wissen, ist der Zielpunkt ihrer Bewegung eine Oase, das "Geisternest" des Bloody-Fox, von dem aus er als "AvengingGhost" auszieht, um verschmachtende Reisende zu retten und die Verbrecher der Wüste, die "Stakemen", durch einen Schuß mitten in die Stirn zu strafen. Die aus verschiedenen Richtungen konzentrisch auf den "locus amoenus" zulaufenden Bewegungen beschleunigen sich im letzten Kapitel: immer schneller springt die Perspektive des Erzählers von der einen zur anderen Gruppe und zeichnet damit die wachsende Erregung und Spannung des Lesers vor. Neben diese Großstruktur des Romans treten zahlreiche Querbezüge innerhalb der einzelnen Kapitel und auch zwischen ihnen, so daß beispielsweise die Ereignisse im ersten Kapitel (=Kap.1/2 der Buchausgabe) und die im vierten Kapitel (=Kap.8 der Buchausgabe)


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"bei letztlich weitgehend analoge(n) Ereignisse(n) an der Oberfläche einen ganz unterschiedlichen Verlauf nehmen"(63). Die Differenz zwischen den beiden Kapiteln"spiegelt sich noch in kleinen Sequenzen" ebenso wie die Übereinstimmungen. Wesentlich erscheint auch, daß May die Kapitel in sich geschlossen gestaltet, indem jeweils das Ende wieder Bezug nimmt auf den Anfang des Geschehens.(64)

Nicht nur die Raumdarstellung, sondern auch die Zeitstruktur läuft auf einen konzentrischen Punkt zu. Alle vier Großabschnitte enden in der gleichen Nacht, während das letzte Kapitel in der Frühe des folgenden Tages beginnt, an dem die unterschiedlichen Gruppen sich zum Kampf gegen die verbrecherischen Llano-Geier vereinigen. Deren Überfall erfolgt gegen Morgen, so daß ihre Verfolgung nach Tagesanbruch in der Oase des Bloody-Fox endet. Dort wird nicht nur der Mord an den Eltern des Bloody-Fox aufgeklärt und gerächt (65), sondern auch die Negerin Sanna findet ihren "verlorenen Sohn" Bob wieder, dessen Verlust - er wurde ihr als Sklavenkind entrissen und verkauft - sie zu Beginn des Kapitels beklagte.

Die folgende Erzählung für den "Guten Kamerad" (1888 f.), "Kong-Kheou, das Ehrenwort" (Buchausgabe u.d.T. "Der blau-rote Methusalem"), zeigt schon allein durch den Handlungsraum China eine Sonderstellung im Werk. Hier und in der folgenden "Sklavenkarawane" tritt das pädagogisch-belehrende Element besonders stark in den Vordergrund; zahlreiche geographische und naturwissenschaftliche Informationen sind in den Handlungsablauf verflochten. May findet nun endgültig (nach den beiden eher experimentierenden Erstlingen) die geeignete Großform für seine Jugenderzählungen: der in mehreren


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parallelen Erzählsträngen verlaufenden Abenteuerhandlung wird ein weiteres, zur damaligen Zeit hochaktuelles Erzählmuster unterlegt, nämlich das der Forschungsreise. Das Abenteuer wird auf vielfache Weise mit dem wissenschaftlichen Interesse der Reisenden verbunden.

Erzähltechnisch zweifellos am schwächsten sind die beiden letzten "Kamerad"-Erzählungen, "Der Ölprinz" und "Der schwarze Mustang" (66). Bezeichnenderweise entstanden beide erst nach längeren Pausen; beim "Schwarzen Mustang" mußte May sogar im Herbst 1895 das im Frühjahr geschriebene Manuskript vom Verlag zurückfordern, weil er den Faden verloren hatte und deshalb den Text nicht vollenden konnte (67) .

Die weitgehende Reproduktion bereits verwendeter Motive und Erzählelemente gleicht die Struktur dieser beiden Werke der der "Hausschatz"-Erzählungen an: die Reihung von Abenteuer-Episoden tritt vollständig in den Vordergrund auf Kosten der pädagogischen Zielsetzung und der formalen Durchgestaltung.

Neben den Schwächen im Aufbau läßt sich hier auch eine sprachliche Nivellierung beobachten. An die Stelle der individuellen, in jedem Roman jeweils differenziert dargestellten Figuren treten nun Wiederholungen von bereits mehrfach erprobten Mitteln, wobei man manchmal die Unlust Mays an parodistisch anmutenden Einzelzügen zu erkennen glaubt. (68) Die Sprachkomik des Hobble-Frank wirkt verbraucht und blaß; seine Tiraden sind auch umfangmäßig geringer als


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in den beiden vorhergehenden Bänden, in denen er auftritt.

Ganz offensichtlich hat May, zur Zeit der Entstehung des "Ölprinz" intensiv damit beschäftigt, für den Verleger Fehsenfeld "Winnetou", Band I, zu schreiben, die Erzählung für Spemann mit nur geringem Engagement und wenig artistischem Einsatz geschrieben. Sein literarisches Interesse lag inzwischen nicht mehr bei den Jugenderzählungen, sondern bei der durch die 'grünen Bände' der Fehsenfeld-Ausgabe eröffneten Aussicht, zum anerkannten Autor einer 'Gesamt-Ausgabe', vielleicht gar einer Art von 'Klassiker' aufzusteigen.

Die allmähliche Ablösung vom "Guten Kamerad" spiegeln auch die Briefe Mays an Fehsenfeld: ab 1892, dem Jahr der Niederschrift des "Ölprinz", finden sich immer wieder Klagen über die "geistige Sclaverei" des Spemann-Kontrakts, allerdings stets verbunden mit mehr oder weniger diskreten Hinweisen auf finanzielle Engpässe im Haushalt May. Bezeichnenderweise zögert er bis 1897, die Mitarbeit an der Jugendzeitschrift endgültig aufzukündigen; erst als die Reihe der "Gesammelten Reiseromane" bis zum Band 23 fortgeschritten und der dauerhafte materielle Erfolg der Fehsenfeld-Mayschen Unternehmung unbezweifelbar ist, meldet er an Fehsenfeld:

Sie wissen, daß ich Contract mit Spemann habe; ich hoffe, jetzt von ihm loszukommen. [Er,May, wolle auf die Buchhändlermesse,] um mir dort meinen Herrn Spemann zu kaufen. Dann bin ich die geistige Sclaverei los, was auch Ihrem Verlage Vortheile bringen wird. (68a)


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Damit ist der Übergang endgültig vollzogen: May wird sich durch die Bezeichnung "Jugendschriftsteller" schon sehr bald eher deklassiert als geehrt fühlen.

Die Bedeutung der "Kamerad"-Erzählungen für Mays schriftstellerische Entwicklung läßt sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Deutlich erkennbar ist - zumindest in den ersten Bänden - das Bemühen um strengen, folgerichtigen Aufbau und um eine vielseitige Verwendung der Möglichkeiten der auktorialen Erzählperspektive.

2. Eine didaktisch ausgerichtete Konzeption, für jeden Band spezifisch neu definierbar, bestimmt den Handlungsablauf und die mit ihm verknüpften Informationen innerhalb des Textes.

3. Der pädagogischen Zielsetzung dient auch die Vermehrung der handlungstragenden Figuren: den jugendlichen Lesern werden mehrere, in ihrem Vorbildcharakter unterschiedlich akzentuierte Personen (darunter jeweils Jugendliche) angeboten, deren Rollen Identifikationen auf verschiedenen Ebenen ermöglichen.

4. Durch die Er-Form wird die Mythisierung der Westmänner, v.a. der Protagonisten Old Shatterhand und Winnetou, als "Helden des Westens" erleichtert; beide erhalten mehr und mehr übermenschliche Züge, während May bei der Darstellung des Ich-Erzählers der Reiseerzählungen in den Jahren um 1890 zunächst eher zurückhaltend und vorsichtig verfährt.

5. Der Autor bemüht sich um sprachliche Differenzierung seiner Figuren (Bildungssprache, Dialekte, fremdsprachige Texte usw.); insbesondere die komischen Spracheruptionen des Hobble-Frank schaffen nicht nur Entspannungsphasen in der Abenteuerhandlung, sondern sie erfüllen auch eine dezidiert pädagogische Funktion.

6. Mays Innovationen gingen sicher in erster Linie darauf zurück, daß er selbst nach den Kolportagejahren (wieder) eine höhere literarische Qualitätsstufe erreichen wollte. Andererseits wurde er aber, wie der Briefwechsel erkennen läßt, durch die Rückmeldungen und Hinweise der "Kamerad"-Redaktion weitaus mehr gefordert und korrigiert, als das beim "Deutschen Hausschatz" oder bei Fehsenfeld der Fall war. (69)

7. Biographische Hinweise auf die Identität Old Shatterhands mit dem Schriftsteller Karl May fehlen, und es ist kaum vorstellbar, daß sich allein aufgrund der "Kamerad"-Erzählungen die spätere "01d-Shatterhand-Legende", d.h.die Identifizierung des Autors mit einer


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seiner Romanfiguren, hätte bilden können. Ihre Grundlage ist vor allem die Ich-Perspektive der Reiseerzählungen. Im "Guten Kamerad" dagegen werden die Fiktionalität des Geschehens und sein spielerisch-irrealer Charakter dem jugendlichen Leser durch zahlreiche ironische Brechungen und Sprachspiele nahegelegt.

8. Andererseits erleichtert die bereits genannte 'Mythisierung' der Westmänner den späteren Schritt, die Trennung zwischen dem Autor und seiner heldenhaften Romanfigur "Old Shatterhand resp. Kara ben Nemsi" aufzuheben und die Rolle des "Vielgereisten" nun auch in der Öffentlichkeit zu spielen.


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3. Die Erzählungen für den "Deutschen Hausschatz"

Wie bereits gezeigt wurde, bezeichnen die bis 1882 für den "Deutschen Hausschatz" geschriebenen Werke eine in der literarischen Qualität deutlich abgehobene zweite Entwicklungsstufe gegenüber den frühen Romanen und Erzählungen. Dieser Ansatz, die Handlungsräume und den Sujetbestand zu erweitern und die erzählerischen Mittel vielfältiger zu gestalten, wurde in den folgenden Jahren durch die Kolportageproduktion abgebrochen. May versuchte allerdings, mit wechselndem Erfolg, in den einzelnen Teillieferungen von "Giölgeda padishanün" das Niveau seiner ersten "Hausschatz"-Jahre zu halten.

Nach dem Ende der großen Orient-Erzählung beginnt mit "Der Scout" 1888 eine neue Periode der Zusammenarbeit mit der Regensburger Zeitschrift. Dort ist Heinrich Keiter als Nachfolger Venanz Müllers jetzt verantwortlicher Redakteur; fünf Jahre lang, bis 1893, schreibt May nun für jeden Band eine umfangreiche Reiseerzählung, fast stets über einen ganzen Jahrgang reichend (70). Bis zum XXIII.Jahrgang (1896 f.) reichen die Texte aus, die er bis 1893 liefert. Erst nach mehrjähriger Pause, in der er sich vor allem auf die Buchausgaben im Verlag Fehsenfeld konzentriert, schreibt er 1897/1898 erneut für den "Deutschen Hausschatz", bis es im Herbst 1898 zum tiefen (allerdings auch nur vorläufigen) Zerwürfnis kommt.

Die für Pustet geschriebenen "Reiseerzählungen" zeigen gegenüber den gleichzeitig geschriebenen Jugenderzählungen


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eine Reihe von Besonderheiten: es sind durchweg Ich-Erzählungen, in denen ein allen Gefahren überlegener Weltläufer, "Old Shatterhand resp. Kara ben Nemsi" (wie May später seine Kostümfotos unterzeichnete), sich in zeitgeschichtlichen Krisenzonen bewegt. Damit wird das Konzept der Kolportageromane fortgesetzt, die Handlung in historisch-politisch aktuellem Umfeld spielen zu lassen. War "Die Liebe des Ulanen" ein "Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges" von 1870-71 (so der Untertitel), hatte "Der verlorene Sohn" die Elendssituation der schlesischen Weber und die Frühindustrialisierung in den vierziger Jahren des 19.Jahrhunderts zum Hintergrund, und stellte sich "Der Weg zum Glück" als "Roman aus dem Leben Ludwigs des Zweiten" (von Bayern) dar, erschienen unmittelbar nach dem tragischen und geheimnisumwitterten Tod des Königs, so wählte der Autor nun den amerikanischen Bürgerkrieg und - wie schon im "Waldröschen" - die mexikanischen Vorgänge um Benito Juarez und Maximilian von Mexiko ("Der Scout"), die südamerikanischen Wirren um 1870 ("EI Sendador") und den Mahdi-Aufstand in Ägypten 1881-188S ("Im Lande des Mahdi") als Hintergrund seiner "Reiseerzählungen" (71) . Damit setzte er schon in der Themenwahl die Tendenzen der Kolportagezeit fort, wenngleich durch die Form der Ich-Erzählung die Handlung hier besser unter Kontrolle zu halten war als bei der polyperspektivischen Ereignisvielfalt der Münchmeyer-Romane.


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Die erste dieser Erzählungen, "Der Scout", bildet schon in ihrem Aufbau den Ubergang von Kolportagesujets zur in der Wildnis spielenden Abenteuererzählung ab: sie beschreibt die Lehrzeit des als "Greenhorn" in den Westen kommenden Ich-Erzählers weitaus drastischer und realistischer als die spätere, mythisch überhöhte Version in "Winnetou l". Allmählich vollzieht sich im Handlungsablauf der Übergang von den "Criminalgeschichte" zur Abenteuererzählung.

Zu Beginn erscheint der Erzähler, als Detektiv in den Wilden Westen gesandt, in der Aufmachung eines Pseudo-'Elegants' der europäischen Zivilisation. Er erlebt bei seinen ersten Schritten in den Westen, in New Orleans, eine Reihe beschämender Mißerfolge und schwankt in seinem Selbstbewußtsein zwischen übersteigerter Sicherheit und der "Ahnung der Mangelhaftigkeit meines Werthes"(72). Die schmerzlichen Erfahrungen längerer Ritte werden samt ihren Folgen anschaulich beschrieben:

Wer sich einmal die Schenkel bis an das Knie aufgeritten hat, so daß die Lederhose am wunden Fleische anklebt, und noch dazu die schöne Aussicht hat, am nächsten Tage einen Ritt von fünfzig Meilen durch glühendes, weites Land machen zu müssen, der dürfte wohl nicht geträumt haben, daß er bei einem Glase Sect und mit einer Nummer des "Deutschen Hausschatzes" in der Hand im Schaukelstuhle sich wiege. (73)

Im Reiten unbekannter Pferde erweist sich der Neuling als ungeschickt, das Anschleichen auf den Spitzen der Finger und Zehen verursacht "bedeutende Kraftanstrengung" ("Bald begannen meine Arme und Beine zu zittern"), und der Gedanke, "einen Menschen in die Ewigkeit zu senden", ist dem Erzähler "gar nicht behaglich" (74).


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Eine weitere Etappe des Übergangs bezeichnet der folgende "Hausschatz"-Roman: "Der 'Sendador' ist ein Frühwerk nach den Jahren der Kolportage", der Held bleibt hier noch namenlos, "nicht Old Shatterhand [...] und nicht Kara ben Nemsi" (75). Die Zurückhaltung bei der Schilderung der Heldentaten des "Ich" nach 1887 ergab sich auch aus einem erzähltechnischen Dilemma; während im Orient Hadschi Halef Omar sich als ideale Begleitfigur erwies, um das Lob des Helden vollmundig zu verkünden, wobei die Berufung auf die orientalisch übertrieben-ausschmückende Redeweise es dem Erzähler erlaubte, sich vom Vorgetragenen zu distanzieren, muß dieser im Wilden Westen seine Vorzüge und seine Leistungen selbst ins rechte Licht rücken. Die Ich-Perspektive erlaubt auch kaum indirekte Lobpreisungen durch Gespräche anderer Figuren (wie in den 'Kamerad'-Romanen), da sich der Erzähler ja (gewissermaßen) ständig auf der Bühne befindet, und damit Nebengespräche ohne sein Wissen nicht möglich sind.

Daneben zeigen die Kompositionsschwächen von "El Sendador" bereits ein grundlegendes Problem der folgenden für Pustet geschriebenen Texte an: es gelingt May nicht wie in den Jugenderzählungen, die Abenteuerhandlung in formaler Hinsicht zu bewältigen. Schon allein die Art der Honorarberechnung bei der katholischen Zeitschrift, allein nach der Anzahl der gelieferten Manuskriptseiten ohne jede Rücksicht auf qualitative Kriterien, mußte Mays in der Kolportagezeit bewährte Technik herausfordern, die Seiten durch einen kurzschrittigen Frage-Antwort-Dialog aufschwellen zu lassen,


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um ein umfangreiches Manuskript zu produzieren, ohne lange überlegungen zur Handlung anstellen zu müssen (76). Das Schema der Verfolgungsjagd über einen oder mehrere Kontinente, die "Verfolgung rund um die Erde" (wie sie der Untertitel des "Waldröschen" ankündigte) blieb auch beherrschendes Formschema der "Reiseerzählungen". Weder die Leserschaft noch die Redaktion des Blattes nahmen an Unwahrscheinlichkeiten oder Brüchen im Handlungsablauf, von Kompositionsmängeln ganz zu schweigen, irgendwelchen Anstoß, solange nur die katholische Tendenz und die sehr eng gezogenen Grenzen der Sittlichkeit gewahrt blieben und die gewohnten Spannungsmechanismen nicht fehlten (77).

Schon ein äußeres Indiz verrät die Nachlässigkeit des Autors (und die der Redaktion): die Kapiteleinteilung im "Deutschen Hausschatz" weist immer wieder Lücken auf oder scheint vollkommen willkürlich vorgenommen:

So fehlt in "Deadly Dust" (VI.Jg., 1879/80) das dritte Kapitel, während ein erstes, zweites und viertes Kapitel bezeichnet sind; in "Der Schatz der Inkas (EI Sendador II)" (XVII.Jg., 1890/91) gibt es nur ein "l. Kapitel" und ein "5.Kapitel"; in "Die Felsenburg" (XX.Jahrgang, 1893/94) tragen vier Kapitel Überschriften, in den Fortsetzungen ("Krüger Bei"/"Die Jagd auf den Millionendieb") dagegen sind die Abschnitte nur mit Ziffern ohne Titel versehen (78).

Es war sicher eine der Ursachen für Mays "ohnehin sehr späte Entwicklung zur Literatur" (79), daß er selten auf Partner stieß, die eine Kontrollfunktion ausübten und ihn zu größerer Formstrenge anhielten; bis ans Lebensende blieb er vom Stigma des Autodidakten und Vielschreibers gezeichnet, obwohl er selbst sich ganz offensichtlich bemühte, im Sinne seines großen Spät-Mythos, nicht nur


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sozial, sondern auch literarisch, "von Ardistan nach Dschinnistan", aus dem "Sumpf" in die Bereiche der Hochliteratur aufzusteigen (80).

Nicht zu übersehen sind allerdings trotz der kompositorischen Schwächen die ab 1887 zunehmend wieder sehr viel gründlicheren Quellenstudien, eine Grundlagenarbeit, zu der bei den Münchmeyer-Romanen weder Gelegenheit noch Notwendigkeit bestand (81). Auch die Absicht, die Figuren differenzierter zu zeichnen, ist zumindest ansatzweise erkennbar, wenngleich die Vielfalt und farbige Darstellung des Personals der Jugenderzählungen kaum je erreicht wird. In formaler und sprachlicher Hinsicht bleiben die "Hausschatz"-Romane beträchtlich hinter den für Spemann geschriebenen Werken zurück.

Besonders deutlich zeigt sich das im vorletzten für den Verlag Pustet geschriebenen Roman, dem Streich- und Streitobjekt "Satan und Ischariot". Uberschriften wie "Ein Teufelsstreich" oder "Unter der Erde" verraten die Kolportagenähe ebenso wie die vielfältigen Bezüge zum "Verlorenen Sohn", das Schema der "Verfolgung rund um die Erde"(mit den Schauplätzen Nord- und Mittelamerika, Sachsen und Nordafrika) oder der idyllische "Schluß" mit der Schilderung der "Heimat für Verlassene" (82), einem Asyl, in dem "der gute Herr Shatterhand" "den Erlöser sehen" soll: hier ist May die Übersetzung der Münchmeyer-Welt ins katholische Milieu perfekt gelungen. Auch die Redaktion muß etwas von den hier wirkenden Kräften gespürt haben, da sie "einige Nebenszenen [...] weggelassen oder


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stark gekürzt" hat, die "stark an die Münchmeyer-Romane" erinnern (83), insbesondere "gewisse Szenen mit [der femme fatale; Erg.U.S..] Judith Silberstein [...] erschienen der Redaktion für den 'Hausschatz' nicht tragbar." (84) Die lockere, Einzelepisoden ohne zwingende Verknüpfung aneinanderreihende Komposition der "Hausschatz"-Romane zeigte sich hier besonders deutlich, als der Redakteur Heinrich Keiter 440 Manuskript-Seiten aus dem Text von "Krüger Bei" strich, ohne den Handlungsablauf damit zu beeinträchtigen. May protestierte zwar vehement gegen die Kürzung, übernahm aber die gekürzte Fassung in die Buchausgabe, ohne den ursprünglichen Text nach dem Manuskript, das er zurückerhalten hatte, wiederherzustellen, obwohl der ungekürzte Roman ziemlich genau drei normgerechte Fehsenfeld-Bände gefüllt hätte (je 640 S.), während die Übernahme der Kürzungen zu den beiden mit Abstand schmälsten Bänden der Reihe führte ("Satan l": 550 S.; "Satan II": 540 S.). Dies spricht deutlich dafür, daß auch der Autor selbst die Berechtigung von Keiters Streichungen letztlich anerkannte. (85)


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4. Die für den Verlag Fehsenfeld geschriebenen Buchausgaben

a. Werksgeschichte

Das nachlassende Interesse Mays sowohl an den Jugenderzählungen wie auch am "Deutschen Hausschatz" in den neunziger Jahren hängt damit zusammen, daß sich seine Situation als Schriftsteller 1891 entscheidend gewandelt hatte. Der Kontakt mit Friedrich Ernst Fehsenfeld (86), von beiden Seiten zunächst eher zögernd und nicht ohne Vorbehalte und Besorgnisse über den Erfolg aufgenommen, erwies sich immer mehr als Glücksfall: mit dem Fortschreiten der 'grünen Bände', der einheitlich ausgestatteten Reihe der "Gesammelten Reiseromane", stieg nicht nur die schriftstellerische Reputation, sondern die Einkünfte aus der Buchausgabe und ihren Nachauflagen begannen schon bald die Zeitschriftenhonorare weit zu übersteigen, so daß May, noch 1890/91 mehrfach von Pfändung bedroht (87), um die Mitte des Jahrzehnts sogar den Kauf eines eigenen Hauses, der "Villa Shatterhand", in Radebeul bei Dresden wagen konnte (88). Dabei ließ seine Arbeitsleistung keineswegs nach; immer noch maß er in den frühen neunziger Jahren die Qualität seiner schriftstellerischen Arbeit an der Menge der gelieferten Manuskriptseiten (89), und die Briefe aus dieser Zeit verweisen erst ganz allmählich stärker auf die Qualität des Geschriebenen als auf die bloße Quantität der Textproduktion.


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Wieder, wie schon mehrfach in seiner Entwicklung, löste die Verbindung mit einer neuen Publikationsmöglichkeit (90) (und die damit verknüpfte Aufwertung des eigenen Werks) im Autor produktive Energien aus. Im reziproken Verhältnis zum abnehmenden Interesse an den bisher belieferten Journalen stiegen das schriftstellerische Selbstbewußtsein und die qualitativen Ansprüche.

In den ersten Briefen an Fehsenfeld renommierte May noch recht unbefangen,

zu meinen sonstigen Connexionen steht mir, ohne daß Sie es ahnen, ein Colportageapparat zur Verfügung, welcher sich über ganz Deutschland erstreckt.

(Mutmaßlich derselbe, den er später als "Ein Schundverlag und seine Helfershelfer" titulierte, nämlich der Verlag Münchmeyer).Ausdrücklich wies er in demselben Brief darauf hin, es sei nur die Kolportage, "durch welche man einen größeren Absatz erzielt." (91) Den für den ersten Band vorgesehenen reißerischen Titel "Durch Wüste und Harem" fand er zunächst attraktiv "für Männer und Frauen" (92), und erst drei Monate später kamen ihm Bedenken wegen seiner katholischen Leserschaft (93). Schon im ersten Jahr der Zusammenarbeit erwies er sich als Autor, der sich in vielfältigster Weise persönlich um seines Geistes Kinder kümmerte: er konzipierte für den Verlag Annoncen, entwarf Vorworte (94), erklärte sich bereit, positive Rezensionen oder gar bischöfliche Empfehlungen zu beschaffen (95), und sorgte sich um den Preis ("Ja, es ist schauderhaft, das mit den 30 Pfennigen pro [Lieferungs-] Heft!") (96)


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Er bemühte sich um die äußere Gestaltung der Bände bzw. Lieferungshefte ebenso (97) wie er dem Verleger Adressen von Buchhandlungen aus seiner näheren Umgebung vermittelte, etwa der in Hohenstein-Ernstthal: "Dort ist meine Heimath, und ich denke, daß man aus diesem Grunde kaufen wird." (98)

Während der große Orientroman nur wenig redigiert (mit Ausnahme des neu geschriebenen "Anhang") in etwas veränderter Einteilung in die ersten sechs Bände übernommen wurde ("es werden neue Kapitels [=Kapiteleinteilungen] entstehen und alte Uberschriften weggelassen" (99) ), erwachte spätestens bei der Vorbereitung der "Winnetou"-Bände in May ein neuer Ehrgeiz, wobei die hier zu Tage tretende Abwertung des "Deutschen Hausschatz" bemerkenswert ist:

Am Liebsten schriebe ich alle 3 Bände neu [...] Es ist wirklich nicht leicht, diese zusammenhangslosen Einzelerzählungen, welche grad nur für den Hausschatz berechnet waren, so zusammenzufassen, daß sie als ein einziger Guß und Fluß erscheinen. Doch Allah will es, und so wird es gehen! (100)

Den Ausgangspunkt bildete der Plan eines zweibändigen Romans, bestehend aus den im Wilden Westen spielenden "Hausschatz"-Erzählungen "Der Scout", "Deadly Dust" und "Winnetous Tod"(Die letztere Erzählung war nicht im "Deutschen Hausschatz" erschienen, aber schon der frühere Alternativ-Titel "Ave Maria" zeigt die katholische Tendenz). Dieses Konzept, im März 1892 während der Drucklegung der ersten drei Bände der "Gesammelten Reiseromane" entworfen, wandelte sich parallel zu Fehsenfelds Aufgeschlossenheit gegenüber Mays permanenten Geldnöten in der Folgezeit. Aus dem auf dem Höhepunkt der finanziellen Engpässe dem


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Verleger gegebenen Versprechen, "mehrere Original-Capitel umsonst, nicht gegen Honorar" (101) zu schreiben, entwickelt sich der primär durch schriftstellerische Ambitionen motivierte Vorsatz, er wolle

einen ersten Band vollständig neu schreiben, was unbedingt ziehen wird. Bd.II & III werden, wie ich Ihnen versprochen habe, durch neue Capitel, für die ich kein Honorar verlange, vervollständigt.(102)

Dabei erweist sich Mays Zeitplan - wie oft - als entschieden zu optimistisch: vom ersten Band, Anfang Oktober ganz sicher versprochen für spätestens Ende des Jahres (103), ist am 3. Januar 1893 noch keine Zeile beim Verlag eingetroffen:

Sie fragen nach Winnetou [...] Bin fest darüber her, kann nur jetzt noch nichts senden, da ich noch häufig zurückschlagen muß.(104)

Der Ausdruck "zurückschlagen" läßt die Absicht erkennen, den Band strenger zu komponieren und in den Motiven stimmiger zu verfugen als die "Hausschatz"-Erzählungen. Das Schreiben von "Winnetou I" gewinnt für May innovatorisch-experimentellen Charakter. Dies bestätigt eine spätere Aussage zu "Old Surehand I", er habe (auch) bei diesem Band nicht "leichtsinnig drauflos geschrieben", da dieser Text "wo möglich noch besser sein [soll] als 'Winnetou'" (105)

Am 19. Januar 1893 geht dann "zur Probe [...] das erste Kapitel von 'Winnetou'" an den Verleger (106), am 4. Februar "weiteres Manuscript" (107) und am 24.Februar sind "vom ersten Bande [...] 750 Manuscriptseiten fertig" (108). Am 16.März "ist wieder eine Sendung fort"; das Schreiben verzögere sich, weil Band I an die Bände II und III angepaßt werden müsse (108a). Zudem sei er bemüht,


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mit jedem Hefte [=Lieferungshefte] so zu schließen, daß der Leser in großer Spannung blieb; das ist mir auch gelungen, verzögerte aber die Fortsetzung.

Die "Winnetou"-Trilogie erhält neu geschriebene verbindende Zwischentexte (v.a. "Der Pedlar"="Winnetou II", 7.Kap.) und einen neu verfaßten Abschluß, "Das Testament des Apachen" (=W III, 8.Kap.).

Ende des Jahres 1893 verwahrt sich May gegen Vorwürfe Fehsenfelds, die er nicht zuletzt durch den qualitätvollen, in sich geschlossenen Neuansatz seines ersten "Winnetou"Bands ausgelöst hatte, und präzisiert seine literarische Position (109):

Es kann mir doch kein Verleger und kein Leser zumuthen, in chronologischer Reihenfolge zu schreiben! Ich bin doch keine Chronometeruhr und schreibe nicht Kalendarien sondern Novellen.

Eindeutig betont May hier - bei aller Unschärfe seines Novellenbegriffs - den fiktionalen Charakter seiner Werke durch das Stichwort 'Novelle' und durch die Ablehnung des Begriffs "Kalendarien", d.h. er hält zu dieser Zeit noch an dem später verworfenen Anspruch fest, "nicht Erlebtes, sondern nur Romane" (Surehand III, 150) zu schreiben; erst im Zuge der Entwicklung der 'Old-Shatterhand-Legende', am 17.August 1896, ordnet er an, Fehsenfeld solle "doch endlich einmal das Titelwort 'Reiseroman' in 'Reiseerzählungen' umändern!" (110)

Trotz der Einkommenssteigerung und der sicheren Publikationsmöglichkeiten bei Fehsenfeld hat May offenbar Bedenken, die Brücken zu den bisher belieferten Verlagen völlig abzubrechen und sich allein auf die Buchausgaben zu konzentrieren. Für die beiden folgenden Bände (X:"Orangen und


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Datteln"; XI: "Am Stillen Ocean") stellt er wieder ältere Erzählungen als Einzeltexte zusammen; auffallend sind während der Planung der beiden Ausgaben gelegentliche Hinweise in den Briefen an den Verleger, die die Absicht erkennen lassen, zumindest in Ansätzen einen geschlossenen und stimmigen Aufbau zu erreichen. Der Begleitbrief zu "Orangen und Datteln" zeigt, noch unter Bezug auf den ursprünglichen Titel, sowohl Mays Bemühen um wirkungsvolle Titelsignale wie auch die Prinzipien, die ihn bei der Zusammenstellung leiteten:

Hier haben Sie 'Orangen und Palmen'. Sie sagen selbst, daß der Titel gut ist; er wird ziehen. [...] Ich habe die einzelnen Nummern natürlich nicht nach ihrer Länge sondern nach Geographie und Chronologie geordnet. Bitte, lassen Sie das ja so! (110a)

Kurz darauf, am 5. Januar 1894, unterstreicht er noch einmal die geschlossene Konzeption des Bands XI, indem er die Aufnahme der Erzählung "Der Boer van het Roer" ausdrücklich verwirft:

Der Schauplatz liegt nicht am stillen Meere. Habe also eine vollständig neue Erzählung [="An der Tigerbrücke", eine Fortsetzung des "Girl-Robber"] entworfen, was auch besser ist, weil sie den Lesern mehr gefallen wird als etwas Altes. (110b)

Darüber hinaus stellte er die Erzählungen dieses Bandes nicht nur nach thematischen Bezügen zusammen, sondern er verknüpfte sie auch durch -allerdings sehr knappe - Einfügungen miteinander, damit beim Leser der Eindruck eines stringenten Zeitablaufs der Abenteuer entsteht (110c).

An die beiden Sammelbände sollte sich dann der im "Deutschen Hausschatz" 1889-1891 erschienene Roman "El Sendador", eine Folge südamerikanischer Abenteuer, als


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Band XII/XIII unter den Titeln "Am Rio de la Plata" und "In den Cordilleren" anschließen. Am 10.Dezember 1893 geht das Manuskript dafür an den Verlag ab. Gleichzeitig skizziert May seine Planung für die Fortsetzung der Reihe; in den "2 oder 3 nächsten Bände(n)" sollen, zunächst unter dem Titel "Aus allen Zonen" (etwas später "Aus allen Meeren"), wie in den Bänden X/XI ältere Erzählungen gesammelt werden (111). Schon bald aber stellt er fest, daß diese Texte "zwar hochinteressant" seien, aber "erst mühsam zusammengesucht und umgearbeitet werden" müßten (112). Deshalb solle zunächst "Im Lande des Mahdi" als Buchausgabe erscheinen.

Doch schon im Mai wird auch dieser Plan wieder umgestoßen, May will "vor dem Mahdi versuchen, Etwas zu sammeln", und greift dabei einen seiner ältesten Titel, "Old Firehand", auf (113):

Ich beabsichtige, nicht 2 sondern 3 Bde. "Old Firehand" zu schreiben. Muß da Bd.II auf dieses Jahr fertig sein?

Der "Bd.I" soll "bis 1.October vollständig" sein, die weiteren rasch folgen, so daß der dritte Band "Januar[,] Februar 94" beim Verlag vorliegen soll (114). May vertut sich nicht nur bei der Jahreszahl (es muß recte "95" heißen), sondern auch bei seinen ganzen Berechnungen.

Zwar gehen schon am 27.Juli 1894 "die ersten 60 Seiten, welche über 2 Bogen ergeben", an Fehsenfeld (115), aber es handelt sich dabei in der Hauptsache um die bereits anderweitig veröffentlichte Geschichte "Der erste Elk".


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Die Titelfigur hat sich inzwischen gewandelt; sie heißt jetzt

Old Surehand, weil Surehand als Westmann und Mensch noch bedeutend höher steht als Firehand, den wir später bringen können. Surehand ist unter den Weißen das, was Winnetou unter den Rothen war, die Verkörperung des Rassenideals.(115)

Am 31. Juli folgen "nur wieder 60 Seiten" (116), am 16.August die Meldung, "Manuscript sende direct an Druckerei" (117), und am 8. September äußert May seine Zufriedenheit über das Fortschreiten des ersten Bands, womit er zugleich einen indirekten Hinweis auf anfängliche Schreibschwierigkeiten gibt (118):

Haben Sie die Correctur erhalten? Gefällt es Ihnen? Es wird hoch-, hochinteressant. [...] Endlich 'fleckt' es jetzt gut. Sie erhalten den Schluß von Bd.1 noch vor dem 1.October [...] Bd.11 sicher bis 1. Dezember. Bd-.III wird bis Ende Februar fertig.

Aber es dauert dann doch bis zum 2.Dezember, ehe der Schluß des ersten Bandes abgeht, was Fehsenfeld, fixiert auf das im Buchgewerbe und besonders bei der Unterhaltungsliteratur so gewinnträchtige Weihnachtsgeschäft, zu einem rabiaten Kürzungsvorschlag veranlaßt, um den Band doch noch in ausreichendem Abstand zum Heiligen Abend auf die Ladentische zu bringen: der Band soll einfach nach Bogen 33, d.h. nach 528 Seiten, abgebrochen werden. Doch der Autor protestiert heftig, wobei er nicht zu Unrecht kompositorische Gründe ins Feld führt und damit zeigt, wie wichtig ihm derartige Gesichtspunkte inzwischen sind (119):

Das Manuscript für 40 Bogen ist fort, und es ist gradezu unmöglich, an der Stelle, wo es 33 Bogen füllt, einen Schluß anzubringen; der Inhalt läßt das nicht zu, und außerdem hat ganz kurz vorher eine neues Capitel begonnen.[...]


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Und was hier am Meisten zu berücksicht[ig]en ist, das ist der Werth des Werkes. "Old Surehand" soll wo möglich noch besser sein als "Winnetou". Grad darum habe ich nicht leichtsinnig drauflos geschrieben und mir infolge dessen Ihren Zorn zugezogen. Und nun soll das umsonst sein? Der erste Band mit vollen 40 Bogen wird jeden Leser hoch befriedigen. Wird er aber bei Bogen 33 abgebrochen, so taugt er gar nichts; er ist ein Champagner ohne Mousseux, ein Calummet ohne Pfeifenkopf, und das ganze Werk wird verdorben.

In kürzester Zeit, bis 18.Dezember 1894, folgt dann der zweite Band (120). Zwar wird er nicht, wie ursprünglich geplant und auch im eben zitierten Brief noch kühn suggeriert, völlig neu geschrieben, sondern stellt sich dar als Kompilation verschiedener älterer Erzählungen, aber May versucht auf für ihn neuartige Weise, die älteren Texte in eine Rahmenerzählung zu integrieren und durch die Anordnung und Verbindung der Einzeltexte ein geschlossenes Erzählkorpus zu schaffen (121).

Trotz der Ankündigung am 18.Dezember 1894 "Nun wird Bd.III begonnen" (122) kommt erst nach Jahresfrist, am 3.November 1895, die Meldung "Herr Krais [=die Druckerei] hat den Anfang zu Bd.III "Surehand" erhalten" (123).

Doch auch jetzt vergeht - nach Bezug der Ende 1895 gekauften "Villa Shatterhand" und der Ergänzung des "Mahdi"-Texts auf den Umfang von drei vollen Fehsenfeld-Bänden - noch fast ein weiteres Jahr, bis May am 6.Oktober 1896 seinem Verleger mitteilt, "daß das Anfangs-Manuscript zu "Old Surehand III" morgen zu Herrn Krais abgeht." (124)

Gleichzeitig entwickelt er nun Werkpläne, die ganz neue Dimensionen jenseits der "Welt der Fahrten und Abenteuer" (so der Titel einer von Fehsenfeld eben neu begonnenen


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Serie, gegen deren vermutete Konkurrenz er sich mit Nachdruck verwahrt) eröffnen (125):

Hierauf sollte "Marah Durimeh" kommen, 3 Bände, mein Hauptwerk, welches meine ganze Lebens- und Sterbensphilosophie enthalten wird. Ich habe aber eingesehen, daß es ein großer Fehler wäre und schädlich für uns beide, dies schon jetzt zu bringen, denn es würde möglicher Weise die folgenden Bände in Schatten stellen, und ein Autor soll doch nicht zurückgehen sondern sich steigern. Deshalb bitte ich Sie um die gütige Erlaubnis, diese 3 Bände später bringen zu dürfen!

Als Folgebände nach "Old Surehand III" schlägt May eine Trilogie unter dem symbolträchtigen Titel "Satan und Ischariot" vor; sie soll die drei 1893/96 im "Deutschen Hausschatz" veröffentlichten, zusammenhängenden Reiseerzählungen "Die Felsenburg", "Krüger Bei" und "Die Jagd auf den Millionendieb" enthalten (126). Dieser Vorschlag stößt bei Fehsenfeld auf Bedenken, die erstmals, wenn auch noch schwach, die später stetig wachsenden Rezeptionsprobleme der hergebrachten May-Leser gegenüber der "symbolischen" Wendung des Spätwerks andeuten. Fehsenfeld notiert auf der Rückseite des Briefs (127):

geschr daß Honorar [für Bd.] XX am 15/10 bezahle und daß Sureh.III [XIX] gleich 15000 drucken will. Dann andern Titel erbeten für Jud.[!] & Isch.

May gab der Bitte offenbar nicht nach, sondern bestand auf seinem symbolisch getönten Titel, der das Werk aus der Abenteuersphäre nimmt und in religiös-philosophische Zusammenhänge einordnet, obwohl diese Einordnung - anders als bei "Weihnacht!" oder "Am Jenseits" - mit Sicherheit der Abenteuerhandlung dieses Romans kaum angemessen ist (128).


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b. Literarische Bedeutung

Mit "Winnetou I" fand May nicht nur thematisch, sondern auch in seiner Erzähltechnik einen neuen Ansatz. Der ursprüngliche Plan eines zweibändigen Romans, zusammengesetzt aus drei bereits veröffentlichten Einzelerzählungen, hätte einen folgerichtigen Aufbau von der "Greenhorn"-Zeit des Ich-Erzählers und seiner ersten Bekanntschaft mit Winnetou ("Der Scout") über die Erlebnisse mit dem "großen Häuptling der Apachen" ("Deadly Dust") bis hin zu dessen Tod ergeben ("Ave Maria" = "Im 'wilden' Westen Nordamerikas") (129) . Offenbar befriedigte diese bloße Kompilation älterer, disparater Werke den Autor aber nur wenig; neben der Dankbarkeit für Fehsenfelds finanzielle Großzügigkeit waren es ganz sicher vor allem literarische Erwägungen, die dazu führten, das ursprüngliche Konzept zu verwerfen.

Der erste Band wird völlig neu geschrieben, und May stellt ihm eine programmatische "Einleitung" voran. Sie beschreibt, wie von der "Geschichte der 'berühmten' Conquistadores" an bis zur Erzählgegenwart die systematische Ausrottung durch die Weißen den Indianer immer mehr zum "sterbenden Mann" machte. Die ausführliche, stark rhetorisch akzentuierte Klage mündet in die Erläuterung des Erzählziels: er, "der Verfasser", wolle dem "Volk, dessen treues Einzelbild der Häuptling [=Winnetou] war", "in diesen Blättern das wohlverdiente Denkmal setzen."(W 1, 6) (130)


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Diese "Einleitung" ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert:

Zum einen bezieht May hier ausdrücklich eine antiimperialistische Position; er verurteilt die europäische Expansion und die amerikanische Westbewegung, die er historisch richtig beschreibt und einordnet, und stellt damit programmatisch Gedanken an den Anfang des Werks, wie sie vorher zwar immer wieder gelegentlich an einzelnen Stellen seiner Erzählungen auftauchten, aber nie zuvor derart pointiert dargelegt und auf die politisch-historische Entwicklung bezogen wurden. Allerdings macht die Argumentation, eher moralisch als politisch im engeren Sinn, nur ganz allgemein "die Weißen" für den Untergang der Indianer verantwortlich, während er später, nach der Orientreise, die militärischen und ökonomischen Aspekte des Imperialismus weitaus präziser kritisiert. (131)

Der Text der "Einleitung" ist von einem elegischen Grundton durchzogen, basierend auf dem Gegensatz "ursprünglich"/"früher" - "jetzt"/"heute". Die in "diesen Blättern", d.h.dem Roman, beschriebenen Ereignisse werden aber nicht nur als vergangen gekennzeichnet, sondern auch als sinnbildlich und von tieferer Bedeutung: Winnetou ist "ein echter Typus der (indianischen) Rasse", dem in der Erzählung "der Weiße" in unterschiedlich ausgeprägten Typen gegenübersteht. Den historischen Konflikt soll der Leser gleichnishaft "mit seinem geistigen Auge" in den folgenden Geschehnissen wiederfinden. Damit wird die Handlung des Romans zur Allegorie politisch-historischer Vorgänge, das einzelne Handlungselement weist über sich selbst hinaus und gewinnt tiefere


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Bedeutung. Als Gewähr für die Richtigkeit des Geschilderten (und zugleich für die innere Wahrheit des Gleichnisses) erscheint die persönliche Erfahrung des Ich-Erzählers. "Der Verfasser" ist ein durch seine Erlebnisse autorisierter Zeuge.

Betrachtet man unter diesen in der "Einleitung" formulierten Gesichtspunkten den Text des ersten "Winnetou"Bandes, so fällt auf, daß die in der "Einleitung" genannten Sachverhalte die Struktur bestimmen: die dargestellten Einzelereignisse stehen nicht für sich allein als reine Abenteuer, um der Spannung willen in Episoden eneinandergereiht (wie in den Wildwest-Erzählungen der achtziger Jahre), sondern sie sind in schlüssigem Aufbau angeordnet, aufeinander bezogen, und sie exemplifizieren die in der "Einleitung" vorgetragenen Gedanken.

Dies gilt sowohl für den durch den Eisenbahnbau ausgelösten Konflikt zwischen dem Bautrupp (zu dem der Ich - Erzähler zunächst gehört) und den Apachen wie auch für die späteren Ereignisse im Apachenlager und am Nugget - Tsil, wo die Ermordung Nscho-Tschis und Intschu-Tschunas durch den Weißen Santer in letzter Steigerung das Unrecht vor Augen führt, das den Indianern permanent zugefügt wird:

Weißt du, wer die Mörder waren? [...] Bleichgesichter waren es, denen wir nichts getan hatten. So ist es stets gewesen, und so wird es immer sein, bis der letzte rote Mann ermordet worden ist. Denn wenn er auch eines natürlichen Todes sterben sollte, ein Mord ist es doch, ein Mord, welcher an meinem Volke geschieht. (W I, S.497)

Der Aufbau der Handlung erweist sich als in sich schlüssige Parabel; ihre Anschaulichkeit wird dadurch verstärkt, daß in die Ereignisabfolge immer wieder völkerkundliche Informationen über die Indianer eingeflochten sind, so daß die symbolhaften Einzelgeschehnisse immer wieder auf die symbolisierte historische Realität bezogen werden.


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Damit ist aber die Struktur des Werks noch nicht zureichend beschrieben. Gleichberechtigt neben die Darstellung des Untergangs der Indianer tritt nämlich eine zweite Bedeutungsebene, der Entwurf einer Idealbiographie des heldenhaften Ich-Erzählers. Der erste Ansatz, seine Entwicklung vom "Greenhorn" zum Westmann zu schildern, war 1888 in "Der Scout" noch recht drastisch und realitätsnah ausgefallen (132). In den Jahren seither hatte May, zunächst in den Jugenderzählungen im Schutz der distanziert-auktorialen Erzählperspektive, den Mythos von den "Helden des Westens" entwickelt. Die Figuren "Old Shatterhand[s], dieses berühmtesten unter den Jägern" und Winnetous ("der größte Krieger der Apachen" (133) ) hatten mehr und mehr übermenschliche Qualitäten erhalten. In "Winnetou I" überlagert May nun die Struktur der Abenteuererzählung mit dem Prinzip, "das Werk strikt antinaturalistisch zu einer mythischen Legende auszugestalten." (134) Gunther G. Sehm hat überzeugend dargelegt, in welchem Ausmaß (135) Legenden-Strukturen die in "Winnetou I" berichteten Vorgänge bestimmen: von der "Erwählung" durch Mr.Henry und Sam Hawkens über die "Initiationsriten eines Wildwest - Ritters" und die "Mönchsgelübde" der Armut und Keuschheit bis hin zur Charakteristik der Widersacher des Helden, Santer ("Satan) und dem durch Old Shatterhand gelähmten Häuptling Tangua, dem "'Hinkepoot', wie man in Norddeutschland den 'Düwell auch nennt." (136)

Erst jüngst hat Helmut Schmiedt sehr treffend gezeigt, wie selbst die Mikrostrukturen des "Winnetou"-Textes


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noch von dem Willen zur Motivverflechtung bestimmt sind, so daß ein "außerordentlich dichtes Netz von Verbindungslinien" (137) den Roman durchzieht.

Dieser, eine "säkularisierte Hagiographie", in der der Autor dem "Leser mit seinem berühmten Personalpronomen der ersten Person Singularis auch eine gefällige Identifikationsofferte" anbietet, gestaltet einen "überindividuellen Wunschtraum". Daraus erklärt sich seine überwältigende Wirkung im wilhelminischen Deutschland (und später) als Ergebnis von Defiziten des deutschen "Welt- und Selbstverständnis(ses) nach 1871" (138).

Mays Narzißmus, mehrfach beschriebene Reaktion auf die Entbehrungen seiner Jugend- und Haftzeit (139), erfährt in "Winnetou l" seine Apotheose als mythisch überhöhtes "Portrait of the Artist as a Young Man". Das Konzept, in die Abenteuerhandlung eine auf historische Vorgänge bezogene, mit Elementen der Legende gestaltete Parabel zu integrieren und diesem Prinzip die einzelnen Vorgänge und Motive unterzuordnen, ergibt eine auf zwei ineinanderwirkenden Bedeutungsebenen durchgeführte doppelte Textstruktur. Sie liegt nicht nur dem ersten Band der Trilogie zugrunde, sondern wird von May auch im zweiten und dritten Band verwendet, um die "zusammenhanglosen Einzelerzählungen" (140) zusammenzufügen. Es entsprach nämlich keineswegs Mays Intention und seinem inzwischen erreichten ästhetischen Standard, "'Winnetou II/III' bedenkenlos aus sehr ungleichwertigen älteren Veröffentlichungen zusammenzuleimen, und noch dazu mit [...] sorgloser Hand" (141), sondern er war durchaus bemüht, die früheren Erzählungen durch einen


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integrierenden Rahmen zu verknüpfen. Andererseits zeigen diese neu verfaßten Teile nur um so deutlicher die qualitative Diskrepanz. May empfand die inkohärente Zusammenstellung, wie die Briefe an Fehsenfeld zeigen, durchaus als Konzession, akzeptiert, um den Fortgang der neu begonnenen Ausgabe nicht zu gefährden.

Als ganz besonders mißlich erwies sich dabei ein Fehler bei der Umrechnung des "Hausschatz"-Textes in den Satzspiegel der Fehsenfeld-Ausgabe. May war, wie seine Briefe vom 16. und 20. Mai 1893 erkennen lassen, davon ausgegangen, "Der Scout" werde den zweiten Band weitgehend füllen. So meldete er am 16.Mai zufrieden nach Freiburg: "Winnetou Bd.II ist vollständig, außer dem Schluß, der den 3ten Band einzuleiten hat." (142) Einige Tage später dagegen, am 20. Mai, verwahrte er sich im Brustton der Überzeugung gegen den Vorwurf, er habe zu wenig Text geliefert (143):

Was Winnetou Bd.II betrifft, so muß ich als der Autor wissen, woran ich bin. Ist Herr Krais anderer Meinung, zum Donnerwetter, ist es mir Schnuppe! Ich habe mich beim ersten Bande genug geärgert und habe keine Lust, mich fortwährend attaquieren zu lassen. Hätte ich wirklich noch 15 Bogen zu schreiben, welche am 25ten bei Ihnen sein müssen, wie Sie verlangen, so müßte das Manuscript am 23ten hier fort, und ich hätte an den beiden [Pfingst-] Feiertagen also über 400 Seiten zu schreiben. [...] Wenn ich behaupte, daß Manuscript verschwunden ist, so weiß ich, was ich sage; Karl May ist kein Kind! Und bombardirt mich der Drucker trotz meiner Zuschriften immer weiter, so wollen wir lieber Schluß machen und es bei den bisherigen 9 Bänden bewenden lassen. Der 10te erscheint also nicht. Ich habe keine Zeit auf ihn zu verwenden und muß, da Sie nicht Wort gehalten haben, schleunigst für Spemann schreiben [...]


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Die daraufhin offenbar unter Zeitdruck und ohne Rücksicht auf die literarische Qualität weitgehend unverändert aufgenommene "Old Firehand"-Erzählung, eine der frühesten Veröffentlichungen Mays, unterscheidet sich in der sprachlichen und erzähltechnischen Gestaltung besonders krass sowohl vom vorangehenden "Scout" wie vor allem von dem folgenden, 1893 neu geschriebenen 7.Kapitel, "Der Pedlar", (144) "dem Schluß, der den 3ten Band einzuleiten hat" (142).

"Der Scout" erfuhr durch die Anpassung an den ersten Band eine Reihe unmotiviert wirkender Änderungen (145); so "läßt sich nicht verkennen, daß der alte Hausschatz-Text der literarisch bessere ist. Er ist [...] konkreter im Detail und stimmiger in der Handlungsführung."(146) In "Old Firehand" erscheint Winnetou nicht als der "edelste Sohn" einer "hinsterbende[n] Nation" wie im ersten Band, sondern als blutrünstiger Skalpsammler, ebenso wie auch Sam Hawkens "oft gleichermaßen befremdlich" den Gegnern "die losgeschnittene Kopfhaut vom Schädel zieht", wobei die vom Autor eingestreute Verwunderung des Ich-Erzählers darüber, daß Sam sich "jetzt damit befaßt", den Kontrast zur Charakteristik der Figur in Band I eher noch unterstreicht (147). Ebenso störend wirken die Flüchtigkeiten der Handlungsführung und die Unzulänglichkeiten der Erzählstruktur; die einzelnen Episoden sind weitgehend ohne jeden schlüssigen Zusammenhang aneinandergefügt.

Diese kompositorischen Schwächen im II.Band fallen um so mehr auf, da May unmittelbar an die früheste Erzählung der Trilogie das 1893 neu geschriebene Kapitel "Der Pedlar" anfügte, dessen erzählerische Geschlossenheit und stimmig verfugte Motivstruktur den Kontrast zum Vorhergehenden scharf hervortreten lassen. Hier wird nämlich der Parabelcharakter des ersten Bandes wieder aufgegriffen: die Auseinandersetzung Winnetous mit dem Farmer Corner akzentuiert die Rolle der "Bleichgesichter [...] als Räuber unserer Ländereien" (W II, S.571-79) ebenso wie die dem "Pedlar" alias Santer zugeschriebene Anstiftung der Indianer zum Verbrechen. Nicht nur Züge wie die (fast überirdische) Milde Old Shatterhands und Winnetous stehen in deutlichem Gegensatz zu ihrer Grausamkeit "drei Monate" zuvor (so W II, 552), auch die Struktur und Erzählweise sind grundlegend anders.

Alle Einzelaspekte und -ereignisse sind auf die Entlarvung des "Pedlars" Santer und auf seine Gefangennahme ausgerichtet; seine Person bildet den zentralen Punkt, auf den alle Handlungsfäden zulaufen. Auch die Auseinandersetzung mit dem Farmer, auf den ersten Blick eher marginal anmutend, ist auf diesen Punkt bezogen, da sie das


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imperialistische, unrechtmäßige Verhalten der Weißen gegenüber den Indianern im Sinne der "Einleitung" zum ersten Band bezeugt.

Neben diese historischen Bezüge treten, wie schon im ersten Band, die mythischen Elemente, nunmehr ins Apokalyptische gesteigert. Dabei fällt zunächst die doppelte Erkenntnisvermittlung des Erzählers auf. Von Anfang an (und in deutlichem Kontrast zur einsträngigen "Old Firehand"-Geschichte) durchziehen Ahnungen und Vorausweisungen den Erzählbericht. Sie sind teilweise auf die jeweilige Situation bezogen und aus der damaligen Sicht formuliert ("ich kann es nicht Mißtrauen nennen, aber es war doch etwas Ähnliches, was mich veranlaßte, auch hinauszugehen." W II, 561, ähnlich 560, 562); sie teilen aber auch Einsichten mit, die der Erzähler erst aufgrund späterer Erfahrungen gewonnen hat und jetzt in die Wiedergabe der Ereignisse einfließen läßt:

[ ... ]obwohl wir dann später freilich erfuhren, daß dieser Mann ganz und gar nicht so harmlos war, wie er sich den Anschein gab.

(W 11, S.563, ähnlich 564, 579 f.,S94)

Durch diese doppelte Sichtweise des Geschehens wird nicht nur der Wahrheitsanspruch bekräftigt, sondern diese Andeutungen lenken die Erwartung des Lesers von Anfang an auf die Vermutung, daß sich hinter dem Pedlar Rollins, der "sich so natürlich bescheiden, so unbefangen und harmlos" gegeben hat, etwas Ungeheuerliches verbirgt, das sich schließlich apokalyptisch als "eine Stimme" zu erkennen gibt, "deren Klang mich vom Tode hätte erwecken können."(W II, S.60) Die Anspielung auf das Jüngste Gericht verweist auf die Legendenzüge des ersten Bands. Während Old Shatterhand und Winnetou in "Old Firehand" durchaus verwund- und auch fehlbar waren, erscheinen sie jetzt - entsprechend den Heiligenmartyrien - als durch Qualen nicht verletzbar und gefeit gegen alle Nachstellungen des (im doppelten Sinn) bösen Feinds. Obwohl Santer beide Protagonisten in "Form eines Ringes" krummschließt, was "selbst einem Kautschukmanne die größten Schmerzen bereitet" hätte, liegen sie "drei volle Stunden", "ohne daß wir [...] unsern Peinigern einen Atemzug hören oder eine schmerzliche Miene sehen ließen."(W II, S.612) Schließlich ist Santer gezwungen, die beiden, nachdem sie alle Martern siegreich bestanden haben, nicht nur unversehrt freizugeben, sondern ihnen auch ihre Waffen und Pferde (die Attribute der Heiligen des Westens) zu überlassen.

Ganz ähnliche innere Widersprüche zwischen den einzelnen Textteilen finden sich auch im dritten Band. Hier allerdings mißlingt der Versuch, im Schlußteil die Struktur des ersten Bands und seiner Fortsetzung im letzten Kapitel


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von Band II zu Ende zu führen, aus verschiedenen Gründen. Ein Grund liegt wohl in einer persönlichen und familiären Krise Mays zu dieser Zeit, mehrfach bezeugt und in den letzten Jahren Gegenstand unterschiedlicher Vermutungen (148). Die wesentlicheren Gründe sind aber sicher literarischer Natur. Es ist denkbar, daß nicht die familiären Probleme die literarische Krise auslösten, wie bisher meist angenommen wurde, sondern daß umgekehrt die Schwierigkeiten Mays, die selbstgestellte Aufgabe der "Winnetou"-Trilogie zu bewältigen, seine "hochgradig gesteigerte Nervosität"(149) zur Folge hatten:

Ich bin in Folge häuslicher Zerwürfnisse jetzt immer so niedergeschlagen, daß ich wie oft nach der Wand über meinem Schreibtische sehe, wo der geladene Revolver hängt.

Diese Selbstmordphantasien stehen im gleichen Brief mit der Nachricht "Winnetou's Manuscript wird Mittwoch (20.9.) fertig!"(149).

Für den Abschluß der Trilogie ergaben sich aus den für Band I gewählten Handlungsmustern unauflösbare Aporien. Die Legendenstruktur verlangt in der Regel einen Abschluß mit dem Tod, möglichst infolge eines Martyriums des Heiligen. Als Konsequenz der Heiligenvita ergibt sich dann die Forderung der "Imitatio", der Nachfolge durch den Rezipienten (150). Winnetous Tod, folgerichtig als Opfertod für andere dargestellt, fügt sich, obwohl schon zehn Jahre vor der Zusammenstellung der "Winnetou"-Bände verfaßt, mit dem Bekenntnis des Apachen zum Christentum, der "Conversio" im Angesicht des Todes, treffend in diese Struktur. Der Unterricht im Glauben und in der Humanität durch Klekih-petra und durch den von diesem berufenen Nachfolger Old Shatterhand hat seine Früchte getragen: "Winnetou ist ein Christ." (W III, S.474) Damit ist die Parabel vom Untergang der roten Rasse ebenso vollendet wie die missionarische Sendung des weißen Helden.

Bezeichnenderweise bezieht May in einer für die Buchausgabe neu eingefügten Passage Winnetous Tod ausdrücklich auf die Gedanken der "Einleitung" des ersten Bands: "Grad so wird binnen kurzem seine ganze Rasse ausgelöscht sein, deren edelster Sohn er gewesen ist." (W III, S.474)


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Unmittelbar anschließend beschwört er - mit unübersehbarer Anlehnung an das Bild der Pieta (151) - die Winnetou im Tod Vorausgegangenen des ersten Bands:

So, wie er jetzt in meinem Schoße lag, war einst Klekih-petra in dem seinen gestorben und dann auch seine Schwester Nscho-Tschi. (W Ill,S.475)

Die Reminiszenz an den Tod Nscho-Tschis leitet über zum Schlußteil "Das Testament des Apachen". Darin werden die Jagd nach dem Mörder Santer und dessen Ende durch einen tödlichen Sturz in die Tiefe beschrieben, so daß auch dieses Handlungselement aus den ersten beiden Bänden zu Ende geführt wird. Allerdings zeigen die Schwächen dieses Abschlusses, daß nicht so sehr kompositorische Gründe ihn erforderten als vielmehr die Lieferungsbedingungen der Fehsenfeld-Ausgabe: Jeder Band der "Gesammelten Reiseerzählungen" sollte möglichst einen Idealumfang von 640 Seiten aufweisen, um die Bedingungen der heftweisen Lieferung zu erfüllen (10 Hefte zu je 4 Bogen = 64 Seiten).

Der "Winnetou III"-Text mußte also um einen Schlußteil ergänzt werden, wobei May möglicherweise zunächst eine Verbindung von Wildem Westen und Orient bzw. von Handlungsmotiven der ersten neun Bände der Fehsenfeld-Reihe vorschwebte.

Die Zwiespältigkeit des endgültigen Konzepts zeigt bereits Winnetous Testamentsankündigung, in der älteren, Anfang der achtziger Jahre entstandenen Erzählung von Winnetous Tod noch nicht enthalten. Dabei geht es ausschließlich um die Frage, wie der Vermögensnachlaß des Häuptlings verteilt werden soll - von einem geistigen Vermächtnis als philosophisch-weltanschaulichem Entwurf, wie er May dann bis an sein Lebensende als großes Werkthema vorschwebte ("Winnetous Testament") (152), ist keine Rede:

Und doch wirst du Gold zu sehen bekommen, viel Gold [...], aber es ist nicht für dich bestimmt. [...] Ich habe meine Wünsche aufgezeichnet, und du wirst sie erfüllen. (W III, S.467)

Zwar entwirft Winnetou kurz vorher die ins Jenseits projizierte Vision vom friedlichen Ausgleich zwischen Weißen und Indianern, aber diese Schilderung wird in keinen Bezug zum Inhalt des Testaments gebracht. Im Diesseits ist eine Lösung des in der "Einleitung" beschriebenen Konflikts nicht möglich; damit kann das Testament auch keinen Handlungsentwurf einer "Imitatio" enthalten (153).

Infolgedessen findet Old Shatterhand in dem von ihm gelesenen und dem Leser mitgeteilten Testamentsanfang (W III, S.512 f.) ausschließlich Hinweise, wo sich das Gold befindet. Mag May auch erwogen haben, die Handlung mit einer humanitären Stiftung Winnetous abzuschließen (vielleicht ähnlich der von "einem wohlgepflegten Garten umgeben[en]" "Heimat für Verlassene" am Schluß von "Satan und Ischariot"), so entzog er sich, indem er Santer


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die Blätter in "Fetzen" reißen und in den See werfen läßt, der Notwendigkeit, einen stimmigen, der schlüssigen Konzeption des ersten Bandes entsprechenden Vermächtnistext zu entwerfen.

Damit tritt die Jagd nach dem Verbrecher Santer in den Vordergrund; um das Geschehen abzuschließen, muß er seine verdiente Strafe erleiden. Erneut zeigt sich ein Zwiespalt: Die realistisch-historisch angelegte Personalisierung des "weißen Mannes", dem in der "Einleitung" die Schuld an der Ausrottung der Indianer zugeschrieben wurde, überlagert sich mit der Satanisierung, die der Gegenspieler des mythischen Helden erfährt. Damit wird die imperialistische Regel zur individuellen Ausnahme: in Santers 'Höllenfahrt', dem alten Puppenspiel vom Doktor Faust, einem unvergeßlichen frühen Erlebnis des Kindes Karl May, nachgestaltet (154), triumphiert die mythische Dimension endgültig über die historische Analyse.

Mays Versuch, die Legendenhandlung auch in Bezug auf den "Erwählten" Old Shatterhand abzuschließen, bleibt undeutlich. Der Martertod des Ich-Erzählers scheidet angesichts der noch geplanten weiteren Reiseerzählungen aus (155). Zudem ist der durch die Legendenstruktur geforderte Befehl zur "Imitatio" kaum auf die Abenteuerhandlung zu übertragen, da die säkularisierte Legendenform zwar die Geistesbeschäftigung mit dem Vorbild, die "Occupatio" durch sein Schicksal, zuläßt (156), reale Normkonsequenzen des Lesers aber weitgehend ausschließt.

Bei dem auf die "Winnetou"-Trilogie folgenden Fehsenfeld-Werk, "Old Surehand", ursprünglich wie das erste Konzept zu "Winnetou" auf zwei Bände angelegt, änderte May mehrfach, auch noch während des Schreibens, seinen Plan. Den Ausgangspunkt bildete wieder die Absicht, ältere Erzählungen zusammenzustellen. Schon die Erweiterung auf drei Bände und die programmatische Titeländerung signalisieren, daß nun eine neue Trilogie als Gegenstück zur vorhergegangenen entstehen soll. Surehand als Idealbild, als weiße "Verkörperung" dessen, "was Winnetou unter den Rothen war" (157) : so kündigte der Autor seinem Verleger das Konzept des Werks an.

Der Erzähleinsatz zeigt überdies sehr deutlich, daß May das komplette Handlungsinventar zunächst aus seinen


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beiden bisher gelungensten Bänden, "Winnetou I" und "Helden des Westens" übernimmt.

Winnetou als Idealgestalt steht am Anfang der Erzählung: seine Unfehlbarkeit wird hervorgehoben, ebenso seine Zuverlässigkeit, und anläßlich seiner Briefnachricht an den Erzähler weist dieser ausdrücklich darauf hin, "daß er [= W.] sehr wohl lesen und auch schreiben konnte" (Surehand 1, S. 3). Wie im dritten "Winnetou"-Band nach dem Tod des Häuptlings macht sich Old Shatterhand auch in "Old Surehand" allein auf, trifft aber jeweils recht bald auf unfähige 'Westmänner', die ihn kennen, so daß er sich im einen Fall als "Fallensteller Jones"(W III, S.481 f.), im anderen - schon näher an der Realbiographie des Autors - als "Gräbersucher Charley" (Surehand I, S.8 f.) ausgeben kann, ohne trotz des berühmten Pferds und der noch berühmteren Gewehre erkannt zu werden.

Die Botschaft Winnetous ruft Old Shatterhand zur Hilfe für Bloody-Fox auf, "den die Comantschen überfallen wollen"; wie sich später herausstellt, unter der Führung Schiba-bigks, des Komantschenhäuptlings, der in "Helden des Westens" zusammen mit Bloody-Fox gegen die Verbrecher im Llano estacado gekämpft hatte und jetzt sein damaliges Versprechen bricht, die Oase des Bloody-Fox nie zu verraten.

Diese Textsignale deuten Mays Absicht an, die beiden bisher in ihrem fiktionalen Charakter getrennten Erzählsyteme der Jugenderzählungen und der Reiseerzählungen zu vereinen. Das Bild von Old Shatterhand und Winnetou als übermenschlichen Helden wird nun ausgebaut und durch immer deutlichere biographische Bezüge zum realen Autor "Mr.Charley" ergänzt - bis hin zum berühmten Frontispiz-Photo des III.Surehand-Bandes "Old Shatterhand (Dr.Karl May) mit Winnetous Silberbüchse".

Dabei fehlt dem Autor aber zunächst ein ähnlich wirkungsvolles, ästhetisch-stimmiges Konzept wie bei "Winnetou I", um die Vorgänge zu strukturieren. Es gelingt ihm nicht, die doppelte Codierung des dortigen Geschehens (Abenteuer - Parabel - Legende) zu übertragen, zumal ihm der Handlungsablauf bestenfalls in


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ganz groben Zügen vorschwebte. Obwohl die beiden zu Beginn des Romans eingefügten Binnenerzählungen durch ausdrückliche Hinweise auf ihre Bedeutung für die weitere Handlung eingerahmt werden, spielen sie - ebenso wie ihre Erzähler - später keine bedeutende Rolle mehr. Allerdings lassen sie die Absicht erkennen, durch die Konfrontation Sam Parkers (von dem der Leser "komische Scenen zu erwarten" hat (Surehand I, S.11)) mit dem tief melancholischen Josua Hawley, sowie dadurch, daß ihre beiden Parallel-Erzählungen (158) komisch bzw. tragisch akzentuiert sind, die Lesererwartungen auf eine Mischung der Erlebnisbereiche hin zu strukturieren. Parallel zur expositorisch gedachten Übernahme der beiden älteren Geschichten laufen die Hinweise des Ich-Erzählers auf Old Wabble: erscheint er im "Ersten Elk" als zwar eigenwilliger, dabei aber zuverlässiger Westmann ähnlich der Figur des "Old Death" im "Scout", so wird er durch den Ich-Erzähler als 'Mythos' eingeführt:

Was Old Wabble betrifft, so hatte ich viel, sehr viel von ihm gehört, ihn aber noch nicht gesehen. Man wußte, daß er wirklich existiere, und doch lebte er in den Erzählungen wie eine mythische Gestalt, mit der die Gegenwart nichts mehr zu schaffen hat. (Surehand I, S.31)

Bereits hier findet sich der Hinweis auf sein hohes Alter ("über neunzig Jahre") und auf sein "langes, schneeweißes Haar, welches beim Schnellreiten wie eine Mähne hinter ihm wehte."(ebd.) (159) Die Passage dürfte den Abschluß des ersten Teilmanuskripts gebildet haben;


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auffallend ist hier eine ähnliche Dichotomie "früher/ jetzt" wie in der "Einleitung" von "Winnetou I". Unmittelbar davor hatte Old Shatterhand in einem Exkurs an seine eigene "Lehrzeit" bei Sam Hawkens und Winnetou erinnert. Die Grundidee, wie sie May zu Beginn des Schreibens vorschwebte, ist kaum noch zu rekonstruieren. Mit Sicherheit ist es nicht die später ausgeführte Handlung, da May dann sicher von Anfang an den Text weitaus dichter mit Hinweisen versehen hätte. Möglich wäre es, daß Bloody-Fox, dessen Auftreten kaum zureichend motiviert ist (ebenso wie die ganzen Llano-Szenen) in eine nähere, evt. verwandtschaftliche Beziehung zu Old Wabble und Old Surehand gebracht werden sollte: drei Generationen von Westmännern und ihre biographischon Verflechtungen bzw. ihre unterschiedlichen Schicksale als Gegenstück zu "Winnetou" (160).

Die vom Erzähler angedeutete Parallele Old Wabble - Old Surehand verweist mit wesentlichen Kennzeichen auf die Erscheinung Bloody-Fox' als "Avenging-ghost" mit dem Büffelkopf und "der struppigen, halblangen Mähne, welche hinterherflatterte" (161):

es war eine wahre Lust, das lange, schneeweiße Haar Old Wabbles und die fast noch längere braune Mähne Old Surehands im Winde fliegen zu sehen. (Surehand I, S.205)

Auch bei der ersten ausführlichen Beschreibung des schlafenden Old Surehand durch den Erzähler (Surehand I, S.171) und noch bei zwei weiteren Gelegenheiten, bei denen Surehand "Ausdauer, Umsicht und Geschicklichkeit [beweist], wie ich sie kaum jemals bei einem Weißen gesehen hatte"(Surehand I, S.218, ähnlich 214), wird zwar hervorgehoben, daß "sein langes, braunes, seidenweiches Haar [...] wie ein Schleier bis auf den Gürtel herab" lag, werden aber keinerlei Hinweise auf ein indianisches Aussehen gegeben, obwohl doch später Old Surehands indianische Gesichtszüge immer wieder eine handlungsentscheidende Rolle spielen. (162)


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Nicht nur die beiden als bedeutungstragend eingeführten Binnenerzählungen mit ihrer Frage nach der Schuld und nach angemessener Sühne bleiben später funktionslos, weite Teile des ersten Bandes, vor allem die Indianer Begegnungen, sind weitgehend mechanische Rekapitulation bereits mehrfach erprobter Abenteuerversatzstücke. (163)

Erst im zweiten Teil des ersten Bandes "fleckt es gut", um mit May zu sprechen (164) . Es zeichnet sich nun ein Konzept ab, das geeignet erscheint, sowohl die Abenteuerhandlung wie auch eine zweite, parabelhafte Bedeutungsschicht zu tragen: die Mitglieder einer Familie stehen nach Abstammung und Erziehung zwischen den Rassen. Ein Teil gehört (scheinbar) zu den Weißen, andere sind unter Indianern aufgewachsen. Daß sie sich wiederfinden und ihre Verwandtschaft entdecken, belegt die Forderung nach Brüderlichkeit und Humanität unter Menschen verschiedener Hautfarbe. (165) Dieses Grundschema greift zurück auf die Struktur von Lessings Drama "Nathan der Weise". So wie dort Mitglieder verschiedener Religionen ihre Verwandtschaft entdecken und dadurch die Pflicht zur Toleranz begründet wird, ergibt auch die Familiengeschichte der Benders eine Absage an rassistische Intoleranz und Menschenverachtung. (166)

Der erste größere Zusammenstoß zwischen Old Shatterhand und Old Wabble entzündet sich an dem Schimpfwort "Nigger", an dem der alte Westmann unbelehrbar festhält (Surehand I, S.240 f.). Dieser Streit (d.h. etwa der Beginn des 16.Bogens = S.241) markiert den Punkt, an dem May auf ein neues, wenn auch möglicherweise noch nicht das endgültige Handlungskonzept umschwenkt: die negativen Züge Old Wabbles verstärken sich mehr und mehr, Old Shatterhand trifft die wahnsinnige Indianerin Tibo-wete-elen, deren Ähnlichkeit mit Old Surehand ihm sofort auffällt (Surehand I, S. 258), und die religiösen Gespräche, sowohl mit Old Wabble wie mit Surehand mehren sich(S.396 ff.)


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Mays Empörung im bereits zitierten Brief an Fehsenfeld über dessen Vorschlag, den ersten "Surehand"-Band einfach nach 33 Bogen abzuschließen, war sicher auch deshalb so vehement, weil durch die Kürzung das mühselig gewonnene Handlungskonzept völlig zerstört würde: alle wesentlichen Hinweise auf die Familiengeschichte werden nämlich erst nach dem 33. Bogen gegeben (=S.529). (167) Gleichzeitig belegt dieser Brief die von May beabsichtigte Parallele zwischen den beiden Trilogien; nach der Vollendung des ersten Bands schien der Plan geeignet, das Geschehen "noch besser" als in "Winnetou I" zu strukturieren. Der Versuch, die Erzählungen des zweiten "Surehand"-Bands durch eine Rahmenerzählung zu kommentieren und sie so auszuwählen, daß sich zahlreiche Verbindungen zur Haupthandlung ergeben, stellt ebenfalls, wie Harald Fricke ausführlich dargestellt hat (168), einen deutlichen Fortschritt gegenüber den beiden letzten "Winnetou"-Bänden und gegenüber den früheren Erzählsammlungen dar (Bd.X/XI).

Auf der anderen Seite sind aber weder die Ziellosigkeit des ersten "Surehand"-Bandes noch die erzähltechnischen Schwächen des dritten Bands künstlerisch befriedigend. Durch die lange Unterbrechung bis zur Vollendung der Trilogie ergab sich eine unübersehbare Diskrepanz zwischen dem im ersten Band angelegten Entwurf und der Handlung des letzten Bands. (169) Walter Ilmer hat in einer eingehenden Analyse die "Kompositionsmängel" der "Surehand"-Trilogie zusammengestellt. (170)


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Er zitiert darin "Mays eigene bekannte Anmerkung am Schluß des Manuskriptes: 'Endlich endlich endlich Schluß des III.Bandes. Hamdullilah!". Diese Schlußworte legen für Ilmer die Frage nahe, ob May "seine 'Stümpereien' erkannte, sich daran gequält hatte?" (171)

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die erzähltechnischen Mängel der "Surehand"-Trilogie der Anlaß dafür waren, das nächste für Fehsenfeld geplante Projekt, einen Einzelband, weitaus gründlicher vorzubereiten und durchzuplanen: "Weihnacht!".

In diesem Roman werden auffällig viele Elemente aus "Old Surehand" wieder aufgegriffen, so daß die Vermutung naheliegt, May habe hier die Mängel der Trilogie korrigieren wollen:

1. Dem Einleitungskapitel in "Weihnacht!" liegt als Kern der autobiographische Exkurs des "Surehand I" zugrunde (Surehand 1, 406-408, 411 f.).

2. Die Mittelteile mit der Darstellung der bürgerlichen Welt (Gasthaus/Hotel; Bank) in Jefferson City (Schlußkapitel von "Surehand II") bzw. in Weston ("Weihnacht!") entsprechen sich sowohl in der Anlage wie auch in Handlungsdetails: beidemale kommen ein Diebstahl und eine Auseinandersetzung Old Shatterhands mit Rowdies vor.

3. In beiden Fällen liegt der räumlichen Orientierung ein Aufstieg in die Berge zugrunde; in "Weihnacht!" allerdings weit besser motiviert und durchgeführt als in "Surehand III". Walter Ilmer, der bereits auf die geographischen Parallelen zwischen den beiden Romanen hinwies, stellte darüber hinaus fest, daß die Reise ins Gebirge im "Surehand" weder von den Verbrechern aus noch vom Titelhelden her zureichend begründet ist. (172)

4. May verweist in "Weihnacht!" ausdrücklich mit einer Fußnote auf die Beschreibung der Rocky Mountains in "Surehand III" und hebt den Unterschied hervor ("Weihnacht!", 540).


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5. Beide Male erfüllt sich eine Drohung/Prophezeiung an Schurken auf schreckliche Weise, wobei aber die spätere Darstellung weitaus differenzierter ist als im Vorläufer-Band, wenn etwa Winnetou konstatiert: "Diese drei Bleichgesichter haben Sünden und Fehler, aber keine Verbrechen begangen." ("Weihnacht!", 599).

6. Damit hängt zusammen, daß in Carpios und Reiters Schicksal geradezu exemplarisch das Thema der "schuldlosen Schuld" (173) aus den einleitenden Binnen-Erzählungen der "Surehand"-Trilogie ausgeführt ist.

7. Die Anordnung der Figuren in "Weihnacht!" als parallele Lebensläufe (v.a. des Ich-Erzählers und Carpios) könnte auf den ursprünglichen "Surehand"-Plan zurückgehen.

8. Old Surehands Schweigen, als Thema in der Trilogie noch völlig unzureichend bewältigt, weist schon voraus auf das grundlegende Thema der Kommunikation in "Weihnacht!" und darüber hinaus im Spätwerk.


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Anmerkungen zu: II. Mays literarische Entwicklung

1 L & Str, 99 f.

2 "Weihnacht!", 4 ff.

3 Plaul, JbKMG 1971, 150 f., 157 f.

4 L & Str. 110 f.; dazu Plaul, JbKMG 1975, 176-185, mit Diskussion der späten Selbstaussagen Mays zu den Anfängen seiner schriftstellerischen Tätigkeit.

5 Ebd. , 177.

6 Freistatt, Nr.22 (4.6.1910), 345. Neudruck in: JbKMG 1976, 256 f.

7 L & Str, 113.

8 Neudruck (mit einigen Lesefehlern) in: JbKMG 1971, 132-143 (beispielsweise lies Nr.46 (S.134) "Scat Quartall"; Nr.47 (") Great-Eastern-Reilway."; Nr.122 (S.142) Tschoban; Nr.124 Oftschaki und Nogaika.) Für freundliche Auskünfte und die Erlaubnis zur Einsichtnahme habe ich Roland Schmid herzlich zu danken; eine exakte und kommentierte Ausgabe des "Repertoriums" ist längst überfällig. An einem Einzelbeispiel läßt sich die Vermutung, May habe schon um 1863/64 erste Erzähltexte verfaßt, auch mit textinternen Gründen belegen: in der Novelle "Wanda" (der Name auch im "Repertorium C. May", Nr.69), deren frühester Druck in H.G.Münchmeyers Zeitschrift "Der Beobachter an der Elbe" (II.Jg., Nr.26-35, 38-44; März bis Juni 1875) nachweisbar ist, läßt sich nach Hartmut Kühnes Analyse auf Grund von inhaltlichen und stilkritischen Gesichtspunkten (MKMG Nr. 21(1974), 9-13) eine "Ur-Wanda" erschließen. Diese hypothetische Fassung, weitgehend mit dem Anfangs-Kapitel ("Die Auction") des Erstdrucks identisch, zeigt nicht nur mehrere Parallelen zu Ernstthaler Vorgängen um 1863, sondern bildet außerdem eine in sich abgeschlossene Handlung und rechtfertigt überdies durch einen ausgeprägten Wendepunkt die Gattungsbezeichnung "Novelle" weit mehr als die Druckfassung von 1875 (vgl. Plaul, JbKMG 1971, 147 f., und JbKMG 1977, 160 f., zum lokalgeschichtlichen Hintergrund).

9 Plaul, JbKMG 1975, 173 f.

10 L & Str, 152.

11 Z. B. die Nummern 23, 44, 65, 136 (wie Anm.8).

12 L & Str, 152.


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13 "Aus der Mappe eines Vielgereisten"; vgl. dazu Plaul, JbKMG 1977, 165-173, mit ausführlicher Darstellung dieser frühen Erzählungen. Eine eingehende Analyse zur "Innovation des Ich-Helden bei Karl May" liefert Jürgen Wehnert im Text + Kritik-Sonderband, 1987, 5-38.

14 Plaul, JbKMG 1975, 187.

15 Plaul, JbKMG 1977, 124-127. - Zur Zunahme der Presseerzeugnisse bietet ausführliches Material auch Meyers Konversations-Lexikon. 4.Aufl. Bd.16. Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut 1890, 848-850 ("Zeitungen").

16 Plaul, ebd., 127.

17 So der Reihentitel für die Erzählungen im II.Jahrgang von "Frohe Stunden" (1877 f., Verlag Radelli, Dresden).

18 Karl Guntermann, MKMG 45 (1980), 28.

19 Zu den Frühwerken vgl. u.a. Plaul, JbKMG 1977, 114-217; Kühne, wie Anm.8; Lorenz, JbKMG 1981, 360-374 (zu den Erzählungen aus "Für alle Welt"/"All-Deutschland"); Hein, JbKMG 1976, 47-68 (zu den "Dorfgeschichten"); Kühne, MKMG 51 (1982) (zu "Die Gum"). Daneben bieten die Einführungen zu den Reprint-Ausgaben der KMG (KMG-R) und die Artikel des KMHb zahlreiche wichtige Angaben zur Bibliographie und zur literarischen Bewertung.

20 Plaul, JbKMG 1977, 160 f.; Kühne, wie Anm.8.

21 Herbert Meier, Einführung zu KMG-R "Der Waldkönig", 15 f.; dort auch die bibliographischen Nachweise. Der Titel "Die Rose von Ernstthal" verweist ebenso auf Mays Heimat wie einzelne Figuren in der Erzählung (Schmied Weispflog, der Taufpate Karl Mays; vgl. L & Str, 384 (Anm.141)). Die Erstfassung von 1875 wurde für einen weiteren Abdruck (1880) von May, "wenn auch nur relativ leicht, überarbeitet: bei unverändertem Handlungsablauf besorgte er stilistische Verbesserungen und berichtigte zahlreiche Druck- und Setzfehler." (Meier, ebd.). - Hartmut Vollmers Aufsatz "Ins Rosenrote. Zur Rosensymbolik bei Karl May (JbKMG 1987, 20-46) geht nur sehr am Rande auf die "Rose von Ernstthal" ein.

22 H. Meier, ebd., 10.

23 Ebd., 13.

23a Besonders aufschlußreich sind in dieser Hinsicht die Varianten zwischen einer der frühesten Erzählungen, "In-nuwoh, der Indianerhäuptling" (1875 veröffentlicht, evt. bereits früher entstanden), und ihrer Zweitfassung "Winnetou. Eine Reiseerinnerung" (1878 veröffentlicht). Die Zweitfassung weist, über die Neubenennung und Neuakzentuierung des Titelhelden hinaus, "vielfältige stilistische und komposi-


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torische Veränderungen auf" (J.Biermann, in KMHb, 489), denen "geradezu ein programmatischer Charakter" bezüglich Mays Indianer- und Wildniskonzept zukommt (vgl. Ekkehard Koch, in: KMG-R "Der Krumir", 180 f.).

24 "Der beiden Quitzows letzte Fahrten. Historischer Roman aus der Jugendzeit des Hauses Hohenzollern." In: Feierstunden am häuslichen Heerde (Dresden: H.G.Münchmeyer), 1.Jg., H.10-41, Nov. 1876 - Juni 1877. - Vgl. S. Augustin in KMHb, 365 ff.

25 "Auf der See gefangen. Criminalroman von Karl May." In: Frohe Stunden (Dresden: Bruno Radelli), II. Jg., Nr.21-52, Februar - September 1878. - Vgl. Andreas Graf: Winnetou im 'Criminalroman'. Aspekte zeitgenössischer Aktualität in Karl Mays frühem Roman "Auf der See gefangen". In: Text+ Kritik-Sonderband, 1987, 39-59; die Textgeschichte des Romans in KMHb, 369-371. Einen im KMA fragmentarisch erhaltenen Paralleltext der Einleitung zu "Auf der See gefangen" veröffentlichte und interpretierte Herbert Meier im JbKMG 1986 unter dem Titel "Das Otto-Victor-Fragment" (JbKMG 1986, 89-95; Erläuterungen H.Meiers ebd., 96-109).

26 " Scepter und Hammer". In: All-Deutschland/Für alle Welt (Stuttgart: Göltz und Rühling) IV.Jg. (1879 f.), Nr.1-52."Die Juweleninsel". In: Für alle Welt. (Stuttgart: Göltz und Rühling), V.Jg. (1880 f.), Nr. 1-58.

27 Ilmer, in: Sonderheft KMG Nr.23, 45 (Karl Mays erster Großroman "Szepter und Hammer - Die Juweleninsel"). - Zur "Juweleninsel" vgl. auch V.Klotz, JbKMG 1979, 262-275. Walther Ilmers Urteil über diese frühen Romane bestätigt Andreas Graf bezüglich des Erstlings "Auf der See gefangen", der "nur eine - recht liederliche - Lehrlingsarbeit" sei, Zeugnis dafür, daß hier "das handwerkliche Geschick des Autors erst ganz am Beginn seiner Entwicklung steht." (wie Anm.25, 47 f.).

28 Plaul, JbKMG 1977, 177.

29 Ebd. - Zum 'Realismus' Mays vgl. H. Schmiedt in KMHb, 147 ff.

30 Zit. nach Vinzenz, JbKMG 1982, 218.

31 L & Str, 196.

32 Meier, Einführung zu KMG-R K1HE, 11.

33 Ebd., 5 (dort auch Ubersicht zu den Zusammenhängen zwischen den "Frohe Stunden"- und den "Hausschatz"-Erzählungen).

34 Ausführliche Analysen und Literaturnachweise ebd.

35 Analyse des grundlegenden Handlungs- und Stilrepertoires bei H.Schmiedt, 1979, 67-219; eine darüberhinaus führende Ubersicht, ebenfalls von H.Schmiedt, in KMHb, 147-176.


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36 "Unter Würgern". In: DH, V.Jg., H.40-49 (Juni-August 1879) (Zitat S.607 = Orangen und Datteln (X), S.4 KMG-R K1HE, S.63).

37 Z.B. "Der Brodnik": Schauplätze Deutschland Rußland China - Mongolei (DH, VI.Jg. (1879 f.), Nr.44 f.); "Robert Surcouf": Schauplätze Frankreich - Indien - Borneo (DH, VIII. Jg., Nr. 50-52, 1882). - Die Struktur dieser multinationalen Erzählungen ist allerdings weit strenger komponiert als die der Kolportageromane.

38 Die autobiographische Skizze "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen" (DH, XXIII.Jg. (1896 f.), Nr.1 f.) bildet einen Sonderfall außerhalb des Textzusammenhangs der frühen "Hausschatz"-Erzählungen.

39 Zur Entstehungsgeschichte und Erscheinungsweise des Orientromans vgl. die Einführungen zu den KMG-R der "Hausschatz"Romane; weitere Angaben bei W.Vinzenz, JbKMG 1982, 218 f., in R. Schmids Nachworten zur Reprintausgabe der Fehsenfeld-Edition (bes. in "Skipetaren"(V) und in "Pfade" (XXIII)) sowie im KMHb, 177-205.

40 Plaul, JbKMG 1977, 180 ff.

41 K.Hoffmann, Nachwort zum "Waldröschen"-Reprint (Hildesheim: Olms 1971), Bd.6, 2617-2686. - Zu den Kolportage-Romanen insgesamt vgl. die weiterführenden Angaben bei Lowsky, 1987, 43-51, im KMHb, 365-418, und im Text+Kritik-Sonderband, 60-100.

42 Roxin, Vorwort zum KMG-R "Todes-Karavane".

43 Wollschläger, 1976, 67.

44 Brief an "Herrn Biedermann", 12.2.1906. In:"Waldröschen" - Sonderheft I der KMG, 4- 6.

45 Das Manuskript dieses Romans ("Dalilah") wurde von May, nachdem er es von Adalbert Fischer zurückerhalten hatte, vernichtet. Wollschläger, 1976, 192 (Anm.116).

46 Heinemann, "Einführung" zum KMG-R "Bärenjäger", 3.

47 Brief Spemanns an May, 7.1.1887. In: "Anhang" zum KMG-R "Bärenjäger", 263. - Leider wurde die Korrespondenz Spemanns mit May in den Reprint-Bänden der "Kamerad"-Erzählungen nicht vollständig, sondern nur ausschnittweise publiziert; wie schon Jürgen Wehnert zu Recht monierte, ist durch diese "unverständlich(e) ( ... ) Entscheidung der Herausgeber" und durch die aus ihr resultierende Zersplitterung der Briefe bzw. Briefzitate eine Auswertung stark erschwert (Wehnert, in KMG-R "Der Krumir", 123, Anm.3). Eine zusammenfassende Darstellung der Beziehung May-Spemann steht noch aus; die Vorworte der "Kamerad"Reprints liefern dazu Mosaiksteine, die sich allerdings kaum zu einem Gesamtbild zusammenfügen.


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48 Brief des Spemann-Verlags an May, 1.9.1887; in "Anhang" zu KMG-R "Bärenjäger", 265.

49 Ebd.

50 Die Erzählung liegt bisher noch nicht im Reprint vor; vgl. R.Tschapke in KMHb, 360-364 (der dem Text keine besonderen Reize abgewinnen kann).

51 Adolf Spemann: Wilhelm Spemann. Stuttgart 1943, 178. (Zit. nach E.Heinemann, JbKMG 1976, 204, Anm.20).

52 Vinzenz, JbKMG 1982, 219.

53 Old Shatterhand/Winnetou treten auf in: "Der Sohn des Bärenjägers"/"Der Geist des Llano estakado"; "Der Schatz im Silbersee"; "Der Ölprinz"; "Der schwarze Mustang".Die ausführlichste Analyse der Jugenderzählungen stammt von Heinz Stolte, JbKMG 1972/73 - 1975; daneben zu "Helden des Westens" ("Bärenjäger"/"Geist des Llano estakado") Schmiedt, JbKMG 1982, 60-76, und Kosciuszko, Sonderheft KMG Nr.42 (1983).

54 Stolte, JbKMG 1972/73, 172.

55 Das deutlichste Beispiel bildet die in der Heimat Sachsen spielende Rückblende in "Satan und Ischariot", in der die Vorgeschichte der Sängerin Martha Vogel erzählt wird; bezeichnenderweise strich der "Hausschatz"-Redakteur Heinrich Keiter diese Teile (vgl. KMHb, 259-266).

56 Stolte, wie Anm.54, 175.

57 Ebd. - Mays Koppelung eines weißen/deutschen Jungen mit jeweils einem ebenbürtig-positiven Vertreter eines anderen Volks/ einer anderen Rasse zeigt, wie wenig hier im Sinne des um 1890 sich gerade anbahnenden deutschen Imperialismus erzählt wird; das Grundmuster findet sich bereits in der Erzählung "Unter der Windhose", die auch sonst in vielen Strukturmerkmalen als Vorläufer der "Kamerad"-Erzählungen anzusehen ist (vgl. S.Augustin, Vorwort zu "Unter der Windhose", KMG-R "Der Krumir", 153-156).

58 Ausführlich ist die speziell auf Gymnasiasten, also auf die primären Adressaten des "Guten Kameraden" zugeschnittene Komik des Hobble-Frank in ihrer Verballhornung des Schul-Bildungsguts dokumentiert in den Anmerkungen zu B.Kosciuszkos Ausgabe von "Der Geist des Llano estakado", Stuttgart: Reclam 1984 (Reclams UB 8235), 304-325. Vgl. auch ebd. die Analyse der Erzählung, 336-346.

59 Stolte, JbKMG 1974, 185-194; JbKMG 1975, IOS-125.


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60 Beispiele etwa der Ingenieur Butler in "Der Schatz im Silbersee" oder der Bankier Rollins in "Der Ölprinz". Ch.F.Lorenz' beiläufige Erwähnung der "praktisch-ökonomischen Sichtweise" des Schatzmotivs in "Der Schatz im Silbersee" (Einführung zum KMG-R dieses Romans, 3) verweist auf einen wesentlichen Aspekt der Jugenderzählungen: die industriell akzentuierte Sichtweise bestimmt in ihnen weit stärker das Geschehen und die Motive der Handelnden als in den "Hausschatz"-Romanen. Hinzuweisen ist hier auf die Petroleumgewinnung in China ("Kong-Kheou") ebenso wie in Nordamerika ("Der Ölprinz"), auf die Holzausbeute der Rafters ebenso wie auf die Erzminen im "Schatz im Silbersee".

61 Ausführlich zum Thema "Verbrecher": Schmiedt, 1979,102-108.

62 Schmiedt, JbKMG 1982, 74.

63 Ebd., 73.

64 Dabei ist von den Kapiteln der Zeitschriften-Fassung auszugehen; in der Buchausgabe wurde die Zahl der Kapitel verdoppelt, also jedes Kapitel in zwei neue eingeteilt.

65 Zwar wird die Identität des Mörders geklärt und der Mord wird gerächt, aber die Herkunft des Bloody-Fox bleibt im Dunkeln. Möglicherweise wollte May in "Old Surehand" diese Frage erneut aufgreifen und mit der Frage nach Old Surehands Herkunft, über der ebenfalls ein Geheimnis liegt, verbinden.

66 Bereits "Der Schatz im Silbersee" wird von Ch.F.Lorenz (Einführung zum KMG-R) ebenso wie von den beiden Herausgebern der historisch-kritischen Ausgabe als deutlich schwächer charakterisiert als die ersten Jugenderzählungen. Während Lorenz eine Reihe von erzähltechnischen Mängeln nennt, insbesondere, "daß Karl May manche Versatzstücke aus früheren Erzählungen in den 'Silbersee' hineinmontiert hat" (ebd., 5), verweisen Wiedenroth/Wollschläger auf Mays "gehetzte Lebenslage und physische Erschöpfung" im Entstehungsjahr 1889, deren Ausdruck "Motivwiederholungen im engeren wie weiteren Sinne" seien (HKA, Bd. III,4, S.647).

67 E.Bartsch, JbKMG 1972/73, '95.

68 Etwa wenn Hobble-Frank und Tante Droll im "Ölprinz" als Winnetou und Old Shatterhand maskiert auftreten oder wenn sie gedruckte Visitenkarten mit ihren deutschen (!) Namen im Wilden Westen überreichen.

68a Brief an Fehsenfeld, 26.3.1897. - Daß die Lösung von Spemann bereits mit den ersten Kontakten zu Fehsenfeld einsetzt, zeigt die Tatsache, daß May ab 1891 weder für Spemann noch für Joseph Kürschners Zeitschriften seine bis 1890


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relativ zahlreichen kleineren Beiträge (überwiegend nach Bildvorlagen) fortsetzte (vgl. E.Heinemann, "Einführung" zum KMG-R "Sklavenkarawane", S.8).

69 Vgl. die Direktiven des Verlags in den Briefen ("Anhang" zum KMG-R "Bärenjäger"): sie enthalten zwar zum einen zahlreiche Mahnungen, rechtzeitig Manuskript zu liefern, formulieren aber auch Wünsche und Kritik, die den Inhalt und die Gestaltung der Texte betreffen.

70 Zwar finden sich May-Erzählungen im DH von 1887 bis 1898 in jedem Jahrgang, aber May lieferte, wie R.Schmid nachgewiesen hat (F-R KMV, "Jenseits" (XXV), N 26), "seit Ende 1893 bis Frühjahr 1897 kein Manuskript" an den "Hausschatz" (Ausnahme: "Freuden und Leiden eines Vielgelesenen"). Der Verlag war allerdings ab 1893 mit May-Text bis zum Jahrgang 1897/98 versehen, wobei der DH-Redakteur Keiter sogar noch ca. 440 Manuskript-Seiten strich; vgl. Vinzenz, JbKMG 1982, 226-228.

71 Zu den Quellen und zur Erzählweise der "Hausschatz"-Romane vgl. die Beiträge von E.Koch, B. Kosciuszko, E.Botschen und W.Ilmer in den JbbKMG 1979 und 1981.

72 DH, XV.Jg. (1888 f.), S.187.

73 Ebd., S.488; weitere Hinweise auf die Schwierigkeiten des Ich-Erzählers mit dem Reiten S.490, 507, 518, 550 f., 680.

74 Ebd., S.360.

75 E.Botschen, JbKMG 1979, 192; vgl. ebd., 190-199, die eingehende Kritik der erzähltechnischen Mängel der "Sendador"Erzählung.

76 Dazu ausführlich R.Schmid in F-R KMV "Pfade"(XXIII), A 21 ff.

77 Der Briefwechsel zwischen der "Hausschatz"-Redaktion und May ist nur zum Teil erhalten; die vorhandenen Briefe zeigen, daß May erst etwa 1894/95, zu einem Zeitpunkt, als er bereits dabei ist, sich von Spemann und von Pustet zu lösen, dem DH gegenüber mit imperialen Drohgebärden auftritt (vgl. W. Vinzenz, JbKMG 1982, 221-226).

78 Im Gegensatz zu den "Hausschatz"-Romanen sind die "Kamerad"Erzählungen durchweg besser und folgerichtig in Kapitel gegliedert, am gelungensten zweifellos "Der Geist des Llano Estakado"; selbst die, wie Ch.F.Lorenz urteilt (Einführung in den KMG-R "Kong-Kheou, das Ehrenwort", S.4) "überaus flüchtige" und "widersprüchliche" Einteilung der China-Erzählung ist bei genauerem Zusehen mit der Abgrenzung der Heimatteile (als Einleitung und Schluß) von den beiden in China spielenden Großkapiteln zwar nicht besonders differenziert, aber überzeugender als die Fehler im "Hausschatz".


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Übersichtlich zusammengestellt finden sich die Kapitel der "Hausschatz"-Romane bei Klußmeier, Karl May und der DH, MKMG Nr.16-23 ( 1973-1975), jeweils S.17-20.

79 Wollschläger, 1976, 67.

80 Das Bild des "Sumpfes" hatte für May nicht nur eine soziale Bedeutung (mit diesem Begriff beschreibt er in L & Str seine Heimat Ernstthal, L & Str 8S ff.), son dern auch eine sehr deutliche literarische Komponente. Bereits in der frühen "Originalhumoreske" "Der Scheerenschleifer" (In: Für alle Welt, V.Jg., Nr.1-10 (Okt.-Dez. 1880) (Stuttgart: Göltz und Rühling) besingt in dem Scherenschleiferlied, das der schwedische Wachtmeister Roller, als Scherenschleifer verkleidet, vorträgt, eine Strophe den Redakteur:

"Ich kenne ein Amphibium, /Heißt Redakteur und ist nicht dumm.

Im Tintenfasse schwimmt das Thier,/ Frißt Federn, Schreib- und Druckpapier,/ Hat eine Zunge, spitz und scharf,/ Und quakt, was man nicht quaken darf." usw.

Nach 1900 verwendet May die Sumpf-Metapher mehrfach, um seine literarischen Gegner, bes. die Presse zu kennzeichnen, z.B. im "Silberlöwen" (SL IV, 37-39, 161, 171, 192). Das Gedicht "Erste und letzte Antwort", vermutlich im Zusammenhang mit dem "Silberlöwen" entstanden, führt das Bild auf sprachlich plastische Weise und mit geschickt gehandhabter Ironie durch (in "Lichte Höhen" nicht enthalten; Faksimile-Sonderdruck des KMV 1973):

Wie sonderbar ists doch, wenn Frösche quaken,
   Versteckt im Schlamm des Druckerschwärzenteiches!
Sie nähren sich von Würmern, Egeln, Schnaken
   Und denken wirklich, Andre thun ein Gleiches.
Es wird mit Schmerzen Tag und Nacht gelauert,
   Ob nicht ein fremder Frosch-College schreit,
Und wenn das Warten gar zu lange dauert,
   Macht man sich in dem eignen Sumpfe breit.

81 Roxin, Einleitung KMG-R "Todes-Karavane": "da er [May] Kolportage-Hefte mehr als dreimal so schnell schreiben konnte wie die sorgfältige Studien voraussetzenden, auch formal anspruchsvolleren Hausschatz-Texte, [...] verdiente May auf diese Weise ein Vielfaches dessen, was er sonst hätte einnehmen können." (S.3).- Vgl.Anm.71.

82 Satan III, 61S.

83 Vinzenz, JbKMG 1982, 227. - Zu den Kolportage-Parallelen der "Satan"-Trilogie vgl. auch H.Kühne in KMHb, 264 f.

84 Vinzenz, ebd. - Neben Judith Silberstein erinnert auch ihr chancenloser Verehrer Herkules an Figuren aus dem "Verlorenen Sohn", nämlich an den Riesen Bormann und an seinen Bruder, den Artisten, wobei insgesamt das starke Hervorheben des sexuellen Begehrens als Movens den Roman von den anderen "Hausschatz"-Erzählungen abhebt.


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85 Zu dieser von Keiter gekürzten Martha-Vogel-Episode vgl. Ilmer, MKMG Nr.47 f.(1981), und Vinzenz, JbKMG 1982, 226 ff., sowie R.Schmid in F-R KMV "Satan III"(XXII), N 5-8. Zur biographischen Deutung vgl. H.-D.Steinmetz in MKMG 40 (1979), 12-23.

86 Über Fehsenfeld vgl. Konrad Guenther, 1933 (jetzt auch in F-R KMV "Satan I" (XX)); Ekke W.Guenther, JbKMG 1978, 154-167 (dazu Maschke, MKMG 39 (1979), 11-14). Eine eingehende Monographie über Fehsenfeld und seinen Verlag steht noch aus; zahlreiche Einzelhinweise finden sich bei Hatzig, 1967; Maschke, 1973, sowie in den Anhängen der F-RR KMV, bes. in "Satan II" (XXI), A 3 - A 83.

87 Vgl. Maschke, 1973, 197-210.

88 Vgl. Steinmetz, JbKMG 1981, 300-338.

89 Exorbitante Angaben von Seitenzahlen finden sich sowohl in den Briefen an Fehsenfeld wie auch noch später in den (insgesamt allerdings recht renommistisch-übertreibenden) Briefen an die Familie Seyler in Deidesheim (bei Maschke, 1973, 211-250); vgl. etwa die Briefe vom 14.9.1896 (229 f.), vom 22.12.1896 (231), vom 10.3.1897 (233 ff.), und vom 15.10.1897 (239 f.). Dort die folgende Passage: "Jetzt arbeite ich an dem Christbande 'Weihnacht' und an 'Im Reiche des silbernen Löwen', wöchentlich wenigstens 500 Seiten ä 900 Sylben, macht 450,000 Sylben. Außerdem müssen noch in diesem Monate fertig werden für 'Hakikat' in Konstantinopel und für Bulaq (Kairo) die beiden türkischen resp. arabischen Arbeiten 'Hazreti Merjem Walidet-ullah gibi' (Die Jungfrau Maria als Mutter Gottes) und 'lntu arfin sikket es saŽ(de' (Kennt Ihr den Weg zur Seligkeit?)"

90 Derartige Innovationsphasen lassen sich in den ersten "Hausschatz"-Jahren (1879 ff.) ebenso erkennen wie beim ersten Kontakt mit dem "Guten Kameraden"(1887 ff.)

91 Brief an Fehsenfeld, 8.11.1891.

92 Brief an Fehsenfeld, " 3 /12 (18)91 Nachts 2 1 /2 Uhr".

93 Brief an Fehsenfeld, 28.2.1892.

94 Brief an Fehsenfeld, 3.12.1891: "Das Vorwort wird Ihnen wohl recht sein; es ist wieder anders gehalten als das Andere. Soll ich noch Ähnliches entwerfen, so benachrichtigen Sie mich." Vgl. Bartsch, MKMG Nr.8 (1971), 12. Bezeichnend ist auch, daß zumindest ein Exemplar des Verlagsvertrags in der Handschrift Mays, nicht vom Verlag ausgefertigt war (Faksimile in F-R KMV "Satan II" (XXI), A4 - A7; dort keine näheren Angaben, ob es sich um Mays Exemplar oder um das des Verlags handelt).


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95 Briefe an Fehsenfeld, 8.11.1891, 3.12.1891, 1.2.1892.

96 Brief an Fehsenfeld, 12.3.1892.

97 Am 3.12.1891 bot er Fehsenfeld brieflich an, Bildvorlagen zu senden; die Materialien im Konrad-Guenther-Nachlaß der Universitäts-Bibliothek Freiburg/Br. (ohne Signatur) belegen, daß das auch geschah: dort finden sich 15 Stahlstiche aus verschiedenen Reisewerken des 19.Jahrhunderts, die wohl als Vorlagen für Zeichner dienen sollten und z.T. von May mit kurzen Notizen versehen wurden (z.B. zu "Brücke aus Flechtwerk über den Zab bei Lizan": "Brücke, über welche wir damals geritten sind.").

98 Brief an Fehsenfeld, 1.2.1892 (zit.bei Bartsch, MKMG Nr.8 (1971), 12).

99 Brief an Fehsenfeld, 9.1.1892.

100 Brief an Fehsenfeld, 16.10.1892; zit. nach F-R KMV "Winnetou l" (unpaginiert), dort (Teil-)Faksimile und Umschrift.

101 Brief an Fehsenfeld, 25.6.1892; weitere Briefe zu Mays Geldnöten bereits am 29.3., 4.6., 13.6., 22.6.1892.

102 Brief an Fehsenfeld, 10.10.1892.

103 Brief an Fehsenfeld, 16.10.1892. May artikuliert in diesem Schreiben die Absicht, durch die Neufassung aller drei Bände "ein ethnographisch-novellistisches Meisterstück" zu schaffen, in dem "eine große, verkannte, hingemordete, untergehende Nation als Einzelperson Winnetou geschildert" und folglich durch Winnetou als einem "Denkmal der rothen Rasse" symbolisiert werde (zit. nach R.Schmid, wie Anm.100). Bezeichnend für Mays Absichten ist die Begründung, warum er "zu der Überzeugung gekommen (sei), daß wir 3 Bände machen müssen. Diese vornehme Gestalt mit ihren außerordentlichen Erlebnissen ist nicht kürzer zu zeichnen." Brief an Fehsenfeld, 10.10.1892; zit. nach R.Schmid, wie Anm.100, wobei dort in der Umschrift das "nicht" im letzten Satz versehentlich entfallen, aus dem Faksimile aber zu entnehmen ist).

104 Brief an Fehsenfeld, 3.1.1893.

105 wie unten Anm.119.

106 Brief an Fehsenfeld, 19.1.1893.

107 Brief an Fehsenfeld, 4.2.1893.

108 Brief an Fehsenfeld, 24.2.1893.

108a Brief an Fehsenfeld, 16.3.1893; ein ausführliches, aufschlußreiches Zitat aus diesem Brief in F-R KMV "Winnetou I" (wie Anm.100) mit dem Kernsatz: "Das Ganze muß ein Guß sein."


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109 Brief an Fehsenfeld, 26.11.1893; Fehsenfeld hatte sich beklagt, daß am Anfang des geplanten Bands "Am stillen Ocean"(Bd.X) die "alte" Erzählung "Die Gum" stehe.

110 Brief an Fehsenfeld, 17.8.1896. Vgl. dazu Maschke, 1973, 67; dazu (korrigierend) Hatzig, MKMG 18(1973),14.

110a Brief an Fehsenfeld, 24.9.1893.

110b Brief an Fehsenfeld, 5.1.1894; zit. nach F-R KMV "Auf fremden Pfaden" (XXIII), A 11.

110c Vgl. H.Meier, Vorwort KMG-R K1HE, 27 u.ö.

111 Brief an Fehsenfeld, 10.12.1893; vgl. F-R KMV "Surehand I" (XIV), N 1. - Zur Komposition des Bands vgl.auch unten Anm.121.

112 Brief an Fehsenfeld, 21.3.1894; mit diesem Brief schickte May den Schluß von Bd.XI, "Orangen und Datteln". Zit.nach F-R KMV "Surehand I" (XIV), N 1.

113 Brief an Fehsenfeld, 17.7.1894; ebd.

114 Ebd.

115 Brief an Fehsenfeld, 27.7.1894; Faksimile und Text in F-R KMV "Surehand I" (XIV), N 6 f. Wesentlich auch der Nachsatz, die neuen Bände sollten "mehr wie Winnetou gefallen und uns Ehre machen". Die Namensänderung hat sicher auch mit der Einsicht in die Schwächen der notgedrungen in "W II" eingefügten "Old Firehand"-Erzählung zu tun.

116 Brief an Fehsenfeld, 31.7.1894. Diese zweite Manuskriptlieferung bestand ebenfalls zum größten Teil aus einer bereits früher publizierten Binnenerzählung, "Im Mistake-Cannon" (1889; Reprint im KMG-R "Krumir", 113-121, mit ausführlichen bibliographischen Angaben und Hinweisen zur Interpretation von Jürgen Wehnert).

117 Brief an Fehsenfeld, 16.8.1894.

118 Brief an Fehsenfeld, 8.9.1894.

119 Brief an Fehsenfeld, 6.12.1894; Text zit. nach Vinzenz, JbKMG 1982, 229 f.

120 Brief an Fehsenfeld, 18.12.1894. - Band 11 hat May also "mindestens teilweise gleichzeitig mit dem einleitenden Band sehr schnell und unter erheblichem Zeitdruck zusammengestellt" (R.Schmid in F-R KMV "Surehand I", N 9).

121 Harald Fricke (JbKMG 1981, 11-35) hat zu Recht nachdrücklich auf die "große Raffinesse" dieser Rahmengestaltung hingewiesen: May habe, indem er "seine alten Erzählungen verschiedenen Gästen bei Mutter Thick in den Mund [lege]


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und [...] sie dann inhaltlich, literarisch und vor allem ihrem Wahrheitsgehalt nach kritisieren" läßt, den Erzähler der Rahmenhandlung in seinem "nichtfiktionalen Wahrheitsanspruch" beglaubigt. "Darüber hinaus hat May die Binnenerzählungen aber auch so ausgewählt, daß sie durch eine Vielzahl von Wiederholungen, von Spiegelungen und Äquivalenzen mit der Haupthandlung verknüpft sind." Zu fragen bleibt, ob die parallele Entstehung der beiden ersten Bände tatsächlich auf eine überhastete und damit qualitativ minderwertige Zusammenstellung des II.Bands hindeutet (wie R.Schmid anzunehmen scheint, vgl.Anm.120), oder ob nicht vielmehr die fast parallele Fertigstellung triftiger damit zu erklären ist, daß die Konzeption des II.Bands offenbar - den Briefaussagen Mays zufolge den Ausgangspunkt der ganzen Trilogie bildete, so daß (ähnlich wie später bei "Weihnacht!") der eigentlichen Bearbeitung eine längere, schriftlich nicht (mehr) dokumentierte Planungsphase vorausging, deren Ergebnis die relativ geschlossene Konzeption des Mittelbands war. Diese These wird auch gestützt durch Roland Schmids Hinweis zum Brief an Fehsenfeld vom 30.10.1893, der die Planung für "Orangen und Datteln" (Bd.XI) konzipiert: "Aus der Tatsache, daß "Tree carde monte" nicht erwähnt wird, darf man schließen, daß May schon damals einen eigenen Band mit der Mutter-Thick-Atmosphäre als Rahmenhandlung geplant haben muß." (= "Surehand II") (F-R KMV "Pfade" (XXIII), A 9). Auf diesen Plan als Keim der "Surehand"-Trilogie verweisen auch die ursprünglichen Titel ("Aus allen Meeren/Zonen"), die nur durch den zweiten Band, nicht aber durch die eigentliche Handlung um Old Surehand eingelöst werden. (Zur Konzeption des zweiten "Surehand"-Bands vgl. neben Frickes Aufsatz R.Schmids Nachwort zu F-R KMV "Surehand II").

122 Brief an Fehsenfeld, 18.12.1894.

123 Brief an Fehsenfeld, 3.11.1895. - Mit diesem Brief schickt May "die 2 fertiggestellten Bände von 'Der Mahdi'. Da Sie einen anderen Titel wünschten, habe ich ihn 'Der Sklavenjäger' benannt." - Der Titel war dann offenbar doch zu dicht an "Die Sklavenkarawane", so daß die drei Bände den Titel "Im Lande des Mahdi" erhielten.

124 Brief an Fehsenfeld, 6.10.1896.

125 Ebd. - Zur Ambivalenz der Begriffe "Leben und Sterben/Streben" bei May vgl. Wollschläger, JbKMG 1979, 118 f.

126 Zur Titelgebung vgl. R.Schmid, F-R KMV "Satan III" (XXII), N 6 f.: "[...] sollte man die Möglichkeit nicht ausschließen, daß von Karl May her auch die Reiseerzählung einen gemeinsamen Obertitel gehabt haben könnte, und zwar naheliegenderweise eben "Satan und Ischariot", denn beide Begriffe kommen von Haus aus betont im Text vor." Allerdings taucht zwar der Begriff "Teufel" schon sehr


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bald im Text auf, nämlich bei der Beschreibung Harry Meltons ("der Mormone"), der das Muster von Gustave Dorés Teufelsdarstellung zugrundeliegt (Satan I, 24 f.), aber das Stichwort "Satan" fehlt dabei. Harry Meltons Bruder Thomas wird zwar als "Ischariot" apostrophiert, aber dieser Begriff wird ebenfalls erst in späteren Textteilen genannt (Satan I, 394, wird er als "Judas" bezeichnet; "Ischariot" findet sich erst im II. und III. Band, v.a. III 189 ff. u.ö.).

127 Die Bedenken Fehsenfelds richteten sich wohl nicht nur gegen die symbolische Tönung, sondern rühren sicher auch aus der Befürchtung, die negativ besetzte Konnotation der beiden Begriffe werde die Leserschaft (bes. die Katholiken) abschrecken. Bezeichnend ist, daß May sich durchsetzte, obwohl Fehsenfeld die Sache offenbar so wichtig war, daß er sie auf Mays Brief notierte (was sonst kaum vorkam).

128 Die religiös-biblische Einkleidung spielt allerdings gerade in diesem Roman eine durchgehende Rolle: von den "Teufels"-Anspielungen (sie reichen von "armer Teufel" über "diabolisch" oder "Ein Teufelsstreich" bis zur "Satan"- bzw. "Judas"-/"Ischariot"-Metaphorik) über das "Brudermord"-Thema (III,138 ff.) und die alttestamentarischen Bezüge des Juden Jakob, seiner Tochter Judith sowie deren glücklosem Verehrer Herkules (Satan I, 178: "Der Goliath") bis zu den Gottes- und Erlöserparaphrasen ("Krüger Bei, der Herr der Heerscharen"; die "Heimath für Verlassene" am Ende des Romans). -

Diese biblisch geprägte Sprach- und (z.T.) Handlungsstruktur des Romans wurde bisher noch nicht näher untersucht; eine Analyse des religiösen Fundus und seiner Verwendung wäre äußerst aufschlußreich, wobei im Fall der "Satan"-Trilogie allerdings die im "Deutschen Hausschatz" gestrichenen Teile unbedingt einbezogen werden müßten. Vgl. Wollschläger, JbKMG 1972/73, 42 f.: "die religiösen Inhalts- und Sprachmaterialien sind in Mays Werk das mächtigste Mittel der Maskierung und Entstellung der 'psychologischen' Stoffe, die nach außen zu bringen die Notwendigkeit seines Schreibens war, eine vom Über-Ich verfügte Rasterung seiner Bilder, ohne die diese die Sperren nicht hätten passieren dürfen [...]".

129 Ausführliche Angaben zu den einzelnen Erzählungen in F-R KMV "Winnetou I" (VII) (wie Anm.100) und bei H.Schmiedt in KMHb, 205-218.

130 Zum Zusammenhang dieser "Einleitung" mit der Handlungsstruktur vgl. oben Anm.103 über Mays Absichten sowie H. Schmiedt (JbKMG 1986, 43 f.), der jedoch meines Erachtens die handlungsstrukturierende Funktion der "Einleitung" unterschätzt. Das "Prinzip der Wiederholung" greift hier als verbindendes Element zu kurz, zumal Schmiedt selbst darauf hinweist, daß die innere Systematik der Handlung


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nicht dem einfachen Prinzip der reihenden Wiederholung folgt (ebd., 45 f.). - Daß dem einleitenden Text besondere Bedeutung zukommt, zeigt nicht zuletzt die ausgeprägte Akzentuierung durch rhetorische Mittel: Antithesen, Umschreibungen, anschauliche Epitheta und Adjektive, rhetorische Fragen, Metaphern/Vergleiche, Parallelismen etc. (zur Rhetorik in "Winnetou I" vgl. auch Ingmar Winters Analyse der Totenrede Intschu-tschunas auf Klekih-petra, in: MKMG, Nr.65 (1985), 8-17).

131 Vgl. unten Kap. V: Uber die Grenze: Karl Mays Friedensroman.

132 Vgl. oben Anm.73. - Roxin, Einleitung zu KMG-R "Scout",2: "eine nahezu realistische Handlung [...] (in den Grenzen, in denen man einen solchen Begriff auf einen Autor wie May überhaupt anwenden kann)". Besonders deutlich erscheinen die Varianten in einer von Anton Haider erstellten Vergleichslesung "Der 'Scout' auf dem Weg zu 'Winnetou"'(Sonderdruck der KMG).

133 So die Apostrophierungen in den Jugenderzählungen, etwa in "Der Geist des Llano Estakado", wo sich auch die in der "Winnetou"-Einleitung vorgetragenen Gedanken bereits finden; Tim Snuffle beschreibt im Disput mit dem Weißen Gibson die Prinzipien des Sozialdarwinismus und bezieht dezidiert dagegen Stellung ("Der Geist des Llano Estakado" (Reclam) S. 105 f. = Drittes Kapitel). Ebenso nehmen die einleitenden Absätze des zweiten Kapitels ("HelldorfSettlement") der frühen Erzählung von Winnetous Tod die Gedanken der "Einleitung" zur Trilogie vorweg ("Im 'wilden Westen' Nordamerikas." In: Feierstunden im häuslichen Kreise, Köln 1883; R des KMV in: Winnetous Tod, 1976; auch als "Hamburger Leseheft" Nr.169).

134 Roxin, "Einleitung" zu KMG-R "Scout" unter Bezug auf G.Sehm (wie Anm. 135).

135 G.Sehm, JbKMG 1976, 9-28. - Heinz Stolte verwies bereits 1936 in seiner Dissertation auf diesen Zusammenhang, wenn er Mays Werk als "heroische Legende" klassifizierte.

136 Ebd.,14f.,17 f.- Uber Sehms Analyse hinaus lassen sich noch weitere Elemente anführen wie die zweite 'Berufung' des Helden durch Klekih-petra (Namensanklang an Petrus; die Berufung des Petrus wird "Mahdi III", 376, ausdrücklich genannt) nach der durch Mr. Henry, die Martyriumszüge beim Helden (der Messerstich Winnetous) wie bei seinem (unwürdigen und dadurch die Glorie des Helden steigernden) Gefährten Rattler; schließlich erweist sich die Silberbüchse als Reliquie, die sogar in die Realumwelt des Autors eingebaut und den Besuchern zur Verehrung gezeigt wird. Zur Legenden-Rolle der Mayschen Verbrecher vgl. Jolles, 1974, Sl: "Dem Heiligen muß ein Unheiliger, der Legende eine Antilegende gegenüberstehen." Zur Gestaltung dieses "unheiligen Gegenfüßlers" vgl. ebd., 52-55.


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137 H. Schmiedt, wie Anm. 130, S.48.

138 G. Sehm, wie Anm.135., S.24.

139 Vgl. Plaul, JbKMG 1976, 133 ff.; Wollschläger, JbKMG 1972/73, 39-49.

140 Wie Anm.100.

141 Sehm, wie Anm.135, 18; das Zitat folgt der Aussage Wollschlägers, 1976, 78, die von Sehm auch schon vorher (ebd., 10) zustimmend zitiert wird.

142 Brief an Fehsenfeld, 16.5.1893.

143 Brief an Fehsenfeld, 20.5.1893. - Ein von fremder Hand stammender Vermerk "240" am Rand neben Mays Angabe "400 Seiten" zeigt, daß der fehlende Text tatsächlich den zweiten Teil des Bandes, d.h. die "Old Firehand"-Erzählung (W II, 393-551 = ca. 160 S.) und das letzte Kapitel, "Der Pedlar"(80 S.) umfaßt. Dabei legte May seiner Seitenangabe offenbar die von ihm zu schreibenden Manuskriptseiten zugrunde, während der Verlag mit den noch ausstehenden Druckseiten kalkulierte.(Zur Umrechnung vgl. F-R KMV "Surehand II", N 11; "Jenseits", N 34, N 50; die von R. Schmid durchgeführten Berechnungen deuten sämtlich auf ein Verhältnis von etwa 6:10 (evt. 7:10) beim Verhältnis der Fehsenfeld-Druckseiten zu Mays Manuskriptseiten).

144 " Pedlar" = Händler(W II, 553). - Weder Sehm noch Schmiedt gehen in ihren Jahrbuchaufsätzen auf Mays Versuche ein, die Handlungsstruktur des ersten Bands in den folgenden beiden Bänden fortzuführen, offenbar eine Folge von Wollschlägers Verdikt über die Folgebände in seiner May-Biographie (wie Anm.141), wobei H. Schmiedt allerdings in seinem Beitrag im KMHb, 212 f., konstatiert, der "zweite Band" setze "den ersten in mancher Hinsicht auch konsequent fort"; insbesondere "der enge und offen formulierte Bezug auf politische Verhältnisse" erscheine bemerkenswert. Auch für den dritten Band hebt Schmiedt hervor: "In motivischer Hinsicht entsteht gelegentlich sogar der Eindruck einer außerordentlich dichten Komposition", etwa durch "Old Shatterhands Flirt im feindlichen Lager", ein "Pendant zu den Nscho-tschi-Szenen im ersten Band."(KMHb, 216).

145 Nachweise bei Roxin, Einleitung zum KMG-R "Scout".

146 Ebd., S.2.

147 Winnetou als Skalpsammler: W II, 44S, 522; Sam Hawkens bei derselben Tätigkeit: W II, 481, 489. Sehr wahrscheinlich war der Zeitdruck, unter dem May die "Firehand"Erzählung für den zweiten "Winnetou II-Band überarbeitete, die Ursache dafür, daß er nicht einschneidender redigierte (vgl. oben Text zu Anm.143).


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148 Der Grund dafür war unter Umständen der Vorschlag des stets sehr kinderliebenden Autors, nach dem fehlgeschlagenen Versuch, eine Nichte aus Ernstthal zu adoptieren (der Versuch scheiterte an der Ablehnung der Eltern), jetzt ein anderes, möglicherweise von May unehelich gezeugtes Mädchen in die Familie aufzunehmen. (Vgl. Ekke W. Guenther, JbKMG 1978, 161; dort der einzige bisher vorliegende stichhaltige Beleg für diese Version, eine Aufzeichnung Pauline Fehsenfelds. Alle anderen Versuche, den Sachverhalt zu erhellen, sind sehr spekulativ und fast ausschließlich auf die Auswertung von biographischen "Spiegelungen" im Werk gestützt (Steinmetz, MKMG 40(1978), 12-23; Ilmer, MKMG 47/48 (1981), jeweils 3 ff.)).

149 Brief Mays an Fehsenfeld, 17.9.1893; vgl. auch Pauline Fehsenfelds Bericht über eine gemeinsame Reise der Familien May und Fehsenfeld in die Schweiz, bei der sich May "launisch und reizbar" zeigte, so daß Fehsenfelds "erleichtert" waren, als "May's abgereist waren"(wie Anm.148, 160).

150 Woesler, 1981, 236 f.; Jolles 1974, 34-38, 48-50.

151 Zum Pietä-Motiv bei May vgl. Winter, MKMG Nr.67 (1986), 38-40; Winters Hinweise zur "Vesperbild"-Tradition bei May unterstreichen den Legendencharakter ebenso wie sie die bewußt gesetzte Zeitstruktur des "Winnetou"-Romans hervorheben: Klekih-petras Tod bedeute für den Ich-Erzähler den "Verlust der eigenen Vergangenheit", Nschotschis Tod den der "Zukunft", während ihm in Winnetou die "Gegenwart" stirbt.

152 Vgl. Sudhoff, Einführung zum KMG-R "Winnetou IV", 3-9; dort auch alle wesentliche Literatur bis 1984. Im "Anhang" dieser Edition (298-305) die Entwürfe und Skizzen Mays zu "Winnetous Testament". Zur Bedeutung der "Testaments"-Pläne in "Winnetou IV" und auch zur Selbststilisierung Mays als Prophet, Religionsstifter und Märtyrer vgl. Günther Scholdts sehr eingehende und auch die ältere Literatur integrierende Abhandlung in JbKMG 1985, 102-151; vgl. auch U.Schmid: Winnetous fliegende Feder. Abbreviaturen zum Testament des Apachen. In: Sudhoff/ Vollmer (Hg): Winnetou. Frankfurt am Main: Suhrkamp-Materialien (in Vorbereitung).

153 Diese Passage, erst in der Buchausgabe eingefügt und eindeutig auf die "Einleitung" zu Band I bezogen, wird deutlich als utopische Vision ohne Bezug zur Realität dargestellt- "Es wird dann ewiger Friede sein; es wird kein Morden mehr geben, kein Erwürgen von Menschen, welche gut waren und den Weißen friedlich und vertrauend entgegenkamen, aber dafür ausgerottet wurden." (W III, 464). Das ganze Gespräch am Abend vor Winnetous Tod ist erst für die Fehsenfeld-Ausgabe neu geschrieben,


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ganz offenbar, um Winnetous Tod möglichst dicht mit den Gedanken der "Einleitung" zum ersten Band zu verknüpfen (W 111, 461-469).

154 L & Str, 56 ff. - Zum verbrecherischen Gegenspieler, den die Legendenstruktur zwingend fordert, vgl. oben Anm.136.

155 Die Gefangenschaft des Helden bei den Kiowas zeigt zwar einzelne Legenden- und Sagenzüge wie die Drohung mit dem Martertod (W III, 551-554), das Sprengen der Fesseln (W III, 580 f.) oder auch die Bereitschaft einer Kiowa-Jungfrau, Old Shatterhand zu heiraten und dadurch zu retten (W III, 568-577), endet aber doch mit seiner Flucht aus dem Kiowa-Lager und der abenteuerlichen Verfolgung Santers, bei der die LegendenZüge völlig zurücktreten.

156 Jolles, 1974, 60 f. - Mays Fähigkeit, aus den ästhetischen und weltanschaulichen Prämissen seines Werks Normkonsequenzen abzuleiten, nimmt zwar bis 1900 zu (vgl. die "Surehand"-Trilogie), aber erst nach 1900 (besonders ausgeprägt und schon im Titel erkennbar bei "Und Friede auf Erden!" mit dem imperativischen Ausrufezeichen) bezieht er politisch-weltanschauliche Postulate explizit in sein Werk ein.

157 Brief an Fehsenfeld, 27.7.1894 (zit.nach F-R KMV "Surehand I", N 7); vgl. auch oben Anm.115.

158 Zu den Binnenerzählungen vgl. Wehnert, Einführungen zu KMG-R "Krumir", 110-113, 128 f. - Wehnert verweist zwar ganz allgemein darauf, daß die Grundthematik "Schuld und Sühne" sowohl die beiden Erzählungen ("Der erste Elk"/"Im Mistake-Cannon") wie auch die gesamte "Surehand"-Trilogie bestimme, gibt aber keine genaueren Nachweise und schränkt seine Aussage zudem selbst stark ein: "Beide Stränge finden, weithin unbewältigt und vielfältig überlagert [t!, US], Aufnahme und Weiterführung in 'Old Surehand I-III'" (Ebd., 113). In der Struktur sieht Wehnert eher Parallelen zwischen den beiden Erzählungen und der "Winnetou"-Trilogie (Ebd., 128 f.). - Harald Frickes Wertung, die "drei Binnenerzählungen auf den ersten 30 Seiten" seien eine "mikrokosmische Antizipation" des gesamten Romans (Fricke, 1984, 139), wird durch seine eigene Inhaltsangabe dieser Geschichten widerlegt: weder geht es im Roman, bei Surehands Rätsel, um die Aufdeckung einer "schuldlosen Schuld" (die Verbrechen, die am Schluß enthüllt werden, geschahen planmäßig und in bewußter Normverletzung) noch um die "Beichte einer lange geheimgehaltenen Fälschung" (wenn man nicht die falschen Zähne Dan Etters- hier anführen will). Diese Themen passen zwar - und insoweit hat Fricke recht - zu den dunklen Andeutungen bei den ersten Begegnungen des


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Ich-Erzählers mit Old Surehand, aber überhaupt nicht zu der späteren Familiengeschichte. Treffend diagnostiziert Fricke jedoch die prädisponierende Funktion dieser einleitenden Erzählungen für das Programm, den Roman als "Konglomerat" disparater literarischer Gattungen anzulegen (z.B. Bekehrungsgeschichte/Geographische Predigt vs. Humoreske).

159 Die Elemente dieser Beschreibung erinnern, wie in der Forschung schon mehrfach festgestellt, ebenso an die Gestalt der Marah Durimeh wie an Winnetous Haar. Vgl. Vollmer, JbKMG 1986, 155-184 (bes.166 f.).- Vollmers Darstellung, überwiegend darauf fixiert, biographische "Spiegelungen" zu entdecken, läßt die Strukturprobleme des Romans weitgehend außer acht, entdeckt dafür das Gesuchte in reicher Fülle. So "spiegeln" sich in der Old Wabble- Figur neben May selbst auch noch Vater May und Mays Frau Emma, letztere als "gefährliche Furie" (Ebd., 161, 176,180 u.ö.). Durch die dezidierte Festlegung auf eine christliche Deutung des Geschehens und durch den stark paraphrasierenden und dabei Mays Text noch einmal poetisierend-überhöhenden Charakter dieses Aufsatzes geraten die Brüche der Surehand Trilogie und auch die der Figur Old Wabble kaum ins Blickfeld.

160 Möglicherweise dachte May hier bereits daran, das Schicksal der drei Westmänner durch das Thema "Schuld und Sühne" oder auch "schuldlose Schuld" (Fricke, 1984, 139) zu verknüpfen und alle drei Schicksale zu verflechten; die ersten spärlichen und vagen Andeutungen Old Surehands deuten eher in diese Richtung als auf die spätere Familiengeschichte des III.Bands (Surehand I, 207 f.). Denkbar wäre beispielsweise eine der Struktur der Jugenderzählungen entsprechende Anordnung von Paaren Weißer/Indianer (Bloody-Fox/Schiba-bigk Surehand/Apanatschka - Old Wabble/alter Indianerhäuptling). Erst mit der Episode im "Hasental" (Surehand 1, 248 ff.) und der damit verbundenen Dämonisierung Old Wabbles (ebd.240 ff.) beginnt die folgerichtige Handlungsentwicklung; allerdings müssen nun erst noch die bereits begonnenen Handlungsfäden zu Ende gebracht werden, so daß die eigentliche Exposition der Familiengeschichte erst mit den Auftritten Apanatschkas (Surehand 1, 539 ff.) und des 'Generals' (ebd., 551 ff.) einsetzt.

161 Auf die Absicht Mays, nun die Jugenderzählungen in das Fehsenfeld-Werk zu integrieren, weist auch die ausführliche Inhaltswiedergabe von "Der Geist des Llano estakado" zu Beginn des zweiten Kapitels in (Surehand I, 148-165); möglicherweise ist die Weitläufigkeit dieser Passage außerdem noch durch Mays Unschlüssigkeit bezüglich der Handlungsgestaltung zu erklären.


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162 Bei der späteren Entdeckung, daß Surehand und Apanatschka Brüder sind, spielen die äußere Ähnlichkeit und Surehands indianisches Aussehen von Anfang an eine entscheidende Rolle (Surehand I, 573, 598); auch anderen, außenstehenden Personen, etwa dem Häuptling Tusahga Saritsch, fällt sofort auf, daß Surehand offenbar indianischer Abstammung ist (Surehand III, 388).

163 Etwa die Verstellung Old Shatterhands und seine Schießprobe (Surehand I, 5-13; ähnlich vorher in "W III" und in der 1893 geschriebenen Dschafar-Episode des "Silberlöwen"); die Befreiung Old Surehands von einer Insel (Surehand I, 89-147); die Wiedergabe der Ereignisse aus "Der Geist des Llano estakado"(wie Anm.161). Nach der Hasental-Episode (248-293) tritt die Surehand-Handlung fast völlig in den Hintergrund bis zum Nachtgespräch mit Old Wabble und Old Surehand (Surehand 1, 396415). Den Wandel der Old Wabble-Gestalt zeigt besonders deutlich die Prophezeiung des Ich-Erzählers vor diesem Gespräch (Surehand I, 314), bei der nur vom Leichtsinn und der Eigenmächtigkeit, die der "leichtblütige, unbesorgte Cowboy" an den Tag legt, die Rede ist, während kurz darauf (Surehand I, 398-405) die Figur zum verbrecherischen Normenleugner wird.

164 Brief an Fehsenfeld, 8.9.1894.

165 Besonders im III. Band von "Old Surehand" tauchen mehrfach ausführliche Appelle zu Humanität, Versöhnung zwischen den Rassen und zur Friedfertigkeit auf, z.B. im Disput zwischen Schahko Matto und Winnetou (111, 84-87) oder in der Argumentation des Farmers Harbour ("Sprecht mir ja nicht von Eurer Civilisaton und von Eurem Christenthum, so lange noch ein Tropfen Menschenbluth durch Stahl und Eisen, durch Pulver und Blei vergossen wird." III, S.127 f.) - Vgl. auch C. Roxin in KMHb, 243-252.

166 Daß May sich mit Lessings Werk eingehend beschäftigt hat, belegen - neben einer überraschend großen Zahl von Gesamt- und Einzelausgaben Lessingscher Werke in seiner Bibliothek - mehrfache biographische Zeugnisse und z.T. überraschende Querverbindungen zwischen seinen Erzählungen und Lessings Dramen bzw. dessen ästhetisch philosophischen Schriften. Auf zahlreiche Parallelen hat Heinz Stolte bereits hingewiesen (JbKMG 1977, 17-57); sie finden sich sowohl in den Abenteuererzählungen wie auch im Spätwerk. Als May beispielsweise auf der Orientreise sich in Damaskus aufhält, besucht er das "Mausoleum Salah ed Dins" (also von Lessings Saladin) und vermerkt im Reisetagebuch: "Ich liebe die sen Toten." (Zit. nach JbKMG 1971, 201).- Auch die Grund idee des "Silberlöwen III/IV", aktuelle ästhetisch-weltanschauliche Kämpfe im literarischen Werk verschlüsselt darzustellen, dürfte auf Lessings "Nathan" zurückgehen. Daß der moralische Impetus von Mays Spätwerk


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aus ähnlichen Triebkräften hervorgeht wie Lessings religiös-philosophisches Engagement der letzten Lebensjahre -wenn auch auf anderer literarischer Ebene - hebt der May- (und Lessing-) Gegner Klaus Jeziorkowski ausdrücklich hervor (Jeziorkowski, 1981, 181; dazu Schmiedt, JbKMG 1983, 252-257). Harald Fricke ist übrigens im zweiten seiner Aufsätze zu "Old Surehand" (Fricke, 1984) der von mir vorgeschlagenen Lösung äußerst nahe; er trägt alle wesentlichen Gesichtspunkte einzeln vor, ohne sie als geschlossenes Handlungskonzept zu erkennen:

a)"Auffallend ähnlich" mit Lessings 'Nathan' sei "vor allem die Art der Anagnorisis und ihre

Vorbereitung durch Namensentschlüsselungen" (Fricke, ebd., S.145, Anm.23).

b)"Old Surehand" sei möglicherweise auch im ganzen "als eine große 'Geographische Predigt', als eine epische Allegorie aufzufassen" (134). - In seiner Deutung der "Allegorie" bezieht sich Fricke allerdings auf die falschen, wenn auch in der May-Exegese traditionsreichen Kategorien: er wertet die m.E.unzureichend motivierte) geographische Bewegung (von der Tiefe zur Höhe), die Lichtsymbolik sowie den Gegensatz Christentum vs. Unglaube als die entscheidenden Punkte, übersieht aber die allegorisch bedeutsamere Funktion derFamilienstruktur.

c)"beim Zusammentreffen von Rot und Weiß erweisen sich nicht die Indianer, sondern stets Weiße als die eigentlichen Schurken." (139) (womit die Weißen bei May den Christen im 'Nathan' entsprechen).

d)Ausdrücklich weist Fricke darauf hin (ebenso C.Roxin in KMHb, 246), daß in "Old Surehand" die Kampfhandlungen deutlich zurücktreten, v.a. im III.Bd.(131).

167 Zu nennen wären etwa die Ähnlichkeit Surehand-Apanatschka (I, 573), der geheimnisvolle Medizinmann (I, S81 ff.), das Rätsel um Dan Etters (I, 602 ff.), der Ring des Generals (1, 644). Vgl. auch oben Anm.163.

168 Fricke, JbKMG 1981, 11-35; Fricke, 1984, 138-141. Fricke ist m.E. bezüglich der Binnenerzählungen allzu enthusiastisch: zwar sind die Texte im zweiten "Surehand"-Band weitaus geschickter integriert und mit größerer erzählerischer Raffinesse angeordnet als die älteren Texte der "Winnetou"-Trilogie oder die beiden Sammelbände "Orangen und Datteln"/"Am stillen Ocean" (Bd. X/XI), aber darüber lassen sich die qualitativen Unterschiede zwischen den einzelnen Texten ebensowenig übersehen wie die kompositorischen und sprachlichen Mängel dieser Binnenerzählungen, die zudem an vielen Stellen (bes. in den aus dem "Waldröschen" übernommenen Partien mit ihrer exzessiven Grausamkeit) in deutlichem Widerspruch zur humanitären Botschaft des III. Bands stehen.


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169 Neben den von Ilmer, MKMG 29 (1976), S.4-20, gerügten Schwächen ist der kompositorische Leerlauf (vgl.oben Anm. 158 und 163) ebenso zu bemängeln wie die Unterbrechung der Handlung durch den mit dem eigentlichen Geschehen nur lose verbundenen Il. Band.

170 Ilmer (wie Anm.169) sammelt vor allem die Verstöße gegen die Aktionslogik in imponierender Zahl; der Text des dritten Bands zeigt derart viele skurrile Handlungszüge, daß man fast von einem Zerbrechen der Abenteuer-Handlung sprechen kann.

171 Ebd., 11.- Faksimile der Schlußseite in F-R KMV "Surehand I", N 11. - Hartmut Vollmers Interpretation dieser Schlußworte (JbKMG 1986, 182) als "die letzten erlösenden Stoßworte des Manuskripts", mit denen May "dieses Herausschreiben dämonischer Erinnerungen" beendete, verfehlt die Bedeutung dieser Schlußzeilen. Gegen eine 'tragische' Deutung spricht m.E. v.a. das "Hamdulillah" ebenso wie die Tatsache, daß Lobpreisungen des Romans im Fehsenfeld-Briefwechsel durch den Autor völlig fehlen, obwohl May sonst durchweg den Rang des gerade geschriebenen Werks zu lobpreisen pflegte. Der Briefwechsel ist zwar im Herbst 1897 spärlich, aber das völlige Schweigen über das gerade entstehende Werk spricht, vergleicht man etwa Mays Aussagen zu "Winnetou I" oder zu "Weihnacht!", eine beredte Sprache.

172 Ilmer (wie Anm.169), S.9 und 15.

173 Fricke 1984, 139.


Karl Mays Werk 1895-1905

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