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V. Philosophie, Psychologie und Religion in Mays Werk


Vorbemerkung

Die Aufsätze, die sich mit Mays Verhältnis zur Religion beschäftigen, reichen insgesamt nicht an die Arbeit Walter Schönthals (Sonderheft KMG Nr. 5) heran. Lediglich Krapps Ausführungen zu Mays sittlichem Ideal, das in erster Linie religiös orientiert ist, bieten neue Einsichten, da er die "Surehand-Trilogie" als Musterwerk Mayscher Auseinandersetzung mit sittlichen Gehalten und mit religiösen Ansichten interpretiert. Krapps Arbeit geht jedoch (leider) nicht genügend ins Detail.

Gewichtiger sind die Arbeiten zur Mayschen Psyche von Strobl und – ganz besonders – von Hellwig, dessen Betrachtung der "kriminalpsychologischen Seite des Karl-May-Problems" den Jahrbuchaufsätzen Claus Roxins an die Seite gestellt werden darf.

Gleichfalls besondere Aufmerksamkeit verdient die Arbeit Krenskis über Nietzsche und Karl May: Meines Erachtens die beste Arbeit der (alten) Jahrbücher. Krenskis Thesen über Mays Verbindung zur Romantik werden – auf sehr hohem Niveau – von Altendorff ergänzt, der dem romantischen Doppelgängermotiv bei May nachspürt, das die Spaltung des Mayschen Ich's spiegelt.


Karl-May-Jahrbuch 1918

H e i n r i c h  L h o t z k y :  Die Welt der Seele und Karl May (S. 297–321)

Mays "gespaltene Seele" wird als Triebfeder für sein Schreiben erkannt. Der gespaltene, gefallene Mensch ist nach Lhotzky in besonderer Weise berufen, der Menschheit ein Führer, ein Lehrer zu sein: ein früher Hinweis auf das Alterswerk und seine Edelmenschthematik.

: Für die heutige Karl-May-Forschung keine neuen Erkenntnisse.


Karl-May-Jahrbuch 1919

K . - H .  S t r o b l :  Das Tragische im "Karl-May-Problem" (S. 222–239)

Strobl meint, daß die durch Neid entstandene Karl-May-Hetze durch ein Bekenntnis Mays hätte verhindert werden können. Doch zu einem


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Bekenntnis war May nicht fähig: "Seine Taktik war die der Zwiebel: es blieb immer noch eine Haut übrig ... Der Bürger war zu mächtig in ihm geworden ... Er wehrte sich gegen seine Vergangenheit und errichtete seine Bekehrung als Mauer zwischen ihr und der Gegenwart. Das ist die eine Wurzel des Tragischen in seinem Wesen: er wollte sich von dem Gewesenen durch den Hinweis auf das Jetzt lösen" (S. 229).

Die zweite Wurzel der Tragik Karl Mays ist die Unfähigkeit, die angebliche Bekehrung glaubhaft zu machen. Ob May sein Ich als Old Shatterhand ausgibt oder als Menschheitsseele: "die ganze Geschichte (wird) bloß noch verworrener, weil hier erst recht wieder ein Gleichheitszeichen zwischen den beiden Ich steht" (S. 234).

"Die Tragik im Karl-May-Problem ist eine Bekennertragik. Einer, der aus Tiefen kommt und sich zum Lichte durchgerungen hat, schauert beim Rückblick in den Abgrund; Schwindelgefühl deckt ihm die Vergangenheit, seine tiefe, seltene, empfindliche Schamhaftigkeit lähmt ihm das Wort" (S. 238f).

: Eine lesenswerte Studie. Sie ist in Bd. 34 der Gesammelten Werke abgedruckt.


Karl-May-Jahrbuch 1920

A l b e r t  H e l l w i g :  Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems (S. 187–250)

Hellwig knüpft an Mays Reflexionen über die Kriminalpsychologie in 'Mein Leben und Streben' den Versuch an, Mays Leben und Werk kriminalpsychologisch zu untersuchen. Zunächst definiert er den Untersuchungsbereich: "ich (verstehe) hier unter Kriminalpsychologie die Anwendung der Lehren der Psychologie auf die kausale Betrachtung des Verbrechens und seiner Bekämpfung" (S. 189). Ausgangspunkt der Untersuchung Hellwigs ist seine Kenntnis der Straftaten Mays aus den Akten der Polizeidirektion Dresden. Hellwig gibt jedoch nur oberflächlich Auskunft über den Inhalt dieser Akten. Näher geht er nur auf die Wadenbach-Episode ein (S. 198ff), beschäftigt sich dann mit der über May verhängten 2jährigen Polizeiaufsicht und gibt den Wortlaut einer Anzeige des Hohenstein-Ernstthaler Gendameriebrigadiers Frenzel vom 12.3.1874 und eines Gesuches Karl Mays um Aufenthaltsgenehmigung in Dresden wieder (beide Texte in Jb-KMG 1977, S. 147–150). Aus den Akten teilt Hellwig (S. 205) Details zur Doktortitel-Affäre mit: "Wir erfahren darüber aus den Akten, daß er sich,


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als er am 1. Oktober 1888 von Dresden nach Kötzschenbroda zog, bei seiner Anmeldung auf dem dortigen Gemeindeamt ohne Vorlegung irgendwelcher Ausweispapiere als Doktor der Philosophie und Schriftsteller bezeichnet hat. Seitdem bediente er sich des Doktortitels. Am 10. November 1898 wurde ihm durch die Amtshauptmannschaft Dresden-Neustadt die Führung des ihm angeblich von der Universität Rouen verliehenen Doktortitels als unzulässig untersagt" (S. 205). Abwehrend steht Hellwig den Versuchen der May-Gegner gegenüber, May weitere Straftaten zuzusprechen, und er verurteilt die Neigung der Behörden, den ins Rampenlicht Geratenen mit ähnlichen Verdächtigungen zu belästigen. In diesem Zusammenhang erwähnt er ein bei den Akten befindliches Ersuchen "des Polizeiamts Leipzig vom 18. Januar 1910 (Aktenzeichen VII a 1434 (1293)...) ... In der Sache, den Raubmord an dem Ehepaar Friedrich betreffend, ersuchte das Polizeiamt Leipzig um Auskunft über May. Die übersandten Personalakten wurden aber mit dem Bemerken wieder zurückgereicht, daß May als Täter nicht in Frage komme" (S. 207).

: Über die Straftaten Mays wissen wir heute dank der Forschungen Plauls und Hoffmanns recht genau Bescheid (s. Jb-KMG 71, 72/73, 75, 76, 77); Hellwigs Angaben sind dennoch wichtig, da die von ihm eingesehenen Akten als Quelle nicht mehr zur Verfügung stehen.

Zur psychischen Entstehung der Straftaten Mays: Ausgehend von den Angaben Mays über seinen Vater, seine Mutter und seine Großmutter bringt Hellwig Mays Anlagen in Beziehung zu seinen Taten: "Vom schlichten, stillen Wesen der Mutter hatte er wohl weniger geerbt, doch kam das mütterliche Erbteil bei seinem Ringen, sich aus dem Sumpf, in den er geraten war, herauszuarbeiten, zutage. Der labile Charakter, den er als Vatererbteil hatte, ließ ihn nicht selten über das Ziel hinausschießen und machte ihn unduldsam und ungerecht. Die väterliche Energie läßt sich nicht nur bei seinen Straftaten erkennen, sondern vor allem auch bei seinem Bemühen, sich wieder emporzuarbeiten, und bei seinem Kampf um die Existenz mit einer Welt von Gegnern. Die Phantasie der Großmutter war wohl das gefährlichste Erbteil: Sie führte ihn zu phantastischen Vorstellungen, machte ihn eitel, unwahr, schauspielerisch und verleitete ihn zu Hochstapeleien, sie gab ihm andererseits die Möglichkeit, seine Reiseromane zu schaffen und sich durch seine Arbeit nicht nur eine materiell gesicherte Lebenslage zu schaffen, in der die Versuchung zu Verbrechen nicht groß war, sondern ermöglichte es ihm auch, sich durch sie seelisch von der Last seiner Jugendsünden, die auf ihn wie ein Alp drückten, zu befreien.


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Wenn es auch schwer fällt, ein zuverlässiges Bild sich von der Persönlichkeit Mays zu bilden, so kann doch soviel gesagt werden, daß vieles dafür spricht, daß er EINE PSYCHOPATHISCHE PERSÖNLICHKEIT war" (S. 208f).

: Roxin ("Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays") rückt Hellwigs Methode, vom "Ererbten" auszugehen, ins rechte Licht Jb-KMG 1971, 74ff) und kommt auch zu einem anderen Ergebnis. Zur "Psychopathischen Persönlichkeit" vgl. K. Langer: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays in Jb-KMG 1978, S. 168ff.

Soziale Ursachen für Mays Straftaten: Die Lektüre von 'Mein Leben und Streben' läßt Hellwig zu dem Schluß kommen: "Berücksichtigen wir Anlage und Umwelt, so kann es uns nicht wundernehmen, daß May sich in jungen Jahren verbrecherisch betätigt hat: wundern muß man sich vielmehr eher darüber, daß er nicht schon früher kriminell geworden ist und daß es ihm trotz seiner erheblichen Vorstrafen doch ziemlich schnell wieder gelang, sich aus dem Sumpf emporzuarbeiten" (S. 212f Sperrdruck).

: Vgl. Roxin: Karl May, das Strafrecht und die Literatur in Jb-KMG 1978, S. 9ff.

Die Auswirkungen der Strafen auf Karl May: "... wir (machen) nun oft die Wahrnehmung, daß die Strafe nicht günstig auf den Verbrecher einwirkt. Sie verbittert den Täter, bringt ihn in scharfe gegensätzliche Stellung zum Staat und setzt so selbst wieder neue Ursachen des Verbrechens" (S. 214). "Wir können nicht daran zweifeln, daß diese Gefahr der Verbitterung, der völligen Abkehr vom Guten auch für Karl May gegeben war, wissen wir doch aus seinem eigenen Munde, wie schwer in seinem Innern der uralte Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, ... zu jener Zeit getobt hat. Das Große aber an ihm ist, daß er einer der wenigen ist, die diesen Kampf allen Hindernissen zum Trotz siegreich durchgeführt haben. Schon diese Tatsache genügt, um Mays Persönlichkeit kriminalpsychologisch bedeutungsvoll zu machen.

Wenn May durch seine Bestrafungen nicht nur äußerlich von der Begehung weiterer Straftaten abgeschreckt worden ist, wenn er sich vielmehr sittlich geläutert hat, so haben das Hauptverdienst daran die Beamten der Strafanstalten, die in verständnisvoller menschlicher Weise ihm nahe getreten sind und deren er mit dankbarer Verehrung in seinen Lebenserinnerungen gedenkt" (S. 215f). "Verderblich dagegen hätte die nach der Zuchthausstrafe gegen ihn verhängte zweijährige Polizeiaufsicht wirken können. Wir haben


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schon gesehen, daß ihm, als er im Begriff war, sich in Dresden eine Lebensstellung zu gründen, die Ausweisung aus Dresden diese Möglichkeit der Rettung hätte rauben können. In neun von zehn Fällen würde diese Ausweisung für den Bestraften, der innerlich und äußerlich um seine Geltung kämpfte, gefährlich geworden sein: Daß sie es für May nicht geworden ist, das ist nur ein besonders günstiger Zufall! Daß er trotz dieser ihn seelisch zweifellos niederschmetternden Ausweisung den inneren Halt nicht verloren hat, ist ein gutes Zeichen für die Ernsthaftigkeit seiner guten Vorsätze" (S. 219f).

: Vgl. hierzu Plauls Arbeiten zu Mays Haftzeiten in Jb-KMG 1975 und 1976.

Die psychische Verdrängung der Vergangenheit durch May: "Wie sehr May imstande war, selbst recht empfindliche Eindrücke, die ihm unangenehm waren, zu verwischen, sie aus seinem Gedächtnis zu tilgen, davon zeugt ein bei den erwähnten Akten befindlicher Brief Mays vom 26. März 1905, in welchem er um Auskunft bittet, ob die Behauptung seiner Gegner, daß er 1876 in Dresden unter Polizeiaufsicht gestanden habe, wahr sei; ihm sei hiervon nichts bewußt" (S. 221). Anmerkung auf S. 222: "Nachträglich erfahre ich durch Dr. Schmid, daß May nach den Angaben seiner Gattin tatsächlich überzeugt war, in DRESDEN niemals unter Polizeiaufsicht gestanden zu haben. Er habe ihr gesagt, es sei eine Unwahrheit, so etwas zu behaupten, er werde bei der Polizei anfragen. Sie habe öfters bemerkt, daß er manche Ereignisse vollkommen vergessen habe."

Resozialisierungsschwierigkeiten. "Wenn so viele Bestrafte rückfällig werden, so ist daran weit weniger der so viel gescholtene Strafvollzug als solcher schuld als vielmehr die gesellschaftlichen Folgen, die sich für den Täter an seine Bestrafung meistens anzuknüpfen pflegen ... Mays Leben bietet uns erschütternde Beispiele von dieser Grausamkeit gegen den Vorbestraften" (S. 224). "Wir wissen, wie unendlich der Sechzigjährige unter der Furcht gelitten hat, hartherzige Gegner könnten seine Vorstrafen bekannt machen, ihn selbst dazu zwingen, vor Gericht seine schweren Jugendverfehlungen zuzugeben. In einem Brief vom 29. September 1905 an einen seiner Anwälte erklärt er, er werde die Klage sofort zurückziehen, wenn man sich auf seine Vorstrafen stützen wolle:

"Bis jetzt kann X. von diesen Straftaten nichts Positives wissen. Es kann weder mich noch meinen Vertreter ein Richter zwingen, etwas einzugestehen; was der Angeklagte zu beweisen hat. Auf keinen Fall darf ich den fürchterlichen Fehler begehen, vor dem versammelten


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Berichterstattervolke die Vorstrafen zuzugeben. Es würde das mein ganzes Lebenswerk vernichten, und ehe ich das zugebe, will ich lieber sterben"" (S. 225f).

: Der zitierte Brief wird in Bd. 34 'Ich' (29. Aufl.), S. 328 (bearbeitet) wiedergegeben.

Mays Straftaten und sein Werk: Hellwig stellt die Theorie vor, der kriminell Veranlagte könne verbrecherische Taten verüben, aber ebenso könne "phantastische Schriftstellerei eine Betätigung seiner kriminellen Neigungen" (S. 236) sein. Entschieden lehnt Hellwig es ab, diese Theorie auf May und seine Werke anzuwenden. Ebenso entschieden verneint er, daß die Lektüre der Werke Mays schädlichen Einfluß auf die Jugend habe: Diesem Urteil kommt besonderes Gewicht zu, da Hellwig Spezialist auf dem Gebiete der Bekämpfung der Schundliteratur und -filme war: "Ich habe die orientalischen Reiseromane sowie die drei Bände Winnetou ausdrücklich daraufhin durchgelesen, ob ich in ihnen etwas finden könnte, was geeignet sei, einen Verbrechensanreiz zu geben. Ich muß gestehen, daß ich NICHTS gefunden habe. Gewiß werden in diesen Büchern mancherlei Verbrechen geschildert, aber das Verbrechen wird nicht um seiner selbst willen geschildert, es wird nicht behaglich breit und buntbetont ausgemalt, es wird nicht in einen romantischen Schimmer gekleidet, sondern es ist nur Mittel zum Zweck, Mittel nämlich, um dem Helden Gelegenheit zu geben, die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen. Nicht der Verbrecher steht im Mittelpunkt des Interesses, sondern von Anfang an die Verkörperung der Tugend" (S. 245f).

Knappe Bemerkungen zu Mays Verhalten in seinen Prozessen, zu den Gegnern Mays vor Gericht und in der Presse beschließen den Aufsatz.

: Ein in jeder Hinsicht lesenswerter und informativer Aufsatz, der auch für die heutige Karl-May-Forschung noch wertvolle Angaben, Ergebnisse und Hinweise enthält.


Karl-May-Jahrbuch 1921

K . - H .  S t r o b l :  Scham und Maske (S. 279–303)

Strobl präzisiert seine Thesen aus dem Jahrbuch 1919. Mays Unfähigkeit zu einem Bekenntnis hängt mit dem Wesen der Maske zusammen, die er übergezogen hat: "Die Masken, die Karl May trägt, sind Masken der Eitelkeit, vor allem aber der Scham" (S. 288). "Im Leben dieses Menschen birgt sich ein Geheimnis, er hat etwas zu enthüllen, etwas Schauerliches, ein Brandmal, das ihn von der Gesellschaft scheidet, wenn sie darum wüßte ... Wenn je ein Verbrecher durch inneren Zwang


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entschuldbar war, dann Karl May, es scheint wirklich, als habe um seine Seele ein Kampf zwischen Ormuzd und Ahriman stattgefunden, zu dessen Beginn die Finsternis Oberhand gewann. Er fühlt die beiden Mächte fast als persönliche Gewalten ..." (S. 291f). "Den geschändeten Namen Karl May birgt der entlassene Sträfling hinter allerlei Decknamen. Die ersten Masken ... Nun aber geschieht Entscheidendes. Aus dem Wust planloser Schreibtätigkeit erhebt sich der Gedanke an eine Reihe von Reise- und Abenteuerromanen, die durch einen gemeinsamen Helden verbunden sein sollen ... So wird nun Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand geschaffen. Und nun vollzieht sich neben dem literarisch auch das psychologisch Entscheidende. Karl May zeichnet seine neuen Werke mit seinem richtigen Namen ... Wie alle Menschen, die aus kleinen, armseligen, elenden Verhältnissen kommen, die aus dem Dunkel innerer oder äußerer Armut tauchen, hat er das Bedürfnis, seine Bedeutung vor sich selbst und der Welt zu steigern. Es ist die Eitelkeit des Emporkömmlings ... Die Maske der Eitelkeit ist aber zugleich eine Maske der Scham ... Und nun vollzieht sich ein Vorgang, der der Psychologie der Maske eigentümlich ist und den ich als Infiltration oder Durchdringung bezeichnen möchte. Es gehört zum Wesen der Maske, daß sie, lange getragen und mit Eifer festgehalten, zu einem Bestandteil unseres Wesens wird... DIE MASKE WÄCHST IN DEN MENSCHEN HINEIN" (S 295–299). "... der tragische Zusammenbruch dieses mühsam in Sicherheit gebrachten Lebens (bleibt) nicht aus ... Der Angegriffene wehrt sich um den geretteten Rest seines Lebens aus allen Kräften, aber so ungeschickt als nur möglich ... Man vergißt, wenn man diese Taktik verurteilt, daß die aus seiner Scham geborene Maske ein Stück seines Wesens selbst geworden war" (S. 300f). Strobls Aufsatz ist in Bd. 34 abgedruckt.


Karl-May-Jahrbuch 1922

H .  W .  S c h m i d t :  Karl Mays Gottesgedanken (S. 101–107)

Schmidt will an drei Szenen aus Mays Werken (Gespräche Old Shatterhand/Winnetou (Bd. III), Old Shatterhand/Old Surehand (Bd. I/II) und Old Shatterhand/Old Wabble (Bd. II)) aufweisen: "Wer das hat schreiben können, muß ein Dichter und ein tiefgläubiger Christ gewesen sein" (S. 108).

O t t o  E i c k e :  Karl Mays Gottesgedanken (S. 108–117)

Eicke verteidigt May gegen die Broschüre "Was und wie soll unsere Jugend lesen" von Prof. Dr. Dost, der May "oberflächliches Christentum" vorwirft und ihn deshalb der Jugend nicht empfehlen will: Eicke


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meint dagegen zu Mays Weltanschauung: "SOLCHE ART, DIE DINGE ZU SHEN, IST NAIV, ABER NICHT OBERFLÄCHLICH. VOR ALLEM ABER IST SIE MORALISCH" (S. 112). Eicke führt ein Beispiel an: "Old Wabble, der Gottesleugner und Spötter, dem immer noch eine Gnadenfrist gelassen wird, ... findet ein furchtbares und qualvolles Ende. Das soll sagen: Gott ist gerecht und läßt sich nicht spotten. Und doch klingt dieses Drama versöhnend aus. Der alte Sünder stirbt mit der seligen Gewißheit im Herzen, daß dem Reuigen verziehen wird. Das will sagen: Gott ist die Liebe. Diesen Dualismus in der Art, Gott in seinen Offenbarungen zu erkennen, finden wir konsequent herausgearbeitet in sämtlichen Werken Karl Mays. In doppelter Form manifestiert sich der Allmächtige, so wie ihn auch Luther in seinen Katechismuserklärungen sieht, einmal als der Jehova des Alten Testaments, streng, gerecht und furchtbar in seinem Zorn, dann als die personifizierte Liebe, die als Jesus von Nazareth über die Erde ging, Wunden heilend, Leidende tröstend, Gefallene aufrichtend, als die Liebe, die selbst im Martertode noch lehrt durch das Wort wie durch das eigene Beispiel: Liebet eure Feinde!" (S. 113) Gegen den Vorwurf, Mays Christentum sei "grobe Mache", führt Eicke an: "Karl Mays christliches Bekenntnis und die sichtbaren Äußerungen göttlichen Waltens, die seine Erzählungen aufzeigen, sind keine Mache, sondern der Ausfluß einer in schweren Kämpfen bitter errungenen Überzeugung, die des einstigen Sträflings seligste Gewißheit war" (S. 114).

A .  B i e d e r m a n n :  Karl Mays Gottesgedanken (S. 118–133)

Biedermann zieht die "Kunstbriefe", die Selbstbiographie und die Wiener Rede (1912) als Beweismittel für Mays gläubiges Christentum heran. Daß es sich nicht nur um eine Bekehrung im Alter handelt, weist er anhand der 'Geographischen Predigten' nach: "Wir werden also feststellen: den frommen Gottesglauben seiner Kindheit hat Karl May festgehalten in allen Lagen und zu allen Zeiten seines Lebens. Er kennt keine Zweifel, keine religiösen Anfechtungen. Herbe Geschicke lassen ihn nicht irre werden an seinem Glauben, das Bewußtsein, daß ein Gott lebt, der über ihm wacht, ist mit ehernen Lettern in sein Herz eingegraben" (S. 128). Zu dem Vorwurf, May habe als evangelisch-lutherisch Getaufter "katholisiert", schreibt Biedermann: 'Er ist Christ und nur Christ. Gerade diese Dogmenlosigkeit seiner religiösen Haltung befähigt ihn, den Anhängern der anderen Konfession gerecht zu werden ... Karl May steht dem Katholizismus sympathisch gegenüber. Er hat ihn von seiner besten Seite während der Zeit seiner Haft kennen gelernt. Manches hat sein empfängliches Gemüt für


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Lebenszeit aufgenommen ..." (S. 129f). "Daß er für die Marienverehrung der katholischen Kirche begeistert ist, wer vermag ihm das zu verwahren? Ist doch die Madonnenverehrung tief-poetisch und in der germanischen Volksseele besonders begründet. Darum hat auch Goethe eines der rührendsten Marienlieder gedichtet. (Man denke ferner an Heinrich Heines "Wallfahrt nach Kevelaer"!)" (S. 131f). "Eine Stelle aber, die ganz katholisch ist, sei noch angeführt: jene, da Marah Durimeh das Papsttum verherrlicht. ('Durchs wilde Kurdistan'.) Was sie sagt, ist echt katholisch und geboren aus dem Schmerz um die konfessionelle Zersplitterung. So wie sie denkt, denken nicht nur gute Katholiken, sondern auch einsichtige Protestanten" (S. 132f).

: Vgl. Sonderheft KMG Nr. 5: Schönthal: "Christliche Religion und Weltanschauung in Karl Mays Leben und Werk"


Karl-May-Jahrbuch 1923

L u d w i g  G u r l i t t :  Zur Seelenerkenntnis Karl Mays (S. 55–63)

Gurlitt nimmt Stellung zu Kritiken zu seiner Schrift "Gerechtigkeit für Karl May". Er erklärt Mays besondere Art und Begabung psychologisch: "Er hatte durch Erbe einen starken weiblichen Einschlag und eine überwuchernde Fähigkeit seiner Phantasie mit ins Leben bekommen. Dazu nun die Erblindung und die Märchen- und Glaubenswelt! Daraus erklärt sich alles Folgende seines Lebens, denn die ersten Lebensjahre sind für die geistige Entwicklung des Menschen die wichtigsten ... Wem nun in diesen ersten fünf Jahren das bedeutendste Sinnesorgan, das Auge, fehlt, dessen Innenleben muß andersartig werden als das des Normalen. Seine Begriffe von wahr und unwahr, von wirklich und geträumt, sogar von recht und unrecht müssen unter dem Einfluß dieser Hemmung anders geraten, anders d. h. krankhaft, nicht übereinstimmend mit denen, die wir Sehenden, Gesunden uns gebildet haben" (S. 56). Wird der in der Kindheit blinde Mensch geheilt, wird diese Sonderheit nicht behoben: "Seine Welt ist nur aus innerlich geschauten Bildern erwachsen, und so stimmt das Herz nicht immer mit den Tatsachen überein, die dann seine sehend gewordenen Augen erblicken ... Ich erkläre mir zum Teil aus diesem Erlebnis den nie ganz überwundenen Zwiespalt in Mays Natur und vor allem sein Unvermögen, Erträumtes und Erlebtes stets klar zu scheiden. Seine Naturanlage, durch sein Schicksal verstärkt, hat ihn zum Dichter gemacht" (S. 57).

: Vgl. zu Mays Kindheit: H. Plaul: Der Sohn des Webers in Jb-KMG 1980 [recte 1979]


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Eine Stellungnahme zu religiösen Fragen gibt May in dem in VI. besprochenen Text: OTTO RUDERT: Aus meinem Tagebuch 1906 (S. 302–308).

L i s a  B a r t h e l - W i n k l e r :  Die Brücke (S. 331–337)

"Das aber ward Wunsch und Sehnsucht, Wille und Ziel der Menschheit durch Jahrtausende: Brücken zu bauen von der Erde zum Jenseits, vom Bewußten zum Unbewußten, von Mensch zu Gott ... Die Seele ist die Brücke. Wer die Seele Zoll um Zoll gen das Jenseits hebt, baut an der Menschheitsbrücke. Das tat Karl May ... Weil Karl May erkannt hat, daß wir bauen müssen, mit jedem Gedanken Brücken schlagen in das, was nach der körperlichen Verwandlung kommt, darum hat er seine Leser auch nach und nach aus den Selbstverständlichkeiten und irdischen Tatsächlichkeiten seiner ersten Bände in die geheimnisvolle Mystik und Symbolik der späteren geführt. Ob seine Hand immer dabei eine glückliche war, mag dahingestellt sein. Aber das hat er verstanden: von Zeit zu Zeit seine Gedanken zu einem symbolischen Bauwerk von überwältigender Darstellungskraft zu sammeln" (S. 331ff).

Besonders der vierbändige Roman 'Im Reiche des silbernen Löwen' "zeigt deutlich, daß jeder Gedanke seines Schöpfers kein anderes Ziel hatte, als Brücken zu schlagen von allem bewußt Lebendigen in das unbewußte, das ewige Leben ... Karl May hat vor neun Jahrhunderten einen Geistesverwandten gehabt ... Von ihm war eine seltsame Vereinigung gegründet worden, die sich die Anlegung und Erhaltung von Brücken, Fähren, Straßen und Hospizen zum Schutz und zur Pflege der Reisenden und Wallfahrer zur Aufgabe machte. Diese religiöse Bruderschaft wurde unter dem Namen der FRATRES PONTIFICES ... von Clemens III, im Jahre 1189 bestätigt ... Ist das nicht der Inhalt aller Bücher Karl Mays? Die Brückenbrüder, diese Ritter, Mönche oder Arbeiter, die den Reisenden und Wallfahrern ihre Wege zum Ziel erleichtern wollen, die ihnen in einer Zeit, da Raub und Mord, Faustrecht und barbarische Sitten an der Tagesordnung sind, kraft ihrer Gesetze Schutz verleihen und ihnen zu Führern und Schirmherrn werden – ist das nicht der Stoff, der immer und immer wieder die Gestalten Karl Mays hervorbringt? Kara Ben Nemsi, Old Shatterhand – was anderes sind sie, als solche Fratres pontifices, Führer und Leiter der Wandernden, Schutzlosen und Verlorenen in wilden, fernen Ländern, in denen wie einst das Recht des Stärkeren herrscht? Was der arme Hirt Benezet in Wirklichkeit gegründet hat, das schuf der Dichter Karl May aus der Seele" (S. 334ff).


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Karl-May-Jahrbuch 1925

W e r n e r  v .  K r e n s k i :  Friedrich Nietzsche – Karl May (S. 198–237)

Krenski zieht Mays Werk, wie es in den Bänden 1 bis 34 vorliegt und Nietzsches Schriften "Also sprach Zarathustra", "Wille zur Macht", "Jenseits von Gut und Böse" und "Ecce homo", "Götzendämmerung" und "Der Antichrist" zur Untersuchung der Frage "Welche Beziehungspunkte bestehen zwischen May und Nietzsche?" heran. Krenskis Thesen lauten:

1. Zwischen Karl May und Nietzsche besteht eine "tiefgehende Verwandtschaft" (S. 199).

2. "Der Schreibweise nach haben Nietzsche und May ... keine Ähnlichkeit miteinander. Nietzsche schreibt in Aphorismen; die einzelnen Gedanken unverhüllt, bloß, brutal hervorspringend, jagen einander ... May dagegen schreibt weit ausholend, einkleidend, versteckend. Seine breite Schreibweise versymbolisiert die Gedanken, umkleidet sie mit einem Gerank von Flitterwerk und Allegorie ..." (S. l99f).

3. Unterschiedlich ist auch die "Temperatur" der Werke: "Bei May steht man mitten im atmenden, pulsierenden Leben ... Wie anders Nietzsche! "Wer die Luft meiner Schriften zu atmen weiß, weiß, daß es eine Luft der Höhe ist, eine starke Luft ... Das Eis ist nahe, die Einsamkeit ist ungeheuer ... (Ecce homo)" (S. 200f).

4. May und Nietzsche beschließen die Tradition der Romantik. "Man hat Nietzsche oft den letzten Romantiker genannt ... Nietzsche (hat) ... nur ein Wiedererwachen, Neuaufflammen der Romantik bewirkt, von ihm geht ein neuer Zweig dieser Richtung aus, und mit das letzte Ende dieses Zweiges bildet Karl May" (S. 202). "Einer meiner Lehrer bezeichnete nach der Lektüre von Mays "Leben und Streben" mir gegenüber diesen als letzten Romantiker" (S. 202).

a) "Beide, May wie Nietzsche, schöpfen aus dem innersten Gefühl heraus ... "Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas sichtbar, hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Tatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern –, ich habe nie eine Wahl gehabt ..." (Ecce homo). "Wie Gott sich in sich selbst versenkte, als er beschloß, das All mit seiner Schöpfung zu


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erfüllen, so läßt sich der schaffende Künstler in sein eigenes Ich hinunter ..." ('Ich' S. 245)" (S. 203ff).

b) "Die aus dieser Innerlichkeit des Gefühls entspringende Religiosität ... äußert sich bei Nietzsche wie bei May in einem allmählichen Übergehen zu einem bisweilen quälenden Mystizismus, dem wesentlichen Merkmal des Gesteigert-Romantischen. Alle Werke Nietzsches der dritten Periode zeigen ihn in sehr verschiedenem Grad ... am hervortretendsten der "Zarathustra" ... Hier führt uns Nietzsche ein zwar an vielen Stellen wundervolles und packendes, aber anderseits doch auch oft ... wunderliches, wenn nicht gar verschrobenes Gemälde vor Augen.

Auch May ist der Gefahr der Wunderlichkeit nicht entgangen. Vom dritten Band des "Silbernen Löwen" an treten die mystischen Bestandteile in immer stärkerem Maß auf und erreichen in diesem Roman in dem Traum von den Skeletten ihren Höhepunkt; in 'Und Friede auf Erden' treten sie wieder etwas zurück, aber nur um in 'Ardistan und Dschinnistan' einen glänzenden Sieg zu feiern, freilich im Grunde einen Pyrrhussieg, denn in 'Winnetous Erben' treten sie nur mehr vereinzelt auf. Gerade in 'Ardistan und Dschinnistan' aber verliert May zuweilen die Herrschaft über sie, – die "Dschemma der Toten und Lebenden" z. B. ist – drücken wir uns vorsichtig aus – eine etwas gewagte Veranstaltung" (S. 205f).

c) Romantischer Tradition entspricht neben dem Drang zu symbolisieren und zu mystifizieren der daraus abzuleitende Trend zum Torso: "Wir erhalten hundert geistvolle, von tiefer Denkarbeit zeugende, oft in ihrer Stellungnahme, in der Beleuchtung, in der sie uns andere Dinge darstellen, geniale Anregungen, Anstöße – und nichts Abgerundetes, Fertiges, in sich Geschlossenes. So bei Nietzsche: wir besitzen – wenigstens aus dem dritten Zeitabschnitt – kein abgeschlossenes Werk, nur Bruchstücke, Pläne, Vorreden, Entwürfe, Umrisse, Teile ... Nicht anders liegt der Fall bei May. Gerade seine besten Werke sind Bruchstücke. Aus seinen letzten Jahren – von 1898 ab – besitzen wir nur Anfänge, nur Unvollendetes ..." (S. 207f).

d) Das Wesen Mays und Nietzsches wird durch den gemeinsamen romantischen Zug "Klage um Einsamkeit" und "Suche nach Freundschaft" bestimmt: "für sich geblieben, ohne einen verständnisvoll entgegenkommenden Genossen, schaffen sie ihn sich in ihrem Innern, schaffen sie ein zweites Ich, mit dem sie sich gleichsetzen, mit dem sie in stillen Stunden Gedankenaustausch halten, das sie zum Sprachrohr ihres Geistes machen. So bildet Nietzsche Zarathu-


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stra [Zarathustra], seinen "Sohn Zarathustra". Aber er ist mehr als sein Sohn, er ist sein Freund. So schafft May all die Gestalten seiner Werke, das "Ich", dem er seinen Namen gibt, Winnetou, den Ustad, Marah Durimeh, und den, der sein unzertrennlicher Begleiter, sein Widerspruch, das Tier in ihm, und doch er selbst, mit all seinen Fehlern, Schwächen und Vorzügen ist – Hadschi Halef Omar. So wird für beide die Freundschaft zu dem herrlichsten, erhabendsten der Gefühle, die den Menschen mit dem Mitmenschen verbinden ..." (S. 210).

5. Nietzsche und May sind Pantheisten, ohne das selbst zu erkennen. Nietzsche "gefällt sich in der Pose des "Atheisten aus Instinkt" – jedoch das ist nur Selbstbetrug, Schauspielerei, Theater ... In Nietzsche lebt Gott, stärker als bisher in einem Menschen. Er fühlt ihn, er fühlt sich in ihm – so schafft er den Übermenschen, so findet er Zarathustra, Zarathustra-Nietzsche! Die Erhöhung des Menschen, seine Verinnerlichung, Veredelung mehr –: seine Vernichtung, das ist der Sinn des Übermenschen: "Was groß ist am Menschen, das ist, daß er eine Brücke und kein Zweck ist ... (Zarathustra) ... Darum kämpft er (sc. Nietzsche) gegen das Christentum mit seiner, wie er glaubte, die Höherentwicklung, Vergöttlichung hindernden Moral" (S. 214).

"Von ganz andern Punkten geht May aus. Er ist tiefgläubiger Christ, von einem einfachen, ungekünstelten Christentum erfüllt, ohne Zweifel ... Frühzeitig überwindet er die, wie er meinte, ödeste, geistloseste Art Christentum, die in ihrer trockenen Starrheit die Seele des Menschen unberührt läßt, den Protestantismus. Seine Neigung zum Romantischen, zum Dunklen, die in der Blindheit seiner Kinderjahre, wo sich fast seine ganze geistige und seelische Tätigkeit auf das Innenleben beschränkte, einen kräftigen Nährboden fand, wurde durch die mehrjährige aktive Tätigkeit am katholischen Gottesdienst noch gesteigert, und so war es kein Wunder, daß er, ins Leben hinaustretend und sich ganz dem Schriftstellerberuf widmend, unwillkürlich in katholisierendem Sinn schrieb. Aber diese Zeitspanne geht schnell vorüber ... Er wird mit den Jahren immer antikonfessioneller, immer unkirchlicher, immer weniger dogmatisch. Dabei bleibt sein Christentum unerschütterlich, es kommt ihm gar nicht in den Sinn, daß er nicht mehr auf dem Boden des alten Gottesglaubens steht ... Wohin May treiben mußte, liegt klar auf der Hand, ist ein Wesenszug der Romantik: er näherte sich mehr und mehr dem Pantheismus ... Gott, Übermensch, Edelmensch, das sind annähernd nur verschiedene Bezeichnungen für denselben Begriff. Nietzsche und May befreien die Religion ihrer Seele von der irdischen Kleinheit; sie geben eine neue, kosmische Religion" (S. 216–220).


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6. Nietzsche und May verachten die "Bildungsphilister" und deren Moral: "Die Folgerungen, die Nietzsche und May, dieser halb unbewußt, aus dem Ablehnen der herrschenden bürgerlichen Moral ziehen, sind äußerlich verschieden ... Nietzsche findet die Erlösung im bejahenden, befreienden Lachen, May ... im Kampf. So wird er nur zum Befreier des Zukünftigen, die Vergangenheit geht bei ihm leer aus – das ist die Trennung von Nietzsche. Aber diese Trennung ist nur oberflächlich ... Der Lebensoptimismus, der das Leben als Kampf, – besser des Kampfes wegen liebt, ... und der Optimismus, der das Leben wegen des Lebens liebt, ... das ist derselbe Geist in verschiedenem Gewand" (S. 223). "Diese Stellung zum Leben, seine höchste Bejahung, die Vergötterung des Kampfes erklären auch Nietzsches und Mays Stellung zum Islam ... "Wenn der Islam das Christentum verachtet, so hat er tausendmal recht dazu, der Islam hat Männer zur Voraussetzung –" (Antichrist 59) ... May "widmet seine ganze Arbeit dem Islam, er predigt mit Worten ein im schärfsten Gegensatz zum Islam stehendes Christentum, er schlägt Mohammed mit der Keule seiner christlichen Beweiskunst immer wieder tot, und der Erfolg ist, daß er eine neue Religion des Kampfes begründet. Er wettert gegen den unbelehrbaren Verhängnisglauben des Mohammedaners – und predigt den schlimmsten Kismetglauben ... Mays Stellung zur Lehre von den Zusammenhängen alles Weltgeschehens nimmt in seinen Werken einen bedeutenden Raum ein, und er führt alles Geschehen auf einen gemeinsamen Mittelpunkt, eben Gott, zurück. An zahllosen Stellen gibt er seiner Feindschaft gegen die Zufallslehre Ausdruck. Er erweist sich da schlimmer als jeder Mohammedaner, glaubt an ein unbedingtes Abhängigsein von Gott, der auch den kleinsten Schritt, den unbedeutendsten Gedanken des Menschen lenke und beherrsche" (S. 224).

7. Der schärfste Gegensatz zwischen May und Nietzsche ist, daß May sein "Ich" durch die Welt streifen läßt, um "alle Unterdrückten emporzuheben", während Nietzsche, "um den Weg für den Übermenschen frei zu machen, alles Kranke vernichtet sehen (will)" (S. 233).

Zusammenfassung: "Das Aussöhnen des Glaubens mit dem Verstand, Aufhebung der die Menschheit zerreißenden Gegensätze, Auflösung der Grenze zwischen Sozialismus und Individualismus, Erfassung des Weltgeschehens unter höheren, außerirdischen, überirdischen, allumfassenden Gesichtspunkten, die Veredlung, Vergöttlichung, größte Vervollkommnung des "Ich" unter Aufgehen in die Allgemeinheit das ist der Urquell aller gemeinschaftlichen Züge Mays und Nietz-


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sches [Nietzsches], das ist der Sieg des Pantheismus, aber zugleich auch die höchste Erklärung des Begriffes "Christentum" ..." (S. 235f). : E. A. Schmid schrieb zu dem Aufsatz Krenskis eine Einführung ("Grundsätze und Gegensätze" – KMJB 1925), in der er bekannte "sein Abdruck gehört zum äußersten, was ich wage." Er stimme in mancherlei Hinsicht nicht mit Krenskis Ausführungen überein und habe – im Einvernehmen mit ihm – den kath. Pfarrer Dr. Paul Rentschka gebeten, "in Form von Fußnoten die abweichende Anschauung zu vertreten." Rentschka nimmt nur zu den theologischen Aussagen des Textes Stellung; seine Anmerkungen sind jedoch nicht erwähnenswert. Krenskis Thesen zu Mays und Nietzsches Religiösität bedürfen einer kompetenten Nachprüfung (der sie meiner Meinung nach nicht standhalten werden). Vorerst sei dazu auf die Arbeiten W. Schönthals: "Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk" (Sonderheft der KMG Nr. 15) und Sibylle Beckers: "Karl Mays Philosophie im Spätwerk", S. 65–73, sowie auf die Ausführungen W. Wagners "Der Eklektizismus in Karl Mays Spätwerk" (Sonderheft der KMG Nr. 10) hingewiesen. Zu dem Themenkreis "Karl May und die Romantik" erschien im Jb-KMG 1981 der Aufsatz H. Frickes "Karl May und die literarische Romantik", dessen Untersuchung sich auf die literaturgeschichtlichen Aspekte des Themas beschränken. Krenskis Arbeit bildet eine wertvolle Ergänzung dazu; er führt die seelischen Bezüge Mays zur Romantik an.

Das Kapitel "Karl May und Friedrich Nietzsche" ist zu umfangreich und zu schwierig, als daß an dieser Stelle Krenskis Arbeit gebührend gewertet werden könnte: Auf jeden Fall gehört Krenskis Aufsatz zu den wertvollen Arbeiten der alten Jahrbücher, die wiederveröffentlicht und Grundlage neuer Forschungsarbeit werden müssen.


Karl-May-Jahrbuch 1926

E r n s t  A l t e n d o r f f :  Die Spaltung des Ich (S. 140–185)

Altendorff untersucht das Phänomen Doppelgängertum. Er führt die Romantiker als bedeutendste Gestalter des Doppelgängermotivs an. Besondere Aufmerksamkeit widmet er E. T. A. Hoffmann; dazu merken die Herausgeber des Jahrbuches (E. A. Schmid, L. Gurlitt) an, "daß zu Karl Mays Lieblingsdichtern der "Teufelshoffmann" (wie er ihn nannte) zählte" (S. 149).

Im zweiten Kapitel seines Aufsatzes stellt Altendorff die Lebensumstände Mays zusammen, aus denen Mays "Riß im Innern" abzuleiten ist: der überstrenge Vater, die Blindheit, die Phantasie-Großmut-


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ter [Phantasie-Großmutter], die "Lügenschmiede"-Gesellschaft, die zusammengewürfelte Lektüre der Jugendzeit. Offen zutage tritt die Spaltung des Innern, als May seine erste Haftstrafe verbüßt hatte: "Es bildete sich bei mir das Bewußtsein heraus, daß ich kein Ganzes mehr sei, sondern eine gespaltene Persönlichkeit" ('Mein Leben und Streben', S. 111). Als Beleg für die Identität dieser Schilderung, die ja auch leicht als Konstruktion einer Entschuldigung für die folgenden Straftaten gedeutet werden könnte, zählt Altendorff die frühe (!) Erzählung 'Das Geldmännle', in der May eine in einem Verbrecher vor sich gehende Ich-Spaltung beschreibt. Ruhe und Heilung fand May erst, als er dem Anstaltsgeistlichen Kochta begegnete.

: Unverständlich bleibt, daß die Herausgeber des Jahrbuches den Irrtum Altendorffs, die Erzählung 'Das Geldmännle' als frühe Arbeit Mays (vor 1876) zu bezeichnen und zu werten, nicht berichtigt haben. 'Das Geldmännle' stammt aus dem Jahre 1903.

"Noch unklar empfand er, daß er den Zwiespalt der Welt künstlerisch überwinden müsse. So schreibt er als unreifer Knabe bereits eine Indianergeschichte und rettet sich damit aus seiner Welt des Schmutzes in das holde Reich der Phantasie. Als er später Strafgefangener ist, wird ihm solche Flucht vor der Wirklichkeit und letzten Endes vor sich selbst geradezu notwendig. Er erschrickt vor dem eignen Schatten, will sich von seiner Vergangenheit retten. Aber er erlöst nicht nur sich aus der Prosa des Alltags, er will auch die andern in die Poesie jener erträumten Welt mit sich emporreißen. So wird er zum "Mittler" wie Lindhorst im "Goldenen Topf" (Märchen von E. T. A. Hoffmann – Anm. B. K.). Der "Edelmensch", welcher der Held in Mays Ich-Erzählungen ist, ist sinnbildlich zu deuten. Er führt, scheinbar in dieser Welt stehend und kämpfend, sein wahres Leben auf einer höheren Ebene. Alle menschlichen Tugenden werden durch ihn verkörpert. Überhaupt muß fast alles, was bei Karl May geschieht, symbolisch gewertet werden ... Damit tritt May in die Reihe jener Romantiker, besonders Hoffmanns und Tiecks, die Alltag und Traumwelt durch das Märchen überbrückten und dadurch ihren Schöpfungen einen didaktischen oder satirischen Beigeschmack gaben." (S. 169)

"Wie sieht die Welt aus, in der May sich als Mittler fühlt? Sie ist ein großes Wunder Gottes, steht aber im Zeichen des Zwiespalts. Mays Phantasie "überspringt die Grenzen, die sich zwischen dem realen Leben und dem "Himmel", zwischen Menschen und Göttern auftun, verkehrt mit den überirdischen Gestalten, mit Gott, Engeln, Teufeln, Riesen und allem Fernen, Fremden, Exotischen, wie mit Alltagserscheinungen und hat seine Freude an frommen Visionen, gro-


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tesken [grotesken] Zufällen und Wundern aller Art. Das alles hat er mit den Romantikern gemein, obgleich er nicht von diesen, sondern von den persischen alten Märchenerzählern ausgegangen ist" (Gurlitt S. 102/103)" (S. 171).

Der dritte Teil der Arbeit untersucht Mays Werk auf Darstellungen von Ich-Spaltungen. Altendorff führt an und erläutert: aus 'Und Friede auf Erden' das Tauchermärchen, die Personen Mary Waller, ihren Vater, Dilke; aus 'Am Jenseits' Geschehnisse um den Münedschi und um Khotab Aga; aus Silberlöwe III Halefs Äußerungen während seiner Krankheit; aus Silberlöwe IV das "Schattengespräch" mit dem Ustad und die Chodem-Episode; und besonders die Erzählung 'Das Geldmännle'.

Einen Höhepunkt von Mays Kunst, das Doppelgängertum zu gestalten, sieht Altendorff in der Gegenüberstellung Dilkes und Wallers in 'Und Friede auf Erden'. Das abschließende Urteil sieht jedoch für May nicht mehr so gut aus, da er an den Schöpfungen der Romantiker gemessen wird:

"Ich hatte mich in dieser Abhandlung lediglich mit der Ich-Spaltung zu befassen. Auf diesem Gebiet reicht May m. E. nicht an die teilweise der Weltliteratur angehörenden Dichter heran, die wir im ersten Teil dieser Arbeit berührten. (Kleist, Novalis, Schelling, E. T. A. Hoffmann, Dostojewski, Oskar Wilde, Stevenson u. a. – Anm. B. K.) Das Gesichtsfeld, innerhalb dessen der Ernstthaler Webersohn die Ich-Spaltung sieht, ist begrenzt: es umfaßt ethische und religiöse Fragen und schließt die pathologischen Erscheinungen nur dürftig ein. Aber es fehlt die gewaltige Phantastik E. T. A. Hoffmanns, die eindringende Sehschärfe Dostojewskis, die Höhe der Philosophie, von der aus die Romantik blickte. Auch Eros, der alles in Glut tauchende Gott, hat Mays kühle Schöpfungen unberührt gelassen. Da zudem der Stil unseres Dichters der persönlichen Züge entbehrt, bekommt seine Darstellung oft etwas Hausbackenes. Mays Geschöpfe tauchen nicht tief in jene geheimnisvolle Allflut, von der nach Mesmer die Dinge dieser Welt umspült sind: ein gewisses Fluidum fehlt. Der Dichter spricht zu uns nicht unmittelbar. Die starke Wand des Verstandes dämpft die Stimmen, die aus dem Unterbewußten empordringen. Dennoch: eines gibt Mays Schöpfungen ihren Wert. Die Geschehnisse der Ich-Spaltung sind nicht zurechtgezimmert, sie sind erlebt. Über ihre dichterische Bedeutung läßt sich streiten; als Zeugnisse und Spiegel eines Menschenschicksals aber werden Karl Mays Bekenntnisse nicht verlöschen" (S. 184f).

: Ein wichtiger Aufsatz. Insbesondere das 3. Kapitel sollte unbedingt wiederveröffentlicht werden. Es enthält eine Fülle hervorra-


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gender [hervorragender] Interpretationen und Anregungen. Das zweite Kapitel "Ich-Spaltung in Mays Leben" bringt keine neuen Erkenntnisse, stellt aber die Entwicklung der Ich-Spaltung Mays in überzeugender Weise dar.

Altendorff geht das Problem stärker von der literarischen und einer eher mystischen – um das Wort spiritistisch zu vermeiden – Seite an; Hans Wollschlägers Jahrbuchaufsätze (Jb-KMG 1972/73 und 1974) zur Spaltung im Innern Karl Mays beschäftigen sich mit den psychologischen Aspekten dieses Themas.

T .  K a i s e r - Q u e r y :  Gesundung (S. 376–383)

Thema: May und Nietzsche.

: keine Bedeutung.

O t t o  E i c k e :  Der Büßer (S. 384–390)

Eicke schreibt über May, den Gestrauchelten, den christlichen Büßer, den Proletarier, den Symbolisten.

: keine Bedeutung.


Karl-May-Jahrbuch 1929

W o l f g a n g  v o n  W e i s l :  Karl May und der Islam (S. 284–314)

Weisl bereiste den mohammedanischen Orient jahrelang als Berichterstatter. Er vertritt die Auffassung, daß das negative Bild des Islam, das Karl May zeichnet, in jeder Hinsicht gerechtfertigt ist. Er bemerkt, daß fortschrittliche Mohammedaner die Mängel des Islam, die auch Karl May darstellt, offen zugeben.

: Zu pauschal: Weisl geht nirgends auf konkrete Äußerungen Mays ein.

K l a r a  W e r n e r :  Karl May als Wegweiser zur Verinnerlichung (S. 370–380)

: Dieser Vortrag bietet eine gute Zusammenstellung von May-Zitaten zum Thema Religion.


Karl-May-Jahrbuch 1933

L o r e n z  K r a p p :  Das sittliche Ideal bei Karl May (S. 361–392)

Ausgangspunkt für Krapps Ausführungen ist ein Versprechen, das er 1907 anläßlich eines Besuches in der Villa Shatterhand Karl May gab: "'... Ihr Tiefstes ist mir Ihr 'Old Surehand'. Dort stehen


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Sie ganz mit den drei großen Dingen, die Sie meiner Jugend gesagt haben und die da heißen. RITTERLICHKEIT, EHRFURCHT, GERECHTIGKEIT.' Er fuhr erstaunt auf und antwortete: 'Dies Urteil über den 'Old Surehand' habe ich noch nie gehört. Wollen Sie es nicht einmal in einer freien Stunde näher begründen?'" (S. 362) Dieses Versprechen löst Krapp nun ein:

Den Begriff "Ritterlichkeit" klärt Krapp über eine literaturgeschichtliche Betrachtung: Nicht den Amadis sieht Krapp in der Ahnenreihe der May-Romane (wie z. B. Mahrholz), sondern dessen "Vorfahren", die 'chansons de geste': "Sie kannten, noch völlig vom Mythos durchschauert, in eine schöne, wilde, jungfräuliche Welt hinausblickend, die Freundschaft zwischen Mensch und Pferd ... Sie kannten noch die Liebe Rolands zu seinem Streitschwert Durandal, zu seinem Streithorn Olifant ... alle diese Dinge ... kennt noch Karl May" (S. 363f). Old Shatterhand übertrifft diese Haltung noch: "... am bedeutsamsten ist seine Hauptwaffe: seine "Schmetterfaust". Die ist in der Tat sein Symbol: DER WAFFENLOSE, NUR AUF SICH GESTELLTE MENSCH, DER ALLES SELBST ERLEDIGT... Sein Ideal ist ... der in sich gefaßte, des Irrtums fähige, aber sein besseres Sein selbst bewahrende MANN. Darum wählt er als Hintergründe seiner Dichtungen auch nur Landschaften, in denen die kraftvolle Einzelpersönlichkeit sich frei entfalten kann" (S. 364).

"Das zweite Wort, das aus dem 'Old Surehand' für mich am vornehmlichsten herausklingt, heißt verecundia ...: EHRFURCHT und SCHAM ... Die sittliche Idee der Ehrfurcht beherrscht bei May alle Beziehungen des Menschen zu den Dingen außer und über ihm: zu Mensch, Natur und Gott. Zuvörderst zum Mitmenschen. In dieser noch jünglinghaften, von der planmäßig ordnenden Hand des Menschen gesellschaftlich und staatlich noch fast völlig ungeformten Welt der Savannen, Urwälder und Wüsten, durch die seine Menschen reiten, gibt es doch den Grundbegriff aller Ordnung in Gesellschaft und Staat: den Begriff der Hierarchie, der Autorität. Welche wenn auch ungeschriebenen, aber doch mächtigen und alle erfassenden Gesetze der Hierarchie herrschen nicht unter diesen Westmännern der Steppe! Freie Männer sind sie alle, aber mit zwingender Macht neigt sich der menschlich Geringere vor dem menschlich Tüchtigeren ... (S. 369).

Die zweite Seite der Ehrfurcht ist die Scham: "Der ganze 'Old Surehand' – und darin liegt ja vielleicht das Geheimnis, warum er im Rahmen des Gesamtwerks Mays menschlich so tief ergreift – ist überhaupt eine Dichtung der Scham. Was ist denn das Rätsel im


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Leben Old Surehands? Warum hat er sich in die erbarmende Wildnis geflüchtet? Auf über tausend Seiten reitet er einher; nur dunkle Andeutungen über etwas Furchtbares, das auf seinem Vorleben lastet, entspringen hier und da ungewollt seinen Lippen. So fest hat er sich die Binde der Scham vorgebunden, daß Old Shatterhand ihm einmal zürnt, weil er sie nicht lüftet und er ihm daher das Herz nicht erleichtern kann. Da endlich reißt Surehand sich verzweifelt zusammen, nachdem das Geheimnis bereits längst fast völlig gelüftet ist, und schreit es heraus (II. S. 527): 'Vater und Mutter waren Zuchthäusler!'" (S. 373)

Krapp erkennt, daß sich hinter Old Surehand May selbst verbirgt: "Der Old Surehand ist eine Konfession seines eigenen, längst wie ein Schattenbild hinter ihm liegenden Lebens, ein Bekenntnisbuch, dichterisch zarter und für mich menschlich sogar ergreifender als sein späterer Band 'Ich'" (S. 374).

Ehrfurcht heißt für Karl May auch – und für ihn in besonderer Weise – Ehrfurcht vor dem Göttlichen. Krapp zeigt dies am Beispiel der Hauptpersonen des 'Old Surehand', an Old Surehand, Old Wabble und an dem "General". Ausgangspunkt der Untersuchung sind die von Krapp postulierten drei Grundthesen Mayscher Frömmigkeit:

1. "Es gibt einen Gott."

2. "Gott ist der Urgrund der sittlichen Ordnung."

3. Der Mensch ist der Vervollkommnung fähig durch eigenes Bemühen und durch die Gnade" (S. 378).

Aus der zweiten Grundthese leitet May (nach Krapp) ab: "Es gibt keinen Zufall" und "der Mensch wird von Gott beschützt". May glaubt an "das Hineingebettetsein des starken, ritterlichen Mannes mit seinem brausenden Tatendrang in die Hand Gottes" (S. 382). Aus dem zweiten Grundsatz entsteht die Frage, wozu das Leiden in der Welt sei: "Old Surehand, von den Qualen dieser Frage zerrissen, hat alle Bande zur Mitwelt gelöst und ist ihretwegen, Gott und seinem Dasein grollend, hinausgeflüchtet in die Wildnis. May gibt darauf die Antwort, die einzige, die es gibt, und die schon Sophokles kannte: "daß im Leiden Lehre wohne", d. h. daß das Leid gesandt sei, den Menschen zu läutern. Er beweist es auf jenem ergreifenden Nachtritt durch die Wüste (I. S. 360–369) vor allem mit dem argumentum ad hominem, mit dem Hinweis auf seine eigene grauenvolle Jugend voll von Jammer, Krankheit und Entbehrung" (S. 382).

An den Gestalten Old Surehand und Old Wabble zeigt Krapp, wie May sich die Verwirklichung der dritten Grundthese dachte: "Zum Wissen


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ums Gute muß der Wille, es zu üben, hinzutreten, und zu beiden die Gnade, erfleht durchs Gebet. Darin gipfelt Mays religiöses Ideal ... schon von Anfang an sehen wir den Unterschied zwischen beiden, der schließlich zur rasenden Feindschaft Old Wabbles gegen Old Shatterhand und zum entsetzlichen Ende des alten Cowboys führen wird. Dieses wandelnde Skelett mit den wehenden Greisenhaaren, dieser König der Savannen, ist ein Überbleibsel aus der dunklen und blutigen Welt jener erbarmungslosen Schlächter, die seit dem Anfang der Besiedelung der Neuen Welt über die rote Rasse herfielen und sie bis zu den kläglichen Resten ausrotteten, die heute noch in der verkrüppelten Freiheit ihrer Reservationen leben. Aufgewachsen im Kampf Auge um Auge, in Härte, List und Todestrotz, mutter-, familien- und heimatlos, die Brust gepanzert gegen das Mitleid und gegen jede höhere Regung, der schweifenden königlichen Bestie gleich: das ist ihr Leben. Sie sind nicht von Natur aus schlecht; aber stoßt den Menschen, "das gesellige Wesen", von Kindheit an hinaus in die Gesellschaftslosigkeit, in den immerwährenden tierhaften Kampf um Morden und Gemordetwerden, und es wird wahr an ihm: "Homo homini lupus" (der Mensch ist ein Wolf für den Mitmenschen). Die Tragödie der Gesellschaftslosigkeit, der Ausgestoßenheit aus dem sittlich festigenden Kreis der Mitmenschen von Kindheit an: das ist Old Wabbles Tragödie. Ausgestoßen, wenn auch aus freiem Willen, ist auch Old Surehand; aber er hat wenigstens die Wohltat der Gesellschaft einmal in seiner Jugend gekannt, ihn hat wenigstens einmal eine Mutter beten gelehrt. Und dann lebt in diesem Westmann eine große, von Anfang an edle Seele. Ist bei Old Wabble der ganze sittliche Kern angefressen, das Bewußtsein von Gut und Böse fast bis zum Unkenntlichen verwischt, so ist Surehands sittliches Sein unberührt; was ihm als Makel anhaftet, ist nur sein hartnäckiger Zweifel an einer sittlichen Weltordnung, an Gott.

Wie finden nun beide die sittliche Umkehr? Bei Old Wabble liegt der Fall, wie ersichtlich, fast verzweifelt. Man hat etwas Unwahrscheinliches (Droop, S. 134), Mittelalterlich-Barbarisches in der Art gesehen, wie ihn May durch einen gräßlichen Tod (II. S. 510–524) zur sittlichen Umkehr bringt. Mit Unrecht. Ehe ein solcher Granit springt, wie es dies vertierte Herz ist, müssen die gewaltigsten Hämmer darauf dröhnen. Hier, wo kein inneres sittliches Erleben vorhanden ist, versagen alle Mittel, es wecken zu wollen. May hat recht: diesen Hohn, der nach einem "Fact" schreit, soll er von seinen Lästerungen lassen, muß ein "Fact" beugen, das einzige, das ihn beugen kann: die zerschmetternde Erkenntnis seines


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Nichts. Und dann – und das ist die Hauptsache –: es ist nicht die Todesqual, die Old Wabble Gott finden läßt, sondern das Gebet, also die Gnade. Das Gebet aller rings um ihn, auch Old Surehands erstes Gebet, auch das der "Wilden", und endlich das seine. – Das Gebet ist es auch, das Old Surehand letzten Endes wieder an Gott glauben läßt. Die Zwischenstationen, die diese vornehme Seele durchlaufen muß, sind freilich friedlicher, obwohl auch hier starke Beweggründe nötig sind, soll dieser eisenharte Charakter ergriffen werden: diese Zwischenstationen sind die Erschütterung über den schrecklichen Tod Old Wabbles (II. S. 522) und die Erkenntnis, daß unverdientes Leiden sich mit einer sittlichen Weltordnung verträgt, weil Leiden läutert (II. S. 581)" (S. 383ff).

Das Ideal der GERECHTIGKEIT sieht Krapp von May verherrlicht in seinem Engagement für untergehende Rassen, für "kranke" Völker. Auch die scharfen Attacken gegen einen korrupten Obrigkeitsstaat werden als Indiz für Mays besonders ausgeprägten Gerechtigkeitssinn angeführt. Krapp stellt jedoch ausdrücklich klar, "daß in diesem Spott kein Geist der Verneinung des Staates selbst liegt, sondern Zorn über die Unfähigkeit dieser Organe, ein so hohes Amt so würdig auszufüllen, wie sie es müßten... Wo es das Staatswohl gilt, kommen unerbittlich harte Züge in Mays sonst so gütiges Antlitz. Dem Mörder gebührt mit Recht die Todesstrafe; ja selbst die Prügelstrafe für vertierte Rohlinge dünkt ihm gerecht (II. S. 341). Ein grandioses Bild ist jener Schmied (II. S. 387), der dem Rowdy Toby Spencer mit dem Hammer in einer Art altgermanischen Gottesgerichts die Schulter zertrümmert" (S. 389).

Krapp schließt seine Ausführungen mit einem Kriegserlebnis: Ein junger May-Verehrer stirbt den Heldentod nach der Lektüre von 'Winnetou III' und wird mit dem Buch auf der Brust begraben.

: Die Schluß-Anekdote zeigt, daß das Weltbild, das Krapp in Mays 'Old Surehand' dargestellt finden will, nicht unbedenklich ist. Eine intensive Auseinandersetzung mit Krapps "Surehand"-Interpretation ist wünschenswert.


Die alten Jahrbücher

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