1977 Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr.6


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Karl Mays
Deutsche Herzen und Helden


Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft 6/1977


Inhalt:   Seite:
Zum Thema von Karl May*) 3
"Mißratene" Deutsche Helden von Walther Ilmer 4 - 40
   In Reverenz    
   Vorbemerkung    
   Kapitel I - XVII    
   Nachbemerkung    
   Anmerkungen    
Ein Schaffensabschnitt weniger von Gerhard Klußmeier 41
Zur Frage der Datierung von Hainer Plaul 45
Quod erat demonstrandum ? von Gerhard Klußmeier 47


*) aus "Schundverlag", S. 376/77


Zum Titelbild :
Archiv Hainer Plaul, Berlin. Siehe Seite 46.




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KARL MAY ZUM THEMA


"Das für mich Allerfürchterlichste kommt erst noch! Nehme ich meine damalige Arbeit jetzt in die Hand, so erkenne ich sie kaum wieder. Das ist nicht jener wohldurchdacht artikulierte Leib, in welchem meine Seele zum Leser sprechen sollte. Das sind nicht jene weichen und doch energischen Konturen, die ich ihm gegeben habe, nicht die hellen Züge, die runden Linien, die hohe, denkende Stirn, die klaren Augen, die beweglichen Glieder! Sondern das ist ein formlos dicker Rumpf, von ordinären Genüssen aufgeschwollen.. "

"... wie konnte sich die schlanke, kräftige, zwar auch nicht sündenlose Menschlichkeit, die ich gezeichnet habe, in eine so feiste, schwammige, nach Ehebruch lüsterne Abscheulichkeit verwandeln, wie ich sie hier zu sehen bekomme! Wer hat meine wohlabgemessenen Worte in Klumpen zusammengeballt, meine leichtfließenden Sätze in häßlich-breite, langsam vorwärtskriechende Krötenleiber verwandelt? Wer hat mir alle die lieben Pausen, in denen meine Leser Atem holen und liebend nachsinnen sollten, herausgenommen und aus meinen kurzen, leicht begreiflichen Redeformen zottige Stricke gedreht, an denen sich jede Aufmerksamkeit zu Tode würgen muß!"

"Ich suche nach meinem Geiste, nach meiner Seele! Ich finde sie nicht. Sie sind verschwunden, alle beide! Ja, scheinbar bin ich da, aber als Zerrbild, als Fratze."

"Ich habe diese Romane, seit ich sie schrieb, niemals gelesen, auch die Korrekturen nicht. Damals, als ich einige Abschnitte aus dem 'Waldröschen' nahm, um sie für 'Old Surehand' in Druck zu geben, fiel es mir auf, daß ich so viel herauszustreichen oder zu ändern hatte."

"Die Anlage stammt von mir, der Bau, die Disposition, die Gliederung. Das Geographische, Geschichtliche, das Ethnologische. Die Schilderung von Land und Leuten. Die genau berechnete Schaffung psychologischer Situationen resp. Verwickelungen. Das stammt von mir; das ist fast alles mein Werk; aber von Schritt zu Schritt bemerke ich mehr und mehr, daß sich fremde Geister in dieses Werk geschlichen haben. Ich stoße auf Fäden, die ich nicht kenne, auf Spuren, die nicht von meiner Psyche, sondern von anderen Seelen stammen ... "


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"Mißratene" Deutsche Helden

von Walther Illmer


In Reverenz

Den nachfolgenden Versuch, Anschauungen zur Bedeutung und Deutung des Romans "Deutsche Herzen, deutsche Helden" von Karl May beizusteuern, stelle ich unter die Worte Hans Wollschlägers:

"Mays schöpferische Arbeit bestand nicht in der Komposition von mit höchster geistiger Anstrengung und Geduld erarbeiteten Mikrodetails, sondern in der Kanalisierung ausbrechenden, strukturell vordeterminierten Innen-Materials. Dem entspricht die panische Hast und Fahrigkeit, die gerade in seinen größten Entwürfen fühlbar wird, ja manchmal geradezu ein Bewußtsein der Ohnmacht vor dem eigenen, übermächtig gewordenen Werk."

(Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73, Seite 13)

Und gewidmet sei mein dilettantischer Beitrag dem nimmermüden Karl-May-Forscher Hansotto Hatzig, der noch an das Gute im Menschen glaubt und so viel Positives in Karl Mays "Deutsche Herzen, deutsche Helden" gefunden hat ... und der mir uneigennützig half.

Vorbemerkung:

Dieser Beitrag stützt sich auf den Text der Erstausgabe des Romans "Deutsche Herzen, deutsche Helden" (von Karl May), anonym erschienen im Verlag H.G. Münchmeyer, Dresden, 1885/1886, in Lieferungen, 109 Hefte mit insgesamt 2610 Seiten; neu herausgegeben als Faksimile-Reprint, 1976, vom Karl-May-Verlag, Bamberg.

Beigezogen wurden außerdem die drei anderen auf dem deutschen Buchmarkt bekanntgewordenen Ausgaben desselben Romans, die im Text voneinander und von der o.a. Erstausgabe abweichen:
- Illustrierte Ausgabe(Verlagsleiter Adalbert Fischer) Dresden, 1901/1902, in fünf Kleinoktavbänden mit insgesamt 3109 Seiten; neu herausgegeben als Faksimile-Reprint, 1976, vom Verlag Georg Olms, Hildesheim;
- Ausgabe des Karl-May-Verlages, Radebeul bzw. Bamberg, Karl Mays Gesammelte Werke Band 61-63 und 60, in der Bearbeitung von Dr. E.A. Schmid und Franz Kandolf, erstmals 1930, 1933, 1934 herausgegeben;
- unvollständig gebliebene Ausgabe des Pfeil-Verlages, Zürich, 1950-1954, in acht Kleinoktavbänden mit insgesamt 1815 Seiten.

Eine vergleichende Textanalyse wird im vorliegenden Beitrag nicht vorgenommen; auf einige ins Auge fallende Unterschiede wird jedoch hingewiesen; sprachliche Schnitzer müssen allerdings unberücksichtigt bleiben.

Beim Verweis auf Textstellen des Romans ist die Seitenzahl der Erstausgabe (Münchmeyer-Text, in der Reprint-Form des Karl-May-Verlages) genannt. Die entsprechende Seite der Fischer-Ausgabe ist durch Hinweis auf den betreffenden Band (F 1 = "Eine deutsche Sultana", F 4 = "Der Fürst der Bleichgesichter, Il. Teil", usw.) mit nachfolgender Angabe der Seite gekennzeichnet.


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1. Kaum rascher als erhofft und anders als gedacht, aber immerhin doch ist der unter "Münch(May)erisches" in der Beilage zu Nr. 20 der "Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft" geäußerte Wunsch in Erfüllung gegangen:
Der Roman "Deutsche Herzen, deutsche Helden" (fortan hier: DHH) liegt als Faksimile-Reprint der Erstausgabe vor, und damit hat nun der Karl-May-Verlag sich ein ganz besonderes Verdienst um die Karl-May-Forschung erworben. Ohne den Originaltext (oder, behutsam, zumindest den dem Manuskript zwangsläufig noch am nächsten kommenden Text) von DHH blieben wesentliche Merkmale unseres Lieblings im Dunkel. Nun können sie - von den dazu Berufenen (zu denen ich mich in aller Demut nicht rechne) - in greller Deutlichkeit ausgeleuchtet werden. Denn gerade dieser von äußeren Geschehnissen überquellende "Roman" ist so offensichtlich das Ergebnis innerer Interesselosigkeit und seelischer Qual des Autors, daß Rückschlüsse auf Karl Mays Verfassung, auf seine Ehe und auf Verschiebungen seines Weltbildes einfach naheliegen und der Verdacht auf schizoide Veranlagung Nahrung erhält.

Nun stehen mir weder der Wissenshintergrund noch die Ausdrucksmittel zu Gebote, um mich hierüber akribisch auszulassen; ich kenne meine Grenzen. Aber ich will versuchen, das, was ich an Vor"arbeiten" zu diesem Thema angestellt und zusammengetragen habe, vor interessierten KMG-Mitgliedern und Karl-May-Lesern auszubreiten, in der Hoffnung, daß diese Saat aufgeht und Ansätze zur reichen Ernte durch andere birgt...

Vieles von dem, was ich als Aussage und Auffassung vortrage, wird strenggenommen als Spekulation anzusehen sein und ist daher wissenschaftlich anfechtbar. Das schadet nichts, wenn es nur dazu dient, die ernsthafte Forschung um Karl May voranzutreiben. Es muß auch Lehrlinge geben, die freudig die Spatenarbeit vornehmen, damit die Meister dann die Bäume pflanzen können. Und Agatha Christie's (-Gott hab' sie selig wie Karl May -) Captain Hastings löst durch seine ungeschickten und falschen "Schlüsse" stets im unfehlbaren Hercule Poirot diejenigen prägnanten Assoziationen aus, die diesem Fachmann den Schlüssel in die Hand geben.

2. Ekkehard Hieronimus mag mir vergeben, daß ich seine Auffassung "Die Karl-May-Forschung geht fehl, wenn sie an oberflächlichen Fragen haften bleibt, an Fragen ... nach autobiographischen Elementen in den Romanen" (Die Horen Nr. 95, S. 60) nicht teile. Gerade das Werk Karl Mays ist so entscheidend - wenn nicht ausschließlich - durch des Autors Psyche, seine Stadien der persönlichen inneren Entwicklung geprägt worden, und überhaupt nur durch sie denkbar, daß jede autobiographische Spiegelung im Werk relevant ist -- unter anderem auch wegen ihrer Auswirkungen auf die von Hieronimus (an gleicher Stelle) mit Fug und Recht hervorgehobenen "volkstümlichen Elemente" bei Karl May und eben daher wegen der Wirkung auf den Leser. Und dies gehört zu den "psychologischen Fragestellungen", denen Hieronimus - an gleicher Stelle, S. 58 Bedeutung beimißt.
Claus Roxin wußte hierzu in seiner Ansprache zur Eröffnung der Mitgliederversammlung anläßlich der Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Gelsenkirchen im September 1975 Gewichtiges zu sagen (INFORM Nr. 14). Zudem ist die - natürliche - Wechselwirkung zwischen Psyche des Autors, Spiegelung im Werk und Reaktion in der Leserpsyche neuerdings am Beispiel Karl Mays in bisher wohl unübertroffener Aussagekraft von Ingrid Bröning dargelegt worden: "Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem" (Albert Henn, Ratingen, 1973). Der Würdigung dieser Arbeit durch


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Heinz Stolte im Jb-KMG 1974 ist nichts hinzuzufügen.


II.

1. Karl Mays Münchmeyer-Romane (sind es Romane? Genügen sie formal den Kriterien des Romans? Sind sie nicht ebenso Erzählungen wie das meiste in seinem Gesamtwerk - nur verschachtelter, dabei sowohl verdünnter als auch zugleich massiger?) umkrallen die erste Hälfte seiner sogenannten zweiten Schaffensperiode und bilden ein dramatisches Rührstück in fünf Akten. Dramengerecht bringt der vierte Akt den Niedergang des Helden - in diesem Falle des Deutschen Karl May. Notabene, das Stück geht, zum Glück für das deutsche Lesepublikum, für uns alle und für den Autor selbst, nicht tragisch aus. Ein solches Ende hätte Karl May auch nicht verdient gehabt. Er fing sich noch einmal - und dann noch einmal - und war gerettet.

1. Akt. "Waldröschen":
Erzählgenie im Fiebertraum. Verheißungsvoll-vieldeutiger Beginn.
2. Akt. "Die Liebe des Ulanen":
Sehnsuchtsschwinge in Fesseln. Gebändigte Träume.
3. Akt. "Der verlorene Sohn":
Erwachen - zur Müdigkeit. Aufrüttelung vor dem Dämmern.
4. Akt. "Deutsche Herzen, deutsche Helden":
Talent im Verlöschen. Zerfall der Träume.
5. Akt. "Der Weg zum Glück":
Genesung. Gefühlvoll-versöhnlicher Ausklang.

Mit dem "vierten Akt" haben wir's hier zu tun. Aber - gelegentlich - auch zurück auf die ersten drei Akte und, in frohem Erstaunen, voraus auf den fünften Akt muß der Blick gelenkt werden.

2. Ich habe seinerzeit den vierten Münchmeyer-Roman den "möglicherweise wichtigsten von allen" genannt. Er ist es meines Erachtens deshalb, weil er den absoluten Tiefpunkt in Karl Mays Schaffen als Erzähler kunstvoll-geschickt verschlungener, buntbewegter Handlungen zeigt. Ein heruntergehaspeltes Garn - Schilderungen ohne inneren Tiefgang eine Geschichte, in der vorn und hinten nichts zusammenstimmt, die -zig Fragen aufwirft und keine beantwortet... Ein 2600-Seiten-"Schinken", der dem Leser (ich betone bitte: dem Leser) - nicht dem Karl-May-Forscher! - schlichtweg "madig" vorkommen muß(1).

3. Ach, und gerade diese Story - Reiseerzählung, Kaspar-Hauser-Wust, Schicksalsrhapsodie, Nationalballade, Panorama der Verworfenheit und siegreicher Moral, unleugbar glaubwürdiges Abbild zeitgenössischer Lebensverhältnisse in entlegenen, in für wilhelminische Deutsche schreckenbergenden Schauplätzen ... all das und mehr in einem - hätte von ihrem farbenprächtigen Grundmuster her, von der unterlegten Konzeption her, von den zum Teil geradezu genialisch ersonnenen und geschickt dargebotenen Intrigen und Verquickungen her nicht nur "Das Waldröschen" und selbst manche "Hausschatz"-Erzählung beträchtlich überragen, sondern hätte das deutsche Meisterwerk der Spannungsliteratur werden können. Alle Elemente, alle Ingredienzien sind da. Und werden inadäquat, disharmonisch, überzwerch eingesetzt. Die Blätter prangen nicht may-frisch, sondern fallen november-müd eins aufs andere.

4. Es kann nicht ausbleiben, daß in der langen Kette von Publikationen ein und desselben Verfassers nicht alle Glieder gleichmäßig hell leuchten. Manche strahlen über die Zeiten hinweg, manche


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geben kaum matten Glanz. Soll bei Karl May die Serie von "Durch die Wüste" bis "Der Schut" oder "Winnetou I" oder "Weihnacht" oder "Die Sklavenkarawane" als Richtschnur gelten, so fällt im Gesamtwerk der exotisch gekleideten Schriften (vor der Jahrhundertwende) qualitativ, strukturtechnisch und literatur-ästhetisch manches dagegen zurück, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Vermögen aber die "blasseren" unter Mays Abenteuergeschichten immerhin - und durchaus gut - noch von dem Abglanz zu leben, den die unsterblichen anderen Bände verstrahlen, so bleibt DHH der große dunkle Fleck auf des Autors strotzend hell-buntem Schild. Ewig schade drum.


III.

1. In seiner vorzüglichen Einführung zur Reprint-Ausgabe des Münchmeyer-Textes von DHH hat Roland Schmid dankenswerterweise nicht nur die bisher ungedruckten Ausführungen seines Vaters Dr. E.A. Schmid zur Ur- und Neugestalt des Werks wiedergegeben, sondern auch selbst auf die "flüchtige Konzeption, Widersprüchlichkeit und eine Fülle von Unstimmigkeiten, Fehlern und Weitschweifigkeiten" hingewiesen. Gewiß mag manches auf einen "interpolationsfreudigen Redakteur" (R. Schmid) zurückgehen, aber sicherlich nicht alles. Und zumal auch nach Roland Schmids Überzeugung in DHH "unter allem Vorbehalt eine beachtliche Quelle persönlicher, zum Teil fast unverhüllt biographischer Mitteilungen des...Verfassers erblickt werden dürfen", will ich es getrost wagen, allerlei Betrachtungen anzustellen. Wohlverstanden: nicht als wissenschaftlich untermauerte These, vielmehr als Plauderei - und zwar sogar mit mancherlei Wiederholungen zu ein und demselben Bezugspunkt, weil eben dieser und jener Bezugspunkt unter mehreren Blickwinkeln beäugt werden darf.

2. Um es gleich vorwegzunehmen: Alles was noch an (scheinbar) ach so ätzender Kritik folgt, liefert nicht den letztgültigen Maßstab für die gerechte Beurteilung des Werks. Ich möchte bewußt seine zahlreichen Schwächen aufzeigen - aber dies hindert mich nicht, Karl May auch in seinem schriftstellerischen Ussulistan, in das er bei Abfassung von DHH zurückgeworfen wurde, zu bewundern.

Allen Schwächen zum Trotz durchwabert den Roman jene unverwechselbare Atmosphäre und lebt er von jener unzerstörbaren Substanz, die nur Karl May eigen ist und die beim Lesen seiner Schriften bezwingende Resonanz findet in den noch nicht voll erforschten Seelennischen, in denen des Menschen Traumfähigkeit und Lebenswille verschmelzen ...

Karl May ist ein Christ, und dem können wir uns nicht entziehen: er lehrt uns verzeihen. Und so sehen wir denn auch in DHH in der Gesamtschau nicht etwa das, was wir mit Recht an ihm auszusetzen haben, legen die Elle nicht an den allzu augenfälligen Abstand zwischen Wollen und Können des Autors, zwischen Absicht und Tat, sondern wir sehen nur das erstaunliche - und eben für Forschungszwecke erstaunlich lesenswerte - Produkt eines Kämpfers, der schlichtweg nicht aufgibt, und so verzeihen wir ihm gern die Tränen, die er uns aufnötigt ...

Aber das gilt nur für den Münchmeyer-Text(2). Die Fischer-Ausgabe, das behaupte ich kühn, verfälscht das Bild. Merkwürdig: Der geglättete Fischer-Text wirkt holpriger und bietet mehr Angriffsflächen; der schrecklich in die Länge gezogene und nur mit zähem Kauen zu bewältigende Münchmeyer-Text ist trotz sämtlicher Schludrigkeiten in sich geschlossener und harmonischer. (Das macht ihn nicht besser - aber geeignet zum Gegenstand einer Untersuchung).


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Mich dünkt, es habe Staberow / gestochert mit dem Stabe roh... Laß sehn, Karl May, was Du vollbracht / in Deiner Traumwelt Schaffensnacht...(3)


IV.

1. Die hier im weiteren Verlauf hingestreute Überfülle von Belegstellen und Beispielen für erschreckend unkonzentriertes, lustloses Arbeiten bildet keinerlei Vorwurf gegen Karl May. Erst aus der ungewöhnlich großen Zahl von Fehlleistungen in einem einzigen, in sich geschlossenen Werk wachsen die Spiegelungs- und Deutungs-Konturen, die den Autor als das erweisen, was er zur Zeit des Entstehens von DHH war: im Niedergang, "kaputt". Es ist bekannt, wie zäh und widerstandsfähig Karl May war - körperlich, geistig, seelisch. Wie grausam geknüppelt, wie unsagbar elend muß er sich gefühlt haben, daß aus einer spannend angelegten, erdballumspannenden Abenteuerstory ein derartiger Schund wurde...

2. Über manches der vielen Einzelbeispiele (von denen das eine oder andere ja tatsächlich auf der Einwirkung durch fremde Hand beruhen mag) könnte der freundlich gesonnene Leser noch mildtätig hinweggehen, könnte es mit "Druck und Hetztempo des 'Kolportage'-Schreibers" entschuldigen, wenn wenigstens zweierlei ordentlich durchkomponiert wäre: Das Kernstück des rätselhaften Geschehens und die Helden als solche. Aber sogar hierin hat der ansonsten bewunderungswürdige Fabulierer und Typen- (wenn schon nicht Menschen-) Schilderer Karl May diesmal versagt: Der Hintergrund der auslösenden Tragödie bleibt im Dunkel; und die "Helden" - sind keine...

3. Da schickt der Mann sich nun an, eine spannungsgeladene Geschichte über ein durch Schurkentaten verursachtes Familienverhängnis zu schreiben, und über 2600 Seiten hinweg wartet der Leser vergebens darauf, aufgeklärt zu werden, was denn(zum Kuckuck!) damals wirklich geschah, warum und von wem Ibrahims Vater ermordet wurde, wieso Alban von Adlerhorst unter Mordverdacht geriet, was Florin eigentlich anstellte, um die Familie Adlerhorst auseinanderzureißen (daß er seiner Herrin schöne Augen machte, ist rein erzähltechnisch eine recht dürftige Mitteilung), wieso er Derwisch wurde - statt zum Beispiel Ladenbesitzer -, und weshalb den armen Adlerhorsts auferlegt war, über ihr Schicksal geflissentlich den Mund zu halten... : Rudolf Beissel hat schon im Karl-May-Jahrbuch 1919 (S. 188) erwähnt, daß Karl May die Antwort darauf schuldig bleibt.

Dabei purzelt der Leser allüberall auf raffinierte Andeutungen. Und wer seinen May kennt, reibt sich im stillen die Hände. Diesmal aber führt's zu nichts. Eine beachtliche, gewiß nicht erschöpfende Liste dessen, was an Rätseln, Geheimnissen, Hinweisen ohne Erklärungen bleibt, umfaßt - außer den oben summarisch genannten Fragen - folgende Einzelbeispiele:
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30 Steinbach erinnert sich, Wallerts Züge schon gesehen zu haben. (F 1, 55)
58 Der Sklavenagent darf nicht sagen, wer Tschitas Vater war und wo sie geboren wurde. (F 1, 104)
65 Wallert darf seinen richtigen Namen nicht nennen. (F 1,117)
75 Tschitas früherer Wächter schlug "ihre Mutter", als diese Schreibversuche machte. (F 1, 133/134) (Anmerkung 4)
102 Lord Eaglenest behauptet, Ibrahim habe eine "ausgesprochen französische Physiognomie". (F 1, 177)


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103 Ibrahim murmelt etwas von seiner Geburt und seinen Verhältnissen. (F 1, 179)
152 Steinbach erinnert sich (im Selbstgespräch), dem Russen Polikeff schon begegnet zu sein. (F 1, 259)
183 Steinbachs Sekretär erfährt aus Gökalas Worten, Polikeff sei ein aus Sibirien entlassener Sträfling. (F 1, 306)
210 Hermann sagt Zykyma, er dürfe ebensowenig wie sein Bruder über seine Verhältnisse sprechen. (F 1, 347)
385 Hermann sagt zu Lord Eaglenest, er - Hermann - habe schweigen müssen, und stellt Erläuterungen in Aussicht. (F 1, 604)
396 Hermann erwähnt den Aufenthalt seiner Eltern und der kleinen Schwester in Adrianopel. Lord Eaglenest verweist darauf, daß Sarah viel zu berichten haben werde. (F 1,604)
965 Rothe spricht von dem nie geklärten Unglück der Familie Adlerhorst. (F 3, 233)
1041 Steinbach erwähnt seine Verwandtschaft mit Martin Adler. (F 3, 343) (Und wieso, bitte, ist er überhaupt plötzlich in Amerika?)
1050 Urplötzlich fällt der Name Florin.
1052 Florin wird als Adlerhorsts Diener genannt. (F 3, 359)
1072 Steinbach sagt, Florin habe schurkisch an Martin Adlers Familie gehandelt.
1093 Magda durfte nicht mit ihren Eltern über ihre Herkunft sprechen. (F 3, 421)
1346, 1365 Wieso ist Hermann, mit Lord Eaglenest, in Amerika statt daheim bei seiner Zykyma? Wieso keine Begrüßung Steinbachs und Hermanns? Wieso keine Erklärung für Steinbachs Anwesenheit in Amerika? (F 4, 232; 257/258)
1471 Steinbach weiß, daß Hauser Annas Diener war. (F 4, 396)
1475 Die Baronin spricht vom Fluch auf der Familie und sagt, Deutschland sei gefährlich für sie. (F 4, 401)
1475 Steinbach erwähnt, daß die Familie Adlerhorst aufgrund einer Drohung ihrem Namen entsagen mußte. (F 4, 402)
1479 Steinbach sagt (im Selbstgespräch), sein Vater trage eine gewisse Schuld am Adlerhorst-Schicksal. (F 4, 407)
1480/1481 Das Gespräch Steinbach-Martin zeigt auf geheimnisvolle Zusammenhänge hin.
2333 Ibrahim spricht von Mord an einem Deutschen auf deutschem Boden. (F 5, 628: diese Präzisierung fehlt)
1516, 1517, 1518 Florin bietet Steinbach an, ihm alles über die Adlerhorsts, deren Aufenthaltsort und "wie und warum damals alles geschehen ist", mitzuteilen. Statt Florin zu locken, lehnt Steinbach dessen Erklärungen großspurig ab. (In F 4, 448-452, fehlen diese Dialogstellen)

Diese vielfältigen Mosaiksteinchen erweisen: Karl May hielt, offenbar noch bis kurz vor Schluß der Riesenfabel, einen wohlersonnenen, in Umrissen wie in Details festgelegten, fein verwobenen Plan für den Geschehenshintergrund parat. Umso herber trifft es den Leser, daß die geschürte Spannung in eine platte Enttäuschung ausläuft...


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Im Widerstreit zwischen den sanguinischen Kräften der kreativen Phantasie - die allen Verknotungen weltlichen Übels ein Schnippchen schlägt - und dem hart an der Grenze der Hysterie balancierenden Trudeln der Ängste, ohnmächtiges Opfer hohnvoll-boshaften Schicksals zu sein, unterliegt der Schriftsteller Karl May der gebeutelten Kreatur Karl May: die dräuende Spaltung schreit nach dem Ausweg.
Und Karl May findet ihn. Er ist schauerlich - und doch erschütternd. Denn er läßt alles offen. Sowohl im Roman, den Karl May um die Adlerhorsts, als auch in der Geschichte, die das Leben um Karl May schreibt.


V.

1. "Deutsche Herzen, deutsche Helden" heißt das Epos. Die deutschen Herzen darin tragen schwer an Leid, und der deutschen Helden wird der Leser so gar nicht recht froh:

Dieser Steinbach, dieser großspurige Prinz Oskar, der seinen Prinzentitel so gschamig verbirgt, das ist doch kein Held weiland May'scher Prägung! Natürlich beabsichtigte der Autor, hier einen zweiten positiv einnehmenden Karl Sternau aufs Papier zu bannen, - aber genau betrachtet ist dieser Steinbach kein sympathischer Bursche. Er ist vielmehr anmaßend, selbstherrlich, theatralisch, steht in schroffem Gegensatz zu Sternau, zu Königsau, zum Wurzelsepp. Erst als schillernde Dekorationsfigur im Rußland-Teil und Deutschland-Teil wird er erträglich - abgesehen von der aufdringlichen Enthüllung der russischen Generalsuniform (ein Mißgriff in sich) und von dem albernen Versteckspiel noch am Schluß, als er sich so beleidigend ziert, seinen Rang zeitgerecht zu bekennen.

Drei kleine Beispiele von vielen zeigen, wodurch Steinbach als edler Held disqualifiziert wird: Eines Prinzen unwürdig sind die Prügelszene auf Seite 805 (F 2, 604), das barsche Auftreten gegenüber Lord Eaglenest auf Seite 806 (F 2, 606), das auch durch die Sorge um Gökala nicht entschuldigt werden kann, der mit einer brennenden Laterne vorgetragene ekelhafte Angriff gegen Ibrahim Pascha auf Seite 2549/2550 (F 5, 763). Traun: Diese Exempelchen sind wahllos herausgegriffen. In nahezu jeder Szene, die einen Steinbach-Auftritt bringt, entdeckt der Leser eine rüde Note.

Weshalb läßt Karl May diesen Popanz sich in die internen Familienangelegenheiten der Adlerhorsts einmischen!? Die Folge des Auftretens des herrlichen Oskar ist, daß die Adlerhorsts, um die eigentlich ja alles geht, am allerwenigsten tun und gar keine Gelegenheit bekommen, sich wie auch immer wo auch immer wann auch immer als Helden zu entfalten! Sie bleiben blasse Schemen, Papierfiguren; statt sie ihrem sogenannten Verhängnis Trotz bieten zu lassen, drängt der Autor sie in die Rolle von Statisten, die anbetend zu dem ruppigen Oskar aufblicken dürfen. Die Anläufe zu eigenständigem Handeln, die Hermann und Martin unternehmen, geraten doch recht dürftig. Und der eine hängt sich an seinen (als Figur mindestens ebenso mißglückten) englischen Vetter, anstatt, wie es sich gehört hätte, seiner geliebten Zykyma das ungewohnte Leben im fremden Deutschland zu versüßen (sie liebt doch ihn und längst nicht mehr den Ritter vom Kaukasus!); der andere gerät prompt in die Falle des quecksilbrigen Roulin - und darf erst durch Steinbach befreit werden. Der schönste von allen aber, der rassige Georg, von dem der Leser am allerehesten "action" erwartet, taucht nur auf, um als lebend vorgestellt und sofort in ein Versteck geschickt zu werden. Dort schaut er sehnsüchtig nach Westen und wird vom Retter abgeholt. Ein Held? Nitschewo(5).

2. Der einzige deutsche Held, der nun noch aus den alten Blättern


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lugt, der kleine dicke Sam Barth (in Hansotto Hatzig zu Recht autobiographische Spiegelungen erkennt - ungeachtet des andersgearteten Leibesumfanges), verdient das Epitheton "Held" nur sehr bedingt. Er wäre einer, zweifelsohne, wenn er sich nicht zum Erfüllungsgehilfen, Handlanger und Werkzeug des taktlosen und alles andere als hochherzigen Steinbach machen ließe! So aber verliert er, der den Prinzen anhimmelt, seinen wahren Wert.
Steinbachs unwürdiges, auf abstoßende Effekthascherei bedachtes Versteckspiel Sam gegenüber am Silbersee, wo er sich nicht als "Fürst der Bleichgesichter" (welch gräßliche Bezeichnung, verglichen etwa mit "Herr des Felsens"!) zu erkennen gibt, hätte den Helden Sam Barth dazu bringen müssen, dem aufgeblasenen Herrn Steinbach gehörig die Meinung zu sagen und sich - der eigenen Würde eingedenk - davonzutrollen. Statt dessen beginnt er, fortan für Steinbach die Kastanien aus dem Feuer zu holen.
Seine Idolatrie gipfelt in der Anpreisung, erst Steinbach - und wohl nur er - sei ein "wirklicher Mann" (S. 2170; F 5, 492)! Und als er später hin und wieder nach eigenem Kopf handelt, liefert er Steinbach prompt Anlaß, ihn abzukanzeln... : Verbannten in Sibirien Waffen zu verschaffen und sie dem Zugriff der Obrigkeit zu entziehen, ist nun einmal ein strafbares Delikt und kann nicht von einem veritablen General der russischen Kavallerie gedeckt werden!
Am Schluß allerdings tut der Autor dem kleinen Sam noch einen Gefallen: Es ist ausdrücklich nicht Sam Barth, der den grotesk-wahnwitzigen Plan ausheckt, Gauner und Gute in den Brunnen fahren zu lassen. Vor so viel Unverstand mußte Sam Barth nun doch bewahrt werden.


VI.

Da nun schon die Fundamente des Riesenroman-Bauwerks - der Hintergrund der Handlung und die sauberen Helden - verkrüppelte Produkte sind, erscheint es nur folgerichtig, daß es allüberall in den Räumen dieses Schmerzenspalastes nur so knirscht und wimmelt von Unzulänglichkeiten, Flüchtigkeiten, Widersinn.
Die in den anderen Münchmeyer-Romanen - "Waldröschen" (auch hierin) stramm voran - feststellbaren Webfehler, weder karg an Zahl noch (literatur-ästhetisch betrachtet) irrelevant und durchweg auf Fahrlässigkeit zurückzuführen, nehmen sich beinahe treuherzig-dümmlich als bloße "Ungeschicklichkeiten" aus im Vergleich zu den vom Autor achtlos aufeinandergehäuften Diskrepanzen, die beim Lesen von DHH unweigerlich ins Auge springen.
Freunde und Apologeten Karl Mays: verzaget nicht - die oben bei Abschnitt IV., Ziffern 1. und 2. in Aussicht gestellte, wahrscheinlich unvollständige Liste der Unstimmigkeiten, Fehler, Schwächen und Widersprüche im Aufbau und Ablauf der Handlung ist lang...

Seite  
1, 4 Osman wird als "alter Derwisch" vorgestellt. (F 1, 5) Die nachfolgenden Ereignisse - durch vier Kontinente - zeigen ihn keineswegs als alten Mann. - Würde auch ausgerechnet ein alter Mann nach der Befreiung der Sklavinnen den Baum erklettern?? -(S. 218; F 1, 359)
5 Der Derwisch läßt sich von einem Dolmetscher den Namen Eaglenest übersetzen. Für Florin dürfte das nicht erforderlich sein. (F 1, 10) - Osmans Unterredungen mit Ibrahim erhellen das.
208 Zykyma erwähnt Hermanns Bruder "Bogumir", und May setzt das mit "Georg" gleich. (F 1, 344)


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209 Zykyma, für die Deutsch eine Fremdsprache ist, wählt das deutsche Wort "Orgel", als Anhalt für den Namen des fernen Freundes. (F 1, 345-346) Und daß Georg, laut Zykyma, "das schwere Wort" - d.h. den ihm beigelegten Namen - "nie aussprach", ist wohl wenig wahrscheinlich! (Warum wählte er denn nicht einfach einen anderen Namen?)
368, 370 Ibrahim wähnt Steinbach, den er beim Bei von Tunis trifft und in Stambul "vom Wächter des Leoparden hatte beobachten lassen", im Goldenen Horn ertrunken. (F 1, 577, 580) Mit einem Mordanschlag hatte Ibrahim aber gar nichts zu tun! S. 169; F 1, 285)
404 Der Steuermann spricht mit Gökala Deutsch, redet sie aber mit "Mylady" an. (F 2, 20)
464 Hiluja nennt Steinbach "mild, warm, freundlich". (F 2, 114) So beträgt er sich gar nicht!
731, 757 Von Gökala-Semawals erst kurze Zeit zurückliegender Rolle als Gesellschafterin der Prinzessin Emineh kann Nena, der als Sklave "in immer andere Hände" kam, unmöglich wissen. (F 2, 496, 533)
754 Nena beteuert, nie erfahren zu haben, warum Polikeff sich über den von dem Maharadscha angenommenen Namen freute, und wenige Zeilen später erläutert er es. (F 2, 529-530)
965 In Rothes Erzählung wird der mindestens 15 Jahre umfassende zeitliche Abstand zwischen dem "nie geklärten Unglück" der Familie Adlerhorst und Rothes Aufbruch nach Amerika völlig verwischt. (F 3, 233)
981, 833 Auguste ist "nicht ganz 40 Jahre alt"; Sams Romanze mit ihr ist aber schon "30 und etliche Jahre her"! (F 3, 254, 29)
1060 Zu dem englischen "Newton" paßt es sehr schlecht, daß Mr. Newton nur gebrochen Englisch spricht. (Zu Florin - alias Newton - auch.) (F 3, 371)
1152 Statt, was auf der Hand liegt, Arturs sprechende Ähnlichkeit mit Roulin hervorzuheben, betont "Eiserner Mund" die - vermutete, künftige - Ähnlichkeit mit Wilkins! (F 3,511) (Anm.6)
1156, 1279, 1284, 1303 Magda und Almy werden von Zimmermann sowie von Jim und Tim begleitet, befinden sich aber kurz darauf in Begleitung Wilkins', ohne daß dessen Auftauchen oder das Verschwinden Jims und Tims erklärt wird. (F 3, 517; F 4, 153, 160, 171)
1193, 1235 - 1238 Wilkins ist bei Sennorita Emeria bzw. in Prescott, obwohl er doch zur selben Zeit Almy und Magda begleitet. (F 4,43; 100-106)
1364, 1187 Unvermittelt tauchen Jim und Tim ohne Erklärung wieder auf und bringen "Starke Hand" mit, dessen Anwesenheit bei Sennorita Emeria dazu aber nicht paßt! (F 4, 34, 257)
1565 Nur von Wilkins und Almy (als Befreiten) ist die Rede, nicht auch von Magda und Zimmermann (die doch wohl auch angekommen sind!) (F 4, 522/523) Und zu einem Zusammentreffen Magdas mit Langendorff, dem der Leser entgegenlauert, kommt es schon gar nicht.
1572 Steinbach denkt an Gökala: aber warum ist er eigentlich nicht mehr ihrer Spur gefolgt, sondern nach Amerika abgeschwenkt? (F 4, 559)


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1588, 1659 Da Florin dem Kosaken (=Georg von Adlerhorst) seinen Paß zeigt, müßte Georg später den Gesuchten nicht nur beschreiben, sondern müßte auch den Namen Lomonow nennen können. (F 5, 12, 94)
1621, 1656, 1662, 1657, 1727, 1728 Sam, der Hermann von Adlerhorst kennt, müßte über die Ähnlichkeit des Verbannten "Nr. 10" mit Hermann stutzen. Für den Leser läge das auf der Hand: Zykyma, die Georg 5 Jahre vorher kannte, hatte die Ähnlichkeit besonders betont. (F 5, 52, 90, 96, 149)
1698 Jacken haben keine Schwielen. (F 5, 117)
1712 Ein so geriebener Schurke wie Polikeff hätte einen derart verderblichen Wortlaut im Schriftstück nie zugelassen. (F 5, 139) (Anmerkung 7)
1727 Aus dem "Bogumir" von Seite 208 (F 1, 346) ist jetzt "Jurji" geworden (was allerdings wirklich dem Georg ähnlich sieht). (F 5, 149)
1727 Warum hat Polikeff den Adlerhorsts "Tod und Rache geschworen"? (F 5, 149)
1727, 1728, 1662 Die Ähnlichkeit der Adlerhorsts untereinander wird erneut betont. Aber kurz vorher hat Georg geäußert, er habe sich sehr verändert und sei deshalb von Florin nicht erkannt worden. Was stimmt denn nun? (F 5, 149, 96)
2241 - 2248 Des Maharadschas Betragen paßt nicht zu seinem Wissen, das er aus seinem Gespräch mit Polikeff wie auch durch sein zweimaliges Lauschen (S. 2102-2124) erworben hat: es muß ihm klar sein, daß Steinbach vor ihm steht. (F 5, 441-458; F 5, 553-560)
2242, 1584 Der Maharadscha ist von jetzt an plötzlich ein Greis, zählte aber wenige Tage vorher in Platowa nur "wohl 50 Jahre" (was zutreffen dürfte). (F 5, 553; 9)
2264 Nicht "vorhin" hatte Polikeff mit dem Maharadscha gesprochen, sondern am Tag vorher. (F 5, 573)
2320, 2366 Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Sendewitsch innerhalb derselben Frist, die Steinbach und Georg für die (legale) Reise von Sibirien bis Königsberg benötigten, nicht nur (illegal) in die Türkei gelangt, sondern auch bereits militärischer Bevollmächtigter des Großherrn geworden und in geheimer Mission in Deutschland eingetroffen ist. (F 5, 615, 616, 648)
2340ff. Das Handlungsgeschehen wird unnötig kompliziert und dabei immer wirklichkeitsfremder. Der Schließer, der Geheimpolizist Weber, dessen Schwester Lina, die Zimmerwirtin Frau Berthold, die Meierhofwirtin und der Kastellan - lauter dem Familiendrama fernstehende Personen - werden (ohne innere Notwendigkeit) in die Handlung einbezogen, Hals über Kopf in einen verwickelten Sachverhalt eingewiesen ... und bewähren sich sofort ohne Proben als glänzende Schauspieler!! Hier endet alle Glaubwürdigkeit. (F 5, ab 632)
2354 Im Gegensatz zu seiner vormaligen - vernünftigen - Einstellung, "seine Person im Dunkel (zu) halten" (S. 2328; F 5, 624), sucht der Agent Schubert nun doch Paul Normann auf. (Fehlt in F 5)
2369, 2383 Ibrahim duzt Schubert! (Fehlt in F 5)


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2387 Hermann war gar nicht in Amerika!! (Fehlt in F 5)
2389 Warum wurde denn das Auffinden Annas von Adlerhorst, Magdas und Martins vor Tschita und Normann verborgen gehalten??? (F 5, 660)
2389 "Sie kannten einander natürlich gar nicht mehr" ist sehr glaubhaft nach "beinahe zwei Jahrzehnten" der Trennung (S. 2310), aber bei den rührenden Wiederfindensszenen im Todesthale war keine Rede von dieser banalen Wahrheit! (Die beiden Stellen fehlen in F 5)
2411 Nicht Ibrahim kennt die beiden "Getreidehändler" von Ansehen, sondern Schubert. (Fehlt in F 5)
2412, 2413 Wenn Steinbach schon selbstherrlich ohne Gerichtsbeschluß den Derwisch, sprich Florin, quer durch Asien und Europa als Gefangenen transportieren läßt und wenn Sam Barth das gutheißt, warum dann eine so riskante und komplizierte Inszenierung mit Befreiung Florins, Gefangensetzung Tschitas und Zykymas usw., nur um Ibrahim in die Hand zu bekommen?? Warum läßt Sam nicht einfach Ibrahim im Gewölbe festsetzen und präsentiert ihn Freund Steinbach?
2407 - 2409, 2442 - 2446, 2448 - 2450, 2451 - 2455 Ratlosigkeit über die eigene Erfindungsgabe - oder Bruch in der Gedankenwelt - zeigt der Autor darin, daß er den in allen Einzelheiten präsentierten Plan, Florin alias Osman im Meierhof unterzubringen und ihm dort eine Falle zu stellen, jählings aus (handlungstechnisch gesehen) nichtigen Gründen aufgibt und das Gewicht der Handlungsführung von Sam Barth auf die schöne Lina verlegt. (F 5, 672-673, 685-687, 690, 691-695)
2468 - 2469 Die Szene Lord Eaglenest/Ibrahim im Pavillon ist albern und würdelos und ohne Belang für die Handlung.(F 5, 704-706)
2525 Zykyma ist (anders als Tschita) nach den früheren Schilderungen keineswegs ein "zartes Geschöpf", sondern eine resolute Frau. (F 5, 738)
2521ff., 2531, 2532, 2541, 2543 Daß Tschita und Zykyma sich dem Wagnis der Gefangenschaft aussetzen, ist wirklichkeitsfremd: sie müssen damit rechnen, daß Ibrahim und Osman sich an ihnen vergreifen und ihnen ein Leid antun, ehe Rettung kommen kann. Ihnen dies zuzumuten, stempelt die "Helden" zu niederträchtigen Gesellen. - Wenn sich die Frauen aber schon dem Risiko aussetzen, so müssen sie wenigstens um der Täuschung der Verbrecher willen jammern und zetern, also schauspielern, statt stolz aufzutreten und die Schurken vorzeitig mißtrauisch zu machen. (F 5, 736ff., 745-746, 753-756)
2525 ff. Das ungewöhnlich gewählte Deutsch des Derwischs ist unglaubwürdig. Als Kammerdiener mag Florin fließend Deutsch gesprochen haben (so wie Englisch), aber seit Jahren fehlt ihm doch die Übung, um diese Sprache so geläufig - und poesiereich! - zu beherrschen. (F 5, 740 ff.)
2534, 2335, 2401, 2596 Lina zerstreut Schuberts Verdacht, Steinbach sei Prinz Oskar. Schubert aber weiß es doch besser! Und auch Ibrahim und Florin wissen es. (F 5, 669, 629, 748, 789)
2558 Linas unbedachte Bemerkung über gute und böse Menschen und über zwei Bösewichter müßte dem Pascha die Augen öffnen. (F 5, 768)


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2563, 2537 Warum erschießt Schubert den Pascha nicht durch die Klappe? Er hat kurz vorher noch mit seinem Revolver geprahlt. (F 5, 771, 750)
2596 Entgegen Sams Behauptung trug Zimmermann in Amerika keinen Vollbart, sondern nur einen Schnurrbart. (S. 1102;F 3,435) (Fehlt in F 5)
2605 Zimmermann behauptet von sich, nur Kaufmann und bürgerlich zu sein, hat aber früher seinen Adel "von Zimmermann" betont. (S. 1104; F 3, 439) (Fehlt in F 5)
2608 Steinbachs Vortäuschen, nicht Prinz Oskar zu sein und verreisen zu müssen, ist kränkend für die übrigen Akteure. (F 5, 796) - Übrigens hat Sam Barth in zwei Lauschszenen Steinbachs Identität bereits erfahren! (S. 2335, 2401; F 5, 629, 669) Er kann also nicht mehr staunen. (S. 2609; F 5, 798)
2595 " ... nun geht das Hauptgeheimnis mit ihnen hinüber." Eben. Und der zur Aufklärung der von ihm selbst verbreiteten Rätsel nicht fähige oder nicht willige Autor spart sich die Arbeit. (F 5, 789)


VII.

Dafür macht er sich an anderen Stellen, wo es - anscheinend - gar nicht nötig ist, umso mehr Arbeit. Immer neue Handlungsstränge kommen hinzu, ohne daß der Roman sie unbedingt braucht, die vielmehr von den Adlerhorsts ab- anstatt auf sie zulenken. Aber Karl May braucht sie. Er schreibt ja nur lauter Bekenntnisse seines Ich hin ... Man muß gar nicht suchen.

Da ist das seltsame Intermezzo um die gelehrte Sennorita Emeria, worin allerlei Handlungsmomente angeblendet werden, die zu nichts führen - und die eine böse Anklage sind. Darüber möchte ich später noch einiges sagen, ebenso wie über die liebliche Mina und ihr Spiel...

Da ist die aufgebauschte Geschichte von Karparlas Abstammung(8). Dieser Engel der Verbannten muß ja unbedingt deutschstämmig sein, ja, ja, und muß Verwandte im Roman-Trumm haben. Der also auf Seite 1904 (F 5, 282) unerwartet ins Spiel kommende Bruder Sam Barths (interessanterweise heißt er Karl) dürfte sein Dasein wohl einem nachträglichen Einfall des Autors verdanken. Bei wohlüberlegtem Plan hätte der Autor sonst diesen Bruder erwähnt, als Sam seinen Lebenslauf schildert (S. 833-836; F 3, 29-34). Bei Sams Abreise nach Amerika vor über 30 Jahren (S. 833; F 3, 29) war kein Mensch da, der ihn daheim festhielt (S. 836; F 3, 34). Warum erfährt der Leser erst in Sibirien, daß Bruder Karl damals schon fort war? Ein bedauernswerter Karl, der sicherlich nichts - oder wenig genug - getan hatte, um den ihm angetanen Schimpf der Verbannung zu rechtfertigen... Ein Spiegel-Vexierbild wie so viele Gestalten Karl Mays: Karl Barth, Opfer gerechtigkeitsfremden Machtdünkels, Karl May, verbannt in die Schlünde der Gewissensnot (nach unfroh begangenen Delikten) und der Abgeschiedenheit von Osterstein und Waldheim...

Aber das zwingende Verlangen nach Rechtfertigung, im Widerstreit mit dem masochistischen Drang des Selbstmitleids, hat vorher auch schon einen anderen mehrfarbigen Faden aus dem Knäuel unter dem Tisch in das fast unüberschaubar werdende Strickmuster geschlungen: Da ist das harmoniefremde Zwiegespann Zimmermann-Langendorff. Karl May stellt einen bis ins Detail beschriebenen, begründeten Bewerber um Magdas Hand, Karl (ei, ei, ei, Karl) von Zimmermann in die


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Handlung hinein -- und schiebt später, weil Zimmermann ihm offenkundig aus dem Gedächtnis hinausgefallen ist (wie Jim und Tim), den feurigen Langendorff für Magda in die Gaststube. Als er sich des in die Ecke gedrängten Zimmermann wieder erinnert, ist ihm das sichtlich peinlich. Autor, Langendorff und Zimmermann kauen verlegen auf der Situation herum und lassen sich schnell etwas einfallen. Infolge dieser trüben Einblendung kommt es dann zu einer wehmütigen Szene Magda-Zimmermann (S. 1308-1313; F 4, 178-185), die für den mißmutigen Leser nur den Schluß zuläßt: Langendorff ist der Gewinner!
Welche Parallele: Spiegelt sich da nicht der so häufig zu kurzgekommene Karl May, der - wie Karl Goldschmidt in der Urfassung von "Szepter und Hammer" - unverdient zurückgesetzt wird, weil ein anderer nach der heilsbringenden Frau langen darf ("Langendorff")?
Ein anderer - der sie dann aber natürlich nicht bekommt, der Wehmut-Szene zum Trotz! Im Endeffekt verdrängt Karl May den aggressiven Rittmeister, läßt ihn stillschweigend im Todesthale zurück (auf S. 1560 - F 4, 514 - wird Langendorff letztmals, recht beiläufig, erwähnt), pfeift Karl von Zimmermann an Magdas Seite und tut kund, daß sie ihn liebt. (Habe ich sehr unrecht mit meiner Behauptung, Staberow - der ja eigenmächtig diesen Ausgang geändert hat - habe May verfälscht?)

Da ist die dornige Romanze Sam-Auguste -- ein weiterer nur zu gern parat gehaltener Spiegel. Ist das nicht Karl Mays unerfüllt gebliebene erste Liebe - samt der nicht sterbenwollenden Sehnsucht nach dem happy end?

Und da ist Miranda, aus der ein weiteres typisches Stückchen Seele gespiegelt hervorlugt...: Das Mitleid des ewig Weichherzigen - das Unvermögen, gegenüber einer schönen Frau (mag sie noch so verworfen sein) angebrachte Härte zu zeigen -, führt den Autor zu wahrhaft schizophrener Schilderung der Dame Miranda und gar zur Geschmacklosigkeit. Drei der zahlreichen Belegstellen genügen: Auf S. 1218 (F 4, 79) gefällt ihr Roulin's Sadismus, der selbst den Schurken Walker abschreckt; auf S. 1299 (F 4, 167) nennt der Autor sie einen Dämon bzw. eine Heuchlerin, weil sie Balzer täuscht; und schließlich auf S. 1403-1406 (F 4, 315-316) läßt er sie Steinbach etwas vorweinen und diesen großmütig Allvater Verzeiher spielen. Da zeigt sich die Brüchigkeit der Seele unverhüllt.

Das eigene Unbehagen (an dieser unzensurierten DämmerzustandsEntwicklung) legt der Autor dann beziehungsecht dem erfolggierigen Langendorff in den Mund, der Steinbach Mirandas wegen scharf (oho) zur Rede stellt. Und wie zieht der Verfasser sich aus der Schlinge? Erbärmlich. Indem er nämlich das Großmaul Steinbach sagen läßt: "Langendorff, halt die Luft an. Dein Wohl hängt von mir ab. Ich sage nur: Magda." Und der Autor duckt sich vor sich selber und Langendorff sich vor Steinbach --
-- und Karl May, dem unaufhörlich tiefste Depression lauter Bekenntnisse und Konfliktbilder in die Feder zwingt, triumphiert .in einem Winkel seines wunden Geistes über Heinrich Gotthold Münchmeyer...

Aber halt, nicht so schnell: "Dat krije mr später." (Heinrich Spoerl.)


VIII.

Von Ort zu Ort läuft die Handlung, immer in Bewegung, zum Bersten voll von Ereignissen und Wendungen, und manchmal eignet ihr die echte Faszination einer Karl-May-Geschichte ungeschmälert; aber sie bezieht ihren Schwung aus den Episoden-Figuren, den Rander-


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scheinungen, so sehr auch sie nur schablonenhaft geraten. Für den aristokratischen Haupthelden und den jedes Adels baren Hauptschurken kann der Leser sich nicht erwärmen.
Der überdimensionale Prahler Steinbach hat es leicht, sich zu behaupten und durchzusetzen, wenngleich er eine mit theatralischem Flitter behaftete unechte Gestalt abgibt: May hat ihm keinen "gleichwertig" überdimensionalen Schuft gegenübergestellt. Ibrahim Pascha ist und bleibt von Anfang bis Ende eine traurig-lächerliche Erscheinung, und der Versuch, den Erz-Widerling Florin in seinem Agieren durchgreifend interessant und als Persönlichkeit - naturgemäß eine bösartige und negative - hinzustellen, bleibt in platter Banalität stecken, und der "Proletarier" Florin bleibt als faßbare Größe schemenhaft.
Nicht genug damit, daß seine eigentliche Lumperei, die Wurzel des Übels der Familie Adlerhorst (S. 1657; F 5, 91), nie ans Tageslicht kommt, so sind der grimme Derwisch Osman, der windige Bill Newton und der hochnäsige Peter Lomonow bei richtigem Hinsehen drei voneinander ganz verschiedene Personen; in keiner der drei findet man die beiden anderen. In dem - begreiflichen - Bemühen, den Schurken des Stückes gleichsam schicksalhaft in die Nähe jedes einzelnen Adlerhorst zu rücken - an vielen weit voneinander liegenden Schauplätzen, wohin sie als Folgeerscheinung von Florins ursprünglicher Schuld verschlagen worden sind -, läßt der Autor einfach ohne Erklärung aus Florin einen Derwisch, aus diesem den bereitwillig hin- und herreitenden Gefolgsmann des frechen Walker und aus dem fix die Leiter im Felsenschacht emporgeklommenen Bill Newton den nun aber auch gar nicht überzeugenden und sodann in unpassende Passivität gedrängten Pelzkaufmann werden. Seine Lumpengesinnung wird zwar einige Male sichtbar - aber dieser Schuft lebt nicht; er ist nicht hassenswert.
Wie anders, wie blutvoll, wie großartig widerlich waren Cortejo, Landola, Richemonte, August Seidelmann und Franz von Helfenstein! (Und wie lebensecht sind später die gerissenen Widersacher des Wurzelsepp... ) Walker, Roulin und Polikeff stehlen Monsieur Florin allemal die Schau. Roulin zumal und seine Helfer Juanito und Arabella sind plastisch und lebendig. Und gerade sie läßt der Autor im Stich -: Er wendet dem Gauner-Quintett aus dem Todestal - Leflor gehört ja auch dazu - kühl den Rücken zu und kehrt sich nicht dran, daß der Leser im unklaren bleibt über das Schicksal der Angeketteten. Dies Moment ist ebenso frappierend wie Mays Ausweichen vor einer Erklärung des Adlerhorst-Unheils(9).


IX.

1. Der in Kontrapunkt und Kompositionslehre so bewanderte Karl May versagt nicht aus Mangel an schriftstellerischer Begabung, sondern aus Mangel an Durchsetzungsvermögen gegenüber dem Strudel in seinem Inneren:
Er weiß nicht, wohin er gehört, er ist verängstigt, verstört, verunsichert. Die große Welt draußen scheint und die eigene kleine Welt ist in den Grundfesten ins Wanken geraten, und der Mensch Karl May, der zwischen den Höhen geistigen Adels und den Tiefen sozialen Elends seinen Platz sucht, sieht sich durch Schlünde von beiden getrennt und fühlt all das, woran er Halt finden und sich aufrichten wollte, entgleiten. Er wird hin- und hergezerrt von der Furcht und von der Entmutigung und bebt zurück von allem, was von der Vergangenheit her noch nach Bewältigung, nach Erlösung schreit. Und dabei tut er nichts anderes als immer wieder und immer neu, bruchstückhaft, Spiegelscherben des eigenen Ich aufs Papier zu kleben. Hin und wieder ertappt er sich wohl dabei, kann aber nichts ungeschehen machen. Dann greift neue Mutlosigkeit nach ihm; er ist von sich selbst enttäuscht und fühlt sich um sein Wollen - nämlich


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ein schreckliches Unrecht durch heldenhaftes Tun zu überwinden und um sein leuchtendes Ziel betrogen.
Sein Geist kann nur noch seichten, ausgetretenen Pfaden folgen, denn wenn er ihn, als Instrument der Seele, zwingen will, umfassend heldisch oder - in verbitterter Abwehr - umfassend schurkisch zu sein, spalten sich die Bilder und Zerreibung zwischen ihnen droht.
Und so ist die gespaltene Einstellung des Autors zur äußeren und zur häuslichen Welt, die gebrochene Perspektive in der Wahrnehmung hochherziger Retter und wohlfeiler Tunichtgute, die ständig und hohnvoll in die Niederschrift der Leiden der "Deutschen Herzen" einfließt, das hintergründig bewirkende Moment all der vielen Unzulänglichkeiten in der Story.

Wie ist es dazu gekommen? Eine Rückschau und sondierende Umschau mag Antwort geben.

2. Karl Mays Verhältnis zum deutschen Adel - der herrschenden Klasse im wilhelminischen Deutschland - und zum "niederen Volk" war, wie seine Schriften belegen, über lange Jahre hinweg durchaus mehrschichtig(10). Schon im Frühwerk "Szepter und Hammer" gibt es sowohl ein paar widerwärtige blaublütige Schufte als auch heldisch-positive Aristokraten, und ebensolche Bösen wie Guten gibt es dort im bürgerlich-völkischen Lager. Besonders hübsch: Der vorgebliche Schmiedesohn und wirkliche Prinz Max - wie könnte er auch anders heißen! - zeigt hohen Adel in jedem Zoll und in der Gesinnung, auch während er sich für "bürgerlich" halten muß; es steckt eben in ihm. Und sein Freund Artur, der vorgebliche Graf und wirkliche Schmiedesohn, handelt ebenfalls nur adlig-nobel: in dem steckt's eben auch. (Beiden, nur leicht abgewandelt und in fescherem Kostüm, begegnet der Leser wieder in den bald darauf ins Romanleben gerufenen Prachtgestalten Sternau und Mariano in "Waldröschen".) Aber zugleich macht May in jenem Hammer-Roman Stimmung für das Volk, das sich gegen Übergriffe des Adels zur Wehr setzen will und sich dieserhalb um den Schriftsteller (!) Karl (!!) Goldschmidt schart ... (Das ist derselbe Karl, der aus dem Eisen des Fleißes das Gold des Glückes zu schmieden hofft und der von dem flatterhaft-flittergierigen Mädchen Emma Vollmer -!- so bitter enttäuscht wird.) Und einen Aufruhrwilligen, der allerdings nicht zu Goldschmidts Mannen zählt, läßt May gar sagen: "Die Socialdemokratie erhebt ihr Haupt und heult um Rache und Hilfe überall; am kleinsten Ort tagen...die Versammlungen, in denen der Kreuzzug gegen die Aristokratie gepredigt wird. Ich höre schon den mutigen Schritt der Arbeiterbataillone, welcher alles Widerstrebende zertreten und zermalmen wird." Das sind starke Töne. Vielleicht hat er die Worte von jemand anders entlehnt - aber soll nicht eigenes Wunschdenken doch darin mitschwingen?(11)

3. Der aus Not und Elend hervorgegangene, der Labilität Erlegene, viel zu hart Bestrafte, der seinen Platz und den Halt nach Oben und nach Unten finden will, der rechtsbewußt genug ist, um die Ordnung - auch die klassengefügte - zu bejahen, und zugleich gerechtigkeitsbewußt genug ist, um die Prinzipien dieser Ordnung anzuzweifeln, dieser tastende, drängende Sohn des Volkes gerät ins Grübeln und schafft seinen Gedanken Ausdruck auf dem Papier-: Aber nun nicht in den Werken, die er freiwillig, aus eigenem Antrieb verfaßt und freudig mit seinem Namen deckt, den straff geführten, geradlinigen, ballastfreien, mit der kühnen Heiterkeit des unbeirrten Träumers makellos komponierten, rhapsodischen Abenteuerschilderungen des Kara Ben Nemsi... : Nein - ob er den Helden mit der Obrigkeit, der Scheinautorität, der Armut, der Gewalt, der Bosheit konfrontiert - das Gemüt des Autors ist unbe-


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lastet, leuchtet spitzbübisch-gütig durch tausende Seiten(12). Und merkwürdig: Auch in dem von vornherein durch den Namen Karl May gedeckten soldatisch-redlichen Epos "Die Liebe des Ulanen", das seine Entstehung dem Handschlag-Kontrakt, der Bindung, nicht allein dem freien Willen verdankt, gibt es keine schiefen Ebenen in der Blickrichtung, keine schrägen Zweifel an Sauberkeit und Billigkeit, keine quarrenden Töne, die die Ordnungssymphonie verzerren... : Durch diesen bezeichnenderweise kürzesten der fünf Münchmeyer-Romane weht die Disziplin, der Ausdruck gebändigter, sonntäglicher Seelenkraft.
Aber die drei nach allen Seiten auswuchernden, von Gestalten, Ereignissen, Grauen und Grausamkeiten überquellenden, jeweils groß und fabelhaft angelegten und dann nur ungenügend bewältigten Laokoon-Gebilde "Waldröschen", "Der verlorene Sohn", "Deutsche Herzen, deutsche Helden" -- diese dem selbst ringenden, gegen alle Hoffnung mit dem Ringen noch nicht fertigen Karl May abgerungenen Wildwasser-Kaskaden werden zum Tummelplatz der Spaltung des Inneren. Nur pseudonym dürfen sie erscheinen: Der Gurt, den der eigene, schon angesehene Name bildet, ist fort; die Ängste und Zweifel, die Angriffe und die Nöte können sich austoben; und Platz genug dazu ist ja auch gewährleistet.
Gewiß, er weiß es nicht, zumeist wohl nicht, welche Einblicke er in seine ichbefangene Seele nimmt und wie sie auf dem Papier gespiegelt fratzenhaft Gestalt annehmen... aber er spürt, daß etwas, vieles, Unvorstellbares in ihm wogt und wallt und tobt und heraus will... und das arme gepeinigte Ich jagt sich fort von Seite zu Seite, die sich mit Unglaublichkeiten füllen, und sucht und sucht die Antwort auf die Frage nach der eigenen schwankenden Position, der des proletarischen Bürgers und bürgerlichen Proletariers, inmitten der starren, kompromißlosen und dabei doch in ihren Scheinwerten ins Trudeln geratenen Welt... und sucht nach dem unverbrüchlichen Fels, der eine bleibende Ordnung garantiert. Und der Schutz bietet -: Schutz dem Vorbestraften, der nicht zurück will in die Armut, der nichts so sehr benötigt wie Freiheit nach allen Seiten und ehrlich erworbene finanzielle Sicherheit -- und der sich stattdessen in selbstauferlegter Knechtschaft findet. Der Knechtschaft einer Ehe und der des Kolportageschreibers.

Ihn schüttelt die Sehnsucht nach Güte und nach Schönheit. Und dumpfe wie schrille Töne halten Einzug im Werk.

4. Oh - die Adelsvertreter in "Waldröschen" strahlen hell und klar, sogar der "Wüstling" Olsunna ist nicht als verworfen gezeichnet und erscheint als geläuterter Mensch; und die "negativen" Adligen, Vorgesetzte und "Kameraden" des kaltschnäuzig-bürgerlich präsentierten Kurt Helmers, sind vor allem Staffage, um Kurt etwas "knalliger" herauszustellen. Aber durch das ganze Buch zittert das Fieber: 'Muß es denn Klassen geben, Privilegien, Herren und Knechte? Nur zu, Cortejo: Betrüge Deinen Grafen ruhig noch ein bißchen; insgeheim sympathisiere ich nicht wenig mit Dir... Wer so blöd ist, Dich nicht sogleich zu durchschauen, verdient nichts Besseres als Dein Graf... -- Präsident willst Du werden, Cortejo? Ja, sicher! Warum immer nur andere? Misch mit im Krieg! Krieg? Krieg! Der wird alles hinwegfegen; aus ihm wird der vordem Verachtete - und wenns ein Indianer wär! - die Welt des wahren Menschentums bauen... Gebündelte Naturkraft aus dem Volk gegen die morbide Zivilisation der beutelüsternen dünnen Schicht der Begüterten... -- Los, Geierschnabel, Repräsentant der Freiheit, bläue den vernagelten Hirnen in Europa ein, daß ihnen der Boden unter den Füßen entzogen wird, wenn einer sich unverblümt über alle Schranken und Konventionen hinwegsetzt...'

Und diese von den Lesern und der Kritik immer Wieder vielgerühmte,


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"humorvolle", von einem Geistlichen (kaum getraue ich mich, es zu sagen: Pfarrer Joseph Höck, KMG-Mitglied) gar gepriesene "Reiseonkel"-Figur (Karl-May-Jahrbuch 1927) erweist sich als das verkorkste Instrument eines bitter-gehässigen Ausfalls des Autors gegen die erstrebten menschlich-christlichen Werte und gegen die verteidigte, sauber geordnete, der Idylle zugekehrte Welt: Der brutale Proletarier Geierschnabel, in Frack und Zylinder posierend als Farce eines Aristokraten (jawohl!), stößt mit Vorbedacht die Revolverläufe in Pablo Cortejo's Augen. Das ist nichts weiter als ein niederträchtiges Verbrechen, eine Manifestation des Sadismus, eine Unmenschlichkeit, die auch gegen den Usurpator und Schurken Cortejo der Berechtigung entbehrt. Damit ist Geierschnabel als "Heldenfigur" nicht mehr tragbar (- und Kara Ben Nemsi als Karl May ließe ihn auch sofort fallen! -), aber der von der Welle des Zweifels und von der Lust an "harten Lösungen" davongetragene "Waldröschen"-Betonmixer tut ein übriges:
Er schickt Geierschnabel nach Rheinswalden, und dort - posierend in der Gewandung eines Vagabunden (also wieder maskiert) - schockiert dieses Ekel den armen Viehdoktor und führt sich dann auch noch unter dem Namen Landola bei den Bewohnern von Rheinswalden ein. Die "Lach"-Szene, die wirklich nur im kindlich-naivsten Gemüt eine Reaktion des Vergnügens hervorrufen kann, ist gallig-böses Verschütten unverhüllter Grausamkeit des Autors gegen Tier und Mensch: Er betont, daß Frau Helmers vergebens auf den Tierarzt wartet, der die kranke Kuh behandeln soll, und er stürzt die Menschen, denen er "Landola" ankündigt, in unverdientes Entsetzen. Da klafft der Abgrund in des Autors Seele offen.

Der betont rüpelhaft auftretende "Mann aus der Wildnis", dem die hämische Lust am unnötigen Schockieren anderer die Hände und die Zunge führt, ist das Spiegelbild des dunklen Teil-Ich jenes Karl May, der einmal einmal einmal Rache nehmen möchte... der sich später freilich fängt, aber auch nach langer Zeit noch einmal die Auflehnung, das ganz leise Knirschen vernehmen läßt: "Ich, der Proletarier" - in "Die Jagd auf den Millionendieb" (in der Buchform: "Satan und Ischariot III"), dort wohl eher ironisierend gemeint, aber an der Basis mit finsterem Unterton. (Siehe hierzu die Betrachtungen von H. Schenk in Nr. 19 der Mittl. KMG.)

Nein, der Geierschnabel ist so lustig und humorig nicht. Er ist Karl Mays Mittel, die vom Autor selbst geschaffene und so erstrebenswert erscheinende Welt samt dem Gebot der Nächstenliebe und der Verzeihung zu verhöhnen - aber das hat May nicht bemerkt. Der proletarische "Held", der ja nur fröhlich-unbekümmert etwas frischen Präriewind in die wilhelminische Feudal-Atmosphäre hineinpusten soll, ist das perfekt mißlungene Gegenstück zum meisterhaft mißlungenen prinzlichen "Helden" Oskar Steinbach(13)
.
5. Ist also, zur Zeit des Entstehens von "Waldröschen", der Adel und der im Bewußtsein gepflegte Glaube an ihn Karl Mays Anker? Die bisher brillantesten Beobachtungen hierzu verdanken wir Volker Klotz in "Ausverkauf der Abenteuer" (enthalten in "Probleme des Erzählens in der Weltliteratur", Hrsg. Fritz Martini, Stuttgart 1971; dieserhalb soll ihm auch schmunzelnd vergeben werden, daß er in "Durch die Wüste und so weiter" - in "Akzente", 9/1962 irrtümlich das schaurige Ende Florins in Band 63 der Ges. Werke dem Einfallsreichtum Karl Mays zuschrieb: jener Lorbeer gebührt Franz Kandolf) -- und ich hüte mich, es Volker Klotz' Brillanz gleichtun zu wollen; ich möchte nur versuchen, einigen Fäden May'scher Empfindens-Strickerei nachzuspüren. Allein über die aberwitzig-unsinnigen Schlußszenen des "Waldröschen"-Romans - Mummenschanz (!) und "Entlarvung" - ließe sich ein Diskurs halten: Maskerade als Übergangslösung... Immer - und immer wieder -


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"Scham und Maske"! (K.H. Strobl, Karl-May-Jahrbuch 1921, und Ges. Werke Band 34, "Ich", ab 27. Aufl., 1958) Doch zeitweise verbirgt sich die Scham, und die Maske tarnt sich vorzüglich:

6. Als neben dem "Waldröschen" die erstaunlichen Werk-Teile "Die Todeskaravane" und "In Damaskus und Baalbek" geboren werden, als das Licht des Lebens und der Arbeit heller und heller zu werden scheint, geht alles flott von der Hand, und dem Kaiser wird gegeben, was des Kaisers ist. Bieder setzt sich das fort in der verschlungenen Ballade um drei Generationen derer von Königsau: Die Helden sind echter guter kerniger deutscher Adel, ohne Tadel, und der Schurke des Stückes ein Bürgerlicher, der so gern adlig wäre. Die "Sucht nach hierarchischen Strukturen" (V. Klotz) hält das Schriftsteller-Ich besetzt.
Diese Zeit sieht auch "Im 'wilden Westen' Nordamerikas" entstehen, und der Blick in die Welt ist ungetrübt, wenn auch Winnetou sein irdisches Leben aushaucht.
Aber als dann abermals "Im Auftrag des Freundes" (Kapitelüberschrift in Band 65 der Ges. Werke, Teil des dritten Münchmeyer-Romans "Der verlorene Sohn") ein gigantischer Lieferungsroman ins Leben zu rufen ist und nicht die lockende Ferne, sondern die drohende Heimat die Pranke nach dem Autor ausstreckt, schwingt das Pendel zur anderen Seite:

7. Karl May greift mitten hinein in die Wirklichkeit und schreibt - im Auftrag des guten Freundes und Wohltäters Münchmeyer - mit "Die Sklaven des Elends" und "Die Sklaven der Arbeit" die engagiertesten, bewegendsten, sozial gewagtesten Szenen seiner bisherigen Laufbahn: 'Nur weil Du arm bist, bist Du Freiwild!' Er erschüttert den Leser, er macht ihn atemlos, er identifiziert sich mit den Geduckten, den Mißbrauchten, denen nichts zugestanden wird als das Recht zum Hungern. Jählings ist dieser Ausschnitt aus dem Kaleidoskop des Lebens allumfassend und beherrschend, und folgerichtig sind Stil und Sprache echt und natürlich und mitreißend. ... und ebenso folgerichtig ist der Erzschurke des als Monumentalbau begonnenen und später aus "Kapitalmangel" mit Material minderer Qualität notdürftig beendeten Werkes ein Adliger und sind die im Adelsmilieu spielenden Szenen fürchterlich in ihrer gestelzten Sprache...
Aber dem Agieren des Schuftes haftet nichts Gestelztes an: Eine der lebenswahrsten Gestalten Karl Mays ist dieser Lump aus aristokratischem Hause - und er hat keinen adligen Widerpart. Ein entronnener Verurteilter, ein Försterssohn, muß - unter der Maske geborgten Adels und nur dank dieser Maske siegreich - das Unrecht ausrotten und im besten Sinne sozial wirken; und auch er muß letztlich jede der täuschenden Larven fallenlassen -- und muß es darüber hinaus sogar hinnehmen, daß ein anderer als er dem Bösewicht gnadenlos den Garaus macht...:
Ebenso wie er selbst, der "Fürst des Elends", der zwischen den Feldern und Fronten Verlorene, ist der grimme Rächer ein Mann aus völkischem Acker, einer, der trotz aller Herkuleskraft das Gold im Acker des Handwerks vergebens zu entdecken hofft, ein Schmied, der sein Glück nicht zu schmieden vermag, ein ewig Frustrierter, der im Widerstreit zwischen erschmuggeltem Wohlstand - mit Bindung an den ewigen, lockenden Versucher - und zwanghaft angestautem Drang nach Befreiung die Gewissenslast der Ermordung des bösen "Wohltäters" und des Selbstmordes - und damit doppelte Erschwernis der eigenen Rechtfertigung und Bußbereitschaft vor dem Richterstuhl der göttlichen Allmacht - auf sich nimmt... ein Gequälter, der es einfach nicht mehr erträgt, in irgendeiner Form an etwas Weltliches gefesselt zu sein, und sich lieber den unbekannten überirdischen Gewalten überläßt Spiegelbild eines müde in sich versinkenden Karl May, der sich


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entladen möchte und es nicht vermag, der dem einstigen "Retter" flucht und ihm - welcher seinerzeit in sehr eigennütziger Absicht dem Gestrauchelten die Hand bot - am liebsten den Schädel einschlüge und der nichts in Händen hält, um es zu tun ... der sich eine Hünengestalt wünscht und sie nie haben wird und dem der Weg zum Heil nach Oben, zur Welt wahren Adels, wie nach Unten, zur Welt gesundblütigen Volks"stürmens", unerreichbar zu sein scheint.

May'sche Erkenntnis und May'scher Schock, daß jedes Weltbild, das er sich zimmert, mit Leichtigkeit ins Wanken zu bringen, jedes Ordnungsbild, das er sich vorhält, störanfällig ist. Er schleppt den "Verlorenen Sohn" noch bis zum König, vergewissert sich, daß wenigstens der edel ist, -- und flüchtet zitternd vor der Wirklichkeit in die heile Welt, die ihm Kara Ben Nemsi schenkt... : "Der letzte Ritt" reißt ihn hinaus in die Freiheit, wo er atmen und leben und die gespaltene Seele wieder festhalten kann... Weiß er, daß es für geraume Zeit der letzte Ritt ist, den er im trügerischen Licht sonnenumglänzter Phantasiehöhen unternimmt? Er kann ihn nicht beenden. In einem erbärmlichen Nest im Balkan, mitten im brodelnden Geschehen, das schon wieder einem neuen Höhepunkt - dem wievielten eigentlich? - entgegenjagt, muß er abbrechen, muß sich davontrollen: Heinrich Münchmeyer und Emma May geborene Pollmer erinnern unzweideutig daran, daß bereits der nächste, diesmal der vierte Kolportageroman fällig ist.
Und der wird zur Markscheide.


X.

1. Das Jahr 1885 sieht Karl May am Totenbett seiner Mutter. Die Wunde geht tief. (Jb-KMG 1972/73, S. 50-51) Das Ableben der Frau, zu der er seit Kindertagen in einem - schonend gesagt - ambivalenten Verhältnis stand, trifft ihn umso härter, als er nun die Schuld nie mehr wird abtragen können: Die Schuld des Beweises, daß er, der einzige überlebende Sohn, an dem so viele Hoffnungen und Verwünschungen hingen, ein großer Mann sein wird. Ein geehrter, geachteter Mann.
Das wirft ihn zurück in der Schaffensfähigkeit - denn die andere Frau, die an der Stelle einer umsorgenden Mutter in sein Leben getreten ist und dieses Leben immerhin der äußeren Form nach teilt, bietet sich nicht als die Stütze mit wärmenden Feen-Fingern, die dem Garten des angeschlagenen, liebeshungrigen Egos Karl Mays nach seinem Bedürfnis Pflege angedeihen läßt. Vielmehr sproßt das Unkraut zwischen den Ehegatten hervor.
Dieses Jahr 1885 ist nicht das berüchtigte "verflixte siebte Jahr" der Ehe Karl Mays, aber doch ein siebtes Jahr (dem, je nach Konstellation der Schwingungen seelischer Entwicklung und biochemischer Umwälzungen, wohl doch Bedeutungsreiches anhaftet), - das siebte Jahr der Bindung an Emma. Ihm, Karl, war es ja schon geraume Zeit vor der Eheschließung Ernst mit dieser Bindung; war er doch überzeugt, in Emma die kongeniale Lebensgefährtin, die eigens für ihn geschaffene Schriftsteller-Ehefrau, mit allen dazugehörigen inneren Attributen, gefunden zu haben. Er hat viel einstecken müssen seitdem, viele Enttäuschungen erlebt und vieles nicht verwunden.

Immer aus seiner, zur Abstraktion vielleicht nicht fähigen und tragisch gekrümmten Sicht, die ich als gegeben annehme, Emma Pollmer als Mensch oder als Frau herabzusetzen, steht mir nicht zu. Wenn sie den Idealvorstellungen Karl Mays nicht gerecht wurde, trug sie keine Schuld daran. Aber er litt - nicht zuletzt an dem Schmerz, sich in sich selber, in seinem vermuteten Können, Menschen exakt einzuschätzen, getäuscht zu haben; und in diesem Schmerz, diesem Trauma des nach all den häßlichen Wirren der


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Kindheit, der Jugend, der frühen Mannesjahre bang nach Liebe Dürstenden, wurde Emma erklärlicherweise zur Quelle der Un-Rast seiner Seele.

Und der Nachhall jedes einzelnen Schocks bleibt haften, und aus der Ansammlung wird ein lastender Druck, und im siebten Jahr wirft dieser Druck ihn auf den Boden seiner nackten Seele, und sein magisches Talent - bis dahin immer noch Medizin und Zügel zerfasert unter dem Klirren der Angst. Tumult vor der Ohnmacht.

2. In welcher Situation findet und befindet sich der Mensch und der Schriftsteller Karl May um die Mitte der achtziger Jahre? Von all den vielen denkbaren Antworten erscheint mir eine am ehesten zutreffend: Er fühlt sich gefangen, gekettet, gedrückt, ausweglos verstrickt. Die Wunschwelt, die er sich zusammengebastelt und aufgerichtet hatte - der Glaube an Geborgenheit in glücklicher Zweisamkeit mit einer gleichveranlagten Frau und erlösender Flug zu künstlerischer Höhe - ist zerflattert, hat sich als Illusion erwiesen.
Zweierlei ist zusammengekommen und greift ineinander: Er hat sich - auf Betreiben Emmas, das wollen wir ihm glauben - verleiten lassen, die vor Jahren abgestreifte Fessel Münchmeyer noch einmal anzulegen, hat sich damit in verhängnisvolle Abhängigkeit begeben, muß Auftragsarbeiten gewisser Prägung pünktlich abliefern, statt nach Gusto schreiben zu dürfen, verdirbt sich die Hand, bangt - wer täte es an seiner Stelle nicht? - um sein Talent. Und die Frau, dank deren Vorhaltungen er sich Münchmeyer gegenüber in die Pose des "Existenzretters" begab - Gegenleistung dafür, daß Münchmeyer einst, sehr eigennützig, May die Chance einer "anständigen Existenz" bot -, quittiert der Opfergang ihres im großzügigen Herzen fehlgeleiteten Mannes damit, daß sie enger und enger werdende Freundschaftsbeziehungen zu der von May nur zu gern gemiedenen Pauline Münchmeyer pflegt und obendrein mit Heinrich Münchmeyer unverhohlen tändelt, sich von ihm den Hof machen läßt. Die auf ihre Veranlassung hin von Karl May für Münchmeyer verfaßten "Liebesromane" aber liest sie nicht einmal, lehnt sie ab. (Fürchtete sie, durch solche Lektüre dem Ausbruch mühsam zurückgehaltener Emotionen Vorschub zu leisten? - Hier könnte sich ein weites Feld für Untersuchungen und kühne Erkenntnisse anbieten.) Ein Donnerschlag für den Ehemann und Autor, eine Kränkung. Mehrfache Kränkung. Vielfache Kränkung.
Wie wird er später, noch einmal in brennender Scham und Empörung in der Erinnerung, "an die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichts III in Berlin-Charlottenburg" schreiben...:
"... Aber gesagt muß hierbei sein, daß die Schwärmerei Münchmeyers und meiner Frau für einander nicht etwa zu Dingen geführt hat, die ich mir als Ehemann hätte verbitten müssen. Diese Schwärmerei war, besonders seinerseits, zwar eine etwas derbe, doch stand ich höflicher Weise immer dabei, um auch mit schwärmen zu dürfen..."

Nun, nun, wir wollen ja unterstellen, daß damals wirklich nichts vorfällt, das er sich als Ehemann hätte verbitten müssen. Aber ein böser Stoß gegen die Seele des Gefangenen Karl May ist es allemal, was sich da abspielt, während er unentwegt schreiben muß und die höher und höher wuchernde Angst nicht mehr zu verscheuchen weiß: Emma und das Ehepaar Münchmeyer halten das Wissen um Mays Vorstrafen als Druckmittel in der Hand, und wenn diese Sünden recht gemein und verschlagen gegen ihn ausgespielt werden, verwehren sie ihm den Weg in die menschliche, bürgerliche und künstlerische Freiheit. Wie Dämonen können jene drei Menschen ihm vorgekommen sein - Dämonen, die er nicht los wird ... Und dabei liebt er doch jene Emma, die ihn so bitter peinigt, liebt sie unerklärlich.

3. Niemand weiß heute mehr, wie Emma May geborene Pollmer wirklich


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war. Mays Unternehmungen, sie zu schildern, wie auch die Bemühungen aller bisherigen Biographen, ihr gerecht zu werden, verdienen Vorbehalte. Ich weiß weniger über sie als viele andere, die sich für Karl May engagieren, und kann nur darlegen, wie meiner Meinung nach das Bild Emma Pollmers sich damals in der verworrenen, von Reizeinflüssen, Eindrücken und widerstreitenden Empfindungen aufgespaltenen Psyche ihres Mannes gezeigt hat (hat?). Gleiches gilt für Heinrich Münchmeyer und die Rolle, die May ihm im Geiste zuwies.

Münchmeyer war für May einst ein Retter gewesen - vielleicht nicht "der" Retter, und sicherlich ein problematischer -, aber immerhin ein Fort, Schirm und Halt. Und May wurde zum Retter oder sah sich als Retter - Emma Pollmers. Alle drei sind in diesen achtziger Jahren in ein absonderliches fremd-vertrautes Abhängigkeitsverhältnis zueinander getreten -- und Pauline schaut genießerisch zu und stellt die Fallen, darin die anderen sich fangen sollen.

Münchmeyer, so dumm wie gerieben, wandelt zufrieden einher; Emma verläßt sich darauf, daß die Waffen einer Frau immer wirksam sein werden und sie sie nach Belieben einsetzen kann; und Karl May würgt an der Angst...
... vor dem Scheitern seiner Ehe; vor den Schatten seiner Vergangenheit - die infolge der Bindung an Münchmeyer nicht weichen; vor dem aus dieser Bindung hervorgehenden Versagen als Schriftsteller auf den eigentlich erkorenen Gebieten (- so befürchtet, seit er die zweite Hälfte des Mammutbauwerks "Der verlorene Sohn" mehr schlecht als recht zusammengeklittert und "gestoppelt" hat); vor dem Verlust der ersehnten beruflichen Bindung an den "hochanständigen" (K.May) Kommerzienrat Pustet in Regensburg, dem der Titel so eine Art aristokratischer Aura verleiht und den der Schriftsteller Karl May als Retter des Schriftstellers Karl May gar wohl erkennt; und Angst vor dem Ausbleiben der menschlichen Reife und Läuterung. Duldensfähigkeit allein - wie er sie unnachahmlich beweist - scheint ihm kein Beweis für innere Reife.

Er flieht nicht; er stiehlt sich nicht davon; er überläßt sich auch nicht noch einmal der beunruhigenden Fähigkeit, ein Tunichtgut, Taugenichts und Krimineller zu sein: Er bündelt alle zappelnden Fasern und Spaltungen in den Würgegriff seiner Angst und sucht diese Angst zu sublimieren, indem er an den Schreibtisch sinkt und neue Blätter und Bogen füllt mit verzerrten Gestalten...


XI.

1. So entsteht, in fürchterlicher Seelenverfag.gung des Autors, das Fanfarengeschmetter über "Deutsche Herzen, deutsche Helden". Ganz besonders bunt, ganz besonders spannend soll das sein, was da zustandekommt, denn Befreiung soll es bringen, damit er dem drückenden Gespenst 'Ich werde nie frei sein!' den Gegenbeweis vorhalten kann.
Und in ingrimmigem Eifer, mit überdimensionalem Anlauf die Hürde zu nehmen und die gebotene Heldenleistung zu vollbringen, entscheidet er sich für eine Geschichte mit einem ganz exquisit gräßlichen Hintergrund -- für die breit angelegte, über Jahrzehnte und über Kontinente hinweg wirkende Schilderung fluchbeladenen Verbrechens und "schrecklichen Unglücks", das einer adligen (!) Familie die Wurzel des Daseins entzieht... tiefergreifend und finsterer noch als bei den Rodrigandas, den Königsaus, den Helfensteins:

Das Adlerhorst-Schicksal ist das Schicksal Karl Mays in bombastischer Verkleidung: sein eigener natürlicher Wesens-"Adel" hat


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nie eine Chance gehabt...

2. Als Säbel gegen die "Lebensbedrohung" - und in Ansehung des ihn peitschenden Verlangens, auf der sozialen Glitschleiter höherzurucken - schafft er sich einen prinzlichen Heros, dem wieder einmal das gesammelte Können aller tapferen Männer des Erdballs zugeschrieben wird. Peinigende Sehnsucht nach dem Super-Ritter, der ihn - May - aus seinen Qualen befreit, schafft die übersteigerte Galionsfigur des Prinzen Oskar; der Schrei nach einem Deus-ex-machina, der gordische Knoten machtvoll zerhaut, Schatten der Vergangenheit verjagt und Gold verstreut, bricht sich wütend Bahn und ruft aus den Winkeln geplagter Phantasie das Zerrbild eines Helden hervor.
Durch die scheinbar heldischen Züge des Giganten (und Gigantomanen) Oskar Steinbach blitzen, immer häßlicher, die Machtlüsternheit und arrogante Aggressivität des Standesprivilegierten. Sein Tun als geheimer Sendling von Staats wegen kann ihn in dieser Aufschneider-Haltung nur bestärken. Seine Überzeugung, mit anderen nach Gutdünken umspringen zu können, wird durch keine tatsächliche Bereitschaft zum Dienen gemildert: Er soll ein zweiter Sternau sein und wird es nie; Sternau ist - vor allem anderen - Arzt, und aus diesem Sammelpunkt erwächst seine Größe, und zu diesem hehren Können führt alles zurück; deshalb ist Karl Sternau, die Märchenfigur reinsten Wassers, erträglich und immer sympathisch. Sternau dient - aber Steinbach herrscht.
Alle Zweifel Karl Mays am ernsten Willen der Gängelnden seiner Zeit, jemals die Vorrechte der Geburt zugunsten der Förderung wertvoller Menschen aus sozialen Tiefenschichten zu beschneiden, alle geheime Abneigung gegen die Großen, die auf die Kleinen blasiert hinabsehen, zwängt sich in das Bild, das er von Prinz Oskar Steinbach zeichnen will. Die gwollte heldische Überlegenheit mißrät zur unverschämten Anmaßung. Äonen weit entfernt wandelt der wunderbare Kara Ben Nemsi...
Aber aus diesen Fernen sendet er seinem Erfinder warnende Rufe, und ganz ungehört verhallen sie nicht: May stellt geschwind den kleinen Sam Barth neben den Prinzen... den "einfachen Mann"... verlegt nach und nach auf ihn das Gewicht des Handlungsträgers: Ein Strang der wundgeschlagenen Seele wehrt sich gegen die zu hoch angesiedelten Rachegelüste und Allüren, bettelt um eine Bezugsgröße, an der sie sich angemessen orientieren kann: Und prall, saftig, urwüchsig, lebendig steht da flugs ein Männchen aus Sachsen, das im Nu Sprachen lernt - und Fernwehdrang spürt! - und stolz darauf ist, Autodidakt schlichtester Herkunft zu sein...
Ein dickes Seil, das dennoch gewandtes Dahinschleichen und Galoppieren erlaubt, und mit dessen Hilfe Karl May an den nahezu todbringenden Klippen entlangbalanciert: Die freundlichen Teile seines Spiegel-Ich bewahren ihn davor, entweder dem Hochmut des Helden Oskar oder der Satanstümelei des Bösewichts Florin völlig anheimzufallen.

3. Ja, er schafft einen masken- und listenreichen Schurken, eine perfide Dienerseele, der wie Ahasver nie ernten darf, was er sät, und auf den der Fluch zurückfällt, den er anderen zuerteilt. Aber die Begegnung mit diesem Schuft Florin (steckt "florin" drin = "Gulden", also Gold, also Gleißner??) wird ihm zur Qual. Denn aus diesem Widerling, der seine Augen zur edlen Anna (!) zu erheben wagte und dann lauter Unheil anrichtete und sich nun in finsteren unsinnigen Rachegespinsten an der Karikatur eines Adligen reibt (- ist denn nicht so ein marktschreierischer Kolportageverlag wie eine betont auffällige Jacht mit Aushängeschild und der Eigner dieses Verlags ein Tolpatsch, der in fremde Haremsgärten eindringen will? -), und der dann mit unsauberen Mitteln die Rettung der


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eigenen Haut aus dem giftigen Quecksilberschacht durchsetzt -- aus diesem wurzellos Dahintreibenden grinst dem Autor die eigene Fratze entgegen, vor der er sich mit Fug und Recht fürchtet. Diese Konfrontation mit seinem dunkelsten Ich erträgt der geknüppelte Schriftsteller Karl May um diese Zeit nicht; ihr muß er ausweichen; und so mißrät der Schurke des Stückes zum saftlosen Schemen.

Ach, und in berechtigter Angst um sein - armseliges - Fortleben biedert der Lump sich dem Helden als Fackelträger an: Florin will Steinbach die Hintergründe des Adlerhorst-Ungemachs schildern, ihm Wege weisen. Aber der Held versagt sich ihm, großtuend nach außen hin: er muß die Lösung aus sich allein heraus schaffen, darf vom Bösewicht keine Hilfe annehmen; wäre er sonst ein Held? Er kann sich ja nicht selbst untreu werden, sich nicht der Gefahr aussetzen, von dem aus niedrigen Beweggründen handelnden Schuft betrogen und besiegt zu werden...

Beide, Held und Schurke, zu hastig entworfen, frei von Kontrolle durch besänftigende Vernunft ihres Erschaffers, Produkte schrecklicher innerer Spaltung eines vehement doppelartig begabten Schriftstellers.

4. Ja, ja, was für eine hinreißende Geschichte hätte das werden können -- wäre Karl Mays Seele unbelastet gewesen. Er jedoch brütet im Schatten zwischen selbstgestellter Aufgabe, hochfahrendem Trotz des Gestrauchelten und tastender Unsicherheit. Und so schreibt er sich an seinen vielleicht kühnsten Einfällen vorbei. Alles Schizoide, das in den Tiefenschichten Karl Mays tobt und dem Würgegriff entgehen will, sickert, spült, strömt in das Werk hinein.

Er überträgt, ohne es zu beabsichtigen, eine Abklatschfolie seiner hintergründigen Abneigung gegen den Prinzen auch auf die unschuldigen Adlerhorsts und wird ihnen gegenüber indifferent: Reflex der Unsicherheit, das eigene Schicksal - besser als das der geplagten Romanfamilie - "in den Griff zu bekommen"... einen Griff nämlich, der nicht würgt. Zwischen den Zeilen zischt eine sich zusammenrollende waidwunde Schlange: 'Was geht mich das alles eigentlich an? Warum soll ich mir den Kopf zerbrechen, warum soll ich leiden, damit Münchmeyer gut leben kann und obendrein mit meiner Frau umherscharmiert!?'

Tumult vor der Ohnmacht.


XII.

Um die Belastung, die das Ankämpfen gegen die vielen ihn anstarrenden Hydraköpfe beim Schreiben bereitet, überhaupt ertragen zu können, ficht er vom Schutzwall moralischer Grandezza aus, läßt - wenn auch dann und wann mit etwas müdem Winken - alles aufmarschieren, was für das Engagement des Menschen am Menschen, für die Beseitigung sinnloser Zwietracht, für konstruktives Nebeneinander, für "friedliche Koexistenz" spricht (ein ebenfalls von Hansotto Hatzig , wieder mit Recht, betontes Moment). Dies Ethos hält die Szenen zusammen, überlagert das immer wieder angeheizte Geschehen im Wüstensand genau so wie das verstörte Plätschern im Amerika-Teil und das beinah flehentlich am Leben erhaltene, mit Randereignissen erfüllte Treiben bei Tungusen und Verbannten. Streckenweise - das sei bewußt abermals hervorgehoben - verläuft die Handlung flott, spannend, fast aufdringlich interessant, und die Gestalten erhalten plastische Züge, aber dieser Verlauf "verläuft" sich eben so schnell, nur die Oberfläche wird angerührt; die packende Intensität, die den ganzen "Waldröschen"-Saurier


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durchschüttelt, wird im vierten Münchmeyer-Roman nur hie und da in Ansätzen spürbar... und diese gewinnen ihren Nährstoff nur aus dem anscheinend unversiegbaren Verlangen des Autors, sein Desinteresse an der Geschichte durch das Festhalten an den Pfählen der Toleranz zu kompensieren. Und so findet der Leser dann unverputzte Perlen wie diese:

Seite  
194 "Menschenblut ist ein kostbarer Saft, den man nicht ohne die allergrößte Notwendigkeit vergießen soll." (F 1, 324)
723 "Nicht nur die Menschlichkeit, sondern auch die Klugheit gebietet es euch, sie zu schonen." (F 2, 484)
832 "Die größten Schufte des fernen Westens haben eine weiße Haut." (F 3, 28)
942 "Das Leben ist für den Menschen nur dann von Wert, wenn es auch für andere wertvoll ist." (F 3 198)
1094 "Auch Rote sind Menschen." (F 3, 423)
1135 "Euer großer Geist ist auch mein großer Geist. Er ist Euer Vater und unser Vater. Er ist der Herr und König aller Menschen. Darum sind wir alle Brüder." (F 3, 486)
1454 "Ich achte selbst in meinem Feinde den Menschen, und selbst der Verbrecher ist noch das Ebenbild Gottes, das man nicht schänden soll." (F 4, 374)
1540 "Aber ist es nicht besser, zu leben, als zu sterben, selbst wenn man das letztere nicht fürchtet? Habt ihr nicht Brüder und Schwestern, Frauen und Kinder in euren Wigwams? Sie warten auf euch. Sie wollen Fleisch essen, das ihr ihnen schießen sollt. Müßt ihr nicht für sie leben?" (F 4, 483)
1615 "Wer den Mut hat, Fehler zu begehen, muß auch den Mut haben, sie einzugestehen." (F 5, 43)
2140, 2145, 2146 "Schont die Menschenleben (Reiter), aber tötet die Pferde." (F 5, 462, 467-468, 470)

Aber dann stolpert der geschundene Autor wieder über die Unebenheiten, die widriges äußeres Geschick in seinem Inneren aufgeworfen hat, und schaut in sich und in andere hinein und sinniert:

"Ich sage Dir...daß die Menschen, wenn sie sich genau kennen würden, sich nicht lieb haben könnten." (S. 2180; fehlt in F 5) Und: "Mit den Gedanken ist es wie mit den Menschen. Man muß sie erst kennenlernen, dann gewinnt man manchen lieb, den man erst gar nicht leiden konnte." (S. 2232; fehlt in F 5) Und dies: "Welch ein unerklärliches Ding ist doch das kleine Menschenherz! Es beherbergt eine ganze Weit, ohne daß es selbst etwas davon weiß." (S. 1308; F 4, 179) Und dies: "...es gehen im menschlichen Herzen Veränderungen vor, von denen man sich keine Rechenschaft zu geben vermag." (S. 2377; fehlt in F 5)

Welche Tür stößt er da auf!, Und diese Tür öffnet und schließt sich dauernd. Und läßt zuviel kalte Zugluft und die Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Selbstgemalten in Karl Mays Herzensherberge wehen.


XIII.

1. Wie geht er mit seiner Frau ins Gericht, was nicht alles wirft er auf sie! Noch im "Waldröschen" durfte sie in zwei erhebenden Geistern, Emma und Amy, aber auch schon in einer beziehungsreichen "Verkörperung", Emilia, auftreten. "Die Liebe des Ulanen" ("von


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Karl May"!) sah sie als mutige Emma, die jeglichem dem heimischen Herd drohenden Unheil Trotz bietet. "Der verlorene Sohn" zeigt sie bereits abgewandelt, denn in Alma stecken Anna und Emma, und diese ist dabei deutlich die Unterlegene. Jetzt aber, während die "deutschen Herzen und Helden" das unwirtliche Arizona durchforschen, gerät Emma, die 'Halbgebildete', die ihrem Mann geistig nicht zu folgen vermag (ja?), die anderen Männern schöne Augen macht, zum Zerrbild Emeria -- der Verwirrten, die einem Professor, einem Gelehrten (einem May'schen Existenz-Wunschbild!) - namens Heulmeier - nachtrauert und allen männlichen Besuchern auf den Leib rückt ... ein erbärmlich verlorenes Geschöpf, über deren Los der Leser im ungewissen bleibt(14).
Hier hört alles Lächerliche und Vordergründige auf; hier wälzt sich Seelenpein in Clownsmaske.
Und die zweite Teil-Verkörperung, in scheuer Werbung um Hilfe vom Schicksal nur zu gern erfunden, Almy, setzt der Autor den Nachstellungen und dem Begehren verruchter Halunken aus. Odysseus und die Freier ...

2. Das eigene ganz persönliche Geschick Karl Mays steht im Vordergrund und schlüpft immer wieder aus der Feder und herrscht ihn an, sich gefälligst mit sich selber auseinanderzusetzen. Und das tut er, den Blick auf sein Leben in diesen Jahren 1885 und 1886 gerichtet, so pointiert, daß sich daraus der als "Leseerlebnis" unzumutbare, als Handlungsentwicklung verstörende Schluß des Romans ergibt, der zwei zusätzlich und neu eingeführte Personen unerwartet in den Mittelpunkt stellt: Die hochbegabte Lina und den vielseitigen Schubert(15). Die Adlerhorst-Handlung hätte sehr gut ohne sie zu Ende gebracht werden können, aber Karl May wird getrieben, sein Inneres nach außen zu schleudern:
Der wegen Eigentumsvergehen schimpflich Entlassene, der nicht mehr junge Mann sucht verzweifelt nach dem Weg zur Umkehr und klammert sich an eine schöne junge Frau...von der er nicht weiß, daß sie ein gnadenloses Spiel mit ihm treibt...und die sich dann lockend dem reichen Versucher zuwendet...
Die anödenden, nicht endenwollenden Dialoge Lina-Schubert, Lina-Ibrahim kaschieren kein bißchen, daß Karl May und Emma und H.G. Münchmeyer gespensterhaft vor uns stehen.

3. Die Sentenzen über Frauen und ihre Ur-Macht haben sich quer durch den ganzen Roman-Lindwurm hindurch gehäuft, flankiert von harschen anderen Lebenswahrheiten, und wie sie am Auge des Lesers vorbeihuschen, gewähren sie nagende Tiefenschau in eine zerrissene Mannesseele:

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80 "Es ist uns Frauen eine Gabe verliehen, wie es kostbarer keine zweite gibt, die Gabe, das Herz des Mannes gefangen zu nehmen für alle Zeit, für das ganze Leben. Wir können dem Manne die größten Seligkeiten bieten, ihm aber auch die Hölle bereiten." (F 1, 140)
125, 126 "Die Liebe ist wie der Blitz, der vom Himmel kommt; sie ist da und keiner kann ihr widerstehen. Allah ist es, der sie sendet; und ihm muß der schwache Mensch gehorchen.(F 1,215)
565 "Es kommt zuweilen vor, daß einer, der gar keine gute Seite hat, die allerbeste Frau bekommt. Und ebenso kommt es vor, daß ein recht böses Weib einen sehr guten Mann bekommt." (F 2, 252-253)
583 "Es gibt noch hunderttausend Weiber, von denen jede einzelne die schönste aller Frauen ist, nämlich für denjenigen, der gerade sie und keine andere liebt." (F 2, 281)


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Seite  
610 "Wenn der Adler seine Frau zu beschützen hat, fühlt er doppelte Kraft und dreifachen Mut in sich." (F 2, 312)
971 "... ein jeder sagt sich, wenn er an seine Jugend zurückdenkt, daß er vieles und womöglich alles anders hätte machen können." (F 3, 241)
1281 "Es ist keinesfalls angenehm, mit der Justiz in Konflikt zu geraten." (F 4, 156)
1298 "Es ist wahr: ein schönes Weib hat mehr Einfluß auf den Mann als der beste Mann auf seine Frau." (F 4, 168)
1307 "Wenn ein tief angelegtes Gemüt so eine echte, richtige Herzensliebe fühlt, so hängt das Leben an dieser Liebe. Muß man der Liebe entsagen, so entsagt man dem Leben, denn leben heißt lieben." (F 4, 178)
1455 "Verachtung dem Manne, der ein Weib schlägt! Du aber bist kein Weib, sondern eine Furie." (F 4, 376)
1679 "Eine unglückliche Liebe ist das Schlimmste und Schwerste, was dem Menschenherzen auferlegt werden kann." (F 5, 108)
1731 "Wenn ein ehrlicher Kerl einmal auf das Zuchthaus zusteuert, so greift er gleich mit vollen Händen zu." (F 5, 153)
1776 "Ich traue keinem Menschen, einem Weibe am allerwenigsten. Sie sind alle falsch und heuchlerisch." (Fehlt in F 5)
1790 "ja, wir Frauen haben einen anderen Mut als ihr. Ihr habt den Mut der Vernichtung und wir den Mut der Errettung, der Befreiung." (F 5, 201)
1892 "... der Stolz eines edlen, reinen Frauenherzens, welches tausendmal lieber ein Opfer bringt als eins fordert." (Fehlt in F 5)
1993 "Jede Frau steht tiefer als der Mann." (F 5, 356, geändert.)
2120 "Bedenke, daß es eine Höllenqual ist, ein Weib um sich zu haben, welches einen haßt, während man es liebt." (F 5, 451)
2244 "Sage einem Menschen wieder und immer wieder, daß er wahnsinnig sei, so wird er verrückt. So habe auch ich nach und nach glauben müssen, daß ich ein Verbrecher sei und daß man mir nicht Unrecht getan habe." (F 5, 555)
2419 "Sie halten die Ehe für ein Unglück?" - "Für das größte, welches es giebt." "Andere denken anders." - "Die verstehen es nicht." (Fehlt in F 5)

Bitterkeit - Trotz. Zynismus - Aufbäumen. Angst. Tumult vor der Ohnmacht.


XIV.

1. Spürte er neben aller anderen Angst auch die, daß bei fortschreitender "Verrückung" (Claus Roxin, Mittl.KMG Nr. 3, S. 14) der phantastischen, nie recht erläuterten, nie analysierten Handlung von einem Schauplatz zum nächsten die "Verrücktheit" gierige Knochenfinger auf ihn zubewegte? Stieß der Erinnerungsgedanke an begangene Frevel und an eine nie erfüllte schöne große Liebe ihm Dolche ins Hirn? Der Ursprung des ganzen Adlerhorst-Debakels, aus verstreuten kurzen Sätzen in Umrissen erkennbar, liegt darin begründet, daß sowohl Florin als auch Ibrahim Pascha die schmutzigen Hände nach der tugendsamen Anna von Adlerhorst ausstreckten und diese Frau heiß begehrten. Was wirklich geschah, was daraus wurde,


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greift Karl May dann nicht auf, läßt er hinter staubigem Vorhang verrotten. Er scheut sich, in dem zu wühlen, was er ans Tageslicht zerren wollte. Ist es die - abgeschrägte - Spiegelung der von Hans Wollschläger für denkbar gehaltenen "Urszene" (Jb-KMG 1972/73) - oder verkrampftes Spiegelbild Emma-Münchmeyer? Oder ein bitterer Hauch von Anna, immer wieder Anna... ? Welcher Spukgeist auch immer das Bild heraufbeschwor: Karl May flieht davor. Er sieht den Ausweg aus dem vielfach verschlungenen Verhängnisknoten - rückschauend wie vorwärtsschauend - nicht mehr, weil die hoffnungslos erscheinende persönliche Lage keinen klärenden Weg zeigt, weil darum das für die Arbeit notwendige Potential nicht mehr adäquat ist und der in ihm würgende Pfropf den Fluß und Flug der genialen Phantasie - und der befreienden Umsetzung vergangener Schreckenserlebnisse in spannende "Kriminal"-Schilderungen - parzenhaft hemmt.
Darüber bleibt die Aufklärung des Adlerhorst-Rätsels auf der Strecke.

2. Einmal, nachdem er Emma geschulmeistert, will sagen: als Emeria ratlos zurückgelassen hat, läuft er zu ganz großer Form auf: Die Szenen in Roulin's Bergwerk sind Karl May in Reinkultur. Hier schnaubt der Atem des Könners durch Schächte und Stollen und Kammern. Ja, im Düsteren, bei den Unterdrückten und Ausgebeuteten, in Zellen und in Menschenschindern kennt er sich aus. Und wenn der bestialische Juanito bei lebendigem Leibe skalpiert wird, dann schwingt in der Messerklinge des mißhandelten Indianers auch die Warnung Karl Mays an den Bedränger: 'Warte nur - ich kriege dich noch.' Die giftigen Quecksilberdämpfe stacheln ihn an. Aber er verläßt die Stätte der brodelnden Glut. Und in den Weiten Sibiriens verpufft das innere Feuer, läuft die immer weiter und weiter getriebene Handlung sich an ihrer eigenen Verstrickung in immer neue breit dahinfließende Seitenmotive tot...

Bestürzend nur die vielen Prügel, die er androht und austeilt... Ständiges Hin- und Her-Taumeln des Pendels zwischen dem Tappen nach Güte und dem Ausbruch straffordernder Wut. Tumult vor der Ohnmacht.

3. Resigniert holt er alle am Geschehen Beteiligten nach Deutschland, in der vagen Hoffnung, ihnen und sich noch einen halbwegs anständigen Abgang zu bereiten(16). Und nachdem er offenbar einen fix und fertigen Plan zur Dingfestmachung und Entlarvung der Übeltäter ersonnen hatte, schwenkt er plötzlich noch einmal ab und verlegt die Handlung zum Schluß in dunkle unterirdische Gänge und Verliese und Gelasse mit geheimen Zugängen... (Was mag nur den Eigentümer von Burg Grafenreuth bewogen haben, diese Fallen und Mechanismen intakt zu halten, statt sie - was vernünftig gewesen wäre - zerstören zu lassen!?)
Flucht ins Dunkel, um gerade daraus Kraft zu ziehen? Vielleicht. Aber auch dies mißlingt. Etwas Bizarr-Unwirklicheres als diese haarsträubenden Plumpheiten begegnet uns bei Karl May nirgendwo. Wie oft wählt er - zwanghaft - Höhlen, Stollen, unterirdische Verstecke zu Schauplätzen, und wie einleuchtend ist es immer:
Gern folgt man seinen Helden und Schuften in die Geheimnisse von Burg Himmelstein und in die Klostergänge in dem (ansonsten stark zu beanstandenen) Frühwerk "Die Juweleninsel" (in der Urfassung ungleich ausführlicher zu finden als in der Radebeuler/Bamberger Bearbeitung), delektiert sich im Kloster della Barbara in "Waldröschen", ist fasziniert von Schloß Ortry in "Die Liebe des Ulanen" -- und wird später mit Herzklopfen dem Autor nachsteigen, wenn er den Karaul des "Schut" erforscht oder ins Bergwerk Almaden alto, "Die Felsenburg", eindringt oder dem Tode im Brunnenlabyrinth bei Siut, "Im Lande des Mahdi", entgegensehen muß. Grandios. Aber


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als Abschluß der "Deutschen Helden" Abenteuer stolpert dieser Erzählknick über seine eigene Peinlichkeit.

Ich gebe Hansotto Hatzig recht, der da meint, May schreibe hier so, wie ein Mensch träumt. Ja, dies sind manifestierte Träume, entsetzliche Zwänge, die sich stoßweise verstreuen. Karl May hat Beckett, Ionesco, Kafka vorweggenommen -- aber nicht wie sie mit bewußtem Verstand das Absurde gestaltet, sondern seine Seele sprechen lassen...
Und das Ende vom Liede ist des Autors müdes Zerflackern: Nachdem er all seine weiblichen und männlichen Kasperle-Figuren und Hanswürste wieder aus der Versenkung hervorgeholt hat, erschlägt er sein Werk:
Alles, was die Schurken zu gestehen und die Verfolgten an Aufklärung zu fordern hätten, bleibt finsterstes Geheimnis. Dem Autor - man kann es nicht oft genug sagen - fehlt es an Kraft, dem von ihm zur Bewältigung ausersehenen Grauen die Stirn zu bieten.


XV.

1. Also hat er mit diesem monströsen faden "Schinken" wirklich gar nichts zustande gebracht... ? Die verblüffende Antwort lautet: Doch - gerade hiermit.
Als Roman, als Erzählwerk innerer Geschlossenheit und Qualität, ist das Produkt mißlungen. Als Seelenportrait hingegen steht es sicherlich einmalig da. Und im Schaffens- und Lebensprozeß Karl Mays erfüllt DHH einen für unmöglich gehaltenen Zweck: Es ist der Abgrund vor dem Wunder.

2. Er hat sich erschöpft, sich zuviel zugemutet bei dem Wagnis, das deutsche Herz des deutschen Helden bestimmte Antwort finden zu lassen auf alle Fragen, es alle Rätsel und Probleme düsterer Vergangenheit lösen zu lassen. Er ist auf der Strecke geblieben ---- und hat sich in letzter Wahrung des kreatürlichen Instinkts durch die eine noch verbliebene Tür geschlichen: Hinein in das wohlige, an den Mutterschoß gemahnende Reich des Vergessens. Das erst nur zaghafte, kaum vernehmbare Raunen wurde gebieterisch und übertönte die anderen Stimmen und Regungen:
'Wühle nicht in der Vergangenheit: laß sie ruhen. Nimm den Schatten die Wichtigkeit, indem du sie ignorierst.'

So entgeht er um Haaresbreite dem endgültigen hohngrinsenden Zwiespalt. Entgeht ihm um den Preis, den vielleicht größten schriftstellerischen Entwurf seiner Laufbahn zu opfern und ihn als kitschigen Torso zu vergeuden. Aber seine Persönlichkeit hat er gerettet.

3. Als der eiserne Vorhang endlich rasselnd über den "Deutschen Helden" und ihren Feinden fällt und der Autor die Augen schließt und seine Seele ermattet in sich zusammensinkt und die tiefsten Bodenschichten erreicht, wo er nichts nichts nichts mehr vorhanden wähnt, da berührt diese Seele ein bis dahin verborgenes Türchen, und dahinter liegen immer noch - wer kann das verstehen - Reservelichter in Bereitschaft. Und im Verlöschen entzündet diese entkräftete, diese - wahrhaft in jedweder Bedeutung - bemerkenswerteste, diese 'wunder'lichste aller deutschen Schriftsteller-Seelen noch einmal ein Licht für sich selbst, ein Licht, woran sie sich wärmt und dank dessen Wärme sie überlebt und den Weg aus dem Abgrund findet. Der feine warme Schein durchdringt den eisernen Vorhang und beleuchtet das entscheidend Wichtige - Wenige, aber Gewichtige -, was für Karl May aus den 2600 Seiten hervorschimmert:

4. Instinktiv hat er eins konsequent verfolgt: Den kleinen Sam Barth, seinen sprachbegabten und in der Isolation der Wildnis er-


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probten Liebling, der dem mit Mängeln behafteten Schatten des - um Erhörung werbenden - Schulamtskandidaten entrann (wußte May, daß er sich hier selbst zweimal Pate stand?), und der seiner Auguste insgeheim nie entsagen mochte, vereint der Autor nur zu gern mit diesem Abbild reuig-aufopferungswilliger Weiblichkeit, dem ja nichts Besseres beschieden sein kann als das endliche Hinfinden zu Sam. Trotz ballt dem Autor die Finger um den Federhalter: Wahre Liebe setzt sich eben durch beim wackeren Kerl. Und hinein mischt sich die rührende Hoffnung: 'Ich will und kann und darf Emma doch nicht verlieren; ich liebe sie doch - wie ich die andere damals vielleicht nie geliebt habe. Und wir müssen wieder zueinander finden.'

Den großen Triumph der Liebeserfüllung gönnt er auch dem in Scheingröße erstarrten Aktionspartner Sam Barths, dem so stattlich aufgeblasenen Oskar. Das lag natürlich von Anfang an in den Karten: Wozu das ganze Buhei um Gökala, und die Jagd nach ihr, wenn sie nicht endlich dazu führen soll, Schön-Oskar an die Kette zu legen? "Du hast stets den Helden gespielt, jetzt aber ists mit Deiner Rolle zu Ende" muß Steinbach, mit Gökala im Arm, sich anhören (S. 2549): Der Schuft Ibrahim meint es im Hinblick auf die von ihm beabsichtigte Mordtat, aber der Autor meint es mit Blick auf die weiche zarte Fessel, die die Ehe dem vor lauter Imponiergehabe unausstehlich Gewordenen und doch Vergötterten anlegen wird... Dem Helden Os-kar-l...
Er durfte zwar zwischendurch einmal andere Ziele um anderer Menschen willen verfolgen (denkst Du wohl an die Zeit, Karl May, als Du von Emma getrennt in Dresden wohntest und sie daheim in Hohenstein-Ernstthal versunken häkelte und Ihr beide nicht wußtet, ob Ihr Euch zusammentun solltet und wer von Euch beiden den beschwerlichen Weg vom einen Ufer des stein-igen Bach-es zum anderen zu wagen haben werde...?) -- aber er war doch für sie und sie für ihn bestimmt, und er holte sie sich! Ein Lump wollte sie für seine Zwecke einspannen - sie blieb standhaft; und jener hat nichts mehr zu lachen. ('Du siehst, "ein Schundverlag und seine Helfershelfer" inszenieren und ränkeln', sagt der Spiegelscherben, 'aber siegen darf er nicht. Laß die Adlerhorsts und ihr ganz unwichtiges, schon fast nicht mehr wahres Geheimnis, das Dir das Herz abdrücken wollte, fahren: Konzentriere Dich auf das für Dich Lebensrettende...')

Nicht von ungefähr läßt er Karl Zimmermann - den unversehens bürgerlich Gewordenen, vordem Adligen - das Rennen vor dem kurzsichtigen Langendorff (der der Brille bedurft hätte und gerade sie während der Jagd durch die Wildnis, das Land des Unbekannten, des Kampfes um eines Weibes Gunst, nicht trug; S. 1166; fehlt in F 4, 6) gewinnen. Und nicht von ungefähr trägt das von diesem seelenguten Karl erfolgreich umworbene Mädchen den Namen der Büßerin Magdalena...

5. In drei Gestalten, die jeweils ein prägnantes, unverzichtbares Teilstück des phänomenalen Karl May spiegeln, im unlösbar an die Heimat geschmiedeten Sam Barth, im stolzen Wunsch-Prinzen Oskar und im unverhofft belohnten Kaufmann (also dem Symbol des weltlich Tüchtigen) Karl Zimmermann, findet Karl May den Pfad zu der Frau, von der er im tiefsten innersten Kern ein Leben lang nicht mehr loskommen wird (mag er später in einer "psychologischen Studie" auch über sie schelten, mag er auch einer anderen - vielleicht zu gescheiten, vielleicht zu dienstwilligen - Frau die Zügel überlassen) -: der unverbrüchlich heimatverwurzelten, volksstämmigen Auguste; der schönen, vom Glanz des Ungewöhnlichen umstrahlten Semawa/Gökala vornehmer Abstammung; der zeitweise scheinbar verloren zu gehen drohenden und scheinbar Entwurzelten Magda(lena)...


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Der dunkle, den Frieden bedrohende "Agent" (Schubert) vernichtet sein dunkles Ich ebenso, wie es das Schemen eines aus Unterwürfigkeit zu Maßlosigkeit hochgehasteten Taugenichts (Florin) tut(17).

Der große Reinigungsprozeß, der die Seele blankputzt und den Blick eines in sich Zusammengekrümmten freimacht für den Weg zur Aufrichtung, setzt für Karl May ein.

6. Er verschafft sich Klarheit nach innen, aber auch nach außen: Der großsprecherische Aristokrat, der ja anders sein kann, und der kleine Mann aus dem Volke, der vor den eigentlichen, den heimisch-bodenständigen Aufgaben flüchten zu müssen glaubte und nach Irrungen zu sich selbst gefunden hat, - diese beiden zeigen, was sie zu leisten imstande sind, wenn sie gemeinsam für ein Ziel kämpfen. Der Kleine vertraut der geistigen Führung des Großen - die der eigenen geistigen Entfaltung hilfreiche Winke gibt -, und der Große lernt schnell, sich mehr und mehr auf den Kleinen zu verlassen. Und wenn sie sich einig sind und einander um ihrer heldischen - sprich: für das Gemeinwohl wirksamen - Züge willen achten, geht alles gut. Der Adel braucht den Bürger und der Bürger den Adel; einer kommt ohne den anderen in der sich mit Macht - ja, eben mit Macht - verändernden Welt nicht mehr aus. Das Bündnis allein wird's bringen. Der Adel wird von seinem Glanze einiges verlieren und seine Prätentionen aufgeben müssen, und das Volk wird beweisen müssen, daß unter Erd- und Schmutzschichten die Träger der Ideen für eine bessere Welt der Menschen stecken. Das Weltbild Karl Mays rückt sich gerade.

7. Inmitten aller Depression, die den schludrigen vierten Münchmeyer-Roman begleitet hat, schafft sich die nicht umzubringende, beunruhigend elastische Ur-Natur dieses Mannes mit schlafwandlerischer Sicherheit neuen Humus für neue lebenspendende Träume und traumspendendes Leben... Und in den ersten dieser Lichtträume - hinter dem ganz, ganz ferne, noch hinter dicken Wällen undurchdringlicher Ahnungen verhüllt, die Vulkane von Dschinnistan zur ersten leisen Eruption anheben - fällt die Überzeugung:
'Ich muß helfen, die neue Welt zu bauen. Wie ich es immer vorhatte. Ich bin mutig. Ich mache mich frei. Und ich behalte meine Frau für mich. Und finde meinen Weg zum Glück. Und finde - dabei - zurück zu meinem Lebensstern: zu Kara Ben Nemsi...


XVI.

Was ist geschehen? - Im Nachsinnen über diese (wie ich zu sagen versucht bin) "Transgression", die nicht ins Aus, sondern ins selbstgestaltete, verbesserte Spielfeld führt, bekenne ich nur zu gern: Etwas Unfaßbares ist vollbracht worden: Das mißratene Kind hat den Autor frei gemacht, hat in sich alles Verheerende aufgesogen, hat alles dräuend Schizoide vereinnahmt - nur Unschädliches "in Spurenelementen" zurückgelassen, dessen er später immer vergleichsweise markig Herr werden wird -, hat den für unmöglich gehaltenen Durchbruch zur verinnerlichten Stabilität, dessen Ausbleiben er befürchtet hatte, eingeleitet:

Seine von ihm unterschätzte Duldensfähigkeit hat zäh und beharrlich nicht nur alles durchgestanden, sondern insgeheim und unerschütterlich drei andere unbesiegbare Fähigkeiten als Bundesgenossen genährt: die Fähigkeit des Vergessens, die der christlichen Gesinnung und die des sinnfälligen Träumens. Alle greifen ineinander, entzünden Lichter, bewahren Karl May vor der zerstörerischen Ohnmacht und lenken ihn aus dem Abgrund hinaus:

Die Fähigkeit des Vergessens umhüllt die Wunden, in denen Karl May nach Antworten auf viele ungelöste Fragen wühlen wollte. Indem er den Schleier gnädigen Vergessens über die Adlerhorst-Rätsel breitet


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und es den Missetätern erläßt, alles noch einmal aufzurollen und Geständnisse abzulegen, und indem er den Helden auferlegt, auf volle Aufklärung, auf absolute Demütigung der Rechtsbrecher zu verzichten, zieht er den schweren Mantel des Vergessens über seine trüben Tage und ist Held seines Schicksals, tut er den einen für sein künftiges Dasein entscheidenden Schritt: Er tritt die Flucht in den Edelsinn an. Eine Flucht nach oben.

Er verklammert die ihm innewohnenden Triebe moralischer Grandezza, die ihn durch den ganzen brüchigen Kanal-Palast der deutschen Herzen und Helden hindurchgeschleust haben, nie völlig entschwunden sind und ihn befähigen, kämpferisch für seine wertvollsten Überzeugungen einzutreten, mit dem dynamisierenden Antriebsfunken, adlige Gesinnung - Milde, Toleranz, verzeihende Güte - garantiere den Triumph über alle Niedrigkeiten, und umschließt beides mit dem stärkenden Bekennermut des mit der Hölle vertrauten Himmelsstürmers, der sich als der zur Prüfung durch alle Mächte des Bösen und des Guten Auserkorene läutern will: 'Wenn ich selber fest an mich und meine Wirkung glaube, so wird diese Wirkung auf andere nicht ausbleiben und diese anderen zum Schweigen bringen.' Und er hört sich sagen: 'So recht, Karl May. Du mußt Deinem Wesensadel, den Du in Dir trägst, die Chance verschaffen. Glaube daran, glücklich zu sein, und Du wirst es sein. Die Macht der Fiktion wird die Kraft der Realität neutralisieren oder sie gar sich untertan machen. Fiktion wird Wahrheit - Wahrheit wird Fiktion. Und die Menschen Deiner Umgebung können Dir nichts anhaben.'

Und zugleich raunt der eine, dem sehr Weltlichen verhaftete, ebenfalls nie ganz zum Erliegen gekommene Strang seines Verstandes: 'Solange die Früchte Deines Tuns Dir eine hinreichende materielle Grundlage liefern, bist Du gegen Vorwürfe gefeit. Dann verbreiterst Du die Basis, von der aus es Dir leicht fällt, Dir selbst und anderen ein Christ zu sein...'

Also wird er die farbige Welt seiner Gedanken, die kühne Welt seiner Träume tätig einsetzen und nutzen, um zum einen den schnöden Mammon für die alltäglichen Bedürfnisse zu sichern und um zum anderen sich vom Hort des Christentums umgeben zu lassen. Im Verzeichnis des Bestandes seiner Bücherei (Karl-May-Jahrbuch 1931) fehlen - merkwürdig genug - die Schriften Sören Kierkegaards. Aber es ist, als müsse gerade in dieser Zeit des Niedergangs vor der Rettung das Wort Kierkegaards in ihm wach und wirksam gewesen sein: "Eigne Dir das Christliche an, und es wird Dir einen Punkt zeigen, außerhalb der Welt, mit dessen Hilfe Du Himmel und Erde bewegen wirst, ja noch wunderbarer, Du wirst Himmel und Erde so still und leicht bewegen, daß es niemand merkt."

Und darum vermag niemand, der noch mit dem Herzen zu denken und mit der Vernunft zu fühlen weiß in der heutigen, der unsrigen, nicht so sonderlich erbaulichen und um Trost so verlegenen Zeit, sich der Faszination des Christen Karl May zu entziehen.

Angebahnt hat sich der Entschluß, nie vor sich selbst den Blick senken zu müssen, gekoppelt mit dem Willen, niemals aufzugeben, als der dünn federnde Spannungsbogen der erdballumspannenden Abenteuer deutscher Helden sich seinem Endpunkt entgegensenkt. Der zu Unrecht Verurteilte sagt zu dem Blutsauger, der aus dem Unrecht Gewinn ziehen will: "In Dir wird nicht die Kraft des guten Gewissens leben, mit deren Hilfe selbst das größte Unglück zu ertragen ist." (S. 2123; fehlt in F 5, 452) Das gute Gewissen soll Karl May schützen; er will nicht unrecht handeln an den Menschen seiner Umwelt; das wird ihn halten, wenn sie ihn kränken; und daß dem Vorbestraften eine feinere Rechtschaffenheit innewohnt als den Pharisäern, wird diese eines Tages beschämen.


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Und den so grundsoliden, durch den ersten (!) Anblick einer geheimnisvoll-schönen (!) Frau der Liebe verfallenen Helden Hermann von Adlerhorst, dessen Anstand und Sauberkeit schließlich die Frau gewinnt, der sein Herz gehört, läßt Karl May über das "nackte, rücksichtslose Leben" tönen: "Dasselbe verlangt von dem Menschen, daß er seine Kräfte im Ringen um die Existenz betätige. Es erlaubt ihm keine Ruhe, kein Sichgehenlassen, keine Schlaffheit"(S.2373). 'Wahrlich - Du hast, Karl May, so viel aufgewendet, um vor Dir selbst zu bestehen. Nun laß Dich nicht unterkriegen: Schlaffheit ist Deiner unwürdig.'

Mit dieser Bündelung ineinandergreifender Wirkströme verschafft Karl May sich eine Bastion, von der aus er in regelrecht schwindelerregender - Schwindel erregender - und dabei beglückender Manier Zimmermann eines neuen luftdurchlässigen Lebenshauses werden und sich aus dem Abgrund emporschwingen kann.
Da ist der gloriose Weg ins Freie vorgezeichnet: Sich den strahlenden Träumen, dem "Roß der Himmelsphantasie" anzuvertrauen. Ein Weg ins Ungewisse, oh ja. Aber für den, der vor dem völligen seelischen Zusammenbruch flüchten, den schäbigen Widrigkeiten des Ich entrinnen und dennoch die Brücke zur rein bürgerlichen Welt unter den Füßen spüren will, ist es die rosenbestreute Straße... Sie kann unschwer ins Nichts führen - aber auch zu einer ganz eigenen Reife, "einer ganz ganz eigenen Seelenwelt". Karl May wirft sich diesem Risiko hin.
Und indem er an den Traum - in dessen Überhöhung - als neuen Retter glaubt, mobilisiert er alles Kämpferische, das ihm von Natur her eigen ist, in beschwingender Form und beteuert den noch zögernden Teilen seiner wunden Seele, er werde sich nie mehr ducken lassen, werde von nun an immer Mittel und Wege finden ---
--- Hier liegt bereits der Keim für die spätere schicksalbergende Old-Shatterhand-Legende, die um zwei Jahrzehnte zu spät kommt. Doch er ahnt ja nicht, daß er auch diesen Preis einst noch wird zahlen müssen, daß der Virus Oskar Steinbachs, des schneidigen Aufschneiders, in giftiger Verpuppung in ihm zurückbleiben und eines Tages als Drachensaat aufgehen und ihn von sich sagen lassen wird, er sei der Superheld in Person ---
Vorerst sieht er nur das Wunder, daß er sich selbst überwunden hat, dieweil er seine geheimsten Tiefen bloßlegte.


XVII.

1. Die Folgen des Wunders sind sichtbar und greifbar. Er erholt sich, seiner moralischen Überlegenheit unbeirrbar gewiß, und entdeckt darin die Fährten, die zur Überwindung jener bedrückenden Angst leiten, für immer an Münchmeyer und dessen Wissen angeschirrt zu sein. Er kehrt die Waffe der moralischen Grandezza, die er nicht einmal bei DHH aus der Hand gegeben hat, nach außen und läßt H.G. Münchmeyer davor zu Kreuze kriechen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit: Karl May fühlt sich schwebend unangreifbar. Immer noch schwach, oh ja, aber von einer satten Ruhe ausgefüllt. Er geht der Verpflichtung, noch einen fünften Roman für den "Schundverlag" zu schreiben, nicht aus dem Wege - er unterzieht sich ihr sogar gern, denn sie ist der Schlüssel zur Freiheit, "der Weg zum Glück"(18).
Mit Gelassenheit und stillem Kichern schreibt er - im gräßlichsten erfundenen Bayerisch, das je zu Buchstaben gerann - ein herzerwärmendes Buch, schafft er die köstlichste Gestalt, die ihm je (außer Halef) gelungen ist, den umwerfend gescheit-durchtriebenen Wurzelsepp, und mit fast gespenstischer Einfühlsamkeit weiß er in der Figur des vom Unglück überschatteten letzten bayerischen Königs sinnfällig genau das bis dahin in Deutschland Unvorstellbare sichtbar zu machen: Die Adelsdämmerung.


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Der irgendwo auf dem früheren Wege verlorengegangene, ins Hintertreffen geratene Günther von Langendorff, der die Frau nicht bekam, die er liebte, visionär verschmolzen mit dem ebenfalls dem Zugriff entrückten Vater, der als Minister zwischen Alltagskleinkram und Weiträumigkeit des Denkens posiert und der eine arme Frau unglücklich machte, wabert in neuer May-Gewandung noch einmal, grün und schwarz, weiß und blau, durch die Wälder... der Mann, der ohne eigenes Verschulden scheitert... der, unter Außerachtlassung aller anderen Aspekte, rückschauend nur in diesem Lichte gesehen wird... der darin sich spiegelnde, an den Rändern unscharfe, nonkonformistische Landesvater, den die Hetze - wider besseres Wissen - verkennt...
(Zu dieser Zeit schon in Karl May undurchschautes Vorwissen - fünfzehn Jahre voraus -, daß er es sein wird, dem späte Heimtücke der Pauline Münchmeyer doch noch zur Geißel wird, den man hetzt, den - wie Ludwig - für verrückt zu erklären einige sich nicht scheuen werden...? Eine unheimliche Vorstellung für uns Heutige. Aber wenn es Vorwissen war: es hat ihn damals nicht belastet.)

2. Das Wiedererwachen der schöpferischen Kräfte Karl Mays und deren planvoll-geschickter Einsatz ist gleichsam der Spiegel der Kräfte des aus Unterdrückung zur Selbstbesinnung gelangten Volkes. Der jähe rätselumgebene Tod des bayerischen Königs Ludwig II. im Starnberger See ist bestürzend: 'So etwas gibt es!? Einen König darf man einsperren, für wahnsinnig erklären? War er das etwa... ? Und wenn: hat er jemand geschadet?' Dem Witterer publikumswirksamer Erzählstoffe wird das tragische Ende eines Königs zum Anlaß für einen ganz eigenartigen Roman; dem Menschen Karl May verhilft es - seltsam - zum nüchtern-hellsichtigen Abstand vom Rest des Untertanen-Bohrens und zur sachlichen Einschätzung des hinter dem Pomp der Kulissen operierenden Kalküls der Nicht-Künstler. Und seine Wertvorstellungen relativieren sich - nach außen so, nach innen so - und werden stabiler, und beinahe gemächlich wandelt der Genesende auf seinem Weg zum Glück, und Kopf und Hand, Feder und Worte erzählen davon ...

3. Der glatte Fluß des neuen Münchmeyer-Romans, des letzten seiner Art - und gerade dieses "letzte" dürfte dabei bedeutsam sein (einen sechsten, "Dalilah" - um Liebe und Verrat? - braucht er nicht mehr zu schreiben; und dieses "braucht" ist mehrdeutig auslegbar) -, erlaubt die Vermutung, daß eine Zeit versöhnlicher, anheimelnd-traulicher Stimmung zwischen den Eheleuten May aufkam, daß vielleicht Karl den Stier bei den Hörnern packte, daß vielleicht Emma mit Selbstanklagen nicht sparte. Der Autor konnte einer schönen Frau nie anhaltend gram sein - sogar Miranda ließ er laufen -, und die Häufung der Frauengestalten in "Der Weg zum Glück", die ihren Auserwählten in langen Tiraden vorjammern, sie seien des geliebten Mannes nicht wert, und die allesamt ihr Glück finden, mag wohl ein Indiz sein für manches rührende Ehe-Geflüster in diesem Stadium der Rekonvaleszenz. Und den lieben Heinrich, dessen vormalig bedrohliche Masse sich im Rahmen der neuen Werteskala nahezu in Geringfügigkeit verwandelt hat, drängt er beiseite: soll er doch, wenn's ihm Spaß macht, sich ein bißchen in den Lumpenkerlen tummeln, die der Wurzelsepp so hübsch unvermutet in die Zucht nimmt: Die sind ja auch nicht so überdimensional, daß sie ihm entgehen könnten...

Ja, das ist das Erfreuliche, daß der Genesende sich nicht übernimmt, sich nicht wieder einen zu dicken Brocken aufgeladen hat: Im letzten Münchmeyer-Roman ist nichts und niemand mehr überdimensional, alles ist sozusagen eine Ebene niedriger angesiedelt, ist "eine Nummer kleiner" und "handgewirkt". Es geht viel weniger phantastisch zu, viel weniger grandios, vielmehr "gemütlicher",


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auch im Bereich der Schandtaten. Die Verbrechen, die Gemeinheiten sind allesamt glaubwürdig, ihre Bekämpfung und Aufdeckung stilgetreu, die Menschen plastisch und echt. Dabei - als Leser gerät man ins Stöhnen - ist dieser Wust ein Schmarrn, eine Anhäufung von Platitüden und das Kitschigste, das je aus Karl Mays gewandtem Köpfchen hervortropfte. Aber sauber hingeschmiert hat er's, trotz manches erzähltechnischen Unfugs auch hier; eine Welt des Gemüts und glaubhafter - uriger, kauziger wie verderbter - Menschlichkeit hat er hingestellt. Genau das, was er braucht nach dem Sturz vom Roß des 'deutschen Helden': die Gemüts-Idylle, in der er genesen und an der er gesunden kann - und wird. Der Fiebertraum ist überstanden, der Sturz verkraftet.

4. Karl May kann es sogar wagen, die Karma-Linie des Liebespaares Leni-Anton standhaft zu behaupten, die beiden voneinander getrennt zu halten, aus ihnen wahrlich Charaktere statt Abziehbilder zu machen. Die Liebe ist nicht mehr das Unbedingte, das Unerläßliche, das Unverzichtbare, um die Brücke über die faustische Spaltung zu schlagen; sie ist als Klammer zulässig, darf aber keinen Druck spürbar werden lassen: Erfüllung des Daseins kommt auch - und gerade - aus anderen Quellen. Zumal in Anton, der im Laufe der Romanhandlung mehrere äußere und innere Wandlungen ("Verwandlungen", Verlarvungen, gleißende Spiegelbilder eines ohne Scheu rückwärts schauenden, beglückend gefestigten Karl May) durchkosten muß, bricht sich eine nuancierte, erquickende Erkenntnis des Autors als Lebensleitbild Bahn: Versinken im anderen Menschen ist gottgewollt. Versinken in der Kunst ist göttlich. - Hier kündigen sich die zwanzig Jahre später verfaßten "Briefe über Kunst" an. -
Der Quell sprudelt - sprudelt fortan in belebender Munterkeit.

5. Die mit DHH erreichte Befreiung von Ungemach, die Erneuerung des Ich durch Vergessen, Glauben, Güte und Träume, schafft eine Freistatt, auf der, gespeist durch äußere und innere Erfolgsschübe, unaufhaltsam das Gebäude des flirrenden Glanzes heranwächst: Palast der stärkenden Lebenslüge, Zwischenstation nach dem Sieg über den Engpaß der Gefahr, Gipfelschau eines von seinen Träumen überreich Belohnten auf eine besiegte, von diesen Träumen beherrschte Welt...: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand"...

Aber bis dahin hat es noch Zeit.

6. "Der Weg zum Glück", sein Weg zum Glück, trägt ihn zu unvergänglichen Schätzen, die er ausgraben wird, nicht nur auf dem neu begonnenen "Letzten Ritt" "Durch das Land der Skipetaren", auch in der "Felsenburg" und bei der "Jagd auf den Millionendieb", bei der Verfolgung des "Sendador" und "Im Lande des Mahdi" -- Juwelenklötze, die immer noch ihresgleichen suchen --, bis hin zur schicksalhaften Begegnung mit "Old Surehand" (und Old Wabble), die noch einmal zum großen Ringen auffordert... Aber zu jener Zeit weiß er, wie man mit der Furcht umgeht, umzugehen hat, und bleibt abermals Sieger. So wie er es fortan immer bleiben wird, auch nach der Jahrhundertwende.
Die Rettung nach jedem neuen Schock, das jedesmal tiefer greifende Fortspülen bedrückender Hemmnisse, schafft den Raum für das Ansammeln und das stille Aufblühen einzigartiger Reserven an wundersamen Kräften, die er erst dann als vorhanden erkennt, als er sie sich demutsvoll herbeiwünscht: Sie lassen ihn die endlich wohl doch unabwendbare Scheidung durchstehen und die Geifer-Prozesse und die Schmutzkübel-Angriffe. Da ist der triviale Karl May, der Proletarier, zur Hoheit geworden. Und diese - auch wieder in jedweder Bedeutung - unergründlichen Kräfte befähigen diesen einzigartigen Mann dann noch zum Ersinnen und Gestalten des lebensumspannenden Mysterienspiels "Ardistan und Dschinnistan".

Kleingewachsener Karl May, großer Sachse: Du warest kein mißratener deutscher Held.


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Nachbemerkung
- Dieser Beitrag hätte doppelten Umfang erhalten können - aber auch einem Sonderheft der KMG sind Grenzen gesetzt. Ich bin mir einiger gewisser Unausgewogenheiten in meinen Ausführungen bewußt. Aber dieser mein Versuch, zu Erkenntnissen, zu Fingerzeigen, vielleicht zu Wegweisern zu gelangen, die den Zugang zu Karl May ebnen oder erleichtern helfen, kann der Natur der Sache nach nur Teilaspekte - und auch diese häufig nur in Ansätzen berühren. In Karl May waren immer alle Konflikte und konkurrierenden Webmuster gleichzeitig in Bewegung und stürzten sich ineinander. Sie zu bändigen, war sein Verdienst. Einiges davon aufzuzeigen, war mein Bemühen.
- Die auf akribischer Forschung beruhenden Ausführungen und Schlußfolgerungen Klaus Hoffmanns über den realen (Carl) Barth und dessen Frau Auguste (Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73, Seite 231/232) dürften meiner Auffassung über die von Karl May vorgenommene psychologische "Umsetzung" und literarische (mehrdeutige) "Verdichtung" dieser lebensnah geformten Figuren nicht entgegenstehen.
  Zu der von mir vermuteten Spiegelung der nie überwundenen "ersten Liebe" (Anna) vgl. Klaus Hoffmann im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1975, Seite 262.
- Ein besonderer 'Hauch des Dankes' gilt Ekkehard Bartsch: Sein beredtes Vorwort zum Olms-Reprint von DHH spornte mich an, die lesbaren Passagen des Romans noch einmal eifrig zu suchen und Herrn Staberow auf die Finger zu gucken...



Anmerkungen
1 In der Form der behutsam-elegant geschnittenen Scheiben Schmid-Kandolf'scher (Radebeuler und Bamberger) Provenienz durchaus genießbar.
2 Die - ich bleibe dabei: sehr erfreuliche - Leseausgabe des Karl-May-Verlages, Band 60, Band 61-63, kann hier außer Betracht bleiben.
3 Unterschiede zwischen dem Münchmeyer-Text und dem Fischer- (Staberow-) Text:
  Bei Staberow erhält Langendorff Magda zur Frau (siehe hierzu Abschnitt VII. des vorstehenden Beitrages); Zimmermann wird mit einer Audienz beim Großherzog abgespeist (F 5, 796).
  Bei Staberow erfährt der Leser, daß Zykyma bei Badija Zuflucht findet (F 2, 606); im Münchmeyer-Text fehlt dieser Hinweis.
  Die von May korrekt geschilderte Faustschlag-Szene (S. 572) wird bei Staberow unsachlich umgebogen: nach Staberows Version müßte Steinbach überkreuz schlagen! (F2, 262)
  May läßt Steinbach rein ichbezogen nur auf Gökala und ihren Vater hoffen (S. 1578); Staberow flicht den Gedanken an Georg von Adlerhorst mit ein (F 4, 544).
  Staberow beseitigt den Schnitzer, Hermann von Adlerhorst sei nicht in Amerika gewesen (S. 2387; F 5, 660), beläßt es aber bei der unbegründeten Unwissenheit der "in der Heimat weilenden Familienmitglieder".
  Staberow hat die grundlegende Beschreibung der Brunnenstube und ihrer Mechanismen gestrichen (S. 2506ff.; F 5, 720).


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  Die Auflistung sämtlicher - oder auch nur der meisten Textunterschiede würde nahezu ein weiteres Sonderheft füllen.
  Der von Hansotto Hatzig für die Vergleichslesung aufgewandte Fleiß kann nicht lobend genug hervorgehoben werden.
4 " ... verstümmelte glücklicherweise nur die Amme..." ist ein bedauerlicher sprachlicher Mißgriff, den der Autor - wie peinlich - ausgerechnet Steinbach in den Mund legt. (S. 1476; F 4, 403). (Für die Amme war es sicherlich kein Glück.)
5 Wenn der Autor schon nicht auf die - völlig unwahrscheinliche, um nicht zu sagen absurde - Gökala/Semawa-Seitenhandlung (deren Hintergrund er bezeichnenderweise, im Gegensatz zur Ursache des Adlerhorst-Unglücks, voll ausgemalt hat!) verzichten wollte, hätte er den Steinbach-Part einem weiteren Adlerhorst zuweisen sollen, einem flotten Burschen aus einer deutschen Nebenlinie, ggfs. auch aus einem englischen Zweig; dieser hätte legitim für die Familienrechte eintreten können. Keinen "Lord Eaglenest" karikierter Gutmütigkeit natürlich (übrigens ein für den englischen Hochadel undenkbarer Name), keine Mischung aus possierlicher und halbtragischer Figur, keinen Abklatsch von Lindsay/Castlepool/frühem Raffley, sondern eher eine Art Dryden ("Waldröschen"-Bearbeitung; in der Urfassung dort ebenfalls "Lindsay"), aber eben keinen Steinbach...
  Die Radebeuler/Bamberger Bearbeitung hat - den Verantwortlichen sei Dank - den Prinzen fallenlassen und hat aus dem Rest noch das bestmögliche gemacht; ihr Lindsay (der Eaglenest ersetzt) ist durchaus akzeptabel. Die Brüder Martin und Gottfried (=Georg) freilich haben auch im neuen Textgewande herzlich wenig zu tun.
6 Dieser Widersinn ist in der Radebeuler/Bamberger Ausgabe, Ges. Werke Band 62, Seite 141 (R) bzw. 135 (B) leider nicht beseitigt worden.
7 Leider in der Radebeuler Ausgabe, Band 63, S. 152/153 ebenso wie Bamberg 63, S. 143/144, erhalten geblieben.
8 Die Schreibweise "Karparla", worauf im Vorspann des Karl-May-Verlags zum Reprint des Münchmeyer-Textes, Seite XIII, hingewiesen wird, findet sich nicht nur in Bildunterschriften, sondern durchgehend im Text.
9 Franz Kandolf hat sich der Halunken angenommen und mit der Szene des Aufstandes im Zuchthaus und der Fluchtversuche - im 3. Kapitel von Band 63 der Ges. Werke - eine der einfühlsamsten, 'integriertesten' und packendsten Schilderungen geliefert, deren ein May-Bearbeiter fähig ist. (Dabei erhebt sich nämlich nicht mehr die Frage: Ist das noch Karl May? Prädominanz gebührt hier der vollen Befriedigung des Lesers, dem es um ein abgerundetes Lesevergnügen geht. Hier nachzuhelfen und gestalterisch einzugreifen, ist bei einem - leider - so mißlungenen Produkt wie DHH gerechtfertigt.
10 Die Betonung "Sommerfrische für die höheren Stände der Gesellschaft" und Fernhalten "desjenigen Badepublikums, welches mit Pfennigen zu rechnen hat" (S. 2304; F 5, 604) läßt einen Kommentar des doch sozial eingestellten Autors zugunsten der "niederen Stände" vermissen und spricht nicht sonderlich für den verantwortlichen Prinzen Oskar.
11 In der Bearbeitung des Romans (Ges. Werke Band 45) wird man diese Episode allerdings vergeblich suchen.


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12 Hiervon bleiben Heinz Stoltes Erhellungen über Amadija-Stollberg-Affäre (Jb-KMG 1976) unberührt.
13 Hier zwischendurch eine Bitte: Lieber Karl-May-Verlag, laß um des Autors willen - wenn es nach all diesen Jahren noch unauffällig geschehen kann - jene zwei unseligen Geierschnabel-Szenen in Band 54, die anscheinend selbst Franz Kandolf damals zu leicht genommen hat, neu schreiben!
14 Die angedeutete frühere Verbindung Emeria Garezzo's mit dem Grafen und Minister von Langendorff bleibt im Dunkel (s. 1168 -1170; F 4, 9-11), ähnlich wie Graf Fernandinos Verhältnis zu Pepi und Zilli in "Waldröschen". Eine bedauerliche Verdrängungs-Erscheinung.
15 in einigen Fällen wirkt die von May für seine Figuren vorgenommene Wahl des Namens befremdlich-beziehungsreich. Aus der unerschöpflichen Fülle aller zur Verfügung stehenden Namen wählt er "Schubert" für die Negativ-Figur im Deutschland-Teil, dieweil er mit demselben Namen den positiv gezeichneten jungen Untersuchungsrichter in "Der verlorene Sohn" bedacht hatte. (Dort heißt übrigens der prächtige Förster ebenso "Wunderlich" wie der keineswegs mit ihm verwandte eklige Falschgeldhändler. Wunderlich.)
Schubert trägt den Vornamen "Albin" (S. 2355) wie der böse Richemonte in "Die Liebe des Ulanen", und Adlerhorst senior hieß "Alban".
Sowohl Polikeff als auch Boroda junior heißen mit Vornamen "Alexei (Alexis)", und sowohl Lomonow (Florin) als auch Dobronitsch erhielten den Vornamen "Peter" (was prompt dazu führt, daß auf S. 2165 fälschlich "Lomonow" statt "Dobronitsch" steht.
Sollte wirklich Einfallslosigkeit des Autors am Werke gewesen sein? Oder auch hier der Ausfluß unbewußter Innenströme? (Vgl. meine Bemerkungen betr. "Max" und "Treskow" im Heft Nr. 29 der "Mitteilungen der KMG", S. 19).
16 Die Angabe der Jahreszahl "1879" auf S. 1712 (fehlt in F 5, 139) rückt die Handlungszeit des Schlußteils des Romans in die zeitliche Nähe seiner Entstehungszeit; es ist zu berücksichtigen, daß die dazwischen liegenden Ereignisse Jahre beansprucht haben. May gab sich also "hochaktuell". Vgl. hierzu die Bemerkungen von Ekkehard Bartsch im Vorwort zum Olms-Reprint von DHH, S. 7, betr. der Feststellungen Klaus Hoffmanns zur Handlungszeit ("1880"). Gökala mag sich, als sie Steinbach kennenlernt, tatsächlich ein Jahr oder etwas länger in Polikeffs Gewalt befunden haben. (Die Länge von Nena's Leidenszeit paßt dazu freilich nicht.)
17 "Geheimpolizist für private Zwecke" (S. 2307) geht wohl an der Sache vorbei, denn "-polizist" kann Schubert ja nun keinesfalls mehr sein, und da zudem ein Polizist Hoheitsaufgaben wahrnimmt, gibt es auch keinen Polizisten "für private Zwecke". (Die besondere Art der Werkspolizei mit ihrem eng umgrenzten Wirkungsbereich kann außer Betracht bleiben.)
18 Gerade dieses Werk diente Otto F. Best in seinem "Handbuch literarischer Fachbegriffe", Fischer Taschenbuch 6092, S. 141-142, zur Exemplifizierung des Begriffes "Kolportage".


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Ein Schaffensabschnitt weniger

von Gerhard Klußmeier


Nachdem der Olms-Verlag sich vergeblich bemüht hatte, mit Hilfe von May-Sammlern seine Original-Vorlage für den Faksimile-Nachdruck "Deutsche Herzen - Deutsche Helden" zu komplettieren bzw. durch reproduktionsfähige Textteile aufzubessern, erschien der Lieferungsroman nun im Karl-May-Verlag Bamberg.

Es wurden offensichtlich "Nägel mit Köpfen" gemacht, denn das "Werk" erschien genau in der Weise, wie es vor nicht ganz einhundert Jahren vor die Leser trat: einzelne Lieferungen im Umschlag, nicht aufgeschnittene Druckbögen mit einem lose beigefügten Bild bilden eine Einheit, eben eine sogenannte "Lieferung". Sie vermitteln, erstmals nicht nur für Sammler, einen genauen Eindruck davon, wie ehemals Kolportage feilgeboten wurde.

Es ist anzumerken: diese Form des Nachdrucks läßt weder Sammler- noch Wünsche der May-Forschung offen. Denn der Vergleich mit den originalen Lieferungsheften zeigt eine nahezu perfekte Übereinstimmung in Papierqualität und -farbe ebenso wie die unterschiedlichen Papierformate zwischen Umschlag und Innenteil. Wer bisher nicht so recht verstehen konnte, weshalb die Originale immer so einen zerzausten Eindruck machen, findet die Erklärung darin und in der Notwendigkeit, daß der Leser die Textteile auftrennen muß.

So wurde damals an den Hintertreppen der "Herrschaftshäuser" den Dienstboten (nur diesen?) der Zugang zur "Literatur" geboten, modernste Ratenzahlung inbegriffen!

"Moderner" ist die im Olms-Verlag - mit Unterstützung der Karl-May-Gesellschaft - erschienene Münchmeyer-Fischer-Ausgabe dieses Romans. Zweifellos wird sie jetzt nicht mehr, wie ehemals, dem Autor in seinem Ansehen schaden - auch wenn sie wieder, im Gegensatz zum KMV-Reprint (!), als "Roman von Karl May" angeboten wird.

Kein Frevel an der guten Sache, wenn der Olms-Verlag seine May-Reihe auf diese Weise komplettiert; ein überaus interessanter Vergleich ist möglich: "Teilweise um nahezu die Hälfte des Textes gekürzt" schreibt der KMV über die Fischer-Ausgabe von 1901 - "absolut brauchbar und zitierbar", so Ekkehard Bartsch im Vorwort der Olms-Edition. Stichproben zeigen ganz erhebliche Textänderungen, vor allem Kürzungen auf. So wurde, um nur zwei Hinweise zu geben, fast die ganze Seite 1228 (entspricht Seite 95, Band IV) nicht übernommen, dazu die hierauf bezugnehmenden Zeilen der Seiten 1232, 1234 sowie die Seiten 1246 (zur letzten Hälfte) bis einschließlich Seite 1248! Der nachfolgende Dialog zwischen Miranda und Sam Barth mußte deshalb ein völlig neues Konzept erhalten. Auch der Fortfall der Seiten 1289 (ab Zeile 10 v.u.) bis 1296, also ganze sieben (!) Seiten, ist gravierend und auch als Eingriff in das Handlungsgefüge zu bezeichnen. Überwiegend handelt es sich bei der Staberow-Bearbeitung um gute stilistische und orthografische - also notwendige - Korrekturen; der authentische und somit für die Forschung verwendbare Text ist aber die Ausgabe von 1885/86.

"Frühwerke"(1) Karl Mays werden sie immer wieder genannt, die fünf Kolportageromane, die jetzt bis auf eine Ausnahme(2) im authentischen Urtext wieder vorliegen. "Karl May in seinen Anfängen"(3) soll man darin begegnen und das 'Waldröschen' wurde in einem Prospekt des Olms-Verlages "Karl Mays Erstlings-Werk" genannt. "Karl Sternau ist die Vorwegnahme von Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi"(4), ein "Prä-Shatterhand"(5) sogar, der "Ur-May"(6) ist da.


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Wie wenig zutreffend, ja ausgesprochen falsch derartige Bezeichnungen sind, mag folgendes deutlich machen: Die sogenannten Münchmeyer-Romane Mays wurden in den Jahren 1882-1887 geschrieben und veröffentlicht. Das, was man später mit Recht Mays Hauptwerk nannte, die "das faszinierende Erzählertalent Mays voll zur Entfaltung"(7) bringenden Reise-Erzählungen, lag schon für die ersten drei Bände der Fehsenfeld-Reihe 'Durch die Wüste', 'Durchs wilde Kurdistan', 'Von Bagdad nach Stambul' vor - geschrieben und veröffentlicht 1881 - 1884 im "Deutschen Hausschatz". 'In den Schluchten des Balkan', 'Durch das Land der Skipetaren' und 'Der Schut' entstanden zur gleichen Zeit (1885 - 1887) wie die Münchmeyer-Romane! Immerhin entwickelte sich in dieser Zeit "die zweite elementare Figur seiner Mythologie, die er der Weltliteratur eingebracht hat: der Hadschi mit dem langen Namen"(8). Die Münchmeyer-Romane, dieser "Anblick von Kitsch und künstlerischer Kläglichkeit"(9), sind also anders einzuordnen, anders zu bezeichnen.

Betrachtet man die fünf Romane in der Reihenfolge ihres Entstehens, so ergeben sich interessante Aspekte. Karl May lieferte mit dem 'Waldröschen' ein Werk, das alle Erfordernisse dieses Genres erfüllte - und einen außergewöhnlichen Erfolg verbuchen konnte: Intrigenhandlung, Giftmischerei, Mord und Totschlag, wechselnde Schauplätze, etwas Robinsonade, ein kunterbuntes Völkergemisch, Absurditäten, deutsche (also identifizierbare) Helden und ... einen literarischen Stil, den man ob seiner Banalität als eine Zumutung empfinden müßte - was man von den vorher bzw. gleichzeitig für den "Deutschen Hausschatz" geschriebenen Beiträgen gewiß nicht behaupten kann.

1883 folgt 'Die Liebe des Ulanen'. Im Gegensatz zum 'Waldröschen' ein genau durchgeplanter deutsch-französischer Geschichtsroman - die chronologischen Wechselsprünge sind derart korrekt, daß man annehmen muß, May habe nach einem Expos' gearbeitet. Stilistisch teilweise besser als das "Waldröschen' - weil er unter Verfassernamen und in einer Zeitschrift erschien?

1884 'Der verlorene Sohn', sollte ein sozialer Roman sein und ist es streckenweise wohl auch geworden. Doch das Räuber- und Gendarm-Milieu überwiegt, Trivialität in pseudoliterarischer Sprache ist vorherrschend: "Wie kann ich, der arme Musikus,   s o  h e r r l i c h e s   besitzen!" "0, Du   b e s i t z e s t  es schon längst, schon seit dem Augenblicke, an welchem ich Dich zum ersten Male sah. -Du hast für mich gekämpft, da drüben,   u n d   d i e   W u n d e   n i c h t   g e s c h e u t,   w e l c h e   D i c h   D e i n e r   K u n s t   e n t f r e m d e t e ... U n t e r   D e i n e m   S c h a t t e n   w i l l   i c h   w o h n e n   u n d   i n   D e i n e r   S o n n e   w i l l   i c h   b l ü h e n " (Seite 1823).

1885 der vierte Roman unter dem Titel 'Deutsche Herzen - Deutsche Helden'. May arbeitete hier offensichtlich ohne Konzept; der Stil ist unverändert. Mag May zu Beginn noch mit authentischen Zutaten Wirklichkeitstreue beabsichtigt haben (teilweise benutzte er auch hier A.H. Layards 'Niniveh und seine Überreste' als Textvorlage), so wuchert es dann doch bald bedenklich bedenkenlos weiter. Ob May sich Gedanken gemacht hat, wieviel hanebüchenen Unsinn die Hintertreppenleserschaft zu akzeptieren bereit war? Er treibt es jedenfalls manchmal direkt auf die Spitze:
Die wenig rechtschaffene "Haushälterin" und Giftmischerin, die "Alte" im Tal des Todes wird von Steinbach mit Nachdruck ausgefragt und antwortet: "Feurio, Feurio! Hilfio, Hilfio! 0 wehe, o wehe!... Hilfio! Zetrio! Mordio!" und "Feurio, Feurio! Mordio! Brandio! Giftio! Hilfio! Rette-rette-rettio!" (S. 1455 f.) Das ist als spanischer Sprachkursus wohl nicht zu übertreffen. Derartige


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kabarettistische Einlagen können eigentlich nur den Grund gehabt haben, den Leser zu verulken; auch ethnologische Weisheiten wie "Der Sibirier aber kann nicht viel vertragen... Von einem kleinen Glase Wodka wird er für zwei Tage lang betrunken..." (S. 1581) dürften wohl kaum einen anderen Zweck gehabt haben.

Sprachliche "Besonderheiten" - nicht ganz so aufdringlicher Art begegnen wir auch im "Bayerisch" von Mays letztem Kolportageroman von 1886, dem 'Weg zum Glück'. Almenseligkeit und knorrige Urwüchsigkeit, schriftlich fixierte Wunschtraumerfüllung für Schüler und Lehrlinge und... Dienstboten unter dem Motto: "Wenn ihr (Eltern, Lehrer, Prinzipale), die ihr mir so zusetzt, wüßtet, welche Talente als Maler, Sänger, Musiker in mir schlummern, ihr würdet mich anders behandeln!".

Allerdings gibt es in diesem Roman eine starke Stelle, zweifellos eine der gelungensten Passagen aller Münchmeyer-Romane (obwohl die "Kolportage" auch da so einiges überwuchert): das nicht erwartete Nicht-happy-end, dargestellt in einem ausgezeichneten Dialog zweier einfacher Menschen, zwischen Leni und Anton (S. 2604-2608) - was der Bearbeiter der Bamberger Ausgabe dann aber treffsicher ausmerzte und zu einem kitschigen Abschluß brachte!

Eine stilistische Entwicklung in dieser Romanreihe ist also nicht feststellbar. Karl May mußte zweifellos, den Markterfordernissen für derartige Literatur Rechnung tragend, immer wieder seinem Talent Zügel anlegen, sich immer wieder bewußt machen, welche Grenzen nach   o b e n   hin nicht zu überschreiten sind.

Das bewußt schriftstellerische Gestalten Mays wird - neben den Jugendschriften, den Marienkalendergeschichten und auch dem Alterswerk - am deutlichsten eigentlich in diesen fünf Trivialromanen sichtbar: nicht nur die genaue Einhaltung des Umfangs (in welchem alles Zusammengereimte seine Auflösung finden muß) gelingt, auch wird Zeitgeschichtliches gezielt eingesetzt: Bismarck, zur Zeit seines politischen Zenits, tritt im 'Waldröschen' nicht nur auf, sondern wird in die Handlung mit einbezogen, so daß sich ein drohendes Unheil abwendet. Das deutsch-französische Verhältnis aus dem 'Ulan' bedarf keiner weiteren Erläuterung: Napoleon und Blücher! In 'Deutsche Herzen' beginnt die Handlung mit den derzeit aktuellen Geschehnissen um Tunis, der Dreierbund wird angedeutet (siehe auch das Vorwort zum Olms-Reprint!); Mohammed es Sadok wird vor einem Mordanschlag bewahrt, ähnlich wie Ludwig II. im 'Weg zum Glück', der dort nicht allein für zeitnahe Authentizität sorgt: auch die "Mitwirkenden" Richard Wagner und Franz Liszt sind 1886 "aktuell": 10 Jahre Bayreuther-Festspiele, Wagner starb 1883 - sein Schwiegervater Liszt 1886. Also immer wieder Anknüpfungspunkte für bildungshungrige Leser, die Gleichsetzung von Roman und Wirklichkeit wird mit Hilfe historischer Persönlichkeiten - ähnlich wie in der heutigen Klatschpresse - mühelos vollzogen.

Bilden also die umfangreichen Kolportageromane eine - die zweite - Schaffensperiode im Sinne einer Entwicklung des Autors? Eine Frage, die nach reiflicher Überlegung zu verneinen ist. Diese Romane belegen im Vergleich mit den vorangegangenen und nachfolgenden, deutlicher eigentlich noch mit den gleichzeitig geschriebenen ('Durch das Land der Skipetaren', 'Der Schut'), daß es sich dabei, trotz aller Auswirkungen, die sie auf das Gesamtwerk hatten, um eine Zwischenphase, besser wohl um eine Parallelproduktion auf anderer Ebene handelt. Ein Trivialautor, wie er heute in vielen Untersuchungen so häufig genannt wird, war May nicht, auch wenn 12.375 Seiten solcher Literatur aus seiner Feder stammen.


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Anmerkungen

1 Anzeige des Olms-Verlages, Börsenblatt Frankfurt 14.3.1972
2 "Die Liebe des Ulanen" erschien 1883 in der Zeitschrift "Deutscher Wanderer" - die bearbeitete Buchausgabe von 1901/02 lag dem Reprint des Olms-Verlages zugrunde.
3 Hannoversche Allg. Zeitung, 26./27.9.1970
4 Die Zeit, Nr. 48, 26.11.1971
5 Wolf-Dieter Bach, Fluchtlandschaften, Jb-KMG 1971, 49
6 Welt am Sonntag, 13.6.1971
7 ICH, Karl Mays Leben und Werk, Bamberg 1975, 359
8 Hans Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, 50; Zürich 1976, 62
9 Hans Wollschläger in "Karl Mays Waldröschen" Sonderheft der KMG 1972, 3



Illustration zur ersten posthumen Veröffentlichung - einer vergleichsweise maßvollen Bearbeitung von 'Deutsche Herzen - Deutsche Helden' unter dem Titel 'Die Familie Adlerhorst'.
Aus: 'Das Vaterhaus', Jahrgang 4 (1926/27), Heft 38, Verlag H.G. Münchmeyer GmbH, Dresden-Niedersedlitz (Sammlung Wolframm, Erkerode).


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Zur Frage der Datierung

von Hainer Plaul

[...]




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[...]

Quod erat demonstrandum

von Gerhard Klußmeier


W e n n   zu den vorsichtig ausgesprochenen, jedoch allgemein akzeptierten Hypothesen zur Datierung der Reprint-Vorlage des "Waldröschen" (Olms-Verlag, Hildesheim 1969 ff.) auf die Zeit um 1900 noch ein Beweis notwendig war, so dürfte er jetzt gefunden worden sein.

Zu den Indizien - ausführlich dargelegt im "Waldröschen"-Sonderheft (1972) - die Hainer Plaul besonders überzeugend ergänzte (Mittl.KMG Nr. 19, S. 26 ff,), konnte jetzt eine endgültige Bestätigung erbracht werden. In der Sammlung Karl Guntermann, Hamburg, befindet sich seit kurzem eine WR-Heftsammlung mit der typografischen Gestaltung und den Illustrationstafeln des Olms-Reprints. Die ebenfalls vorhandenen Heftumschläge (es fehlt leider die Lieferung 1 und 109) haben die neuere Gestaltung (Vorsatzblatt der Olms-Edition) sowie einen bislang nicht zitierten Preisaufdruck. Die Rückseiten der Heftumschläge tragen zum größten Teil eine stets gleichlautende Eigenanzeige für die   F i s c h e r - Ausgabe "Deutsche Herzen, Deutsche Helden" (s.S.48 ). Auffällig ist daran nicht nur diese Werbung selbst, sondern auch die Firmenbezeichnung und -adresse "H.G. Münchmeyer, G.m.b.H. Niedersedlitz-Dresden": denn der Umzug dorthin erfolgte lt. Hainer Plaul (a.a.O., S. 27) zum 5.6.1902! Weitere Verlagsanzeigen bieten "Die Roulette" und "Detektiv Nobody's Erlebnisse und Reiseabenteuer" als in den ersten Folgen lieferbar an: beide Romane von Robert Kraft erschienen 1904 (Hinrichs 1904/11, S. 226).

Die große WR-Heftausgabe wurde also noch um 1904 verkauft, die Heft u m s c h l ä g e   wurden zweifellos um diese Zeit noch   g e d r u c k t, der Text (=Olms-Vorlage), das kann man nunmehr mit Sicherheit konstatieren, stammt gewiß nicht mehr aus Lagerbeständen des Heinrich Gotthold Münchmeyer (der 1892 starb) und wohl auch nicht mehr aus der Zeit, als seine Witwe das Geschäft dem Konkurs zusteuerte. Sie übergab übrigens Karl May noch 1894 die "alte" Ausgabe als Belegexemplar, wobei es dann zudem recht unklug gewesen wäre, von 20.000 Expl. als verkauft zu sprechen, wenn die im Handel befindlichen Hefte die Zahl von 500.000 Heften als bisher verkaufte Auflage nachweisen. Das "Waldröschen", so wie es im Olms-Reprint vorliegt, ist also eindeutig eine Edition von Adalbert Fischer, der 1899 den Verlag Münchmeyer übernahm. Für die Beurteilung der Situation Fischer/May ist bemerkenswert, daß sowohl diese Ausgabe wie auch die Ankündigung von "Deutsche Herzen, Deutsche Helden" (noch nicht als "Deutsche Herzen   u n d   Helden bezeichnet!) ohne Hinweise auf den Autor Karl May erfolgte.


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Seite 47 - Sammlung Karl Guntermann, Hamburg


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