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Aberglauben im modernen England. Kulturgeschichtliche Skizze von
Robert Kraft.

   

 

 

Buch für Alle, 1901
Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart


 

 

(Nachdruck verboten)

Ein »Familiengeist« ist die spukende Seele eines Verstorbenen, welcher mit der betreffenden Familie in irgend einer Beziehung gestanden hat und den Mitgliedern derselben bei Nacht erscheint, um ihnen etwas Böses oder etwas Gutes zu verkünden, oder auch nur, um im Hause spazieren zu gehen. Auch von Gästen wird er gesehen, die er gern schreckt. Einen treuen Familiengeist zu besitzen ist fast das ausschließliche Vorrecht von altadeligen Geschlechtern, deshalb hausen auch die Familiengeister mit Vorliebe in alten Burgen und Schlössern. In Mietskasernen findet man sie gar nicht; diese sind ihnen wahrscheinlich zu windig gebaut. Bürgerliche Patrizierfamilien in alten Häusern haben höchstens ein nächtliches Trappen und Poltern auf der Treppe oder einen gespenstischen Lichtschein im Keller; aber das ist noch nicht das Rechte. Ein neugebackener Adel muß sich erst einen eigenen Familiengeist zulegen, ehe er als voll angesehen werden kann. Als jüngst ein amerikanischer Millionär ein schottisches Grafenschloß mit allen Rüstungen, Ahnenbildern und sonstigen Reliquien als Ehesitz für seine mit einem englischen Baron verheiratete Tochter erstand, erkundigte er sich vorsichtig, ob zu dem gesamten Mobiliar auch der vornehme, unerläßliche Familiengeist gehöre.

Ganz besonders gut gedeihen diese ruhelosen Nachtwandler in Schottland, und mit den populärsten Familiengeistern der schottischen Lords wollen wir uns einmal näher beschäftigen.

Jener oben erwähnte Yankee-Millionär heißt Harwis; er kaufte das Schloß Cortachy in der Grafschaft Kirrimuir, dem ausgestorbenen Geschlechte der Ogilvys gehörend, das einen Hausgeist besaß, der die Trommel schlug, wenn einem Mitglieds des Hauses Ogilvy der Tod bevorstand.

In der guten alten Zeit hatte ein Lord Airlie, ein Ogilvy, seinen Turmwächter, der aus irgend einem Grunde des Lords heftigen Zorn erregt hatte, in seine große Trommel gesteckt und ihn in dieser Verpackung vom Turme hinabwerfen lassen. Ob der Mann vorher etwa seinem Herrn geflucht hat oder nicht, ist nicht zu erfahren. Jedenfalls soll er seit jener Zeit trommelnd auf dem Schloßhofe erscheinen, wenn bald ein Mitglied des Hauses Ogilvy stirbt, im altertümlichen Rock, in Kniehosen und Gamaschen, mit Perücke und Zopf, eine große Trommel rührend.

Sein erstes verbürgtes Erscheinen stammt aus dem Jahre 1849. Damals starb eine Lady Airlie. Dann meldeten im Jahre 1884 die englischen Zeitungen, eine Dame, welche als Gast auf Schloß Cortachy weilte, habe in der Nacht Trommelwirbel vernommen, und als sie es am Morgen dem Lord erzählte, wäre dieser erbleicht. Einige Tage darauf verschied die Schloßherrin. Vor einigen Jahren berichteten wiederum die Zeitungen, Lord Airlie, der letzte Sproß der Ogilvys, habe den Trommler gesehen — und richtig, am anderen Tag stürzte er vom Pferd und brach sich das Genick. Das heißt, der Zeitungsbericht erzählte stets erst von der Erscheinung, wenn der oder die Betreffende schon tot war.

Ob nun auch Mister Harwis den gespenstischen Trommler käuflich mit übernommen hat, wird er ja bei seinem Tode, wenn er gerade in Cortachy weilt, selbst erfahren.

Alle diese Geistergeschichten sind im Grunde höchst läppisch, aber sie bestehen seit Jahrhunderten, sie gehen von Mund zu Mund, das Volk und die Presse beschäftigen sich mit ihnen, sie kennzeichnen den Charakte einer ganzen Nation, und so sind sie doch wert, noch weiter verfolgt zu werden.

Also Nummer zwei: zur Abwechslung ein Trompeter. Er erscheint in den einsamen Hallen von Fyvie Castle in Schottland den Mitgliedern des Hauses Gordon, und sein Auftreten bedeutet gleichfalls den Tod eines vom Gordongeschlecht.

Diese Rache, noch Lebenden einen baldigen Sterbefall zu melden und nicht einmal zu sagen, wen es betrifft, ist ganz berechtigt, wenn wir bedenken, wie der Trompeter zum Geiste wurde.

Er liebte die Tochter des Kastellans. Aber auch der Schloßherr hatte ein Auge auf das Mädchen geworfen. Liebe und Trompetenblasen hängen bekanntlich eng zusammen, die Kastellanstochter wies die Anträge des Lords entrüstet zurück und blieb ihrem Trompeter treu, der auch noch jetzt als Geist sehr schmuck aussehen soll. Der Lord warf den Nebenbuhler in ein Verließ, wo weder Sonne noch Sterne hineinschienen, und ließ ihn darin verhungern. Nun rächt sich der Trompeter am ganzen Geschlecht. Was aus der Kastellanstochter geworden ist, meldet die Chronik nicht.

Glücklicherweise hat Schloß Fyvie auch noch einen guten Geist in Gestalt einer alten, vornehmen Dame im grünen Brokatkleid, welche im Ahnensaal sichtbar wird, wenn den Gordons ein frohes Familienereignis oder überhaupt etwas Gutes bevorsteht. So soll sie auch kürzlich wieder in der Nacht erschienen sein, als am nächsten Tage ein Telegramm des jungen Lords eintraf, er habe in Monte Carlo die Spielbank gesprengt.

Hiermit sind die Geheimnisse von Fyvie Castle noch nicht erschöpft. Zur Zeit der Minstrels ging ein abenteuerlicher Gordon unter diese fahrenden Minnesänger, aber so lebendig deren Lieder im englischen Volke auch noch heute sind, und wie man auch jetzt ihre Ritterlichkeit verherrlicht — damals konnten sie doch in keinem besonders guten Rufe stehen, denn als eines Tages der Dichterjüngling am Portal des Schlosses seiner Ahnen Einlaß begehrend anklopfte, wahrscheinlich etwas zer- und verlumpt, wurde ihm seine Enterbung angekündigt, und er zum Hofe hinausgejagt.

Da schleuderte der junge Minstrel einen Fluch gegen die Mauern von Fyvie Castle. »So soll nimmermehr ein Gordon die Erbschaft seines Vaters antreten! rief er.

Der Fluch hat sich erfüllt. Es ist eine Thatsache, daß sich das Herzogshaus der Gordons schon seit zweihundert Jahren nicht ein einziges Mal direkt vererbt hat, ein ganz merkwürdiges Vorkommnis. Beim Tode des Herzogs war nie ein direkter Erbe da, stets wurde ein Neffe oder ein Bruder oder ein anderer Verwandter der Nachfolger.

Zwei Hausgeister besitzt mach die Grafenfamilie der Combermere. Der eine ist erst vor kurzem entdeckt worden, der andere dagegen macht sich seit mehreren Generationen bemerkbar, treibt ganz offen sein Wesen, ist ganz harmloser Natur, und man spricht von ihm wie von einem lebenden Familienmitglied.

In der Combermere-Abtei befindet sich ein unbenutzter Raum, früher als Schlafzimmer dienend, in der Mitte steht noch das altertümliche Bett. Sind bei einer Gelegenheit viele Gäste im Schlosse, so wird auch einmal ein Besuch in diesem Zimmer einquartiert, und gleich darauf vorbereitet, was er erleben wird. Jedesmal um Mitternacht erscheint nämlich ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren in der Kleidung des vorigen Jahrhunderts, rennt einigemal um das Bett und verschwindet wieder. Dabei geht das Nachtlicht aus, ein fahler Schein erhellt das Zimmer, und dann entzündet sich die Kerze oder die Lampe von selbst wieder.

Der Geist hat gar keine besondere Ursache zum spuken. Der zuletzt verstorbene Lord Cotton, der Chef des Hauses Combermere, hatte eine Schwester, mit der er als Knabe sich eines Abends spielend in diesem Zimmer um dieses Bett herumjagte, als das vierzehnjährige Mädchen plötzlich an einem Herzschlage entseelt zu Boden stürzte. Dies geschah am Ende des 18. Jahrhunderts. Seit jener Zeit soll Lady Cotton beständig erscheinen und um das Bett rennen, sobald jemand darinnen liegt, jeder Gast soll sie sehen. Unzählige wollen den ganz harmlosen Spuk erlebt haben, wie gesagt, man spricht in Schottland und England darüber wie über etwas ganz Selbstverständliches. »Es ist eine Thatsache,« versichert ernsthaft selbst der gebildete Engländer.

Der neuentdeckte Familiengeist der Combermere wurde vor noch gar nicht langer Zeit in englischen Zeitungen besprochen, wieder in einem Tone, als sei gar nichts Außergewöhnliches dabei. Eine Lady Cotton photographierte bei Magnesiumlicht den düsteren Ahnensaal. Als sie das Negativ entwickelt hatte, zeigte sich auf der Platte in einem Lehnstuhl sitzend eine menschliche Figur, zwar mit recht geisterhaften Umrissen, aber doch so deutlich, daß man nach einem Gemälde feststellen konnte, es sei der Geist eines längst verstorbenen Ahnen, welcher im Schlosse seinen alten Gewohnheiten nachging. Dem bloßen Auge sichtbar wurde er nie, und ob er noch einmal »saß«, ist unbekannt. —

Ueberreich an Geistern und Geheimnissen aller Art ist die Burg Glamis in Strathmore, der Ahnensitz des berühmten Geschlechts der Lyons, dessen Chef jetzt den Titel Earl von Strathmore führt, früher Than von Glamis hieß. Wer diesen Namen nicht zu kennen glaubt, der sei nur an Shakespeare erinnert. Macbeth war ein Than von Glamis, hier ermordete er Duncan, und dieser hauptsächlich treibt in Glamis Castle sein nächtliches Wesen. In schwerer Ritterrüstung schreitet der ermordete König Duncan durch die Säle der Burg und hat es besonders auf allein schlafende Kinder abgesehen, auf welche er sich legt und sie erdrückt oder sie in Todeskälte erstarren läßt. Schon oft wollen Mütter den schrecklichen Duncan, der seine Rache scheinbar ohne Ansehen der Person ausübt, noch zur rechten Zeit von ihren Kindern vertrieben haben. Der Mörder dagegen, Macbeth, ruht friedlich im Grabe, spuken thut er wenigstens nirgends.

Ferner steht im Burghofe von Glamis Castle eine steinerne Reiterfigur dicht am Hause, so daß der Reiter mit seinen vergrämten Zügen gerade durch das Fenster in ein Zimmer blickt. Ein altes Familiendokument befiehlt, den steinernen Gast dort ruhig stehen zu lassen und ihm ja nicht die Aussicht in das Gemach zu versperren, sonst käme großes Unglück über die Lyons. Aufklärung über den Reitersmann, wer er ist und was es für eine Bewandtnis mit ihm hat, giebt das Dokument nicht.

Ein Earl von Strathmore wagte es dennoch, das Fenster zu verhängen. Da ging des Nachts ein klägliches Winseln durch das Schloß, uud das dauerte so lange, bis man dem Steinmanne wieder die Aussicht freigemacht hatte. Als sich der Earl aber gar mit dem Plane trug, die Statue ganz zu entfernen, da wurde in der Burg des Nachts ein altes, zerlumptes Weib gesehen — natürlich geisterhaft zerlumpt — das jammernd treppauf, treppab fuhr — und der Reiter blieb auf dem Postament.

Uebrigens ist einem Earl von Strathmore eine solche Pietätlosigkeit gar nicht zuzutrauen, denn wenn nur der zehnte Teil von alledem wahr ist, was man über Schloß Glamis hört, muß es dort von Spukgestalten wimmeln. Der Earl hat sie doch auch gesehen und muß sich sagen, daß es zwecklos ist, gegen überirdische Mächte anzukämpfen. Außerdem legen Familiengesetze dem jeweiligen Chef geheimnisvolle Pflichten auf, von denen jener Earl doch jedenfalls nicht entbunden war.

Eines dieser Geheimnisse zum Beispiel hängt mit einer fünfzehn Fuß dicken Mauer zusammen, welche ein Kellergewölbe verschließt. Alljährlich an einem bestimmten Tage muß ein Arbeiter die Mauer durchbrechen, der jeweilige Chef des Hauses Lyon, also der Earl von Strathmore, geht in Begleitung seines erstgeborenen Sohnes, wenn dieser das Alter von zwanzig Jahren überschritten hat, und des Kastellans, welcher einige Schüsseln mit Speisen trägt, hinein in das Gewölbe. Sie verweilen einige Zeit darin, kommen wieder heraus, der Kastellan mit den Platten, welche voriges Jahr hineingesetzt wurden. Die Speisen sind verschwunden, das heißt verschimmelt, verwest, und das Gewölbe wird wieder zugemauert, wobei der Earl und der Marquis, sein Sohn, je einen Stein einfügen.

Es heißt, daß das nicht nur eine Familientradition ist, welche diese Zeremonie aus unbekannten Gründen fordert, sondern der Schloßherr wisse das damit zusammenhängende Geheimnis, es sei eine dauernde Sühne für das ganze Geschlecht, der Marquis erfahre es mit seinem zwanzigsten Jahre, und ebenso jeder neuangenommene Kastellan, dessen Pflicht es sei, die Platte mit Schüsseln hineinzutragen.

Daß diese Zeremonie wirklich jedes Jahr in Glamis Castle stattfindet, ist eine Thatsache, an welcher nicht zu rütteln ist. Der betreffende Termin fällt auf einen Julitag, und gewiß ist, daß der Earl und der Marquis um diese Zeit die Sommerfrische für einige Tage verlassen, um nach Glamis Castle zu gehen; jedesmal erzählen die englischen Zeitungen des breiten und langen, wie sie das erbrochene Kellergewölbe betreten. Vor zwei Jahren meldeten die Zeitungen, der Earl von Strathmore sei nach dem Verlassen des Raumes, wahrscheinlich infolge der verpesteten Luft, gefährlich erkrankt.

Es giebt noch eine ganze Masse andere derartige Sonderbarkeiten in Schottland und dasselbe wiederholt sich in Irland und England. Es sei nur ein englischer Fall erwähnt, welcher voriges Jahr in den Zeitungen besprochen wurde. Irgend ein herzogliches Schloß, wohl in Richmond, ist durch Anlaß einer königlichen Feier nut Gästen gefüllt, jeder kann gerade noch ein Zimmer erhalten. Plötzlich, spät am Abend, als die Gäste nach den Zimmern geführt werden, bittet Lord X, ein bekanntes Parlamentsmitglied, um Entschuldigung, er müsse nach London zurück, morgen früh sei er aber wieder da. Er ist ganz verstört und verläßt wirklich Knall und Fall das Haus.

Eine junge Dame hat sich nut einem sehr bescheidenen Raum begnügen müssen und wird nun schnell noch in das freigewordene Zimmer einquartiert.

Am anderen Morgen stellt sich der Lord wieder zur Frühstückstasel ein. Er ist mit dem ersten Zuge von London zurückgekommen und weiß jetzt einen genügenden Grund für seine Entfernung anzugeben. Zuletzt erscheint auch die junge Dame. Sie sieht so leidend aus, daß man sie fragt, ob sie unwohl oder ob ihr etwas zugestoßen sei. Sie zögert, bis sie endlich ihr nächtliches Abenteuer in jenem Zimmer erzählt.

Wie sie am Einschlafen war, erfüllte plötzlich ein weißstrahlendes Licht das Zimmer, vom Kamin ausgehend, zugleich eine tödliche Külte verbreitend. Dann sei aus dem Kamin ein Mann in altmodischer Kleidung getreten, im Zimmer umhergegangen und wieder verschwunden, und der Schreck über diese Erscheinung liege ihr nun noch in den Gliedern.

Dem Hausherrn ist nichts von solch einem Spukgeist bekannt, man meint, sie habe nur geträumt.

Da platzt plötzlich der Lord heraus: »Nun kann ich's auch offen sagen. Als ich das letzte Mal hier war, schlief ich in diesem Zimmer. Ich habe genau dasselbe erlebt. Und als ich nun gestern zufällig wieder dieses Zimmer angewiesen bekam, zog ich es vor, abzureisen und in London zu übernachten.«

Was weiter daraus wurde, ob inan die Sache untersuchte, ist gar nicht von Belang. Es soll hier nur festgestellt werden, daß diese Geschichte von großen Tagesblättern erzählt wurde, unter Angabe aller Namen, daß man den Fall als eine Thatsache behandelte, besprach, erwog, daß kein Dementi erschien, und daß keine Stimme öffentlich laut wurde, welche einmal sagte: »So etwas gehört zum Altweiberklatsch, aber nicht unter die wichtigen Tagesereignisse, darf überhaupt nicht vor das Forum der denkenden Erwägung gebracht werden, denn es ist blödester Aberglaube.«

Nun, jedes Land hat seine aristokratischen Geister und seinen geheimnisvollen Spuk. Deutschland besitzt nicht weniger als vier »Weiße Damen«. Dies schadet nichts, das sind Sagen, die niemand ernst nimmt, man kann sie ruhig den Kindern erzählen, und solche, wie die vom alten Kaiser Barbarossa, soll man sogar heilig halten.

Wenn aber Fürsten und Parlamentsmitglieder, auf welche ein ganzes Volk als auf seine geistigen Leiter blickt, an die Existenz von Gespenstern und Spukerscheinungen wirklich glauben, mit ihnen förmlich verkehren, wenn sie sich von diesen Geistern tyrannisieren lassen, wenn ein Graf einen eingebildeten Geist mit Speise und Trank versieht und zwar aus Furcht, und wenn sich die Presse mit solchen Angelegenheiten bescbäftigt, ihnen Wichtigkeit beimißt — dann wird ein Geisterkultus daraus, dann herrscht ein Aberglaube, der ebenso lächerlich als erniedrigend ist.

England — worunter hier alle englisch sprechenden Länder verstanden werden sollen — England ist eben von Aberglauben durch und durch verseucht, von den höchsten Kreisen bis hinab zu den untersten Schichten. Der Fremde, welcher nur einmal auf Besuch in England weilt, wird das kaum merken, erst wenn man lange in England ansässig ist, und inan sein Augenmerk nicht allein auf Geschäft rind Politik lenkt, werden einem die Augen geöffnet.

Es ist wirklich seltsam, daß der zähe, kühl rechnende und dabei so realistisch denkende Engländer so abergläubisch ist, daß er nichts ohne überirdische Macht thun zu können glaubt. Hier bewahrheitet sich das Wort, daß sich Extreme berühren. Schließlich paßt sein Aberglaube dennoch zu seinem Charakter, er will die überirdischen Mächte für seinen Vorteil ausbeuten — immer fürs Geschäft.

Was der Engländer auch thun will, immer wird erst das Schicksal befragt, und davon die That abhängig gemacht. Man wirft den Penny und macht die Entscheidung von »Kopf oder Wappen« abhängig. Ist der Penny aus einem Grabe oder von einem Ermordeten, so ist seine Antwort unfehlbar. In Londoner Straßen sieht man überall Frauen mit dressierten, kleinen Papageien stehen. Der Vogel pickt einen Zettel mit dem Schicksalsspruch auf, und diese Frauen machen glänzende Geschäfte. In der Commercial Street allein giebt es vier Lokale, richtige Geschäftsläden mit Schaufenstern, in denen aus der Hand gewahrsagt wird, und das Fabrikmädchen opfert dafür den letzten Sixpence, während vor den Häusern der berühmten Kartenlegerinnen Reihen von Equipagen halten. Schließlich wuchert in den Höchstei: Kreisen der Spiritismus in üppigster Blüte. In den vornehmen Zirkeln wird entweder Hasard gespielt, oder es werden Geister citiert, und das verzweigt sich natürlich bis ins engste Familienleben. Gladstone war Spiritist, die Leibkammerfrau der englischen Königin war früher ein professionsmäßiges Medium.

Der Schreiber dieser Zeilen wurde durch einen Vorfall in London, der viel von sich reden machte, veranlaßt, sich näher mit diesem britischen Geisterglauben zu befassen.

In Bow, das ist das alte, eigentliche London, spukt es gerade jetzt wieder einmal in einen: wegen Baufälligkeit schon seit Jahrzehnten leerstehenden Hause. Das ist nun etwas für den Engländer! Von abends sieben Uhr bis nachts zwei Uhr ist die ganze Straße schwarz von Menschen, alles steht da und starrt nach den Fenstern des verrufenen Hauses hinauf.

»Dort oben ist es gesehen worden. Da — da — Wo? Ich sehe nichts. — Ich auch nichts. — Da — da — da ist es wieder.«

So geht es fort und fort, und erscheint nun gar ein Licht am Fenster, so wird die Menge ganz begeistert.

Der Besitzer des Hauses wäre kein Engländer, wüßte er nicht gleich ein Geschäft daraus zu machen. Die Besichtigung des Spukhauses kostet nur einen Penny. Den opfert man gern. Wenn zwanzig Besucher zusammen sind — und das sind sie immer — geht die Geschichte los. Ein alter Mann, der selbst wie ein Gespenst aussieht, macht den Erklärer und Führer. Auf Filzschuhen schlurft er voran, in jeder Hand eine lange, dicke Kirchenkerze. Das Innere des Hauses ist sinnig mit Lumpen und einigen Wrackstücken von Möbeln dekoriert, Spinnen und Fliegen haben das übrige gethan.

Die Besucher drängen sich zusammen, die Frauen umschlingen sich, es wird nur noch geflüstert. Nun beginnt der Alte zu erzählen, und er versteht zu erzählen; er weiß alles am besten, denn er ist damals hier Hausknecht gewesen. Es ist die alte Geschichte von dem heimkehrenden Sohne, der sich den Eltern Spasses halber als Fremder vorstellt, bei ihnen schlafen will, ihnen Geld zeigt und von den braven Leuten ermordet wird. Dann erkennen sie den Sohn und erhängen sich.

Der Alte versteht prachtvoll zu erzählen. Eine Gänsehaut bekommt man beim Zuhören.

An diesem Tische haben sie zusammen gesessen — der Hausknecht bediente sie ja, er weiß auch, was sie aßen — dort zeigte er ihnen das Geld, in dem Zimmer auf dem Stuhle hat der Vater den Plan ausgeheckt.

»Und hier ist die Thür, welche in das Spukzimmmer führt, wo sie ihrem eigenen Sohne mit dem Beile den Kopf spalteten. Bitte, meine Herrschaften, der Eintritt kostet heute nur einen Schilling.'

Die Leute befinden sich schon in einer derartigen Verfassung, daß sie ohne Bedenken den Schilling hingeben. Wenn sie keinen haben denn es sind meistenteils Arbeiter und Fabrikmädchen, laufen sie nach Hause, holen einen, oder treiben ihn sonstwie auf, und wohnen einer späteren Vorstellung bei.

Geister bekommt man natürlich auch im Spukzimmer nicht zu sehen. Aber es rieselt ja in der Wand, es knackt einmal in der Diele, das Licht zittert an der Wand — und was will man denn mehr?

Ja, nun geht's aber erst in den Keller, wo der Sohn verscharrt wurde! Ehe der große Schlüssel das rostige Schloß öffnet, wird wieder ein Sixpence verlangt. Na, den opfert man gern auch noch.

Oben hat man die beiden Nägel angestarrt, an dem die Eheleute hingen, hier unten kann man ein Loch bewundern. Dann geht man befriedigt nach Hause und erzählt haarsträubende Dinge, was man alles gesehen hat, und immer neue strömen hinein, denn das Gruseln ist ja zu schön. Wer aber nicht befriedigt ist, sondern sich über das weggeworfene Geld ärgert, der erzählt erst recht haarsträubende Dinge, damit andere auch hineinfallen.

Damit rechnet der schlaue Eigentümer des Hauses von vornherein, für Reklame braucht er keinen Pfennig auszugeben. Er soll jede Nacht zwanzig Pfund einnehmen, was gern zu glauben ist. Bei dem in England grassierenden Aberglauben macht eben jedermann glänzende Geschäfte, der darauf zu spekulieren weiß.