Ein stummes Opfer.
Erzählung aus dem indischen Aufstande
von
Robert Kraft.
Robert Kraft.
Buch für Alle, 1898
Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
(Nachdruck verboten)
Sir John Murrim verwünschte sein Unglück, daß er gerade jetzt, da sich seine Nachbarn bei dem prächtigen Herbstwetter an Fuchsjagden ergötzten, als Patient das Zimmer hüten mußte. Vor einigen Wochen war sein Pferd beim Nehmen einer Hecke gestürzt und hatte als es sich aufzurichten versuchte, dem neben ihm liegenden Reiter stark das Knie gequetscht. Es konnten abermals Wochen vergehen, ehe der vorläufig am Stock hinkende Gutsbesitzer wieder ein Pferd besteigen durfte, und so lange dies nicht möglich war, fühlte er sich als ein unglücklicher Mensch.
Seine Nachbarn lud er nicht ein, ihm die langweiligen Stunden verkürzen zu helfen. Er wußte, daß sie seiner Aufforderung nachgekommen wären, um ihn nicht zu beleidigen, aber er war zu rücksichtsvoll, um sie jetzt, da alle freie Zeit dem Sport gewidmet wurde, diesem zu entziehen. Seine Tochter Isabel versuchte zwar so gut als möglich dem murrenden und knurrenden Vater die Zeit durch Vorlesen und Plaudern zu vertreiben, aber sie war doch eben nur ein Weib, und ein vernünftiges Gespräch mit ihr über Jagd und Rennen nicht möglich.
Welche Freude daher, als eines Nachmittags unvermutet fünf benachbarte Gutsbesitzer, den im Lehnstuhl sitzenden Kranken besuchten! Zwei von ihnen waren spezielle Freunde des Wirtes, mit denen er in Indien als Offizier gestanden hatte. Bis zum Nachtessen drehte sich das Gespräch natürlich nur um die stattgefundenen Fuchsjagden um neu gekaufte Pferde und Ähnliches, erst die bei Tisch erscheinende Isabel nötigte die Herren zu anderer Unterhaltung
Nach der Mahlzeit als die Gesellschaft gemütlich bei Wein und Porter am Kamin saß, in welchem bereits des kühlen Wetters wegen bereits ein Holzfeuer brannte, ereignete sich ein Vorfall, der ein neues Gesprächsthema anregte. Einer der Gäste warf durch eine ungeschickte Armbewegung eine brennende Lampe vom Seitentisch herab, worüber die junge Tochter des Hauses laut aufschrie und, obgleich die Sache ganz ungefährlich verlief, noch lange mit blassem Gesicht dasaß. Sie mußte den gutmütigen Spott der Herren über ihre Schreckhaftigkeit erdulden, und der Hauswirt machte Bemerkungen, wie sehr das weibliche Geschlecht dem männlichen doch an Mut nachstünde.
Jener Herr jedoch, welchem das Missgeschick mit der Lampe passiert war, und dessen ganze Erscheinung den ehemaligen Offizier verriet, schien anderer Meinung zu sein.
»Mut?« fragte er. »Was verstehen Sie unter Mut, Sir John?«
»Nun, eben — Mut — Tapferkeit, Unerschrockenheit.«
»Nun wohl, ich behaupte, daß die meisten Frauen ein ebenso tapferes Herz besitzen als die Männer, nur daß ihnen weniger Gelegenheit geboten ist, es zu zeigen.«
»Bravo, bravo!« rief Isabel erfreut und klatschte in die Hände. »Brechen Sie eine Lanze für mich und meine Schwestern.«
»Daß eine Frau aufschreit,« fuhr ihr Verteidiger fort, »wenn plötzlich ein Schuss fällt oder eine Maus an ihr vorbeiläuft, ist nur eine Folge ihrer feineren Nerven; der feigste Bursche bleibt ruhig dabei sitzen. Zwischen Mut und Feigheit kann man überhaupt keine so scharfen Grenzen ziehen. Ich kannte Soldaten, welche mit vor Angst schlotternden Knien in die Schlacht gingen, und sich dann wie die Löwen schlugen. Als Helden wurden sie empfangen, und waren im Grunde genommen doch nur Feiglinge, die zuschlugen, um ihr Leben zu retten. Und das müssen Sie mir doch zugeben, meine Herren, das Frauen durch Taten, die der Mutterliebe entspringen, manchmal den kühnsten Mann in den Schatten stellen.«
»Das sind Impulshandlungen wurde ihm erwidert, »die Frauen folgen der Eingabe des augenblicklichen Gefühls, ohne dabei die Gefahr zu sehen. Und wenn die Frau Mut zeigt — Ausnahmen natürlich abgerechnet —, so ist es mehr leidender Art, es ist also mehr Selbstverleugnung.«
»Selbstverleugnung, das ist das richtige Wort,« rief Isabels Verteidiger lebhaft, »in der Selbstverleugnung liegt der höchste, der edelste Mut, denn wer mit klarem Bewußtsein für die Rettung des Vaterlandes, einer anderen Person oder Zur Erreichung eines hohen Zieles sich und sein Leben opfert, der allein ist ein Held. Wer dagegen sein Leben in die Schanze schlägt, um sich zu bereichern, sei es an Geld, sei es an Ehre bei Lebzeiten, der ist wohl ein Mutiger, alter kein Edler, kein Held. Wer nun von Ihnen, meine Herren will leugnen, daß die Frauen uns Männern an Selbstverleugnung ebenbürtig sind? Ihre Selbstverleugnung tritt nur in anderer Weise und bei anderen Gelegenheiten zu Tage, als bei uns. Ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen, die das ins hellste Licht stellt. Sie haben erfahren, meine Herren, daß Colonel Stuart in Indien gestorben ist?«
»Malcom Stuart, Colonel von 2. bengalischen Kavallerieregiment?« warf jetzt der dritte Offizier des Kreises ein.
»Derselbe.«
»Ich entsinne mich seiner noch sehr lebhaft,« bemerkte der Hausherr. »Er war am Hofe zu Delhi immer in der Begleitung der indischen Prinzen, und das von ihm geführte Regiment war das beste von allen. Nie hatte ich einen schneidigeren Offizier in englischer Uniform gesehen.«
»Die Geschichte ist wohl recht traurig ?« fragte Isabel.
»Sehr traurig — und sehr schön. Die Heldin darin ist ein Weib, die sich selbst opferte, um den Geliebten zu retten. Hören Sie nur.«
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*
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Zu jener Zeit, im Frühling 1857, als der große Aufstand in Indien ausbrach, diente Malcom Stuart als Leutnant in einem aus eingeborenen Soldaten bestehenden Regiment, welches in Gwalior stand. Natürlich gelangten auch dorthin aufregende Nachrichten über Unruhen unter den Eingeborenen. Aber die wenigsten Engländer dieses Regiments, Offiziere, Unteroffiziere und eine kleine Abteilung Gemeiner glaubten, daß etwas Ernsthaftes daraus würde, und da der Radscha des Bezirks selbst - Sindia hieß er — ihnen mit der größten Freundschaft begegnete, so bezweifelte man nicht, daß er, mit seinen Leuten den Engländern in jeder Gefahr beistehen werde.
Die Offiziere machten sich also keine Sorgen über die Gerüchte, sondern gaben sich nach wie vor dem Dienste und den Vergnügungen hin, ließen die englischen und einheimischen Soldaten exerzieren, spielten Ball und arrangierten öfters kleine Festlichkeiten. Der Liebling der ganzen Garnison war Malcom Stuart. Die Leute verehrten ihn als den kühnsten Reiter, Schützen, Fechter und den leutseligsten Menschen wie einen Gott, die Offiziere hatten keinen treuherzigeren, aufopfernden Kameraden als ihn, und die Damen, welche ihren Gatten und Vettern nach Indien gefolgt waren, behaupteten, die Freude vermeide das Fest, wenn Stuart nicht anwesend sei. Es gab auch keinen besseren Gesellschafter als Stuart: immer heiter, witzig, unterhaltend, vor Lebenslust übersprudelnd, selbst dann, wenn die anderen Offiziere manchmal dem heißen Klima glaubten erliegen zu müssen.
Etwa vier Monate bevor der Aufstand ausbrach, erfuhr Stuart, daß ein Tiger in einem acht bis zehn Meilen entfernten Dorfe eine Reihe von Überfällen ausgeführt habe, und sofort war er bereit, dem Unhold den Garaus zu machen, denn die Eingeborenen jenes Dorfes natürlich beteten und murmelten Zauberformeln, dachten aber nicht daran, dem Fürsten der Dschungeln auf den Leib zu rücken. Begleiter zu diesem Jagdausflug konnte Stuart nicht gewinnen, ein Teil der Offiziere war auf Urlaub, und die anwesenden wollten des entsetzlich heißen Wetters wegen nicht mitgehen. Der junge Offizier brach also allein auf, nur von seinem eingeborenen Diener Namal, ebenfalls einem bewährten Tigerjäger, begleitet. Als er das Dorf erreichte, fand er die ihm hinterbrachten Nachrichten bestätigt; der Tiger hatte nicht nur eine Menge Vieh geraubt, sondern auch zwei Weiber überfallen, und unter den Dorfbewohnern herrschte namenloses Entsetzen.
An diesem Morgen war wieder eine Kuh zerrissen worden, und die Eingeborenen zeigten ihm die Stelle, wo der nur halb aufgefressene Raub in der Nähe eines hohen Baumes lag. Ohne Zweifel kehrte der Tiger des Nachts zurück, um seine Mahlzeit zu vollenden. Mit Anbruch der sehr dunkel werdenden Nacht nahm Stuart also nebst Namal auf dem Baume Platz; der Tiger kam, Stuart schoss und verwundete das Tier nur, welches nachdem bewaldeten Hügellande floh. Jetzt begann ein richtiges Kesseltreiben. Die Dorfbewohner bewaffneten sich mit Gongs, Blechtöpfen, Pfannen, Schüsseln, Tellern und anderen Lärminstrumenten, umstellten die Schlucht und machten einen Höllenspektakel, um den Tiger abzuhalten, das Weite zu suchen, denn der Tiger fürchtet solchen Lärm mehr als den Jäger mit der Büchse. Inzwischen durchstöberte Stuart die Büsche und sonstigen Schlupfwinkel der Schlucht, das Gewehr immer schussbereit hinter sich nur den treuen Namal mit einer Reservebüchse.
So erfahren die beiden Jäger auch waren, sie sollten doch getäuscht werden. Plötzlich raschelte es im Laub, und ehe Stuart noch an den Gebrauch seiner Büchse zu denken vermochte, sah er einen großen gelben Körper durch die Lust sausen. Der durch die Schmerzen furchtbar gereizte Tiger war ohne vorheriges Knurren auf seine Gegner gesprungen. Mit einer gewaltigen Kraft wurde Stuart zu Boden geschleudert, sein Gewehr entlud sich und flog zwischen die Büsche. Aber er selbst war vollkommen unverletzt und stand im nächsten Augenblick wieder auf den Füßen; dicht hinter ihm lag Namal und auf ihm kniete der Tiger, so nahe, daß Stuart ihn mit der Hand erreichen konnte.
Ohne einen Augenblick zu zaudern, zog der junge Offizier sein Jagdmesser und stieß es dem Tier mit aller Kraft ins Genick. Mit einem Schmerzensschrei ließ dass Tier sein Opfer fahren, und ehe Stuart den Stoß wiederholen konnte, lag er am Boden, und Brust und Schultern waren ihm von einigen Schlägen der furchtbaren Tatzen zerfleischt.
Er hörte noch einen Knall fühlte, wie sich des Tigers Klauen krampfhaft zusammenzogen, wie er über ihn hinrollte, sah noch, wie der blutüberströmte Namal, der sich wieder aufgerichtet hatte, mit der noch rauchenden Büchse in der Hand zusammenbrach, und dann verließ ihn das Bewußtsein.
Als er wieder die Augen öffnete, lag er in einem bequemen Bett und sah sich in einem Zimmer, das seiner Ausstattung nach einem wohlhabenden indischen Hause angehörte. Eben huschte eine weibliche Gestalt zur Tür hinaus. Neben ihm stand ein ältlicher Indier, in Kleidung und Sprache den vornehmen Mann verratend.
Des Offiziers erste Frage galt seinem treuen Diener.
»Auch er ist wohl verpflegt«, war die Antwort »und wird dem Leben erhalten bleiben. Du bist bei Freunden, Sahib, dieses Haus und alles, was darin ist, steht zu deiner Verfügung. Ich und meine Familie werden dich wie meinen Sohn pflegen.«
Noch waren keine zwei Stunden vergangen, als schon der Regimentsarzt und zwei befreundete Offiziere vor seinem Bett standen. Der Indier hatte sofort einen reitenden Boten ins Lager geschickt. Die Untersuchung ergab tüchtige Fleischwunden, welche ehrenvolle Narben zu hinterlassen versprachen, und einen Armbruch. Wenn sich der Patient geduldig den ärztlichen Maßregeln füge, könne er vielleicht in vier Wochen das Bett verlassen, an einen Transport nach dem Quartier sei jetzt nicht zu denken; so lautete das Urteil des Arztes.
Der Herr des Hauses, in dem Stuart Aufnahme gefunden hatte, war ein Brahmane, der in stiller Zurückgezogenheit seine Tage verlebte. Er hasste die Engländer als die fremden Herren, war aber ein edler Mann und sah jetzt in dem Verwundeten nicht den englischen Offizier, sondern nur den hilfebedürftigen Menschen.
Wie der Arzt vorhergesagt hatte, verging ein Monat, ehe Stuart fähig war, nach Gwalior zurückzukehren. Während dieser Zeit hatte ihn der Brahmane gepflegt, als wenn er ein Glied der Familie gewesen wäre. Obgleich dieser sich in Gewohnheiten oder in der Kleidung von den anderen Brahmanen nicht unterschied, war er doch ihnen an Bildung weit überlegen, und seine Frau und Tochter bewegten sich im Hause völlig ungebunden. So kam es, daß Stuart selbst das liebreizende Antlitz der Brahmanentochter sah — zu ihrem Unglück.
Kuntis Hautfarbe war nicht dunkler als die einer Spanierin, und sie verband mit der sanften Anmut des indischen Weibes die Entschlossenheit und den Mut eines Mannes.
Es war das erste Mal, daß Kunti mit einem Europäer verkehrte, und nur aus englischen Büchern, die ihr der Vater in vorsichtiger Auswahl zur Verfügung stellte, hatte sie etwas über europäische Verhältnisse erfahren. Man hatte ihr von dem zartesten Kindesalter an eingeprägt, die Engländer zu hassen, als Unterdrücker und Feinde ihres Heimatlandes.
In Kuntis Phantasie war ein englischer Soldat ein roher, stolzer Mann, Frauen gegenüber hart und anmaßend, und mit ebenso hässlichen Leidenschaften im Frieden, als furchtbar im Kampfe.
Beim ersten Anblick des verwundeten Offiziers war sie entsetzt gewesen, dann hatte das Mitleid die Oberhand gewonnen. Was war denn an diesem Manne mit dem männlich-schönen Antlitz Hassenswertes zu finden? Bleich und leblos, wie er jetzt dalag, konnte er ihr weder roh noch anmaßend begegnen; aber nein, er errötete ja selbst und wurde verlegen, als er sie sah. Ihr Vater hatte ihr nicht zu befehlen brauchen, den Engländer zu pflegen, weil er hilfebedürftig sei und ein indisches Dorf von dem Tiger befreit habe, sie that es schon aus eigenem Herzensdrang.
Und Malcolm Stuart?
Wenn man an einer schweren Wunde hilflos und schwach auf dem Bett liegt, da wird man plötzlich ein anderer Mensch, da wird der Wildeste und Ungestümste sanft. Man hat Zeit zum Grübeln, man stellt Betrachtungen an, man findet mit einem mal, wie schön doch die Staubfäden einer Blume sind, wie zierlich doch die Fliege die Flügelchen putzt — alles Sachen, die man hatte schon längst beobachten können; aber erst jetzt kommen sie zum Bewußtsein, und man wundert sich über seine bisherige Blindheit. So entdeckte auch Stuart plötzlich, wie schön doch die Gesichter dieser bisher von ihm verachteten indischen Frauen seien, wie klein, zart und rund die Hand, wie fein das Näschen, wie samtartig die bräunliche Haut, wie seidenweich die langen Wimpern der dunklen Augen. Alle diese Entdeckungen hielt er für wunderbar; er war unsäglich glücklich und wünschte sich nur, daß er immer so liegen und von Kunti gepflegt werden könne. Der Besuch des Arztes und seiner Freunde wurde ihm störend, er erwartete die Minute, wo sie sich entfernten und Kunti wieder hereinkäme.
So vergingen zwei Wochen, und keines von beiden hatte noch von Liebe gesprochen Aber was half das Schweigen des Mundes? Als ob der leise Druck, mit welchem Stuart der Pflegerin die Tasse aus der Hand nahm, als ob die Blumen, welche Kunti jeden Morgen unter Erröten auf sein Bett legte, die zärtlichen Blicke, die einander begegneten, der nachfolgende Augenniederschlag, das Suchen der Hände, das zufällige streifen des Haares - als ob dies nicht alles ebenso deutlich wie Worte gesprochen hätte! Und aus den Mienen und Blicken wurden endlich doch Worte, die Blumen brauchten nicht mehr als Vermittler der Küsse zwischen diesem und jenem Munde zu dienen.
Günstig war es für die Liebenden, daß die Mutter, die stets anwesend war, nicht englisch verstand. Natürlich übersetzte ihr Kunti jedes Wort, daß der Kranke sagte, und wiederum die Fragen der Mutter diesem — aber wie!
Wenn Kunti früh morgens das Zimmer betrat und Stuart sagte: »Endlich! Ich habe den Augenblick nicht erwarten können, wo ich dich, Herzallerliebste, sehe,« so übersetzte sie dies in: »Der Sahib wünscht, daß die Vorhänge geschlossen werden. Dies Licht blendet ihn.« Die Mutter führte den Wunsch aus — hinter ihrem Rücken ein verstohlener Händedruck »Frage den Sahib«, sagte dann die Mutter, »ob er jetzt etwas zu trinken wünscht.« Diese Übersetzung lautete: »Du Guter, du Lieber; hast du dich so nach mir gesehnt?« Und Stuart: »Ach, könntest du die Mutter einmal entfernen, ich habe dir etwas so Wichtiges mitzuteilen!« Darauf übertrug Kunti dieses der Mutter ins Indische: »Der Sahib bittet dich um eine Limonade, du möchtest sie ihm aber selbst bereiten; deine schmecke ihm immer am angenehmsten.«
Für solches Lob ist auch eine indische Hausfrau nicht unempfänglich, die Mutter eilte hinaus, stolz, die Mischung der Ingredienzien am besten zu verstehen. Die beiden lauschten, bis der Schritt verklungen. Dann lag plötzlich Kunti auf den Knien vor dem Bett, nahm Stuart's Kopf in beide Hände, sie küßten sich und sagten sich gegenseitig die wichtige Mitteilung die sie sich schon hundertmal gemacht hatten, daß sie sich liebten und noch mehr als gestern.
Kam die Mutter mit der Limonade wieder herein, so stand Kunti am Krankentischchen und zählte mit ernsthaftem Gesicht die Medizintropfen in dem Löffel ab. Die gute Frau merkte nichts, dem strahlenden Blick des Patienten hielt sie für fieberhaft
Aber das Alleinsein wurde auch zu ernsten Gesprächen benutzt. Wie sollte sich die Zukunft der Liebenden gestalten? Traurig schüttelte Kunti den Kopf, wenn der junge, sorglose Offizier diese so hoffnungsvoll schilderte. Sie wußte wohl, daß ihre Liebe niemals vom Vater gebilligt werden würde, sie kannte sein Vorurteil gegen die Engländer nur zu genau, und sie merkte auch, wenn er dein Kranken seinen täglichen Besuch machte, daß er zu ihm als Gast wohl freundlich sprach, sich aber kalt gegen den Briten verhielt.
Der lebensfrohe Stuart teilte ihre Sorgen nicht, er sah die Zukunft in den rosigsten Farben. Fester Wille und vor allen Dingen treue Liebe setzest alles durch, und so zweifelte Stuart nicht, vom Vater das Jawort doch noch zu erlangen. Stieß er sich an der englischen Uniform — wohl, Stuart war bereit, sie auszuziehen und auf seinen Besitztümern als fleißiger Landwirt zu leben. Aus Liebe zu Kunti hätte er alles getan. In stiller Nachtstunde malte er sich das Glück aus, das er an ihrer Seite zu genießen hoffte. Kunti unterschied sich durch ihre Bildung von allen anderen indischen Frauen, die er bisher kennen gelernt, er konnte sie getrost in die vornehmen Kreise einführen, in welchen er verkehrte und wie würde man Kuntis blendende Schönheit bewundern, die erst richtig zur Geltung kommen mußte, wenn sie ihr dunkles indisches Gewand mit einer glänzenden Toilette vertauscht hatte.
Stuart wartete auf eine Gelegenheit, um sich dem Brahmanen zu erklären — und wartete vergebens. Er merkte nicht, daß Kunti selbst es war, welche jede Unterredung über diese Sache vereitelte. Die Zeit verging, Stuart nahm Abschied von dem gastfreundlichen Haus, ohne in der letzten Stunde mehr als einen liebevollen Blick mit Kunti wechseln zu können.
Etwa wieder einen Monat später war Stuart so weit hergestellt, daß er den Rücken eines Pferdes besteigen konnte. Sein erster Ritt brachte ihn in das Haus des Brahmanen. Zu seinem Missvergnügen empfing ihn dieser sehr kühl und gestattete ihm nicht den Anblick der Damen. Beim Abschied endlich fühlte Stuart deutlich heraus, wie unangenehm dem Brahmanen sein Besuch sei, ferner, daß er als Verwundeter wohl Gastfreundschaft gefunden hatte, daß aber jetzt ein vertraulicher Umgang mit der Familie nicht mehr gewünscht werde.
Am nächsten Tag schrieb der verliebte Offizier dem Brahmanen einen Brief, worin er ihn um die Hand seiner Tochter bat. Er sagte, daß er im Stande sei, Kunti mit allem Luxus zu umgeben, den sie vom Hause aus gewohnt, daß er sie glücklich zu machen hoffe, und seine Liebe zu ihr sei so groß, daß er beschlossen habe, den Militärdienst aufzugeben, um sich ganz ihr zu widmen.
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Der Brahmane schrieb, daß seiner Ansicht nach die verschiedene Religion und der Unterschied der Abstammung ein unübersteigliches Hindernis für einen solchen Ehebund sei.
Aber Stuart war nicht der Mann, einen Entschluß fahren zu lassen, zu dessen Ausführung ihn sein Herz trieb. Liebesboten kann man für Geld ebensogut in Indien erhalten als irgendwo anders, und so wanderten zwischen dem Lager und dem Haus des Brahmanen fortwährend Briefchen hin und her, die einen von einer kräftigen Männerhand geschrieben, die anderen mit zierlichen Schriftzügen bedeckt. Anfangs enthielten sie nur Schwüre von ewiger Liebe, nach und nach wurden die Stuarts dringlicher, und eines Tages fragte er zum ersten mal offen, ob sie bereit sei, auch ohne Einwilligung des Vaters ihm die Hand zu reichen.
Kunti sagte nach schwerem inneren Kampfe zu, und schon war alles aufs genaueste verabredet, als die erste Kunde von dem Aufstande in einer entfernten Garnison kam. In Barrackpur hatte eine Empörung der eingeborenen Offiziere und Soldaten stattgefunden, aber in Gwalior fürchtete man nichts. Radscha Sindia war der englischen Krone zu sehr ergeben.
Eines Tages kam ein atemloser Bote zu Stuart mit einem Briefe von Kunti. Sie schrieb in hastig hingeworfenen Zügen: »Hüte Dich Malcolm, meine Brüder sind hier und führen mit dem Vater lange und heimliche Gespräche. Mir als Feinde Englands bekannte Männer gehen bei uns ein und aus. Waffen werden gesammelt und heimlich unter die Bauern verteilt. Unteroffiziere, die früher bei euch gedient haben, exerzieren die Leute ein. Man hegt gegen mich Argwohn, ich werde bewacht. Erfahre ich mehr, versuche ich, es Dir mitzuteilen.«
Stuart zeigte das Schreiben sofort dem Oberst. Ungläubig lächelnd schüttelte dieser den Kopf und sagte: »Ich bin Ihnen sehr verbunden für die Warnung, und werde meine Augen offen halten. Aber ich kann nicht anders glauben, als daß die junge Dame übertreibt oder sich irrt. Der Radscha von Gwalior ist und treu ergeben, für den bürge ich mit meinem Kopf, und dasselbe mochte ich fast für jeden einzelnen unserer eingeborenen Offiziere thun. Doch natürlich, ich werde keine Vorsichtsmaßregel unterlassen.«
Schließlich gewann auch Stuart seine Sorglosigkeit wieder, neue Nachricht von Kunti kam nicht. Dieser blinde Glauben der Engländer an die Treue der eingeborenen Soldaten war daran schuld, daß der indische Aufstand so furchtbar wurde. Nicht weniger der englische Hochmut, der sich über die Stimmung der beherrschten Bevölkerung hinwegsetzen zu können glaubte. Dazu kam noch die Unwissenheit in Bezug auf indische Zustände. Das rächte sich schwer.
Während von allen Seiten Berichte über entsetzliche Metzeleien nach Gwalior einliefen, blieb dieses selbst ruhig, und so konnte man wirklich nicht an der Ergebenheit der eingeborenen Soldaten zweifeln. Endlich aber erfolgte auch hier die furchtbare Explosion.
Stuart war eines Abends spät aus dem Kasino in sein Quartier zurückgekehrt, als ihm ein Diener meldete, es warte bereits seit einigen Stunden auf ihn ein Weib, das ihn dringend zu sprechen wünsche. In der Meinung es handle sich wie so oft um eine Bitte für einen zu bestrafenden Soldaten rief Situart in kurzem Tone der auf der Veranda hockenden Gestalt zu, hereinzukommen und schraubte die Lampe höher. Zu seiner Überraschung schloß das Weib, einfach wie eine indische Bäuerin gekleidet, sorgfältig die Türflügel hinter sich, zog das Tuch vom Gesicht und vor ihm stand Kunti.
»Ich fürchte, ich komme zu spät«, stieß sie hastig hervor, die Liebkosung des Überraschten abwehrend, ich habe beinahe zwei Stunden auf dich gewartet. Rette dich, Malcom, unsere Leute sind im Aufruhr. Um Mitternacht bricht er los — da!« schrie sie plötzlich auf und umschlang den Geliebten, »zu spät! zu spät!«
Ein Kanonenschuss donnerte durch die stille Nacht. Wie versteinert stand Stuart da, er glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen. Der Kanonenschuss schien alle Geister der Hölle entfesselt zu haben. Schüsse krachten aus allen Richtungen, Kommandos erschollen, das indische Kampfgeschrei gellte. Stuart sprang auf die Veranda: eine Menge dunkler Gestalten hatten das Kasino umzingelt, in welchem noch fast alle Offiziere versammelt waren, andere stürmten auf die Mannschaftsbaracken zu. Jetzt stürzte der Oberst im bloßen Kopf aus dem Kasino, eine Gewehrsalve knatterte — er sank mit zerschmettertem Schädel nieder.
»Rette dich, Malcolm!« flehte das Mädchen. »Du kannst hier nicht mehr helfen.«
Das sah Stuart selbst ein. Mit einem Sprunge stand er wieder in der Stube und griff nach Degen und Revolver. Sein Blick fiel auf Kunti.
»Und du, Kunti? Bist du hier in Sicherheit?«
»Nein, und wenn ich's wäre — ich kenne keinen anderen Weg als den deinen.«
Sie rannten beide Hand in Hand aus der Hintertür des Hauses durch ein kleines Buschwerk und längs des Walles weiter. Glücklicherweise führte ihr Weg immer durch Wald, so daß sie auch im Scheine der jetzt auflodernden Baracken nicht gesehen werden konnten. Im Lager knallten noch fortwährend Schüsse, vermischt mit dem Siegesgeschrei der Indier.
Vorläufig fühlte sich Stuart in Sicherheit, mäßigte seinen Lauf und ließ sich von Kunti erzählen. Sie hatte an diesem Morgen erlauscht, wie der Aufstand in Gwalior um Mitternacht mit dem Signalschuß losbrechen sollte. Alle indischen Soldaten beteiligten sich daran, nur Sindia war nicht in die Pläne der Verschwörer eingeweiht worden. Kunti konnte den Geliebten nicht früher warnen, denn sie wurde scharf bewacht, seit man erfahren hatte, daß sie mit einem englischen Offizier in Briefwechsel stand, wenn auch kein Brief selbst in unrechte Hände gefallen war. Dennoch gelang es ihr, am Abend im Schutze der Dunkelheit aus dem Hause zu schlüpfen. Glücklicherweise traf sie ganz in der Nähe ihre alte, treue Amme, durch deren Oberkleid sie sich unkenntlich machte. Im Hause wurde sie sofort vermisst, denn sie konnte noch ihren Namen rufen hören und sehen, wie Lichter durch ihre Zimmer huschten. Dann wurde sie auf der Landstraße nach Gwalior verfolgt, aber sie betrat die Landstraße nicht wieder, sondern arbeitete sich durch die Baumwollfelder weiter. Im Lager der Engländer war Stuart nicht zu finden, der Diener wollte seinen Aufenthalt nicht kennen. Wie sollte sie zu ihm gelangen? Sie beschloß zu warten, bis er heimkehre.
Es waren zwei fürchterliche Stunden gewesen. Die Zeit schritt vorwärts, näher und näher kam Mitternacht, und der Geliebte blieb aus. Als er endlich kam, fiel bereits der Signalschuß, und das eben war Stuarts Rettung. Die unerfahrene Kunti wußte ja nicht, daß der junge Offizier rechtzeitig gewarnt, auf keine Flucht eingegangen wäre, sondern sich mit den anderen Engländern verbarrikadiert und bis zum letzten Atemzuge seine Stellung behauptet hätte. Nach dem Signalschuß aber gab es nichts anderes mehr als Flucht, denn was konnte die Handvoll völlig überraschter Engländer gegen die Rebellen ausrichten?
Sie gingen noch eine Stunde, und Kunti, welche in ihrem ganzen Leben noch nie eine größere Fußtour gemacht hatte, war bald völlig erschöpft. Stuart fühlte, wie schwer sie an seinem Arm hing, mit welcher Mühe sie sich aufrecht hielt, und ermunterte sie, nur noch bis zu dem kleinen, vor ihnen liegenden Wäldchen auszuharren.
Dort sank das Mädchen zu Boden unfähig, einen Schritt weiterzugeben. Stuart zog seinen Waffenrock aus, bettete ihr Haupt darauf, und alsobald war sie entschlummert. Er selbst lehnte sich an einen Baum und verbrachte die ganze Nacht wachend. Traurige Gedanken waren es, die ihm den Schlaf verscheuchten. Er sah sich und das Mädchen in einer ganz verzweifelten Lage. Jedenfalls waren gleich ihm noch andere der Metzelei entkommen, und gewiss durchstreiften schon Verfolger die ganze Umgebung, um etwaige Flüchtlinge niederzumachen. Jedoch unter diesen Befürchtungen jubelte und frohlockte er bei dem Gedanken, daß Kunti alles aufgeopfert hatte, um ihn zu retten.
Als der Morgen dämmerte, sah er eine Abteilung Reiter über das Feld sprengen: sie spähten nach Flüchtlingen. Stuart weckte die Geliebte und trug sie tiefer in das Gehölz, denn die Füße waren ihr wie gelähmt. Dort blieben sie bis zum Nachmittag. Die Verfolger hatten sich entfernt, aber der Hunger, noch ärger der Durst begann die Flüchtlinge zu quälen. Jetzt mußten also Nahrungsmittel beschafft werden. Kunti fand die Sache sehr einfach: sie ging in das nächste Dorf, das man von hier aus sehen konnte, kaufte soviel Speise, daß sie für mehrere Tage genug hatten, und brachte auch einen Krug Wasser mit. Stuart blieb hier im sicheren Versteck.
Zuerst konnte Stuart sich nicht entschließen, die Geliebte von sich zu lassen, bis ihm Kunti begreiflich machte, daß für sie keine Gefahr vorläge, so lange er sich nicht in ihrer Begleitung befände. Sie war ja ein indisches Weib. Schließlich kam Stuart selbst zu der Ansicht, daß sie als Indierin unbelästigt das Dorf betreten und verlassen würde, und ließ sie gehen.
Hätte Stuart geahnt, daß die Meuterer im Lager von seinen Diener benachrichtigt worden waren, ein eingeborenes Weib habe auf den Offizier in dessen Wohnung gewartet und sei mit ihm geflohen, er würde das Vorhaben Kuntis unter allen Umständen verhindert haben.
Zwei Stunden später hörte der Offizier in nicht allzu großer Entfernung von seinem Versteck lautes Sprechen; er konnte die Worte nicht verstehen, aber sie schienen in drohendem Tone ausgestoßen zu werden. Er machte den Revolver schussbereit und zog den Degen, um jeden Augenblick den Verzweiflungskampf aufnehmen zu können. Jetzt horte er zwischen den männlichen Stimmen die eines Weibes. Atemlos lauschte der junge Offizier. War es Kunti? Er konnte es nicht unterscheiden. Aber kein Schrei, kein Hilferuf ertönte, dass Weib sprach in ruhigem Tone: einmal lachte sie, dann hörte man wieder die zornigen Männerstimmen, bis auch diese schwiegen.
Stuart seufzte erleichtert auf. Wenn es Kunti gewesen war, so hatte sie ein Verhör gut bestanden und war verschont worden. Jetzt galt es für ihn, sich den Verfolgern zu entziehen, denn diese begannen den Wald abzusuchen Zweimal kamen sie dicht an seinem Versteck vorbei, entdeckten ihn aber nicht.
Mit Anbruch der Dämmerung herrschte wieder vollkommene Ruhe in dem Wäldchen. Er wartete noch eine Viertelstunde, dann schritt er, unfähig, seine Ungeduld und Sorge um Kuntis Ausbleiben zu bemeistern, jener Stelle der Waldesgrenze zu, an welcher sie ihn verlassen hatte; auf den Feldern war keine Gestalt zu sehen. Er kehrte zu dem Schlupfwinkel zurück, in der Hoffnung daß Kunti bereits von einer anderen Richtung her diesen aufgesucht habe. Sie war noch nicht da. Dann begab er sich nach jener Stelle wo er zuerst die drohenden Worte vernommen hatte.
Als er sich dem Platze näherte, sah er etwas auf der Erde liegen. Mit einem Schrei sprang er hinzu — es war Kunti, tot, buchstäblich in Stücke zerhackt.
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Der Erzähler schwieg und blickte, wie seine Zuhörer, in die verglimmenden Holzscheite des Kamins.
»Aber warum in aller Welt hat sie denn nicht Stuart zur Hilfe herbeigerufen?« unterbrach endlich Sir John das drückende Schweigen. »Sie wußte doch, daß er ganz in ihrer Nähe war.«
»Warum nicht, fragst du,« flüsterte Isabel mit zuckenden Lippen »ich kann es begreifen.«
»Ich glaube es Ihnen, Miß Isabel und auch Stuart wußte sofort, warum sie ihn nicht gerufen hatte,« sagte der Erzähler. »Das nähere erfuhr er viel später.« Der Hergang war folgender. In dem Dorfe, welches Kunti ausgesucht hatte, war ein starker Trupp Verfolger gewesen. Nachdem sie ihre Einkäufe besorgt hatte, verließ sie die Hütten, jedoch der Eingeborene, von dem sie die Nahrungsmittel erstanden hatte, bemerkte zu seinem Nachbar, daß sie eine Fremde und zwar ihren Händen nach eine vornehme gewesen sein müsse, und wunderte sich, wo die noch so spät des Tages herkäme und hinginge. Dieses Gespräch hatte einer der Verfolger vernommen und erzählte es seinen Kameraden wieder. Alle schlossen sofort, daß sie entweder jenes Weib sei, welches mit dem jungen Offizier geflohen war, oder, eine eingeborene Dienerin einer der Offiziersfrauen, welche ebenfalls der Metzelei durch Flucht entgangen waren. Sie setzten ihr nach und erreichten sie als sie eben den Waldessaum betreten wollte.
Kunti verlor die Fassung nicht, als man ihr ins Gesicht sagte, sie sei mit einem oder einigen Engländern aus dem Lager zu Gwalior geflohen, aber auch Leugnen half ihr nichts, denn wohin wollte sie mit dem vielen Proviant So blieb sie beharrlich dabei, von versteckten Flüchtlingen nichts zu wissen. Die Indier drohten ihr mit dem Tode, wenn sie ihnen den Schlupfwinkel nicht zeige — Kunti blieb standhaft. Da griffen die Wüteriche zur Folter. Sie brachten ihr Stiche in Gesicht und Brust bei, allein kein Schrei entschlüpfte den Lippen des heldenmütigen Mädchens, denn es wußte den Geliebten in der Nähe, wußte auch, daß er beim ersten Schmerzens- oder Hilferuf herbeigeeilt wäre, und das hätte seinen sicheren Tod bedeutet, denn was konnte er gegen diese Schar bis an die Zähne bewaffneten Männer ausrichten? So blickte sie unerschrocken in die blitzenden Dolche und empfing die Stiche der Mörder mit einem triumphierenden Lächeln — so opferte sie sich zur Rettung ihres Geliebten. Endlich traf ein mitleidiger Stich das Herz und beendete ihre Qualen. Die Unholde waren durch ihren Widerstand so erbittert, daß sie auch noch den toten Körper ihres Opfers mit den Schwertern zerhackten.
Als Stuart vor der Leiche seiner Braut stand, war ihm alles Vorhergegangene sofort klar. Tränenlos grub er mit Hilfe seines Degens ein Grab, bestattete Kunti und setzte seine Flucht fort. Mit zerfetzten Kleidern, Vor Überanstrengung und Seelenqualen halb wahnsinnig, dem Tode nahe, erreichte er Khanpur und gesellte sich, nachdem er wiederhergestellt war, dort zu Havelocks Truppenmacht. Während des ganzen Aufstandes focht er wie ein Verzweifelter, ohne die geringste Rücksicht auf sein Leben zu nehmen; unverkennbar suchte er den Tod. Als dann die englischen Truppen Mann gegen Mann mit den Aufständischen von Gwalior um den Sieg rangen, da wurde Kunti blutig von seinem Schwerte gerächt.
Seit jener Zeit war Stuart ein anderer; wohl war er nach wie vor der schneidige Offizier, aber niemals wieder sah man ihn lächeln, sein Herz blieb in dem Wäldchen von Gwalior, dort hatte er seinen Frohsinn begraben.«
Wieder trat eine lange Pause ein.
»Sie waren mit Stuart befreundet?« fragte dann der dritte Offizier des Kreise.
»Er war mein Freund, ich stand mit ihm in Gwalior und kannte Kunti. Auch ich entkam dem Gemetzel. ich glaube, ich bin der einzige, dem Malcolm seine Liebesfreuden und Liebesleiden anvertraute. Und nun, meine Herren, gestehen Sie: gehörte zu dieser Tat des indischen Mädchens nicht ebensoviel Mut, wie zu der Tat eines Arnold Winkelried?«
Die Herren bejahten durch Kopfnicken.
»Und glauben Sie nicht, daß es in Europa Tausende von Frauen gibt, welche ebenso handeln würden, wenn sie in gleicher Lage wären? Doch diese Frage möchte ich lieber an Sie richten, Miß Isabel.«
Isabel antwortete nicht, schluchzend verhüllte sie das Antlitz in den Händen, und das war auch eine Bejahung.