Im »Weißen Roß«.
von
Robert Kraft.
Robert Kraft.
Buch für Alle, 1900
Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart
1.
An der Ecke der Bow Common Lane und der Burdett Road in London steht ein großes, rotes Gebäude mit dem Schilde »White Horse«, das ist »Zum weißen Roß«, die besuchteste Restauration im ganzen Stadtviertel, für den Besitzer eine wahre Goldgrube, der sie jetzt für jährlich zweitausend Pfund Sterling verpachtet. Unten trinken Arbeiter und Fuhrleute Porter, Ale und Whisky, daneben befinden sich die Räume für ein besseres Publikum, das aber auch doppelte Preise zahlen muß, und oben sind die Weinstuben. Den ganzen Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht geht es in dem Riesenrestaurant ein und aus.
Ab und zu hört man noch von alten Leuten statt »Weißes Roß« den Namen »Mordhaus«, und forscht man weiter nach dem Grunde, so bekommt man eine merkwürdige Geschichte zu erfahren. In der That schwebt über diesem Hause das Geheimnis eines rätselhaften Ereignisses, das jahrelang die Bevölkerung Londons beschäftigte. Die Sache wurde von oben unterdrückt aufgeklärt wurde sie wenigstens offiziell nicht, man hatte Gründe dazu. Mancher, welcher von der Sache erzählt, behauptet noch jetzt, eine schlimme That sei nie gesühnt worden,
»Hier ist die Geschichte zugleich mit der Losung des Rätsels.
Vor dreißig Jahren sah es an jener Straßenecke ganz anders aus als jetzt, wo zwei breite, mit glänzenden Geschäftsläden besetzte Straßen am »Weißen Roß« zusammenlaufen. Wohl existierte dieses schon damals unter demselben Namen, aber es war ein elendes, baufälliges Häuschen, die Schenkstube eine niedrige Spelunke, und der Wirt mußte auf dem darangrenzenden Lande noch Ackerbau treiben, um sich ernähren zu können. Daher war die Restauration auch mit einem großen Hofe verbunden, mit Ställen und Scheunen die ganze Umgegend hatte ein ländliches Aussehen, und etwa hundert Meter entfernt, wo jetzt das Klubhaus der freiwilligen Artillerie steht, befand sich ein Ententeich.
Weiter hinunter in der Burdett Road war, wie noch heute, die Restauration »Kings Head«, das ist »Königskopf«, und der war schuld daran, daß das »Weiße Roß« immer leer blieb. Der »Königskopf« hatte nun einmal die ganze Kundschaft in der Umgebend, die Gäste bekamen dort die Thonpfeifen umsonst und regelmäßig ihr Weihnachtsgeschenk, man konnte daher der Stammkneipe doch nicht untreu werden, außerdem war dort ein nettes Wirtsehepaar, mit dem man sich unterhalten konnte, im »Weißen Roß« ein griesgrämiger Alter; dort eine saubere Stube, hier eine verräucherte Bude. Und so war eben der »Königskopf« stets gut besucht, während im »Weißen Roß« das Bier versauerte.
Grundstück und Haus gehörten einem reichen Brauer und Brenner, der die Restauration aber mit allen seinen Millionen auch nicht vorwärts bringen konnte. In England nämlich wird die Schankgerechtigkeit nicht einem Wirte übertragen, der sich nun ein Haus suchen kann nach Belieben, sondern sie wird für alle Zeit auf ein Grundstück erteilt; hier kann und muß Bier und Branntwein verkauft werden. Der Brauer konnte also kein Wohnhaus hinbauen lassen, er mußte immer wieder einen neuen Wirt als Pächter suchen, wollte er das Kapital nicht ganz brach liegen lassen, und um eine große Wirtschaft hinzusehen, dazu war keine Kundschaft vorhanden, diese wäre dein Königskopf doch treu geblieben.
Noch vor Ablauf des Kontraktes mußte der alte Pächter wegen rückständiger Zinsen herausgesetzt werden, er war bankrott. Unter prahlerischen Annoncen wurde ein neuer gesucht, und schließlich fand sich auch ein solcher, der gegen eine Kleinigkeit das Weiße Roß wiederum auf zehn Jahre übernahm. »Die Dummen werden eben nicht alle,« sagte man mehr bedauernd als spöttisch im Königskopf, als der arme Mann mit seiner kleinen Habe einzog und die Wirtschaft übernahm.
Jim Carpenter sah auch gar nicht danach aus, als hätte er das Pulver erfunden; noch weniger würde er die heruntergekommene Gastwirtschaft wieder in die Höhe bringen. Der arme Kerl war wegen seiner Dummheit wirklich zu bedauern, daß er sein sauer Erspartes in dieses hoffnungslose Geschäft steckte. Jahrzehntelang hatte er als Arbeiter in einer Zuckerfabrik geschafft, bis er sich ein paar hundert Pfund zusammengespart hatte. Das Ziel seiner Sehnsucht war gewesen, am Lebensabend ein hübsches Wirtshäuschen zu besitzen, in dem man plaudernd die Gäste bedient und am Ofen sitzt, aber mit dieser Spekulation war Carpenter gründlich hereingefallen. Nur einmal trat jeder in die dumpfe Stube, trank ein Glas Bier oder einen Whisky, musterte die neuen Besitzer, und konnte dann in seinem Stammlokal erzählen, daß der Alte sehr dumm aussähe, seine Tochter Nancy aber ganz hübsch sei und zwei lange Zöpfe habe.
Es war Winter, in der Landwirtschaft gab es nichts zu thun, so konnte Vater Jim den ganzen Tag und die halbe Nacht hinter dem Schenktisch am Kamin stehen und Zeitungen lesen. Ab und zu verirrte sich ja doch einmal ein Fremder in die Gaststube, der von Nancy so flink bedient wurde, als habe sie nur immer die Krüge vollzupumpen, während sie sonst doch nur scheuerte und putzte. Aber diese Kleinlichkeit brachte keine neuen und vor allen Dingen regelmäßigen Gäste, der Vater that absolut nichts dafür, solche herbeizulocken, nicht einmal so viel, daß er für Feuer im Kamin sorgte, und das gehört zur englischen Gastwirtschaft, damit sich die Tagediebe daran wärmen können, und wenn sie auch nichts verzehren, sie machen das Lokal doch voll, und ziehen somit andere an. Drüben im Königskopf glühte der Ofen. Vater Jim besaß überhaupt gar keinen Geschäftsgeist, er machte keine originellen Geschenke, brachte keine humoristischen Plakate an, that gar nichts zur Hebung der Wirtschaft.
Ein einziger Mann wurde Stammgast, der »verrückte Bill«, ein Kerl von etwa fünfzig Jahren, der draußen immer am Laternenpfahl stand und auf Gelegenheitsarbeit wartete. Nackt lieber aber war es ihm, wenn ihm jemand einen Penny schenkte, den er im Königskopf seither sofort in Ale umgesetzt hatte, vorher fragend, ob nicht vielleicht Bierneigen da wären. Er war lange Zeit in Indien Soldat gewesen und hatte sich dort einen tüchtigen Spleen weggeholt, trieb alberne Possen, machte für seinen Penny eine Menge Skandal und erklärte jeder Frau, sie sei seine einzige Liebe, er wolle sie heiraten und wenn ihren Mann totstechen müsse, wobei er stets mit einem Messer herumfuchtelte —— übrigens ein ganz harmloser Mensch.
Seitdem er nun das Weiße Roß betreten und Nancy gesehen hatte, blieb er dort Stammgast, machte ihr eine großartige Liebeserklärung, setzte schon den Hochzeitstag fest und drohte jeden niederzustechen, der ihn eifersüchtig mache, und das Mädchen dazu. Nancy lachte, der Vater sah von der Zeitung auf, zog die Brauen hoch und sagte, von solcher Totstecherei und ähnlichem wolle er nichts hören; als er aber merkte, wen er vor sich habe, ließ er den tollen Kerl weiterschwatzen.
Noch ein zweiter Stammgast stellte sich später ein, ein junger, hübscher Herr in schwarzem Gehrock und Cylinder, wenn auch alles schon etwas abgeschabt war. Er trank immer nur im Vorbeigehen in dem Verschlag, welcher hier den Salon vorstellen sollte, hastig ein Glas Bier, wechselte mit Nancy ein paar Worte, spähte aber dabei beständig zum Fenster hinaus. Draußen brauchte nur ein lauter Ton zu erschallen, so war er vor der Tür, gerade als hatte er ein böses Gewissen; doch ein Eingeweihter fand schnell eine andere Erklärung, weil der junge Mann bei jeder Gelegenheit eine verdächtige Bewegung nach der Brusttasche machte und manchmal auch Notizbuch und Bleistift herauszog. Eine Fliege brauchte nur ins Bierglas zu fallen, so wurde das gewissenhaft gebucht.
»Sie sind wohl Reporter?« wagte Nancy endlich einmal die Frage.
»Ja, leider,« entgegnete der Gefragte und klappte das Buch zu. »Wenn alle meine Manuskripte angenommen, gedruckt und gelesen worden wären, die ich im Kasten liegen habe, so wäre ich schon längst ein berühmter Schriftsteller. Da dies nun nicht der Fall ist, so bin ich nur ein Reporter, pro Zeile anderthalb Penny. Unterschätzen Sie mich jedoch nicht, Miß Nancy. Mein Chef hat mein Talent erkannt und mir wiederholt versichert, daß ich die erste Anwartschaft auf den Posten des vierten Redakteurs habe, der in zwei- bis dreihundert Jahren frei wird.«
Nancy lachte über diese humoristische Antwort, selbst der alte Jim verstand die Ironie trotz seines dummen Aussehens, er interessierte sich plötzlich für den Reporter und rückte näher heran.
»Komm denn das da nun wirklich in die Zeitung, daß eine Fliege im Bierglas ertranken ist?«
»O nein, was meinen Sie! Das gibt meiner Phantasie nur Anregung. Morgen können Sie lesen: »Richmond, den soundsovielten. Heute morgen stürzte sich die bildschöne Julia Soundso, die Tochter eines der reichsten Mitbürger unserer Stadt, in die kalten Wasserfluten und konnte nur als tote Leiche geborgen werden. Geheimer Liebeskummer soll das Motiv zu der unglückseligen That gewesen sein. Ruhe sie sanft!« —- Das ist natürlich alles nur Schwindel, aber das ist’s ja gerade. Übermorgen wird nun die Geschichte widerrufen. Es war nicht Richmond bei London, sondern Richmond in Südaustralien, nicht ein Mädchen hat sich ertränkt, sondern ein Bäckerjunge hat an einer unerlaubten Stelle gebadet und ist ertrunken. Sehen Sie, so wirds gemacht. Wenn ein Droschkengaul stürzt, muß ein richtiger Reporter gleich ein Kavalleriegefecht daraus machen können. Diesen Talent kann man nicht lernen, das ist eben ein göttliches Gnadengeschenk, und dafür erhält man pro Zeile anderthalb Penny. — Ja, wenn wirklich etwas passiert ist,« setzte er schwermütig seufzend hinzu, »das bringt das Doppelte und mehr ein. Aber es ist eine traurige Zeit jetzt für unsereins. Kein Mensch will sich mehr erhängen keiner dem anderen den Schädel einschlagen, kein Raubmord, keine Brandstiftung, nicht einmal ein Dienstmädchen vergiftet sich mit Streichhölzern. Eine sehr traurige Zeit jetzt!«
Mr. Simpken, dies war der Name des Reporters, wiederholte seine häufigen Besuche, und eines Tages erschien er mit feierlichem Gesicht und sorgfältig gebürstetem Cylinder, um Nancys Hand zu begehren. Es bedurfte keiner Einleitung, Nancy hatte dein Vater bereits gesagt, weswegen er heute kommen würde, und daß sie ohne ihren Charles nicht mehr leben könne.
Vater Jim hatte doch eigentlich einen Schwiegersohn sich wünschen müssen, der mit Bierfässern umzugehen verstand. Er schien gegen die Verbindung aber nur eine Kleinigkeit einzuwenden zu haben.
»Ja, mein lieber Mr. Simpken, habt Ihr — —?« Er machte die Bewegung des Geldzählens und blinzelte mit den Augen.
»Nein, mein lieber Mr. Carpenter, aber Ihr habt ja Geld.«
»Ich habe nichts.«
»Ich erst recht nichts.«
»Ja, dann könnt Ihr meine Nancy auch nicht heiraten. Oder könnt Ihr sie ernähren?«
»Ja, zum Donnerwetter, Vater Jim, Ihr habt doch hier die Wirtschaft gekauft!« schrie Simpken.
»Mit meinem letzten Gelde.«
»Bringt sie hoch, ich stelle mich gern hinter den Schenktisch und zapfe Bier ab. Jim, Ihr sollt eine Freude an Eurem Schwiegersohn haben!«
»Ihr seht doch, daß Ihr immer der einzige Gast seid, und ich mein Bier selber trinke. «
»Warum habt Ihr denn da die Butike gekauft?«
»Ich bin eben hineingefallen.«
»So rührt Euch, macht Lärm, engagiert Musiker, hängt hübsche Plakate aus! Ich helfe Euch mit meinem Talent."
»Alles schon dagewesen, zieht alles nicht mehr,« erklärte Jim, »die drüben im Königskopf sitzen zu fest. Es bringt mir höchstens so viel ein, als es kostet. Wenn Ihr so ein findiger Zeitungsschreiber seid, schlagt doch etwas Neues vor — aber kosten darf mich's keinen Penny, das sage ich Euch gleich.«
»Ei, so steckt doch Eiter Haus an allen vier Ecken an!«
»Und mich steckt der Brauer ins Gefängnis. — Na, kommt erst einmal mit herauf, das Essen ist fertig. Vielleicht fällt Euch noch etwas ein, Ihr habt einen jüngeren Kopf als ich. —«
Vater Jim kam nach dem Essen wieder herunter und löste Nancy ab, welche nun lange Zeit mit dem Geliebten oben eifrig beratend allein blieb. — —
Einige Tage später hatte die ganze Nachbarschaft und die Gäste im Königskopf genug zu sprechen. Nancy und der Reporter Charles Simpken hatten sich verlobt und wollten binnen kurzem heiraten. Man konnte das Paar nur bedauern. Wovon wollte es denn leben. Man wußte im ganzen Stadtviertel recht gut, wie schlecht sich solch ein Straßenreporter stand, und daß Vater Carpenter ebenfalls bald mit dem Gerichtsvollzieher Bekanntschaft machen werde. Aber am Ende ging das ja niemand etwas an.
2.
Eine tiefdunkle Märznacht wich der Dämmerung, als der wachhabende Konstabler die eine Seite der Bow Common Lane abpatrouillierte und gegen jede Haustür mit der Hand drückte. Dies stündlich zu thun, ist die Pflicht des Schutzmannes in London. So kam er auch an das Weiße Roß. Er zog die schon ausgestreckte Hand wieder zurück, denn er hatte dicht an der Haustür eine große, dunkle Pfütze bemerkt. Wie kam die jetzt hierher? Geregnet hatte es nicht. Dann stieß sein Fuß an etwas Klirrendes: er hob es auf — ein großes Messer. Der Griff war feucht; der Schutzmann brachte die Hand vor die Augen — Blut. Jetzt drückte er gegen die Tür — sie war offen. Ein Einbruch also, wohl gar ein Raubmord. Laut ließ der Konstabler seine Notpfeife erschallen.
Von allen Seiten stürmten die uniformierten Riesen heran, und da in London auf jeden Konstabler zwei Detektives kommen, welche sich immer in seiner Nähe aufhalten, war das Haus bald dicht umstellt. Oben im Fenster erschien Jims Kopf.
»He, ist in Eurem Hause etwas passiert?« fragte der Konstabler.
»Ich weiß nicht. Aber wo ist denn — Nancy?« stotterte Jim.
Das genügte. Man suchte den fassungslosen Wirt auszuforschen, andere verfolgten die deutlich sichtbare, nach dem Teich führende Blutspur.
Mit Mühe brachte man aus Jim etwas heraus. Gestern Abend hatte er nach polizeilicher Vorschrift um halb ein Uhr geschlossen und sei gleich zu Bett gegangen, ebenso Nancy. Diese schlief neben seinem Zimmer. Durch ein starkes Klopfen an der Haustür sei er aufgewacht, aber wann, das könne er ganz und gar nicht angeben. »Das ist Charles,« habe Nancy gesagt, und der Vater habe sie aufstehen, hinabgehen und die Haustür aufschließen gehört. Was aber dann weiter geschehen sei, wisse er nicht zu sagen; er sei wieder eingeschlafen. Es sei nämlich schon öfters vorgekommen, daß der Bräutigam Nancy spät des Nachts herausgeklopft habe, wenn sein Beruf ihn des Tages ferngehalten hatte, und dann hatten sie noch ein halbes Stündchen unten zusammen geschwatzt.
Nun war Nancys Zimmer leer, und als der unglückliche Vater von der Blutlache und dem Küchenmesser hörte, saß er wie gelähmt da. Schließlich gelang es, mit seiner Hilfe festzustellen, daß Nancy kein Kleid angehabt hatte, nur einen roten Unterrock, lederne Hausschuhe und ein Umschlagtuch.
Unterdessen war es heller Tag geworden. An der Haustür zeigte sich der blutige Abdruck einer kleinen Hand, Nancys, von der Blutlache aus führte eine rote, noch etwas feuchte Spur nach dem Teiche. Das Opfer war geschleift worden, es hatte wahrscheinlich unterwegs noch geblutet. Fährten zeigte der harte Boden nicht, der Grasboden am Teich war nur niedergestampft, deutlich nahm man noch dort, wo die Leiche versenkt worden war, eine rote Färbung des Wassers wahr. Ein Schrei war nicht gehört worden, der Tod mußte wohl sofort eingetreten sein.
Kaltblütig hatte der erste der« anwesenden Detektivs diese Voruntersuchung geleitet und nach anderen Beamten geschickt, auch nach Mr. Simpken. Diesen fand man fest schnarchend in seinem Bett. Nein, bei seiner Braut sei er gestern Abend nicht gewesen. Er habe einer Volksversammlung im Westend beigewohnt und sei erst um drei Uhr nach Hause gekommen. Letzteres hatte die Wirtin schon vorher gesagt Als man ihm mitteilte, um was es sich handele, fiel er erst wie betäubt zurück und schrie dann entsetzt auf; sein Benehmen war ohne Zweifel das eines Unschuldigen, man hegte auch nicht den geringsten Verdacht gegen den jungen Mann.
Als er an das Weiße Roß kam, hatte sich schon eine ungeheure Menschenmenge vor dem Hause angesammelt, und in dem Teiche wurde mit Staunen gefischt, ohne daß jedoch etwas gefunden wurde. Charles verging zwar vor Jammer, aber er hätte kein Engländer und noch weniger ein pflichtgetreuer Reporter sein müssen, hätte er nicht trotz seines Schmerzes sofort einen wahrheitsgetreuen Bericht des Vorfalls auf ein Notizblatt geworfen in Vollendetstem, blühendstem Reporterstile. Mit diesem eilte er unverzüglich in die Wohnung seines Chefredakteurs, den er aus dem Bette klingelte. Dieser traute der Sache nicht recht, Simpken log gewöhnlich zu viel.
»Aber es ist ja meine eigene Braut,« schluchzte Charles und that einen fürchterlichen Schwur, daß es diesmal die Wahrheit sei.
»Was, Ihre Braut?« frohlockte der: Chefredakteur jetzt. »Mensch, Sie sind ein Glückspilz, Sie erscheinen mir wie ein Engel, ich möchte Sie umarmen! Welche Zeit ist es? Schnell, wir drucken ein Extrablatt — heute Abend werden dreißigtausend Exemplare mehr verkauft. Sie beschreiben als der Bräutigam der Ermordeten in der Hauptnummer das erschütternde Ereignis. Simpken, Sie sind ein gemachter Mann! — Aber Ihre Braut wird doch auch wirklich tot sein!« setzte der biedere Redakteur ängstlich hinzu.
Charles versicherte es, und als er die Wohnung verließ, war er mit festem Gehalt angestellt und bekam pro Zeile drei Pence.
In dem Teiche wurde noch immer gefischt. Die Leiche war zwar noch nicht zum Vorschein gekommen, wohl aber das bunte Umschlagetuch, noch etwas blutig, ein Loch darin, und der Detektiv zeigte, indem er es sich umlegte, daß der Stich, von dem das Loch herrührt, gerade nach dem Herzen geführt worden sei. Zum Überfluß fand man auch noch einen der ledernen Hausschuhe dicht am Rande. Viele Hunderte von Menschen umstanden den Teich, ebensoviele drängten sich auch um das Haus. Es war doch gar zu interessant, die Blutlache und den blutigen Handabdruck der Ermordeten an der Tür zu bewundern.
In der Wirtsstube konnte kein Apfel zur Erde. Vier Leute hatte Vater Jim angestellt, nur um immer einzuschenken, und obgleich er manchmal seinem Jammer freien Lauf ließ, leitete er doch mit Umsicht die Wirtschaft. So waren oben die Wohnzimmer in Trinkstuben umgewandelt worden — im Zimmer der unglücklichen Nancy kostete das Bier das Doppelte — man verschenkte auch Bier im Freien, in der Brauerei wurden immer neue Lieferungen bestellt.
Eine neue Spannung entstand, als der Bräutigam, sich räuspernd und sich die Augen wischend, auf der Bildfläche erschien. Die arme Nancy! Es war ein so gutes, hübsches Mädchen! Der arme Mensch! Wer mochte sie wohl ermordet haben? Warum? Am Ende doch Mir Simpken selbst —- so schwirrte, flüsterte und zischelte es durcheinander, die Hintersten drängten nach vorn, um nun auch einmal sich an dem Anblick des Unglücklichen zu weiden, und die Vordersten konnten sich nicht davon trennen. Und Durst bekam man auch.
Als die Arbeitszeit begann, das ist in England um acht Uhr morgens, verliefen sich die Männer, dafür aber kamen sämtliche Frauen der Nachbarschaft nach dem Mordhaus, ihre Kinder auf dem Arme, und nun begann die Zecherei erst recht, diesmal aber in Whisky. Mittags fragten die Männer wieder nach, ob die Ermordete gefunden sei, und am Abend erschienen sie zur langen Debatte: sie wurden sogar von ihren Frauen nach dem Mordhause geschickt, ja, selbst die Wirtsleute vom Königskopf kamen herüber, denn sie hatten keine Gäste mehr, die sie hatten bedienen müssen.
Der Verdacht der Thäterschaft war auf den verrückten Bill gefallen. Zwei Konstabler führten ihn ab. Er zeigte sein bisheriges Wesen.
»Jawohl, ich habe die Nancy ermordet, « schrie er vergnügt »Juhu, jetzt geht’s ins Gefängnis!«
Freilich stellte es sich bald heraus, daß Bill die That nicht begangen haben konnte, da er in der verhängnisvollen Stunde weit vom Schauplatze des Verbrechens entfernt gewesen war, und so begann das Forschen nach dem Mörder aufs neue.
Auch Charles Simpken wurde vor Gericht gefordert, doch gleich wieder als unverdächtig entlassen. Es lag ja absolut kein Grund vor, daß er seine Braut habe ermorden sollen, Der Wirt wurde gleich hinter dem Schenktisch vernommen, wobei das zuhörende Publikum, das in großen Umkreis das Haus umstand, einige Fässer Bier leerte.
Wochen vergingen, und es stellte sich heraus, daß die Leiche entschieden nicht in dem Teiche liegen könne. Der Grund war so sorgfältig mit Stangen, Haken und Schleppnetzen abgesucht worden, daß man keine Schuhsohle und keinen Blechlöffel mehr ans Tageslicht brachte.
Wo war nun die Leiche? Es hatte doch ganz den Anschein, als ob der Mörder sein Opfer in dem Teiche versenkt hätte. Und wozu überhaupt der Mord? Das Geheimnisvolle und Rätselhafte eben war es, was die That so interessant und das Weiße Roß zu einer Berühmtheit machte.
Dazu kam noch etwas anderes. Zu jener Zeit trieb in England der Spiritismus die üppigsten Blüten. Er war salonfähig, die Lieblingskammerfrau der Königin war ein Medium, auch Gladstone zählte zu den eifrigsten Anhängern der Geisterlehre. Nach amtlichem Bericht wurden vom 26. bis 27. Dezember 1873 in London sechs, in der Provinz zweiundsechzig öffentliche spiritistische Sitzungen abgehalten; die in Privatzirkeln sind gar nicht zu zählen. Der geheimnisvolle Vorfall gab natürlich Stoff, die Geister zu befragen; die Verstorbene sollte selbst angeben, wo sich ihr Leichnam befinde, den Grund des Mordes aufklären und so weiter. Der Geist der abgeschiedenen Nancy erschien denn auch überall prompt oder gab durch Tischklopfen Auskunft, die Antworten waren aber wie immer so zweideutig und dunkel, dass niemand daraus klug wurde. Jedenfalls gab es neue Anregung zum Suchen, man grub hie und da, fischte noch immer auf eigene Faust, und das Weiße Roß war stets voll von Gästen. Sogar Equipagen fuhren vor.
Eine vornehme Dame sah Nancys Photographie an der Wand hängen und wünschte das Bild zu besitzen. Sie fragte, was es koste.
»Das ist mir unverkäuflich," sagte der schlaue Jim, lief aber gleich darauf zum Photographen, ließ das Bild vervielfältigen und verkaufte fortan das Stück zu einem Schilling. Er machte ein ungeheures Geschäft damit.
Die Zeitungen beschäftigten sich noch immer mit der Besprechung des Geheimnisses, besonders der »Morning Star«, für den Charles berichtete, machte die Sache zu seiner eigenen. Dem Vater und Bräutigam müsse Genugtuung geschehen, der Mord müsse gesühnt, zunächst aber der Leichnam gefunden werden; die Redaktion forderte, daß man den Teich auspumpe. Das ging von dem findigen Charles aus, und als es nicht geschah, veranstaltete die Redaktion eine öffentliche Sammlung zu diesem Zwecke.
Gleichzeitig begab sich Vater Jim zum Brauereidirektor und forderte dasselbe. Die Brauerei sah schnell den Vorteil ein, der ihr daraus erwuchs, und bestellte eine Lokomobile und eine Pumpe auf ihre Kosten. Ebenso ließ sie rund um den Teich, der noch zu ihrem Grundstücke gehörte, Zelte und Buden errichten, und das Auspumpen wurde in allen Zeitungen reklamenhaft angekündigt. Es war ein großartiges Volksfest, das gefeiert wurde, als das Auspumpen begann. Tausende waren herbeigeströmt, alle fanden Platz, und für die Kinder waren Luftschaukeln, Karussells und Schießbuden da.
Die Lokomobile pumpte entsetzlich langsam, es war gerade, als ob man den Teich mit Eimern ausschöpfe, und das hatte seinen guten Grund, denn der Brauerei lag natürlich nichts daran, daß die Sache gar zu schnell ging. Drei Tage dauerte es, das Publikum wechselte beständig, und als der Schlamm sichtbar wurde, war das Gedränge fürchterlich, geradezu lebensgefährlich denn jedermann wollte Nancys Leiche sehen.
Endlich war der Teich leer, viele Menschen krebsten in dem Schlamm herum, ohne etwas zu finden. So war das Publikum zwar enttäuscht, aber es hatte sich doch großartig unterhalten, und Vater Jim einen ganzen Sack voll Geld eingenommen.
Im Königskopf dagegen sahen sich Wirt und Wirtin mit banger Sorge an. Jetzt versauerten ihnen das Bier im Keller, und drüben, auf dem Grundstück des Konkurrenten maßen schon Geometer. Die Brauerei wollte ein größeres Gebäude hinsetzen.
3.
Vier Jahre waren vergangen, ohne die Lösung des Rätsels herbeigeführt zu haben, aber die Erinnerung war noch frisch daran. Immer noch beschäftigten sich die Zeitungen mit dem Geheimnis, jede verfocht ihre eigene Theorie. Das neue stattliche Weiße Roß war eines der besuchtesten Wirtshäuser geworden. »Das Mordhaus« stand zwar noch, aber daneben war das neue, langgestreckte Gebäude errichtet worden, und Sonntags konnte es dort nie alle Gäste fassen. Wo einst der frühere Wirt Kartoffeln gebaut hatte, befand sich ein Garten und die fleißig benutzte Ausspannung, und so dumm Vater Jim auch aussah. er verstand die große Wirtschaft mit Geschick zu leiten.
Die im Königskopf seufzten vergebens nach den alten Stammgästen, alle hatte das Weiße Roß an sich gerissen, auch die neuen Zuzügler gingen natürlich dahin, wo die meisten Gäste waren. Denn die Gegend bekam plötzlich ein ganz anderes Aussehen, die Häuser schossen wie Pilze aus dem Boden, Mietskasernen, Villen und elegante Geschäfte, und daran war nur die berühmte Cakesfabrik von Wright schuld, welche damals dorthin verlegt wurde. Nur um ein Bild von London zu geben, sei hier erwähnt, daß diese Bäckerei jetzt hundertundvierundfünfzig Paare gleichfarbiger Isabellenpferde im Stalle stehen hat, welche ebensoviele Wagen ziehen, um den täglichen Bedarf Londons an Biskuit zu decken. Wo solch eine Fabrik sich niederläßt, bringt sie gleich eine ganze Stadt mit; so wuchs auch hier der Bodenpreis ums hundertfache, aber dem Vater Jim konnte die Brauerei nichts anhaben, der hatte zehn Jahre für einen Spottpreis gepachtet, und die gebotene Abfindungssumme nahm er trotz ihrer Höhe nicht an.
Da geschah etwas, das zum endlichen Schlusse der geldeinbringenden Tragikomödie führen sollte, aber auch noch einmal eine neue Völkerwanderung nach dem Weißen Roß bewirkte.
Charles war wohlbestallter Berichterstatter und Journalist, weilte aber, so oft er konnte bei Vater Jim, der ihn wie seinen wirklichen Schwiegersohn behandelte, half ihm in geschäftlichen Sachen und machte sich sonst nützlich. Als das Lokal einmal recht besucht war, und Charles gerade die Kasse zählte, trat plötzlich ein Geheimpolizist auf ihn zu und verhaftete ihn. Dass der überraschte Charles furchtbar erschrak, die Farbe wechselte und das »Warum?« nur hauchen konnte, war allen bemerklich. Er folgte in den Wagen.
In der That hatte man den schwersten Verdacht jetzt gegen ihn gefaßt, er mußte unbedingt Nancys Mörder sein. Erstens hatte man ihn im Westend, auf der anderen Seite des riesengroßen London, eine junge Dame am Arme führen sehen, an der Hand einen Knaben. Also lag es sehr nahe, dass er schon seit Jahren verheiratet war, obgleich er sich vor Gericht als unverheiratet ausgegeben hatte. Eine Verwechslung war ausgeschlossen. Die Wohnung wurde ermittelt, er nannte sich hier Fred Jackson, seine Frau war eine gebotene Marie Douglas, beide getraut in der Sankt Michaelkirche und zwar — das war das unheimlichste dabei — kurz nach Nancys Ermordung. Die beiden hatten einen dreijährigen Knaben und ein wenige Monate altes Mädchen.
Es muss hierbei erwähnt werden, daß man in England keine Legitimationspapiere braucht, man meldet sich nicht an und nicht ab, der engagierende Prinzipal fordert keine Zeugnisse, er erkundigt sich nur bei dem früheren Prinzipal; und so hat man auch bei der Trauung nur zwei Zeugen nötig, und um diese beschaffen, braucht man nicht einmal in die nächste Restauration zu gehen, es stehen schon solche vor dem Standesamt, die sich dazu anbieten. Nennt man falsche Namen, so ist die Ehe freilich gesetzlich ungültig, aber man besitzt doch einen Trauschein.
Zweitens war der Geschäftsmann gefunden worden, bei dem das Messer gekauft worden war, und als dieser jüngst den Mr. Simpken gesehen, hatte er schnell die Polizei benachrichtigt, daß dieser es am Abend vor der Mordnacht bei ihm gekauft habe.
Sicherlich war also Charles Simpken der Mörder, aufgestachelt durch seine Frau oder frühere Geliebte, die auf Nancy eifersüchtig gewesen war.
Am anderen Tage wurde Charles dem Richter vorgeführt.
»Sie sind der Mörder von Nancy Carpenter!« herrschte ihn dieser an.
Die Stimme war danach angetan, daß Charles leicht zusammenzuckte.
»Das müssen Sie mir erst beweisen,« sagte der junge Mann jedoch schnell gefaßt, eine Antwort, die man in jeder Gerichtsverhandlung in England zu hören bekommt.
Allerdings werde ich das. Sind Sie verheiratet?
»Schon bei meinen früheren Personalangaben habe ich ausgesagt, daß ich nicht verheiratet bin.«
»Doch, denn dies ist Ihre Frau.«
Die Tür war aufgestoßen worden, in der Tür stand eine junge Dame. Charles nickte ihr freundlich zu und wandte sich wieder an den Richter, der ihn hatte vergeblich zu Boden schmettern wollen.
»Ich gestehe, daß ich mich mit dieser Dame verheiratet habe, aber unter dem falschen Namen Fred Jackson, also ist diese Ehe ungültig. Doch werde ich die gesetzliche Trauung nachholen. Ferner ist dies nicht Miß Marie Douglas, sondern Miß Nancy Carpenter, und da sie noch lebt, kann ich sie doch auch nicht gut ermordet haben.«
Englische Beamte verlieren selbst in den schwierigsten Fällen nicht ihre Würde. Der Richter verzog daher keine Miene, schüttelte nur den Kopf und ließ dann Zeugen holen. Die Zeugen kamen, und da half kein Staunen, Entsetzen und ungläubiges Kopfschütteln, das war eben die angeblich ermordete Nancy, und Vater und Jim umarmte unter Freudentränen die wiedergefundene Tochter.
Als auch der Richter davon überzeugt war, hatte er mit der Sache vorläufig weiter nichts zu schaffen; da die Anklage wegen Mordes hinfällig geworden war, mußten Charles und Nancy sofort auf freien Fuß gesetzt werden.«
Und am anderen Tage stand die als Tote beweinte Nancy wieder hinter dem Schenktisch im Weißen Roß, und wieder entstand eine wahre Völkerwanderung dorthin. Aber vergebens suchte man von denen etwas von dem Geheimnis zu erfahren, welche darum wissen mußten; deren Mund blieb stumm, am stummsten der von Nancy. »Sie hat die Sprache verloren, sie muß Schreckliches ausgestanden haben, hieß es. Nein, stumm war sie nicht, sie konnte zum Beispiel fragen, was der Gast beliebe, aber sonst war sie nicht zu sprechen. War es denn überhaupt die Nancy? Viele bestritten das, am meisten die Spiritisten, welche sich schon mit ihrem Geiste unterhalten hatten.
Die erste Person, der ein klares Licht aufging, war die Wirtin vom Königskopf. Der ganze Mord war nur eine künstliche Mache gewesen, um das Geschäft in die Höhe zu bringen; Vater, Tochter und der saubere Reporter hattest unter einer Decke gespielt. Charles hatte sich in einem anderen Viertel des großen London ein Messer, vom Fleischer ein Gefäß mit Blut und von Nancy ein Umschlagtuch besorgt, das Blut vor der Türe ausgegossen, das Umschlagtuch hineingetaucht, es bis an den Teich geschleift, es hineingeworfen, das Messer zurückgelassen, und war dann mit Nancy entflohen. Mit dem nun schnell verdienten Gelde richtete Charles der Braut im Westend eine hübsche Wohnung ein, ließ sich einstweilen unter falschem Namen mit ihr trauen, und so ging es vier Jahre fort. Jetzt, da die Sache endlich herauskam, fand die gesetzliche Trauung nachträglich statt.
Aber die Zuhörer, denen die Wirtin dies erzählte, waren gar nicht damit einverstanden; das war wohl schlau, ihnen aber viel zu prosaisch, sie wollten lieber etwas Sensationelles glauben. Und die, denen ihre eigene Vernunft die richtige Lösung gab, konnten nur den geschäftlichen Kniff bewundern. Jedenfalls that das Wiederauftauchen Nancys dem Weißen Roß keinen Abbruch, ganz im Gegenteil.
Die englischen Advokaten, welche bekanntlich aus schwarz weiß machen und das Linke nach rechts und das Oberste zu unterst zu drehen wissen, boten dutzendweise Charles ihre Dienste an; wenn er sich zu verantworten habe, etwa wegen falscher Angaben, überhaupt wegen dieser Täuschung der Behörden, wollten sie ihm als Verteidiger zur Seite stehen. Charles nahm aber gar keinen, denn er war sicher, daß ihm kein so schlimmer Prozeß gemacht werden könne. Und wie ihm rechtskundige Freunde im Vertrauen sagten, so geschah es auch: vergebens wartete er auf eine Vorladung, es kam keine. Es war auch in der That gar nicht so leicht, ihm etwas am Zeuge zu flicken, höchstens wegen der Trauung unter falschem Namen konnte man ihn belangen. Aber man zog es überhaupt vor, um die Blamage des Gerichts und der Polizei nicht gar zu öffentlich zu machen, die Sache niederzuschlagen.
Charles gab die Stelle bei der Zeitung auf und blieb beim Schwiegervater, der auch seine Kraft notwendig brauchte. Auch das neue Weiße Roß wurde nach einigen Jahren abgebrochen, ein elegantes Haus entstand aus seinen Trümmern, und nach und nach begann auch die Erinnerung an die Geschichte zu verblassen, man konnte doch nicht ewig davon sprechen. Aber das Weiße Roß hatte nun einmal einen Ruf bekommen, war populär geworden und blieb das vielbesuchte Wirtshaus.
Als die zehnjährige Pacht ablief, ging Jim nicht auf die neuen Bedingungen ein, denn jetzt wurde für das kostbare Grundstück eine enorme Miete verlangt. Er siedelte als wohlhabender Mann, begleitet von Tochter, Schwiegersohn und Enkeln, nach New York über, wo ihm ein Schwager ein Boardinghause für Seeleute, auch eine Goldgrube, in der Maquartstreet abtrat. Dieses Haus wird er noch jetzt bewirtschaften. Von dort aus schrieb er sofort an das Londoner Gericht einen Brief, in dem er stolz die Urheberschaft jener Idee für sich beanspruchte, daß nämlich nicht der findige Reporter, sondern er selbst, der dumme Jim Carpenter, den schlauen Gedanken mit dem vorgeblichen Morde ausgeheckt habe.
Wieder ließ die Brauerei die Wirtschaft abbrechen und das jetzige, palastähnliche Gebäude errichten; in fünf Meter hohen Buchstaben sieht man »White Horse« schon kilometerweit über die anderen Häuser wegtragen, und nur einige Schritte davon entfernt ist zwischen zwei eleganten Geschäften ein kleines, armseliges Haus, eingekeilt, »Kings Head«, so wie es schon damals gewesen ist.
Es hat nicht an Nachahmungen dieses pfiffigen Tricks gefehlt. Einmal brach in London eine wahre Manie aus, durch solche Komödien Geschäfte in die Höhe zu bringen; man fand eingemauerte Gerippe, abgeschnittene Gliedmaßen, Personen verschwanden, noch jetzt kann man hin und wieder von solchen Reklamemitteln in der Zeitungen lesen - aber alles will nicht mehr recht ziehen. So sensationslüstern das englische Volk auch ist, zum zweitenmal durch dieselbe Sache nasführen lässt sich Polizei und Publikum nicht.