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Das Glück von Colonrock
oder
Der Seehund und die kluge Frau. Humoristische Erzählung von
Robert Kraft.

   

 


 

Die Familie.
Illustriertes Wochenblatt Nr. 28. und 29. I. Jahrgang.

 

Westlich vom schottischen Festlande liegen die beiden Inseln Colonsay und Oronsay, nur durch eine schmale Wasserstraße von einander getrennt, welche so wenig tief ist, daß man bei Ebbe von einer Insel zur anderen laufen kann, ohne sich den Fuß zu netzen. Von Colonsay erstreckt sich eine zwei englische Meilen lange Landzunge in’s Meer hinaus. Sie ist sehr niedrig, oft spielen die Wellen darüber weg, bei hohem Wasserstand verschwindet sie ganz, und dann sieht nur noch der äußerste Theil der Landzunge gleich einer Klippe aus dem Wasser. Colonrock, d. h. Colonfelsen, ist dieser dem Element trotzende Punkt genannt worden.

Hier stand des Fischers Patrik kleine Hütte. Wurm und sicher war sie gebettet zwischen mächtigen Blöcken, die das Dach noch überragten und die kalten Nordstürme abfingen. Patrik’s Vater hatte hier gewohnt, sein Großvater, vielleicht auch schon der Urahne, und nie war eine Woge, wenn das Meer auch noch so wüthend, über Colonrock und seine Bewohner weggegangen.

Patrik kehrte mit seinem vierzehnjährigen Sohne vom Fischfang zurück und kettete in der kleinen Bucht den Ewer an den Ring, welcher sich an der in den Grund gerammten Eisenstange befand, so daß sich das Boot mit Ebbe und Fluth frei senken und heben konnte, während Timmy es mit zwei lang ausgestreckten Seilen noch besonders am Ufer befestigte.

Mit schwerem Herzen waren sie heute Morgen zum Tagewerk gefahren, denn sie hatten die kleine Lucy in heftigem Fieber zurückgelassen. Und ob die kluge Frau auch gekommen war, welche Timmy noch hatte bestellen müssen? Wie gerne wären sie zu Hause geblieben, um wenigstens den Bescheid der klugen Frau erst abzuwarten, aber der Fischfang warf dieses Jahr so wenig ab, kaum reichte es hin, von dem, was die Familie wohl s für sich selbst verbrauchte, genügend Mehl zum Brotbacken einzutauschen, in nächster Zeit stand ein Ereignis bevor, wobei die Hilfe der klugen Frau auch nöthig war, und umsonst that sie nichts, denn sie wollte doch auch leben, und nun mußte sie wieder zu Lucy gerufen werden! Da hieß es eben arbeiten.

Heute endlich war die Beute reichlich ausgefallen, so reichlich, wie sich Patrik gar nicht mehr entsinnen konnte. Der Ewer vermochte gar nicht mehr zu fassen. Außerdem hatte man noch einen ganz besonderen Fang gemacht. Sonst hätte Patrik’s Herz bei der Heimfahrt wohl gejubelt, heute schlug es dennoch ängstlich in des Vaters Brust. Lebte Lucy noch?

»Stecke die Leinen weit aus, es giebt hohe Fluth,« sagte der Vater und sprang an’s Ufer. Hastig stieg er den mäßig steilen, ein Zickzack führenden Weg hinauf. Wenn das Wasser hoch stand, hatte er vom Boot aus nur einige Schritte zu thun.

Als er die Thüre der niedrigen Hütte öffnete, schlug ihm ein warmer Nebel entgegen, so daß er im ersten Augenblick nichts sah als den umflorten Schein des offenen Herdfeuers.

»Was macht Lucy?« rang es sich mühsam von seinen Lippen.

»Der Schafsdarm hat geholfen, ich habe es ja gleich gesagt,« entgegnete eine knarrende Stimme.

Ein silberhelles Lachen und Händeklatschen folgten dann, und plötzlich konnte Patrik sehen. Auf dem Bett saß, in Decken gewickelt, ein zehnjähriges Mädchen mit blassem und zartem Gesichtchen, lachte und schlug die blaugeäderten Händchen zusammen.

»Der Schafsdarm, Vater, der Schafsdarm soll mich gesund gemacht haben. Ist das wahr? Wie kommt das nur?«

Dabei nahm sie zwischen die Finger den getrockneten Darm, den sie um den Hals trug.

Der Vater mit den harten Zügen stürzte nicht auf sein gerettetes Kind zu, preßte es nicht an sein Herz, sondern drehte sich langsam um und ging an die freie Stelle des kleinen Plateaus, von wo aus er die Bucht übersehen konnte.

»Timmy, oh, Timmy, ’s ist Alles gut,« rief er hinab, »bring’ ihn gleich mit, sie wird sich freuen.«

Dann ging er wieder zur Hütte zurück; aber seine Gestalt war jetzt aufrechter als vorhin. Er setzte sich auf den Bettrand und strich mit der rauhen Hand leise über das blonde Haar der Tochter. Das war die ganze Begrüßung, mehr Zeichen äußerlicher Freude war er nicht fähig.

»War der Fischfang gut, Patrik?« fragte wieder die knarrende Stimme.

»Bin’s zufrieden.«

»Ich habe es ja gleich gesagt.«

Die rauhe, krächzende Stimme gehörte einer alten Frau an, welche am Feuer auf einer Kleiderkiste saß und einer schwarzen Thonpfeife mächtige Dampfwolken entlockte. Oder war es ein Mann im Weiberkleider. Das hagere Gesicht war das eines habgierigen Greises, dessen Seele nur noch durch sein Gold an der Erde klebt, am Kinne wucherten lange Haare, ruhelos wanderten die listigen Augen bin und her. Der hochgeraffte Rock ließ derbe Seestiefeln sehen.

Das war die kluge Frau von Colonsay, und sie war wirklich sehr klug. Sie konnte alle Krankheiten heilen, und gelang es ihr nicht, so waren die Geister, Hexen und Kobolde zu böse, und der Kranke sollte lieber sterben. Sie kannte alle Kräfte und Säfte der Pflanzen und Wurzeln von Colonsay und der übrigen Welt, sie wußte, warum die Kuh blaue Milch gab und warum Missis O’Fyo eine Fehlgeburt gethan. Sie wußte, daß der Pächter Kenterly gestern Abend betrunken nach Hause gekommen war und daß in acht Jahren die Erde unterging. Sie konnte auch mit einer Kneifzange Zähne ausziehen und mit einem frisch abgeschnittenen Rattenschwanz den Hexenschuß austreiben. Sie konnte sogar Wetter machen, die kluge Frau von Colonsay, ganz leicht, wozu sie nur den kleinen Finger eines neugeborenen Kindes braucht, aber sie wollte es nicht, denn das hieße dem lieben Gott in’s Handwerk pfuschen, und mit dem alten Berggeiste drüben in der Höhle war auch nicht zu spaßen, der hatte ihr die Wettermacherei noch ganz besonders verboten, wie sie überhaupt mit allen guten und bösen Geistern auf Du und Du stand. Vor allen Dingen besaß sie in hohem Grade das zweite Gesicht, wußte, wer in der nächsten Zeit sterben würde, und sah alle sonstigen Ereignisse voraus. Im Übrigen war die kluge Frau die Hebamme von Colonsay und Oronsay, liebte sehr den Whisky und tauchte einen Tabak, der den handfestesten Matrosen über den Haufen geworfen hätte.

Ihr gegenüber im altersschwachen Lehnstuhl saß Patrik’s ehrsames Weib, die Mutter von sieben Kindern, von denen zwei noch am Leben waren, hielt die Hände im Schooß gefaltet und blickte ehrerbietig und wie in stummer Bewunderung die Alte an.

Die Thür wurde aufgestoßen, und Timmy trat ein, einen Gegenstand in den Armen tragend, unter dessen Last der kräftige Bursche keuchte.

»Na, Lucy, was ist denn das?« schmunzelte der Vater, in dem Glauben, Frau und Kind die größte Freude zu bereiten.

Es war ein ausgewachsener Seehund, vier Fuß lang, von Speck strotzend, das straff gespannte, gelblich graue Fell schön schwarz gesprenkelt. Auf dem Kopfe zeigte er eine häßliche, offene Wunde, wohl von dem Prügel eines Robbenschlägers herrührend. Die Beute selbst aber war dem Thrankocher entgangen.

»Beim Torrmeriff haben wir ihn gefischt — ich sah ihn zuerst treiben,« lachte Timmy glückselig, »fünfzig Pfund Thran kriegen wir aus ihm.«

Aber der Anblick des fetten Thieres brachte in der Hütte nicht die von Vater und Sohn erwartete frohe Wirkung hervor.

»Ein Seal [Seal = Seehund] kreischte die Frau auf, stürzte auf Patrik’s Weib zu und verdeckte mit ihrem Rocke deren Augen. Denn Patrik’s Weib befand sich in gesegneten Umständen.

»Wie oft habe ich’s schon gesagt,« zeterte sie weiter, »die Seals sind verhexte Menschen, Du brauchst ihnen blos in die Augen zu sehen — denke doch nur an Dein Kind, Du Unvernunft!«

Verlegen kraulte sich Patrik in dem kurz geschorenen Haar. Wahrhaftig, daran hatte er gar nicht gedacht. Er hatte sich wieder furchtbar tölpelhaft benommen. Mit bestürztem Gesicht stand auch Timmy da, das Thier noch immer in den Armen. Die Freude war ihm zu Wasser geworden.

,,Aber? es ist ja todt,« entschuldigte er sich, »sich doch, seine Augen sind ja zu.«

»Todt? Die Augen zu?" sagte die kluge Frau erleichtert und nahm den Rock vom Gesicht ihrer Schutzbefohlenen. »Dann ist es etwas Anderes, dann kann er es ihr auch nicht mehr mit seinem bösen Blicke anthun.«

Doch man hatte nicht mit Lucy gerechnet. Starr saß sie auf dem Bett, kein Auge von dem Seehund verwendend. Dann brach sie plötzlich in ein krampfhaftes Weinen aus, daß ihr schwächlicher Körper geschüttelt wurde. —

»Ihr habt ihn todt gemacht,« schluchzte sie immer wieder, »den armen Seal mit den guten Augen — und er hat Euch doch gar nichts gethan.«

»Jawohl, nun fängt die auch noch an,« knurrte die kluge Frau. Sie stand mit dem kleinen Mädchen auf keinem guten Fuße; zwischen Beiden herrsche eine geheime Abneigung vom ersten Augenblick an, da die kluge Frau das schwache Geschöpf an das Licht der Welt gebracht hatte.

Lucy war die einzige auf ganz Colonsay, welche an den magischen Kräften der klugen Frau zweifelte und zu Zeiten, wenn sie bei voller Gesundheit war, auch darüber spottete, und die kluge Frau prophezeit dieses Unglückskind würde noch der ganzen Familie Unglück bringen, wenn es ihr nicht gelänge, den bösen Kobold auszutreiben, der von ihm Besitz genommen hätte.

Es war auch ein ganz merkwürdiges Kind, die Lucy, wirklich ein wahres Sorgenkind für die arme Fischerfamilie, zu jeder Arbeit untauglich, und doch war sie der Liebling und bekam kein böses Wort zu hören. Sie verdiente nichts und erhielt doch die besten Bissen; sobald sich Patrik etwas erspart hatte, ging es durch Lucy’s Krankheit wieder auf, die kluge Frau mußte immer wieder gerufen werden; aber wie gern gab Patrick das Letzte hin, denn sobald Lucys silbernes Lachen ertönte, war Sonnenschein in der kleinen Hütte, und wenn es draußen auch noch so stürmte und finstere Wolken den Himmel bedeckten.

Lucy war ganz anders als die übrigen Fischerkinder, sie lief auch nicht nach Oronsay hinüber, um mit Freundinnen zu spielen. Entweder hockte sie in einem Winkel der Hütte und trieb seltsame Spiele, führte lange Gespräche mit einem todten Fische, den sie bedauerte und so gern wieder lebendig machen wollte, den sie dann draußen feierlich begrub, oder sie saß oben auf einem Felsblock, blickte träumend dem Spiele der Wellen zu und sang mit fremden Worten eigenartige Melodien, wie man sie auf Colonsay noch nie gehört hatte, und wenn man sie fragte, woher sie die denn kenne, was das denn für eine Sprache sei, so entgegnete sie erstaunt, ob sie denn das nicht auch hörten, das sängen ihr doch die Wellen vor und sie sänge es ihnen nur nach.

Da mußte man wohl der klugen Frau glauben, wenn sie behauptete, Lucy sei von einem Kobold besessen; aber sicherlich nicht von einem bösen, sondern von einem guten.

Als Timmy sah, daß er mit seinem Seehund nur Unheil angerichtet hatte, warf er das Thier ärgerlich hinter den Herd. Dort mochte es seinetwegen liegen bleiben, er wollte den Thran gar nicht haben, nur seine kleine Schwester durfte nicht weinen. Endlich gelang es ihm, sie zu beruhigen.

Die kluge Frau klopfte die Pfeife am Stiefelabsatz aus und meinte, ehe sie ginge, könnte ein warmes Glas ihr nichts schaden, und der Schafsdarm, den sie um Lucy’s Hals gehängt und der das Fieber gebannt hätte, koste einen Schilling; sie nähme auch einen Theil in Fischen an, Geld wäre ihr freilich lieber. Patrik holte aus einem Wandschrank die grünbauchige Whiskyflasche, schenkte das große Glas voll, legte den blänksten Schilling seines Vermögens daneben hin und hieß Timmy, so viel der besten Fische einzupacken, als die Schürze fassen konnte.

Die Alte ließ den goldgelben Inhalt des Glases mit einem Ruck hinter ihren bärtigen Lippen und den Schilling in die Tasche verschwinden.

»Wann steigt das Wassers?«

»Du mußt machen, wenn Du hinüberkommen willst, in einer Stunde kommt das Wasser.«

»Ich habe es ja gleich gesagt,« war ihre stereotype Antwort, und dabei nickte sie boshaft der Lucy zu. Sie gab der Frau noch einige Anordnungen, fügte eine kurze Erklärung hinzu, daß die Seehunde verzauberte Menschen seien, die zu töten man sich hüten müsse, kein Robbenschläger nähme ein gutes Ende, da der Seal nun aber einmal todt sei, könne Patrik auch ohne Gewissensbisse seinen Thran ausbraten, lobte das fette Thier, band das Kopftuch fester, nahm das Fischbündel und ging mit dem Versprechen fort, bald wieder nach dem Rechten zu sehen.

Als sie über die Düne schritt, mit den im Sturme wehenden Kleidern, den bis an die Kniee sichtbaren Wasserstiefeln, glich das Mannweib wirklich einer gespenstischen Erscheinung zwischen der Menschheit und der Geisterwelt. Vater und Sohn machten sich daran, die Fische im Boot auszunehmen und sie mit Salz in Fässern zu verpacken. Morgen würden sie in Kilchattan verkauft. Dabei beriethen sie sich, ob sie den Seal mitnehmen wollten, so wie er war, oder ob sie ihn selbst ausbrieten, wozu erst ein großer Kessel angeschafft werden mußte. Letzteres war doch wohl das Vortheilhafteste, da kam wieder ein schönes Stück Silbergeld in die Hütte, und Timmy brauchte neue Stiefel.

Unterdessen bereitete die Mutter das Abendbrot, und Lucy schaute ihr mit ihren großen, blauen Augen stumm zu.

Plötzlich schrie die Mutter laut auf. Ihr Blick war auf den Seehund gefallen, der in der Ecke zwischen Herd und Wand lag. Das Thier hatte ein Stöhnen von sich gegeben, es bewegte sich, die Augen waren geöffnet.

Der Schrei rief Patrik und Timmy herbei.

»Der Seal lebt noch!« erklang es wie aus einem Munde.

Schon hatte der Vater den wuchtigen Knotenstock aus dem Winkel geholt und ihn zum Schlage erhoben.

»Vater, was willst Du thun! Du darfst den Seal nicht töten,« jammerte da Lucy und umklammerte seine Kniee, reckte sich hoch, um seine Hand zu fassen. Sie war im Hemdchen aus dem Bett gesprungen.

»Nein, Du darfst es nicht, Du weißt doch, was die kluge Frau gesagt hat,« fügte die Mutter angstvoll hinzu, »nur keinen Seal töten.«

Verwirrt ließ Patrik den Knüppel sinken und schaute hilfesuchend seinen Sohn an. Freilich, die kluge Frau hatte davor gewarnt, und Patrik fürchtete Hexen und Kobolde und verzauberte Menschen über Alles. Aber die fünfzig Pfund Thran?

Das Thier stöhnte noch immer, gerade wie ein Mensch, und wie menschlich die großen, schönen, braunen Augen einen ansehen konnten.

»Nicht hier,« flüsterte Timmy, »Lucy kann’s nicht sehen. Wir schleppen ihn hinaus und geben ihm draußen Eins auf den Kopf,«

Jedoch Lucy hatte die leisen Worte vernommen, und zum Schrecken ihrer Eltern und Timmy’s warf sie sich plötzlich wehklagend über den Seal und wollte ihn mit ihrem Leibe vor einem zweiten Mordversuch decken.

»Paß auf, er beißt Dich!« schrie der Vater und suchte sie zurückzureißen. Sie aber umklammerte mit beiden Armen den Leib des Thieres und bat immer wieder um sein Leben. Und der Seehund biß nicht.

Achselzuckend stand man von dem Vorhaben ab und schaute ängstlich dem komischen Mädchen zu, das unter Thränen und Schmeichelworten die Wunde mit einem nassen Tuche auswusch und dann geschickt einen Verband anlegte. Alles ließ sich der Seehund von den kleinen Hündchen gefallen, sein Stöhnen hatte sich in ein dankbares Grunzen verwandelt.

So blieb der Seal in Patrik’s Hütte, er verließ den warmen Winkel am Herd nicht mehr, er wurde geduldet, denn Lucy galt als seine Beschützerin, und man mußte des Kindes Willen thun, denn sonst brach es in Krämpfe aus, wie schon so oft, und dann hätte man wieder die kluge Frau holen müssen, und daß kostete vieles Geld. Aus Laufs Händen nahm er die frisch gefangenen Fische, ließ sich die Kopfwunde neu verbinden, sich streicheln und sogar auf die bärtige Schnauze küssen und beantwortete die Kosenamen mit einem zärtlichen Grunzen.

Den armen, unwissenden Fischern und der Mutter begann es immer mehr zu grausen, je inniger sich diese Freundschaft gestaltete. War denn ihr Kind ein Mensch von ihrem Fleisch und Blut, war denn dieser Seehund wirklich ein unvernünftiges Thier? Nein, es konnte nicht sein, der Blick war wirklich der eines Menschen, wenn die schönen Augen mit solch einem Ausdruck von unendlicher Dankbarkeit auf die Pflegerin geheftet waren, wenn er ihr die Hand küßte, die ihm die Fische reichte. Und die Beiden konnten sich wahrhaftig unterhalten, und was das Schlimmste war, Lucy verstand ihn, wie sie immer versicherte. Sie erzählte ihm von den Schafen, die auf dem Hochgebirge von Colonsay weideten, und daß ihr Tuch von deren Wolle gesponnen worden sei, und wenn das Thier behaglich grunzte, sagte sie, jetzt erzähle er, wie es in den Tiefen des Meeres aussehe, von seinen Eltern und Geschwistern, wie er mit ihnen gespielt habe, von den bösen Robbenschlägern an der fernere Küste, wie er von ihrer Keule getroffen worden sei, und das Haar der Zuhörer sträubte sich vor Entsetzen. Woher wußte sie die Geheimnisse des Meeres, sie, die nie das Boot hatte betreten wollen, woher kannte sie das Aussehen der Robbenbänke von Neufundland, die sie genau beschrieb, was von alten Fischern, die herüberkamen, um das Wunder mit eigenen Augen zu schauen, in allen Einzelheiten bestätigt wurde? Der Seehund erzählte es ihr eben, und sie verstand seine Sprache.

Auch die kluge Frau hörte, was sich auf Colonrock zutrug, sie kam und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Das bedeutete für Patrik’s Familie großes, großes Unglück, das Vieh mußte sobald als möglich fort, aber um Gottes Willen es nur nicht töten. Der Seehund verscherzte gleich von Anfang an ihre Gunst. Als sie ihm zu nahe kam, schnappte er nach ihr, knurrte und wies ihr die spitzen Zähne. Dies wiederholte sich immer, sobald sie sich dem kranken Thiere näherte.

Da wußte sie plötzlich, was es mit dem Thiere für eine Bewandtnis hatte. Vor vielen, vielen Jahren hatte der Kapitän eines aus den Robbenfang ausgehenden Schiffes geschworen, zehntausend Seehunde zu schlagen, wenn sein Schiff sie auch nicht bergen könne, und erreichte er diese Zahl nicht, so wollte er selbst ein Seehund werden. Das war denn auch geschehen. Wenn dieser Seehund mit den menschlichen Augen nicht der Kapitän selbst war, so doch einer seiner verfluchten Nachkommen, und in der klugen Frau witterte er die Bekämpferin alles Bösen, deshalb seine Abneigung gegen sie.

»Wenn die Wunde vernarbt ist, geht er doch in’s Wasser und kommt nicht wieder,« meinte Patrik.

»Paßt auf, was ich Euch sage,« entgegnete aber die kluge Frau, »Du hast den Teufel aufgefischt und in Dein Haus gebracht, und nun wirst Du ihn nicht wieder los. Ich weiß, was ich weiß. Na, wir wollen doch sehen, wer stärker ist, ob ich oder Du, Du Satanskind.«

Lucy lachte die Alte aus und küßte den Seal zum Entsetzen Aller.

Die Kopfwunde vernarbte. Schon lange rutschte Seal dem Mädchen in der Stube nach, wohin sie auch ging. Eines Morgens hatte Lucy ein langes Gespräch mit ihm. Jetzt sei er gesund, er sollte zu seinen Geschwistern zurückkehren, die ihn betrauerten, und sie nur manchmal wieder besuchen. Der Seehund schien anderer Ansicht zu sein, er schüttelte den Kopf und nieste.

Mit seinen Vorderflossen schob sich Seal — einen anderen Namen hatte er nicht bekommen — dem Mädchen nach, zur Hütte hinaus, schneller und schneller ging es den schönen Pfad hinab, zuletzt konnte er sich nicht mehr halten, überschlug sich ein paar Mal und schoß kopfüber vom Felsen hinab in das Wasser, daß es hoch aufspritzte.

Lucy setzte sich an das Ufer hin. Sie war über die Trennung recht traurig, sie freute sich, daß Seal nun gesund zurückkehren konnte, und sie hatte ihm ja das Leben gerettet. Gespannt warteten Alle, was nun kommen würde, ob der Seehund unter oder über dem Wasser auf und davon schwimme.

Da tauchte er wieder auf, prustete und peitschte das Wasser, rollte sich hin und her und trieb andere Spiele, so zeigend, daß er seine alte Schwimmkunst hinter dem Herde nicht verlernt habe, und das Alles galt Lucy, die er beständig anblickte, ob sie ihn auch bewundere, und je mehr sie in die Hände klatschte, desto toller tummelte er sich in seinem Element.

Plötzlich schoß er wie ein Pfeil davon, bald verschwand der otternartige Kopf in weiter Ferne.

»Nun ist er fort,« seufzten Patrik und Timmy erleichtert.

»Aber er kommt wieder,« fügte Lucy hinzu.

Noch hatte man den Strand nicht verlassen, als das Wasser in der Bucht plötzlich aufschäumte, etwas Dunkles tauchte auf, ein Ruck, ein Schlag mit der Schwanzflosse, und auf dem Trockenen lag zu Lucy’s Füßen der Seal, einen großen Schellfisch im Maul. Er legte ihn vor ihr nieder, rieb grunzend seine nasse Nase an ihrem Knie, patschte zurück in’s Wasser, und nach einigen Minuten kam zu dem ersten Fische ein zweiter. So ging es fort, bis der Strand ganz mit erbeuteten Fischen bedeckt war. Der Seal wollte nichts geschenkt haben, er zahlte seine Futterkosten zurück.

Es ist dies nicht etwa ein übernatürliches Wunder. Zahme Seehunde versorgen ebenso wie Fischottern ihre Herren mit Fischen, ohne daß sie dazu abgerichtet werden. Es macht ihnen Spaß, ihre Kunst zu zeigen.

Den Fischern graute es mehr und mehr, denn sie hatten noch nie von einem zahmen Seehund gehört, diese Thiere auch noch nie beobachtet.

Als die Fluth am höchsten gestiegen war, kletterte Seal den Weg zur Hütte hinauf, sich nach Lucy umsehend, ob sie ihm auch folge, und bettete sich in der warmen Asche.

Seal verließ Colonrock oder vielmehr seine Krankenpflegerin nicht mehr.

Wenn er auch einmal einen oder zwei Tage lang ausblieb, er kam doch immer wieder. Lucy sprach mit ihm und konnte dann die wunderbarsten Geschichten erzählen, wo er gewesen sei und was er erlebt habe. Jetzt brauchte ihn Niemand mehr zu füttern, im Gegentheil, er brachte so viel Fische herbeigeschleppt, daß es zur Ernährung der Familie gereicht hätte.

Daß sich Seal und Lucy verständen, darüber herrschte kein Zweifel mehr. Dort an der tiefsten Stelle der Umgegend hatte Patrik einmal seine Axt über den Bootsrand fallen lassen. Alles Fischen war vergeblich, er erreichte den Grund gar nicht mit dem Netz, oder es zerriß. Lucy sprach mit Seal, er sollte doch so freundlich sein und nachsehen, ob er die Axt nicht finden könne. Gleich machte sich der Seal nicht daran, das kluge Thier stellte sich wahrscheinlich, als hätte er es nicht verstanden, damit die Überraschung dann um so größer sei.

Seal kehrte sich nicht an die Hausordnung, er ging und kam, wenn er wollte, er konnte ja auch die Hüttenthür allein öffnen: wenn Alles schlief, verließ er oftmals den warmen Herd, um beim Mondschein im Wasser zu plätschern, und wenn sich die Fische zum Tagewerk erhoben, lag er schon wieder in seiner Ecke, wo ihm Lucy ein ordentliches Bett bereitet hatte, und schnarchte so friedlich und sah so trocken aus, als wenn er sich nicht die ganze Nacht draußen herumgetrieben hätte.

Eines Morgens that er wieder so unschuldig, aus der Thürschwelle aber fand Patrik seine Axt liegen.

Mit dem Seehund war nach Colonrock das Glück gekommen. Patrik’s Ewer vermochte nie mehr den Inhalt der Netze zu fassen, und doch klagten die anderen Fischer über ein schlechtes Fischjahr: ein Mastbaum trieb an,den Vater und Sohn nach Kilchattan bugsierten, und für den sie ein ganzes Goldstück erhielten. Das erste Goldstück in der armen Fischerhütte!

Die wundersame Mär von dem Seehund und seiner Braut — wie man Lucy genannt hatte — verbreitete sich weit über Colonsay hinaus. Zuerst kamen die umwohnenden Fischer und Hochschotten, das Treiben der Beiden anzustaunen, man brachte der Sealsbraut, welche das Wasserthier mit ihrem Augenwink lenkte, Geschenke mit, alte Silbermünzen, bunte Tücher und Wolle; dann kamen sie des Sonntags von entfernten Inseln, herüber, in ganzen Bootsflottillen, bewunderten die Sealsbraut und ihr zahmes Ungeheuer, schüttelten den Kopf, schmausten die mitgenommenen Vorräthe und ließen alles Übrige und Geschenke zurück. So wurde Colonrock zu einem Wallfahrtsort. Auch vom Festland erschienen Herrschaften in extra gemietheten Dampfjollen, Kaufleute mit ihren Familien, sie wollten sich überzeugen, ob es wahr sei, was die Zeitungen schreiben, oder ob sich der Seehund in eine Ente verwandeln würde. Bebrillte Herren stritten sich um das Thier, gaben ihm lateinische Namen und fragten das Mädchen, welches so merkwürdige Geschichten erzählen und so seltsame Weisen singen konnte, ob es nervös oder hysterisch sei, ob es transzendentale Eigenschaften besäße, woran Lucy lachend die blonden Locken schüttelte und antwortete, sie sei eben Lucy, des Patrik’s Tochter, und krank sei sie auch nie mehr, seit Seal bei ihr wäre, und was sie wisse, das hätte ihr der Seal erzählt, der gar weit herumgekommen wäre, und die Lieder thäten Ihr die Wellen vorsingen.

Einmal brachte ein Dampfer, an dessen Deck Alles wie Gold in der Sonne blitzte, eine vornehme Gesellschaft, lauter seine Herren und Damen, wie sie so schön Lucy noch nie gesehen hatte. Weil sie aber Alle so gut und freundlich zu ihr waren, verlor Lucy bald ihre Scheu wieder und ließ Seal seine Kunststücke machen. Er apportierte, was sie in’s Meer warf, tauchte die kleinste Münze vom Grunde auf, brachte auf ihr Geheiß frischgefangene Fische herbei, ließ sich ein Tuch um den Kopf binden, des Vaters Kalkpfeife in die Schnauze stecken, tummelte sich so im Wasser umher, sprang an’s Ufer, packte Lucy’s Kleid mit den Zähnen und wollte sie mit in sein Element ziehen. Warum kommst Du nicht mit und spielst mit mir? schien sein Blick sagen zu wollen.

»Bei Gott, das ist wirklich eine Sealsbraut!« rief die schönste der Damen, welche von den Anderen so ehrfürchtig behandelt und Mylady angeredet wurde. Sie fragte Lucy, ob sie nicht mit ihr gehen wolle, in einen Palast, sie wollte sie wie ihr Kind erziehen, Seal sollte ein eigenes Bassin gebaut bekommen, mit Salzwasser gefüllt, wenn sie nicht gerade am Meere wohnten. Lucy verneinte, es gäbe keinen schönen Ort als Colonrock, und Seal müsse ganz frei sein.

Der neben der Dame stehende, stolze Herr fragte lächelnd, ob sie ihn nicht kenne. Er sei ihr Lord, ihm gehörten Colonsay und Oronsay und alle, alle Inseln in diesem Meere, und was er oder seine Gattin sage, dem müßte unwiderruflich gehorcht werden.

Da brach Lucy in Thränen aus. Schnell zog die Lady sie an sich, küßte sie und sagte, es sei ja nur ein Scherz gewesen. Niemand sollte ihr stilles Glück rauben, und als sie ging, nahm sie vom Hals das goldene Kreuz und hing es Lucy um.

Es kamen noch schwerere Versuchungen, und gut war es vielleicht, daß Patrik die Anerbieten gar nicht für Ernst nahm. Ein Herr erschien und fragte, ob Lucy den dressierten Seehund nicht im Royal Aquarium zu London »vorführen« wollte, nur zweimal täglich. Sie brauche nichts Anderes zu machen, als ihn Fische fangen zu lassen, mit ihm so zu spielen wie hier. Dafür wohne sie im ersten Hotel, könne Eltern und Bruder mitnehmen, sich in Sammt und Seide kleiden, in der Equipage fahren und erhielte außerdem pro Woche fünf Pfund Sterling, zehrt Pfund, zwanzig Pfund, fünf Pfund Sterling täglich, für jede Vorstellung. Unverrichteter Sache mußte der Entrepreneur wieder abziehen: Lucy hatte ihn gar nicht verstanden, und Patrik hielt ihn für etwas verrückt.

Patrik’s Kisten und Kästen füllten sich, sein lederner Beutel strotzte von Silber- und Goldstücken, die hölzerne Hütte hatte sich in ein steinernes Häuschen verwandelt, ein neuer Ewer schaukelte in der Bucht, in dem Stalle brüllte eine milchgebende Kuh, eine Ziege kam dazu, dann ein Kalb, und das Glück wandte sich noch nicht von Colonrock, wenn auch die neugierigen Besuche immer mehr nachließen. Patrik ging seinem Gewerbe mit Timmy, wie früher nach, auf den Gedanken, sich einen Knecht zu halten, kam der einfache Fischer gar nicht. Er fühlte sich als wohlhabender Mann, der nicht mehr von der Hand im Mund lebte, sondern auch einmal einer kargen Zeit mit Ruhe in’s Auge sehen konnte, und in diesen Gedanken wäre er sehr zufrieden gewesen — wenn der böse Feind nicht Unkraut gesäet hätte.

Dieser böse Feind war die kluge Frau von Colonsay. Obgleich sie Lucy’s wegen nicht mehr nach Colonrock zu kommen brauchte, denn das blasse Mädchen erblühte wie eine Seerose, und Frau Patrik’s Zeit noch fernab war, erschien sie doch täglich in dem Häuschen, um, wie sie sagte, nach dem Rechten zu sehen.

Ob sie Patrik nun wegen seines Glückes beneidete, welches sie dem Seal zuschrieb, oder ob sie das Thier haßte, weil dieses sie immer anbellte und zu beißen suchte, kurz, sie gab sich alle mögliche Mühe, das Thier aus dem Hause zu bringen.

Ihr war es kein Zweifel, daß der Seehund ein böser Dämon sei, und daß Lucy ebenfalls von einem besessen war, welchem ersterer gehorchen müsse. Nun war es ja ihr Beruf, böse Geister zu bannen, und daß dieser ihr trotzte, reizte immer mehr ihre heimliche Wuth.

Ganz merkwürdig, wie sich die kluge Frau betrug. Tagtäglich erschien sie auf Colonrock, befahl herrisch, sie mit dem Seal allein in der Stube zu lassen, die Erwachsenen gehorchten ihr wie immer, und auch Lucy fügte sich lachend. Es wäre ihr ganz recht gewesen, wenn ihr Seal einmal fortblieb, nur frei wollte sie ihn wissen, und das dumme, alte Weib könnte ihn doch nicht »fortbannen«, meinte sie.

Sobald die kluge Frau mit dem Seehund allein war, kauerte sie vor ihm hin, aber in respektvoller Entfernung, und Beide starrten sich eine Weile ingrimmig an. Dann begann sie Zaubersprüche zu murmeln, sie sprach das Banngebot im Namen Gottes und im Namen Beelzebubs, sie rief alle guten und bösen Geister, Kobolde und Hexen an, den Seehund auf Nimmerwiedersehen in alle Meere hinauszujagen, Seal bellte, knurrte und pfauchte dazu, aber gehen that er nicht.

Da verzweifelte die kluge Frau an ihrer Kunst und war tief unglücklich. Fort mußte er doch, denn wenn Frau Patrik niederkam, und das Vieh war noch im Hause, so konnte man hundert gegen eins wetten, daß das Neugeborene mindestens einen Seehundsschwanz bekam, wenn nicht auch noch den Otternkopf. Das sah auch Patrik ein, der ins Vertrauen gezogene Timmy ebenfalls, und das arme Weib gerieth durch solches Geschwätz in Todesangst.

Auch die Nachbaren wurden von der klugen Frau aufgehetzt. Sie kamen und beschworen den Fischer, den Seal sich nun doch vom Halse zu schaffen. Ein gut Theil Neid war auch mit dabei, man schrieb das fabelhafte Glück eben ihm allein zu. Und Lucy war mit Allem zufrieden, denn getödtet durfte das Wunderthier mit den klugen, menschlichen Augen ja nicht werden.

Drei Mal schon hatten Patrik und Timmy den Seal mit in’s Boot genommen und waren in’s Meer hinausgefahren, so weit, daß man die Insel nicht mehr sah, hatten ihn über Bord geworfen, und jedes mal, wenn sie wieder zu Hause ankamen, lag der treue Seehund schon unter dem Herd und grunzte behaglich und blinzelte die Zurückkehrenden an. Und Lucy lachte.

»Ihr müßt hinter die Time-Insel fahren,« rieth die kluge Frau, von da kann er Colonrock nicht mehr sehen.«

Es war eine meilenweite und gefährliche Fahrt gewesen, beinahe hätten sie im Sturm Boot und Leben verloren. Erschöpft kamen sie zurück —- und Seal wärmte sich schon seit Stunden am Feuer. Lucy schüttelte sich vor Lachen.

Das Ereignis stand vor der Thür und Seal war noch immer im Hause. Patrik macht sich die ärgsten Gewissensbisse, besonders weil seine Frau eine so furchtbare Angst ausstand.

»Jetzt weiß ich es,« erklärte eines Tages die Teufelsbeschwörerin triumphierend, »nun sind wir ihn für immer los.«

In Kilchattan lag Kapitän O’Smalk mit seiner Brigg, welche den Thranauskochern an der unwirthlichen Küste Grönlands Proviant bringen sollte. Der mußte den Seal mitnehmen und ihn dort aussetzen. Bis dahin waren es mehr als tausend Meilen, bei sehr gutem-Winde segelte die Brigg sechs Tage, es konnte aber auch ein Monat vergehen, dort war Seal unter seinesgleichen, da würde er wohl das Wiederkommen vergessen, und überhaupt — — es war ja unmöglich, daß er die winzige Insel wiederfände.

Kapitän O’Smalk war ein Ehrenmann, auf sein Wort konnte man sich felsenfest verlassen, er hatte nie eine Robbe erschlagen, weil er sie wegen der klugen Augen für verzauberte Menschen hielt, er hatte von dem Wunder von Colonrock gehört, mit dem Kopfe geschüttelt und vor großem Unglück gewarnt.

Gesagt, gethan, man setzte sich mit dem frommen Mann auseinander, er erklärte sich dazu bereit, einen Christen von einem Kobold zu befreien, gab sein Ehrenwort, den Seal erst an der grönländischen Küste über Bord zu werfen, und Seal wurde zum Transport verpackt.

Lucy nahm zärtlichen Abschied von ihm. Ganz ohne Thränen ging’s nicht ab, aber Lucy tröstete ihn und sich selbst, es sei doch ganz gut, wenn er nun wieder in seine Heimat ginge, und wenn er sie einmal besuchen wolle, solle er nur kommen. Sein Bett am Feuerplatz halte sie immer bereit.

Seal wurde im Boot nach Kilchattan gefahren, an Bord der Brigg in einen Bottich mit Salzwasser gelegt, ein Netz darüber gespannt, und trat so die Reise nach Grönland an.

Auf Colonrock athmete Alles erleichtert auf. Nur Lucy war etwas niedergeschlagen.

So verstrichen zwei Wochen, und die Nacht kam, in welcher die kluge Frau drinnen in der einzigen Stube unter den üblichen Zaubersprüchen ihres Amtes waltet, während sich Patrik, Timmy und Lucy bei einem Talglicht einstweilen im Stall aufhielten. Patrik plagte sich mit schwarzen Gedanken, er sah schon im Geiste den neuen Sprößling mit Fischschwanz und Seehundskopf, Timmy bewunderte seine neue Seestiefeln, und Lucy unterhielt sich mit der Ziege über Seal, der nun an Grönlands eisiger Küste mit seinen Geschwistern spiele.

Endlich rief die kluge Frau, sie sollten kommen, es wäre all right, sie hätte es ja gleich gesagt, und hielt stolz dem Vater ein rothbraunes Etwas entgegen, was nach ihrer Behauptung der strammste Junge wäre, den sie je gesehen, und der Vater war schon glücklich, weder einen Fischschwanz noch einen Seehundskopf zu entdecken, wenn er auch im Stillen, dachte, daß so ein kleines Geschöpf doch sehr wenig Ähnlichkeit mit einem zukünftigen Menschen hat.

Als die kluge Frau noch ihre Erläuterungen gab, die Kinder das Brüderchen anstaunten und Patrik sich verlegen hinter den Ohren kratzte, wurde die Thür von draußen aufgestoßen und herein plumpste aus seiner aufrechten Stellung — der Seal, rund wie eine Walze, grunzte vergnüglich, und ließ sich von Lucy umarmen und küssen.

Er hatte sich auch von Grönland zurückgefunden und sich unterwegs, wie man sagt, Einen angefressen. Seine Haut war straff wie ein gespanntes Trommelfell.

Zuerst verzweifelte die kluge Frau, im Laufe der Tage nahm sie den, alten Kampf wieder auf, den Satan durch Beschwörung fortzubannen.

Was war es nur, das sie wie mit einem Magneten nach Colonrock zog? Die Augen, ja, diese großen, braunen Augen mit dem menschlichen Blick waren es. Ob sie wollte oder nicht, sie mußte hin nach Colonrock, sich vor dem Thiere niederkauern und ihm wutentbrannt in die Augen starren. Wie zwei unversöhnliche Feinde maßen sich die Beiden. Der Eine wollte den Gegner mit feinem Blicke davon treiben, der Andere machte ihn durch den seinen unschädlich.

»Die Augen sind es, die Augen,« murmelte die kluge Frau, und ein teuflischer Plan stieg in ihr auf.

Es geschahen Wunder und Zeichen, das Ende der Welt schien nah zu sein. In der Nacht leuchtete ununterbrochenes Nordlicht, der Himmel schien manchmal in Flammen zu stehen, es regnete Sternschnuppen, schon lange Zeit herrschte fürchterliche Hitze und Windstille. Die Küste fuhr ein Regierungsdampfer entlang, die Fischer warnend, sobald Westwind käme, d könnte man sich auf Orkan und Sturmfluth gefaßt machen. In Amerika wüthe schon seit Tagen ein Alles verheerender Hurikan.

Nach der Ansicht der klugen Frau war daran einzig und allein der zurückgekommene Seal schuld, und sie wußte dies auch Patrik und Timmy begreiflich zu machen. Nur zögernd gingen sie auf den neuen Plan ein, aber sie thaten es doch. Die Macht der klugen Frau war zu groß.

Patrik’s Weib war schon mit dem Kindchen in der Küche gewesen, heute wollte es einmal zum Besuch hinüber nach Oronsay, in Begleitung von Lucy.

Lucy nahm von dem hinter dem Herd liegenden Seal Abschied und versprach, in zwei Stunden zurück zu sein und ihm einen Strauß Feldblumen mitzubringen.

Kaum waren sie fort, als die kluge Frau erschien.

»Ist Alles bereit? Habt Ihr das Boot klar? Macht nur noch Feuer an, dann werde ich schon mit ihm allein fertig.«

Timmy entzündete auf dem Herd ein großes Holzfeuer, wozu Seal unwillig brummte. Es war ja so schon heiß genug heute, wozu da noch ein Feuer? Dann knurrte er, denn seine Freundin, die kluge Frau, kam herein. Sie nahm das spitze Schüreisen, steckte es ins Feuer und setzte sich wie gewöhnlich dem Thiere gegenüber. Beide schauten und knurrten sich an. Immer höhnischer ward der Blick der Alten, grinsend nickte sie ihm zu, und Seal wurde unruhig. Er rutschte nach der Thür, richtete sich daran hoch und drückte mit dem Kopf auf die Klinke. Aber er konnte sie nicht öffnen, zum ersten Male nicht. Es mußte draußen etwas davor gestemmt sein.

Mißtrauisch blickte er nach der klugen Frau zurück. Diese war ihm; gefolgt, sie hatte die Hand auf dem Rücken, und darin hielt sie das aus dem Feuer genommene Eisen mit der weißglühenden Spitze.

»Du Satansbraten, nur Deine Augen sind daran schuld. Wenn Du sie nicht mehr hast, wirst Du auch nicht wiederkommen können.«

Mit einer blitzschnellen und sicheren Bewegung stieß sie zu, zischend drang die glühende Spitze in das schöne, treue, braune Menschenauge des Thieres. Unter einem furchtbaren Schmerzgeheul wand sich der Seehund am Boden. Nur ein zum Tode verwundeter Mensch konnte so schreien. Zum zweiten Stoß bereit stand das Weib da. Das Thier sollte nun einen Augenblick zur Ruhe kommen, auch das zweite Ziel wollte sie nicht verfehlen.

Jetzt verstummte der Seehund, richtete sich auf der einen Borderflosse halb auf und erhob die andere, gegen das Weib die Zähne fletschend. Sie stieß zu, aber geschickt parierte die Flosse den Stich, einen zweiten, einen dritten. Das Weib schäumte vor Wuth, schneller und schneller stieß sie —- vergebens.

Da sah der Seehund am Fenster zwei Köpfe, den von Patrik und von Timmy. Sie schauten zu, wie der Seal, der ihnen das Glück gebracht, der an ihnen mit Liebe und Zärtlichkeit gehungert hatte, geblendet werden sollte, und sie standen ihm nicht bei, stürzten nicht herein und schlugen das weibliche Scheusal zu Boden.

Traurig und vorwurfsvoll blickte das letzte Auge sie an, die Flosse wehrte nicht mehr den Stich ab, zischend verrichtete das heiße Eisen noch einmal sein Zerstörungswerk. Ohne einen Laut von sich zu geben, rollte das gequälte Thier auf die Seite.

Die beiden Männer kamen herein.

»Vater, wir hätten es doch nicht thun sollen,« flüsterte Timmy angstvoll, »hast Du gesehen, wie er uns anblickte?«

»’s ist besser so, es mußte sein, die kluge Frau hat es ja gesagt. Herr Gott er wird doch nicht todt sein?!«

Aber Seal war nicht todt, er wollte sich erheben und dem Herde zukriechen. Sie schlangen ein Netz um ihn, schleiften ihn hinaus, in’s Boot und fuhren hinter die Tiree-Insel, immer im Zickzack, oftmals auch Kreise beschreibend. Allein kamen sie zurück.

Die heimkehrende Lucy brachte die versprochenen Feldblumen nicht mit. Sie hatte sie unterwegs weggeworfen und dazu ohne jeden Grund geweint. Ihre Augen waren so groß und glänzend, die Hände feucht und kalt.

»Sie hat den Seenix gesehen,« meinte die kluge Frau, »der treibt wieder an der Kiste von Oronsay sein Wesen,« schickte sie in’s Bett und gab ihr aus dem Beutel, den sie immer auf der Brust trug, eine Wurzel zu kauen und ein trockenes Blatt unter den Kopf.

»Wo ist Seal?« fragte Lucy.

»Der spielt draußen im Wasser.«

Die kluge Frau ging und kam jeden Tag wieder, mußte kommen, denn mit Lucy wurde es schlimmer und schlimmer. Sie aß nichts mehr, trank auch keine Milch und magerte mit entsetzlicher Schnelligkeit ab. Wenn sie den Mund öffnete, so that sie es nur, um nach Seal zu fragen, und wenn er noch nicht wieder da war, wandte sie sich der Wand zu und weinte still vor sich hin. Zuletzt fragte sie nicht mehr nach ihm.

»Unser Mittel war gut,« erklärte die kluge Frau leise den beiden Mitverschworenen, »habe ich’s wohl gesagt, nun kann das Teufelsvieh nicht wiederkommen. Jetzt hat er seine verhexten Augen verloren, damit auch seine menschliche Seele, er magert etwas ab, ebenso Lucy, und dann, wenn der Zauber ganz todt ist, wird sie sich wieder erholen und ein ganz anderer, vernünftiger Mensch werden, gerade so vernünftig wie die anderen Kinder. Paßt auf, ich habe es gesagt.«

Es war ein schlechter Trost, den die kluge Frau gab, denn Lucy’s Lebensflämmchen schien verlöschen zu wollen. Die Mutter rang die Hände, sie konnte auch ihr Kind nicht mehr stillen, Patrik blickte scheu zu Boden, und Timmy schlich mit bösem Gewissen herum.

Zehn Tage waren vergangen, seit man den geblendeten Seehund ausgesetzt hatte.

Der Abend brach an, von Westen her brauste der prophezeite Sturm, das Meer tobte und kochte an Colonrock hinauf. Drinnen saßen Vater, Mutter und Sohn um das Bett und lauschten angstvoll den fieberwirren Reden der Kranken. Man erkannte Lucy nicht wieder. Es war nur noch ein Hauch, ein Gerippchen ohne Fleisch und Blut. Die kluge Frau hatte kommen wollen, aber wie war das bei diesem Wetter möglich! Über die Landzunge wüthete die hohe See, kein Boot konnte absetzen oder landen.

Plötzlich wurde es finstere Nacht. Das war nicht mehr das Heulen des Sturmes, das war das Gebrüll der entfesselten Geister der Hölle. Der Felsen erbebte in seinen Grundfesten vom Anprall der Wogen.

»Colonrock steht fest und unser Haus sicher,« sagte der Vater, »das Wasser kann nicht herauf.«

»Ein schmetterndes Krachen erscholl. Vater und Sohn sahen sich stumm an und nickten einander düster zu. Lucy hatte sich halb emporgerichtet, mit glühenden Augen schaute sie um sich.

»Das war der Seal,« flüsterte sie, »hört Ihr — er kommt — er hat mich doch wiedergefunden — mein Seal.«

»Mein armes Kind, das war der Einer, er ist am Felsen zerschmettert. Mag er, mir kaufen einen neuen.«

»Nein nein — der Seal ist wieder da —- hört Ihr ihn nicht an der Thür? — er kratzt —- oh laßt ihn doch ein —- er ist so müde —- und ich — ich —- auch —«

Mit geschlossenen Augen sank sie kraftlos zurück.

»Der Seal ist wieder da — ich bin so froh,« flüsterte sie noch einmal.

Timmy sah nach der Thür und lauschte.

Kratzte es nicht wirklich an der Thür?

Er öffnete sie.

»Vater, der Seal ist wieder da!«

Draußen vor der Schwelle liegt der treue Seehund, zum Skelet abgemagert, todt. Er hatte sich auch blind wieder zurückgefunden, aber welche Wege mochte er durchschwommen haben!

»Lucy ist todt!« schrie da die Mutter verzweifelt auf.

»Gott sei uns gnädig! Vater, Vater!!«

In der Atmosphäre pfiff, heulte und donnerte es, eine ungeheure Woge kam mit Windeseile angeprallt — sie ging über Colonrock und seine Bewohner hinweg.


Die Sonne ging wieder auf über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte. Die Küstenbewohner, welche sich in’s Gebirge geflüchtet hatten, näherten sich dem Strand, den Schaden zu besichtigen. Der Sturm war vorüber, das Meer tobte sich aus, und die Sonne schien so freundlich.

Eine Fischergruppe umringte die angeschwemmten Leichen, Menschen und Thiere, hörten der Auseinandersetzung der klugen Frau zu und blickten nach Colonrock hinüber. Nackt blickte es aus dem Wasser hervor. Das Haus war verschwunden, selbst die mächtigen Felsblöcke waren weggespült worden.

»Ich habe es ja gleich gesagt, der Seal ist an Allem schuld,« schloß die kluge Frau ihre Rede, und man glaubte ihr.

Am Strand lagen die Leichen von Patrik und Timmy, die Mutter hielt den Säugling in den Armen, Lucy hatte den Seal umschlungen, wenigstens schien es so. Die Wellen hatten die treuen Freunde noch vereinigen wollen, sie hatten sie so an’s Ufer getragen.

Lucy’s blondes Köpfchen ruhte an seiner Brust, er hatte die leeren Augenhöhlen auf die kluge Frau gerichtet. Sein schönes Fell schlotterte am mageren Körper, kein Loth Speck war mehr daran. Das blinde Thier hatte ja keinen Fisch mehr fangen können, es war verhungert und fand im Tode noch den Weg zu der, die es liebte.

Das ist die Geschichte vom Glücke von Colonrock und von seinem Ende, von dem Seehund und der klugen Frau, und der Erzähler möchte sie sei nicht wahr.