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Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.

   

Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.

Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.

Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.

 

Inhaltsverzeichnis


1. KAPITEL. DIE ARCHE NOAH.
2. KAPITEL. EIN SÄBELDUELL UND SEINE FOLGEN.
3. KAPITEL. MISTER TABAK UND DER PEITSCHENMÜLLER.
4. KAPITEL. DIE GRÜNEN UND DIE ROTEN.
5. KAPITEL. IM LANDE DER VERZWEIFLUNG.
6. KAPITEL. WAS MIR DIE PATRONA ERZÄHLT.
7. KAPITEL. »IST DAS NICHT HERRLICH?«
8. KAPITEL. DIE GAUKELEI BEGINNT.
9. KAPITEL. »DU BIST, MEIN LIEB, SO SCHÖN UND SCHWEIGSAM WIE DIE NACHT!«
10. KAPITEL. ILSES GEBURTSTAG.
11. KAPITEL. IN MARSEILLE.
12. KAPITEL. IN PARIS, MEINES VATERS BRIEF UND EINE ROSE.
13. KAPITEL. DER ATLANTIK-INDIA-ATLANTIK-MARSCH.
14. KAPITEL. IM ATLANTIK-INDIA-THEATER.
15. KAPITEL. AM ANDEREN MORGEN.
16. KAPITEL. »ZU DIESEM AUGENBLICKE MÖCHT’ ICH SAGEN –«
17. KAPITEL. GELD UND CHININ.
18. KAPITEL. EIN LEBENDES RÄTSEL.
19. KAPITEL. BROT AUF DEM MEERE!
20. KAPITEL. EIN KAUM GLAUBLICHER VORFALL.
21. KAPITEL. DIE SEEZIGEUNERIN.

Anfang
Teil 1

M01

1.KAPITEL.
DIE ARCHE NOAH.

Ich hatte in Bremerhaven auf dem Dreimastschoner »Therese« als zweiter Steuermann angemustert. Wir gingen mit Ballast nach Cardiff in England, nahmen Kohlen für Valparaiso und wollten als Rückfracht in Iquique Chilisalpeter laden.

Nach sechs Wochen denkbar günstigster Fahrt waren wir schon auf der Höhe von Kap Virgins, dem Südostzipfel Patagoniens und wenn alles gut ging, konnten wir morgen um dieselbe Zeit schon Kap Horn hinter uns haben.

»Stürmann, dorten aus der Luke roocht’s,« sagte da im Vorübergehen zu mir ein Schiffsjunge, der aus der Kombüse das Mittagsessen holen wollte.

Ein Blick, und ich wußte alles.

»Feuer im Schiff, klar die Boote!!!«

Die Kohlen hatten sich selbst entzündet, und da war gar nichts mehr zu wollen. Ja, wir konnten Wasser hineingießen, an Salzwasser fehlte es uns ja nicht, aber dazu mußten doch erst die Luken geöffnet werden, und das ist es ja, woran das schwelende Glimmen nur wartet, auf die nötige frische Luft, um als helles Feuer herauszuschlagen. Wenn es erst einmal qualmt, dann ist es vorbei.

Ade Therese! Wir packten unsere Kleiderkisten und setzten die Boote aus, alle drei. Dann mußten wir noch so tun, als wollten wir löschen. Als nur das erste Brett abgehoben wurde, schlug schon eine rote Lohe heraus, und der erste Steuermann, der sich zu weit vorgewagt, wäre bald in das Flammenmeer gestürzt, die Gase hatten ihn schon betäubt.

Nun aber schleunigst fort! In wenigen Minuten würde der Eisenkasten ein glühender Kanonenofen sein.

Ade, Therese! Wir scheiden ohne Kummer. In Valparaiso hätten wir Dich sowieso sämtlich verlassen.

Ja, wir hatten eine herrliche Fahrt gehabt, und es war ein neues Schiff mit neuer Takelage, noch keine Hand hatte sich wund gearbeitet, und der Kapitän Jürgens war ein prächtiger Mensch – aber bei der Einnahme des Proviants hatte er nichts zu sagen gehabt. Und die Reederei gehörte zu jenen Aktiengesellschaften, welche es sogar den Matrosen vom Leibe abknapsen, um ein paar Groschen mehr Dividende zahlen zu können. Das Hartbrot war voll Würmer, mit den Erbsen hätte man keine Schweine gefüttert, der Speck war blau angelaufen, das Salzrindfleisch stank bereits. Gegen solche Kost rebellierte sogar mein Magen, der, von ewigem Heißhunger geplagt, sonst alles vertrug. Einige Matrosen zeigten schon deutliche Spuren von Unterernährung, wollten immer schlafen und klappten nach jeder größeren Anstrengung zusammen. Ehe wir Valparaiso erreicht, hätte der Hungertyphus ausbrechen können. Der brave Kapitän hatte seine Würste und Schinken und Konserven mit uns geteilt, aber was war das für achtzehn Mann. Ein Tropfen auf einen heißen Stein. In Valparaiso hätten wir anderen Proviant gefordert, und da wir doch keinen bekommen hätten, wären wir alle desertiert.

Wir stießen ab, als Schiffbrüchige auf hoher See im offenen Boot. Denn auch das Aufbrennen zählt zum Schiffbruch. Ein schreckliches Wort. Für uns war’s ein Vergnügen. Ich war schon zweimal um Kap Horn gesegelt, kannte diese Gegend nicht anders als wie die meisten Schiffer davon erzählen, als den Schrecken des Seemanns. Eine tobende Wasserwüste, von ewigem Schneesturm aufgepeitscht, ehe man die Segel setzen kann, muß man mit der Marlspieke das Eis abklopfen, umlauert von Klippen und tausend anderen Gefahren.

Diesmal war es anders. Es war Mitte Januar, hier unten also Hochsommer! Kein Wölkchen am blauen Himmel, die Hitze aber durch ein kühles Lüftchen gemildert, das die maragdgrüne See ganz leicht kräuselte. Und aller menschlichen Berechnung nach, würde dieses Wetter noch lange Zeit anhalten.

Was gab es da also auszustehen? Es war eine angenehme Spazierfahrt, eine Gondelpartie. Wir ruderten nach der Küste, die wir, wenn keine Strömung dazwischen kam, in acht Stunden erreichen würden. Hatten wir bis dahin noch kein Schiff gesichtet, das wir unserer Aufnahme für würdig hielten, so fuhren wir noch einige Stunden weiter, in die Magelhaenstraße hinein. Dort hatten wir unter den Dampfern die Auswahl. Denn vom ersten besten Schiffe ließen wir uns nicht etwa »retten«. Sonst kamen wir schließlich wieder auf so einen Hungerkasten. Nein, ein Passagierdampfer, ein möglichst großer, mußte es sein, auf dem es schon zum ersten Frühstück Bratwurst mit Rosenkohl gibt. Zwar nur für die erstklassigen Passagiere, aber gegen unglückliche Schiffbrüchige ist man doch nicht so. Und wir wollten denen schon etwas vormachen, was wir ausgestanden hätten. Ach, wie wir uns freuten!

Ich steuerte die kleine Jolle, bemannt mit drei Matrosen, einem Schiffsjungen und dem Segelmacher. Gleich in der zweiten Stunde kreuzte uns eine Bark mit norwegischer Flagge entgegen. Sie änderte den Kurs, hielt auf uns zu, obgleich wir uns gar nicht um sie kümmerten. Denn die uralte Schmak sah gar nicht nach Bratwurst und Rosenkohl aus, auf der war das Hartbrot sicher ebenfalls lebendig.

In Rufweite gekommen, brüllte Kapitän Jürgens hinüber, daß die »Therese« aufgebrannt sei, machte sonst seine Meldung. Drüben der Kapitän fragte zurück, ob wir aufgenommen sein wollten. Wir winkten gnädig ab, sahen, wie der Kapitän die Achseln zuckte. Nun, wenn wir nicht wollten – das kann ja jeder machen wie er will.

Dann kam von Süden her ein Dampfer. Na, wie der aussah! Wenn der mit einem anderen Schiffe zusammengeriet, blieben die beiden aneinander kleben. Förmlich mit Fett überzogen, alles eine Schmiere. Und dieser Gestank von verbranntem Tran, auch bei Windstille drei Seemeilen weit zu riechen. Ob wir aufgenommen werden wollten? Gott sei uns gnädig! Ein nordamerikanischer Walfischjäger, zwei Jahre unterwegs!

»Aller guten Dinge sind drei,« sagte der Segelmacher, ein Rheinländer, ein dufter Bruder, sein Vater hatte bei Köln eine große Stahlwarenfabrik, sang mit Vorliebe Studentenlieder, wenn er auch nur bis zur Obertertia gekommen, wonach er einen Griff in des Vaters Kasse gemacht hatte und zur See gegangen war, »aller guten Dinge sind drei – das nächste Schiff, das uns einlädt, ist ganz sicher ein Guanokasten.«

Aber an diesem Tage sollten wir überhaupt kein Schiff mehr in Sicht bekommen. Von den Dampferlinien befanden wir uns noch weit ab, und die Segler sind doch rar.

Als die Sonne sank, stellte sich, wie in letzter Zeit immer, starker Nebel ein, der die ganze Nacht anhielt – eine sichere Garantie, daß morgen wieder ein prächtiger Tag würde.

Bald sahen wir die Hand nicht mehr vor den Augen, auch die Bootslaterne hatte gar keinen Zweck, leuchtete wie ein Glühwürmchen. Ich hatte meine Instruktionen. Ab und zu ein Tuten auf dem Nebelhorn. Es dauerte nicht lange, so bekamen wir keine Antwort mehr. Auch einige Signalschüsse wurden nicht erwidert. Wir hatten die beiden anderen Boote verloren. Nun, mochte es sein.

Ich ließ die Riemen einnehmen. Wir hatten ja Zeit, wozu sich abhetzen. Unser Magen knurrte mächtig. Wir waren ja um das Mittagsessen gekommen. Hatten uns freilich auch davor gegraut. Geräucherte Fleischwaren hatte uns der Kapitän nicht mehr geben können, wohl aber jedem Boote einige Flaschen Rum und Genever.

So machten wir uns auf dem Spiritusapparat einen tüchtigen Grog, in den wir den lebendigen Zwieback tauchten. Das war doch einmal etwas anderes. Sogar die Butter war vollständig ungenießbar. Wir fr..., speisten wie die Wölfe.

Dann konnten sich die fünf in die Segel wickeln und schlafen. Ich wachte bis Mitternacht, dann weckte ich den Segelmacher, einen Unteroffizier, der mußte bis Tagesanbruch wachen. Und er tat’s gern. Der mißratene Sohn war ein tüchtiger Kerl geworden, verstand seine Sache, das Segelnähen, so gut wie jede andere seemännische Arbeit, ein treuer Kamerad, von unverwüstlicher Heiterkeit, eben ein echter »Kölner Jong«.

Auch ich legte mich schlafen. Träumte von Bratwürsten und Rosenkohl. Ich hatte mich nun einmal in dieses Gericht verrannt. Es war eine Reminiszenz aus meiner Schiffsjungenzeit, wo ich einmal gehört hatte, daß es auf den großen Passagierdampfern für die Salongäste schon beim ersten Frühstück Bratwurst mit Rosenkohl geben sollte. Natürlich konnte das nur ein Märchen sein. Solch einen fabelhaften Luxus gibt es doch gar nicht auf der Erde. Dann später hatte ich nie darüber nachgeforscht, ob es vielleicht doch Wahrheit sein könne – jetzt nach zehn Jahren fing plötzlich wieder die Bratwurst mit Rosenkohl in meinem Gehirn zu spuken an.

Eben hatte ich im Traume die zwanzigste verzehrt, ohne die geringste Sättigung zu merken, als ich gerüttelt wurde.

Es war vier Uhr, der Tag graute. Das heißt, es war um uns herum wie etwas durchsichtige Milch. Zu melden hatte der Segelmacher nichts, hatte unterdessen aber schon den Kaffee gebraut, hatte auch schon wieder die Rumbuttel in der Hand, die ich ihm aber abgeht.

Die anderen räkelten sich unter den Segeln hervor. Dabei warf der eine den Kaffeetopf um. Es sollte keinen Auseinandersetzungen deswegen kommen.

»Do steiht een Kasten!«

Anfang

Jetzt sahen wir alle die schattenhaften Umrisse eines Schiffes. Gleich darau wurde der Nebel von der Sonne wie ein Schleier gehoben, und da stand im Osten ein majästischer Dreimaster mit voller Takelage, wenn auch alle Segel festgemacht. Der Schornstein in der Mitte verriet, daß er auch eine Maschine im Bauche hatte.

»Ein Kriegsschiff! ein Kreuzer!!«

Drüber waren wir uns sofort klar. Nur Kreuzer der Kriegsmarine verbinden noch eine wirklich brauchbare Bemastung und Takelage, mit der man auch wirklich segeln kann, mit einer Maschine. Bei Handelsschiffen kommt das gar nicht mehr vor. Die ganz verschiedene Bauart, die für ein Segelschiff und für einen Dampfer nötig ist, läßt sich bei einem Kauffahrer, bei dem Zeit Geld ist, nicht vereinen. Entweder nur Segel, oder nur Dampf. Höchstens die Winden werden durch eine kleine Hilfsmaschine getrieben. Bei einem Kriegsschiff ist das ja etwas ganz anderes.

Überhaupt erkannten wir auf den ersten Blick, daß es nur ein Kriegsschiff sein konnte.

Nur eines hätte uns irre machen können. Daß am Heck keine Flagge wehte, hatte nichts zu sagen. Die Kriegsflagge ist nicht immer gehißt. Aber der lange Kriegswimpel muß am Großtopp unbedingt wehen. Und der fehlte hier. Das Schiff drehte uns etwas das Heck zu, aber die Entfernung war zu groß, als daß man den Namen mit bloßem Auge hätte erkennen können. Nur für den äußerst weitsichtigen Matrosen Moritz nicht. Ehe ich das Fernrohr aus dem Futteral gezogen, hatte der schon die Namen buchstabiert.

»Arche Noah.«

»Was, Arche Noah?« lachte ich.

Dann klärte mein Fernrohr den Irrtum auf.

Der Name des Schiffes war »Argos«, darunter stand der des Heimathafens – Noald.

Der Matrose hatte aus »Argos Noald« mit seinen weitsichtigen Augen »Arche Noah« gemacht.

Noald ist ein kleines Hafenstädtchen bei Liverpool, mit kleiner Werft, sehr tüchtig im Schiffsbau, berühmt wegen seiner Rennjachten, noch mehr wegen seiner Modelle, die es der englischen Kriegsmarine liefert. Große Schiffe können auf der kleinen Werft freilich nicht hergestellt werden. Sie ist nur für feinste Präzisionsarbeit. Aber immerhin, solch einen Kreuzer wie diesen kann sie schon liefern.

Nun aber konnte es auch nicht mehr ein Kriegsschiff sein. Einen Kriegshafen Noald gibt es nicht. Und dennoch war es dem Baue nach ein Kriegsschiff, was wir uns nun aber gleich zusammenreimen konnten.

Wir hatten vorhin etwas vergessen. Es gibt wohl Privatschiffe, die mit voller Takelage eine starke Maschine verbinden: Expeditionsschiffe. Dazu werden ja überhaupt gern ausrangierte, aber noch seetüchtige Kreuzer der Marine genommen. Wir hatten sicher das Schiff einer englischen Südpolarexpedition vor uns.

»Stürmann,« sagte der Segelmacher, »da frühstücken wir wenigstens drauf, und so ein Polarschiff ist am Anfange der Reise so gut verproviantiert, daß es auf ein paar Würste und Schinken und Butterbüchsen gar nicht ankommt.«

Das war bei mir bereits beschlossen gewesen. Diesmal winkten wir nicht ab, warteten auch auf keine Einladung, sondern ruderten gleich hin. An der Bordwand zeigten sich einige Männer, sonst aber brachte das offene Boot auf hoher See sehr wenig Aufregung hervor. Es war bei diesem herrlichen Wetter alles viel zu gemütlich.

»Sachte, Jungens, nicht so pulen!« ermahnte der Segelmacher. »Laßt die Zunge ein bißchen zum Halse heraushängen, wir müssen einen total erschöpften Eindruck machen, sonst kriegen wir dort auch wieder nur Tee mit Zwieback und Butter.«

Ein Fallreep wurde herabgelassen, wir machten das Boot fest und kletterten hinauf. Zuerst wurden wir von einer ganzen Menge oder sogar Unmenge von Hunden begrüßt. Aber Eskimohunde, die den Schlitten ziehen sollten, waren das nicht. Doggen, Pintscher, Bullenbeißer, Windspiele, riesige Bernhardiner und winzige Schoßhündchen und was weiß ich. Anfeinden taten sie uns ja nicht gerade, aber sie machten einen Heidenspektakel.

Ein baumlanger Mann mittleren Alters – ich will ihn gleich als Kapitän Gustav Martin aus Blankenese vorstellen – beide Backentaschen voll Kautabak und die Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, sprach uns an, aber es war kein Wort zu verstehen, so bellten und quietschten die Köter, bis der Mann, ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, mit seinen endlos langen Beinen Fußtritte nach allen Richtungen verteilte, worauf das Viehzeug endlich Ruhe gab und sich zurückzog.

»Schiff verloren?«

Ich erstattete Bericht.

»So. Hm. He, Schmidt, habt Ihr’s gehört? Meldet es der Patronin. Was da werden soll.«

Ich hatte Englisch gesprochen, der Kapitän hatte diese letzten Worte auf Deutsch zu einem anderen, noch jungen Manne gesagt.

Ohne sich noch weiter um uns zu kümmern, ging der Kapitän nach der Treppe, die zur Kommandobrücke hinaufführte, brauchte zu den zehn oder zwölf Stufen nur zwei Schritte, setzte sich oben, immer ohne die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, auf einen festgeschraubten Feldstuhl und hing seine Beine vor sich über das Geländer.

Der junge Mann, Offizier oder Matrose – das ist ja auf einem Handelsschiff gar nicht zu unterscheiden, auch der Kapitän trägt seine alten Anzüge auf – zögerte noch etwas, blickte mich an, und ich blickte ihn an.

Herr Gott, kannte ich dieses Gesicht nicht schon? Schmidt hieß er? Aber die Schiffskameraden, so weit sie Matrosen sind, kennen sich ja alle nur bei Vornamen. »Georg – bist Du’s oder bist Du’s nicht?« fragte der. »Ja, Georg Stevenbrock –«

»Natürlich, Georg! Kennst Du mich denn nicht mehr? Ich bin der Ernst – vom Bollriger »Mozart« – von Hamburg nach Port Natal und zurück.«

Ach, der Ernst! Wir hatten eine Reise zusammen als Matrosen gemacht. Vor sechs Jahren. Eine Freundschaft war es nicht geworden, wir hatten uns dann gleich wieder vergessen, ich wußte nicht, daß er unterdessen ebenfalls Steuermann geworden. Aber ein guter Kamerad war er gewesen, und man freut sich doch, so einen wieder zu sehen.

Wir schüttelten uns die Hände, dann ging er, der Patronin zu berichten.

Also eine Patronin gab es an Bord. Der mitfahrende Schiffsbesitzer wird Patron genannt, ist es eine Dame, dann ist’s eben die Patronin oder Patrona. Aber nicht etwa, wenn er nur der Vertreter der Reedereigesellschaft ist, mag er auch noch so viele Aktien haben. Dann ist er nur der »Agent«, auch auf deutschen Schiffen englisch ausgesprochen – Ehdschent. Das sind solche Titel, die das Seemannsleben so mit der Zeit geschaffen hat. Patron ist ein ganz exklusiver Ehrentitel. Eigener Besitzer eines Schiffes, ein freier Seekönig, obgleich Handel treibend. Ein Jachtbesitzer ist immer wieder etwas anderes, kann sich nicht mit einem Patron messen. Eine Jacht kann jeder haben, der Geld genug hat, der fährt nur ab und zu aus Liebhaberei zur See. Der Patron ist der freie Fürst im zunftmäßigen Seemannsberufe.

»Hier sind wir aber wirklich in eine Arche Noahs geraten!« meinte der Segelmacher.

Ja, da hatte er recht. Die Hundemeute war noch das wenigste Viehzeug. Überall sonnten sich Katzen, gewöhnliche Hauskatzen, aber auch einige Angoras und sonstige exotische waren darunter. Über Deck kam eine Elster gehüpft, hackte mir schnell einmal in die Stiefel und sprang dann auf einen Bernhardiner, suchte ihm Flöhe ab. Auf dem Ruderhäuschen stand ein großer Käfig, in dem Lachtauben gurrten, und sie waren nicht etwa eingesperrt, jetzt machten einige ihren Morgenflug. Hinter einem Taubündel amüsierte sich ein junger Waschbär mit einer großen Kugel. Jetzt erst bemerkten wir, daß in der Takelage mehrere Affen herumturnten –

Wohin man blickte, man mußte nur suchen – überall entdeckte man neues Viehzeug anderer Art.

»Reeehhhh!!!« rief der Kapitän, die Einleitung zum nachfolgenden Kommando, ohne seine Beine vom Geländer zu nehmen. »Hol an Steuerbordbrassen Kreuzmast!!«

Aus dem Matrosenlogis unter der Back stürmten acht Mann hervor, ihnen voran aber noch ein Schwein, reichlich groß und dick, wenn auch nicht gerade gar so fett gemästet. Und wunderte ich mich schon, daß es gleich dorthin galoppierte, wohin das Kommando rief, so sollte es noch viel besser kommen.

Eine Rahe wurde nach der anderen angeholt. Das geschieht immer in taktmäßigem Laufschritt, die Matrosen rennen immer hin und her. Und das Schwein galoppierte immer nebenher. Und nicht nur das, sondern wenn es zum nächsten Mast und zur nächsten Brasse ging, dann rannte das Schwein sogar voraus, als wollte es die Leute zur Arbeit anführen, und führte sie auch wirklich stets zur richtigen Brasse, welche Reihenordnung gar nicht so einfach ist – und beim Anholen galoppierte es wieder nebenher. Dann rückte es auch wieder mit den Matrosen ins Logis ab.

Wir staunten nicht schlecht. Doch ich entsann mich, das ein Schweinekenner, der aber dieses Borstentier nicht nur als zukünftige Wurst betrachtete, mir einmal versichert hatte, daß das Schwein das klügste von allen Tieren sei.

Über Deck kam ein brauner Kerl in weißem Anzug und roten Pantoffeln, wohl ein Inder, ein Steward, und trug in beiden Händen eine dampfende Terrine. Hinter ihm her trabte ein schwarzer Baribalbär, ein stattliches Vieh. Wäre es ein weißer Elefant gewesen, wir hätten uns gar nicht mehr gewundert.

Bei unserem Anblick stutzte der Mann, blieb stehen, betrachtete uns nachdenklich, und diesem seinem Nachdenken mußte er auch noch in anderer Weise zu Hilfe kommen.

Er nahm die Terrine in den rechten Arm, griff mit der linken Hand in die Jackentasche, brachte eine silberne Dose zum Vorschein. Der Inder wollte eine Prise nehmen. Dazu aber braucht man zwei Hände. Und er mußte mit der anderen Hand die Terrine gegen die Brust drücken.

Der Mann wußte sich zu helfen. Sein rechter Fuß schlürfte aus dem Pantoffel, die nackten Zehen hoben sich, öffneten den Deckel der Dose, griffen hinein, nahmen zierlich ein Prischen heraus, führten es zur Nase, links und rechts. Hierauf machte der Fuß die Dose wieder zu, dann aber ging er noch einmal hoch, jetzt schneuzte er sich mit den Zehen die Nase, und jetzt wischte er, uns immer nachdenklich betrachtend, die unsauber gewordenen Zehen an den Kopfhaaren ab, und als dies geschehen war, setzte er auf zwei Beinen seinen Weg fort, der Bär hinter ihm drein.

Ich blickte den Segelmacher an und der mich.

»Wir sind hier wohl auf ein Gauklerschiff geraten?« meinte ich.

»Bleiben wir nur bei der Arche Noah,« entgegnete jener. »Hier ist nicht nur das ganze Tierreich immer durch eine Spezies vertreten, sondern auch jede Menschenrasse. Habt Ihr den Kerl dort schon gesehen?«

Erst jetzt fiel mein Blick auf ihn, obgleich er schon immer herumspaziert war. Aber wir waren ja erst zwei Minuten an Bord, und man wußte ja gar nicht, wohin man hier zuerst blicken sollte, überall sah man etwas Neues.

»Ja, wie soll ich diesen Mann nun beschreiben? Wo mit der Beschreibung anfangen? Mit seiner Bekleidung. Das ist das einfachste.

Diese bestand nämlich aus einem ganz bescheidenen Badehöschen. Sonst war er nackt vom Scheitel bis zur Sohle. Und dabei hatte der Mann durchaus keine Ursache, mit seinen nackten Körperformen zu renommieren. Die waren alles andere als schön.

Es war eine Art von Dachshund in menschlicher Ausgabe von gelbbrauner Farbe. Obschon der gedrungene Oberkörper sehr kurz war, erschien er doch länger, weil die mageren, krummen Beinchen noch viel kürzer waren, und obgleich die Knochen aus dem Leibe traten, verfügte er doch über einen kleinen Hängebauch. Und nun zwischen den hohen, eckigen Schultern ein großer, eckiger Kopf mit mongolischem Affengesicht, in dem die Hauptsache die große Öffnung war, Mund genannt, mit dem er sich bequem in die weitabstehenden Elefantenohren beißen konnte.

Und um nun das Kuriosum vollzumachen, hatte der nackte Kerl an seinem Badehöschen eine dicke goldene Uhrkette hängen und daneben zwei Orden. Außerdem rauchte er aus einer Fuhrmannspfeife. So spazierte er, wie ein Schornstein qualmend, gravitätisch hin und her, uns keines Blickes würdigend.

»Ja, was ist denn das nur für ein Mensch?« machte der Segelmacher erst jetzt seinem Staunen Luft. »I, das ist ja überhaupt gar kein Mensch! Das ist eine Promenadenmischung zwischen Pavian und Dackel.«

Ich mußte mich schnell nach der Bordwand herumwenden, um nicht gleich so herauszuplatzen.

Ein lieblicher Duft ließ mich wieder ernst werden und mich umdrehen.

Ein Neger und ein Chinese trugen zwischen sich an Henkeln eine große Platte vorüber, auf der pyramidenförmig Teller aufgebaut waren, und auf jedem lagen zwei große, gebratene Schinkenscheiben und darüber vier Spiegeleier.

Ha, dieser Anblick! Und dieser Duft! Das war mir noch lieber als Bratwurst mit Rosenkohl. Zunächst aber wurde die Platte an mir vorüber getragen. Und wohin? Unter die Back. Wo nach allen Schiffsregeln nur Matrosen und Heizer einquartiert sein können, oder es gibt keine Bordroutine mehr.

»Hört, Segelmacher, hier werden doch nicht etwa die Matrosen zum ersten Frühstück schon gebratenen Schinken mit Spiegeleier bekommen?!«

»Jawohl, und zum zweiten Frühstück Lendenbeefsteak mit Schlagsahne,« spottete der.

Ernst kam zurück.

»Die Patrona will Dich sprechen. Du, Georg, Du kannst als dritter Steuermann ankommen. Unserm dritten ist vor ein paar Tagen von oben eine Marlspieke durch den Kopf gegangen, sofort tot.«

Er brachte mich bis an den Kajüteneingang, ich trat allein ein.

Prachtvoll eingerichtet! Vor allen Dingen aber hatte ich gleich einen Anblick, der mir unvergeßlich ist. Ich sehe alles noch nach vielen, vielen Jahren, als wäre es erst gestern gewesen.

Mitten in der Kajüte lag auf dem weichen Perserteppiche ein mächtiger Königstiger, lang ausgestreckt auf der Seite, und neben ihm lag ein Kind, ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, in einem weißen Spitzenkleidchen, hold wie ein Engel, das blasse Gesichtchen von blonden Locken umrahmt – und so lag es schlafend neben dem furchtbaren Raubtiere, das Köpfchen auf der buntgefleckten Brust gebettet, das eine Ärmchen halb um den Nacken des Ungeheuers geschlungen im anderen ein Püppchen, und der Tiger wieder seine Pranke über den Leib des Kindes gelegt, sicher nicht schwer.

So lagen die beiden da.

Das furchtbare Raubtier seit dem grimmigen Gesichtsausdruck – und daneben an seiner Brust das kleine Mädchen, sanft schlummernd, im Traume glücklich lächelnd, das Püppchen im Arme – Ich weiß nicht – mir stieg plötzlich etwas siedend heiß zum Herzen empor, bis in die Augen hinein. Ich war danaks ein gar wilder Gesell, wer mir irgendwie unbotmäßig kam, dem setzte ich sofort die Faust zwischen die Augen. Und anderseits war ich wieder etwas rührselig.

Der Tiger hob etwas den Kopf, blickte mich grimmig an, knurrte leise, und streckte sich wieder. Dem hätte ich ja das Kind nicht stehlen mögen, diesem das Püppchen nicht.

»Bitte, Herr Steuermann, kommen Sie herein,« erklang aus einer Nebenkabine eine feine Stimme. Ich trat ein, wäre mit dem einen Fuß bald auf einen Raben und mit dem anderen auf eine Schildkröte getreten. Nun fehlten bloß noch Schlangen.

An dem Schreibtisch saß eine weißgekleidete Dame, ganz genau dieselben feinen, blassen Züge wie das Kind, das ganz sicher eben solche große, blaue, träumerische Augen hatte. Überhaupt das ganze Gesicht war so eigentümlich verträumt. Aber dabei ungemein freundlich.

»Bitte nehmen Sie Platz.«

Sie hatte auf einen Stuhl gedeutet, der neben dem Schreibtisch im Schatten stand. Solch eine Einladung in der Kajüte war ich gar nicht gewöhnt. Und wäre ich ihr nur lieber nicht gefolgt. Mit einem kleinen Schmerzensschrei fuhr ich sofort wieder empor. Ich hatte mich gerade auf einen Igel gesetzt, der sich, das Unglück schon kommen sehend, bereits mit emporgesträubten Stacheln zu einer Kugel zusammengerollt hatte.

»Was haben Sie denn? Ach, richtig, ich hatte ja vorhin Peter auf den Stuhl gehoben! Sie haben sich doch nicht wehe getan? Er zeigt niemals die Stacheln. Bitte, heben Sie ihn herunter, recht vorsichtig.«

Also ich hob Herrn Peter zwischen den flachen Händen herunter. Ehe ich mich aber setzte, überzeugte ich mich, daß nicht etwa noch ein Stachelschwein drauf war. Denn das hat noch ganz andere Borsten und meine Hosen waren so dünn.

Nein, jetzt war der Sitz tierfrei. Nur hinten an der Lehne klebte ein Laubfrosch, der dann an meinem Halse herumturnte.

Ich mußte berichten.

Die junge Dame sah mich dabei unverwandt an.

»Haben Sie Ihre Seefahrtspapiere?«

Ich präsentierte sie. Aber sie warf nur einen einzigen Blick hinein.

»Wollen Sie als dritter Steuermann bei mir bleiben?«

»Wohin geht die Reise?«

»Ganz unbestimmt. Ich mustere auf Zeit, von Monat zu Monat.«

»Was ist die Heuer?«

»Wieviel fordern Sie?«

»Englische Flagge? Die Normalheuer eines zweiten Offiziers – sechs Pfund Sterling.«

»Ich gebe Ihnen sieben.«

Das findet man selten, daß man mehr bekommt als man fordert, am seltensten auf einem Schiffe. Na, ich war’s zufrieden, da bin ich nicht so.

»Werden auch die anderen Leute bleiben? Ich kann noch Matrosen brauchen.«

»Sicher.«

»Schicken Sie sie dann einmal zu mir. Melden Sie sich bei Herrn Kapitän Martin, dann lassen Sie sich von einem Steward Ihre Kabinen anweisen. Ihr Vorgänger hat durch einen Unglücksfall seinen Tod gefunden, Sie bekommen andere Kabinen –«

»O, das ist mir gleich, ich bin doch nicht etwa abergläubisch!«

»Nein, nein, es ist nicht nötig, wir haben Platz genug. Treten Sie nicht auf Lottchen.«

Lottchen? Nicht drauftreten? Natürlich blickte ich unwillkürlich nach meinen Füßen. Und da schlängelt sich weiß Gott eine Ringelnatter am Boden! Und was für ein Exemplar!

Nun, Ringelnattern werden so zahm, daß sie auf den Pfiff kommen und aus der Hand fressen. Und Brehm empfiehlt in seinem »Tierleben« Ringelnattern als lebendiges Spielzeug für Kinder. Das sind Ansichten.

Also ich nahm von meinem Halse den Laubfrosch und klebte ihn gegen die Wand, stieg über Fräulein Lottchen, stolperte über einen Hund, trat einer Katze auf den Schwanz, kroch unter einem Affen weg, der oben an der Tür hing und nach meinen Haaren haschte, prallte mit einem braunen Bären zusammen und gewann so nach und nach das Freie.

Ja, ich war in die Arche Noah geraten.


2. KAPITEL.
EIN SÄBELDUELL UND SEINE FOLGEN.

Ich ging auf die Kommandobrücke und meldete mich als dritter Offizier dem Kapitän, der noch immer so dasaß, die Hände in den Hosentaschen und die langen Beine über das Geländer gehängt, überreichte ihm meine Papiere, wollte es tun. Aber dazu hätte er doch die Hände herausnehmen müssen.

»Well, legen Sie sie dorthin. Sind Sie erschöpft, müde?«

»Nein, gar nicht.«

»Well, Sie treten heute mittag die dritte Wache an, ich gehe mit Ihnen.«

»Wir gehen drei Wachen?« wunderte ich mich.

»Drei Wachen.«

Ich ging.

»Eeeh,« wurde ich da zurückgerufen. »Wofür halten Sie das dort?«

Ich blickte hin, wohin er blickte, sah aber nichts.

»Was meinen Herr Kapitän?«

»Dort, das Ding auf dem Wasser.«

Er nickte nach der Richtung, dann hob er sein langes Bein und deutete mit langgestreckter Fußspitze. Ich visierte das Bein entlang, mußte mir dabei ein Lächeln verkneifen.

Ja, jetzt sah ich es. Wohl nur ein Brett.

»Meine ich auch. Well.«

Ich ging unter die Back, wo ich meine Leute vermutete, steckte wenigstens den Kopf durch die Tür. Daß ein Offizier das Mannschaftslogis betritt, verbietet die Bordroutine, ein ehernes Anstandsgesetz, wenn es auch ungeschrieben ist.

Es waren mehr als 40 Mann, die an zwei langen Tafeln richtig bei gebratenem Schinken und Spiegeleiern saßen, früh um fünf.

Kann man verstehen, weshalb ich so staunte, meinen Augen kaum traute? Man glaube nur nicht, daß es so etwas auf anderen Schiffen gibt. Nicht auf der reichsten Privatjacht. Ganz im Gegenteil. Je reicher der Jachtbesitzer, desto mehr wird geknausert.

Na, ich mußte meinen Augen wohl trauen. Es waren unterdessen, seitdem die Tafel vorübergetragen worden, ja erst wenige Minuten vergangen, die Leute waren noch beim besten Schaffen, darunter auch meine, die nicht schlecht stopften und kauten. Schon das frische Weißbrot war ihnen ja die größte Leckerei.

»Hört, Jungens, Segelmacher – Ihr sollt achterraus zur Patrona kommen. Ihr könnt anmustern. Geht sofort. Laßt Euch etwas aufheben.«

Alle stets standen denn mich sofort auf. Die drei Matrosen und der Junge pfropften sich nur noch einmal den Mund tüchtig voll, mein Segelmacher hingegen, frech wie immer, und Oskar hieß er auch, langte erst noch einmal zu, nahm in jede Hand noch eine große Schinkenscheibe, ans jeder zwei Spiegeleier.

Er mußte sie wohl unterwegs schnell essen, auf dem Gange nach der Kajüte. Da nun aber die Dotter noch sehr weich war, so mußte er gleich zu balancieren anfangen. Und denn besann er sich eines anderen, er schob die beiden Schinkenscheiben samt den Eiern in die Hosentaschen, in jede eine.

Wie der dann die weichen Eier wieder aus den Hosentaschen herausbringen wollte, da hätte ich auch dabei sein mögen.

Ich begegnete dem Inder, der seine Füße als Hände gebrauchen konnte, hielt ihn an – jawohl, er war Steward, sogar der erste, sprach Englisch, wußte schon, daß er mir meine Kabinen zeigen sollte, führte mich durch einen anderen Eingang ins Zwischendeck.

Kabinen? Auch der sprach in der Mehrzahl? Wahrhaftig, sogar der dritte Steuermann bekam hier eine Schlafund eine Wohnkabine, und wie eingerichtet, die reinen Salons!

Nun allerdings war dieses Schiff ja für Aufnahme von 400 Mann berechnet, und 70 waren, wie ich dann erfuhr, nur darauf, Platz war also genug vorhanden – aber immerhin, zwei Kabinen erhält auch auf einem Salondampfer der erste Offizier nicht.

»Wollen Sie hier oder in der Offiziersmesse frühstücken?«

»Ist es denn hier nicht Zwang, gemeinsam an der Tafel zu essen?«

»Zwang? Hier gibt es überhaupt keinen Zwang. Hier macht außer Dienst jeder, was er will. Wenn Sie wünschen, serviere ich Ihnen den Tee oben auf der Royalrahe.«

So lautete die etwas freie und ebenso sehr merkwürdiger Antwort des Stewards. Denn auf anderen Schiffen gibt es so etwas nicht. Auch in der Kauffahrtei darf nicht einmal ein Matrose essen, wo er will, nur an der Back, am gemeinschaftlichen Tische.

Vor allen Dingen aber hatte ich jetzt das Wort »Tee« gehört.

»Gut, so werde ich diesmal hier essen – also essen – Tee kann man bekanntlich nur trinken.«

Der braunschwarze Fußkünstler verstand mich sofort, der hatte nicht umsonst ein so verschmitztes Gesicht.

»Sehr wohl, Master Governor – ich weiß schon – die Schüsseln sind für Sie bereits heiß gesetzt, ich bringe sie sofort.«

Er ging, ich sah mich in meiner nunmehrigen Behausung etwas näher um.

Donnerwetter, hier war’s aber fein! Diese Koje! Seidene Decken! Überall der Name »Argos« mit Gold hineingestickt. Da konnte ich nicht mit meinen Seestiefeln drunterkriechen, wie ich’s manchmal liebte. Und dieser Waschtisch!

Übrigens hatte ich es sehr nötig, daß ich mich wieder einmal wusch. Ich klappte die Mahagonieplatte hoch. Da mußte ich aber erst Seife – –

Nein, da lag sie schon. Erst aber glaubte ich, es wäre Schokolade. Erstens in Silberpapier eingewickelt, zweitens sah das Stück braun aus, drittens roch es nach Zimmt und Vanille. Außerdem aber auch noch nach Rose, Veilchen, Reseda und anderen Blumen des Morgen- und Abendlandes.

»Madame Pompadour« war daran gepreßt, und auf einem beigepackten Zettelchen war außer der Versicherung, daß sich mit dieser Seife ständig, wenn sie nicht gerade etwas anderes zu tun hatte, die Madame Pompadour gewaschen habe, auch der Preis solch eines Stückes draufgedrückt: un Franc.

Heuheuh!! Dafür bekommt man ja in Hamburg ein Beefsteak frisch von der Pfanne mit Bratkartoffeln oder vier Pfund allerfeinste Schmierseife! Greunseep.

Wasser war vorhanden. Also ich zog meinen Flausrock aus, krempelte die Hemdärmel hoch, Kragen und Schlips hatte ich nicht abzulegen, und pompadourte mich für einen Franken.

Ich war noch nicht weit über die Handgelenke hinausgekommen, als in der Korridortür des Nebenzimmers, die der Steward offen gelassen hatte, die Patrona auftauchte. Der Waschtisch stand so, daß ich sie gleich sehen konnte, sie also auch mich.

»Darf ich eintreten?«

»Bitte sehr.«

»Ich dachte, weil die Tür offen war – Sie brauchen sich nicht zu genieren.«

Dabei war sie durch die Wohnkabine gegangen, auch in diese Tür getreten.

Nein, ich geniere mich durchaus nicht, da war ich nicht so. Mit einem Male aber fing ich mich doch ein bißchen zu genieren an. Nämlich weil die so meinen Arm anstarrte.

»Herr Gott, haben Sie Arme!!«

Ja, die hatte ich. Man sah es sonst meiner Gestalt nicht an, was ich für Muskeln hatte. Aber ich dachte, die meinte, weil von meinen Armen so eine schwarze Sauce herunterlief.

»Wir mußten doch löschen, und überhaupt, es war Doch ein Kohlenschiff, und auf Segelkasten ist das Waschwasser rar,« suchte ich mich zu entschuldigen.

Nur ein leises Zucken um ihren Mund.

»Ich wollte nur sehen, ob Sie alles finden. Dort in der Schublade liegt Kamm und Zahnbürste und alles. Natürlich alles neu. Ich habe soeben alles selbst gebracht. Lieben Sie Gardinen vor den Fensterchen? Ich will Ihnen welche aufstecken.«

Gardinen vor den Fensterchen? Ich muß wohl ein wenig geistreiches Gesicht gemacht haben. Und weil ich mich genierte, weiter zu zeigen, daß ich eigentlich einen ziemlich weißen Arm hatte, fingerte ich dabei immer in dem Wasser herum.

Jetzt wurde auch sie etwas verlegen. Weil sie von »Fensterchen« gesprochen hatte.

»Ich meine die Bollaugen natürlich. Ja, ich weiß, es ist nicht seemännisch. Aber mein Bruder war der tüchtigste Seemann, und vor der Abreise mußte ich immer Gardinen vor den Bollaugen seiner Kabine anbringen, sie auch sonst so traulich als möglich machen. Und ich will hier auf meinem Schiffe wirklich eine Patrona sein, eine Schutzherrin, eine Hausmutter, eine Schiffsmutter. Ich will, daß sich mein Volk – daß sich meine Leute, Offiziere wie Matrosen und Heizer, hier wirklich wie zu Hause fühlen.«

Es war merkwürdig, daß sie sich unter Zeichen einer neuen Verlegenheit schnell korrigiert hatte. Das wäre nämlich gar nicht nötig gewesen. Sie konnte ganz ruhig »mein Volk« sagen. Man spricht bekanntlich vom Schiffsvolk. Dabei wird das erste Wort häufig weggelassen. Jeder Kapitän spricht oft genug von seiner Mannschaft als von »seinem Volke«, ohne etwa von Größenwahnsinn geplagt zu werden.

Doch das war mir jetzt gar nicht aufgefallen.

Im Augenblicke ging mir etwas ganz anderes durch den Kopf.

Vorhin hatte ich sie nur sitzen sehen.

Jetzt stand sie in der Tür, wie in einem Bilderrahmen.

Es war eine kleine, zierliche Gestalt.

Aber nun dieses Gesicht, dieser Kopf mit dem blonden, einfach gescheitelten Haar!

Herr Gott, wo hatte ich dieses Gesicht nur schon einmal gesehen? Dieses – dieses – wunderbare Etwas darin, was man gar nicht beschreiben kann!

Ach richtig! Raffaels Sixtinische Madonna mit dem Jesusknaben auf dem Arm.

Diese Verschmelzung von Jungfräulichkeit mit Mütterlichkeit, und dann wieder diese Verschmelzung von seligstem Glück mit tiefstem Schmerz, weil all das kommende Unglück schon ahnend – so etwas hat eben nur ein Raffael fertig gebracht.

Und hier schuf es der liebe Gott in natura.

Ich vermag es eben nicht zu schildern.

Und gleichzeitig gingen in meinem Kopfe noch viele andere Dinge herum: Gardinen und Pompadourseife und Kämme und Zahnbürsten, und das alles hatte sie mir selbst gebracht, weil sie wollte, daß –

Und mit einem Male stieg es mir unbändigem Gesellen, der seine Mutter gar nicht gekannt hat, der sich nun schon seit zehn Jahren in der Welt herumschlug, ohne einmal in eine anständige Gesellschaft gekommen zu sein, wieder so siedend heiß zum Herzen empor.

Mit einem Male hatte ich die größte Lust, meine Hände aus dem Waschbecken zu nehmen, dort nach der weißen Gestalt zu greifen und sie an mein Herz zu drücken.

Ich tat’s nicht.

»Nee, ich brauche keene Gardinen.«

»Verzeihen Sie, wenn ich Sie gestört habe,« sagte sie und ging.

Aber in einem Tone hatte sie es gesagt und mit einem Lächeln, daß ich gar nicht auf den Gedanken kam, ich könnte sie beleidigt oder gekränkt haben.

Statt ihrer trat drüben wieder der Inder ein mit seinem großen Brette, ich hörte ihn klappern.

Da unterbrach ich meine Wascherei. Die Arme konnten ein andermal darankommen. Man soll sich die Arbeit immer einteilen.

Ich trocknete die Hände ab – das erst schneeweiße Handtuch sah ja nett aus – und ging hinüber. Auf dem Tische stand ein großes Servierbrett, auf diesem ein Teeserviee und eine ganze Menge schwarzer Töpfe, flache Terrinen aus Steingut, mehr als ein Dutzend. Außerdem ein Weißbrot, ungefähr anderthalb Pfund.

Ehe ich daran ging, den Inhalt der Terrinen zu untersuchen, mußte ich mir von dem Inder noch eine kleine Ansprache gefallen lassen.

»Sie einen Deitsland sein? Ick sprecken auch Deitsland. Perfekt, als wäre ick geborener Deitsland.«

Ich gratulierte ihm zu seinen Sprachkenntnissen. Nun ließ ich mich aber nicht länger aufhalten, mein Magen rebellierte.

Doch es sollte immer noch nicht sein. Ein helles Lachen erklang, es kam den Korridor herauf, ein ganz unbändiges Frauenlachen, es war die Patrona, sie wollte an meiner offenen Tür vorbei, konnte vor Lachen nicht weiter, taumelte herein, warf sich auf das kleine Sofa, hielt sich lachend die Schläfen.

Ach Gott, ach Gott – mein Kopf, mein Kopf!! – ich kann nicht mehr – was müssen Sie nur von mir denken – aber Ihr Mann – der Segelmacher – hat der Kerl Spiegeleier in den Hosentaschen!!«

Sie wollte sich an das Seitenpolster lehnen – und purzelte herunter. Es war so ein Schlafsofa, die Seitenlehnen konnten heruntergeklappt werden, und diese hier war nicht richtig befestigt gewesen.

»O Gott, o Gott, wie ich mich schäme, was müssen Sie nur von mir denken!«

Sie hatte sich aufgerafft und war lachend hinausgerannt.

Mit des Segelmachers Spiegeleiern hatte es also in der Kajüte irgend etwas gegeben. Ich erfuhr es später. Der Segelmacher hatte stramm gestanden und der Patrona aeine Papiere präsentiert. Da war ein Äffchen angeschlichen gekommen, hatte von hinten heimlich in eine seiner Hosentaschen gegriffen, etwas Weiches, Nasses gefühlt, der kleine Affe hatte seine Pfote wieder herausgezogen, mit mißtrauischem Blick und verdutztem Gesicht die gelbe Sauce an seinen Fingern betrachtet, hatte die Pfote geschlenkert, daran gerochen und wieder geschlenkert, immer mißtrauischer wurde das Affengesicht – na und da war die Patrona eben losgeplatzt. Nein, die brauchte sich nicht zu schämen. Das mußte ja eine gottvolle Szene gewesen sein!

»Ja, Patrona sehr gern lachen tun. Abberr auch serr viel weinen. Manchmal serr viel lachen, manchmal serr viel weinen. Patrona ist serr hartleibig.«

»Hartleibig?«

»Serr, serr hartleibig – hier«

Und der Inder legte die Hand auf sein Herz.

Ich hatte ihn schon vorher verstanden. So schwer von Begriffen bin ich nicht. Hartliebig, wollte er sagen. Die Liebe im Herzen bereitete ihr harte Schmerzen. Manchmal aber auch großes Glück. Sie hatte eben hart mit der Liebe herumzuwürgen. Wie jedes Weib. Denn jedes Weib liebt, oder es ist kein Weib, und entweder liebt es glücklich oder unglücklich. Ich bin bloß froh, daß ich kein Mädchen geworden bin. Dann wäre ich jetzt sicher auch hartleibig gewesen.

»Bon appetit, monsieur, wünse wohl zu speißen, lassen Sie sick gut smecken.«

Ich setzte mich in Positur, klar zum Gefecht. Es waren vier Reihen Terrinen, in jeder Reihe drei. Macht zusammen gerade ein Dutzend. Dann aber hinten als Arrieregarde der Armee noch eine dreizehnte. Hatte nichts zu sagen, ich bin nicht abergläubisch.

Natürlich fing ich mit der ersten vorn links an. »Sie enthielt Pflaumenkompott. Wurde ausgelöffelt. Dann kam Selleriesalat. Verschwand. In der dritten war Butter. Die aß ich, wie sich’s gehört, zusammen mit dem Anderthalbpfundbrot. Brauchte nicht sehr lange Zeit dazu. In der vierten Terrine waren verschiedene Sorten Käse.

Nun aber begann in mir leise die Ahnung zu dämmern, daß ich doch wohl von der falschen Seite aus angefangen hatte. Ich hätte oben rechts anfangen müssen and nicht links unten. Aber ordnungsliebend, wie ich nun einmal bin, setzte ich die nun einmal eingeschlagene Richtung fort. Den Terrinen war das ja auch ganz egal.

Also ich verschluckte – verspeiste die verschiedenen Käsesorten. Dann kamen Steinpilze. Den ersten Löffel spuckte ich wieder aus. Sie waren so heiß. Und dabei war der Terrinendeckel ganz kalt gewesen. Das waren nämlich solche neue Gefäße, in denen sich alles einen ganzen Tag lang kochend heiß oder eiskalt erhält, je nachdem es hineingefüllt wird. Aber so heiß waren die Pilze gar nicht, es war nur die erste Überraschung gewesen, ich konnte sie dann ganz gut mit drei Drucken hinabbringen.

Hierauf kam so ein Mischgemüse, das man wohl Leipziger Allerlei nennt. Fort damit an den Ort seiner Bestimmung! Dann kam Rosenkohl.

Das heißt, jetzt wurde mir die Sache verdächtig! Ich bin nicht sehr für Vegetarismus. Zwar liebe ich abund zu ein Bündel Heu, aber nur, wenn es erst von einem Ochsen verspeist worden ist. Dann verspeise ich den Ochsen. Und der Rosenkohl löste in mir den Gedanken an Bratwürstchen aus.

Na, in der achten Terrine war Krebsragout. In der neunten eine gebackene Seezunge. Aha, es wurde schon immer fleischähnlicher! Freilich hatte ich nur noch vier Terrinen vor mir. In der zehnten lag eine gebratene Turteltaube, so zart, daß ich vergaß, die Knöchelchen beiseite zu legen. Nummer elf bestand in Hammelfleisch und Reis mit Curry, meine Lieblingsspeise; das heißt eine etwas platonische Liebe. Und nun kam Nummer zwölf daran, die letzte. Hinten die plumpe Arrieregarde zählte nicht ganz voll mit, die stand außerhalb der Reihe. Es war mir ganz feierlich zumute, als ich den zwölften Deckel lüftete. Und da – und da – was erblickten da meine Augen?

Lagen da drin zwei stattliche Bratwürste!

Nun soll niemand mehr sagen, es gebe keine prophetischen Vorahnungen! Oder aber, die modernen amerikanischen Philosophen haben recht, man soll nur immer wünschen, immer mit aller Kraft das herbeisehnen, was man gern möchte, dann kommt es auch. Freilich meist etwas anders, als man denkt. Wie hier in meinem Falle. Ich hatte immer Bratwurst mit Rosenkohl herbeigesehnt, und statt dessen war Rosenkohl mit Bratwurst herbeigekommen, in umgekehrter Reihenfolge, in einiger Distanz von einander.

Wie aber kamen diese Bratwürste hierher nach Patagoniens Küste?

Nun, heutzutage kann man ja alles präservieren und konservieren. Hätten die alten Ägypter unsere Kunst verstanden, sie hätten uns ihre Mumien ganz anders überliefert; eingekocht in Glasbüchsen. Auch die Hammelwürfel mit Curryreis stammten aus der Büchse, das hatte ich gleich gewußt. Und so werden auch die zukünftigen Bratwürste erst luftdicht gekocht.

Jedenfalls aber lebte man hier unten an Patagoniens Küste nicht schlecht. Früh um fünfe zum ersten Frühstück.

Die dreizehnte, größere Terrine enthielt richtig die Bouillonsuppe, mit der ich die Bratwürste begoß.

Als ich mir den Mund abwischte, klopfte es. Ernst trat ein.

»Du, der Siddy schickt mich, der erste Steward, er geniert sich, selber zu kommen – weil er die Kartoffeln vergessen hat. Ob Du sie noch haben willst. Oder er will Dir als Ersatz auch noch eine große Portion frische Blut- und Leberwurst bringen. Obgleich es sonst nichts mehr davon gibt, nur noch für die Kajüte.«

»Frische Blut und Leberwurst? Konservierte?«

Ernst sah mich groß an.

»Konservierte frische Blut- und Leberwurst? Junge, bei Dir piept’s wohl? Wir haben gestern Schweineschlachten gehabt. Es war ein sehr fideles Schlachtfest. Die Sau hieß auch Fidelio.«

»Ach so,« lachte ich, »Ihr eßt hier wohl so nach und nach die ganze Menagerie auf? Da gibt’s hier wohl auch manchmal Hundeklein und Katzenragout, marinierte Ringelnatter und Laubfrosch in Gelee?«

»Nein, so wie Du denkst, ist es nicht. All das Viehzeug gehört mit zum Volke. Aber Fidelio war in die Winde gekommen, hatte sich ein Bein abgequetscht und wäre eingegangen. Da haben wir es lieber aufgefressen. Eigentlich schade um das Tier. Es war ein sehr gebildetes Schwein, klüger als mancher Mensch. Konnte auf den Hinterbeinen tanzen und die Harmonika blasen, und wenn es gefressen hatte, wischte es sich das Maul mit der Serviette. Du zum Beispiel nimmst dazu, wie ich bemerke, den Handrücken. Ja, es war schade um das Tier. Aber ein fideles Schlachtfest war es doch. Bei 70 Köpfen kommt freilich nicht viel auf den Mann. Unser Schiffsarzt ist ein Jude, ein ganz waschechter, hat eine krumme Nase, krumme Beine, Plattfüße und heißt Isidor Cohn. Und der Igel hat gerade das allermeiste von dem Schweine vertilgt.«

Ernst hatte sich gesetzt, griff in die Brusttasche – hatte der Kerl ein Zigarrenetui bei sich!! Er machte denn auch ein Gesicht danach, als er es mir präsentierte.

»Äääääh – Habanna gefällig? Oder diese hier kann ich Ihnen sehr empfehlen. Santa Rosa Estramadura Felix Brasil mit Sankt Domingo Honolulu-Deckblatt. Bitte, hier ist der Zigarrenabschneider – hier ist Feuer, bitte – äääääh –«

Er ließ ein silbernes Feuerzeug schnipsen.

»Ja, Maat, da staunst Du wohl, was?«

»Junge, Junge, Junge, Junge, was bist Du für ein feiner Bengel geworden!« staunte ich denn auch wirklich. »Was ist denn das nur für ein Schiff?«

Ernst berichtete. So weit er konnte. Viel war es nicht.

Vor fünf Wochen hatte er in Liverpool von einem deutschen Segler abgemustert. Noch vorher war an Bord ein »Seelenverkooper« gekommen, ein Heuerbaas. »Wollt Ihr eine Heuer haben, Boys? Könnt sofort anmustern.« Hin nach dem Seemannsamt. Ein Kapitän Martin hatte gemustert. Für den Dampfer »Argos« aus Noald, in Liverpool liegend, wilde Fahrt. Das heißt, da ist nichts Abenteuerliches dabei. Man wird entweder auf Ziel angeworben, also für einen bestimmten Hafen und zurück, oder für wilde Fahrt, das heißt einfach auf Zeit, der Hafen ist vielleicht noch gar nicht bestimmt, die Heuer geht von Monat zu Monat.

Auch noch die ganze Besatzung eines deutschen Dampfers wurde angenommen, der ebenfalls gerade abgemustert hatte. Mit Ausnahme des Kapitäns und einiger Offiziere. Die Kleiderkisten und Zeugstücke auf den Buckel genommen und nach dem »Argos« abmarschiert. Dreißig Matrosen, zehn Heizer, acht Maate, das sind die Unteroffiziere, zu denen zum Beispiel auch der Koch gehört, und sechs Offiziere und Ingenieure.

Diese kamen neu an Bord, als eigentliche Mannschaft. Und das waren schon sehr viel Hände. Vorgeschrieben waren für dieses Schiff 16 Matrosen, für jede Wache acht Mann. Hier aber wurde die Mannschaft in drei Wachen geteilt, und auf jede kamen zehn! Das war eine enorme Verschwendung! Natürlich als Handelsschiff betrachtet.

Die »Argos« war von der Noalder Werft auf eigenes Risiko, ohne Bestellung, als ungepanzerter Kreuzer für die englische Marine gebaut worden, diese hatte ihn nicht abgenommen Weshalb nicht, wußte Ernst nicht, ich später auch nicht. Ein wunderbarer Segler, mit der Hilfsmaschine dampfte er 12 Knoten, alles tadellos, Präzisionsarbeit durch und durch. Ich glaube, die neueste Theorie über die Geschützaufstellung hätte einen gänzlichen Umbau erfordert. Nun, das kam ja bei einem Kauffahrer oder Luxusfahrzeug nicht in Betracht.

Eine Frau Helene Neubert, hier unsere Patrona, hatte das fix und fertige Schiff, als Schaustück auch schon vollkommen für Offiziere und Mannschaft eingerichtet, gekauft. Mochte ja etliche Millionen dafür bezahlt haben. Wer war die Frau Helene Neubert? Ernst wußte es nicht. Eben eine Freundin des Seesports, die sich so etwas leisten konnte.

Sie hatte schon eine Besatzung an Bord gehabt. Oder einen Teil davon. Oder eine Gesellschaft. Vierzehn Mann. Eine recht merkwürdige Gesellschaft. Allerdings nicht für ein Schiff, nicht für einen Weltfahrer oder eine Weltfahrerin. So ziemlich alle Rassen der Erde waren vertreten. Ich werde von jedem einzelnen und von seinen Tugenden und Lastern später noch genug zu erzählen haben.

Jetzt will ich nur erwähnen, daß die meisten von diesen vierzehn Mann wohl mit zur Besatzung gehörten, wie der indische Steward und der chinesische Koch und der arabische Zimmermann und der jüdische Arzt, daß aber zwischen diesen und der anderen, neu angemusterten Besatzung eine unsichtbare und dennoch undurchdringliche Scheidewand gezogen war. Und dabei trotzdem die beste Freundschaft, das harmonischste Zusammenleben. Und dennoch vollständig getrennt.

Ernst sagte mir, daß er dieses merkwürdige Verhältnis gar nicht schildern könne, das müßte ich mit der Zeit selber herausfühlen.

Diese anderen, die schon an Bord gewesen, nannte Ernst die »Exklikusen«. Er meinte Exklusiven. Aber nicht, daß nur er hier einmal ein Fremdwort falsch aussprach. Wohl hatte das einmal jemand gemacht, und nun blieb es auch allgemein bei den »Exklikusen« übrigens war diese Wortverdrehung gar nicht so ohne Bedeutung. Im Plattdeutschen sind Kusen die Backzähne. Man kaut auf den Kusen und haut jemandem eine mang die Kusen. Und jene Exklikusen aßen meistens für sich, kauten für sich, konnten also recht wohl »Exklikusen« genannt werden.

Wenn jemand zu diesen Exklusiven gehörte, so war es doch offenbar der Kapitän, der unbedingt allein essen muß. Das war aber eben nicht der Fall! Der wurde mit zur Besatzung gerechnet. Der indische Telleraufwäscher dagegen gehörte mit zu den Exklusiven, verkehrte mit der Patrona in ganz anderer Weise. Doch davon also später mehr.

Diese gemischte Gesellschaft war nebst der ganzen Menagerie, vom Königstiger an bis zum Laubfrosch, unter Frau Neuberts Führung mit dem Londoner Schnellzug nach Liverpool gekommen, das Schiff gekauft, die noch fehlende Einrichtung ergänzt, noch tausend anderlei Dinge angeschafft, verproviantiert, Kohlen eingenommen, ein Heuerbüreau schickte den Kapitän Martin, vier Tage später musterte der die eigentliche Besatzung an, am anderen Tage Dampf auf und fort!

Und jetzt fing Ernst von der Patrona an zu schwärmen. Nein, so ein Weib! Die reine Mutter zu jedem einzelnen.

»Leute! Ich bin die Patronin dieses Schiffes. Und ich will Euch eine wirkliche Patronin sein. Ihr sollt Euch auf meinem Schiffe wie zu Hause fühlen, es als Eure Heimat, als Euer Heim betrachten. Ich bin für Euch jederzeit zu sprechen. Wer etwas braucht oder sich über etwas zu beschweren hat, kommt sofort direkt zu mir. Seid Ihr gut ausgerüstet? Kommt mal alle mit.«

Sofort ins nächste große Ausrüstungsgeschäft, alle die Neuangekommenen. Hier sucht Euch aus. Was Ihr braucht. Was Euer Herz begehrt. Ganz egal, was es kostet. Und die Patrona suchte selbst mit aus, um jeden noch extra zu erfreuen. Jedem eine Meerschaumpfeife und dergleichen, was ein Matrosenherz in Verzücken versetzt, nun aber die Meerschaumpfeife gleich mit einem langen Bernsteinstück, silberbeschlagen. Es konnte nichts teuer genug sein.

»Müßt Ihr nicht Uniformen tragen?« unterbrach ich den Erzähler einmal.

»Nein, Du siehst doch –«

»Aber im Hafen.«

»Auch nicht. Sie sagte es gleich, daß sie solche Livreen bei freien Seeleuten nicht liebe.«

A la bonheur! Das imponierte mir vorläufig am meisten. Ja, mir fiel ein Stein vom Herzen.

Ich würde niemals auf einer Jacht fahren. Nur wegen der Phantasieuniform nicht, in die man da meist gesteckt wird, mit goldenen Knöpfen und Fahnen und Bänderchen. Als Soldat trägt man Uniform als Beamter – auch auf den großen Post- und Passagierdampfern, das ist wieder etwas ganz anderes, dagegen habe ich gar nichts, da muß militärische Zucht sein – aber von einem ixbeliebigen Fatzken, nur weil er einen großen Geldsack hat, lasse ich mich in keine Lakaienlivree stecken!

Am Abend hatte die Patronin sie alle zusammen mit ins Theater genommen. Parkett! Sie mitten dazwischen. »Ihr sollt Euch anständig amüsieren, und ich bin Eure Patronin.«

Am anderen Morgen hatte hoch Schnee gelegen. Sie hatte ein Dutzend Schlitten bestellt und nun wurde mit Schellengeläut und Peitschenknall weit nach einem Dorfe hinausgefahren.

»Ihr Matrosen denkt immer, man kann sich nicht anders amüsieren, als daß man sein schwer verdientes Geld geschminkten Frauenzimmern in den Hals gießt,« hatte sie gesagt, und sie konnte nicht viel anders sprechen, denn sie sprach eben mit Matrosen. »Ich will Euch einmal zeigen, daß es auch anders geht.«

Und sie hatte es gezeigt. Es war ein Sonntag gewesen. Um zehn Uhr waren sie angekommen, hatten von dem Gasthofe Beschlag genommen. Eine Stunde später, als die Tafel gedeckt wurde, nach Schluß der Kirche, kamen die Mädels in hellen Scharen angerückt. Die Patronin hatte eine allgemeine Einladung ergehen lassen, erst jetzt. Getafelt, Saal ausgeräumt, die Fenster verhangen, Gas angebrannt – da war’s nicht Mittag, sondern Mitternacht, und es wurde losgetanzt mit voller Kapelle.

Der Pfarrer und der Gemeindevorstand hatten Einwendungen zu machen gehabt. Das war am Sonntag in England nicht erlaubt. Und nun gar am hellen Tage!

Ach was, nicht erlaubt! Was macht der Seemann einen Unterschied zwischen einem Sonntag und einer Mondnacht! Die Patronin zahlte die Strafe doppelt gleich im voraus, schrieb einen Scheck für die Kirchenkasse aus, und Pfarrer und Gemeindevorstand rückten wieder ab. Oder sie hatten wohl mitgemacht.

»Ach, Georg, haben wir uns amüsiert! Was sind wir doch für dumme Kerls, daß wir unser sauer verdientes Geld sogleich in der ersten Hafenspelunke verlumpen, gleich in der ersten Nacht! Nein, haben wir uns mit diesen Dorfmädels amüsiert!«

»Ja, ja, ich glaub’s schon. Na und weiter?«

»Um fünf wurde zurückgefahren, klar Schiff, Dampf auf und zum Hafen hinaus. Na, und so ist das bis heute gegangen. Natürlich keine Schlittenpartien und Mädels. Das gibt’s eben an Bord nicht. Aber sonst – wir leben hier wie die Ratten im Käse. Merkst Du nicht, daß ich mir schon ein Bäuchlein angemästet habe? Das ganze Schiff steckt voll Proviant, als Ballast sind Konservendosen geladen. Und was wir nun sonst noch alles haben! Eine große Bibliothek, einen Turnsaal –«

»Eine große Bibliothek?« fragte ich aufmerksam.

»Und was für eine! Ungefähr 2000 Bände. Romane und alles, in aller Schnelligkeit zusammengekauft und dennoch mit aller Sorgfalt ausgewählt. Wenn’s einem aufs Geld nicht ankommt, kann man ja alles haben –«

Ernst schilderte noch weiter, was es hier an Bord alles gab. Ich will es hier nicht erzählen, sonst müßte ich später wiederholen. Außerdem kam Ernst von den Büchern doch lieber wieder auf die Konservendosen zurück, was die alles enthielten.

Mir aber stieg vor den Augen etwas auf. Ein Ideal. Mein Ideal, das ich von Kindesbeinen an gehabt, das mich zur See getrieben hatte. So ein Schiff zu haben, mein eigenes Schiff, mein Königreich, über das ich als freier Seekönig herrsche, über mein Schiffsvolk, über mein Volk, mein Volk – und wie wollte ich für dieses mein Volk sorgen, was für Kerls daraus machen –

Dabei aber verfiel ich in denselben Fehler wie mein Freund Ernst. Während ich so von einem hohen Ideal träumte, mischte sich dazwischen die Blut- und Leberwurst, die ich doch eigentlich noch als Ersatz für die entgangenen Kartoffeln zu beanspruchen hatte.

»Ja, wenn man das nötige Geld hat!« seufzte ich.

Mit einem Male machte Ernst ein ganz besonderes Gesicht.

»Du, höre mal, Georg,« fing er mit leiserer Stimme an. »Ich will Dir etwas im Vertrauen sagen. Es war schon nicht hübsch von mir, daß ich’s gelesen habe, und noch weniger, daß ich es einem anderen sage. Einem anderen würde ich ja auch niemals was davon erzählen, aber Du bist doch ein anderer –«

»Na, nun heraus damit, sag’s oder sag’s nicht!«

»An jenem Sonntagmorgen mußte ich für die Patronin die Post besorgen. Es waren ein paar Briefe für sie da, zwei aus Ägypten, die anderen aus Deutschland. Das sah ich doch an den Marken. Sonst ging’s mich ja gar nichts an. Adressiert an Frau oder Missis Helene Neubert. Nur wegen einer Postkarte fragte mich der Beamte. Weil da eine andere Adresse draufstand, ebenfalls deutsch. An die Freifrau von der See Helene Neubert. Ob das stimmte. Natürlich stimmte es. Das war eben nur so eine Juxadresse. Nun aber drehte ich die Karte auch herum. Es war eine Ansichtspostkarte. Keine hübsche. An einem Baumast hing ein Mann, nobel gekleidet, aber die leeren Taschen umgedreht, die Zunge weit aus dem Halse. Und darunter war geschrieben: Sind die neuen Millionen noch nicht bald wieder verpulvert? – Verstehst Du, Georg?«

Und fragend blickte mich Ernst an.

Zunächst aber muß ich erklären, weshalb Ernst dieser Sache eine so lange Entschuldigung vorausschickte. Es ist für diese ganze Erzählung wichtig.

An Bord des Schiffes gibt es keine Klatscherei! Ich will gleich ein Beispiel anführen. Gesetzt den Fall, der Kapitän des Schiffes lebt in unglücklicher Ehe, seine Frau zu Hause ist eine böse Xantippe oder macht während der Abwesenheit ihres Mannes Dummheiten.

Die ganze Besatzung weiß darum. Vielleicht ist die ganze Besatzung aus demselben Neste wie der Kapitän. Da wäre es begreiflich, wenn im Matrosenlogis und in der Offiziersmesse darüber gesprochen würde, jeder gäbe sein Geschichtchen zum besten.

Ausgeschlossen!!! Nie wird im Matrosenlogis und in der Offiziersmesse auch nur ein einziges Wörtchen über diese Familienangelegenheiten des Kapitäns fallen! Man kann sich Anekdoten vom Kaiser erzählen, oder vom Schornsteinfegermeister August Schulze, oder auch die Familienangelegenheiten von früheren Kapitänen besprechen, unter denen man gefahren ist – aber nicht die des gegenwärtigen Kapitäns, keines anderen Schiffskameraden.

Ja, zwei gute Freunde einmal unter vier Augen, das ist etwas anderes. Aber öffentlich so etwas besprechen – vollkommen ausgeschlossen! Das ist unanständig. Das ist niederträchtig. Es geht gegen die Bordroutine.

Ich mußte dies ausführlich erklären, weil ich bald darauf wegen einer Verletzung dieses ungeschriebenen und dennoch ehernen Bordgesetzes des Anstandes ein blutiges Renkontre haben sollte.

»Verstehst Du, Georg? Nicht die neun Millionen, sondern die neuen Millionen. Ob sie die noch nicht bald wieder verpulvert hätte. Die hat schon einmal Millionen durchgebracht. Wie lange diesmal die Herrlichkeit währen würde.«

»Na, warum soll sie denn ihr Geld nicht verpulvern, wenn’s ihr Spaß macht,« sagte ich und stand auf, »das macht doch jeder, wie er will, ich würde’s gerade so machen – und Du machst jetzt, daß Du hinauskommst. Ich will mich noch ein paar Stunden aufs Ohr legen.«

So brach ich diese Unterhaltung ab. Doch nicht etwa, daß ich meinem Freunde seine Indiskretion übel genommen hätte. Durchaus nicht. Ich war wirklich sehr müde.

Ehe ich in meine Schlafkabine ging, wollte ich einmal nachsehen, was das für eine andere Tür im Salon war. Sie war unverschlossen, führte in eine Badekabine. Pikfein! Eine Marmorwanne. Oder aus doppeltem Blech und so angepinselt. Oder Emaille. Jedenfalls alles pikfein.

Wie ich noch in der Tür stand, kam Siddy wieder herein, dessen Klopfen ich wohl überhört hatte, in den Händen eine Schüssel.

Aaaaahh!! Wie mich das große Stück Leberwurst anlachte! Und das noch größere Stück Blutwurst! Ich wurde gleich wieder ganz munter.

»Verzeihen nur der Herr Steuermann, ich hatte vorhin ganz die Salzkartoffeln vergessen –«

»Schon gut, schon gut, ich verzeihe Ihnen, setzen Sie die Wurst nur dorthin. Kann man hier ein Bad nehmen?«

»Zu jeder Zeit.«

»Warmes Wasser?«

»Läuft immer heiß – Frischwasser.«

»Was, Frischwasser?!«

Ich war nur auf Seglern gefahren, da bekommt man alle Tage eine Kaffeetasse voll Frischwasser ins Waschbecken.

»Das ist Kondenswasser, geht immer wieder in den Kessel zurück, die Seife ist nur gut gegen den Kesselstein.«

Ich ließ ein, pompadourte mich. Verbrauchte die ganze Madame Pompadour für einen Franken. Sehr gut gegen den Kesselstein. Dann zog ich mir das Stück Blut- und das Stück Leberwurst zu Gemüte, in jeder Hand eines und abwechselnd abbeißend, noch in der Wanne sitzend. Dabei hatte ich so meine Gedanken, setzte sie auch noch fort, als die Wurst samt der Schale verschwunden war.

Frau Helene Neubert – ein sehr einfacher Name.

Freifrau von der See – ein herrlicher Adelstitel! Gibt’s auch noch gar nicht.

Wie wird man denn eigentlich adlig, wenn man’s noch nicht ist? Na ja, man kann den Adel verliehen bekommen. Aber das ist doch nicht das Richtige.

Wie sind denn eigentlich alle die vielen Grafen und Freiherren und Barone entstanden?

Die haben sich ganz einfach selbst dazu ernannt. Früher. Da hat sich so ein tüchtiger Kerl, der sein Schwert zu schwingen verstand, einfach mit einigen Kumpanen auf einem steilen Felsen festgesetzt – »hier, ich bin der freie Herr vom, auf und zum Adlerhorst, wer hier vorbeizieht, muß mir Tribut zahlen, oder ich poche Euch Pfeffersäcke aus« – und da war der Freiherr von, auf und zu Adlerhorst fertig.

Weshalb soll denn so etwas heute nicht mehr gehen? Wenn ich mein eigenes Schiff – –

Mit einem Male verließ mich die Besinnung.

Ein Schüttelfrost weckte mich wieder.

Hallo, wie lange hatte ich denn geschlafen, bis am Halse im Wasser sitzend?!

Das Wasser war kalt geworden; ja nicht gerade eiskalt, aber jedenfalls fror und zitterte ich wie ein junger Hund im Schnee.

Da glaste draußen die Schiffsglocke einen Doppelschlag Neun Uhr.

Na, da guten Morgen!

Drei Stunden hatte ich im Wasser gesessen oder sogar darin geschlafen! Da mußte es freilich kalt geworden sein.

Lachend sprang ich aus der Wanne, ich fühlte mich beim Anziehen wie neugeboren. Nun brauchte ich mich aber acht Tage lang nicht wieder zu waschen.

Siddy kam, meldete das zweite Frühstück. Jawohl, ich war schon wieder gefechtsbereit. Diesmal aber wollte ich es mit in der Offiziersmesse einnehmen.

Es waren der erste, zweite und dritte Maschinist, ferner Dr. Cohn, der Schiffsarzt, die sich mir vorstellten. Den zweiten Steuermann kannte ich ja schon zur Genüge, der erste ging jetzt Wache. Die Maschinisten hatten nichts zu tun.

Ich will jetzt nur zwei der Herren erwähnen und auch nur oberflächlich: Dr. Isidor Cohn war ein noch junger Mann, ein echter Jude, balancierte auf seiner krummen Nase einen Klemmer, hatte trotz seiner abstehenden Ohren ein sehr geistreiches Gesicht. Sprach nicht viel, machte nur bei jeder Gelegenheit einen faulen Witz, am liebsten über sich selbst. Obgleich er gestern das meiste von dem Schwein vertilgt haben sollte – oder vielleicht eben deswegen – aß er heute nicht viel, sprach desto mehr der Rotweinflasche zu und pfiff außerdem dazwischen ab und zu einen Kognak.

Mir gegenüber saß der erste Maschinist, Herr Ingenieur Kalthoff, eine Simsongestalt, der mächtige Kopf von schwarzen Locken umrahmt, mit bis weit auf die Brust herabwallendem Vollbart, selbst das Gesicht mit den Pausbacken war muskulös zu nennen, und nun gar diese Hände! Strotzend von Muskeln.

Er gefiel mir von vornherein nicht, hatte so einen polternden, in jeder Hinsicht anmaßenden Ton, auch das Auge war nicht das richtige.

Natürlich mußte ich zuerst erzählen, wie wir das brennende Schiff verlassen hatten.

Dabei merkte ich, wie der erste Maschinist gar nicht erwarten konnte, daß ich fertig war; er hatte schon ein Stückchen Zeitung bereit, räusperte sich immer und sah mich ungeduldig an. Nun, ich machte es kurz genug, wenn auch nicht gerade dem zuliebe.

»Hören Sie, meine Herren,« fing er dann gleich an, mit gedämpfter Stimme und sich einmal umblickend, daß auch kein Steward anwesend sei, »jetzt habe ich es endlich herausbekommen, wer diese Frau Helene Neubert ist. Hören Sie, meine Herren, mit der ihrer Herrlichkeit und mit unserem Schlaraffenleben wird es wohl bald ein Ende haben. Die spielt va banque. Das ist eine notorische Verschwenderin. Die hat schon einmal ein ererbtes Vermögen von Millionen totgeschlagen, hat wieder geerbt, kam unter Kuratel, hat sich durch einen langen Prozeß freigemacht, und nun geht es wieder mit den Millionen los, diesmal als Schiffseigentümerin. Na, wir haben ja schon gesehen, wie die’s treibt. Den Matrosen und Heizern silberbeschlagene Meerschaumpfeifen geschenkt! Und hier, wie die uns auftafelt, die Flasche Kognak zu zehn Mark – das ist doch gar keine Sache. Und wissen Sie, wie ich hinter die Wahrheit gekommen bin? Wie ich vorhin in einem Koffer krame, fällt mir eine alte Zeitung in die Hand – oder auch noch nicht so alt – 14 Tage vor unserer Abreise herausgekommen. Hier ist der Ausschnitt. Hören Sie, meine Herren: Die Freifrau von der See. Jeder Reisende, der in diesem und im vergangenen Jahre Kairo besuchte, hat sicher einmal oder öfters einen seltsamen Aufzug gesehen. Eine junge Dame mit aschblondem Haar, hoch zu Roß, meist in Beduinengewänder gehüllt, immer von einer Meute Hunde begleitet, dazwischen aber auch andere Raubtiere aller Art –«

»Bitte, unterlassen Sie das Vorlesen des Zeitungsartikels,« wurde da der Vorlesende von einer Stimme unterbrochen, höflich aber auf das Bestimmteste.

Diese Stimme gehörte mir an.

Ich war gleich am Anfange der Einleitung auf meinem Stuhle herumgerutscht.

Ich bin weiß Gott kein streitsüchtiger Mensch. Aber was zu viel ist, ist zu viel. Und das hier war mir zu viel, mehr als zuviel.

Der Leser brach ab, sah mich erstaunt an.

»Wie meinten Sie?«

»Ich bitte Sie, diesen Artikel nicht vorzulesen.«

Nur noch erstauntere Augen.

»Ja, warum denn nicht?«

Na, wenn er’s durchaus wissen wollte, dann mußte ich’s ihm sagen.

»Weil sich das nicht gehört.«

Jetzt aber fingen die großen, schwarzen Augen zu funkeln an, und wie das Blut hoch kam!

»Meinen – Sie – mich?!«

»Jawohl, Sie! Verstehen Sie mich denn immer noch nicht? Es ist eine Ungehörigkeit von Ihnen, daß Sie hier am Tische überhaupt schon über unsere Patronin sprechen! Schon das verstößt gegen den Anstand, gegen die Bordroutine. Das könnte ich Ihnen schließlich noch verzeihen. Weil Sie Maschinist sind. Aber daß Sie hier über unsere Schiffsherrin, in deren Lohn und Brot wir alle stehen, solche höhnische Bemerkungen machen, sich so über sie äußern, das ist einfach eine Gemeinheit von Ihnen! Verstanden?«

Der Simson richtete sich halb auf, legte sich halb über den Tisch, sich auf seine Fäuste stemmend. Ich war bereit, einen Schlag zu parieren und einen zurückzugeben. Aber er konnte nicht, er mußte sich stützen, sonst wäre er umgefallen. So zitterte er.

»Mensch, plagt Sie denn der Wahnsinn?! Wissen Sie denn, wen Sie vor sich haben? Ich bin Offizier!«

»Ich auch. Genau so gut wie Sie.«

»A bah! Machen Sie junger Fant sich doch nicht lächerlich! Steuermann sind Sie!«

»Na und was sind Sie denn?« fragte ich gleichmütig zurück, »Sie sind Maschinenschmierer.«

»Ja, hier auf dem Schiffe. Aber ich bin wirklicher Offizier!«

»Ich auch.«

»Ich bin Leutnant der Reserve!«

»Ich auch.«

Er stutzte, machte ein etwas dummes Gesicht.

»Ich bin Artillerieleutnant der Reserve.«

»Und ich bin in der kaiserlichen Marine Leutnant zur See der Reserve.«

Ja, das war ich. Ich hatte die Realschule besucht, war erst mit sechzehn Jahren zur See gegangen, hatte mein Jahr in der Marine gedient, war Offiziersaspirant gewesen, noch sechs Wochen als Viceseekadett, war als Leutnant zur Reserve beurlaubt worden.

Der mußte es wohl glauben. Ich brauchte ihm meine Karriere nicht erst zu erzählen.

Mit einem Ruck hatte er seine zitternden Glieder wieder in der Gewalt, er richtete sich vollends auf »Dann wissen Sie, was Sie jetzt zu tun haben.«

Sehr richtig. Wir konnten alle weiteren Formalitäten überspringen, hatten uns schon genug an den Kopf geworfen.

»Bestimmen Sie die Waffen.«

»Säbel.«

»Zeit und Ort?«

»Hier sofort.«

Er warf seine zusammengeballte Serviette unter den Tisch, ich faltete meine zusammen und stand auf.

In dem Raume herrschte Totenstill. Die anderen saßen wie gelähmt da. Nur Dr. Cohn nahm jetzt seinen Klemmer von der krummen Nase, blickte durch die Gläser, setzte ihn wieder auf und räusperte sich.

»Meine Herren – ich bin kein Soldat gewesen – ich habe Plattfüße – ich habe auch noch kein Duell gehabt – ich werde mich schön hüten – aber das eine weiß ich: Sie dürfen sich hier nicht so ohne weiteres duellieren! Sie stehen im Dienst! Im Schiffsdienst! Im aktivsten, den man sich denken kann! Haben Sie sich auch schon die Folgen überlegt? Sie werden auf lange Zeit hinaus disqualifiziert, wenn Sie nicht Ihr Patent als Schiffsoffizier für immer verlieren! Und außerdem – das ist ein englisches Schiff! Segelt unter englischer Flagge! Das ist hier englischer Boden! Und nach englischem Gesetz wird schon die einfache Herausforderung auf tödliche Waffen vom Staatsanwalt als vorsätzlich geplanter Mordversuch verfolgt! Die kleinste Verwundung dabei wird als vorsätzliche Körperverletzung bestraft, die Tötung des Gegners als vorsätzlicher Mord mit eventuell lebenslänglichem Zuchthause! Sogar gehangen kann man dafür werden! Ist das den Herren auch bekannt?«

Der jüdische Arzt, der erst in so nachlässigem Tone mit leichtfertigen Worten begonnen, hatte mit immer größerem Nachdruck gesprochen. Der konnte großartig sprechen. Das war ein geborener Parlamentsredner!

Nur auf uns beide machte es gar keinen Eindruck.

Jawohl, das wußte ich alles, und der andere natürlich auch. Wir hätten den Zweikampf im nächsten Hafen ausfechten und vorher auch von dem englischen Schiffe formell abmustern müssen!

Aber daran dachten wir beide doch gar nicht. Wir waren eben als streitbare Kampfhähne aufeinander geprallt, und nun ging es auch los mit dem Sporn.

»Jetzt sofort,« wiederholte der Ingenieur.

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Darf ich die Herren bitten, uns als Sekundanten zu dienen?«

Alle erhoben sich, alle in ebenso aufgeregter wie feierlicher Stimmung. Es war ihnen etwas Neues, als Sekundanten bei einem Zweikampf auf Leben und Tod zu dienen, und sie wußten diese Ehre zu würdigen. Der zweite Maschinist war ein alter, grauköpfiger Mann, ursprünglich ein Schlossergeselle, ein Heizer, ich lernte in ihm später einen höchst besonnenen, in gewisser Hinsicht fast ängstlichen Mann kennen – aber auch der dachte jetzt gar nicht daran, daß dies für ihn später vielleicht böse Folgen haben könnte.

Das Frühstück war sowieso beendet gewesen. Dr. Cohn schob sich schnell noch eine große Kaviarschnitte in den Mund.

»Wo scholl denn geschäbelt wern?« mummelte er mit vollem Munde.

Gerade auf einem Kriegsschiffe, wo mit jedem Kubikzoll gegeizt wird, sieht es schlecht aus mit hohen Räumen, in denen man mit erhobener Säbelspitze nicht gegen die Decke stößt. Wenn man an Wohnräume und dergleichen denkt. So hohe Speisesäle wie auf Passagierdampfern gibt es da nicht.

»Im Maschinenraum, neben der Dynamo, da ist Platz genug und gute Beleuchtung,« meinte der erste Ingenieur.

Der dritte Maschinist wurde hinabgeschickt, um für reine Luft zu sorgen.

»Ja, aber sind denn auch Säbel vorhanden?« fragte ich.

Hatte ich eine Ahnung! Wir begaben uns in die Waffenkammer, in den Waffensaal.

An den Wänden standen in Reih und Glied an die hundert Doppelbüchsen und eben so viel englische Infanterie-Magazingewehre, über jedem ein Marinerevolver und ein Entersäbel.

Es sind gewaltige Dinger, diese Entersäbel. Wenig kürzer als ein Kürassierpallasch. Besonders die englische Marine hält noch sehr viel auf die Ausbildung mit dieser Waffe, der russisch-japanische Krieg hat gezeigt, daß der Entersäbel noch lange nicht ins alte Eisen geworfen werden darf. In der deutschen führen ihn nur noch die Torpedomatrosen, müssen aber auch tüchtig fechten.

Eine kleine Reihe, wahrscheinlich für die Offiziere bestimmt, zeigte besonders schön gearbeitete Körbe und Griffe. Ich nahm einen, zog den Säbel aus der schwarzbrünnierten Scheide.

Ein ausgezeichneter Stahl, schön ziseliert, haarscharf geschliffen, spitz wie ein Wespenstachel.

»Bitte, wählen Sie.«

»Ich habe gewählt.«

Wir steckten die Dinger in die Hosenbeine, storchten hinaus und gelangten auf Umwegen in die Maschinenräume hinab.

Unterwegs glaubte mich Ernst noch einmal belehren zu müssen.

»Du, Georg,« raunte er mir zu, »ich weiß ja, daß Du boxen kannst – die beiden Amerikaner damals auf dem »Mozart« hast Du ja nicht schlecht vertobakt – aber fechten – das ist ein Offizier von der reitenden Artillerie – und er ist Fechtlehrer gewesen, ich hab’s selbst in seinen Papieren gelesen –«

»Halt’s Maul!«

Der Leser muß verzeihen. Ich lasse die Menschen reden, wie sie im Leben wirklich sprechen, ohne dabei unflätig zu werden, was ich nie gewesen bin. Ich schreibe einen solchen Seeroman, wo das Rettungsboot durch die Brandung gondelt – »das Schiff streicht durch die Wellen, Fridolin« – um die Schiffbrüchigen abzuholen – »bitte, belieben die Herrschaften einzusteigen, Sie sind gerettet« – da geht es anders zu, da wird nicht gebeten und nicht gebetet, sondern das Blaue vom Himmel herunter geflucht – Prometheustrotz!

Ich konnte hier zu meinem Freunde Ernst nicht anders sagen als »Halt’s Maul«. Übrigens sagte ich »holt Dien Mul«, was schon anders klingen mag, aber ich will nicht mit Plattdeutsch anfangen.

Neben der kleinen Dynamomaschine hatten wir Platz genug, um uns auszutoben.

»Ohne Binden und Bandagen?« fragte ich.

»Sicher.«

Dr. Cohn kam nachträglich mit seinem Verbandkasten.

»Kinder, gebt mir nur nicht gar zu viel zu flicken. Ihr wißt doch, ich mache nicht gern was.«

Wir zogen Jacke und Weste aus, krempelten die Hemdsärmel bis an die Schultern hoch. Es war doch gut gewesen, daß ich mich vorher gründlich pompadourt hatte.

Der zweite Maschinist hatte noch einen Einfall. Er hatte sowieso eine etwas weinerliche Stimme, jetzt war sie noch weinerlicher.

»So eine Kampelei – ahem – mit so spitzen Dingern – ahem – kann doch einmal lätsch gehn. Haben Sie Ihr Testament gemacht?«

Er hatte sich dabei an den ersten Ingenieur gewendet.

Der deutete auf mich.

»Fragen Sie den Herrn dort.«

Ich hatte eine spöttische Entgegnung auf der Zunge unterdrückte sie aber.

Es ging nicht eben kommentmäßig zu.

»Auf Hieb und Stich?« fragte ich erst jetzt.

»Sicher auf Hieb und Stich.«

Wir nahmen die Säbel zur Hand.

Da hatte auch Dr. Cohn erst noch einen Einfall.

»Sie, Herr Kalthoff – ich sollte Ihnen doch nach dem Frühstück den Bart stutzen – könnten wir das nicht erst machen? Ich habe die Fünfgroschen sehr nötig.«

Jetzt hatte ich eine noch bessere Gelegenheit, jene höhnische Bemerkung von vorhin zurückzugeben, aber wieder unterdrückte ich sie. Er sollte es erst zu hören bekommen, wenn es so weit war.

Wir nahmen Distanz, legten uns in Parade.

Der zweite Maschinist als der älteste sollte das Kommando übernehmen, er war instruiert worden, hatte ja nichts weiter als »Los!« zu rufen.

Mit einem Male konnte der alte Herr vor Aufregung nicht mehr sprechen.

»Lololololololololo –«

Mein Gegner wartete den Schluß des Kommandos nicht ab, ganz mit Recht nicht, er hatte schon lolololosgelegt, mit einer Prim, seinen zwei Meter langen Körper hoch aufrichtend, bis auf die Fußspitzen, wollte mir die Parade durchhauen. Als es ihm nicht gelungen war, mir gleich beim ersten Schlage den Schädel bis auf die Schultern zu spalten, ließ er blitzschnell eine Prim nach der anderen herabregnen.

Als auch die keinen Erfolg hatten, schlug er einige sehr geschickte Finten und stach eine Terz nach.

Ich sah ihm im Auge die Bestürzung an, daß seine Klinge so gut pariert wurde.

So, nun war die Zeit für mich gekommen.

»Ich werde Ihnen den Bart stutzen, decken Sie ihn – bei drei ist er ab – eins – so decken Sie doch Ihren Bart! – zwei – drei –«

Ich schlug eine Quartfinte, und im nächsten Augenblick hatte ich ihm den langen Bart dicht am Kinn glatt abgeschnitten.

Er merkte es recht wohl, was passiert war, in ein und demselben Moment wurde sein Gesicht käseweiß und purpurrot, und dann fing er wie ein Wilder auf mich einzuhauen, ohne Sinn und Verstand.

Ich wollte das Spiel beenden, nicht mit ihm spielen wie die Katze mit der Maus, prellte seine Klinge ab, daß mich wunderte, daß er sie nicht gleich fahren ließ, stach nach und durchbohrte ihm den Oberarm.

Er ließ den Säbel fallen, sackte im ersten Nervenschmerz zusammen.

Anfang

Dr. Cohn waltete seines Amtes. Es war ganz still in dem weiten Raume. Nur der halb oder ganz Ohnmächtige stöhnte leise. Eine tüchtige Fleischwunde, weiter nichts, keine Sehne durchschnitten. Ein paar Tage Wundfieber, dann konnte er wieder Dienst tun, schon vorher. Diese Maschinisten haben für gewöhnlich ja gar nichts zu tun, bummeln nur um ihre Maschine herum.

Ich zog mich schnell an, trat in den großen Maschinenraum hinaus, besichtigte die Kurbeln und Stangen. Gedanken über die Folgen machte ich mir nicht etwa. Bah! Dann darf man so etwas nicht erst anfangen. Bei mir kommt die Aufregung immer erst hinterher. Ich bekämpfte sie durch ruhiges Atmen, studierte eingehend die Maschine, meine Aufmerksamkeit nur darauf konzentrierend.

Weiß nicht, wieviel Zeit so vergangen war. Dann stieg ich hinaus, trat an Deck.

Ein Mann kam auf mich zu, der erste Steuermann, den ich noch nicht gesehen hatte. Er gefiel mir nicht. Weshalb nicht, das werde ich gleich sagen.

»Sind Sie der neue Dritte?«

»Ja.«

»Zum Kapitän auf die Brücke.«

Ich hinauf. Der Kapitän wußte schon alles, das sah ich ihm gleich an. Wie ich vor ihm stand, wollte er die Hände aus den Hosentaschen ziehen. Zwar tat er’s nicht, er hatte nur so geruckt, aber es war schon ein böses Zeichen gewesen.

»Sie haben mit dem ersten Maschinisten ein Säbelduell gehabt!« herrschte er mich an.

»Ja.«

»Unfug verdammter!! Haben Sie denn gar keinen Begriff von Ihrer Pflicht als Schiffsoffizier?!«

»Ich war nicht im Dienst und –«

»Halten Sie’s Maul! Sie sind –«

»Herr Kapitän, – – –«

»Ihr ungewaschenes Maul sollen Sie halten!!! Sie denken wohl, weil Sie Reserveleutnant sind? Und wenn Sie sonst auch Großadmiral und kommandierender General der Infanterie und Kavallerie wären, hier sind Sie der dritte Steuermann und ich bin der Kapitän, und wenn Sie mich noch einmal unterbrechen, lasse ich Sie in Eisen legen!! Sofort! Und wenn Sie sonst noch etwas von mir wollen, dann fahre ich mit Ihnen längs, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht!! – Well,« mit einem Male wurde er ganz ruhig, »ich muß die Sache ins Logbuch eintragen. Es ist meine Pflicht. Machen Sie sich darauf gefaßt, daß Sie von allen Flaggen auf mindestens ein Jahr disqualifiziert werden. Und außerdem, da es auf einem englischen Schiffe passiert ist, mindestens ein Jahr Tretmühle. Well.«

Ich war entlassen.

Dunnerwetter, hatte der eine Art und Weise, einem den Mund zu stopfen! So kleinlaut war ich noch nie gewesen. Und spricht der bei mir von einem ungewaschenen Maule! Wo ich erst drei Stunden in der Badewanne gesessen hatte!

»He, Steuermann, kommen Sie noch mal her!«

Ich wieder zurück. Er hatte schon wieder seine endlosen Spazierstangen über das Geländer gelegt.

»Ich habe eben einen Einfall bekommen. Ich brauche die dumme Geschichte doch nicht ins Logbuch einzutragen. Es geht zu machen. Ohne daß ich meine Pflicht verletze. Well.«

Ich war wieder verabschiedet.

Ach!! Hätte ich doch eine Million gehabt, und der Kapitän hätte zu mir gesagt: Steuermann Georg Stevenbrock, pumpen Sie mir doch einmal Ihre Million, wiederbekommen Sie sie freilich nicht.

Oder wäre doch da ein großes Feuer gewesen, und dieser Kapitän hätte gesagt, Steuermann, setzen Sie sich doch einmal dort in das Feuer hinein, lassen Sie sich braten, es macht mir Spaß.

Mir hätte es auch Spaß gemacht.

Aber ich hatte es dem ja gleich angesehen, was das für ein Mensch war! An den Augen. Ich kann nämlich jedem Menschen an den Augen ansehen, was mit ihm los ist. Das ist meine Spezialität. Ich prahle nicht, wenn ich behaupte, daß mich kein Mensch betrügen, täuschen kann, daß ich in den Augen eines jeden Menschen ganz deutlich seinen innersten Charakter lese. Ich werde noch oft von Augen sprechen müssen. Deshalb hatte mir auch vorhin der erste Steueranann gleich nicht gefallen.

Ein kleiner Nigger lief mich an.

Achterraus zur Patronin.

Nun ging’s bei der wieder los.

Sie stand am Tisch, stützte sich mit einer Hand darauf, blickte mich erst groß und lange an, ehe sie anfing.

»Sie haben mit dem ersten Maschinist ein Säbelduell gehabt!«

»Ja.«

Das war also genau derselbe Anfang wie beim Kapitän gewesen. Nun aber änderte sich die Sache.

»Weshalb?«

»Weil er mich beleidigt hat.«

»Wodurch?«

»Das ist meine Sache.«

Jäh zuckte sie empor, groß flammten ihre blauen Augen auf.

»Was sagten Sie da?«

»Ich sagte Ihnen kurz und bündig meine Meinung. Und wenn ich auch die zierlichsten Redensarten drechselte, Sie würden doch immer nur dasselbe heraushören: das ist meine Sache.«

»Sie wollen mir nicht sagen, inwiefern er Sie beleidigt hat?«

»Nein.«

»Und ich will es wissen!!!«

Und dabei stampfte sie heftig mit dem Fuße auf. Das war nicht schön von ihr.

»Nein.«

Mit einem Male veränderte sie sich total, mit einem Schlage blickte sie mich mit den freundlichsten Augen an.

»Das ist hübsch von Ihnen – das ist sehr schön von Ihnen!«

So, nun wußte ich’s. Das war eine kleine Schauspielerin. Spielte aber ganz famos.

»Ich war gerade unten im Maschinenraum.«

»Waren Sie?«

»Ich habe das Duell beobachtet.«

»Haben Sie?«

»Woher können Sie so ausgezeichnet fechten?«

Ich mußte lächeln.

»Weil ich zwischen Säbeln, Floretts und Rapieren geboren worden bin. Weil ich schon als Kind mit nichts anderem gespielt habe. Mein Vater ist noch heute der Universitätsfechtmeister von Kiel, und die Kieler Teutonen halten schon seit vielen Jahren die Weltmeisterschaft auf Stoß und Hieb. Dort wird mehr gefochten als studiert.«

Nun weiß der Leser, weshalb ich mich so viel mit den Augen beschäftige. Die ganze Fechterei liegt doch nur in den Augen. Alles andere ist doch nur mechanischer Drill des Handgelenks. Jeden Hieb und Stoß, den der Gegner führen will, muß man schon vorher in seinem Auge lesen. Und schon mein Urgroßvater war freier Fechtmeister gewesen. Da muß einem so etwas wohl angeboren werden.«

»Sie sind entlassen.«

Das hatte ich nun freilich nicht erwartet; das hatte ich nicht in ihren Augen gelesen, daß so etwas kommen würde.

Sie ging nach einem Ungetüm von Geldschrank, so groß wie ein Kleiderschrank, entnahm einem offenen Fache ein dünnes Buch, die Musterliste, kehrte zurück, nahm einen Federhalter, schrieb, ohne sich zu setzen, hinter meinem Namen die Bemerkung ein, daß ich an Bord auf hoher See abgemustert worden sei, 10 Uhr 12 Minuten vormittags.

Und angemustert worden war ich heute Vormittag 4 Uhr 53 Minuten.

So, dann war ich hier also genau 5 Stunden und 17 Minuten dritter Steuermann gewesen.

Na, das ist ja für unsere schnellebige Zeit schon eine ganz hübsche Dienstperiode. Es gibt heutzutage viele Arbeiter, die so lange nicht auf ein und demselben Platze aufhalten. Und wie hatte ich gearbeitet! Soll ich die Terrinen alle noch einmal aufzählen? Und das zweite Frühstück kommt auch noch dazu! Und dabei drei Stunden in der Badewanne gewesen!

O ja, ich hatte mir die sieben Pfund Sterling, die ich nun zu bekommen hatte, ganz redlich verdient.

Aber ich wußte schon, daß ich sie nicht bekommen würde. So dumm war ich doch nicht. Die hatte mich vorhin doch nicht umsonst so freundlich angeblickt und mich belobigt ob meiner Verschwiegenheit in Ehrensachen.

»Ich ernenne Sie zu meinem Waffenmeister.«

Na, da war’s schon!

Aber Waffenmeister? Den gibt’s auf keinem Schiffe. Nur die französische Armee hat diesen Titel. Maitre des armes. Das ist nichts weiter als Wachtmeister, Feldwebel. An diesem Posten war mir ja nun nicht gerade viel gelegen.

»Welche Heuer oder vielmehr welchen Gehalt beanspruchen Sie?«

»Als Waffenmeister? Da muß ich erst wissen, was –«

»Sind Sie mit 25 Pfund Sterling zufrieden?«

»Monatlich?«

»Monatlich.«

»Ja, ach ja, damit bin ich zufrieden,« nickte ich.

»Der Kapitän erhält nur 20 Pfund.«

»Das ist ja sogar sehr viel auch für den Kapitän solch eines Schiffes, aber ich kann doch nicht mehr bekommen als der Kapitän.«

»Doch. Sie sollen noch über dem Kapitän stehen. Freilich nur in besonderer Hinsicht. In seine nautische Führung können Sie natürlich nicht einsprechen. Sie gehören überhaupt nicht mehr zu der Besatzung. Von jetzt an sollen Sie zu den – zu den –« sie begann etwas zu lächeln, »zu den Exklikusen gehören.«

Sie mußte wohl glauben, daß ich dieses Wort noch nicht kenne, hatte es nur für sich selbst lächelnd so hingesprochen.

Dann wendete sie sich mit einem Ruck herum, ging, die Hände auf dem Rücken, mehrmals in der Kajüte hin und her, blieb mit einem Ruck wieder vor mir stehen.

»Kann man mit Ihnen sprechen?«

»Ja, mit mir kann man sprechen.«

»Werden Sie mich verstehen?«

»Ja, ich werde Sie verstehen.«

»Wirklich?«

»Madame, wenn es in unserer Schule eine Zensur für schnelle Auffassungsgabe gegeben hätte, was man so das Verstehstemich nennt – hierfür hätte ich in meinem Zensurenbuche regelmäßig noch eine zweite Eins gehabt.«

»Und in welchem Fache hatten Sie immer diese einzige Eins?«

»Im Turnen.«

»Können Sie so gut turnen?«

»Wenn ich nicht auf der Schulbank oder am Eßtisch saß, hing ich an der Reckstange. Schularbeiten habe ich prinzipiell niemals gemacht.«

»Was hatten Sie denn da immer für Zensuren?«

»Nun, über die drei kam ich in keinem Fache. Ich bin immer nur gerade so durchgerutscht.«

»Was hatten Sie denn zum Beispiel im sittlichen Verhalten?«

»Da gab es keine Nummern, sondern Bemerkungen. In mein Abgangszeugnis hatte unser guter Rektor eine etwas seltsame Bemerkung eingeschrieben: rüpelhaft, aber sonst harmlos und brav.«

Sie hatte manchmal lachen oder doch lächeln wollen, war aber nicht dazugekommen, hatte mich mit tiefstem Interesse befragt und angehört, mich immer mit ihren großen, blauen Augen fest ansehend.

Dann drehte sie sich wieder mit einem Ruck herum, begann wieder auf und ab zu wandern, die Hände auf dem Rücken, begann zu sprechen. In abgerissenen Sätzen, sich oft wiederholend, mich nicht beachtend.

»Ich hatte einen Traum – einen schönen Traum – einen herrlichen Traum – ich träumte von einem Schiffe – von einem Schiffe, wie es die Welt noch nie gesehen – mit Männern darauf, wie es in solcher Vereinigung noch nie gegeben – die schönsten und stärksten und kühnsten Männer – jeder Mann ein ganzer Mann – jeder Mann ein ganzer Held – und ich die Führerin dieser Heldenschar – und jeder einzelne war bereit, sich für mich zu opfern – und ich war bereit, mich für jeden einzelnen zu opfern – und jeder einzelne war bereit, sich für den anderen zu opfern – – – – wir lebten einander zuliebe –«

Mit einem Ruck stand sie wieder vor mir.

»Verstehen Sie mich?«

»Ja, ich verstehe Sie.«

Und ob ich sie verstand! Ach, mein Traum – das war ja mein eigener Traum, den ich von Kindheit an geträumt!! »Ja, ich sehe es Ihnen an, daß Sie mich verstanden haben.«

Das hielt ich für möglich. Das mußte sie gleich meinen Augen ansehen. Mir war es plötzlich wieder einmal so siedend heiß zum Herzen emporgestiegen, diesmal gleich bis in die Augen hinein – ich großer Bengel hätte beinahe zu heulen angefangen. Weiß selbst nicht warum. »Ich glaube, wir beide passen zusammen, haben ganz die gleichen Charaktere.«

Ich blieb die Antwort schuldig.

»Das habe ich auf den ersten Blick erkannt, gleich vorhin, als Sie sich auf den Igel setzten.«

Es war nur gut, daß ich nicht zu antworten brauchte. Ich machte eine Reflexionsbewegung, griff mir hinten an den Hosenboden.

»Nur in einer Hinsicht haben wir einen großen. Charakterunterschied. Meinen Sie nicht?«

»Wieso, Madame?«

»Wissen Sie es nicht gleich?«

»Nein.«

Zum Glück nahm sie ihren Spaziergang wieder auf, sprach wie zuvor.

»Ich habe die Mittel, um meinen Traum zu verwirklichen. Oder ich habe ihn ja schon verwirklicht. Wenigstens den Anfang dazu gemacht. Aber nun die Fortsetzung, die Fortsetzung! Die Bearbeitung des rohen Materials bis zur plastischen Vollkommenheit! Das ist es, was ich nicht kann.

Sehen Sie, Herr Steuermann – Herr Waffenmeister, wollte ich sagen. Ich habe dieser Besatzung alles gegeben, was ich den Leuten bieten konnte. Und ist die Anmusterung auch sehr schnell geschehen, so war das alles von mir doch schon in langen Jahren reiflich überlegt. Ich habe ihnen Bücher in sorgfältigster Auswahl gegeben, ich habe Spiele aller Art angeschafft, das ganze Deck kann mit einem Netz umgeben werden, sie können Fußball und Lawntennis und Cricket spielen; unten im Zwischendeck habe ich einen Tunnel einrichten lassen, wie ihn manche große Stadt nicht besitzt. – Nichts ist es! Alles vergebens! Diese Leute verstehen nicht, was ich will. Sie begreifen nicht, warum ich nur vier Stunden Dienst verlange und dann acht Stunden Freizeit gebe. Ja, die Leute haben gelesen und gespielt und geturnt – im Anfange. Weil’s etwas Neues war. Dann hatte es den Reiz verloren. Dann legten sie sich hin und rauchten ihre Pfeifen und erzählten sich Geschichten. Und so manchen sie es jetzt noch, und so werden sie es weiter machen, und zuletzt wird es so weit kommen, daß sie an den größten Leckerbissen etwas zu tadeln haben.

Ja, ich könnte diese Spiele und körperlichen Übungen mit im Schiffsdienste aufnehmen. Es ist Zwang, sich daran zu beteiligen. Es ist einfach Dienst. Aber das ist doch nichts. Wo bleibt da mein Ideal, mein Traum –«

»Frau Patrona, das will ich wohl fertig bringen,« unterbrach ich die Sprecherin und streifte schon meine Ärmel hoch. Sie trat wieder an den Tisch, blieb dort stehen.

»Können Sie das?«

»Jawohl, da haben Sie in mir wirklich den Richtigen gefunden. Da will ich wohl Feuer dahinter bringen.«

»Aber nur kein Zwang –«

»Nein, nein, ich verstehe Sie vollkommen, vollkommen!! Alles muß mit Lust und Liebe geschehen. Zwischen den Jungens muß ein ständiger Wettkampf herrschen. Aber nicht etwa um eine Prämie. Es geht nur um die Ehre. O, Madame, das überlassen Sie nur mir, Sie sollen sehen, was ich in kürzester Zeit für ein ritterliches Volk zusammenfixe!«

Mit einem Male blickte sie mich ganz verklärt an. Und ich mochte ja auch so aussehen – ganz verklärt – denn das war wirklich etwas für mich. Hier brachte mich das Schicksal endlich auf meinen eigentlichen Beruf, zu dem ich mich geboren fühlte.

»Nun gut, fangen Sie an. Ich lasse Ihnen vollkommen freie Hand. Und wenn Sie irgend etwas brauchen – kommen Sie zu mir. Es ist aber auch noch etwas anderes dabei. Eigentlich die Hauptsache. Jetzt spreche ich von jenem Unterschied zwischen unserem Charakter.

Ich habe nämlich einen großen Fehler. Oder ist es eine große Tugend? Ist es edel von mir oder eine kleinliche Schwäche? Ich ich ich – ja, wie soll ich mich nun gleich ausdrücken – ich kann einen Menschen, der sonst seine Pflicht tut, der mir aber sonst nicht gefällt, nicht fortschicken –«

Aha!! Ich verstand sofort! Ja, es ist ganz hübsch, ein gutes Herz zu haben. Aber für den Betreffenden hat es manchmal böse Folgen, kann ihn mindestens in die schwersten Unannehmlichkeiten bringen.

Ich habe ein gutes Herz. Ich kann nicht nein sagen. Wenn mich jemand anpumpen will, und ich habe nichts, dann pumpe ich für ihn. Aber Dienst ist Dienst und keine Gefälligkeit. Wenn ich etwa Werkmeister in einer Fabrik bin, und ein Arbeiter tut nicht gut, oder er paßt mir sonst nicht – der fliegt sofort hinaus. Und wenn’s mein bester Freund ist, mein eigener Bruder.

Das erzählte ich nicht erst.

»Wenn Sie das nicht können – ich kann’s.«

»Sie verstehen mich?«

»Vollkommen.«

»Die Anmusterung ist ja viel zu schnell geschehen. Aber ich mußte sie doch haben, ich konnte sie doch nicht erst an Land auf ihren Charakter und ihr Können prüfen. Und dann wäre es doch immer noch dasselbe. Nun sind aber doch viele Männer dazwischen gekommen, die zu uns durchaus nicht passen. Obgleich es sonst vielleicht die tüchtigsten Seeleute sind. Und gerade das ist wieder der Grund, weshalb Kapitän Martin sie niemals entlassen wird. Für den kommt nur die Seemannschaft in Betracht. Dieser Kapitän, so klug und ausgezeichnet er auch ist, versteht mich überhaupt nicht –«

»Aber ich verstehe Sie. Ich werde in jedem Hafen alle Elemente, die nicht in unseren ritterlichen Kreis passen, ausmerzen und sie durch neue ergänzen, und so fort und fort.«

»Das ist es! Gut, dann ist die Sache ja erledigt. Sie sind also der Waffenmeister dieses Schiffes. Wenn es diesen Titel bisher noch nicht gegeben hat, so habe ich ihn hiermit eben geschaffen. Als Waffenmeister sind Sie der Höchste auf dem ganzen Schiffe, haben meine absolute Vollmacht.«

»Ich stehe auch über dem Kapitän?«

»Natürlich. Nur in die nautische Führung des Schiffes darf sich niemand einmischen.«

»Aber auch den Kapitän darf ich fortjagen?«

Sie sah mich groß an.

»Sie wollen Kapitän Martin entlassen?«

»Nee, den nich.«

Ich wußte gar nicht, weshalb sie plötzlich so lachte.

Schnell wurde sie wieder ernst.

»Sie können jeden entlassen, jeden. Ohne mich erst zu fragen, Sie brauchen keine Bestätigung von mir zu haben. Nur bei einem besonderen Teile der Schiffsbesatzung möchte ich immer erst befragt werden, Ihren Grund hören.«

»Bei den Exklikusen.«

»Sie wissen schon davon?«

»Mein Freund Ernst erzählte mir etwas davon.«

»Das ist der zweite Steuermann?«

»Ja.«

»Hat er Ihnen sonst etwas erzählt?«

Schade, daß sie wieder so zu fragen anfing. Ich lasse mich nicht auf diese Weise ausfragen.

Da merkte ich, wie sie etwas sagen wollte und nicht gleich konnte, bis sie es endlich hervorbrachte.

»Herr Stevenbrock! Herr Waffenmeister! Es gehen über mich Gerüchte. Es ist nicht an dem. Genügt Ihnen diese meine Erklärung?«

»Ja.«

»Ich verfüge über unermeßliche, unerschöpfliche Schätze.«

»Das ist sehr schön, wenn man so etwas hat.«

Immer ernster wurde sie, auch wie unsicher, zögerte, bis sie mit einem entschlossenen Schritte dicht vor mich hintrat. Dafür aber zitterte jetzt ihre Stimme.

»Herr Stevenbrock! Ich weiß, wodurch der erste Maschinist Sie beleidigt hat. Weshalb Sie ihn gefordert haben. Ich danke Ihnen.«

Und sie streckte mir ihre weiße, schlanke, feine Hand hin. Ich drückte sie.

Sie zog sie zurück, streifte einen der blitzenden Ringe vom Finger, hielt ihn mir hin.

»Nehmen Sie das zum Andenken. Zum Zeichen, daß ich Ihnen auch fernerhin dankbar sein werde. Es ist das Heiligste, was ich besitze. Wir leben einander zuliebe.«

Sie hielt die Hand, die mir den Ring reichen wollte, etwas hoch, auffallend hoch.

Einen Handkuß? Ich bin kein Freund von »küß d’ Hand, gnä Frau«. Schauderhaft! Eklig! Unmännlich! Und wenn’s eine Prinzessin wäre, die mir gnädig die Hand zum Kusse hinhielte – die könnte ja lange warten.

Jetzt aber beugte ich mich, und als ich den Ring nahm, küßte ich den Handrücken, küßte sogar recht herzhaft.

Ich weiß nicht, wer von uns beiden dabei ein röteres Gesicht bekam.

Dann ging ich.


3. KAPITEL.
MISTER TABAK UND DER PEITSCHENMÜLLER.

Draußen betrachtete ich den Ring. Ein breiter, dünner Goldreif, oben drauf ein großer roter Klecks. Siegellack war’s nicht. Glas oder Granat oder Rubin – mir ganz egal. Auf der Innenseite waren die Worte eingraviert: »Wir leben einander zuliebe.« Das fand ich sehr schön. Aber ich sollte ihn doch nicht etwa tragen? Da hätte ich mich geniert. Überhaupt ging er nicht einmal auf die Spitze meines kleinen Fingers. Ich steckte ihn in die Hosentasche.

Dort im Sonnenschein spazierte noch immer oder schon wieder der Badehosenpaviandackel mit Ordenssternen und Fuhrmannspfeife herum, dampfte mächtig. Jetzt zog er an der goldenen Ochsenkette eine mächtige goldene Uhr hervor, ließ den Deckel aufspringen, ließ sie bimbim repetieren, steckte sie wieder ein, zog aus einer anderen Tasche der Badehose eine goldene Dose hervor, nahm umständlich zwei Prisen, für jedes Nasenloch eine, dabei wie ein Walfisch schnaufend, steckte sie wieder ein, brachte dafür eine Platte Kautabak zum Vorschein, biß aber nichts davon ab, sondern steckte sie gleich ganz in den Schlitz, den er vorn im Gesicht zwischen den beiden Ohren hatte, für gewöhnlich Mund genannt, und hierauf nahm er den Abgußstiefel vom Pfeifenrohr, beugte sich zurück, sperrte den Rachen – pardon, den Mund, auf und ließ sich den braunen Tabakschmant in hohem Bogen hineinlaufen, ihn mit Wohlbehagen verschluckend.

Na da guten Appetit! Die Geschmäcker sind eben verschieden. Das ist auch sehr gut so, denn wenn alle Menschen wie die Australneger mit Vorliebe Raupen verschlucktem dann hätten wir ja gar keine Schmetterlinge mehr, und das wäre doch schade. Übrigens hatten wir in der kaiserlichen Marine einen Wachtmeister, von der Infanterie übergetreten, der ebenfalls solche Stiefelpfeifen rauchte und ebenfalls die angesammelte Tabakssauce soff – trank, das für die größte Delikatesse erklärte, der er nur noch Kirsch mit Rum vorzog.

Ernst kam.

»Wie ist’s gegangen?«

»Gut.«

»Was sagte der Kapitän und die Patronin?«

»Das erzähle ich Dir ein andermal, und auch Deine Komplimente, wie Du nicht gedacht hättest, daß ich den Riesen Goliath so abführen würde, kannst Du ein andermal anbringen. – Was ist das dort eigentlich für ein menschliches Individuum?«

Ernst machte ein geheimnisvolles Gesicht.

»Du, Georg, das ist ein gar berühmter Mann! Das ist ein Eskimo.«

Daß ich einen Eskimo vor mir hatte, zu der Ansicht war ich schon lange gekommen. Solch eine Gestalt hat nur ein nackter Eskimo. Aber ein berühmter Eskimo? Ernst berichtete. Hauptsächlich, wie der Kerl zu den wahrhaftigen Orden an seiner Badehose gekommen war, ihm wegen seiner Verdienste von europäischen Königen verliehen. Alle Hochachtung! Ich gebe es in anderer Weise wieder.

Mister Kabat, genannt Tabak, weil er, wenn er nicht aß, die Pfeife nur aus dem Munde nahm, um Kautabak hineinzustecken, dazwischen ab und zu eine Prise nehmend. Er rauchte auch im Schlafe. Eine Kunst, die aber so ziemlich jeder Seemann versteht. Wenn man zur Koje geht, wird noch eine Schagpfeife angebrannt, man pafft sie im Schlafe zu Ende. Und Edison steckt sich auch erst, ehe er einschlafen will, noch eine frischangebrannte Zigarre in die Spitze. Freilich, die Tages- und Arbeitszeit ist auch gar so kurz, um das Kraut des großen Geistes in Rauch ausgehen zu lassen. Jeder pflichtgetreue Mensch müßte sich angewöhnen, auch noch im Schlafe zu rauchen.

Dieser Eskimo hier aber wachte auf, wenn seine Pfeife ausging oder vielmehr, wenn der Tabak aufgebrannt war. Denn aus ging sie ihm niemals, am Ziehen ließ er es nicht fehlen. Dann wachte er auf, so wie der Müller aufwacht, wenn seine klappernde Mühle stehen bleibt, stopfte den großen Kopf wieder – so, nun hatte er für eine Stunde wieder Ruhe.

Es war doch schon ein merkwürdiger Zufall, daß dieser Mann Kabat hieß. Was aber in der Sprache seiner Heimat so viel wie »Werfer« bedeutet. Umgekehrt ist es aber eben Tabak. Und nun kam noch hinzu, daß dieser Eskimo die Zigarren von hinten rauchte. Das heißt, er steckte beim Rauchen immer das glühende Ende in den Mund. Was übrigens auch sehr viele Neger machen, wenn sie eine Zigarre bekommen. Wie sie dabei einen Genuß haben, wie sie überhaupt so die Zigarre rauchen können, mit dem Feuer im Munde, sie müssen doch immer blasen – das verstehe ich nicht. Ich zerbreche mir darüber auch nicht weiter den Kopf, probiere es nicht – ich könnte es mir angewöhnen.

Mister Tabak hielt sich für einen vollendet schönen Mann. Besonders betreffs seiner Körperformen. So einen eckigen Oberkörper, so dürr und dabei dennoch mit solch einem Hängebauch, auf kurzen, elegant geschweiften Beinchen ruhend, die wieder in ungeheuren, quadratischen Füßen endeten – so eine Männerschönheit gab’s sonst nirgends auf der Erde. Ganz abgesehen von seinem klassisch-schönen Paviangesicht.

Aber nicht etwa, daß Mister Tabak sich selbst verspottete, sondern das war sein heiliger Ernst! Er hielt sich für einen wunderbar schönen Mann! Das hatten ihm nämlich schon viele, viele Eskimomädchen gesagt, und auch schon manche Eskimofrau mochte seinetwegen die Ehe gebrochen haben.

Nun, das konnte ja sein, daß Mister Tabak in seiner grönländischen Heimat ein Adonis von unwiderstehlicher Schönheit war. Über den Geschmack ist eben nicht zu streiten.

Aber das hatten ihm auch europäische Damen gesagt und zwar die Damen in der Neuyorker Waterstreet. Nämlich wenn Meister Tabak dort mit Goldstücken um sich warf. Und da er keine andere Damengesellschaft kannte, so mußte er’s wohl glauben, daß er auch für europäische Damen ein bildschöner Kerl war.

Wie dieser Eskimo dazu kam, in der Newyorker Waterstreet manchmal mit Goldstücken um sich zu werfen? Weil er ein professioneller Harpunier war, der sich in Newyork verauktionieren ließ. Denn die Walfischharpuniere lassen, wenn die Saison beginnt, in Newyork, dem Zentrum der Walfischjägerei, von den Tranmenschen, von den Unternehmern, öffentlich auf sich bieten. Es geht ganz wie bei einer Auktion zu. Und so ein bekannter Harpunier bekommt eine fabelhafte Heuer. Mehr als der Kapitän regelmäßig, da ist er noch lange keine Berühmtheit. Außerdem hohen Anteil am Gewinn. Denn vom Harpunier hängt doch das ganze Geschäft ab. Und die Harpungeschütze können keinen Arm verdrängen. Die Jagd vom Dampfer aus mit Harpungeschossen wird überhaupt noch einmal durch internationales Fischereigesetz verboten werden. Nicht etwa, weil dadurch zu viel Walfische erbeutet werden – das kann man niemandem verwehren – sondern im Gegenteil, weil zu wenig, weil der Wal nur angeschossen wird und dann entkommt, an unzugänglicher Stelle verendet.

Dann hatte sich Mister Tabak der Nordpolforschung gewidmet, er hatte Polarexpeditionen als Jäger begleitet, hatte sie geführt. Und wie hatte er sie geführt! Nur ihm war es zu verdanken gewesen, daß die schon seit zwei Jahren verschollene amerikanische Expedition des Dr. Follard wiedergefunden wurde, daß wenigstens noch die Hälfte der Mannschaft gerettet werden konnte. Und die von der dänischen Regierung ausgesandte Expedition, der die Munition ausgegangen, hatte er einen ganzen Winter hindurch, neun Monate, vor dem sonst unvermeidlichen Hungertod bewahrt, nur durch seinen Wurfspeer. Auch mit Nansen war er gewesen, auf Schneeschuhen quer durch Grönland, und dann auf der »Fram«.

Ein tüchtiger Kerl!!! Der hatte sich verdient, was er da an der Badehose baumeln hatte, konnte wirklich stolz drauf sein!

Die goldene Uhr mit Kette hatte er von der Königin Wilhelmine von Holland bekommen, mit ihren Initialen. Den einen Orden hatte er vom König von Schweden, den anderen vom König von Dänemark. Mit dem hatte er auch an einem Tische gespeist, an Bord der »Fram«.

»Hören Sie mal, Herr Professor,« soll dann nach aufgehobener Tafel der König zu Nansen gesagt haben, »riecht der eigentlich mehr nach angebranntem Fett oder nach Tabaksschmant. Und was der Kerl schlingen kann! Ich weiß ja, was ein Eskimo im Essen leistet, fünf Pfund Speck auf einen Sitz ist für so einen eine Kleinigkeit – aber so eine Gefräßigkeit habe ich denn doch nicht für möglich gehalten!« –

Wie dieser berühmte Mann dann zu der Frau Helene Neubert gekommen war, wußte Ernst nicht, ich fragte auch nicht danach.

»Aber Du mußt ihn einmal werfen sehen! Es ist fabelhaft!«

»Die Harpune schleudern?«

»Ganz egal, was er in die Hand nimmt. Mit einem Stück Kohle holt er jede Möve im Fluge aus der Luft herab. Dort in der hölzernen Verschalung steckt noch eine kleine Eisenkugel ziemlich tief, und es ist hartes Holz. Die hat er hineingeschossen. Aber nur mit der Hand hat sie nur geworfen. Und er hat doch gar keinen starken Arm. Aber er wirft auch ganz anders. Es sieht immer aus, als ob er sich dabei den Arm auskugelte, so schleudert er ihn von hinten herum. Aber ich glaub’s nicht, daß er es vormacht. Ich will ihn – halt, da kommt der Peitschenmüller! Der kann etwas ganz Ähnliches und doch wieder etwas ganz anderes. Vielleicht ist’s noch viel fabelhafter. Der gibt Dir gleich eine ganze Vorstellung. He, Sennor Juba Riata, kommen Sie doch mal her!«

Es war eine prächtige Erscheinung, die da hinter dem Ruderhaus auftauchte. Vor meinen geistigen Augen tauchte plötzlich noch viel mehr auf: der wilde Westen Nordamerikas, pferdebändigende Cowboys und büffeljagende Indianer, Buffalo Bill mit seiner ganzen Bande.

Er war ganz in Leder gekleidet mit vielen Fransen und bunten Stickereien, die weichen Stiefelschäfte gingen bis zum Leibe hinaus, an dem der gewaltige Sixshooter im Futteral hing, außerdem noch eine Menge anderer Sachen, darüber war ein Lasso aufgewickelt.

Und nun ein Bild von einem Manne, der Gestalt wie den Gesichtszügen nach! Ein Buffalo Bill in verjüngter Ausgabe. Denn ich habe den Colonel Cody noch mit kastanienbraunen Locken gekannt und nie wieder einen so schönen Mann gesehen. Bis auf diesen hier. Das heißt wahre Männerschönheit!

Auch diesem hier fielen die Locken unter dem breitrandigen Sombrero bis auf die Schultern herab. Aber hellblonde. Und nun nicht etwa so ein klassisch-griechisch-römisch-irisch-katholisches Apollogesicht. Nein, ein freies, offenes Germanengesicht mit kräftiger Nase und darin zwei mächtige, blaue, strahlende Augen. Alles an dem ganzen Manne Kraft und Kühnheit, zugleich aber auch freundliche Bescheidenheit.

Er wurde mir als Sennor Juba Riata vorgestellt.

Ich berichte gleich jetzt, was ich erst später über ihn erfuhr.

Sein eigentlicher Name war Alfred Juba von Müller. Sein Vater war ein deutscher Offizier gewesen, verkrachte, ging nach Amerika, kam in Texas auf einer großen Rinderfarm an, hatte eine Spanierin geheiratet. Der erste Sohn wurde, wie dort im spanischen Amerika sehr üblich, außer nach dem Vater auch nach der Mutter genannt, erhielt direkt deren Vornamen: Juba. Übrigens kommt dasselbe auch bei uns vor, ein Beispiel ist auch sonst sehr zutreffend: Karl Maria von Weber.

Alfred Juba wuchs zwischen Pferden, Rindern und Cowboys auf, die dort unten aber Vaqueros heißen, noch weiter im Süden Gauchos. Der Lasso heißt auf Spanisch Riata, und weil schon der Junge eine ganz besondere Meisterschaft im Gebrauch der Wurfschlinge zeigte, erhielt er den Ehrennamen Juba Riata.

Später kam er ins Wandern, schloß sich einem Zirkus an, bändigte erst junge Pferde, dann Löwen und Tiger, wurde einer der berühmtesten Dompteure des amerikanischen Kontinents. Bis ihn die Weltreisende Frau Helene Neubert an sich fesselte. Wohl aus keinem anderen Grunde, weil die exzentrische junge Dame eben lauter solche Helden der Wildnis und des Zirkus um sich versammelte, an solcher Begleitung ihre Freude hatte. Aber dieselbe Gage, die er bisher gehabt, würde sie ihm wohl nicht zahlen, denn der Raubtierbändiger war nicht unter 200 Dollars pro Abend aufgetreten.

Jedenfalls gefiel es ihm in dieser Stellung, jetzt an Bord des Schiffes. Obgleich ein Mann, mit dem man sich über alles unterhalten konnte, war er doch noch immer der echte Cowboy geblieben, kleidete sich auch als solcher, was man ihm nicht verdenken konnte. – Wie jeder der »Exklikusen«, hatte auch er sein Amt. Er war der Herr über alles, was da kreucht und fleucht, vom Königstiger an über die Lachtauben hinweg bis herab zum dressierten Mehlwurm – na, sagen wir: bis zum Laubfrosch.

Ich hatte in dieser Arche Noah ja erst den kleinsten Teil der ganzen Menagerie gesehen. Wohin ich blickte, überall tauchten neue Repräsentanten der Tierwelt von der ganzen Erde auf, vom Nordpol bis zum Südpol. So auch jetzt wieder.

Anfang

Hinter dem langsam ankommenden Cowboy trabte ein Bär her. Ich hatte bisher zwei Bären an Bord gesehen: einen amerikanischen schwarzen Baribal und einen europäischen oder asiatischen braunen Landbären. Und dann noch den kleinen Waschbären.

Hier kam eine neue Spezies: ein Eisbär. Doch nein, schnell erkannte ich meinen Irrtum. Es war eine sehr seltene schneeweiße Spielart des braunen Landbären.

Noch ein anderes Raubtier folgte nach, das hier nicht fehlen durfte. Der Cowboy hatte in der Hand einen dicken Peitschenstiel von etwa dreiviertel Meter Länge, aus, wie ich dann bemerkte, mehren Streifen dünngeschabter Rhinozeroshaut geflochten, an dem eine endlose Lederschnur nachschleifte. Als er schon acht Schritte hinter der Wand hervorgekommen, war das Ende noch immer nicht zu sehen, schließlich kam es, und es war ein junger Löwe, ein Baby, männlichen Geschlechtes, aber noch ohne Mähne, welches glaubte, der Cowboy schleife die Peitsche nur seinetwegen über Deck, damit es nach der Schmitze haschen könne. Ein reizendes Bild!

Sennor Juba Riata wurde mir also vorgestellt. Ein liebenswürdiger Mensch!

Unterdessen beschnüffelte mich eingehend der weiße Bär, ich merkte gleich, daß er mit seinen roten Augen im hellen Tageslichte sehr schlecht sehen konnte.

»Du wirst schon einmal sehen,« sagte Ernst, »wie Sennor Riata mit seinem Revolver schießt und den Lasso schleudert. Aber das ist alles nichts dagegen, was er mit seiner Peitsche leisten kann! Das ist einfach fabelhaft, grenzt an Zauberei! Würden Sie meinem Freunde nicht einmal eine kleine Probe Ihrer Kunst geben?«

»Gewiß, sehr gern. He, Jimmy, gib mir mal ein paar von den Dingern her.«

Ein Negerjunge ging vorüber, trug einen Korb mit Kartoffeln. Juba nahm einige heraus, legte sie auf die Bordwand. Das Schiff lag wie festgenagelt.

»So, nun stellen Sie sich so hin, halten Sie den ausgestreckten Finger so vor sich – so –«

Unsere Unterhaltung wurde unterbrochen, ein jäher Schreck durchzuckte mich, denn plötzlich tauchte dicht vor mir aus einer Luke ein ungeheurer Kopf auf, ein Menschenkopf, aber noch größer als ein Riesenkürbis, fürchterlich anzuschauen, mit herabhängenden Elefantenohren, das von Zähnen starrende Maul ging von einem Ohr zum anderen, die Augen waren wie die Untertassen, und dieser Kopf war lebendig, die Zähne fletschten und die Augen rollten.

Anfang

Ehe ich mir das Ungetüm näher angeschaut hatte, war es schon wieder untergetaucht.

»Bengel, was soll der Mummenschanz!« rief ihm Juba Riata nach, und von unten erklang ein Kichern. »Nevermind,« wandte er sich dann wieder an mich, »so ein Bursche, der mir manchmal bei meinen Dressuren behülflich ist, ist über meine Masken gekommen, hat sich einen Scherz erlaubt. Wenn nämlich ein ungebändigtes Raubtier irgend etwas fürchtet, so ist es solch eine unnatürliche Maske, vor der kriecht auch der rabiatste Tiger zitternd und winselnd in eine Ecke.«

Nach diesem kleinen Intermezzo wurde unsere Unterhaltung wieder aufgenommen.

Juba Riata ging von mir weg, ich zählte zehn Schritte. Die Peitschenschnur war, wie ich später maß, genau zehn Meter lang, reichte also doch noch etwas weiter als die zehn Schritte.

Dann drehte er sich um, knallte einmal mit der Peitsche, und es klang wie ein Pistolenknall.

»Ich will Ihnen zuerst zeigen, daß Sie nichts zu fürchten haben – selbst wenn ich Sie treffen sollte, tut es doch nicht weh – dabei ist es ganz gleichgültig, ob ich laut knalle oder nur schwippe –«

Er schlug mehrmals nach mir, bald mit einem Pistolenknall, bald hörte man kaum ein leises Pfeifen in der Luft.

Also ich hielt meinen rechten Zeigefinger emporgereckt vor mich hin. Jedesmal, wenn es knallte oder leise pfiff, fühlte ich etwas Kühles sich um meinen Finger schlängeln. Aber zu sehen war absolut nichts.

»Fühlen Sie, wie sich die Peitschenschmitze immer um Ihren Finger wickelt?«

»Ja, fühlen tue ich’s wohl, aber es ist nur ein kühler Lufthauch.«

»Ich zeige Ihnen, daß es wirklich die Peitschenschnur ist –«

Ein Pistolenknall, und mein Finger war dick von der dünnen Peitschenschnur umwickelt, wohl zwanzigmal, wie ich dann bei dem langsamen Zurückziehen beobachtete.

»Nicht wahr, das ist doch ganz harmlos.«

»Ganz harmlos,« bestätigte ich.

»Senken Sie den Finger etwas, ich will Ihren Hals treffen – so –«

Pistolenknalle und Pfeifen, auch um meinen Hals legte sich mehrmals etwas Kühles, dann blieb er einmal von der Peitschenschnur umwickelt, bis sie zurückgezogen wurde.

»Ganz harmlos, nicht wahr?«

»Ganz harmlos,« bestätigte ich nochmals, noch nicht wissend, was jener eigentlich wollte. Denn das glaubte auch ich fertig bringen zu können. Freilich hätte ich dem anderen vielleicht auch eine tüchtige rote Strieme beibringen können. Doch so eine großartige Kunst war das wohl nicht, mit der Peitsche jemanden zu schlagen, ohne ihm wehe zu tun.

Und dann verstand ich nicht, weshalb Ernst so höhnisch grinste.

»Nun nehmen Sie eine Kartoffel zwischen Daumen und Zeigefinger.«

Ich tat es, hielt sie vor mir hin. Der Peitschenmann knallte wie mit der Pistole.

»Haben Sie etwas bemerkt?«

Nein, gar nichts hatte ich bemerkt.

»Besehen Sie sich die Kartoffel.«

Eine ganze hatte ich zwischen den Fingern gehabt, jetzt bestand sie aus zwei Hälften. Mitten durchgeschnitten! Aber vor allen Dingen: wie ich hiervon so absolut nichts hatte bemerken können, wie der das mit seiner Peitschenschnur fertig brachte, das ging mir über die Hutschnur.

Er machte es noch mehrmals. Jetzt sah ich doch hin, gab genau Acht – nicht das geringste merkte ich, daß der immer die Kartoffel zwischen meinen Fingern halbierte. Nur daß plötzlich um die braungelbe Schale herum ein etwas dunkerer Strich entstand. Da war es eben schon geschehen. Aber auch nicht den kleinsten Ruck hatte ich dabei bemerkt.

Dann mußte ich einige Kartoffeln in die Luft werfen. Der Cowboy knallte oder ließ seine Peitsche pfeifen, und jede Kartoffel war mit einer Regelmäßigkeit halbiert, daß man glaubte, auf einer feinen Wage hätte jede Hälfte das gleiche Gewicht zeigen müssen.

Schon jetzt sperrte ich Maul und Nase auf.

Der Cowboy blickte sich suchend um. Auf der Nock, dem Ende der Großrahe, der untersten des Mittelmastes, saß einsam eine Taube, recht trübsinnig.

»Der Täubrich dort muß fort, muß geschlachtet werden. Er ist von seiner Gesellschaft ausgestoßen worden. Sobald er Land wittert, geht er ab. Ich scheuche ihn erst auf.«

Er schlug mit der Peitsche nach dem Tiere, ich hörte die Schwippe gegen die Leinwand klatschen, die Taube flog auf und davon.

Das hatte der Cowboy nur gewollt. Die Peitsche pfiff durch die Luft, ein Pistolenknall, und herab fiel der Kopf der Taube. Diese selbst, obschon sich aus dem Halsstumpfe bereits ein Blutstrom ergoß, flog noch weiter, weil sie eben reflexiv noch Flügelbewegungen machte, dann senkte sie sich, war schon über die Bordwand hinaus, wäre ins Wasser gestürzt – da knallte die Peitsche noch einmal nach, mit einem Ruck lag das kopflose Tier in der Hand des Cowboys. Weil sich jetzt die Peitschenschwippe nur um den Körper geschlungen hatte.

»Wie ist so etwas möglich?« konnte ich nur staunen.

»Diese Sicherheit im Schlagen? O, das ist nur Übung Sehen Sie, ich bin jetzt 33 Jahre alt. Von meinem dritten Lebensjahre an habe ich die Peitsche in der Land gehabt, mich im Knallen und Schlagen geübt. Nun machen Sie das einmal 30 Jahre lang. Dann können Sie das auch. Eine angeborene Begabung dazu muß freilich wohl vorhanden sein. Oder doch Lust dazu. Und das ist es ja eben. Wer keine Lust an so etwas hat, dem fällt es gar nicht ein, 30 Jahre lang mit der Peitsche zu knallen. Das ist die einfache Erklärung.«

Diese hatte ich eigentlich nicht gewollt, ich hatte an etwas anderes gedacht.

»Ja, aber wie kommt es, daß Sie mit der Peitschenschwippe der Taube gleich den Kopf glatt abschneiden können?«

Er zeigte mir die Schwippe. Sie war mehr als einen Meter lang, dünn wie Flaschendraht, aber vollständig biegsam, mit haarscharfen Zäckchen besetzt wie ein feines Laubsägeblatt.

»Das ist ein Streifen von der Innenhaut eines Geiermagens, kreisförmig herausgeschnitten. An sich schon scharf wie die allerfeinste Säge, äußerst widerstandsfähig, besitze ich ein Mittel, um die Zacken fast glashart zu machen. Mit der Zeit nutzt es sich ab, dann aber brauche ich den Streifen nur aufzukochen, wieder zu trocknen, und die Schärfe ist wieder da. Oder ich habe ja auch noch eine ganze Menge Ersatzstücke, Geiermägen sind billig. Also ich lasse die Schwippe sich um den Gegenstand, den ich durchschneiden will, herumwickeln, ziehe schnell durch, und auf ein und denselben Punkt wirken in einem Moment viele Tausende von haarscharfen Zähnchen – außer Stein und gehärteten Stahl schneide ich wohl alles durch. Natürlich hat alles seine Grenzen. Dort so eine dicke Rahe kann ich nicht durchhauen, wenigstens nicht mit einem Male. Aber sonst – passen Sie auf.«

Er nahm einen Schrubber, einen Besen, der da lag, der Stiel mindestens zwei Zoll dick, klemmte ihn fest zwischen die Räder einer Winde, ging wieder zehn Schritte zurück.

»Dort, wo die Öse mit dem Bindfaden ist, schneide ich ihn ab –«

Ein Knall, ein Pfeifen, und das Stück Besenstiel fiel herab. Glatt durchgesägt, durchgeschnitten!

Und mit einem Male war es mir doch nicht anders, als wäre mir mein Genick durchgesägt worden, einen solchen Schmerz fühlte ich am Halswirbel. Freilich nur Einbildung; aber jedenfalls griff ich doch unwillkürlich an mein Genick. Und da sah ich meinen Freund Ernst wieder so heimtückisch grinsen.

»Ja, Teufel noch einmal!« stieß ich hervor. »Wie machen Sie denn das, daß die Schwippe einmal alles zersägt und das andere Mal sich ganz harmlos um meinen Finger und Hals wickelt?!«

»Ebenfalls nur Übung. Nur ein besonderer Trick. Das liegt in der Drehung des Handgelenks. Sie sehen, daß die Schwippe doch nur auf der einen Seite mit Zähnchen besetzt ist. Drehe ich beim Schlagen das Handgelenk nach links, so legt sich die Schwippe mit der glatten Seite um den getroffenen Gegenstand, ich kann schnell zurückziehen, nicht der geringste Riß wird entstehen. Drehe ich das Gelenk nach rechts, so greifen die Zähne ein, beim Durchziehen wird der Gegenstand durchsägt.«

»Dann hätten Sie mir wohl vorhin auch gleich den ganzen Kopf absägen können?«

»Gewiß. Solche Knochen wie den Halswirbel schneidet meine Peitsche glatt durch.«

So lächelte der blondlockige Barbar ganz gemütlich. Mich aber, muß ich gestehen, überlief es plötzlich eiskalt.

Wenn der aus Versehen sein Handgelenk nach der falschen Seite gedreht hätte, dann hätte ich jetzt meinen Kopf untern Arm nehmen können.

Nein, ich danke für solche Handsgelenkdreherei!

»Dort mein Freund Mister Tabak – Mister Kabat, wollte ich sagen – kann wieder etwas ganz anderes, was ich nicht kann. Der hat sich wieder von Kindesbeinen an nur im Werfen geübt.«

Juba Riata nahm aus einem der Beutelchen, die er am Gürtel hängen hatte, eine kleine, runde Bleikugel oder ein großes Schrotkorn – ein Rehposten.

»Mister Kabat, bitte, geben Sie diesem Herrn hier doch einmal eine Probe Ihrer Werfkunst!« rief er dem Eskimo zu, ihm auch gleich das Kügelchen zuwerfend.

Es sah schon merkwürdig aus, wie der menschliche Dackelhund so phlegmatisch in die Luft griff. Das schwarze Kügelchen konnte man doch gar nicht fliegen sehen – ich wenigstens konnte es nicht.

Ich mußte wieder eine Kartoffel zwischen die Finger nehmen, der Cowboy nahm eine leere Pütze, einen Holzeimer, und hielt sie dahinter.

»Allright!«

Der Eskimo stand, wie ich dann ausmaß, 14 Meter von mir entfernt. Er schlenkerte, ohne die qualmende Pfeife aus den Zähnen zu nehmen, den rechten Arm in eigentümlicher Weise von hinten um die Schulter herum nach vorn, in diesem Moment war von dem Arm gar nichts zu sehen gewesen, ich fühlte einen ganz kleinen Ruck in der Hand, gleich darauf klatschte es. Die Kartoffel war genau in der Mitte durchbohrt, in dem Holzeimer lag die kleine Bleikugel, ganz plattgedrückt, hatte auch im Boden einen tiefen Eindruck hinterlassen.

»Mit einer Eisenkugel durchschlägt er den Holzboden. Dieses Blei ist überhaupt sehr weich, und ein richtiger Schuß mit Pulverkraft ist es natürlich nicht. – Hallo, Mister Kännchen! Haben Sie Zeit? Kommen Sie doch einmal her.«

Es war ein älterer Chinese, der über Deck ging, trug weiße Hosen und einen weißen Kittel, der ihm viel zu lang war, unter der weißen Ballonmütze hing ein langer Zopf herab.

»Das ist unser Koch, Mister Kien-Chen. Die Mastrosen nennen ihn immer Kännchen, und er nimmt’s nicht übel. Der kann wieder etwas anderes, was wir anderen alle nicht können. Wieder ein Beweis, was der Mensch fertig bringt, wenn er nur eine einzige Fähigkeit ausbildet.«

Der Chinese mußte mir seine linke Hand zeigen. Da war nichts Auffallendes daran. Magere Finger mit sehr langen, aber wohlgepflegten Nägeln. Dagegen die rechte Hand – aber auch nur Daumen und Zeigefinger – ungemein groß und stark, starrend von Muskeln. Die anderen drei Finger verschwanden gegen diese beiden ganz.

Juba Riata nahm wieder eine kleine Bleikugel aus dem Beutel, der Chinese wußte gleich, was von ihm verlangt wurde, nahm die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte sie spielend, scheinbar ohne jede Anstrengung, zu einer dünnen Platte zusammen.

»Ach, das ist wohl ein chinesischer Zahnarzt?!« rief ich.

»Jawohl. Kennen Sie diese Leute schon?«

Ja. Sie sind überall zu finden, wo es chinesische Quartiere gibt, in jedem indischen Hafenstädtchen, in San Franzisko, auch in Neuyork. Hier hatte auch ich schon einmal die Hilfe solch eines chinesischen Zahnkünstlers in Anspruch genommen. Es ist sehr interessant. Noch amüsanter freilich ist es, wenn man zusieht, wie ein anderer die Zahnschmerzen hat und sich im Rachen herumfingern läßt.

Ich hatte einen alten Stumpf weit hinten in der Kinnlade, er machte mir Höllenschmerzen, ich war zu einem amerikanischen Dentisten gegangen, der zerrte eine halbe Stunde lang mit den verschiedensten Zangen daran herum, ich hätte den Kerl backpfeifen mögen – nützte nichts – dann ging ich zu einem chinesischen Zahnzieher, setzte mich in einen Stahl, der Mongole guckte mir in den Mund, hineingegriffen, mit den Fingerspitzen den Stumpf angepackt, die linke Hand mir gegen die Stirn gepreßt, ein Ruck – raus war der Kerl.

Das macht die Übung. In China zählen die Zahnzieher zu der Kasse der Gaukler, der auch die Bettler und Diebe angehören. Aber das ist immer wieder eine Spezialzunft. Der Sohn des Zahnziehers muß wieder den Beruf des Vaters ergreifen. Sobald das Kindchen nur zu denken, zu spielen anfängt, wird dieser Trieb schon zur Erziehung benutzt. Man schnallt das Baby auf ein Stühlchen, es bekommt vor sich ein Brett, in dem Löcher eingebohrt sind, in jedem steckt ein Zäpfchen. Dieses muß das Kind immer herausziehen, die Mutter oder eine Schwester steckt sie immer wieder hinein. Sehr bald merkt das Kind, was man von ihm verlangt, sonst bekommt es nichts zu essen. Und immer fester werden die Zäpfchen hineingesteckt, immer kürzer werden sie – bis sie so nach etwa zehn Jahren mit dem Hammer in die Löcher gekeilt werden!

Und das nun von früh bis abends, täglich 14 und noch mehr Stunden lang, nichts und nichts anderes! Und zehn Jahre reichen noch nicht. Ich habe mich darüber genau erkundigt. Vor dem achtzehnten Jahre wird selten ein Jüngling zur Meisterprüfung zugelassen. Besteht er sie nicht, vermag er den mit dem Hammer festgekeilten Zapfen, den er eben noch mit den Fingerspitzen fassen kann, nicht herauszuziehen, so werden ihm die beiden nutzlosen Finger abgehackt, wenn nicht gleich beide Hände, er rangiert als Krüppel unter die Bettler.

Im anderen Fall, wenn er die Prüfung besteht – na, dann ruppt so ein Kerl eben jeden Backzahn heraus, mag er auch noch so fest sitzen, wenn er auch nur einen winzigen Stumpf fassen kann. –

»Was hat nur Fips da oben?« meinte Juba Riata, aufmerksam in die Takelage des Großmastes blickend.

Fips war jedenfalls der Affe, der dort oben auf der Unterbramrahe saß, sich kratzte und etwas Blinkendes betrachtete, das er in der anderen Hand hielt.

»Es blitzt manchmal so, das scheint ein Ring zu sein. Der hat wieder etwas gestohlen. Ja, wie den Kerl nun aber bekommen?«

»Gehorcht er nicht dem Rufe?«

»Ja, aber nur, wenn er was bekommen soll. Der ist vom Stamme Nimm. Mir gehorcht er wohl, aber nur, wenn ich ihn im geschlossenen Raume habe. Es ist ganz unmöglich, ihn hier in der Takelage zu fangen. Ich könnte ihn wohl mit dem Lasso fangen, aber dann möchte er den Ring, oder was es sonst ist, erst fallen lassen, vielleicht über Bord. Ich muß es einmal mit der Peitsche versuchen. Freilich ohne Garantie, daß es gelingt. Meine Treffsicherheit hat auch ihre Grenzen.«

Und Peitschenmüller, wie er hier genannt wurde, führte das erstaunlichste seiner erstaunlichen Kunststücke aus. Etwas, was ich nicht für möglich gehalten hätte.

Er ging gemächlich nach der anderen Seite, stieg auf die Bordwand, begann langsam die Takelage zu erklettern. Der immer um sich blickende Affe bemerkte ihn, wurde mißtrauisch, wollte die Flucht ergreifen – da war es schon zu spät.

Eine Bewegung des Peitschenstiels von unten nach oben, die Schnur pfiff durch die Luft, und Fips machte einen Heidenradau – nämlich weil er plötzlich das blanke Ding nicht mehr zwischen den Fingern hatte.

Juba kam zu mir zurück. Es war wirklich ein Fingerring, um den sich die Schwippe gefitzt hatte. Staunte ich schon, wie so etwas möglich war, so stutzte ich noch mehr bei Anblick des Ringes überhaupt.

Ein breiter Goldreif, oben drauf ein großer roter Klecks –.

Hatte der Affe genau so einen Ring wie ich!

Und waren da drin nicht Worte eingraviert? Natürlich.

- Wir leben einander zu Liebe.

Das heißt, nun aber ging mir eine Ahnung auf! Ich dachte an die Spiegeleier des Segelmachers.

Ich hätte gar nicht in meine rechte Hosentasche zu greifen brauchen.

Aber ich tat’s doch.

Natürlich, mein Ring, mir zum ewigen Andenken verehrt, war weg!

Der Affe hatte ihn mir geklaut.

Der Cowboy sah mein Gesicht und meine Bewegung nach der Hosentasche und wieder mein Gesicht.

»Das ist wohl Ihr Ring?«

Ich mußte gestehen, daß ich ihn erst vor zehn Minuten, länger hatte die ganze Vorstellung ja nicht gedauert, von der Patrona geschenkt bekommen hatte.

»Ja, da müssen Sie vorsichtig sein,« lachte der Cowboy, »hier an Bord gibt es eine ganze Masse Taschendiebe.«

Ich lachte nicht mit. Es war mir doch äußerst fatal. Sollte es auch nicht. Verehrt mir da eine junge Dame das Heiligste, was sie besitzt, zum ewigen Andenken – »wir leben einander zu Liebe« – und zehn Minuten später sitzt da oben ein Affe und läßt durch den Reifen seine Flöhe springen!

Na, das sollte mir ja nicht wieder passieren. Jetzt steckte ich den Ring in die rechte Westentasche zum Priemtabak. Da war er sicher.

Ich war noch mit dieser Bergung beschäftigt, als ich in meiner linken Jackentasche etwas krabbeln fühlte.

Ahaaa!! Na warte! Ich drehte mich nicht erst um, sondern griff schnell zu.

Und hatte in meiner linken Jackentasche eine große, dicke Wurst gepackt, und zwar eine lebendige. Sie zappelte und kniff mich wie mit einer Zange, wenn auch nicht derb.

Anfang

Ich erschrak etwas. Soll man auch nicht erschrecken, wenn man in seiner Tasche plötzlich eine lebendige Wurst fühlt, die einen kneipt! Also erschrocken drehte ich mich um. Und da steht vor mir ein – –.

Ich hatte gleich im Anfange gesagt, als wir uns bewußt wurden, in eine Arche Noah gekommen zu sein, wenn nun auch noch ein Elefant aufgetaucht wäre, wir wären nicht mehr sonderlich erstaunt gewesen.

Und jetzt stand da vor mir ein Elefant!

Und was für ein Exemplar!

Das heißt, nicht durch seine Größe imponierend, sondern im Gegenteil, durch seine Kleinheit.

Noch nicht ganz einen Meter hoch. Ein Elefantenbaby! Ein reizendes Tierchen!

Dieses untersucht mit seinem kurzen Rüsselchen meine Rocktasche.

Wie das Kerlchen merkte, daß es ertappt worden war, warf es sich herum, das Rüsselchen hoch, das Mäulchen aufgesperrt, freilich schon groß genug, daß man seinen Kopf hineinstecken konnte, und trabte davon, dabei unbeschreibliche Töne ausstoßend. Wirklich unbeschreiblich! Es schrie wie ein kleines, ungezogenes Kind – natürlich wie ein kleines Elefantenkind – aber so quäkend – wie ein Kindertrompetchen – unbeschreiblich – von urkomischer Wirkung.

Nur wegen dieses Schreiens lachte ich, daß mir die Tränen über die Backen liefen.

»Ja, das ist unser Lulu, der kann das Mausen auch nicht lassen!« lachte der Cowboy ebenfalls.

»Wo haben Sie denn den her?!«

»Von einer Karawane die aus Nubien kam und durch unsere Oase zog. Ein wild eingefangener Elefant oder vielmehr Elefantin, aber schon ganz zahm hatte ihr Junges bei sich. Vor einem Vierteljahre saugte das Kleine noch kräftig. Dann ging die Mutter ein. Aber Lulu nahm gleich trockenes Futter an. Ich schätze ihn jetzt auf ein Jahr. Wenn er so weiter gedeiht, wird er einmal ein prachtvolles Tier. Der Ansatz zu den Stoßzähnen ist ausgezeichnet.«

In unserer Oase?

Es ging mich nichts an. Oder deswegen weiter zu fragen, dazu fühlte ich mich noch nicht heimisch genug.

Die Patronin kam von der Kommandobrücke herab. Hinaufgehen hatte ich sie nicht sehen. Einfach deshalb nicht, weil man auch vom Zwischendeck durch das Kartenhaus hinaufgelangen konnte.

Sie suchte mich.

»Herr Waffenmeister, ich wollte Ihnen nur noch sagen, daß Sie dann keine Wache mitgehen. Überhaupt nicht. Kapitän Martin ist gewöhnt, die dritte Wache mitzugehen und übernimmt sie fernerhin allein. Ich sage es Ihnen, damit Sie sich dann nicht erst mit dem Kapitän auseinanderzusetzen brauchen.«

Ich dankte, sie ging nach der Kajüte.

»Alle Hände an Deck, alle drei Wachen antreten vor dem Mast!« rief der Kapitän und kam herab.

Die Bootsmannpfeife schrillte, auch in die Luken hinein, um das Heizer- und Maschinenpersonal heraufzurufen.

In fünf Minuten stand alles angetreten, nur der erste Maschinist und die Exklusiven fehlten. Wenn diese nicht die Neugier herbeitrieb, aber anstellen taten die sich nicht mit.

Es ging sehr militärisch her, vielmehr als auf einem anderen Handelsschiffe. Nur daß der Höchstkommandierende dabei immer die Hände in den Hosentaschen behielt und sich auch sonst nicht gerade militärisch benahm.

»Herr Georg Stevenbrock da,« er schlenkerte mit dem Fuße nach meiner Richtung, »ist bevollmächtigter Stellvertreter der Patronin und mit Herr Waffenmeister anzureden. Well!«

Die Leute gingen wieder auseinander.


4.
KAPITEL. DIE GRÜNEN UND DIE ROTEN.

Nachdem ich so meinen neuen Posten definitiv angetreten hatte, will ich gleich noch eines erwähnen.

Bei wilder Fahrt wird also nicht nach einem bestimmten Ziele gemustert. Nur wenn das Schiff etwas Besonderes vorhat, muß das vorher mitgeteilt werden. Das ist in der Schifferordnung alles einzeln aufgeführt, ich gebe hier nur einiges an: Walfischjagd, Robbenschlag, überhaupt wenn es in die Polarregion geht – das muß der Mannschaft besonders gesagt werden. Ferner wenn Kapitän oder Patron sich in kriegerische Unternehmungen einlassen will: Kaperei, Schmuggeln von Kriegskonterbande, Blokadebrechen. Das darf die Mannschaft nicht erst hinterher erfahren, weder Offizier, noch Schiffsjunge. Solch ein Vorhaben, vorher nicht mitgeteilt, löst sofort den Kontrakt, jeder, der nicht mitmachen will, muß im nächsten Hafen abgesetzt werden.

Aber sonst erfährt man kein Ziel, oder brauchst es doch nicht zu erfahren. Hat man es nicht erfahren, so ist es ausgeschlossen, daß man danach fragt, daß man darüber im Mannschaftslogis oder in der Offiziersmesse disputiert, obgleich es nicht etwa durch ein geschriebenes Gesetz verboten ist. Es ist nicht anständig, es geht gegen die Bordroutine.

Eirnst hatte mir vorhin mitgeteilt, daß die »Argos« hier schon seit zwei Tagen mit festgemachten Segeln und ohne volle Dampfspannung lag, sich von Strömung und Wind treiben ließ.

»Wo geht die Fahrt hin?« hatte ich gefragt, wozu ich auch berechtigt war.

»Das weiß ich nicht.«

Gut, dann war diese Sache für mich nun auch erledigt. Und so etwas geht einem zuletzt ja so in Fleisch und Blut über, daß ich auch in Gedanken für mich solch eine Frage nicht mehr aufwarf.

Dagegen war jetzt meine erste Frage, wo sich die Turnhalle befände. Im Zwischendeck, der ehemaligen Batterie des ursprünglichen Kriegsschiffes.

Es war alles vorhanden, was zur Benutzung keine größere Höhe als drei Meter erforderte. Barren und Pferde und Böcke und Springapparate und dergleichen, alles zum Festschrauben. Trapeze und ähnliches konnten natürlich nicht angebracht werden. Auch die beiden Recke gebrauchten eine besondere Vorrichtung, um sie zu jeder Schwungübung benützen zu können. Durch die Batterie gingen die beiden großen Luken, fünf Meter lang und mir wenig schmäler, nach oben also aufs Deck, nach unten ins zweite Zwischendeck. Neben diesen Luken waren eiserne Schienen errichtet, zwischen diesen die Reckstangen eingespannt. Bei großen Schwungübungen mußten sie natürlich tief stehen, dann turnte man also in der Luke herum, halb in der Batterie, halb im zweiten Zwischendeck. Bei schönem Wetter wurde oben die Luke abgedeckt.

Ich zog meine Jacke aus und probierte es wieder einmal am Reck. Die Knochen waren doch ein bißchen eingerostet. Aber das gab sich schnell.

Mein Poltern lockte einige Matrosen und Heizer herab. Die wollten doch sehen, was es mit dem sogenannten Waffenmeister für eine Bewandtnis hatte, und sie konnten hier gerade so gut sein wie ich. Auch die Wache hatte nichts zu tun, konnte sich überall aufhalten, wo der Bootsmannspfiff sie erreichte.

Verwunderte, wenn nicht erstaunte Gesichter. Ich konnte wirklich sehr gut turnen, mir machte mancher professionelle Reckturner im Zirkus nichts vor.

»Wer von Euch kann turnen, Jungens?«

Die erst erstaunten Gesichter wurden gleich mißtrauisch und verdrießlich.

»Dat is nix för uns, wi in Seelüt.«

Nur einer trat vor, ein hübscher, schlanker Bursche, noch nicht 20 Jahre, sprang an die Stange und machte einige ganz hübsche Übungen.

»Wie heißt Du?«

»Hans Leichtfuß.«

Nanu! Es wurde mir unter Matrosenwitzen erklärt. Hier war einmal der Ausnahmefall, daß man einen Matrosen außer mit seinem Vornamen noch mit seinen Vatersnamen anredete. Aber nicht so einfach, man hatte noch etwas dazwischen geschoben.

Er hieß Hans Fuß und war Leichtmatrose. Da war er natürlich der Hans Leichtfuß geworden. Und ein richtiger Hans Leichtfuß war er auch, immer heiter und sorglos, immer Dummheiten im Kopfe, und außerdem ein ganz schneidiger Bengel.

Dies alles sah ich ihm gleich an, in den Augen und sogar an der Nasenspitze. Ich nahm ihn beiseite, erklärte, was ich von ihm verlangte.

Er sollte die ganze Besatzung die »Exklikusen« und vorläufig die Offiziere ausgenommen, in einer Liste zusammenstellen und diese in zwei möglichst gleichmäßige Parteien teilen. So gleichmäßig, daß er dann eine schwere Wahl hätte, welcher Partei er angehören solle.

Der helle Kopf verstand mich sofort.

»Von wegen der besten Seemannschaft?«

»Auch mit. Aber das gibt nicht den Ausschlag. Auf jede Wache die fixesten Jungen, und jede Wache soll die fixeste sein. Du erfährst vorher nicht, welcher Du angehören wirst. Matrosen und Heizer.«

»Schön, Herr Waffenmeister, wird gemacht.«

Ich suchte Siddy auf, fragte, ob ich ein Stück grünes und ein Stück rotes Zeug oder Tuch bekommen könnte. Zeug und Tuch wußte er nicht gleich, aber die feinste indische Seide war in solchen Farben da. War mir auch recht. Ich nahm metergroße Stücke, zerschnitt die beiden Farben in lauter kleine Streifen.

Wie ich hiermit noch beschäftigt war, sah ich Hans Leichtfuß herumspazieren, Bleistift und ein Stück Papier in der Hand, manchmal gen Himmel blickend, sich in den Haaren kratzend und dann schreibend und dann wieder himmelnd – gerade wie ein lyrischer Dichter.

Als ich meine Stücke zerschnitten hatte, war auch er fertig. Ich sah das Konzept, wo er die Einzelnen immer hin und her rangiert hatte, bis sie jetzt in zwei Reihen sauber untereinander standen.

»Zu welcher Reihe aber ich gehören möchte, das wüßte ich wirklich nicht. Hier ist der Bruno und dort ist der Franz. Und dort ist der Jochen – dafür ist aber hier nun wieder der Paul. Der is ja ein bißchen dämlich aber was der Jochen is, der hat’s Pulver ooch nich erfunden. Dafür kann der Paul mit einer Hand einen doppelten Palstegknoten schlingen, un der Jochen wieder kann ebenso ein zölliges Tau durchbeißen, wie nen Porzellanteller upfräten –«

»Schon gut, schon gut. So hast Du sie eben ganz richtig verteilt, und wegen der Wahl sollst Du gar keine Qual haben.«

Ich nahm einen grünen Streifen, legte die Hände auf den Rücken.

»Links oder rechts?«

»Rechts.«

Er hatte die Faust mit dem Streifen getroffen.

»Dann gehört Dir die grüne Steuerbordwache, mir die rote Backbordwache.«

Ich ging hin, wo über das Geländer der Kommandobrücke die langen Beine herabhingen.

»Herr Kapitän,« frug ich höflich, »darf ich die Brücke betreten?«

»Ja.«

Ich stieg hinauf zum Allerheiligsten des Schiffes, das zu betreten der Kapitän sogar dem Schiffseigentümer verbieten kann. Wenn er es vorher ausmacht.

Kapitän Martin änderte zwar seine Lage nicht, empfing mich aber doch in besonderer Weise.

»Die Kommandobrücke steht Ihnen jederzeit frei, Herr Waffenmeister.«

»Danke, Herr Kapitän. Nun wollte ich Sie bitten, daß Sie noch einmal die ganze Mannschaft antreten lassen –«

»Das können Sie selbst tun. Sie selbst haben das Kommando über die ganze Besatzung, auch über die Wache. Bis wieweit, das wissen Sie als Schiffsoffizier selbst am besten. Und zur Besatzung gehöre auch ich.«

Ich dankte nochmals und stieg wieder herab. Wir beide verstanden uns, eine weitere Auseinandersetzung wegen unseres gegenseitigen Verhältnisses war nicht nötig.

Ich ließ durch den Bootsmann wieder alles antreten, mit, Ausnahme der Offiziere, die zuerst Vorgelesenen auf Steuerbord-, die anderen auf Backbordseite, verteilte an jene die grünen, an diese die roten Streifen, jeder bekam mehrere.

»Auf jedes Bekleidungsstück, das Ihr tragt, wird solch ein Streifen am linken Oberarm angenäht. Die ganze Besatzung ist fernerhin in die grüne und in die rote Partei geteilt. In Parteien! Nicht in Wachen! Näht es sofort an.«

Das war der einzige Befehl, den ich in dieser Beziehung gab.

Der Kapitän, ließ mich rufen, zu sich bitten.

»Sie wollen die Mannschaft in zwei Wachen teilen?«

»Nein, mit dem Schiffsdienst hat meine Einteilung gar nichts zu tun.«

»Dann ist’s gut.«

Nur gegen eine Änderung der ursprünglichen Einteilung in drei Wachen hätte er Einspruch erhoben, hätte mindestens deswegen befragt werden müssen.

Ich selbst nähte mir einen roten Streifen an, Hans mußte das mit seinem grünen tun. Eine Erklärung gab ich nicht. Die ganze Mannschaft mochte sich jetzt ja nicht schlecht den Kopf zerbrechen was ich mit dieser Einteilung beabsichtigte.

»So, nun wollen wir einmal sehen, wer von uns beiden am höchsten springen kann, ob Du Deinen Namen mit Recht trägst.«

In die Batterie, wir stellten die Sprunggestelle auf, begannen zu springen, erst ganz niedrig.

Es fanden sich Neugierige ein.

»Na los, Jungens, zeigt mal, wie Ihr springen könnt.«

Von einem Dutzend machten zwei mit, die anderen schauten verächtlich zu. Das verächtliche Gesicht gehört überhaupt zur charakteristischen Physiognomie des deutschen, des germanischen Seemannes. Um das zu begründen, dazu müßte man eine psychologische Abhandlung schreiben. Ebenso wird man auch nie einen germanischen Seemann finden, der über seine Lippen auch nur eine Andeutung von Schmeichelei bringt, und wenn man ihn Feuersgluten aussetzte.

Ich ging einmal in meine Kabine. In der inzwischen dort untergebrachten Kleiderkiste hatte ich einen Spazierstock, aus dem Rückgrat eines Haifisches, die jahrelange Arbeit eines Matrosen, jeder Wirbelknochen mit der Hand gedreht und poliert, dann auf einem Stahlstock aufgereiht und zusammengeschraubt, oben mit einer Krücke aus dem kleinen Horne eines Rhinozeros’ versehen. Das Ding war unter Brüdern hundert Taler wert. Mein Freund Hein Paulsen war in Bombay am gelben Fieber gestorben und hatte ihn mir vermacht.

Zurück in den Turnsaal. Jetzt sprangen sechs Mann. Daß sie schon die Stiefeln ausgezogen hatten, war mir ein sehr gutes Zeichen. Tatsächlich von größter Wichtigkeit. Auch der Zuschauer waren mehr geworden, die jetzt aber blutige Witze über solche Hopserei rissen. Bei meinem Wiedererscheinen freilich verstummten sie. Man wußte eben nicht, was man aus mir machen sollte.

»Hier, was meint Ihr zu diesem Stock?«

Er ging von Hand zu Hand, die verächtlichen Gesichter verwandelten sich in bewundernde und ehrfürchtige. Denn diese Arbeit versteht jeder Matrose zu beurteilen. Jeder gefangene Hai von ansehnlicher Größe wird auf Rückgrat verarbeitet, zum Spazierstock, nur mit der Hand. Drehbankarbeit, was die sofort erkennen, gilt nicht für voll, es läßt sich auch gar nicht mit der Drehbank machen. Die ganze Mannschaft arbeitet während der Reise daran, dann wird der Stock verkauft, das Geld gemeinschaftlich – – versoffen.

»Hochfeine Arbeit, totsaubere Arbeit!«

»Welche Farbe am höchsten springt, der gehört dieser Stock.«

»Welche Farbe?«

Ich gab die Erklärung. Es war ja ganz einfach. Die gesprungenen Zentimeter wurden eben zusammengerechnet, bei jeder Farbe. Jeder konnte so oft springen, wie er wollte. Der beste Sprung galt.

Sofort begriffen. Alle sofort die Stiefeln aus und losgehopst. Ja, bei einigen sah es gottvoll aus. Man meint, jeder Mensch müsse doch über einen Strick springen können. Durchaus nicht. Gerade einige dieser Matrosen, die nicht beim Kommis gewesen, benahmen sich ungeschickter als die kleinen Mädchen, sprangen mit dem rechten Fuße ab, wollten aber auch mit dem rechten Fuße zuerst drüber kommen, tanzten in der Luft so eine Art Polka. Schallendes Gelächter erfüllte immer wieder die Batterie.

Ich hatte eine Tabelle angelegt.

»Ist alles durch? Machen wir erst einmal Schluß. Grün hat zusammen 368 Punkte, Rot 474. Rot hat gewonnen, dieser Farbe gehört der Spazierstock.«

»Ja, wir sind aber nur sieben, die Roten sind neun!« sagten die Grünen.

»Das ist dabei egal. So holt doch noch mehr von Eurer Farbe. Die Farben sind ganz gleich, es gibt 26 Grüne und 26 Rote.«

Alles wurde sofort herangeholt. Alle mußten in die Batterie. Wer nicht gleich wollte, wurde geschleift. Aber der Widerspenstige brauchte nur erklärt zu bekommen, worum es sich handelte, brauchte nur eine Minute zuszusehen, und er machte freiwillig mit, sprang oder hopste. Sogar August der Starke kam. Der zweite Bootsmann. Erstens wirklich stark wie weiland der Kurfürst von Sachsen und König von Polen, und zweitens auch in anderer Hinsicht stark, rund wie ein Kloß. Auch, dieser Kloß kugelte sich über das Sprungseil, die ganze Batterie brüllte.

»Was ist denn hier nur los?« fragte die Patronin.

Sie war mit dem kleinen Mädchen an der Hand gekommen. Ilse Hartung, die Tochter ihres Bruders.

Erst mußte sich die Patrona einmal auslachen.

»Ich bin baff!« sagte sie dann mit ihrer gewöhnlichen Offenheit, etwas burschikos. »Wie haben Sie denn das nur fertig gebracht?!«

Ich zeigte ihr den Spazierstock, erklärte.

Da mußte sie mir erst einen kleinen Hieb versetzen.

»Ja dann freilich – Sie sagten aber doch, es sollten keine Prämien ausgesetzt werden.«

Wenn sie so sprach, dann verstand sie mich nicht. Nicht der Ehrgeiz des einzelnen, sondern der Parteigeist mußte geweckt werden. Und sie verstand denn auch diesen totalen Unterschied gleich.

Es ging weiter. Wir hatten vier Sprungständer zur Verfügung, die verschiedenen Klassen fanden sich zusammen, so daß die besten Springer nicht zu warten brauchten, bis sie ganz zuletzt ihre ganze Kraft entwickeln mußten.

Ich hatte mit 128 Zentimeter den höchsten Sprung gemacht. Bis Peter kam. Der übersprang mich mit vier Punkten. Nicht Peter der Igel, auf den ich mich gesetzt hatte, sondern Peter der Heizer. Der kleine Kerl, auch sonst ein ausgezeichneter Turner, hopste wie ein Floh. Hans Leichtfuß war weit zurückgeblieben, aber der würde sich schon noch entwickeln.

Hierbei bemerke ich, daß den höchsten Sprung bisher der Kalifornier George Horine gemacht hat, 198 Zentimeter. Den deutschen Rekord hält ein Landsmann von mir, der Kieler Pasemann, mit 192. Man messe sich diese Höhe einmal aus. Und bei solchen internationalen Wettspielen wird ohne Sprungbrett gesprungen. Freilich liegt bei solch einem Springer dasselbe vor, wie bei so einem chinesischen Zahnkünstler, er macht nichts weiter als Springen, und zwar nur Hochsprung, danach hat er sein ganzes Leben eingerichtet. Trotzdem wird er nicht als professioneller Athlet, sondern als Amateur betrachtet, weil er sich nicht dafür bezahlen läßt, nur Ehrenpreise nimmt. Und trotzdem wird so einer, wenn er nicht selbst vermögend ist, von fremden Geldern unterhalten. Die englischen Fußball-, Tennis- und Kricketmannschaften, die immer in der ganzen Welt herumziehen, erhalten alle Leibrenten, von Sportsfreunden oder Vereinen ausgesetzt. Ein angenehmes Leben ist dies übrigens nicht, die leben alle wie die Asketen.

Wieder einmal Schluß gemacht. Diesmal hatte die grüne Farbe mit 16 Punkten über die rote gesiegt. Der Spazierstock ging also in den Besitz der Grünen über.

»Kann das nicht weitergehen, Herr Waffenmeister?«

Zuerst hatten sie das ihnen noch unbekannte Wort gar nicht von der Zunge gebracht, hatten sich geniert.

»Gewiß immer weiter, bis Euch die Knochen lahm sind.«

»Oho, Ihr Grünen, Euch wollen wir den Stock schon wieder abnehmen!« riefen die Roten.

Und weiter ging es mit heller Begeisterung.

»Herr Waffenmeister, Sie sind ein Hexenmeister!« sagte die Patronin zu mir mit ganz strahlenden Augen.

»Ich möchte mir einmal die Räume ansehen, die der Mannschaft zur Verfügung gestellt worden sind, die Bibliothek und so weiter. Darf ich Sie um Ihre Begleitung bitten?«

Sie kam mit. Es handelte sich um die Bibliothek, die unter der Back, also unter dem Mannschaftslogis, im Zwischendeck lag, von der Batterie durch eine Scheidewand getrennt. Die Patronin hatte hier für ihr Volk ein richtiges Klubzimmer schaffen wollen. Es fehlte wohl nur das Billard, sonst war alles zur Unterhaltung vorhanden, auch ein schönes Piano. Und nun rings an den Wänden herum die Regale voll Bücher.

Aber man sah es gleich, es lag gewissermaßen in der Atmosphäre, wie wenig dies alles benützt wurde. Diese Matrosen und Heizer waren so etwas eben nicht gewöhnt, die fühlten sich nur neben ihrer Koje auf der Kleiderkiste wohl.

»Ja hier könnten sie stehen. Haben Madame nicht zwei Schränke übrig? Womöglich ganz gleiche, womöglich mit Glastüren; sonst müssen wir sie selber machen.«

»Zwei Glasschränke? Ungefähr so groß? O ja, die habe ich zufällig in meinem Salon, kann sie entbehren. Wozu?«

»Na, da kommen eben die Prämien hinein, die Ehrenpreise. Jede Farbe hat ihren eigenen Schrank. Als erstes kommt mein Spazierstock hinein, als Ehrenpreis für den besten Hochsprung gemeinsam von einer Farbe ausgeführt.«

»Ach, Sie wollen noch mehr solche Preise aussetzen?!«

»Selbstverständlich. Für jeden einzelnen Turnapparat und jeden Sport einen besonderen, um den die beiden Farben ständig kämpfen müssen. Weitsprung, Reck, Barren, Hantelstemmen, Fußball, Schlagball, Tauziehen, Bootsrudern, Schwimmen, Fechten und so weiter, und so weiter. Sie werden doch so ein paar Sachen haben, sie brauchen ja gar nicht kostbar zu sein, es muß nur ein sichtbarer Gegenstand sein, um den täglich gerungen wird, der immer aus einem Schrank in den andern wandern muß –«

»Ach, da habe ich eine ganze Menge Silbersachen –«

Sie wollte gleich fortrennen, ich packte sie einfach beim Arm und hielt sie fest.

»Und dann hier in der Mitte zwischen den beiden kleineren Schränken ein größerer, recht fein geschnitzt.«

»Wozu der?«

»Da kommen die fremden Ehrenpreise hinein, die wir gemeinsam erringen, Grün und Rot zusammen, also eben wir Argonauten.«

»Fremde Ehrenpreise?«

»Nun ja, die wir uns in den Häfen holen. Wenn dort nicht gerade olympische Wettspiele stattfinden, so schreiben Sie selbst ein solches aus. »Hier, welcher Sportverein will sich mit uns Argonauten im Kampfe messen?« Und wo Engländer sind, da werden auch sofort von anderer Seite solche Ehrenpreise gestiftet oder es gibt kein Oldengland mehr. Oder wir segeln eben hin, wo solche Wettkämpfe stattfinden, wir können dazu doch auch einmal eine Fahrt ins Land hinein machen, Sie scheinen sich so etwas doch leisten zu können. Und wenn wir erscheinen, muß der Ruf erklingen: »Achtung, die Argonauten kommen, jetzt wird’s für uns ein heißes Ringen geben!« Und ich versichere Ihnen, kann Ihnen die Versicherung auf mein Ehrenwort geben, daß sich unser Schrank bald mit solchen Ehrenpreisen füllen wird!«

Die junge Frau schaute mich mit Augen an, die immer begeisterter wurden.

Dann dachte ich, sie wollte mir um den Hals fallen.

Sie tat’s nicht – noch nicht, das sollte erst später kommen. –

Ich fasse die nächsten Tage, während welcher wir still auf der spiegelglatt gewordenen See lagen, in Summa zusammen.

Mein Programm wurde ausgeführt. Alle Arten der Turnerei und des Sportes kamen daran. Für die verschiedenen Ballspiele konnte das ganze Deck von den Rahennocken aus mit einem Netz umspannt werden. Die Masten und Winden und andere Sachen waren ja im Wege, aber daran gewöhnte man sich, und dann würde es um so besser gehen, wenn wir solche Hindernisse einmal nicht hatten.

Und die Begeisterung nahm immer zu. Der Grund hierfür ist ja nicht so leicht zu definieren. Eben Parteigeist. Grün gegen Rot. Jede Partei übte den ganzen Tag für sich allein, nur zu einer bestimmten Stunde, gewöhnlich vor dem Mittagsessen, kamen beide Farben zu irgend einem Wettkampfe zusammen, und dann wanderte sehr oft ein silbernes Schaustück aus einem Schrank in den anderen. Dann hastig das Essen hinuntergeschlungen – und es brauchte nur noch Erbsen mit Würfelspeck zu geben, das konnte man am schnellsten auslöffeln – und die Grünen, die das letzte Mal recht schlecht beim Bootsrudern abgeschnitten hatten, gingen wieder in die Boote, und die Kerls pulten, daß ihnen die Zunge aus dem Halse hing – während die Roten mit vollgepfropftem Magen die Bauchwelle und den Riesenschwung machten.

Und diese Begeisterung würde anhalten. Das wußte ich bestimmt! Grün gegen Rot! Darin lag der Zauber.

Wenn ich mich verspekuliert hatte, so war es nur in einem: ich hatte mir erst einige notiert, die wegen ihres Benehmens, weil sie eben doch nicht so recht mitmachen wollten, nur immer verächtliche Bemerkungen hatten, im nächsten Hafen ausrangiert werden sollten. Ich hatte sie nämlich wieder von dieser Liste gestrichen. Es mußte nur das, was in ihnen schlummerte, geweckt werden. Dann waren sie mit Feuer und Flamme dabei.

Der Hartnäckigste war ein englischer Matrose gewesen.

»Shut up, shut up!« sagte Sam immer nur verächtlich wenn er von seiner Partei geholt werden sollte.

Ich hatte einige Entersäbel zu Rapieren umschmieden lassen, das sonstige Paukzeug wurde gefertigt, die Schutzmasken und die gepolsterten Hüllen, die Fechtlektionen begannen. Sobald jeder einigermaßen eingeweiht war, schied sich wieder Grün von Rot, jede Farbe übte für sich und focht gegen die andere. Wer in so etwas schon Meister war, machte dabei den unparteiischen Lehrer, in diesem Falle ich. Jetzt führte ich meinen Titel eher mit Recht.

»Na, Sam, los, die Plembe in die Hand genomment.«

»Shut up, shut up! Ja, wenn es Keulen wären.«

»Könnt Ihr denn Keulen schwingen?«

»Und wie! Da sollt Ihr mich mal sehen. Wenn wir nur welche hätten.«

O, wenn’s weiter nichts war! Aus zwei alten Ruderstangen machte Hammid, der arabische Zimmermann das erste Keulenpaar. Ja, es sah recht hübsch aus, was uns Sam da vormachte. Man muß es nur einmal gesehen haben, was man mit diesen einfachen Holzdingern für eine verzwickte Quirlerei machen kann. Es sieht aber leichter aus, als es ist. Ich kannte es auch noch nicht, und mir juckten die Handgelenke nicht schlecht.

Gut, das wollten wir ebenfalls einführen. Ein Auslegebaum wurde geopfert, Hammid fertigte daraus 20 weitere Keulen, immer mehr kamen hinzu.

Und jetzt brachte Sam die Keulen gar nicht mehr aus den Fäusten, ersann immer neue Übungen und Tricks, um diese wieder seinen Schülern beizubringen.

Und als ich dann die 50 Mann zur ersten gemeinsamen Übung angetreten sah, wie die 100 Keulen in gleichmäßigem Schwunge durch die Luft sausten und wirbelnde Räder beschrieben, da konnte ich mir vorstellen, wie das später aussehen mußte, wenn die es hierin zur Virtuosität gebracht hatten.

Die Exklusiven hatten sich schon längst einreihen lassen. Sogar Meister Tabak trug an seiner Badehose einen roten Streifen und weihte die Leute in die Geheimnisse des Gerwerfens ein, ja, er legte sogar einmal seine Pfeife weg, um seiner Partei dazu zu verhelfen, die meisten Klimmzüge zu machen.

»Das hätte ich nicht für möglich gehalten, nun aber halte ich nichts mehr für unmöglich!« sagte da die Patronin, welche immer die Schiedsrichterin machte, alle Leistungen nach Punkten wertete, wie ich es ihr schnell beigebracht hatte.

Auch alle Offiziere machten mit. Mit Ausnahme des ersten Ingenieurs, der seine Kajbine nicht mehr verließ. Er laborierte ja auch noch an seinem Arm.

Ja, es kam mir sogar manchmal vor, als ob auch der Kapitän gern mitgemacht hätte. Er zuckte, wenn er zusah, öfters so eigentümlich mit den Ellenbogen, gerade als ob er seine Hände aus den Hosentaschen nehmen wollte. Und das wäre doch schade gewesen. Es war überhaupt ganz gut, wenn der Kapitän nicht mitmachte. Und sehr lieb wäre es mir gewesen, wenn auch Doktor Cohn sich ausgeschlossen hätte. Wenigstens vom Keulenschwingen. Denn der Kerl gab mir einmal mit seiner Keule eins auf den Schädel, daß ich sehr leicht mit zertrümmertem Hirnkasten ins Jenseits hätte fahren können. Und dann forderte er auch noch, nachdem er mir einen kalten Umschlag gemacht hatte, von mir für seine Bemühungen eine Mark fünfundzwanzig.

Auch geschwommen wurde. Daran wollten die meisten ja nicht recht gehen. Die echten zweibeinigen Seeratten sind bekanntlich fast alle wasserscheu, können nicht schwimmen. Weil sie, wenn sie schwimmen können, die Todesnot nur unnötig zu verlängern: So heißt es. Ich will darüber nicht weiter sprechen. Das hat sich seit der allgemeinen Dienstpflicht auch sehr geändert. Es waren unter der Mannschaft auch genug Binnenländer, es brauchte überhaupt nur der Anfang gemacht zu werden, dann machten alle mit, und wer noch nicht schwimmen konnte, ließ sich an die Angel nehmen.

Ein Boot wurde 100 Meter weit ausgerudert, das galt als Ziel, und wieder ging es los, Grün gegen Rot. Dann wurde die Bordwand niedergelegt und ein elastisches Brett ausgeschoben. Es wurde gesprungen. Besonders Oskar, der Segelmacher aus Köln, war ein vorzüglicher Springer und Schwimmer. Aber auch alle anderen, die schwimmen konnten, machten mit, es ging eben um die Parteiehre, jeder plumpste, so gut er plumpsen konnte.

Nur dieses wollte ich noch erwähnen. Nämlich wie dann auch August der Starke an die Reihe kam. Wie sich dieser kolossale Fleischkloß in seiner prallen Badehose auf das Brett stellte und einen Anlauf nahm. Sein Vorgänger hatte einen eleganten Kopfsprung mit Aufsatz gemacht. Und den wollte August nun nachmachen, ohne eine Ahnung davon zu haben. Aber der Kloß platzte mit dem Bauche aufs Wasser, mindestens fünf Meter herab, daß ich wirklich dachte, der ganze Kerl könnte auseinandergeplatzt sein.

Aber frisch und munter kletterte er wieder das Fallreep herauf, unverzagt noch einmal aufs Brett, wieder aufgesetzt – – da knackt er das ganze Sprungbrett ab und plautzt in noch ganz anderer Weise ins Wasser, auf die dem Bauche abgekehrte Seite, die Beine etwas nach oben –.

Ach, dieses Gelächter!

»Guck mal, Tante,« sagte die kleine Ilse, »dem Onkel Kapitän sind Hände gewachsen.«

Ja, der Kapitän hatte die Hände aus den Hosentaschen genommen, um sich vor Lachen am Geländer festzuhalten.

Und die Patronin wollte sich vor Lachen auf einen Boller setzen und setzte sich daneben.

Und Mister Tabak ließ vor Lachen seine Pfeife aus den Zähnen über Bord fallen.

Nein, so brüllend und so anhaltend war noch auf keinem Schiffe gelacht worden, wie damals auf der »Argos«.

Und solche Szenen ereigneten sich täglich, stündlich.

Ach, war das ein Leben auf diesem Schiffe!

Wir lebten einander zu Liebe.


5.
KAPITEL. IM LANDE DER VERZWEIFLUNG.

»Reeeeehhh!!« leitete Kapitän Martin die Kommandos zum Segelmanöver ein, und Juno, das Schwein, führte die Matrosen im Galopp an.

Sie enterten im Laufschritt auf, in noch nicht einer Viertelstunde war der letzte Lappen gesetzt, wie ein weißer Schwan flog unsere Fregatte vor dem steifen Nordostwinde dahin.

»Dunnerslag,« meinte der Kapitän zu mir, »das klappte! Das kannte fixer keine Kriegskorvette machen, die für jeden Mast hundert Mann hat.«

Ja die Folgen machten sich schon bemerkbar! Die Knochen waren nicht umsonst geschmiert worden. Es steckte überhaupt schon etwas ganz Besonderes dahinter.

Die Küste tauchte auf, wir steuerten mit 16 Knoten Fahrt in der Magalhaesstraße, sausten hinein.

Welches von Osten kommende Segelschiff macht das nach?

Nun, wir hatten eben Glück! Dort unten weht nämlich sonst fast ständig der Wind, der Sturm von Westen hier. Aber warum soll er sich denn nicht einmal drehen. Die Sonnenglut nach langer Windstille hatte einmal andere atmosphärische Strömungen erzeugt. Der Westwind würde schon wieder kommen.

Aber immerhin, es war Tatsache, daß wir jetzt mit geschwellten Segeln von Osten her in die Magalhaesstraße einsteuerten. Wir rutschten an einem mächtig qualmenden Kohlendampfer vorüber, als wär’s eine Schnecke. Wir grüßten, auch der Dampfer holte die Heckflagge um Salut nieder – und vergaß sie wieder emporzuziehen, ließ sie versehentlich auf Halbstock wehen, das Zeichen der Trauer.

Ach, wo sind die herrlichen Zeiten geblieben, da solch ein weißer Schwan direkt in den Hafen rauschte, ein Kommandso, wie durch Zauberei rollten sich an die 35 ungeheuere Segel gleichzeitig zusammen, und fest lag das Schiff an der Hafenmauer!

Und wenn man die nötige Mannschaft dazu hätte, sie wäre auf solch ein Massenmanöver einexerziert – man darf es gar nicht mehr. Die Hafenpolizei verbietet es, noch mehr die Gesellschaft, die das Schiff versichert hat. Das Segelschiff muß zur Einfahrt einen Schleppdampfer nehmen, es ist Zwang, und ist der Wind auch noch so günstig.

Neben mir stand die Patronin.

Was hatte das junge Weib mit den sonst so blassen Zügen plötzlich für ein rotes Gesicht? Und diese Augen, wie die strahlten!

Nun, ich wußte schon –.

Auch mir wurde das Herz so weit, so weit.

Ach, solch ein vollgesetztes Segelschiff vor dem Winde! Wo bleibst Du armselige Qualmkiste!

»Kapitän Martin meint, mit 80 Matrosen könnten mir alle Rahen gleichzeitig bedienen!« sagte die Patronin jetzt zu mir.

»Ich will dem nicht widersprechen, glaube aber, daß der Kapitän jetzt selbst der Überzeugung ist, auch 70 würden schon genügen.«

»Dann fehlten uns noch 35.«

»Ja, genau die Hälfte.«

»Sie werden mir diese Matrosen noch beschaffen, Herr Waffenmeister.«

Aaah, welche Aussicht! Da hatte ich ja Gelegenheit, mich in meinem eigentlichen Berufe, auf den mich der liebe Gott durch dieses junge Weib endlich gebracht hatte, noch weiter zu betätigen.

Was die vorhatte, das wußte ich ja nun schon längst. Herrlich!

»Ich will nur erst einmal –«

Beinahe hätte ich etwas über unser Ziel oder ihre sonstige Absicht zu hören bekommen. Der Kapitän machte einen Strich durch die Rechnung.

»Was macht der Bengel da oben?!« schrie der Kapitän ärgerlich mit gen Himmel gewendetem Antlitz.

Es war Fritz, der Mondgucker, der ihn ärgerte.

Fockmast, Großmast, Kreuzmast. Von vorn nach hinten.

Die sieben Rahen mehr gibt es nicht – des Großmastes sind: Großrahe Untermars-, Obermars-, Unterbram-, Oberbram-, Royal- und Skyrahe.

Nach diesen Rahen werden die Segel benannt, einige haben aber auch einen besonderen Namen.

Das oberste Segel am Großmast, also an der Skyrahe, heißt der Mondgucker, offiziell.

Sind Schiffsjungen vorhanden, so wird der Mondgucker von einem solchen bedient, der dann gleichfalls Mondgucker heißt. Es ist ein Ehrentitel. Schiffsjungen gab es hier nicht, aber ich hatte doch einen solchen mitgebracht, den Fritz, ein kleiner, dicker Knirps, aber ein tüchtiges Kerlchen. Der hatte natürlich den Mondgucker bekommen, und nun war er eben Fritz, der Mondgucker.

Und jetzt machte der Bengel dort oben an der Skystange die Fahne! Ganz oben am letzten Endchen, am Flaggentopp. Er reckt den Leib seitlich in die Luft hinaus und zappelte mit den Beinen!

Der Bootsmann pfiff und drohte mit der Faust.

Der Junge sah es recht wohl – oder er war eben fertig mit seiner Fahne – rutschte an der Stange herab, lief ein Stück freihändig über die Skyrahe, sprang wie ein Affe an das nächste Gitau und schoß wie ein Blitz an diesem herab, bis auf Deck, kam gerade vor uns zu stehen.

Im Augenblick bemerkte ich nur eines.

Daß das sonst so blasse Gesicht der Patronin gerötet war, hatte ich schon gesagt.

Und jetzt bekam die doch mit einem Male einen Kopf so rot wie eine Klatschrose! Und so starrte sie den Jungen, der etwas verlegen vor uns stand, mit ganz entgeisterten Augen an.

Zunächst kam der Bootsmann, der zweite, August der Starke.

»Himmelhund!« schnauzte er den Jungen an und hielt ihm die Faust, so groß wie eine ansehnliche Kegelkugel, unter die Nase.

Der Junge wurde noch verlegener, zugleich aber auch etwas trotzig.

»Na wat denn? Ick bin doch’n Paapenbooorjer.«

Im Augenblick war ich wohl der einzige, der gleich wußte, was der Junge hiermit meinte.

Papenburg ist eine kleine Hafenstadt im Bezirk Osnabrück, die von dort stammenden Matrosen sind geradezu berühmt wegen ihrer Verwegenheit und wegen ihres »Supens«. Was ein richtiger Paapenbooorger ist, der muß einen Eimer Grog ohne Absetzen austrinken und dann noch einen Aal auf der Nase balancieren können. Außerdem haben sich unter ihnen noch am besten uralte Seemannsgebräuche erhalten.

»Ach richtig, Du bist ja aus Papenburg!« rief ich also. »Und wer von Euch zum ersten Male um Kap Horn segelt, der muß am Großtopp die Fahne machen, nicht wahr?«

»Ja freilich, muß ick doch, sonst muß ick doch enn ganze Pütze Saltwater utsupen.«

»Wir sind hier aber gar nicht bei Kap Horn.«

Der Junge blickte sich verwundert um nach Norden, wo ein Küstenstreifen zu sehen war.

»Neeee??«

»Wir sind in der Magalhaesstraße!«

»Tjoooo?? Ich dacht, dat wär Kap Horn.«

Ich kam nicht zum Lachen.

Plötzlich zieht die Patronin vom Finger einen Ring, von dem ein wahres Feuermeer in allen Regenbogenfarben ausgeht, ein erbsengroßer Brillant, von vielen kleinen umgeben, und gibt ihn dem Jungen.

»Da nimm – zum Andenken, daß Du zum ersten Male in die Magalhaesstraße kommst!«

Ich war ein Esel, daß ich ob dieses Geschenkes, ob dieser ganzen Handlungsweise so bestürzt wurde.

Ich hätte dieses junge Weib nun schon besser kennen müssen.

Was waren der denn diese blitzenden Steinchen! Vielmehr wundern hätte ich mich müssen, daß sie nicht sofort Befehl gab, die Segel zu raffen, Dampf aufzumachen und zurückzufahren, zum Kap Horn herum, nur dieses Jungen wegen, damit der dort seine Fahne machen konnte.

Daß der Junge verlegen wurde, war begreiflich. Schüchtern drehte er den funkelnden Ring zwischen seinen kulbigen Fingern.

Hast Du, Leser, schon einmal die Hand von so einem Schiffsjungen gesehen, auch wenn er nur seine erste Reise gemacht hat? Du würdest wahrscheinlich erschrecken. Denke daran, wenn Du eine Tasse Kaffee trinkst, ohne diese Schiffsjungenhand hättest Du keinen Kaffee.

Und dann geschah etwas, was die Situation wieder total veränderte.

Der Junge dachte wohl, daß er doch irgend etwas sagen müsse, und so blickte er die Patronin von unten mit verdrehten Augen mißtrauisch an, und noch mißtrauischer erklang es:

»Ist dat ook echtes Gold?«

Ach, wie soll man so etwas denn beschreiben! Ich platzte los, glaube, ich habe der Patronin ins Gesicht gesprudelt. Und die gab einen unbeschreiblichen Ton von sich, drehte sich schnell um und mußte das Taschentuch gebrauchen.

Der Junge trollte sich.

»Laß ihn Dir von keinem Affen und von keinem Elefanten mausen!« rief ich ihm lachend nach.

»Nee, nee, ick schenk emm mien Brut.«

Hatte der fünfzehnjährige Knirps auch schon eine Braut! Natürlich, als Paapenbooorger!

Ich, immer noch aus vollem Halse lachend, wollte mich wieder der Patronin beigesellen, die an der Bordwand stand, das Taschentuch vorm Gesicht, der ganze Körper von Lachen erschüttert.

Da aber merke ich, daß sie gar nicht lacht.

Sie weint! Ein konvulsivisches Schluchzen!

Jetzt wäre eine maßlose Bestürzung meinerseits angebracht gewesen. Ich war es aber nicht.

Ich ahnte etwas, wußte etwas.

Nein, der galten die blitzenden Steinchen nichts.

Die suchte etwas viel Echteres als echtes Gold – etwas, was man für alles Gold der Welt nicht erkaufen konnte. Ganz vorn der Knirps, der Mondgucker, der mit seinem Säbel am Großtopp die Sitten seiner Ururururahnen geehrt hatte – der hatte so etwas Unverkäufliches in seiner Brust!

Ooooh, ich konnte mir recht wohl den Zusammenhang zwischen dieser wagehalsigen Turnerei und dem Blut — Kopfe der Patronin, zwischen dem Ringe und ihrem Weinen erklären!

Aber mit Worten ausdrücken läßt sich so etwas nicht.

Also genug davon! –

Das heißt aber – wenn die ihre Ringe so weiter verschenkte, dann hatte sie bald keinen mehr auf den Fingern oder sie mußte sich andere anstecken.

Nun, hatte sie nicht gesagt, sie gebiete über unermeßliche, unerschöpfliche Schätze?

Ein etwas merkwürdiger Ausdruck.

Hm!

Ich schlenderte zum Kapitän, stellte einmal eine Frage, die mir als ganz exklusivem Waffenmeister wohl erlaubt war.

»Herr Kapitän, wissen Sie, wie hoch dieses Schiff versichert ist?«

»Es ist unversichert.«

Ahaaa!!

O, es ist etwas Herrliches um ein unversichertes Schiff. Wenn ich es mir leisten könnte, ich würde mein Schiff auch nicht versichern. Die Versicherung frißt doch mehr als dreiviertel des ganzen Verdienstes, den ein Schiff einbringen kann. Ein Schiff ist kein Haus. Mit einem Hause kann man nicht so leicht »anecken«. Eckt man aber mit einem Schiffe an, dann kann es sehr leicht futsch sein. Und mit einem unversicherten Schiffe kann man auch, wenn’s einem Spaß macht, in jeden Hafen segeln. Das kostet dann nur eine Polizeistrafe.

»Ja, es ist etwas Herrliches um ein unversichertes Schiff!«

In anderer Hinsicht aber kann es auch etwas sehr, sehr Böses sein!


Der erste, östliche Teil der Magalhaesstraße ist 320 Kilometer lang. Man verlange keine Beschreibung. Ich will nur sagen, daß man durch enge Straßen, Narrows, aus einem Becken ins andere kommt, und jedes solche Becken ist einfach ein Meer, und die engen Straßen sind so breit, daß man, wenn man in der Mitte fährt, keine Ufer sieht. Aber äußerst gefährlich wegen der vielen Inselchen und Riffe.

Früh um acht hatten wir die Grenze passiert, von welcher an man die Magalhaesstraße rechnet, nachmittags gegen vier näherten wir uns dem Punkte, wo sie einen scharfen Bogen nach Südwesten macht.

Während der letzten Stunde hatte der Kapitän ein Segel nach dem anderen festmachen lassen, dafür mußten die Heizer hinab, der Schornstein begann zu qualmen, ohne daß schon die Maschine arbeitete. Immer mehr verlangsamte sich die Fahrt.

Auf der Kommandobrücke stand Doktor Cohn und machte ununterbrochen nach der Sonne geographische Ortsbestimmungen.

Doktor Isidor Cohn. Er hatte den doppelten Doktorhut, sogar den dreifachen. War Doktor der Medizin und Doktor der Philosophie, hatte speziell Mathematik und Astronomie studiert, außerdem Philosophie, wegen einer vergleichenden Abhandlung des Sanskrits mit anderen Sprachen war er von der Universität Oxford zum Ehrendoktor ernannt worden.

Der ungefähr dreißigjährige Mann beherrschte vollkommen in Schrift und Wort 23 verschiedene Sprachen, waren die Dialekte nicht mitgezählt.

Man wolle hierüber nicht staunen. Wer so etwas unglaublich findet, der weiß nicht, was es für Sprachgenies gibt, weißt nicht, daß jeder Kaufmann in den Levante alle Mittelmeersprachen spricht, und das sind acht.

Über die Fähigkeit sich eine fremde Sprache anzueignen, ist überhaupt nicht zu disputieren. Wir wissen auch nicht, wie es in dem Gehirne solch eines Wunderkindes aussieht, das mehrstellige Zahlen sofort im Kopfe multipliziert. Oder im Kopfe solch eines Mannes, der blindlings Schach spielt, mit einem Dutzend Gegnern zugleich, er sieht die Bretter gar nicht, und dennoch lenkt er seine Figuren zum Siege.

Man schlage im Konversationslexikon einmal das Wort »Mezzofanti« auf. Da wird man lesen, daß der Mann dieses Namens, ein Kardinal, 58 Sprachen schrieb und sprach, mit den Dialekten mehr als hundert. Oder Elihu Burritt, auch sehr interessant. Ums Jahr 1825 wurde in dem amerikanischen Städtchen New-Britain, Staat Connecticut, in einer Hufschmiede ein Lehrjunge entdeckt, der perfekt Lateinisch, Griechisch, Hebräisch, Aracisch und Suahelisch konnte. In dem Hause hatte ein akademischer Theologie gewohnt, der dann als Missionar unter die Suahelis nach Afrika gegangen war, sich hierauf vorbereitet hatte, seine Grammatiken und Wörterbücher zurückgelassen hatte. Die waren dem Jungen in die Hände gefallen, er hatte sich diese Sprachen angeeignet, während er den Blasebalg zog. Der später als Prediger für den Weltfrieden berühmt gewordene Grobschmied starb 1879 zu Neuyork, seiner Liebhaberei ist er bis zu seinem Tode treu geblieben.

Auf dem Londoner Hauptpostamt steht noch heute ein junger Neger als Auskunftsdolmetscher, der achtzehn Sprachen spricht. Sie sind auf einer Blechtafel, die auf seiner Brust hängt, angegeben. Der wird oft genug geprüft. Er spricht sie perfekt, Deutsch ebensogut wie Bulgarisch. Und der Dolmetscher auf dem Neuyorker Hauptpostamt, ein Armenier, spricht gar 27 Sprachen.

Sollte da dieser jüdische Gelehrte, dem alle Mittel zur Verfügung standen, von dessen alles durchdringendem Scharfsinn und fabelhaftem Gedächtnis ich noch Proben genug bekommen sollte – sollte der, wenn er nun einmal ein ganz besonderes Sprachentalent besaß, sich nicht 23 Sprachen angeeignet haben können?

»Haben Sie schon als Kind angefangen, die Sprachen zu erlernen?« fragte ich ihn einmal.

»Ich konnte schon als dreijähriges Kind geläufig fünf Sprachen.«

»Ist nicht möglich!«

»Jawohl! Deitsch, Jiddisch, Deitsch-jiddisch, Jiddisch-deitsch – und durch de Nos.«

»Nein,« fuhr er dann fort nach diesem Witze, wie er sie so liebte, »ich war bis zu meinem vierzehnten Jahre ein kreuzdummes Luder. Mir war es immer, als hätte ich ein Brett vorm Kopfe. Eines Morgens, wie ich erwachte, war das Brett weg. Dann habe ich in einem Vierteljahre alles das nachgeholt, was ich in acht Schuljahren versäumt hatte. Und das ging dann so weiter. Wie ich eine fremde Sprache lerne? Ich lerne sie überhaupt gar nicht. Ich nehme ein Buch, in der betreffenden Sprache geschrieben, lese es einmal, lese es zweimal, dreimal – – dann kann ich diese Sprache.«

»Das verstehe ich nicht recht. Sie schlagen zuerst fortwährend im Wörterbuch nach?«

»Nein. Habe ich nicht nötig. Es ist immer dasselbe Buch, welches ich lese. Das kann ich auswendig. Es ist das Neue Testament. Weshalb ich gerade dieses gewählt habe? Weil das Neue Testament von der Londoner Bibelgesellschaft in mehr als 300 Sprachen übersetzt ist. Da hat man die Auswahl. Hat die eigene Sprache eine eigene Schrift, dann muß ich diese freilich zuerst lernen. Aber sonst geht es gleich los. Nur daß ich mit dem Evangelium Johannis anfange. Im Anfange war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Und da ist mir keine Zeile fremd, jedes einzelne Wort kenne ich, und diese Übersetzungen sind möglichst wortgetreu. So erlerne ich die Sprachen vollständig. Die zur Konversation nötigen Redensarten eigne ich mir bei der ersten Gelegenheit im Handumdrehen an. Und will ich die betreffende Sprache von grundauf beherrschen, kennen lernen, dann treibe ich die Grammatik erst hinterher. Das ist das ganze Geheimnis.«

Jawohl, wenn man es nur nachmachen könnte!

»Ach, das können Sie auch. Aber sehen Sie hier, machen Sie mir das mal nach, das ist wahre Kunst!« Und er wackelte mit seinen großen, weitabstehenden Ohren, konnte sie sogar unabhängig voneinander bewegen, jedes für sich, was nun zum Schießen aussah!

Ja, das war unser Doktor Isidor, wie er nur genannt wurde.

Auch noch in anderer Hinsicht war er ein Genie: ein Sumpfgenie. Ein Glück war es für ihn, daß er immer ein armer Teufel gewesen, immer von der Hand in den Mund gelebt hatte. Ja sogar ein großes Glück, daß er, wenn er einmal Geld in die Finger bekommen, dieses sofort in sinnloser Weise verschleudert hatte, einfach weggeschmissen. Denn das steht fest: wenn einmal ein Jude leichtsinnig ist, dann kennt er auch keine Grenzen!

Zuletzt hatte er zwanzigtausend Mark geerbt. Wie lange er nicht nüchtern geworden war, wußte er nicht. Als er wieder zur Besinnung kann, befand er sich in einer Kaltwasserheilanstalt. Wo das Geld geblieben war, wußte er nicht. Einfach weg. Er kümmerte sich auch nicht weiter darum.

Aus dieser Nervenklinik hatte ihn Frau Helene Neubert geholt. Immer noch als ein Häufchen Unglück. In den ersten Tagen an Bord hatte er noch so den Taddrich gehabt, daß man ihm keine Gabel in die Hand zu geben wagte, er stach sich mit ihr beim Essen in die Augen. Aber jetzt war er wieder ganz perfekt. Nur mußte er wohl immer den nötigen Alkohol im Leibe haben.

Also jetzt nahm Doktor Isidor mit dem Sextanten ständig die Sonne auf und führte die Berechnungen aus, pfiff dazwischen ab und zu einen Kognak. Ich blickte einmal in sein Buch. Ach, diese Formeln! Ja, wir machen auch solche geographische Bestimmungen, müssen auch astronomische Kenntnisse besitzen – aber wo bleiben wir armen Steuermännel gegen einen richtigen Astronomen!

Die letzten Segel waren geborgen.

»Halbe Kraft voraus!« klingelte der Signalapparat nach dem Maschinenraum.

Wir näherten uns offenbar irgend einem Ziele, und wenn dieses auch nur in der Luft lag. Der Kapitän hatte schon seine Instruktionen!

In südlicher Ferne tauchten die Umrisse von Gebirgen auf.

»Herr Waffenmeister, bitte!«

Die Patronin stand am Kajütenaufbau und spähte durch ein Fernrohr nach diesen Gebirgen. Ich ging hin.

»Sind Sie schon einmal hier gewesen?«

»Ich bin zweimal um Kap Horn gekommen, aber nicht hier durch.«

»Kennen Sie sonst diese Gegend?«

»Nun, was jeder gebildete Mensch und speziell jeder Seemann kennen muß.«

»Das ist also das Feuerland!«

»Ja, was man so das Feuerland nennt. Was wir dort sehen, dürfte noch das spezielle Feuerland sein, die Tierra del Fuego, eine sehr große Insel, halb zu Chile, halb zu Argentinien gehörend. Der zweite Teil der Magalhaesstraße wird von einem Gewirr zahlloser kleinerer Inseln begrenzt, die man zusammen als Desolation-Land bezeichnet.«

»Desolation-Land!« wiederholte das junge Weib sinnend. »Wissen Sie, was das heißt, Desolation?«

Der nahm ich es einmal nicht übel, daß sie mich so ausfragte.

»Traurigkeit, Trostlosigkeit, Verzweiflung.«

»Ja, das Land der Verzweiflung. Warum mag das so heißen?«

»Na, weil es dort eben ganz verzweifelt traurig und trostlos aussehen soll.«

»Hm. Ich habe auch schon einen anderen Grund für diesen Namen gehört.«

»Haben Sie? Was für einen?«

»Haben Sie das Wort Desolation vielleicht schon sonst einmal gehört?«

Ich sann einen Augenblick nach und fuhr empor.

»Alle Wetter ja! So hieß doch die Fregatte von dem van Horn, der als Anführer der französischen Flibustier in den Jahren 1603 und 4 alle die Hafenstädte von Chile, Peru and Mexiko ausplünderte! Ja, dem seine Fregatte hieß Desolation. Er hatte ihr diesen Namen nicht selbst gegeben, sondern die armen Spanier tauften sie so, was er dann akzeptierte. Weil überall, wo das Schiff mit dem gehißten Signal des furchtbaren Räubers erschien, die trostloseste Verzweiflung herrschte. Ja, und dieser van Horn ist dann verschollen, im Jahre 1605, als er mit seiner Fregatte, die ganz mit Schätzen vollgepfropft war, auf dem Rückweg begriffen war, um Kap Horn segeln wollte. Oder, von Westen her, wahrscheinlich durch diese Straße. Sie meinen, daß das Desolation-Land nach dieser Fregatte genannt worden ist? Das glaube ich nicht. Diese Übereinstimmung ist nur ein Zufall.«

Überrascht hatte die Patronin den Kopf gehoben und mich angeblickt.

»Woher wissen Sie denn das?!«

»Nanu! Das weiß doch jeder Mensch, der nur einiges Interesse für so etwas hat! Bukanier und Flibustier! Und der van Horn kam doch gleich nach dem Morgan. Ei, das war ein feiner Mann, dieser van Horn aus Ostende, ein humaner Mann! Wenn sich neue Leute für seine Räuberdienste meldeten, dann mußten sie sich anstellen, und urplötzlich wurde ganz unvermutet hinter ihrem Rücken eine Kanone abgefeuert. Horn beobachtete sie dabei, und wer bei dem Donnerknall auch nur im leisesten zusammenzuckte, den schoß, er auf der Stelle nieder. Unbrauchbar – weg! Ei, das war ein Patentmännel, dieser van Horn!«

»Ja, aber woher wissen Sie denn auch so genau die Jahreszahlen?« lachte die Patronin, obgleich es da doch gar nichts zu lachen gab, das war doch vielmehr sehr traurig.

»Ach so!« mußte aber auch ich jetzt lachen. »Ja, sehen Sie, Madame – ich habe nämlich nur lesen gelernt, um Seeräubergeschichte zu studieren Schon in meinem zehnten Jahre hätte ich auf jeder Universität den Professorenstuhl für Seeräuberuniversalweltgeschichte einnehmen können. Ich kannte die genaue Biographie von sämtlichen Seeräubern der Welt, vom grauesten Altertume an bis in die Zukunft, sogar von solchen, die überhaupt gar nicht existiert haben. Ei, ich habe auch ein Seeräuberdrama geschrieben, gedichtet, in Versen. Als ich bei der Marine diente. Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres, oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste. Es ist auch aufgeführt worden. In Wilhelmshaven. Zu Kaisers Geburtstag. Die Frau des Divisionskommandeurs bekam vor Lachen die Schreikrämpfe. Faktisch.«

Die Patronin wand sich jetzt schon vor Lachen. Sie lachte gar zu gern.

»Von Matrosen aufgeführt?« brachte sie dann hervor.

»Jawohl. Sie denken wohl, die können nicht schauspielern? Nu, Sie hätten die blauen Jungen nur einmal sehen sollen!«

»Könnten Sie so etwas nicht einmal hier aufführen?«

»Ja, Madam, das ist ein Gedanke,« fuhr ich empor. »Ich habe auch schon daran gedacht, daß zwischen die Turnerei und Sportspiele auch einmal eine geistige Anregung kommen muß. Richtig, ich werde meinen Kling-Klang-Klung noch einmal bearbeiten! – Ja, also Sie meinten, daß dieses Insellabyrinth nach jener Fregatte Desolation genannt worden ist? Nein, jetzt entsinne ich mich, daß schon Magalhaes dieses Land so getauft hat, und der ist im Jahre 1520 hier durchgekommen.«

Unterdessen hatte die »Argos« immer direkt auf die Küste zugehaltem mit halber Kraft, Matrosen mußten ständig loten.

Jetzt war die Küste schon mit bloßen Augen als Landschaft zu erkennen, man konnte die einzelnen Bäume unterscheiden.

Ein herrlicher Anblick! Die Berge bis oben hinauf mit frischem Grün bekleidet, vorher die flache Küste ein einziger Buchenwald!

Und das nennt man nun das Land der trostlosen Verzweiflung! Welche Ironie!

Ja, wir befanden uns eben im Hochsommer, auf dem 52. Breitengrade. Auf diesem liegt auf der nördlichen Halbkugel Berlin, und das wäre dort jetzt Juli gewesen. Und wirken tat hier die Sonne ebenso. Wo nur irgendwie ein Grashalm gedeihen konnte, da mußte sie wohl Grün hervorzaubern.

Aber wie ungünstig die südliche Erdhälfte durch atmosphärische Verhältnisse gegen die nördliche gestellt ist, das zeigten dort schon die Bäume. Es waren fast nur Buchen, dieselbe Art, die im Norden gedeihen. Dort aber ist die Buche doch ein sehr stattlicher Baum, hier dagegen blieb sie zwerghaft klein.

Und drei Monate später, wenn hier im Verhältnis zum nördlichen Breitengrad erst der Herbst anbrach, würde hier bereits alles von Schnee und Eis starren, dann mußten diese Bäume alle Kraft zusammennehmen, um einem acht Monate langen Winter trotzen zu können, und sie durften nicht hoch sein, sonst hätten sie den hier fast unausgesetzt brausenden Weststürmen nicht widerstanden.

Wir hatten es eben auch sonst ganz wunderbar getroffen. Von solch einer Wasserstille in der Magalhaesstraße können wenig Seeleute erzählen. Wie mochte sonst dort an den Felsen für gewöhnlich die Brandung wüten, umsonst waren doch dort nicht solche Löcher ausgehöhlt, während man jetzt hätte hineinschwimmen können.

»Recht so, Frau Patronin!« rief der Kapitän.

»Können wir ankern?«

»Ja. In elf Meter guter Muschelgrund.«

»Es ist Ebbe?«

»Tiefste Ebbe.«

»So gehen wir zunächst vor Anker.«

Der Steuerbordanker rasselte herab und faßte. Wir lagen kaum einen Kilometer vom Ufer entfernt. Die Küste war sehr ungleichmäßig, lauter Landzungen und Buchten, welche die Ausläufer der Taleinschnitte zu sein schienen. Doch konnten es ebensogut durchgehende Wasserstraßen sein, wir hatten also vielleicht auch lauter kleine Inseln vor uns. Das war ja nicht zu unterscheiden.

Da kam aus solch einer Bucht, von einer höheren Felsformation eingefaßt, ein Boot hervor, mehrere andere folgten. Eingeborene statteten uns einen Besuch ab, Feuerländer, in ihrer Sprache Pescheräs.

Es sind auf dieser südlichen Seite der Straße verschiedene große Buchten bekannt, in welche auch die größten Schiffe sicher einlaufen können, in denen man bei schweren Stürmen Schutz sucht. Hier kommen diese Pescheräs mit den Schiffern in Berührung, betteln sie an.

Ob auch hier solch eine bekannte Bucht war, wußte ich nicht. Jedenfalls aber wußten diese Eingeborenen, daß sie von uns nichts zu fürchten hatten, daß sie von diesem Schiffe etwas geschenkt bekamen.

Die Boote waren einfache Baumstämme, ganz roh behauen, durch Feuer ausgehöhlt. In jedem saßen drei oder vier Männer von schmutzig brauner Farbe, nur um die Hüften ein Fell geschlungen, eine andere Bekleidung hatten sie ja auch bei dieser Sommerwärme nicht nötig, während sie sich sonst in Pelze hüllen, kleine, plumpe Gestalten, jetzt wohlgenährt, während sie, wenn man sie am Ende des Winters zu sehen bekommt, sämtlich klapperdürr sind.

Diese Veränderung ihrer Körperbeschaffenheit zeigt schon, auf welch tierischer Stufe sie stehen. Sie leben von der Hand in den Mund, und selbst wenn sie sich einen Vorrat von Lebensmitteln für die kurze Seit anlegen könnten, so tun sie es doch nicht, sind zu faul dazu, kennen überhaupt kein morgen. Für den Sommer bauen sie sich primitive Hütten aus Zweigen, sonst hausen sie in Höhlen und Erdlöchern. Als Jagdtiere gibt es Guanakos und eine Art Wolf, vielleicht aber ist es ein verwilderter Haushund, erst später eingeführt, den sie mit Pfeil und Wurfhammer erlegen; noch mehr leben sie von Schaltieren und Fischen. Den hier sehr häufigen Seehund können sie nur im Winter erlegen, lauern ihm an seinem Eisloche auf. Weiter hinaus auf das Meer dürfen sie sich in ihren elenden Booten nicht wagen. Ein Freudenfest ist es, wenn ein Walfisch strandet. Dann die Eier der zahllosen Seevögel. Jetzt hatten sie sich gemästet.

Auch zwei Weiber waren dabei, die Gesichter noch häßlicher als die der Männer. Der unförmliche Mund an den Winkeln weit herabgezogen, so daß es immer aussah, als ob sie zu weinen anfangen wollten. Alles an ihnen starrend vor Fett und Dreck, alles eine Schmiere. Das straffe schwarze Haar ganz verwildert, sogar über das Gesicht hängend, wodurch sie erst recht ein wildes Aussehen bekamen, obgleich es die harmlosesten Menschen sind.

Die Boote legten sich an dem Schiffsrumpf zusammen, ein allgemeines Schnattern und Gestikulierem sehr deutlich, sie rissen die Mäuler auf, deuteten darauf und kauten.

Ein Sack Schiffszwieback wurde ihnen hingeworfen. Gleich darüber her gemacht, die Wolfsgebisse malmten. Das zuletzt aufgeschlagene Faß Salzfleisch war sehr fettig, talgig. Wir warfen die Stücke einzeln hinab; sie wurden sofort verschlungen, ohne erst gekaut zu werden, die Zähne rissen nur ab. Als sie aber nun sahen, daß sie immer mehr bekamen, fraßen sie – pardon, verzehrten sie nur noch den Talg, das Fleisch warfen sie über Bord. Sie hätten sich das Fleisch, wenn sie es auch weniger gern aßen, doch für später aufheben können. Aber nein, es wurde gleich ins Wasser geworfen.

Der zweite Maschinist brachte ein großes Paket Talglichter. Das sah nun sehr hübsch aus, wie sie die aufknabberten, nur den Docht übrig lassend, den sie aber zuletzt ebenfalls verschluckten. Ich wurde lebhaft an meine Knabenzeit erinnert, wo ich erst den Apfel schälte und dann hinterher auch die Schale aß, nur daß es hier umgekehrt ging: erst das Äußere, dann das Innere.

Doktor Isidor rief wiederholt etwas zu ihnen hinab, hielt ganze Reden. In ihrer Sprache? Sicher. Er hatte sie auch erlernen können. Die Londoner Bibelgesellschaft hat das neue Testament auch in Pescherä übersetzt. Freilich ganz verlorene Liebesmüh. Die wollen alte Talglichter haben, aber keine neuen Testamente. Und dann mußten sie doch auch erst lesen können. Es gibt allerdings einige Missionen mit Schulen dort, aber die hier wußten davon nichts.

Doktor Isidor sagte es mir später. Ja, er hatte sich vorbereitet, um sich mit den Pescheräs unterhalten zu können. Auf Antrag der Patronin. Er hatte in seiner eigenen Bibliothek diese sämtlichen Bibelübersetzungen. Aber nicht etwa, daß er das Pescherä zu jenen 23 Sprachen zählte, die er beherrschte. Er hatte sich nur einige Fragen und Reden zurechtgelegt. Auf Veranlassung der Patronin. Aber die Kerls dort unten reagierten nicht auf des Doktors Parlamentsreden, sie wollten noch mehr Talglichter haben.

»Wie können wir sie denn nur an Bord locken?« meinte die Patronin.

»Es ist schade, daß wir ihnen schon soviel gegeben haben, nun sind sie schon satt, nun kommen sie nicht mehr.«

Verschiedene Gegenstände wurden ihnen gezeigt, die das Herz dieser Leute doch reizen mußten, Spiegel, Messer und dergleichen – ja, sie wollten sie haben, aber nicht heraufkommen, so dicht man ihnen auch das Fallreep vor die Nase hing und winkte, wie Isidor auch parlamentierte.

»Soll ich mal einen heraufholen?« meinte Juba Riata, schon das Lasso von den Hüften wickelnd.

Lachend wehrte die Patronin ab. Es wurde überhaupt viel gelacht.

»Tante, was nehmen die sich denn immer vom Kopfe aus den Haaren und stecken es in den Mund?« fragte die kleine Ilse.

Noch ein Boot kam aus der Bucht gerudert, mit drei Männern und einem Weibe. Und da machten wir eine hochinteressante Beobachtung.

Das noch junge, derb entwickelte Weib war über und über mit Knochen behangen, mit menschlichen. Es war das ganze Gerippe eines Mannes, die einzelnen Knochen mit Sehnen zusammengeheftet, aber bunt durcheinander. Den Totenschädel trug sie vorn auf der Brust, einen Schenkelknochen an der Seite, den anderen auf dem Rücken, und so weiter. Aber auch das letzte Fingerknöchelchen war vorhanden.

Hiermit war eine von den Ethnologen heiß umstrittene Frage bejahend beantwortet. Es handelt sich um eine besondere Art von Totenverehrung, die man bestimmt sonst nur bei den Bewohnern der Andaman-Inseln kennt, zwischen Vorder- und Hinterindien gelegen.

Die Frau, welche dort Witwe wird, muß die Skelettknochen ihres verstorbenen Mannes Zeit ihres Lebens an ihrem Körper mit sich herumtragen. Nun ist schon immer behauptet worden, daß auch die Pescheräs dieselbe Sitte haben, wenigstens einzelne Stämme; andere Ethnologen bestreiten das.

Gewiß, es war so! Hier war der Beweis.

Die Andamanfrau, um sich möglichst bald mit den Knochen ihres geliebten Gatten, der sie täglich verdroschen hat, schmücken zu können, vergräbt die Leiche im oder bei einem Ameisenhaufen. Die Insekten liefern sehr bald ein sauberes Skelett. Hier kam ich auf die Vermutung, daß die verwitwete Frau Pescherä den geliebten Toten am Feuer brät – nicht um das Fleisch zu verspeisen, sondern um es recht schnell von den Knochen loslösen zu können. Einige Knochen sahen nämlich so angebrenzelt aus.

Ich hatte den an der Bordwand stehenden Leuten erzählt, was es mit diesen Knochen für eine Bewandtnis habe.

»Hm,« meinte da Oskar der Segelmacher nachdenklich, »das muß aber fatal sein – wenn so eine mehrmals Witwe wird – immer wieder heiratet – wenn die dann so’n halbes Dutzend Knochenkerle mit sich herumschleppt. Nee, die möcht’ch nicht heiraten. Oder legt sie denn die wenigstens ab, wenn se ins Bett steigt?«

Doktor Isidor sprach mit dem neuen Boote, und da kam ein Mann das Fallreep herauf. Die Frau mit den Knochen folgte ihm. Es war seine Gattin. Wie sich später erfuhr, muß bei den Feuerländern die Witwe das Skelett des Mannes nur tragen, wenn sie nochmals heiratet, was sehr selten vorkommt. Da muß sie sehr, sehr schön sein. So schön wie diese hier. Die hier hatte ein noch viel größeres Maul als Mister Tabak, und so ein großes hatte ich früher noch nie gesehen.

Die Ankömmlinge waren natürlich etwas furchtsam. Daß sie nicht vor fremden Tieren erschraken, dafür war gesorgt worden.

Die Patronin und Doktor Isidor nahmen den Mann in Beschlag, brachten ihn soweit, daß er Rede und Antwort stand, während die Matrosen die Frau umringten, sie mit Talglichtern und anderen Leckereien fütterten.

Anfang

So verging einige Zeit. Da wollte sich Oskar, der sich hauptsächlich bei der Unterhaltung hervorgetan, den liebenswürdigen Schwerenöter gespielt hatte, von dieser unvergeßlichen Stunde ein Andenken verschaffen. Er trat unbemerkt hinter sie, zog sein Messer und schnitt ihr den an dem Rücken hängenden Schenkelknochen ab.

Ich wurde erst durch das Kichern der Matrosen stutzig, da war es schon geschehen, und da wandte sich auch der Pescherä wieder dem Fallreep zu, ein grunzender Laut, und die Frau folgte ihm, ohne ihren Verlust bemerkt zu haben. Oskar hielt den großen Knochen hinter seinem Rücken verborgen.

Das ging natürlich auf keinen Fall, und kein anderer erhob Einspruch. So tat ich es.

»Was soll der Unfug! Oskar, gebt dem Weibe sofort den Knochen zurück!«

Er wollte nicht. Da trat ich als Bevollmächtigter der Patronin auf.

»Gebt ihr den Knochen zurück, sofort, ich befehle es!«

Da lief er ihr nach, hielt ihr von der Seite den Knochen hin, so recht höflich.

»He – Sie da – Fräulein – junge Frau – Gnädige – Sie haben das linke Bein von Ihrem seligen Gatten liegen lassen.«

Das gab ja schon genug Grund zum Lachen. Aber es kam noch besser. Die Frau war nicht sonderlich überrascht, nahm den Knochen einfach hin, griff sich allerdings einmal auf den Rücken. Nun mußte sie das steile Fallreep hinab, wollte sich dabei mit beiden Händen festhalten. Und so nahm sie den Schenkelknochen einstweilen zwischen die Zähne.

»Guten Appetit, wünsche wohl zu speisen!« rief ihr Oskar nach...

Da brach das Gelächter natürlich erst recht los.


Ich glaube, wenn ich noch nautischer Steuermann gewesen wäre, so hätte ich auch nichts weiter erfahren, weshalb wir hier lagen, was die Patronin beabsichtigte. Nur der Kapitän wußte wohl etwas mehr davon. Ganz sicher aber Doktor Isidor. Die beiden, die Patronin und der Schiffsarzt, steckten jetzt mehr denn je zusammen, unterhielten sich leise.

»Sie kommen doch mit, Herr Waffenmeister?« sagte die Patronin zu mir.

»An Land? Herzlich gern!«

Nehmen Sie ein Jagdgewehr mit.«

O, das war etwas für mich! Ich war ein leidenschaftlicher Jäger! Das heißt, das war nur eine platonische Liebhaberei von mir. Ich war überhaupt noch nie auf der Jagd gewesen. Als Junge hatte ich Sperlinge geschossen, auch einmal eine Taube, wofür ich den Hosenboden geklopft bekommen hatte – sonst noch nichts weiter. Ja, ich war in Ländern gewesen, wo Löwen und Tiger und Antilopen sind, aber doch immer nur im Hafen, und das ist doch ganz anders, als sich mancher denkt, als es manche Jugendschriftsteller schildern. Da kommt unsereiner doch gar nicht hin. Nach Möven hatte ich einmal geschossen. Da hatte mir der Kapitän das Tesching weggenommen. »Hier hat nur einer eine Waffe zu führen, und das bin ich!«

»Auch die Matrosen, die uns an Land rudern, sollen Waffen mitnehmen. Diese auszuteilen, das wäre Ihre Sache, Herr Waffenmeister. Aber ich weiß noch nicht, wer mitkommt und wieviel. Wahrscheinlich dampft auch gleich das ganze Schiff in die Bucht, die Einfahrt muß noch einmal ausgepeilt werden. Der Kapitän hält es doch für besser. Die Waffenkammer steht ja immer offen.«

So hatte die Patronin noch hinzugefügt. Also ich suchte mir in der Waffenkammer eine Doppelbüchse aus, sie waren alle gleich, ganz neu, schnallte einen Gürtel mit Revolver um, nahm aber den Entersäbel ab, füllte die Munitionstaschen aus den Eisenkisten mit Patronen, dann ging ich in meine Kabine und bereitete mich sonst noch etwas auf die Expedition vor, zum Beispiel indem ich als Hauptsache meine Fischblase mit Tabak füllte.

Als ich wieder an Dech kam, waren die beiden Boote schon ausgesetzt. Also eine Jolle und, wie wenigstens der Kapitän gesagt hatte, die Dampfbarkasse. Es war aber ein Motorboot mit Petroleumbetrieb, ein großes Ding, lag unter einem Verdeck mittschiffs zwischen Groß- und Kreuzmast, wurde durch eine Winde aufgehoben und ausgeschwenkt.

Die Patronin kam aus der Kajüte. Ich kannte sie nicht anders als in einem weißen Kleide mit weißen Segeltuchschuhen. Jetzt trug sie ein dunkles Lodenkostüm, nicht allzu kurz. Man konnte eben noch sehen, daß sie Schaftstiefeln anhatte. Na, das ging noch. Ich hatte nämlich schon so einen Klostümwechsel erwartet und gedacht, gefürchtet, sie könnte in Hosen kommen. Und das kann ich bei einem Weibe nicht leiden, obgleich ich sonst gar nicht so bin. Über die Schulter hatte sie eine zierliche Doppelbüchse gehängt, und am Gürtel durften natürlich Revolver und Jagdmesser nicht fehlen. Sonst wär’s doch keine Jagdexpedition im amerikanischen Feuerlande gewesen.

Sie hatte das Motorboot benutzen wollen, aber da funktionierte etwas nicht, wie der Motor auch knatterte und stank. Die Maschinisten suchten und debattierten. Nur der erste fehlte, der verließ seine Kabine nicht.

Auch der Doktor kam mit, Ernst sollte steuern. Er wußte noch gar nicht wohin. Die sechs zum Rudern kommandierten Matrosen erschienen mit Doppelbüchsen.

»Du, Max,« mußte ich zu dem einen sagen, der sein Gewehr verächtlich am Riemen nachschleifte, »das ist eine Flinte und keine Mistgabel!«

»Wat schall ick denn mit dem Kohfott?« lautete die mich verächtlichere Antwort.

»Hast Du denn nicht in der Marine gedient?«

»Ich? Neee.«

»Warum haben sie Dich denn nicht genommen?«

»Weil ick keen groten Zeh hävv an den rechten Foot.«

»Wo hast Du denn Deine große Zehe gelassen?« mußte ich lachen.

»Mien Mutting seggte, dee hädd mi der Adebar (Klapperstorch) afbäten.«

Er schleifte seinen »Kuhfuß« weiter.

Bis zum Erzieren mit dem Gewehr und zu Schießübungen war es noch nicht gekommen, das würde aber auch noch geschehen. Ich will überhaupt gleich sagen, daß ich dieses Schiff und seine Mannschaft noch zu Waffentaten, zu Kriegstaten anführen wollte. Aber so weit, um der Patronin meinen Plan zu offenbaren, war es noch nicht. Man soll niemals vorher von etwas sprechen, ehe man richtig loslegen kann! Sonst ist die Hälfte dies Erfolges schon dahin!

Wir stießen ab. Die Peschieräboote waren schon wieder in der Bucht verschwunden, die auch unser Ziel war. Aus einer sachgemäßen Erforschung der Einfahrt, ob das große Schiff auch überall genug tiefes Wasser habe, was die Patronin doch beabsichtigte, sollte nichts werden, das mußte dann der Motorbarkasse oder einem anderen Boote überlassen bleiben, denn wir selbst sollten noch ein sehr hübsches Erlebnis haben, was aber unsere Absicht vereitelte.

Wegen der Pescheräs war also das ganze Viehzeug, soweit es gefährlich aussah, einmal eingesperrt worden. Wir hatten uns ungefähr 200 Meter vom Schiffe entfernt, als vielstimmiges Hundegebell in allen Tonarten erscholl. Juba Riata, der Herr und Meister dieses Viehzeuges, hatte es wieder in Freiheit gesetzt. Über der Bordwand tauchten zuerst Hundeköpfe auf, Lulu, das Elefantenbaby, schwenkte seinen Rüssel und quäkte, Löwen- und Tiger- und Bärenköpfe kamen hinzu, alle diese Tiere richteten sich auf und blickten dem Boote, das die Herrin entführte, nach – ein famoser Anblick, wie alle diese Tiere in Reih und Glied aufgerichtet an der Bordwand standen!

»Ob die wohl nachkämen,« meinte die Patronin, »wenn ich –«

Da war es schon geschehen. Plauz, plauz, plauz ging es, und immer wieder spritzte das Wasser.

Die ersten waren Thor und Odin gewesen, zwei prächtige Neufundländer, welche die abgehende Herrin erblickt und sie nicht im Stiche lassen wollten – ihnen nach folgte Frau Holle, der beiden gemeinschaftliche Ehegattin. Diese drei waren ja geborene Wasserratten, und zwar von der Salzwasserkante, aber –.

»Was die können, können wir auch!« sagten sich Kastor und Pollux, zwei riesige Boxer, mehr Bullenbeißer, und jumpten hinab.

»Nun aber schleunigst nach!« sagten sich Max und Moritz, zwei Bernhardiner, und verschwanden in den Fluten.

Und dann gab es einen Plauz und Klatsch, wie ihn eigentlich nur August der Starke fertig brachte. Diesmal aber war es Willy gewesen, der braune Bär, der sich die fünf Meter hatte herabplatschen lassen.

Und dann sauste durch die Luft ein gelber Bogen und verschwand ziemlich geräuschlos im Wasser – die Marchesse, die Herzogin, die gewaltige Königstigerin.

Daß der Tiger meilenbreite Meeresarme überschwimmt, um von einer Insel zur anderen zu gelangen, ist ja bekannt.

Es gab ja noch andere Hunde und sonstige Tiere genug, die uns hätten folgen können, auch sicher bereit dazu waren – die aber wurden wohl von Juba Riatas Peitsche zurückgehalten.

Und was wir hier gesehen hatten, das genügte ja auch schon.

O, war das ein Anblick gewesen!

So etwas läßt sich ja gar nicht beschreiben!

Auch nicht das Großartige andeuten, was dem Ganzen zugrunde lag. Diese Treue! Rinn ins Wasser und der geliebten Herrin nachgeschwommen!

Und wie die verschiedenen Köpfe nun angerückt kamen, diese glühenden Augen, wie jetzt der Wettkampf im Schwimmen losging! So etwas müßte man photographieren, kinematographieren – und es gäbe doch nur ein totes, seelenloses Bild.

Kurz und gut, mir stieg es wieder einmal ganz siedend heiß zum Herzen empor.

Und die Patronin sprang auf und klatschte in die Hände und jubelte und jauchzte – gebärdete sich wie ein vor Weihnachtsfreude närrisch gewordenes Kind. Und ich konnte es begreifen.

»Los, Kastor, Pollux – laßt Euch nicht von der Marchesse überholen – Max; der Max kommt vor! Der Willy, guckt mal den Dickwanst an –«

So und anders klang es durcheinander. Eben ein Anblick, daß selbst der faule Max, das heißt der Matrose ohne große Zehe, ganz enthusiasmiert wurde.

Ich hätte auf einen der Neufundländer gewettet, alle drei waren ja auch weit voraus gewesen – und hätte verloren. Mit einem Male legte Willy los, der braune Bär, der Fettwanst schoß plötzlich wie ein Fischotter durchs Wasser und hatte schnell die drei Neufundländer überholt.

Wir hatten natürlich mit Rudern aufgehört. Mit einer unglaublichen Schnelligkeit kam der Bär heran. Und wollte zu uns ins Boot. Er legte die Pranken auf den Bordrand suchte sich zu heben.

Wir kamen in die größte Gefahr, das Boot wollte kentern. Und der Bär war durch nichts abzuwehren, wie wir auch auf ihn losschlugen. Wir hätten ihm die Pranken abhacken müssen. Und jetzt kamen die Hunde und glaubten, nichts wäre uns erfreulicher, als wenn sie ebenfalls ins Boot kletterten. Und zwar kamen sie alle von derselben Seite. Es hätte tatsächlich eine Katastrophe geben können, mit dem einfachen Kentern war es noch gar nicht abgetan.

Bis ein Matrose auf die geniale Idee kam, seinen Tabaksaft Willy in die Augen zu spucken. Es war ja nicht gerade sehr hübsch, auch keine ritterliche Fechtweise, aber im Augenblick wirklich das einzige Mittel, das uns vor der Katastrophe bewahrte. Der Bär ließ sich zurück ins Wasser plumpsen, um sich erst einmal die deliziöse Sauce, die ihn halb oder ganz blind machte, abzuwaschen, wobei es ganz possierlich aussah, wie er dabei wirklich seine Tatzen zu Hilfe nahm.

Freilich hielten wir uns nicht lange mit dieser Beobachtung auf, die Hunde ließen sich noch einmal zurücktreiben, schnell wurden die Riemen gebraucht, wir kamen heraus aus dieser gefährlichen Situation.

In langsamerer Fahrt ging es weiter, die ganze Menagerie hinter uns her. Willy machte wohl noch den Führer, hatte aber keine Lust mehr, für die anderen die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Nach noch nicht zehn Minuten steuerten wir in die Bucht ein. Zuerst ein langer Wassertunnel, so breit, daß drei große Schiffe bequem nebeneinander hätten fahren können, hüben und drüben begrenzt von hier geradelinigen Landzungen mehrere Meter hoch, mit Gras bewachsen. Dann kam die eigentliche Bucht, ein weites Bassin, in dem eine ganze Kriegsflotte hätte ankern können – wenn sie wegen der Wassertiefe einlaufen durfte.

»Sie kann es,« erklärte die Patronin, »mein Bruder hat hier alles ausgepeilt. Dort an der niedrigen Felswand kann auch das tiefstgehende Schiff wie an einem Kai anlegen.«

Wir selbst legten noch etwas vor dieser Felswand an, auf die wir vom Boote aus nur mit einer Leiter gekommen wären, während vorher das Boot einen idealen Platz hatte. Wir konnten gleich an das Ufer springen, mit feinem, weißem Sande bedeckt, und taten es.

Und fast gleichzeitig erreichten auch die Tiere das Ufer, etwas hinter uns. Der erste, der aus dem Wasser stieg, war Willy, er trabte in kurzem Galopp auf uns zu, wurde aber im Laufen von Moritz, dem weißen Bernhardiner, überholt – und im nächsten Augenblick lag Frau Helene Neubert am Boden und Moritz patschte ihr mit seinen Pfoten auf dem Körper und im Gesicht herum, dann wurde er hierbei von zwei anderen Kötern unterstützt, und wie ich ob des unerwarteten Anblicks noch etwas fassungslos dastand, erhielt ich einen Stoß, der mich ebenfalls an den Boden legte, auch ich wurde von liebevollen Hunde- und Bären- und Tigerpfoten bearbeitet, und dann war die allgemeine Balgerei fertig, neun Männer und eine Dame wälzten sich mit Hunden und Bären und Tigern in dem Sande herum.

Na, dieses Schimpfen und Lachen und Brüllen im Lande der trostlosen Verzweiflung!

Die Tiere, überhaupt schon außer sich vor Freude, wieder einmal festes Land unter den Füßen zu haben, glaubten nicht anders, als wir seien extra hierher gekommen, um mit ihnen zu spielen.

Endlich gelang es uns, sie abzuwehren und wieder zur Raison zu bringen. Oder sie balgten sich nur noch untereinander. Aber wie wir aussahen! Wie aus dem Wasser gezogen und nun in dem feinen, trockenen Sande herumgewälzt. Besonders Doktor Isidor, der immer einen schwarzen Gehrockanzug trug, auch jetzt. Wie das Männchen aussah! Wie ein mit Mehl panierter Schornsteinfeger! Ja, dieser jüdische Gelehrte liebte so als Gentleman aufzutreten, daß er entweder ohne Kopfbedeckung ging oder mit einem blankgewichsten Zylinder, auch für diese Expedition hatte er ihn aufgehabt, hatte ihn jetzt noch auf, aber nun in welchem Zustande – und dieser Witzbold wußte die Komik noch zu vermehren, indem er sich jetzt danach hinstellte, die Hände über der Brust gefaltet, den total verbeulten, eingetriebenen, sandigen Zylinder ganz schief auf dem Kopfe, wie der uns nun durch seine Klemmergläser, die er glücklich gerettet, wehmütig von der Seite anschielte. – »Kinder, was sagt Ihr nun dazu.«

Ach, es dauerte noch lange, lange Zeit, ehe wir uns wieder beruhigt hatten, im Lande der Verzweiflung und weitere Umschau halten konnten.

Umgrenzt wurde die Bucht von einem breiten Streifen weißer Sandfläche, wo Ebbe und Flut spülte, dann kam eine noch viel breitere Rasenfläche, ich sah schon, wenn wir uns hier länger aufhielten, unseren zukünftigen Sport- und Exerzierplatz, dann begann der Buchenwald, ohne Unterholz, parkähnlich, dahinter erhoben sich grüne Hügel, ferner im Hintergrunde schneebedeckte Bergrücken...

»O, hier ist es schön, herrlich – hier laßt uns Hütten bauen!« ließ ich meiner Begeisterung freien Lauf.

»Ja, hier möchte ich einmal begraben sein!« erklang es neben mir.

Betroffen wandte ich mich um. Die Patronin. Mit einem verträumteren Auge denn je.

Hatte das arme Weib eine visionäre Ahnung?

Ich sollte nicht dazu kommen, darüber nachzugrübeln, und sie auch nicht, und es war gut so. Es war eben nur so eine Redensart gewesen, wie man sie so wohl manchmal von sentimentalen Personen hören kann: »Hier möchte ich einmal begraben sein.«

Plötzlich kam die Marchesse hinter dem Damm, den die schmale Landzunge bildete, hervorgetanzt, drehte sich so blitzschnell im Kreise, daß der Tigerleib einem gelben Reifen glich, wir bemerkten nur, daß sie irgend etwa Schwarzes, Großes am Schwanzende hängen hatte, und erst als sie dann davon rannte, sahen wir es: an ihrem Schwanze hing ein großer Hummer.

Sie wußte sich übrigens schnell zu helfen, rannte nur nach dem nächsten Felsen, dort schlenkerte sie den Schwanz tüchtig dagegen, zerschmetterte den Hummer – und verspeiste ihn mit Wohlbehagen!

Diese kleine Szene hatte unsere Lachlust von neuem angeregt.

Woher hatte der Tiger den Hummer bekommen? Das wäre ja schön gewesen, wenn es hier mehr gab. Frischer Hummer ist doch etwas ganz anderes als eingebüchster. Nun, wir brauchten nur in das klare Wasser zu blicken, dort unten zwischen den Steinen krebsten genug herum, und was für Exemplare!

Aber wie ward uns, als wir den Damm erstiegen. Was erblickten wir da!

Anfang

Vor uns lag eine andere Bucht, noch viel, viel größer als diese, und vollständig anders beschaffen. Hier mußte einmal ein Felsen gestanden haben, der im Laufe der Jahrtausende ganz unterwaschen worden und dann zusammengebrochen war. Durch Ebbe und Flut waren dann die Trümmer abgerundet worden. Soweit das Auge reichte, war der Boden mit runden Steinen bedeckt, von den kleinsten an bis zu solchen wie große Kegelkugeln, und dazwischen stand noch das letzte Wasser der Ebbe.

Und in diesem Gemisch von Wasser und Steinen nun ein einziges Gewimmel von Hummern, die sich an toten und sterbenden Fischen delektierten.

Diese ganz Bucht war nämlich die reine Fischfalle. Indem der nur schmale Eingang mit einem Wall von solchen losen, runden Steinen verbarrikadiert war. Bei Flut ging das Meerwasser noch hoch darüber, die Fische kamen herein, das Wasser trat wieder zurück, zuletzt floß es zwischen den Steinen ab, durch welche die größeren Fische nicht konnten, sie blieben auf dem Trockenen liegen oder hatten nur noch ganz kleine Tümpel, in denen sich die Hummer ihrer bemächtigten. Und so ging das bei jeder Ebbe und Flut. Verwesende Fische konnten keinen Gestank erzeugen, indem sich dann auch jedesmal Seevögel in Legionen einstellten, die alles verzehrten und forttragen, was nicht schon die Hummer in den Scheren hatten.

Ich will gleich erwähnen, daß dies nicht die einzige so beschaffene Bucht war, die ganze Küste meilenweit hinauf wimmelte es ebenso von Hummern, und fast überall waren sie ebenso leicht zu fangen, einfach zu greifen – wobei man sich freilich vorsehen mußte, daß die Hummer nicht eher zugriffen.

Auch will ich gleich noch erwähnen, daß wir mit diesen Hummern noch etwas Schönes erleben sollten! Aber nicht etwa was Lustiges. Die sollten uns diese Gegend noch wirklich zum Lande der Verzweiflung machen. »Himmel, hier kann man ja Millionär werden!« rief ich ideal veranlagter Mensch, der aber doch so prosaisch sein kann.

»Millionär?« wiederholte die Patronin verwundert.

»Nun ja, wenn man die Hummer gut verpackt einsackt oder gleich hier eine Konservenfabrik anlegt.«

»Ach so meinten Sie! Ist es denn nicht bekannt, daß es hier in der Magalhaesstraße so viele Hummer gibt?«

Ich hatte noch nichts davon gehört.

Ja, welches Schiff wagt sich denn auch hier so nahe an diese gefährliche, gänzlich unbekannte Küste? Wer hat hier etwas zu suchen?

»Meckwürdig, daß mein Bruder gar nichts von den Hummern berichtet hat, das ist doch auffallend genug.«

»Ihr Bruder war hier?«

»Voriges Jahr.«

»In welchem Monat?«

»Im November – vorvoriges Jahr.«

»Dann haben die Hummer vielleicht Laichzeit gehabt oder hielten sich aus anderem Grunde anderswo auf.«

»Ja, das ist möglich. Also Sie meinen, hier könnte man Millionen herausholen?«

»Na wenigstens von einer Million sprach ich!« lachte ich. »Aber ich glaube wirklich, daß dies hier eine unermeßliche, unerschöpfliche Goldquelle ist.«

Die Patronin sah mich groß an.

»Sehen Sie, sagte ich Ihnen nicht, daß –«

Sie brach kurz ab.

»Herr Waffenmeister, ich will nachher einmal mit Ihnen allein reden.«

Unterdessen durchkreuzte drüben die tiefe Bucht schon das Motorboot, immer lotend, hinterher dampfte langsam die »Argos«. Das in dieser Bucht riesenhaft aussehende Schiff legte glatt an jener niedrigen Felswand an, es wurde an festgewachsenen Steinen vertaut, nur die Bordwand brauchte an der betreffenden Stelle geöffnet zu werden, die Laufbrücke nicht erst hinausgeschoben, man konnte gleich an Land treten.

»Herr Kapitän!« rief die Patrona hinüber. »Alles hat frei, was Sie nicht unbedingt brauchen!« Und sie kamen an Land. Zuerst aber die ganze Menagerie. Mit Ausnahme der Haus- oder hier vielmehr Schiffskatzen. Die gehen eben nicht von Bord. Dagegen waren die Tauben, und was sonst noch Flügel hatte, schon vorher dem nahen Walde zugeflogen. Aber sie alle stellten sich dann am Abends wieder ein, keine einzige fehlte.

Ach, dieses Leben, das sich jetzt hier am Strande entwickelte, im Lande der trostlosen Verzweiflung! Wie die Tiere sich freuten, nach sechswöchentlicher Seefahrt wieder einmal festen Boden, Sand, Erde, Gras unter die Füße zu bekommen! Besonders die Hunde, wie die sich balgten, wie sie tobten! Und was nun sonst noch alles passierte!

Das erste war, daß Lulu in eines der großen, tiefen Löcher fiel, deren es hinter dem Sandgürtel auf der Rasenfläche sehr viele gab, als wären Bäume mit den Wurzeln herausgehoben worden. So war es auch sicher, sie waren vom Sturme entwurzelt.

Das jämmerlich quäkende Elefantenbaby wog mindestens schon seine drei Zentner, es mußte mit Seilen unter großen Anstrengungen wieder herausgeholt werden. Und kaum war es in Freiheit gesetzt, da plumpste es schon wieder in ein anderes Loch und schrie mit seinem Elefantenkinderstimmchen Zeter und Mordio. Und so ging das weiter. Für Lulu schienen diese Erdlöcher nur dazu vorhanden zu sein, um hineinfallen zu können. Bis er auf ein löcherfreies Revier kam.

Am meisten Spaß – wenn nicht jeder Anblick immer wieder übertroffen wurde – machte mir der Rabe, der selbstverständlich Huckebein hieß.

Er konnte sprechen, sein Sprachlehrer mußte ein Sachse gewesen sein, der ihm nur ein einziges Wort oder nur eine einzige Redensart beigebracht hatte: ach herrjeeehses! Er war aber nicht redselig, man bekam es sehr, sehr selten einmal zu hören.

Jetzt holte Huckebein nach, was er so lange versäumt hatte. Krummbeinig oder doch mit seitwärts eingesetzten Füßen watschelte er in dem Sande, immer eine bestimmte Strecke hin und her marschierend, und dazu erklang es ununterbrochen: ach herrjeeehses, ach herrjeeehses, sach herrjeeehses –.

Es war zum Totschießen!

Aber es sollte noch besser kommen.

Wie wir noch so um ihn standen und lachten, hielt er plötzlich an, senkte in eigentümlicher Weise den Kopf mit dem mächtigen Schnabel, als denke er über etwas nach, dann wieder aufgerichtet, den Weg fortgesetzt und –.

»Nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses, ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen –«

»Ich habe ihn schon ein Jahr, und ich weiß noch gar nicht, daß er auch das kann!« wollte die Patronin wohl sagen, es war ja aber vor ihrem Lachen gar nichts zu verstehen.

In einiger Entfernung davon stand an einem Wassertümpel, den der letzte Regen zurückgelassen hatte, Fritz, der Mondgucker, stützte sich auf einen mächtigen Entersäbel, blickte mit furchtbar finsterem Gesicht in das Wasserloch – stand gerade da wie der grimme Hagen von Tronje, der als letzter Kämpe auf der Hunnenburg Wache hält.

Nun will ich hier gleich etwas bemerken, ein für allemal, es erspart mir viel weitere Erklärungen.

Es ist eine Tatsache: dumme, beschränkte Menschen gibt es unter den Seeleuten, unter den Matrosen, nicht! Wenigstens nicht unter den deutschen! Man findet auf solch einem Schiffe einen Mutterwitz zusammengedrängt, wie er sonst auf solch einem engen Raume nirgends wieder in der Welt vorkommt. Da ist ein Schatz vorhanden, der für die Literatur erst noch gehoben werden muß.

Aber überhaupt, einen beschränkten deutschen Matrosen gibt es gar nicht. Nicht nur, weil solch ein Seemann doch viel in der Welt herumkommt – nein, es ist ganz etwas anderes dabei. Das Salzwasser macht es, sagt man. Es ist gar nicht so unrecht. Salz gebraucht man doch für Witz, Geist. Das Salzwasser soll keine Dämlichkeit dulden. Auch nicht so unrecht. Nämlich ein beschränkter Matrose würde sich so unglücklich fühlen, daß er bald einen anderen Beruf ergreifen würde.

Es fängt gleich mit der Erziehung des Schiffsjungen an. Er wird von den Matrosen scharf gemacht, salzig sagen die aber – »soltig«, oder richtiger »soldich« geschrieben. – 159 – Ach, was muß so ein armer Junge durchmachen! Zuerst wird er regelmäßig zum Kapitän geschickt, er soll etwas verlangen, was es gar nicht gibt, einen Butterquast oder eine Teerzange oder dergleichen, wofür er vom Käpten natürlich prompt ein paar Backpfeifen bekommt. Und so geht das fort und fort, und da gibt es ja noch tausenderlei »Witze«, bis der Junge »soldich ist, auf nichts mehr hereinfällt.

Das ist auch der Grund, weshalb alle deutschen Matrosen so mißtrauisch sind, bei all ihrer sonstigen Ehrlichkeit und Biederkeit und Offenherzigkeit. Von jedem Fremden denken sie zuerst, er will sie veralbern. Und da sind sie auf ihrer Hut.

Ähnlich ging es ja früher bei allen Handwerkerzünften zu. Aber die Zunft der Seemannschaft ist die einzige, die sich bis heute noch seit vielen, vielen Jahrhunderten mit all ihren Eigentümlichkeiten noch ganz genau so erhalten hat, die Dampfer haben daran noch gar nichts geändert. Und was das deutsche Seevolk schon in alten, alten Zeilen für einen Witz und Humor besessen hat, sogar in Sachen, die man eigentlich ernster nehmen sollte, das zeigt am besten das uralte Hamburger Stadtwappen, heute noch zu sehen im Johanneum, im Erdgeschoß.

Es ist eine Tafel, da steht man auf einem Grabsteine einen Esel sitzen, der Dudelsack spielt, und darunter stehen die Worte:

»De Werlt heft zick ummeckert, darumme zo hebbe ick arme eezel pipen gheleert.«

Solch ein Stadtwappen ist heute wohl nicht mehr möglich. Das brachten damals nur die Ratsherren von solch einer freien Seestadt fertig! –

Also Fritz, der Mondgucker, stand breitbeinig an der Wasserpfütze und stützte sich finster auf sein mächtiges Schwert, wie weiland der grimme Hagen von Tronje als Wächter auf der Hunnenburg.

Ich ging hin.

»Was machst Du denn da, Junge?«

»Dee Bootsmann hädd mi hersteellt.«

»Wozu denn?«

»Ick mött Hampelmann bewacken, dat he nich utkniept.«

»Was? Hampelmann? Den Laubfrosch?«

Wahrhaftig, schwamm da in der Wasserpfütze unser Hampelmann herum, der letzte Mohikaner, nämlich der letzte Laubfrosch, den Lottchen, unsere Ringelnatter, noch nicht verschluckt hatte, und die Patrona versicherte, daß sie sich diese Untugend jetzt überhaupt ganz abgewöhnt habe.

Auch dieser Laubfrosch hatte einmal seine Freiheit an Land bekommen sollen, der erste Bootsmann hatte den Schiffsjungen daneben als Wächter angestellt mit einem mächtigen Schwerte!

Ich weiß nicht, ob dieser Witz durch Erzählen so wirkt, wie damals auf uns in Wirklichkeit.

Na, ich erlöste den armen Jungen natürlich gleich. Übrigens hätte auch der Bootsmann ihn nicht lange seiner Freiheit beraubt, er war schon unterwegs.

Und so ging es weiter im Lande der trostlosen Verzweiflung.


6.
KAPITEL. WAS MIR DIE PATRONA ERZÄHLT.

»Herr Waffenmeister,« sagte die Patrona zu mir, »ich wollte Sie doch einmal allein sprechen.«

»Bitte.«

»Nicht hier. Wollen wir einen kleinen Spaziergang machen, dort den nächsten Hügel besteigen?«

Wir brachen sofort auf. Ich bemerke dabei ausdrücklich, daß uns kein Hund begleitete. Hätte die Patrona gerufen, so wäre ja jeder mitgekommen. So aber fühlten sie sich hier ganz frei.

Wenn wir einen wachsamen Hund mit guter Nase mitgenommen hätten, uns wäre später viel, viel Verdruß, ja sogar Verzweiflung erspart geblieben! Das Schicksal wollte es nicht.

Wir durchschritten den parkähnlichen Buchenwald, freilich mit sehr niedrigen Bäumen, erstiegen einen Hügel, ganz bequem, nur daß die Bäume immer niedriger wurden, wie Büsche, durch die man sich zuletzt drängen mußte, aber ganz eigentümliche Büsche. Immer noch Bäume, mit starken Stämmen, einen halben Meter im Durchmesser, aber so niedrig, daß man über sie hinwegsehen konnte, und oben auf dem Hügel, wo sie am meisten dem Sturme zu trotzen hatten, konnte man sich gleich auf sie setzen.

Das taten wir denn auch, den Blick nach Westen gerichtet, wo sich die Sonne dem Horizonte näherte.

Ach, dort sah es ganz anders aus als hier. Wirklich trostlos. Alles ein Gewirr von schrecklich zerrissenen Felsen und größeren Plateaus, alles mit Wasserkanälen durchzogen, und dort vermochte nichts zu grünen. Sinnend blickte die Patrona dorthin, noch sinnender als ich, sie hatte bisher kein Wort gesprochen. »Ja, Waffenmeister,« begann sie dann, »ich muß mit Ihnen sprechen. Ich habe Ihnen gegenüber eine Äußerung getan, die mich bedrückt, deren ich mich schäme, so oft ich daran denke.«

»Was denn für eine Äußerung?« fragte ich erstaunt.

»Sie wissen es wirklich nicht?«

»Nein. Sonst würde ich nicht erst fragen.«

»Ich verfüge über unermeßliche, unerschöpfliche Schätze. Sagte ich nicht damals in der Kajüte so zu Ihnen?«

»Ach sooo!«

»Haben Sie das nicht sehr merkwürdig gefunden?«

»Ja. Allerdings.«

»Das freut mich, daß Sie das gleich so zugeben. Dadurch beweisen Sie, daß ich mich auch sonst Ihnen rückhaltlos anvertrauen darf –«

»Bitte, Frau Neubert –«

»Nein, Sie müssen mich anhören. Ich brauche jemanden, dem ich mich einmal offenbare, ich muß es unbedingt. Darf ich?«

»Ja. Dann haben Sie allerdings auch in mir den richtigen Mann gefunden.«

»Ich weiß, weshalb Sie mit dem ersten Maschinisten das Duell gehabt haben. Ich weiß was er vorlesen wollte. Er hätte es ruhig können. Ich weiß auch, was man sonst über mich spricht, über mich denkt. Es ist mir gleichgültig, oder vielleicht doch nicht so. Jedenfalls aber ist es mir gleichgültig, ob Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, den anderen mitteilen: ich habe auf der Neuyorker Bodenkreditbank zwei Millionen Dollars stehen, mit vier Prozent, mir zur freien Verfügung. Genügt das, um solch ein Schiff wie dieses zu unterhalten?«

»Mit jährlich rund 350 000 Mark? Na sicher!« lachte ich, und ich muß gestehen, daß es wirklich ein überaus erleichterndes Lachen war, denn ich hatte mir doch schon manchmal etwas Sorge gemacht.

»Wissen Sie, weshalb ich Ihnen dies mitteile?«

»Ja.«

»Mein Volk – meine Leute sollen wissen, daß das nicht nur einmal so ein schöner Traum ist, sondern daß die ganze Sache festen, sicheren Bestand hat. Die Bodenkreditbank ist totsicher, eben deshalb zahlt sie auch nur für Amerika so außerordentlich niedrige Zinsen.«

»Wünschen Sie, daß ich es Ihrem Volke mitteile? Bitte, sprechen Sie nur immer von Ihrem Volke, zu dem auch ich mich zähle.«

»Ja. Es ist mir doch nicht so gleichgültig. Aber tun Sie es natürlich in anderer, angebrachterer Weise, als wie ich es Ihnen sagte. Jeder Mann, der zu mir hält, soll wissen, daß ich auch für später für ihn sorgen werde. Wenn ich darüber auch noch nichts Näheres beistimmt habe.«

»Ich werde es tun, Frau Patrona.«

»Ich danke Ihnen, Herr Waffenmeister. So will ich nun gleich weiter über mich berichten, dies allerdings nur Ihnen.«

Und ehe sie mir irgend ein Versprechen abgenommen hatte, fuhr sie fort:

»Helene Hartung. Eine Hamburgerin. Meinen Vater, einen kleinen Kaufmann habe ich als Kind kaum kennen gelernt. Wir waren zwei Geschwister, Richard und ich. Wir lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Richard war zuletzt – das heißt, bis sich die Verhältnisse total änderten – Steuermann, ohne seinen Zuschuß hätten wir gar nicht auskommen können; trotzdem mußte meine Mutter noch vermieten, Zimmerherren nehmen. So kam einmal – es ist nun sechs Jahre her, – ich war damals siebzehn – ein älterer Herr zu uns, aber noch rüstig. Edward Powell aus St. Louis. Sprach perfekt Deutsch, nur mit amerikanischem Akzent. Hatte, wie wir dann erfuhren, ein Kapital von 50 000 Mark, von dessen Zinsen er in Hamburg recht gut leben konnte, nicht aber in Amerika.

Unser Gartenhäuschen gefiel ihm und er blieb bei uns in voller Pension. Es war ein feiner, freundlicher, nobler, alter Herr, wenn er auch seine – Schrullen hatte. Er ging fast nie aus. Am liebsten hatte er mich um sich. Das Verhältnis wurde immer inniger. Das heißt wie zwischen Vater und Tochter. Sonst brachte er keine Änderung in unsere bescheidenen Verhältnisse, meine Mutter ließ sich die Pension nach den üblichen Preisen bezahlen, sonst durfte nichts angenommen werden, da gab es bei meiner Mutter nichts. Ich durfte kein Tüchelchen annehmen, kein Täfelchen Schokolade, für das ich mich nicht durch Früchte aus dem Garten revanchieren konnte.

So verging ein Jahr. Ich war achtzehn geworden. Da machte mir ein junger Mann, sehr gut situiert, eifrig den Hof. Das konnte der alte Herr nicht vertragen. Er war schon immer schrecklich eifersüchtig auf mich gewesen, wir hatten es bisher nur nicht so gemerkt, zumal da ja auch gar kein Grund vorlag.

Kurz, als er merkte, daß mir jener andere ganz gleichgültig war, daß ich aber wahrscheinlich eingewilligt hätte – denn in dieser Hinsicht war ich trotz meinen achtzehn Jahre noch ein vollkommenes Kind – machte er mir ohne weiteres einen Heiratsantrag.

Bei meiner Mutter nicht daran zu denken. Wegen den 50 000 Mark? Nicht für 50 Millionen. Der sechzigjährige Mann!

Da aber sagte ich, daß ich da doch auch ein Wort mitzusprechen habe. Ja, ich wollte ihn heiraten. Ich liebte ihn. Freilich wie eine Tochter den Vater, aber das müßte so sein beim Heiraten, dachte ich. Und ich bestand darauf! Den Onkel Edward oder keinen andern!

Na, da gab meine Mutter auch sehr schnell nach. Wie Du’s treibst, so hast Du’s. Wenn Du es durchaus willst, das ist etwas ganz anderes.

Also Hochzeit gemacht. Eine ganz stille. Überhaupt ging es nur bis zum Standesamt bis zur Kirche und zurück. Auf der Heimfahrt wurde mein nunmehriger Gatte im Wagen unwohl, er wurde als Leiche herausgetragen. Ein Herzschlag hatte seinem Leben ein Ziel gesetzt!«

Die Erzählerin machte eine Pause.

Und nun konnte ich mir in ihren Zügen, in ihren Augen etwas erklären. Eine jungfräuliche Frau!

»Beamte kamen,« fuhr sie dann fort, »seine versiegelten Papiere wurden geöffnet, gleich stellte sich auch ein Hamburger Notar ein. Da erfuhren wir es sofort. Edward Powell hieß eigentlich Eduard Paul Neubert, ein geborener Deutscher, aber amerikanischer Bürger, ansässig in Neuyork, und – – ein sechsfacher Millionär! In Dollars! Daß er hier einen anderen Namen geführt, hatte nichts zu sagen. Ich war seine rechtmäßige Gattin. Außerdem war sein Testament regelrecht gemacht, bei jenem Notar, schon für mich als seine Frau. Zwei Millionen für wohltätige Zwecke und Legate, die anderen vier Millionen für mich.

Und nun begann es. Aber nicht etwa das Glück, das die Menschen sonst immer mit dem Gelde in Verbindung bringen. Ganz das Gegenteil.

Mit einem Male hatte der Tote, der mehr als 30 Jahre als einsamer Sonderling gelebt, eine ganze Menge Verwandte. Hatte sie ja auch wirklich, besonders in Deutschland – alle gar nicht so schlecht gestellt, die jetzt das Testament und meine Erbberechtigung anfochten.

Ich will es nicht des Längeren schildern, wie es uns ergangen ist. Die Ehe überhaupt ungültig, da er mich ja unter einem anderen Namen geheiratet hatte. Der alte Herr sollte unzurechnungsfähig gewesen sein. Erbschleicherei. Meine Mutter eine Kupplerin, ich eins Dirne. Erdrosselt, vergiftet sollte ich ihn im Hochzeitswagen haben. Es wurde tatsächlich Anklage gegen mich bei der Staatsanwaltschaft erhoben!

Genug! Nur eines noch: meine Mutter, kerngesund, frank und frei, eine echte Hamburgerin ist aus Gram darüber gestorben! So wußten uns jene lieben Verwandten fernerhin jeden Bissen zu verbittern und zu vergiften!«

Wieder eine kleine Pause, und sie war begreiflich.

»Aber es war nichts dagegen zu machen!« fuhr sie fort. »Ich war seine rechtmäßige Gattin, jetzt Witwe, und für den normalen Geisteszustand des Erblassers sprach am besten sein erst vorgestern aufgesetztes Testament. Doch immerhin, der Anfechtungsprozeß schwebte nun einmal, deshalb erhielt ich zunächst nur den Pflichtteil, den dritten Teil, aber von den sechs Millionen, indem nun auch die Legate zurückbehalten werden mußten, also zwei Millionen Dollars.

Nun endlich konnte ich meinen Traum verwirklichen! Was das für ein Traum war, das wissen Sie ja. Ein Schiff haben, ach, mein eigenes Schiff, als freie Seekönigin über mein Seevolk herrschen, ein Volk von Seehelden – na Sie wissen ja, ich habe es Ihnen schon einmal vorgeschwärmt.

Denn diesen Traum hatte ich schon als Kind geträumt. Ich war von jeher ein sehr, sehr phantastisches Kind gewesen. So ganz unerfüllbar war meine Sehnsucht ja auch nicht. Einmal würde mein Bruder doch Kapitän werden, dann nahm er mich natürlich mit. Freilich wäre das ja etwas ganz anderes gewesen, kein eigenes Schiff, keine freie Seekönigin – aber immerhin für mich hätte das schon genügt, so immer an Bord leben zu können.

Und dabei war ich für das Seeleben ganz und gar ungeeignet! Ich konnte nicht bis nach Cuxhaven fahren, ohne fürchterlich seekrank zu werden. Und das wollte sich auch nicht ändern. Ich habe dann später ja weite Seereisen gemacht, war aber immer und ununterbrochen seekrank gewesen, fürchterlich! Das ging so bis vor einem halben Jahre. Halten Sie so etwas für möglich?«

»Ja warum denn nicht?« entgegnete ich. »Der Erdumsegler Cook ist bekanntlich ebenfalls fortwährend seekrank gewesen – seetoll, sagen wir.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Gewiß, das ist bekannt genug. Sobald das Schiff stampfte, wurde er seetoll. Immer wieder. Umsomehr ist seine Energie zu bewundern. Übrigens gibt es alte Seebären genug, wetterfeste Kapitäne, die, sobald der Wind umspringt, das Schiff in einem anderen Takte zu stampfen und zu schlingern beginnt, seetoll werden, nach allen Regeln der Kunst – ihren Magen umkrempeln, wollen wir uns zart ausdrücken.«

»Ja, sehen Sie, so war es bei mir. Na, dachte ich, wenn ich erst mein eigenes Schiff habe, das ist doch etwas ganz anderes. Ich werde doch nicht auf meinem eigenen Schiffe seekrank werden.

Also zuerst mein eigenes Schiff gekauft. Das heißt für meinen Bruder. Denn der machte doch selbstverständlich mit. Wenn der auch durchaus nicht so phantastisch veranlagt ist wie ich. Aber wir beide hingen in innigster Liebe zusammen, es war doch ganz selbstverständlich, daß der nun gleich sein eigenes Schiff bekam, auf dem verwirklichte ich dann meine Pläne.

Ich bemerke nachträglich, daß mein Bruder schon vor einem halben Jahre geheiratet hatte, eine Jugendgespielin, also auch eine Freundin von mir. Sie wohnte bei uns im Hause, in einem Zimmerchen. Weiter reichte es doch bei dem Steuermann nicht, der sogar manchmal, wenn er keine Heuer bekam, als Matrose fahren mußte. Doch sie gehörte ja überhaupt mit zu uns.

Zuerst mußte ich wegen der Erbschaftsangelegenheit einmal nach Neuyork. Das war ja gleich der Prüfstein. Ach, fürchterlich! Das herrlichste Wetter, zehn Tage lang die See glatt wie ein Spiegel, und ich zehn Tage lang im Sterben liegend! Sobald ich festen Boden unter den Boden hatte, war es vorbei.

Mein Bruder rüstete das Schiff aus, machte unterdessen sein Kapitänsexamen, kam nach, um mich abzuholen. Seine Frau war mit an Bord, sollte darauf bleiben. Also auf meinem eigenen Schiffe probiert. Vielleicht war es nur das Zittern durch die Schraube, was ich nicht vertragen konnte. Es wurde gesegelt. Fürchterlich, fürchterlich! Gleich wieder umkehren! Ich wäre wirklich gestorben.

Da gab ich die Hoffnung auf, ich konnte nicht einmal mehr ein Schiff sehen, ohne gleich seekrank zu werden.

Ich ging auf Reisen. In Amerika. Ich konnte doch nicht wieder fort von Amerika. Ich habe Amerika bereist von Kanada bis nach Patagonien und wieder zurück, mehr zu Pferd, als per Eisenbahn. Dann riskierte ich es doch, nach einem anderen Erdteil zu fahren, nach Asien, nach China hinüber, per Schiff, der Landweg über Alaska und Sibirien war mir doch etwas zu umständlich, ich wartete das schönste Wetter ab, kam ja auch glücklich hinüber, aber wie!

Ich bereiste China, Indien, kam bis nach Konstantinopel. Immer zu Land. Ich wurde seekrank, wenn wir nur über einen Strom setzten. Meine Sehnsucht blieb freilich. Dann wollte ich mir wenigstens eine Insel zulegen, eine Inselkönigin werden. Allein ich konnte nicht einmal den Anblick des Meeres, nicht der stillsten See vertragen. Mir wurde sofort übel.

Na, dann blieb nur noch eine Art von Inseln übrig, eine Wüsteninsel, eine Oase. Dort wollte ich endlich mein Ideal verwirklichen. Ich setzte von Konstantinopel nach Skutari über, ließ mich für diese kleine Gondelfahrt chloroformieren. Dann weiter durch Kleinasien und Palästina nach Ägypten. Ich ging gleich bis zum Khediven, bis zum Vizekönig, offenbarte ihm meinen Wunsch. Ein liebenswürdiger Mann. Er wies mir die Oase el Dragga an, nur drei Stunden von Kairo entfernt, vier Quadratkilometer, ein paradiesisches Fleckchen Erde. Natürlich mußte ich sie den dort wohnenden Beduinen abkaufen, hatte schwer zu bezahlen.

Dort habe ich ein Jahr gehaust. Ich will nicht schildern, was wir da alles getrieben haben. Wir – nämlich ich mit meinen Getreuen, die ich während meiner Weltreisen nach und nach um mich versammelt hatte. Sie haben sie ja vor sich. Lauter Originale, die tüchtigsten Männer, und außerdem – ich bin schwer, schwer betrogen worden – nämlich in Geldsachen – als Entschädigung dafür hat Gott mich immer die treuesten Herzen finden lassen!

Außerdem sammelte ich noch Tiere. Hiervon möchte ich noch sprechen. Ich bin von Kind an die größte Tiernärrin gewesen. Viel durfte ich mir ja zu Hause bei unseren bescheidenen Verhältnissen nicht leisten. Wenigstens mußte das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden werden. Hühner, Tauben, Kaninchen – die waren angebracht. Auch ein paar Truthühner, einige Enten und Gänse zum Mästen. Von einem Schweine wollte zu meinem Bedauern meine Mutter durchaus nichts wissen. Und ich hatte die kleinen, süßen Ferkelchen doch so gern, ach so gern! Als Luxus waren nur weiße Mäuse erlaubt. Und einige Eidechsen und kleine Schildkröten. Und immer ein paar Dutzend Laubfrösche. Na und natürlich ein paar Katzen. Die Steuern für mein Hündchen sparte ich mir von der Butter ab. Ach, es war eine glückliche Zeit!«

Traumverloren blickte sie vor sich hin, glückselig lächelnd.

Und mir stieg es wieder einmal siedend heiß zum Herzen empor.

»Können Sie denn nun begreifen, wie man solch eine Tiernärrin sein kann?« fragte sie mich dann.

Ja, das konnte ich. Und wenn alle Menschen nur ein klein wenig von dieser Tierliebe besäßen, dann sähe es auf der Erde schon ganz bedeutend besser aus!

Dabei aber war sie ganz frei von Sentimentalität. Ihre Liebhaberei artete nicht etwa zur Manie aus. Denn Tiere vergöttern, so wie es besonders alte Jungfern machen, das kann ich nicht leiden, obgleich ich solchen alten Jungfern daraus keinen Vorwurf machen will. Aber leiden kann ich es nicht. Und so etwas gab es bei unserer Patronin nicht! Nicht etwa, daß sie Katzen und Hunde mit ins Bett nahm, sie von ihrem Teller essen ließ und so weiter und so weiter. Hier war der Mensch, und dort war das Tier! Wenn die Köter uns bei der Arbeit im Wege waren, und sie wollten nicht weichen, und wir hatten die Hände voll, dann bekamen sie einen Tritt, und die Patronin sah es und sagte kein Wort. Ich kam einmal gerade dazu, wie ein Windspiel sie böswillig in die Hand gebissen hatte und wie sie selbst das Tierchen nach allen Regeln der Kunst eigenhändig verkarbatschte, daß die Haare flogen.

»Ich hatte schon während meiner Reisen meiner Tierleidenschaft gefrönt!« fuhr die Patronin fort. »Jedes besonders schöne Tier mußte ich haben. Denn wenn ich solch ein Tier sehe, dann – nein, ich will gar nicht erst davon anfangen. Also ich richtete in meiner Oase eine Menagerie ein.

Unterdessen fuhr mein Bruder Richard als Kapitän und Patron seinen eigenen Dampfer. Wohl hatte er darauf seine Frau, die kleine Ilse war an Bord geboren – aber sonst gab er sich nicht mit solcher Phantasterei ab. Er fuhr als Handelskapitän, nahm zum Teil Fracht auf eigene Rechnung, ich stellte ihm natürlich jedes gewünschte Kapital zur Verfügung, er machte Bombengeschäfte – hat zuletzt allerdings auch schwere Verluste gehabt.

Vor anderthalb Jahren kam er nach Alexandrien, suchte mich in meiner Oase auf, denn er hatte mir etwas sehr Wichtiges mitzuteilen. Wissen Sie, Herr Waffenmeister, was ein Gaukler ist? Einen Seegaukler meine ich. Ein Mann, ein Seemann. Wissen Sie, was man da unter Gaukler verstehst?«

Na und ob ich das wußte!

Wer das Handwerksburschenleben kennt, das sogenannte Kundenwesen, der weiß, daß es auf den Herbergen ewige »Pennbrüder« gibt, von denen jeder sein Patentchen hat. Oder vielmehr seine Erfindung, zu deren Patentierung er nur 60 Mark braucht, und er sucht den, der die ihm leiht, mit dem will er dann die zukünftigen Millionen teilen, und so lange er die nicht hat, lebt er vom Fechten und Bettelbriefschreiben.

Genau dasselbe findet man im Seemannswesen, nur noch in viel großartigerem Maßstabe. Da sind es aber nicht Erfindungen, sondern Wracks, gesunkene Goldschiffe, die in den Köpfen von verlotterten Matrosen spuken, die sich am Hafen und bei den Heuerbaasen herumtreiben. Oder an einsamer Küste und auf weltverlassenen Inseln mächtige Lager von Elfenbein oder Schildkrot oder Perlmutter oder Ambra und dergleichen. Hauptsächlich aber doch immer gesunkene Schiffe mit unermeßlichen Schätzen, deren Lage sie kennen. Aber die brauchen nicht nur 60 Mark zum Patentieren, sondern gleich ein ganzes Schiff.

Diese Schatzgräber des Meeres werden Seegaukler genannt oder einfach Gaukler. Es hat ja viel damit zu tun, daß Gaukler doch überhaupt unsichere, fahrende Leute sind, die alles andere lieber tun als arbeiten – eben Gaukler! – Es kann auch von etwas anderem abgeleitet werden.

Also ich wußte recht gut, was ein Gaukler, ein Seegaukler ist.

»Mein Bruder hatte solch einen Seegaukler kennen gelernt, der auf dem Meeresgrunde unermeßliche Schätze liegen wußte. Aber, Herr Waffenmeister, nun sagen Sie nicht etwa gleich wie mein Huckebein: »Ach herrjeeesens, ach herrjeeesens!« Mein Bruder hatte doch von der Pike auf gedient, hatte doch seine Erfahrung. Wie jeder sein eigenes Schiff fahrende Kapitän und jede Privatjacht mit geheimnisvollen Angeboten von solchen Gauklern überschwemmt wird, das wissen Sie doch. Ach, was hatte mein Bruder für Briefe und Besuche bekommen, sobald es bekannt wurde, daß er sein eigenes Schiff fahren würde! Was sind die Schätze Salomos gegen die, welche ihm solche zerlumpte Individuen anboten, einer immer mehr als der andere nach Branntwein duftend!

Nein, diese Gauklerei kannte mein Bruder. Er ist im Gegensatz zu mir ein ganz nüchterner, überaus praktisch denkender Mensch. Aber was ihm da angeboten wurde, das war etwas ganz anderes, obgleich es auch von so einem zerlumpten und verlumpten Subjekt kam.

Cornelius Grant, ein Holländer, ehemaliger Kapitän. Er behauptete, zu wissen, wo vor 300 Jahren die »Desolation« des Flibustierkapitäns van Horn in der Magalhaesstraße gescheitert sei, oder wahrscheinlich von dem Seeräuber mit Absicht versenkt. Wissen Sie, was dieses Seeräuberschiff damals für Schätze an Bord führte?«

»Na, so genau weiß ich das nicht,« entgegnete ich, »ich habe nur Geschichten darüber gelesen und auch einmal eine glaubwürdige Chronik. Der van Horn soll ja in den Küstenstädten von Chile, Peru und Mexiko unermeßliche Beute gemacht haben. Denn damals war das in den Tempeln vorgefundene Gold noch in Unmenge vorhanden, die spanischen Goldschiffe waren ja, immer unterwegs, um es abzuholen, und nun dazu Edelsteine aller Art. Damals waren ja die schönsten Edelsteine in Spanien gar nichts mehr wert. Jetzt haben sie die Klöster und Kirchen. Dort strotzt ja alles von Diamanten und Rubinen und Smaragden. Und das Volk verhungert.«

»Die »Desolation« hatte mehr als 20 Tonnen Gold an Bord, nach heutiger Berechnung, die Tonne zu 20 Zentner. Wissen Sie, wieviel das in Geld ist?«

»Nun, das läßt sich leicht berechnen. Das Pfund Feingold kostet heute wohl ungefähr 1050 Mark. 20 Tonnen? Das wären also rund 40 Millionen Mark.«

»Und dazu noch Edelsteinschätze in untaxierbarer Menge. Dort liegen sie.«

Die Patrona deutete mit der Hand in die tiefstehende Sonne, in das öde, wilde Felsenland hinein.

»So, da liegen sie!« wiederholte ich. »Wo denn da?!«

»Cornelius Grant besaß einen Situationsplan, auf Pergament gezeichnet, wahrscheinlich von dem Seeräuber-Kapitän selbst.«

»Wie ist er dazu gekommen?«

»Das verriet er nicht.«

»So, hm. Hat Ihr Herr Bruder die Zeichnung gesehen?«

»Ja. Flüchtig. Der alte Holländer gab sie nicht aus der Hand.«

»Und?«

»Aber Grant hat auch die Schätze selbst gesehen. In einer Bucht, in einer Tiefe von vielleicht 25 Metern unter Wasser, alles starrend von Goldbarren, und dazwischen flimmern die Edelsteine.«

»Warum hat er sie denn da nicht mitgenommen?«

»Weil Grant als Schiffbrüchiger hingekommen war, er hatte keine Mittel, sie zu heben. Und mein Bruder hat sie ebenfalls gesehen.«

»Ja?!!«

»Ja. Auch mein Bruder hat sie gesehen. Er war dort oder vielmehr hier. Hier in dieser Bucht hat auch er geankert, zwei Tage hat ihn Grant von hier geführt, nach jener Richtung dort. Ein fürchterlicher Weg. Im November vorvorigen Jahres. Also vor 14 Monaten. Da hat auch mein Bruder die Schätze auf dem Grund liegen sehen. Gold und Edelsteine.«

»Nun und?«

»Der alte Holländer gab die Karte nicht aus den Händen. Als sie dort an Ort und Stelle waren, beugte er sich weit über den Rand, hatte auch der mitgenommenen Rumflasche zu reichlich mitgesprochen – er stürzte in die Tiefe und zerschmetterte sich den Kopf. Jetzt war mein Bruder der Besitzer des Pergamentes.«

»Nun und?«

»Er machte sich auf den Rückweg. Ohne die genaue Zeichnung hätte er ihn niemals gefunden. Er hatte zwei Taucherapparate mitgenommen, aber sie wollten nicht funktionieren. Außerdem war das Schiff hoch versichert, außergewöhnlich hoch beladen – das wollte er erst in Sicherheit bringen, nach Neuyork. Der Sperling in der Hand war ihm lieber, als die Taube auf dem Dache.«

»Sehr richtig! Die Lage der Bucht hat er doch geographisch bestimmt?«

»Diese hier, ja. Auf den Weg durfte er keine Instrumente mitnehmen, der Holländer war zu mißtrauisch. Der Situationsplan genügt auch, um die Goldbucht zu finden, aber ohne sie ist es auch rein unmöglich. Es soll ein fürchterlicher Weg in dem Felsenlabyrinth sein.«

»Nun und?«

»Mein Bruder fuhr also nach Neuyork, beabsichtigte ein kleineres Schiff zu kaufen oder zu chartern.«

»Nun und?« mußte ich immer wieder aufmuntern, denn immer längere Pausen machte die Erzählerin, sie begann recht trübselig vor sich hinzublicken.

»Es sollte nicht dazu kommen.«

»Warum nicht?«

»Mein Bruder – ist – heute noch in – – Neuyork.«

»Krank?!«

»Nein. Er ist – in – Sing-Sing.«

»Waaas!?« stieß ich erschrocken hervor. »Im – im – im –«

»Sprechen Sie es nur aus. Im Zuchthaus.«

»Ja warum denn nur?«

»Wegen Mordes!« erklang es von immer bebenderen Lippen.

»Wegen jenes Holländers?«

»O nein. Am zweiten Tage in Neuyork – er wohnte in einem Hotel – am Abend hörte er im benachbarten Zimmer einen heftigen Wortwechsel – dann ein Röcheln und Stöhnen – mein Bruder hinüber – da lag ein Mann am Boden – daneben ein blutiges Schiffsmesser. – Wie mein Bruder noch entsetzt dastand, vielleicht geschrien hat, kamen andere Leute herein – da richtete sich der Sterbende noch einmal auf – – »Richard Hartung, Richard Hartung, er hat mich ermordet!« rief er aus, dann war er tot!«

»Ja, wer war denn der Ermordete, wie kam er zu der schweren Beschuldigung?«

»Er kannte meinen Bruder – mein Bruder ihn – ein Kapitän, unter dem mein Bruder früher einmal als Steuermann gefahren ist, der ihn niederträchtig behandelt hat, ihn schlug – gegen den mein Bruder eine schwere Drohung ausstieß, natürlich ohne an eine Ausführung zu denken – und jetzt erkannte ihn der Sterbende mit dem letzten Blick – nannte seinen Namen und beschuldigte ihn des Mordes!«

»O weh, o weh!!«

»Und die Waffe, mit welcher der Mord begangen wurde, war das Messer meines Bruders, er hatte es tags zuvor verloren, wußte aber nicht mehr wo?«

»O weh, o weh!!«

»Fünf Jahre schwere Arbeit auf Sing-Sing. Unvorsätzlicher Totschlag, begangen im heftigen Gemütsaffekt. Die mildernsten Umstände angenommen, die mildeste Strafe.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit dem Taschentuch, weinte. Dann war sie wieder gefaßt

»Als ich es erfuhr, reiste ich sofort nach Neu-york. Ich hatte keine Zeit mehr, seekrank zu werden. Ich habe Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um den Fall aufzuklären, um den wahren Mörder zu finden. Ich habe fast die Hälfte meines Geldes geopfert. Denn dabei wird man das Geld so schnell los. Alles vergebens. Alice, seine Frau, hat es nicht überleben können.«

Wieder eine lange Pause. Sie wurde gefaßter.

»Vor drei Monaten habe ich meinen armen Bruder zum zweiten Male auf Sing-Sing besucht, habe ihn längere Zeit unter vier Augen sprechen können. Es ist nicht so fürchterlich schlimm. Er hat sich gottergeben in sein Schicksal gefügt. Er wird ganz anständig behandelt, mit einer ihm zusagenden Arbeit beschäftigt. Er wird die vier Jahre ruhig aushalten. Ein Jahr wird er sicher geschenkt bekommen. Also nur drei Jahre noch. Was sind drei Jahre? Sie werden vergehen. – Ja, Herr Waffenmeister, und nun werden Sie wegen des Situationsplanes fragen, wegen des Schatzes, nicht wahr?«

Eigentlich nicht. Ich hätte es nicht getan. Es war mir peinlich, jetzt von Gold und Edelsteinen zu sprechen. Na, wenn sie es wollte, dann war das ja etwas anderes.

»Nun, wie ist es da mit der Zeichnung?«

»Die ist vorläufig für uns unerreichbar. Mein Bruder hatte sie in das Geheimfach seiner oder vielmehr einer Brieftasche gesteckt, einer roten, die er an jenem Schreckenstage gerade bei sich hatte, mit wenig anderen, unwichtigen Papieren darin.

Die Brieftasche wurde dem Verhafteten natürlich abgenommen, für den Verurteilten erst recht unter Siegel genommen. Mein Bruder hat versäumt, eine Kopie zu nehmen. Zu beschreiben ist gar nichts. Der Sträfling kann verlangen, daß das ihm Abgenommene dieser oder jener Person ausgeliefert wird. Also etwa mir. Dann aber werden die betreffenden Sachen noch einmal genau untersucht. In diesem Falle zum Beispiel auch die Brieftasche an den Nähten aufgetrennt, weil man doch schon an eine geheime Tasche denkt. Ich habe das Protokoll der abgenommenen Sachen gesehen, jedes einzelne Papier in der Brieftasche ist aufgeführt, nicht aber das Geheimfach mit dem Pergament. Es würde aber entdeckt werden, sobald man die Brieftasche fordert. Und nun hat der Holländer so viele englische Bemerkungen darauf geschrieben, daß man sofort weiß, worum es sich handelt. Es braucht nur eine Kopie, eine schnelle Photographie davon genommen zu werden, und der Betreffende könnte das Geheimnis für sich ausbeuten. Dieses Feuerland hier ist noch chilenisches Gebiet, nur der östliche Zipfel gehört zu Argentinien. Aber es handelt sich nicht um Strandgut. Die betreffende Bucht ist mit dem Meere direkt verbunden, es ist überhaupt Seegebiet, der Schatz liegt tiefer als drei englische Yards unter Wasser – also er ist vollkommen frei, er gehört dem, der ihn findet und ihn hebt. Ohne jede Steuerabgabe. Wir könnten die Brieftasche stehlen lassen, für Geld ist doch alles zu machen, aber so etwas werden wir doch nicht tun.«

»Gott bewahre!«

»Also warten wir, wie es mein Bruder auch gesagt hat, ganz ruhig die drei Jahre ab. Die Brieftasche liegt dort einstweilen ganz sicher.

So, mein lieber Herr Waffenmeister, nun wissen Sie alles. Und Sie sind der einzige, der davon zu wissen bekommen hat, werden auch der einzige bleiben.«

»Auch Doktor Isidor weiß nichts davon?!« entfuhr es mir.

»Der? Wie kommt denn der dazu?! Kein Mensch weiß darum! Nur mein Bruder, ich und jetzt Sie.«

»Ja wie komme denn ich dazu?«

»Na, nun hören Sie auf mit solch dummer Fragerei!« wurde sie wieder immer heiterer und daher auch burschikos. Oder soll ich Ihnen auch noch einen furchtbaren Eid abnehmen, daß Sie nichts verraten? Na dann denken Sie mal, Sie wären mein Huckebein – nu wees Knebbchen, nu wees Knebbchen! – Hahahaha, wäre das nicht gottvoll? Ja, nun muß ich Ihnen aber doch erst erzählen, wie ich überhaupt hierhergekommen bin.

Ja, ich habe schmählich viel Geld verpulvert, das stimmt. Erstens meine kostspieligen Reisen, meine sonstigen Liebhabereien – aber was man mir nun sonst noch alles abgeknöppt hat! Erstens meiner Gutmütigkeit, und zweitens, weil ich einmal spekulieren wollte. Au weh! Eine Goldmine in Yukatan, ein chinesisches Unternehmen, garantiert 50 Prozent Dividende – na, diese Herren Chinesen haben mir ihre Zöpfe nicht schlecht um die Ohren geschlagen! Ich will gar nicht sagen, wieviel ich da verloren habe, ich schäme mich. Und zuletzt hatte mein Bruder sich verspekuliert, ich mußte alle Verbindlichkeiten einlösen. Wenn man acht Millionen gehabt hat, und man hat nach vier Jahren nur noch drei, dann sieht’s doch schon etwas faul aus im Staate Dänemark –«

»Ja was ist denn nun aus den anderen beiden Millionen Dollars geworden?«

»Na warten Sie nur! Der Erbschaftsprozeß ging unterdessen immer lustig weiter. Na, diese amerikanischen Advokaten – gegen die sind ja unsere deutschen die reinen Waisenknaben! Achtzehn Parteien prozessierten gegen mich, fast nur aus Deutschland. Eigentlich war die Sache für sie ganz hoffnungslos. Die Sache wurde nur in die Länge gezogen. Meine Gegenpartei hatte einen Advokaten gefunden, der dafür bürgte, daß sie den Prozeß gewinnen würde. Also er bürgte für die Prozeßkosten.

Vor einem halben Jahre habe ich den Prozeß in letzter Instanz gewonnen. Meine Gegner hatten mehr als hunderttausend Dollars, rund eine halbe Million Mark, Kosten zu zahlen. Na, die hatten ja ihren Bürgen. Jawohl!! Da war das Kerlchen plötzlich verschwunden! Achtzehn Familien, bisher in ganz guten Verhältnissen lebend, waren plötzlich ruiniert. Was sollte ich da machen? Na da habe ich einfach die halbe Million bezahlt.«

»Für Ihre Gegner?! Das ist sehr, sehr edel von Ihnen!«

»Edel bin ich? Eine dumme Gans bin ich! Na lassen Sie nur. Wenn’s einem Spaß macht, warum denn nicht. Die Hauptsache aber ist, daß ich jetzt gegen die Seekrankheit gefeit war. Also mein Wüstenkönigreich aufgelöst, ein Schiff gekauft. In Noald war gerade ein passendes zu haben. Und da habe ich mal einen feinen Kauf gemacht, sage ich Ihnen! Das aller-, allererste Mal, daß ich bei einem Geschäft nicht übers Ohr gehauen worden bin. Ein Agent, der dann doch noch viel daran verdienen wollte, hat mir dann gleich noch 20 000 Pfund Sterling mehr dafür geboten.

Also jetzt endlich habe ich mein Ideal verwirklicht. Nun helfen Sie mir, es immer weiter auszubauen, mein lieber Waffenmeister. Nach drei Jahren holen wir uns hier das Gold und die Edelsteine ab, teilen alles in drei Teile und knobeln sie aus. Bis dahin fahren wir in der Welt herum, immer dorthin, wo der Himmel am blausten und die Sonne am goldensten ist. Jetzt aber vor allen Dingen an Bord zurück, ich habe einen riesigen Hunger!«

In heiterster Stimmung promenierten wir zurück. Als ich mich einmal umwandte, sah ich in einiger Entfernung von jenem Hügel den ersten Ingenieur, den Arm noch in der Schlinge, zwischen den Bäumen herumkriechen. Er suchte sich zu verbergen, was mir aber nicht weiter auffiel.

Anfang

Der Leser aber weiß nun schon etwas, was ich damals gar nicht ahnte.

Ja, hätten wir einen guten Hund mitgenommen, der keinen Lauscher in der Nähe duldete, uns wäre viel Leid und Verdruß erspart worden.


7.
KAPITEL. »IST DAS NICHT HERRLICH?«

Lieber Leser, nun will ich Dir etwas Herrliches erzählen, was wir dort unten im Lande der trostlosen Verzweiflung erlebten!

Der Anfang, die Einleitung dazu, ist freilich weniger herrlich.

Am nächsten Morgen, das prächtige Wetter hielt an, ließ ich meine Jungens einmal schießen, nach einer an Land aufgebauten Scheibe.

Na, was diese Matrosen, wenn sie nicht in der Kriegsmarine gedient haben, zusammenschießen!

Was die armen zur Ausbildung der Rekruten kommandierten Bootsmannsmaate und die Exerziermeister von der Infanterie dann mit diesen Matrosen durchzumachen haben, sobald es ans Schießen geht!

Das macht nämlich: alle Seeleute sind überreichlich weitsichtig, ebenso wie alle Wüsten- und Gebirgsbewohner.

Die unübertreffliche Schießkunst der Schweizer und Tiroler in der Gesamtheit ist bekannt. Die stellen ihr weitsichtiges Auge nach und nach durch die Erfahrung ein, die haben doch immer noch Berge zum Abmessen. Der Beduine lehrt es dem Sohne. Aber wer lehrt es dem Matrosen? Das kann nur der Unteroffizier machen oder bei Gelegenheit so einer wie sich.

Dann übernahm einer, der das englische Marinegewehr kannte, die Instruktion über die Waffe, zeigte, wie alles auseinandergenommen wird, dann war Gewehrputzen.

»Könnt Ihr nicht singen, Jungens?« fragte die Patrona. »Beim Gewehrputzen muß doch gesungen werden. Singt mal ein Seemannslied.«

Die Matrosen flüsterten zusammen, und dann begannen sie, so recht schön gedehnt, dabei nach der Patronin schielend:

Schieflein, Schieflein, Schieflein auf hooohem Meer, Schaukle, schaukle, schaukle egal mehr –.

Jetzt fingen die schon mit ihrem Matrosenhohn an!

»Kinder, das ist aber doch kein echtes Seemannslied!« merkte das auch die Patrona sofort. »Das singen vielleicht Süßwasserkarpfen, die sich einmal nach etwas Salz sehnen, aber doch keine Salzheringe. Könnt Ihr denn nichts anderes?«

Erst verdrossene Gesichter, dann begann einer ein richtiges Seemannslied, da stimmten sie auch alle freudig ein:

Un wenn ick dann nach Hamborg komm,
Da weet ick wat ick dau,
For fief Penn da koop ick mi een
An dee Eck von de Davidstraat
Oreh, oreh, oreh, oreh, oreh, oreh
, For fief Penn da koop ick mi een
An dee Eck chä von de Davidstraat.
In Hamborg in St Pauli
Da geiht dat lustik dau –.

»Na nun hört mal auf damit!« lachte die Patronin, und dann wandte sie sich an mich.

»War das ein sogenannter Schandy?«

»Nein, das war keiner.«

»Was ist denn das nur eigentlich, ein Schandy?«

»Ja, ein Schandy ist, was – was – was eben nur Matrosen singen können. Bei ihrer Arbeit, beim Segelreffen.«

»Kapitän Martin hat den Matrosen streng verboten, Schandys zu singen.«

»Das glaube ich schon!« mußte ich lachen.

»Ja warum denn nur?«

»Weil – weil – weil –«

»Aber ich habe die Matrosen im Hamburger Hafen so oft ihre Schandys singen hören, beim Ankerheben.«

»Das glaube ich schon. Aber haben Sie auch die Worte verstanden?«

»Nein, das allerdings nicht. Ist es denn nur gar so schlimm?«

Ja, wie sollte ich da eine Auskunft geben.

Was ist überhaupt ein Schandy? Eigentlich Shandy geschrieben.

Ich weiß es nicht. Es sind Matrosengesänge, allen germanischen Seeleuten eigentümlich, gleichgültig, ob sie deutsch, englisch, schwedisch, dänisch oder holländisch gesungen werden. Das Eigentümliche liegt in der Melodie. Unbeschreiblich. Auch nicht durch Noten wiederzugeben.

Ich will hier einmal einen Schandy in Hochdeutsch anführen, den aber kein Seemann kennt. Es war ein Versuch, den fürchterlichen Schandy in andere Bahnen zu lenken, ihm doch wenigstens etwas Sinn zu geben.

Stolz weht Schwarz-Weiß-Rot an unserem Heck,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Drum segeln wir selbst übern Teufel hinweg,
Sing vallera ho, ho, ho, ho, ho, ho.
Sing vallera ho, sing vallera ho,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.

Drum lieb’n den Matrosen die Mädchen so heiß,
Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Ob schwarz ihre Haut, ob rot oder weiß –.

Und so weiter.

Das Ding ist ganz hübsch gemacht.

Nur schade, daß es kein Matrose singen will.

Denn dieser Schandy ist nicht echt, der ist künstlich gemacht worden, obgleich es die Melodie eines echten Schandys ist.

Aber die kann man ja hier nicht wiedergeben, und das geht überhaupt auch durch Noten nicht, auf keinem Instrument.

Der Tiroler hat sein Jodeln, und das muß man von Tirolern hören.

Auch der Seemann hat sein Jodeln, aber wieder ein ganz, ganz anderes. Er läßt die Stimme ebenfalls fortwährend überschnappen, aber wieder in ganz anderer Weise, es kommt immer ein Jauchzen dazwischen.

Es klingt fürchterlich!

Furchtbar scheußlich in geschlossenem Raume, und furchtbar prächtig dann, wenn der Schandy gesungen wird, wenn es daran ankommt, wozu er eben dient.

Das muß man hören, wenn die Kerls oben auf den Rahen stehen, im Sturm, wenn sie die Segel bändigen, und die wollen sich nicht bändigen lassen, und dann brüllt der Kapitän unten: »All Schandy, Boys!!« – und dann geht es dort oben taktmäßig los, brüllend, donnernd, jauchzend – und unten steckt alles die Finger in den Mund und pfeift dazu den Takt – so etwas kann man nur erleben!

Ich weiß woher der Schandy stammt. Ich ahne es wenigstens. Das ist noch ein altgermanischer Barritt!

Der Schlachtgesang, den die alten Germanen in ihre Schilder brüllten, wenn sie auf den Feind losgingen – der Barritt, den Tacitus nicht schrecklich genug beschreiben kann. –

Lassen Sie sich doch einmal einen Schandy singen!« bat mich die Patronin. »Es kann doch nicht so furchtbar sein. Ich gehöre doch mit zum Schiffe, ich kann schon etwas vertragen. Ich will einmal einen echten Schandy hören.«

»Na da singt mal einen, Boys. Aber nicht gerade einen so granatjen.«

»Schäll wi?« wurde geschmunzelt.

»Na ja, los!«

Und da mit einem Male verwandelten sich die bisher verdrießlichen oder spöttischen oder listigen Gesichter, da mit einem Male wurden sie alle ernst, sogar finster, drohend, die Augen nahmen einen ganz anderen Ausdruck an – und dann ging es los!

Die erste Strophe von jedem Verse wird vom Vorsänger gesungen. Wer das ist, das ist – höhere Inspiration, möchte man fast sagen. Irgend einer fängt plötzlich an, die anderen wissen es, ohne es ausgemacht zu haben. Dann fällt der Chor jauchzend ein. Jeder Schandy beginnt mit einem »Und« – wie in der Bibel – lang, lang ausgedehnt. Also da hieb einer an:

Uuuuund häst Du dee Lübecker Anna nich seeehn –.

Und brüllend und jauchzend fiel der aus 40 Mann bestehende Chor ein:

Sing vallera ho, ho, ho, ho.
Deeeeeee hädd ’n gewaltig – – – –

»Hö, hö, hö, hö!!« fing aber jetzt ich zu brüllen an, tödlich erschrocken, mit entsprechenden Armbewegungen herbeispringend. »Stop, stop, stop, stop!! Kerls, seid Ihr denn wahnsinnig?!«

Da brachen sie ab, selbst erschrocken. So blickten sie nach der Dame, nach der Patronin.

Verstehst Du denn, lieber Leser, was hier vorliegt?

Das läßt sich mit Worten gar nicht erklären.

Hier liegt ein psychologisches Geheimnis vor!

Man sage nur nicht etwa, daß die Matrosen rohe, gotteslästerliche, unflätige Menschen wären.

Ich kenne sie besser. Gerade das Gegenteil ist der Fall.

Aber verlange nur nicht, daß der Matrose, wenn er sich in schwindelnder Höhe mit wilden Segeln herumbalgt, Kirchenhymnen dazu singt. Und die Sache ist nämlich die, daß jeder in der Welt, der singen kann, das besingt, was er nicht hat, wonach er sich sehnt.

Das macht überhaupt die ganze Dichtkunst aus. Nur die Geliebte inspiriert den Dichter – hat er nichts mehr zu ersehnen, dann ist mit der Singerei vorbei. Deshalb schließen auch fast alle die Romane mit der Heirat. Dann ist Zapfen ab. Und so ist’s allüberall in der Welt. Gebt dem Kanarienvogel ein Weibchen in den Käfig und er hört auf zu singen.

»Ja was war denn?« fragte die Patronin verwundert. »Warum lassen Sie die Matrosen denn nicht weiter singen?!«

Ach Gott, die hatte in ihrer Unschuld noch nicht verstanden, jetzt wollte die auch noch Aufklärung haben!

Mit einem Male wandte sie sich jäh um, schlenkerte mit den Fingern, daß es knallte, und ging schnell davon.

Der kleine Zwischenfall war beendet. Ich ließ meine Matrosen aber keine Schandys mehr singen, nicht an Land, nicht beim Gewehrputzen.

Das war natürlich nicht das Herrliche, woran ich in der Kapitelüberschrift vorbereitete. Aber die Einleitung dazu war es doch gewesen. –

Gleich darauf marschierten wir ab: die Patrona, ich, Peitschenmüller, Mister Tabak und Simson. Wir wollten eine Expedition ins Innere machen, würden wahrscheinlich einige Tage ausbleiben.

Simson war ein Neger, einer von den »Exklikusen«, der deshalb so hieß, weil er eben ein Simson war, ein riesenhafter Herkules. Dafür mußte er aber auch das zusammengelegte Boot aus Segeltuch tragen, doch ein ziemliches Gewicht, und sogar noch anderes mehr, was für den aber gar nichts zu sagen hatte. Es war ein professioneller, sogar geborener Lastträger.

Wir anderen hatten die übliche Jagdausrüstung, in der Jagdtasche kompakte Nahrungsmittel für vier Tage, auf dem Rücken einen kleinen Schlauch – aber aus Leder – mit je sechs Liter Inhalt. Mit Ausnahme Mister Tabaks. Der Eskimo hatte heute einmal seine Badehose mit einem Sportkostüm vertauscht, in dem er mir erst recht merkwürdig vorkam, sonst aber hatte er nichts weiter bei sich als zwischen den Zähnen die qualmende Fuhrmannspfeife. Allerdings hatte auch er sich verproviantiert, aber gleich im Magen, hatte zum Frühstück seine fünf Pfund Speck verzehrt.

»Hier ist Ihr Wasserschlauch.«

»Ach, ich nehme kein Wasser mit. Was Sie mitschleppen, das wird auch schon für mich reichen.«

So hing er sich an den Gürtel nur noch eine Fischblase, zwei Pfund Tabak enthaltend, wie eine Bombe aussehend. Aber das wurde ihm auch noch zuviel.

»Seht mal, wie sich Simson freut, daß er wieder mal was tragen kann, wie der tänzelt!« sagte er gleich nach den ersten Schritten. »Na, die Freude will ich Dir machen – hier, mein lieber Simson, Du darfst meinen Tabaksbeutel tragen – da bin ich nicht so.«

»Na, Jungens,« rief die Patronin, als wir abrückten, »wenn wir wiederkommen, dann könnt Ihr mir vielleicht was anderes vorsingen.«

»Ay, ay, Capitana!« lachte Oskar der Segelmacher zurück.

Ich habe über unsere Expedition, die nach Südwesten führte, nicht viel zu berichten. Eben ein nacktes, fürchterlich zerrissenes Felsengebiet, durchzogen von zahllosen Wasserkanälen, manchmal so schmal, daß wir darüber springen konnten; manchmal breit genug, um einige große Dampfer nebeneinander durchzulassen.

Langsam, ganz langsam kamen wir vorwärts. Fortwährend mußte das Segeltuchboot benutzt werden.

Ich will nur eine einzige Unterhaltung wiedergeben, und zwar eine, die Mister Tabak mit mir begann. Der Eskimo konnte überhaupt bei Gelegenheit sehr redselig werden.

»Gibt es hier Pferde?« wandte er sich also an mich.

»Nein. Wie sollen die denn hier fortkommen?«

»Es gibt hier aber doch auch Weideland.«

»Ja, das ist hier aber im Winter viel zu kalt, auch für wilde Pferde, so abgehärtet die auch sein mögen!«

»Ich habe aber gehört, daß es in Patagonien sehr schöne Pferde geben soll.«

»In Patagonien, ja. Das ist aber jenseits der Straße. Und dann doch mehr nach dem Norden hinaus, also wo es schon wieder etwas wärmer ist im Winter.«

»Es sollen sehr, sehr schöne Pferde sein.«

»Ja, die patagonischen Pferde sind berühmt. Wunderbare Schweife und Mähnen, auch sonst eine sehr dichte, prächtige Behaarung. Es ist eben schon mehr ein Pelz für den Winter. Aber sie sollen sich sehr schwer zähmen lassen. So schwer wie das afrikanische Zebra, wenn da auch einmal Ausnahmen vorkommen.«

»Sind es sehr große Tiere?«

»Das allerdings weiß ich nicht.«

»Haben Sie in Deutschland schöne Pferde?«

»O gewiß.«

»Große, starke Tiere?«

»Alle Sorten.«

»Auch solche dicke Holländer?«

»Jawohl, auch.«

»Die sind mir die liebsten. Wenn ich solch einen mächtigen, dicken Holländer sehe, da kann ich mich begeistern.«

»Sind Sie so ein großer Pferdeliebhaber, Mister Kabat?«

»Na und ob! Wenn ich einmal träume, dann träume ich nur von Pferden.«

»Reiten Sie gern?«

»Ich? Nee. Ich habe noch nie auf einem Pferde gesessen.«

»Wie kommt es denn da, daß Sie so ein großer Pferdeliebhaber sind?«

»Ja, ich weiß selbst nicht – wenn ich so ein recht schönes, edles Pferd sehe, da – da – da wird mir immer gleich ganz anders.«

Da wandte die vor uns gehende Patronin sich lachend um.

»Irren Sie sich nur nicht, Herr Waffenmeister – der interessiert sich und schwärmt nur für Pferde, weil er sie so gern ißt! Das ist ein Liebhaber von Pferdefleisch!«

Ach soo!!

»Ja,« setzte dieser Pferdeliebhaber auch noch erklärend hinzu, »wenn ich so ein recht schönes, edles, dickes, gutdurchwachsenes Pferd sehe, dann, dann, dann – läuft mir immer gleich das Wasser im Maule zusammen. Rippenstück ist mir beim Pferde das liebste. Das esse ich fast so gern wie Froschkeulchen. Und dann hinten der Steert und vorn die Schnauze. Wenn die Patrona vielleicht auch nüber nach Patagonien geht, will ich sehen, ob ich so einen Gaul totschmeißen kann. Dann will ich Ihnen mal einen Pferdemaulsalat vorsetzen – einen Pferdemaulsalat, sage ich Ihnen –«

Und Mister Tabak schnalzte und leckte mit der Zunge.

Am Abend wurde zwischen Felsblöcken gelagert. Als über uns weg eine Wildente flog, vielleicht in einer Höhe von 40 Metern, bückte sich der Eskimo, nahm einen wallnußgroßen Stein, warf – und die Ente kam herab, mit zerschmettertem Brustkasten.

Es war mir nichts Neues. Ich hatte nun schon oft genug gesehen, wie er Möven im schnellsten Fluge traf. Aber immer wieder mußte ich staunen. Wie er so nachlässig den Stein aufhob, wie er warf, dabei mit der linken Hand seine Pfeife nachstopfend – es war nicht anders, als wenn unsereiner so die Zigarrenasche abschnippst.

Es war ein großes, schweres, überaus fettes Tier. Wir hatten einen Apparat und genügend Spiritus mit uns. Aber mit dem Braten, mit dem Rösten über der Flamme war es doch nichts. Und außerdem war das Tier so fett und von furchtbar tranigem Geschmack!

Nun, desto besser für Mister Tabak. Der verdrückte die ganze Ente sozusagen im Handumdrehen.

Am nächsten Morgen, sobald die Sonne aufging, gegen fünf Uhr, wurde die Wanderung fortgesetzt, immer noch in der Hauptrichtung nach Südwesten.

Daß wir die Goldbucht etwa so zufällig finden würden, daran glaubte die Patronin ja nicht, sie sagte es mir auch einmal bei Gelegenheit. Aber es war ganz gut, wenn wir uns hier schon etwas umsahen.

Immer noch ein prächtiger Tag. Wir hatten es hier einmal gut getroffen.

Es war gegen acht Uhr, wir dachten an das zweite Frühstück, als der vorausgehende Peitschenmüller, der gerade durch zwei hohe, nahe zusammengerückte Felsblöcke getreten war, plötzlich stehen blieb und die Hände erhob.

»Allmächtiger Gott!!«

Wenn dieser Mann erschrak oder nur so staunte, dann mußte es gewiß einen ganz besonderen Grund haben! Erblickte er etwa unter sich in einer Wasserbucht den Schatz des Bukaniers?

Die Patrona sprang vor, ich ihr nach – und da standen auch wir vor Staunen, nein vor Schreck ganz gelähmt da! Nein, kein Goldschatz war es, den wir erblickten. Ein Schatz allerdings war es vielleicht dennoch, den wir da gefunden hatten. Vielleicht auch nicht. Da lag zwischen zackigen Steinen gebettet, nur von wenig Wasser umspült, ein mächtiger Dampfer! Ein Wrack! Aber kaum als solches gekennzeichnet. Ganz aufrecht gebettet, wie im Dock. Daß auf Steuerbordseite die Eisenplanken eingedrückt waren, das war von hier aus nicht zu sehen.

Nur die beiden Masken waren am Fuße abgesplittert. Aber überhaupt ein Wrack schon dadurch, daß er zwischen Steinen lag, nur noch mit dem Kiel im Wasser. Wenn man bei solchen Eisenkasten, die mehr die Form eines Backtroges haben, um möglichst viel Ladung nehmen zu können, überhaupt noch von einem Kiele sprechen darf.

Es sieht scheußlich aus, solch ein großer Dampfer auf dem Trockenen. Ja, nicht nur traurig, sondern scheußlich!

Wer so etwas noch nicht gesehen hat, dem kann man es auch nicht beschreiben, weshalb.

Ein gestrandeter großer Walfisch sieht traurig aus. Ein vollkommen aufs Trockene gesetztes großes Schiff, womöglich so aufrecht wie hier, macht einen noch viel, viel niederschlagenderen Eindruck auf den, der für so etwas Empfindung hat.

Es war ein Dampfer von wenigstens 4000 Tonnen. Das ist so die normale Größe der Ozeanfrachtdampfer. Und wie sich hinten die gewaltige, scheinbar ganz unbeschädigte Schraube herausreckte! Tot! Noch vielmehr als tot! Der gestrandete Walfisch erfüllt noch immer seinen Zweck. Aber dieser Dampfer hier hatte seinen Zweck so total verfehlt, auch dieses Wrack brachte noch immer Jammer über Jammer in die Welt, vielleicht weinende Witwen und Waisen, mindestens furchtbare Enttäuschungen.

Genug! Wir hatten überhaupt jetzt keine Zeit, solche Reflexionen anzustellen.

»Arkadia – Aberdeen!« las ich am Heck. Also ein Engländer.

Er lag dicht hinter den Felsen, hinter denen wir hervorgekommen waren, kaum 20 Schritt. Von uns entfernt, wir brauchten nur über die Steine zu balancieren. Wie hatte sich denn dieser Riesenkasten hier hereingequetscht?! Er konnte doch nicht meilenweit über Land geschusselt sein.

Na, davon erst mal abgesehen, da kann in solchen Gebieten, die weder Land noch Wasser sind, noch etwas anderes passieren, diese Frage wollen wir später aufwerfen.

Nichts Lebendiges. Von den sechs Booten fehlten vier, sie waren mit den Davits offenbar regelrecht ausgeschwungen worden.

Alles so schrecklich und doch so friedlich im goldenen Morgensonnenscheine.

Und da – da plötzlich erschollen Töne!

Töne, wie ich sie nie wieder gehört habe.

Wenigstens nicht in solch einer Situation, in solch einer Stimmung.

Bald glaubte ich ein Harmonium zu hören, dann war es unbedingt wieder ein Klavier, dann schwoll es mächtig wie eine Orgel an, dann klagte es wieder wie ein Violoncello, und dann hörte ich wieder ganz deutlich eine Harfe.

Und das rauschte und sang und klagte und donnerte und weinte – jetzt mit mächtigem Klange, jetzt wieder leis und süß.

Ich bin nicht musikalisch. Empfänglich wohl für Musik, sehr sogar, aber nicht selbst musikalisch. Ich pfeife sogar immer daneben.

Ich will es gleich sagen: es war eine Bachsche Fuge, gespielt von Meisterhand auf einem Clavicembalo – einem Instrument, das man jetzt wieder aus der Rumpelkammer hervorholt und sich staunend fragt, wie man solch eine Schönheit jemals vergessen konnte. Doch davon später mehr.

»Waffenmeister,« flüsterte da die Patrona ganz entgeistert, »was ist denn das?!«

Ich konnte keine Auskunft geben, ich war nicht weniger entgeistert. Ich gehörte nicht mehr dieser Erde an.

Ich war plötzlich in den siebenten Himmel entrückt. Und sogar Mister Tabak – der hatte sogar seine Pfeife aus den Zähnen genommen, um dafür sein Maul recht weit aufsperren zu können, als höre er mit diesem – obgleich seine Elefantenohren groß genug waren.

Er war aber auch der einzige, der uns Auskunft geben konnte.

»Da macht jemand Musike.«

Na, nun wußten wir’s endlich.

Also vorwärts, über die Steine balanciert!

Die »Musike« kam offenbar aus den offenen Bollaugen des Kajütenaufbaues heraus. Da konnten wir nicht hineinblicken das war zu hoch. Ein Fallreep hing herab, wir kletterten hinauf. Die Töne währten fort. Leise öffneten wir die Kajütentür.

Ach, dieser Anblick, verstärkt noch durch den Sonnenschein der von oben durch das Skylight hereinfiel. Die Sonnenstrahlen gaben wie die goldene Umrahmung ab.

In der Ecke stand ein Klavier, langgestreckt wie ein Flügel, aber doch wieder ganz anders, und davor saß, vom Sonnenlichte umflossen, uns die Seite zukehrend, ein kleines, buckliges Männchen in einem hartmitgenommenen Schlafrock, elegant mit Fetträndern garniert, die Füße in Fragmenten von Filzpantoffeln, die Strümpfe hackenlos – und spielte.

Anfang

Und es rauschte und jubelte und klagte und jauchzte und weinte unter seinen geläufigen Fingern, und dann kam der Schluß noch einmal mächtig anschwellend und dann süß, und leise endend, und dann drehte der kleine Bucklige sein Gesicht zu uns herum, die wir schon mitten in der Kajüte standen, ein blasses, hageres, elendes Gesicht mit großen, braunen, schönen, herrlichen, mächtigen Augen, und mit einem sanften Lächeln sagte er zu uns:

»Ist das nicht herrlich? So etwas hat doch nur ein Johann Sebastian Bach schaffen können.«

Leser, kannst Du Dich in diese Situation versetzen?

Hier im Südzipfel Amerikas, im trostlosen Feuerlande, im Lande der Verzweiflung, dessen Bewohner ihr höchstes Ideal in Talglichtern sehen – finden wir ein verlassenes Wrack, da drin wird eine Bachsche Fuge gespielt, von einem buckligen Männchen im Schlafrock und Pantoffeln, es dreht sich um und fragt uns ganz gemütlich: »Ist das nicht herrlich?«

Dann freilich kam die Reaktion. Aber immer noch nicht so, wie sie hätte eigentlich kommen müssen.

Er stand auf, griff sich erst an den Hals, versuchte sein offenes Hemd zu schließen, was ihm nicht gelang, weil kein Knopf dran war, versuchte mit der anderen Hand gleichzeitig seinen Schlafrock zu schließen, an dem aber ebenfalls weder Knopf noch Heftel noch Band war, so hielt er wenigstens alles krampfhaft fest, außerdem versuchte er noch abwechselnd seine Füße einen hinter dem anderen zu verstecken, wegen der Löcher in den Strümpfen, und so sagte er mit errötender Verschämtheit, sagte es wie vorhin deutsch:

»Ach entschuldigen Sie nur, ich bin noch nicht angezogen.«

Aber nicht etwa, daß wir darüber lachten oder doch eine Komik empfunden hätten! Durchaus nicht. Wir waren noch in ganz, ganz anderer Stimmung.

»Ja wer sind Sie denn?!« fand zuerst die Patrona die Sprache.

»Hämmerlein ist mein Name – Reinhold Hämmerlein – Emil Gustav Reinhold Hämmerlein aus Amsterdam.«

Ich will es nicht ausführlich schildern, wie sich die Sache weiter entwickelte, bis er seine Verlegenheit überwunden hatte. Dann konnte er auch ganz fließend sprechen und sachlich berichten, der kleine bucklige Mann, dessen Alter gar nicht zu taxieren war. Entweder war es das faltige Gesicht eines kranken Kindes, oder das jugendliche Antlitz eines Greises. Aber nun diese Augen! Das waren echte Kinderaugen. Und sie erzählten noch viel, viel mehr. Ihr Besitzer gehörte nicht dieser Erde an, der lebte in seiner Welt für sich, schon hier im Himmel. Vor elf Wochen hatte die »Arkadia« in London als Hauptsache Bleirohre geladen, hatte noch einmal Amsterdam angelaufen und einige Fracht genommen, hatte die Fahrt nach Guayaquil angetreten, dem Haupthafen des Staates Ecuador.

Vor sieben Wochen hatte der Dampfer die Magalhaesstraße passiert. Am Nachmittag war Springflut gewesen, die sich aber in dieser Meeresstraße erst einige Stunden später bemerkbar macht, und zwar kommt die gewaltige Strömung dann von beiden Seiten hereingeschossen. Am Abend undurchdringlicher Nebel bei furchtbarer See. Ja, was soll man da machen bei solchem Nebel in einem Gebiet, von dem man nur eine schmale Fahrstraße kennt? Stilliegen kann der Dampfer nicht, sonst ist er ja nicht zu steuern. Kapitän Scammy ließ Viertelkraft fahren und ununterbrochen loten. Es war seine Pflicht, aber Zweck hatte es nicht. Bei solcher See, wenn die Wogen so toben, da ist schwer zu loten, die wahre Tiefe zu ergründen, da kann man sich gleich einmal um hundert Meter täuschen, und der mit dem eingetalgten Lote heraufgeholte Meeresgrund sagte nichts, den kennt man hier nicht außerhalb der Fahrstraße. Rechts voraus donnerte eine Brandung. Stimmte, das waren die Kaskkassia-Riffe. Also mehr nach Backbord gehalten.

Aber dabei befand sich der Dampfer schon ganz am Südrande der Straße, das war die Brandung in einem südlichen Kanal! Der Kapitän konnte es nicht wissen. Also immer weiter in die südlichen Straßen hinein, mitten hinein zwischen die Klippen und Riffe!

Da ein Knirschen des Kiels, noch einmal freigekommen, die Brandung, furchtbar verstärkt von der Springflut, schleuderte den Dampfer noch einmal vorwärts – dann saß man fest für immer.

Am nächsten Morgen war das schönste Wetter, da konnte man sich alles beschauen. O weh, wo war man hingekommen!

Als wir uns dann die Umgebung besahen, fanden wir das alles erklärlich. Wir hatten wohl meist festen Boden unter den Füßen gehabt, nur immer über Kanäle setzen müssen – hinter diesen Felsen aber lag ein offenes Wasserbassin, unübersehbar, einfach das freie Meer. Und zur Zeit der Springflut hatte auch diese Bucht dazu gehört, in der jetzt der Dampfer so gut wie auf dem Trockenen lag.

Hoffnungslos festgerannt! Ach, wie kann man da überhaupt noch von »hoffnungslos« sprechen. Wenn ein Schloß am Meere durch einen Bergrutsch ins Wasser plumpst, dann liegt es eben drin, da kann man doch auch nicht »hoffnungslos« sagen.

Also die nötigen Boote zu Wasser gebracht und davongerudert, um sich als Schiffbrüchige aufnehmen zu lassen. –

So hatte Emil Gustav Reinhold Hämmerlein berichtet, nur ausführlicher, sachlicher, viele Einzelheiten schildernd.

»Ja und Sie?« fragte die Patronin.

»Ich bin hier zurückgeblieben.«

»Weshalb denn?!«

Wieder wurde das Männchen etwas verlegen oder sogar sehr, es errötete wie ein kleines Mädchen.

»Ich – ich – wollte nicht mit – der Kapitän redete mir immer zu, aber ich wollte nicht – die Leute wollten mich mit Gewalt mitnehmen – da versteckte ich mich – man fand mich – ich sagte dem Kapitän, daß ich nicht mitkönnte – und da – da – gab er es auf. Da bin ich hier zurückgeblieben.«

»Ja weshalb denn nur?«

»Weil – weil – ich bin Orgelbauer – die »Arkadia« hatte in Amsterdam eine Orgel mitgenommen – für Guayaquil – oder vielmehr für Quito – ich sollte sie dort montieren –«

Die Patronin blickte nach dem Instrument, dem er solch wunderbare, mächtige Töne entlockt hatte. »Dort die Orgel?«

»O nein. Das ist ein Clavicembalo. Nein, unten liegt eine Orgel verpackt – mit – mit 5000 Pfeifen und 64 Registern – sie ist für Quito bestimmt, für die neue Kirche – und – und – ich habe sie selber gebaut – mit meinem Vater – schon – schon mein Großvater hat daran gebaut – und – und – ich kann doch meine Orgel nicht im Stiche lassen –«

Schüchtern und verlegen hatte es das Männchen, das erst so fließend sprechen konnte, hervorgestammelt, mit demütigem Lächeln immer wie um Entschuldigung bittend, daß es überhaupt geboren war. Und da plötzlich ging mir eine Ahnung auf!

Da aber mußte ich erst einmal das Examen übernehmen.

»Was kostet die Orgel?«

»10 000 Pesos.«

»Das sind rund 40 000 Mark. Ist das schon bezahlt?«

»Ei freilich, das mußte im voraus bezahlt werden.«

»Ist die Orgel Ihr Eigentum?«

»O nein,« erklang es noch verschämter, »ich – ich bin doch nur Angestellter bei Godfroys, sollte die Orgel doch nur in Quito montieren.«

»Sie haben keinen Anteil daran?«

»Was denn für einen Anteil? Ich – werde doch für diese Arbeit sehr gut bezahlt –«

»Sie sind nun schon sieben Wochen hier auf dem Wrack?«

»Ja, sieben Wochen werden’s nun schon sein.«

»Ganz allein?«

»Ja, aber – aber –«

»Aber was?«

»Ich habe doch genug zu essen –«

»Werden Sie abgeholt?«

»Abgeholt? Nei– – nein – ich glaube nicht –«

»Hat Ihnen der Kapitän vielleicht gesagt, daß Sie abgeholt werden – Sie und natürlich erst recht die Orgel.«

»Nei– – nein – der Kapitän hat mir gleich gesagt, daß hier niemand wieder herkommt – weil – weil – doch alles versichert ist die Orgel doch natürlich auch – und – und – wenn ich wollte, dann könnte ich ja hier bleiben – aber – aber – für mich tun könnte er nichts mehr –«

Ich will hier gleich etwas erledigen, was doch einmal erwähnt werden muß, zumal es für uns noch eine so große Rolle spielen sollte: das Bergen von herrenlosem Seegut und das Versichern von Schiff und Ladung.

Was herrenloses Seegut anbetrifft, so sieht es in der Welt noch viel romantischer aus, als ich es jemals in einer phantastischen Erzählung gelesen habe. Ungeheure Schätze harren überall nur des Abholens.

Nach der letzten Statistik gehen jährlich von europäischen und amerikanischen Seeschiffen durchschnittlich 246 Dampfer und 772 Segler verloren, meist durch Strandung. Der Wert der Ladung beträgt rund zwei Milliarden Mark. Also jährlich! Das häuft sich doch immer mehr an! Und die meisten Schiffe liegen als Wrack irgendwo am Strand.

Na nun fahrt mal hin und holt die Milliarden ab! In Gestalt von Waren der verschiedensten Art, die doch nur zum kleinsten Teil ganz unbrauchbar werden.

Wenn ein Dampfer von 3000 Tonnen seinen Bauch mit brasilianischem Kaffee gefüllt hat – good average Santos, die billigste Sorte – so entspricht das nach heutigem Marktpreis einem Werte von genau zwei Millionen Mark, indem 100 Kilo im Speicher von Santos 66 Mark 50 Pfennig kosten. Das Pfund 33 Pfennige. Bei uns ist er beim Kaufen freilich teurer.

Der Dampfer liegt als Wrack an der Küste Argentiniens fest und sicher zwischen den Klippen, er wird noch nach Jahrzehnten so daliegen, jeder kann hinfahren und sich die Kaffeesäcke abholen.

Ich fahre mein eigenes Schiff, bin in Sydney, will nach San Franzisko. Die Versicherung für Schiff und Ladung wird immer von Fall zu Fall, von Hafen zu Hafen abgeschlossen. Über die Höhe der Versicherungsprämie ist absolut nichts zu sagen. Weshalb nicht, werde ich später erklären.

Ich habe mein Schiff in möglichst kürzester Zeit – ich gebrauche diesen doppelten Superlativ mit Absicht – von Sydney nach San Franzisko zu bringen. Unterwegs sehe ich an einer Koralleninsel ein großes Wrack. Was geht mich das Wrack an? Ich habe mein Schiff nach San Franzisko zu bringen. Aber es reizt mich, ich untersuche es. Es ist nichts des Mitnehmens wert, oder das Ausladen ist zu beschwerlich. Ich fahre weiter. Mein Aufenthalt dort hat nur zwei Stunden gewährt. Natürlich muß das ins Logbuch, ins Schiffsjournal eingetragen werden. Da steht jedes Wörtchen unter Eid. Vertusche ich nur eine Minute und es wird mir nachgewiesen, dann komm ich ins Zuchthaus.

Vor San Franzisko wird mein Schiff gerammt, es geht unter.

Ich bekomme keinen Pfennig Versicherung ausgezahlt!

Weshalb nicht?

»Ja, siehst Du, wenn Du Dich dort unten nicht zwei Stunden bei dem Wrack aufgehalten hättest, dann wärest Du zwei Stunden eher hier gewesen, wärest also nicht gerammt worden. Was hattest Du Dich denn bei dem Wrack aufzuhalten?«

So ist es!

Man wirft mit der Wurst nach dem Schinken. Nun könnte man ja sagen, wenn mir später nichts passiert wäre, hätte ich mich nicht dort zwei Stunden aufgehalten, dann wäre ich vor San Franzisko gerammt worden. Ganz schön und gut, solch eine starke Glaubensfrömmigkeit, solch ein Glauben an das Walten einer göttlichen Vorsehung – aber mit so etwas läßt sich die Geschäftswelt nicht ein. Nur das Resultat entscheidet. Ich habe mich zwei Stunden unnütz dort aufgehalten – Schiff und Ladung und bezahlte Versicherungsprämie sind futsch!

So, nun fahrt einmal hin und nehmt Wracks aus! Das kann man nur mit unversichertem Schiffe. Dann wirft man aber doch erst recht mit der Wurst nach dem Schinken!

Etwas anderes ist der Beistand in Seenot. Aber hinwiederum ist das auch ganz, ganz anders, als man sich das gewöhnlich vorstellt. Man glaube nur nicht etwa, daß das allein so aus christlicher Nächstenliebe geschieht. Wohl geschehen auf See jeden Tag Heldentaten, von denen die übrige Welt nichts erfährt – aber berappt muß alles werden! Das heißt der Reederei, der das helfende Schiff gehört. Zeit ist Geld, jede Stunde, die man bei der Rettungsarbeit versäumt hat, muß bezahlt werden. Und bei den großen Passagierdampfern geht das in die Tausende pro Stunde! Das wird genau auskalkuliert und einem Schiedsgericht vorgelegt.

Es gibt Seeversicherungsgesellschaften, aber der Hauptsache nach versichern die Reeder unter sich auf Gegenseitigkeit national und auch international. Der Verlust wird also gemeinschaftlich getragen, es wird jährlich abgerechnet. Das geht prozentual nach den Tonnen. War der verlorene Kaffeedampfer mit drei Millionen Mark versichert gewesen, mein Schiff hätte tausend Tonnen, so wäre ich, wenn Deutschland drei Millionen Tonnen auf hoher See schwimmen hätte, was auch so ziemlich stimmt, mit tausend Mark an jenem Verluste beteiligt. Ginge also einmal ein Jahr gar kein Schiff unter, käme keine Havarie vor, so hätte auch niemand etwas zu bezahlen, und Schiff und Ladung wäre dennoch versichert.

Außerdem nun: herrenlos ist Strand- und sogenanntes freies Seegut überhaupt nicht. Es gehört immer noch dem Besitzer, mag es auf einsamer Klippe auch so lange liegen wie es will. Dem bergenden Schiffe gehört nur der dritte Teil des Wertes, es kann diesen behalten oder weiter verkaufen, der Besitzer hat das Recht des Verkaufs. Von diesem Drittel, also vom ganzen Bergegeld, erhält die Hälfte der Reeder, ein Viertel der Kapitän, das letzte Viertel wird unter die Mannschaft prozentual nach der Höhe ihrer Heuer verteilt.

Über diese Art der Verteilung wird in Seemannskreisen, das heißt in den unteren, viel geschimpft. Es wäre die größte Ungerechtigkeit. Wie kommt die Reederei dazu, die ganze Hälfte einzustecken? Die Matrosen sind es doch, die ihr Leben riskieren und sich beim Umladen plagen müssen.

Ich habe eine stark demokratische Ader, aber ich kann da kein Unrecht erblicken. Die Reederei riskiert bei so etwas ihr ganzes Schiff, denn mißlingt es, dann erhält sie nicht die Versicherung. Und der Kapitän riskiert sein Patent, deshalb ist ihm ein ganzes Viertel recht wohl zu gönnen. Steuerleute und Matrosen aber riskieren nichts, nur ihre Knochen, die haben sie so wie so jeden Tag einzusetzen, dafür werden sie bezahlt, sonst müssen sie eben zu Hause hinterm Ofen bleiben, und wenn dann jeder tausend oder auch nur hundert Mark bekommt, so kann er recht wohl damit zufrieden sein. –

Also dieser Dampfer hier war samt seiner Ladung – einfach hops!

Wegen der Bleirohre kam kein anderes Schiff in diese Klippengegend. Oder dann hätte man auch den Eisenkasten in Trümmern schlagen können, um die Eisenspalten mitzunehmen und sie anderswo wieder zusammenzuleimen. Und dasselbe galt von der Orgel. Die war mit 2000 Pfund Sterling versichert, die Kirchengemeinde von Quito erhielt sie ausbezahlt, und damit basta!

Und was hatte denn das alles in der Versicherung des Welthandels zu bedeuten? Genau soviel, als wenn ich hundert Mark in der Tasche habe, und ich verliere davon einen Groschen. Aufheben tue ich ihn ja, das stimmt. Aber ist er in eine Schlucht gefallen, so klettere ich deshalb doch nicht etwa hinab, riskiere meinen Hals, und hat er sich in einer Dielenritze verkrümelt, so reiße ich deswegen doch nicht den Fußboden auf. Genau dasselbe Verhältnis lag hier vor.

Das war es, was ich hier des längeren habe ausführen müssen, wofür ich um Entschuldigung bitte. Viel lieber hätte ich ja einfach gesagt, wir hätten ein Wrack gefunden und alles eingesackt, und dann wären wir so weiter auf die Wracksuche gegangen. So wäre es vielleicht auch von anderer Seite erzählt worden. Ich aber kann das nicht, weil ich mich sonst in Unmöglichkeiten bewegen würde, jeder Seemann oder sonstige Sachverständige, der es liest, würde mich ja auslachen.

Und das alles wußte auch die Patrona ganz genau. Sie konnte einmal Fensterchen anstatt Bollaugen sagen, aber gerade in solchen Seeverhältnissen wußte sie, wie ich schon einmal gemerkt hatte, vielleicht noch besser Bescheid wie ich, das hatte die theoretisch studiert. Die internationalen Bestimmungen über das Bergen, und was damit zusammenhängt, umfassen eine recht stattliche Bibliothek.

»Der Kapitän hat Ihnen nicht gesagt, daß Sie von hier abgeholt würden?« wiederholte auch die Patronin noch einmal meine Frage.

»Nein. Melden wollte er es ja, das mußte doch auch ins Journal geschrieben werden, daß ich hier allein zurückbliebe, aber – aber – Hoffnung könnte er mir nicht machen.«

»Ja wie lange wollten Sie denn da hier bleiben?«

»Nun bis – bis – ach, ich habe ja so viel zu essen hier – und auch Trinkwasser – und dann regnet’s doch auch einmal, da fange ich Wasser auf –«

»Sie wären wegen Ihrer Orgel einfach bis an Ihr Lebensende hier geblieben.«

»Ja – ja – ich kann doch meine Orgel nicht im Stiche lassen –«

Hilfeflehend wanderten die schönen, braunen Kinderaugen im Kreise herum.

Der glaubte nämlich, wir verständen ihn nicht, und es uns begreiflich zu machen, darauf verzichtete er von vornherein.

Und wir verstanden ihn doch so gut, so gut! Wenigstens die Patronin und ich. Wahrscheinlich auch der Peitschenmüller, der blickte auch mit so eigentümlichen Augen auf das kleine bucklige Männchen. Von Simson war das ja nicht zu verlangen, noch weniger von Mister Tabak.

Hut ab!

Wir standen hier vor einem Helden!

Es gibt Helden des Schlachtfeldes, es gibt Helden und noch mehr Heldinnen am Krankenbett. Es gibt Helden der Kunst, der Wissenschaft, der Arbeit. Es gibt aber auch Helden, deren Heldentum sich überhaupt gar nicht klassifizieren läßt. Helden irgend eines Ideals.

Solch einen Helden hatten wir hier vor uns, einen ganzen Helden vom Scheitel bis zur Sohle.

Wir sagten ihm aber keine Komplimente, wir fingen von etwas anderem an, ließen uns noch Näheres berichten.

Dann besichtigten wir das Schiff, stiegen in den Laderaum.

»Hier ist die Orgel.«

Alles in handlichen Kisten verpackt, gut verstaut, nichts beschädigt.

Sinnend stand die Patronin davor.

»Ist da auch wirklich alles vorhanden, was dazu gehört, Herr Hämmerlein?«

Alles, alles vorhanden, bis zum letzten Stiftchen, konnte dieser versichern.

»Der Blasebalg?«

»Das ist jetzt eine Rotationspumpe, ein Gebläse. Dort ist es verpackt. Für Motor- oder auch für Handbetrieb.«

»Waffenmeister, ich habe eine Idee!« wandte sie sich dann hastig an mich.

»Ich weiß, schon, was für eine!« lächelte ich.

»Was wäre das für eine?«

»Sie lassen sich die Orgel in Ihr Schiff einbauen.«

»Himmel noch einmal – Herr Hämmerlein, wäre das möglich?!«

Da plötzlich begannen die großen, braunen Augen noch mehr zu leuchten, als sie es schon immer taten.

»Sie haben ein Schiff?«

»Mein eigenes Schiff.«

»Wie groß?«

»Noch größer als dieses.«

»Ach, so groß brauchte es gar nicht zu sein und ich habe schon einmal daran gedacht – wenn ich meine Orgel in solch ein Schiff einbauen könnte – und dann weit draußen auf dem einsamen Meere spielen – wie das klingen müßte –«

»Könnte? Es ist nicht möglich?«

»Sicher, warum denn nicht? Soviel Platz wird doch dazu gefunden werden, und das ist dann ja etwas ganz anderes als in der Kirche, da käme es gar nicht so auf die Berechnung der Akustik an, ich würde die Pfeifen sogar mit Absicht auf die verschiedensten, weit entfernten Räume verteilen, die langen Grundbässe würde ich in die Ventilationsröhren einbauen –«

»Halt, halt, halt!« unterbrach ich. »Frau Neubert, Sie können diese Orgel mitnehmen und können, wenn sie 40 000 Mark kostet, von dem Besitzer oder von dem Versicherer 13 333 Mark 35 Pfennige dafür verlangen. Wird Ihnen das nicht für die Rückgabe bezahlt, so können Sie die Orgel verkaufen oder verauktionieren lassen und von dem Erlös die Ihnen zufallende Summe abziehen. Aber Sie können die Orgel nicht annektieren, der rechtmäßige Besitzer kann sie natürlich zurückfordern –«

»Aber das tun die, Quitaner nicht!« fiel mir das Männchen ins Wort.

»Nein?!« rief die Patronin.

»Nein, die sind froh, wenn sie die Orgel wieder los sind. Diese Quitaner haben sich wie – wie – wie die kleinen Kinder benommen, die Weihnachten nicht erwarten können. Erst haben sie jeden Tag telegraphiert, ob die Orgel denn noch nicht fertig wäre, als sie kaum den Auftrag gegeben hatten, und zuletzt, wie sie schon eingepackt wurde, wollten sie die Bestellung rückgängig machen, sie hätten sich nun schon für ihre Kirche eine fertige Orgel gekauft, sie würde schon montiert. Aber bei dem alten Godfroy gibt es so etwas nicht, der schickte seine Orgel ruhig hin, mich zum Aufbauen mit –«

»Genug, genug!« jauchzte da die Patronin auf. »Die Orgel ist mir! Ja, Herr Hämmerlein – ich brauche doch nicht erst zu fragen, ob Sie auch Orgel spielen können – würden Sie die Orgel in mein Schiff bauen und mit mir kommen?«

»Auf Ihr Schiff?« bekam das Männchen noch einmal immer größere Augen.

»Es liegt nicht weit von hier. Eine Privatjacht, – wenn auch größer als dieser Dampfer hier. Ursprünglich eine Kriegsfregatte. Wir fahren in der ganzen Welt herum, nur zu unserem Vergnügen, und wo es uns auf dem einsamen Meere am besten gefällt, da bleiben wir liegen, so lange es uns beliebt. Wollen Sie mitkommen? Können Sie es oder sind Sie gebunden?«

»Ich bin ganz frei. Ach ja – ja – wenn ich das dürfte – mit meiner Orgel auf solch einem Schiffe –«

»Vorwärts, die Orgel wird abgeholt!« –

Nur noch eine kurze Besprechung, und es war entschieden, wie es gemacht wurde.

Juba Riata blieb mit Hämmerlein hier, wir anderen begaben uns nach dem Schiffe zurück, mit uns die Patronin – die zwar lieber hier geblieben wäre – hauptsächlich deshalb, um mit dem Kapitän zu sprechen, ob das Schiff nicht vielleicht noch näher herangeholt werden könnte. Ich hielt dies nicht für gut, wir wollten Gott danken, daß wir das unversicherte Schiff glücklich in einer geschützten Bucht liegen hatten, wollte aber da kein Wort dazwischen reden.

So rückten wir im Eilmarsch wieder ab. Und wenn nun jetzt ein anderes Schiff kam und von dem Wrack Besitz ergriff? Für diesen Fall hatte die Patronin erst ein Schriftstück ausgesetzt, von uns als Zeugen unterschrieben; Juba Riata behielt es. Gegenwärtig war sie Besitzerin dieses Wracks, nur daß auch der einzige noch an Bord vorhandene Passagier einiges Anrecht darauf hatte. Kamen jetzt andere Menschen und wollten Besitz von dem Wrack ergreifen, so begingen sie Hausfriedensbruch, konnten mit Waffengewalt zurückgetrieben werden.

Und wie lange währte dieses Recht für uns oder vielmehr für den Besitzer des Schiffes, zu dem wir gehörten, in dessen Brot und Lohn wir standen? Dafür gibt es eine ganz verzwickte mathematische Formel.

Ich habe schon gesagt, daß die Paragraphen über das Bergungsrecht eine stattliche Bibliothek ausfüllen. Für den, der nichts damit zu tun hat, erscheint das als eine schauderhafte Umständlichkeit. In Wirklichkeit ist nichts so klar und präzis als dieses internationale Bergungsrecht. Da kann keine Streitfrage mehr aufgeworfen werden. Es ist bedacht worden, daß auf dem Wrack noch ein Kind geboren werden kann, als Kind des Kapitäns, eines Matrosen, eines Passagiers, eines Schiffbrüchigen, der erst unterwegs an Bord genommen worden ist – nach Paragraph soundsoviel hat dieses Kind soundsoviel Eigentumsrecht an dem Wrack. Man macht manchmal Wetten, daß in dem Bergungsrecht dies und jenes vergessen sein müßte, an solch eine Kleinigkeit könne man doch nicht gedacht haben. Aber es ist nichts zu wollen.

Wieder zeigte sich Mister Tabak von einer anderen, staunenswerten Seite. Den Rückweg hätte ich schließlich auch gefunden. Aber nicht in fünf Stunden, wie der es fertig brachte. Wir waren ja bei dem Herweg viel im Zick-zack gewandert, um immer die besten Übergänge über die Kanäle zu finden. Jetzt ging es immer direkt gerade aus, und doch war es immer die denkbar günstigste Stelle, wo einmal das Segeltuchboot benutzt werden mußte. Gerade als ob dieser Eskimo hier zu Hause wäre.

Es war der Instinkt, den der Eskimo in den Schnee- und Eiswüsten seiner Heimat erworben hatte, und der ehemalige Harpunier hatte diesen Instinkt in der Waterstreet zu Neuyork nicht verloren. Ja, es war staunenswert, wie der uns führte, aber eben deshalb nicht zu schildern.

Wie wir die Matrosen unseres Schiffes erblickten, war es aber auch die höchste Zeit.

Schon längst war es von Nordwesten hier pechschwarz mit schwefelgelbem Saume heraufgezogen, in der Atmosphäre lag ein furchtbares Etwas, die Luft glich geschmolzenem Blei, war kaum noch zu atmen.

Trotzdem konnte die Patronin bei Anblick der Mastspitzen, denen sich bald auch der Rumpf zugesellte, noch jauchzen.

»Mein Schiff – ach, mein Schiff – und mein Volk!« jauchzte sie auf.

Wir kamen näher. Die Umgebung des Schiffes hatte sich insofern etwas geändert, als dort am Strande ein mächtiger Holzstoß aufgebaut war. Es hatte uns schon immer an Brennholz gemangelt, um wenigstens das Kombüsenfeuer immer anzuzünden (Kombüse gleich Küche), die Leute hatten unterdessen Bäume gefällt, sie zersägt und gespalten, eine recht schöne Pyramide aufgestapelt.

Jetzt begann es in der Ferne zu murren, gewetterleuchtet hatte es schon immer, ununterbrochen stand der Horizont, noch ohne daß ein richtiger Donner zu hören war, in Flammen, und das war gut für uns, denn wir hatten immer noch einige hundert Meter zu marschieren, und immer finsterer wurde es, es wurde pechfinstere Nacht, jetzt nachmittags um drei, ohne das Wetterleuchten hätten wir auf dem schwierigen Terrain den Weg nicht finden können.

Und was hatten denn diese Matrosen?!

Sie hatten am Ufer gestanden, nicht nur Matrosen, denn es waren wenigstens 50 Mann, also auch Heizer und andere, sämtlich – schon auf den Regenguß vorbereitet – in ihren wasserdichten Ölanzügen, den Südwester auf dem Kopfe – und wie sie uns kommen sahen, da stoben sie auseinander, aber doch alle mit ein und demselben Ziele, von allen Seiten das Schiff erklettert, das heißt sich über die Bordwand geschwungen, die Wanten erklommen, einige blieben in diesen hängen, andere kletterten wie die Eichkatzen noch höher, verteilten sich auf den untersten Rahen, aber immer nach dem Lande zu, uns zugekehrt, sie gruppierten sich – und da streckte Oskar, den ich an seinem roten Südwester erkannte, den Arm aus.

»Eins – zwei –«

Ich will es gleich erklären, ich muß es, wenn ich auch die Pointe vorweg nehme, aber es geht nicht anders, ich kann die Erklärung nicht erst hinterher bringen, dann bin ich nicht mehr fähig dazu.

»Na, Jungens,« hatte die Patrona gesagt, als wir gestern früh abgerückt waren, »wenn wir zurückkommen, dann könnt Ihr mir vielleicht etwas anderes vorsingen.« Sie hatte es gesagt, ohne sich irgend etwas dabei zu denken.

»Ay, ay, Patrona!« hatte Oskar der Segelmacher zurückgelacht.

Der aber hatte sich etwas dabei gedacht, oder doch gleich, als wir fort gewesen, war ihm die Idee gekommen. Der Bengel war musikalisch bis auf die Knochen, wenn auch ohne jede Ausbildung. Klavierspielen zum Beispiel konnte er ganz vortrefflich, ohne irgend eine Note zu kennen, und außerdem mußte ich bei seinem Spiel immer an einen wahnsinnigen Bären denken. So paukte er drauf los.

»Jungens, die soll uns nicht wieder verhohniebeln, der wollen wir mal zeigen, was wir Salzwasserratten alles können, der wollen wir mal was vorsingen. Vorwärts, jetzt freßt mal jeder ein Stück Kreide und dann ein paar Schluck Schmieröl draufgesetzt, so kann nämlich jeder Mensch ein Hofopernsänger werden, das ist meine eigene Erfindung.«

Und sie aßen Kreide und tranken Öl, nicht zu wenig, und dann nahm sie Oskar in die Dressur.

Was sollte gesungen werden? Etwas ganz Extraes mußte es sein.

Er hatte in seiner Kleiderkiste einen alten Lappen, ein in die Brüche gehendes Stück Papier, da drauf stand ein Gedicht, kein Name, von wem es war, keine Überschrift, das war schon abgefallen – aber Oskar hatte dieses Lied einmal von einem Männerchor singen hören – ein nordisches Heerfahrtslied, aus uralter Germanenzeit, Wikinger ziehen aus, um sich eine neue Heimat zu suchen, auf tobendem Meere spähen sie nach Land und die Melodie hatte Oskar noch im Ohr.

Jeder mußte es auswendig lernen, Oskar sang es vor und sang es immer wieder vor, spielte und spielte die Melodie auf einer Harmonika.

»Na los doch, Jungens, brüllt doch – brülle, Aujust, brülle – wenn Du den Text nicht kannst, Horitz, dann denkst Du einfach, Du hast eine Dynamitpatrone mit brennender Zündschnur in der Tasche stecken und brüllst vor Angst, das klingt auch ganz gut, so machen’s die Hofopernsänger alle –«

Und sie brüllten. Anderthalb Tag und vielleicht auch die halbe Nacht hatten sie es sich eingeübt, immer auf Ausguck stehend, daß wir nicht etwa kämen, und es wurde etwas daraus, es waren ja auch einige ganz gute Sänger darunter, die auch eine zweite Stimme konnten.

Und jetzt hingen sie im Ölrock und Südwester in den Wanten und standen auf den Reihen, jeder auf seinem Platze wie es einstudiert worden war.

Und da plötzlich sauste es heran in der Atmosphäre, noch finsterer wurde es, noch mächtiger flammte es am Horizonte auf, die bleierne Glut aber verwandelte sich plötzlich in eine schier eisige Kälte.

Und da begannen dort oben mehr als 50 rauhe Seemannskehlen donnernd zu brüllen, und dennoch war es eine jauchzende Musik:

Und das war Olaf Trikvason, Fuhr übers Nordmeer hin, Zu suchen sich ein Königreich –.

Und wie sie soweit sind, da plötzlich kracht und prasselt es vom Himmel herab, aus der schwarzen Wolke eine schneeweiße Wolke, haselnußgroße und noch größere Eisstücke – die dort oben lassen sich nicht beirren, die singen und brüllen weiter vom Olaf Trikvason und seiner germanischen Heldenschar – und da ein fürchterlich schmetternder Krach, eine Feuerschlange vom Himmel – und da plötzlich steht der große Holzhaufen in hellen Flammen – und ich stehe und starre und sehe plötzlich eine winterliche Eislandschaft, das ganze Schiff schon mit Eis überzogen, und dort oben in den Wanten und auf den Rahen die Wikinger, ihren Schlachtengesang brüllend.

Bis einer rief aus dem Volke: Was erglänzt dort in schwarzer Wolke?

Schwer lehnte sich die Patronin auf meinen Arm, und sie preßte ihn mit ihren feinen Fingerchen, daß es mich schmerzte.

»Georg – Georg – ist das nicht herrlich?!«


8.
KAPITEL. DIE GAUKELEI BEGINNT.

Der beste Weg nach dem Wrack war ausgekundschaftet worden, nicht der kürzeste, sondern es kam darauf an, die schmälsten Stellen der Kanäle zu finden, die mit Brettern überbrückt werden konnten – die Orgel befand sich an Bord der »Argos«, die 5000 Pfeifen wurden unter Hämmerleins Leitung von geschickten Händen montiert, in einer Weise, wie noch nie eine Orgel aufgebaut worden ist.

Die 5000 Pfeifen wurden allüberall im ganzen Schiffe verteilt, oben und unten in den drei Decks, hinten und vorn, die fast zehn Meter langen Bässe kamen richtig in die Ventilationsröhren hinein, von uns »Windtuten« genannt, aber auch überall wieder verteilt. Die Tastatur mit dem Registerwerk kam in die Kajüte, konnte auch beliebig anderswo aufgestellt werden, das Rotationsgebläse stand im Maschinenraum, die Windkästen wieder ganz anderswo, und das alles wurde durch Bleirohre, von denen wir ja genügend hatten, miteinander verbunden.

Was da noch herauskommen würde, wie da ein harmonischer Zusammenklang erzielt werden sollte, darauf war ich doch gespannt! Aber das kleine bucklige Männchen wußte schon, was es tat. Das kroch mit seiner Fiebe nicht umsonst im ganzen Schiffe herum, fiebte in jedes Loch und in jede Ecke hinein und lauschte dem Klange, dann die Pfeifen wieder anders verteilend.

Anfang

Auch sein Clavicembalo war an Bord gebracht worden, das er mitgenommen, um sich auf der langen Seereise die Zeit zu vertreiben, um den Genuß der Meeresfahrt zu verdoppeln. Da, wie es ankam, wurde das Männchen einmal etwas mitteilsam, überhaupt zugänglich. Denn sonst hatte es absolut nichts weiter im Kopfe als seine Orgel und im Munde seine Fiebe, und wenn man ihm zum zehnten Male sagte, er möchte zum Essen kommen, dann lächelte er einen glückstrahlend und traumverloren an und flüsterte: »Ja, ja, ich weiß schon die Labialpfeifen des Salicionals müssen mehr nach dem Schnarrwerk kommen und mehr auf Quinte gestimmt werden.«

Das Clavicembalo hat genau dieselbe Mechanik wie das alte Spinett, von dem ich aber nicht erst anfangen will, nur hat es mehr Oktaven und für jeden Ton mehrere Saiten, die mit Rabenkielen gerissen werden. Am Ende des 18. Jahrhunderts wurde es völlig vom Pianoforte, wie es noch heute ist, verdrängt, hat ein Jahrhundert vergessen in der Rumpelkammer gestanden, jetzt beginnt man es wieder hervorzuholen und steht staunend vor dem Wunder, was diesem Instrumente von Meisterhand für Töne zu entlocken sind. Einbürgern wird es sich freilich nicht wieder, für den Familiengebrauch ist es nichts. Wie bei der Violine muß das Instrument jeden Tag gestimmt werden, nach jedem Stücke, aber da kommen einige hundert Saiten in Betracht, und wer soll denn das machen. Das bringt nur einer fertig, der das musikalische Gehör in den Fingerspitzen hat. In der königlichen Instrumentensammlung zu Berlin steht noch das Clavicembalo von Sebastian Bach, von – so haben mir Sachverständige berichtet – einer orchestralen Wirkung, von der man sich keine Vorstellung machen kann, wenn man es nicht gehört hat. Es ist ein so kostbares Instrument, daß man es fast glauben möchte, daß der ehemalige Kantor der Leipziger Thomasschule an kalten Tagen im Bett liegen blieb, weil er keine Kohlen zur Feuerung hatte. Nun, er hat eben gedarbt, um sich dieses Instrument anschaffen zu können.

»Zeigen Sie uns doch einmal Ihre ganze Technik!« bat die Patrona Meister Hämmerlein, als er uns ein besonderes Stück auf dem Clavicembalo mit wunderbarer Geläufigkeit vorgespielt hatte. Was der nur überhaupt für Fingerchen hatte – wie aus Draht geflochten. »Das kann ich nicht auf diesem Instrument. Aber auf dem Klavier.«

Im Salon der Patrona stand ein Stutzflügel. Das Klavier im Klubraum der Mannschaft war von Oskars Fäusten schon ganz abgetrommelt worden, der Stutzflügel dagegen war – meiner Ansicht nach, und ich habe ein sehr feines Ohr, obgleich ich keinen Ton richtig wiedergeben kann – ganz rein gestimmt.

Aber das kleine Männchen holte erst aus seiner Rocktasche einen Klavierstimmer, wie unsereins aus der Westentasche den Zigarrenabschneider, stimmte erst das ganze Klavier um, und dann spielte er uns etwas vor.

Himmeldonnerwetter noch einmal!! Von Händen war überhaupt nichts mehr zu sehen. Von uns verstand ja kein einziger etwas Richtiges vom Klavierspiel, von der Musik; von der Kunst, auch die Patrona nicht, mochte sie sich auch von Rubinstein eine Stunde für tausend Mark etwas haben vorspielen lassen – wir waren mehr Zuschauer als Zuhörer. Für uns genügte schon zur Bewunderung, daß der entweder gar keine Hände mehr oder gleich drei Dutzend auf den Tasten hatte.

»Solch eine fabelhafte Technik!« rief die Patrona, als jener geendet hatte. »Sie müssen doch als Klaviervirtuose in jedem Konzertsaal auftreten können, anders habe ich es doch nicht von Anton Rubinstein gehört!«

»Wegen meiner Technik?« lächelte er bescheiden, ich bemerkte aber in seinen Augen etwas wie gutmütigen Spott. »Die vollendetste Technik, für die es überhaupt gar keine Schwierigkeit mehr gibt, ist heute ganz selbstverständlich, ist Voraussetzung. Allein auf das Innere kommt es an, auf die Seele des Spiels.«

»Aber die haben Sie doch gewiß auch!«

Traumverloren blickte er vor sich hin auf die Tasten.

»Ich hätte gar nicht die Kraft dazu, um öffentlich spielen zu können!« entgegnete er dann ausweichend, mit leiser Stimme.

Ja, man soll nur einmal den Arm von solch einem Klaviervirtuosen anfassen! Und statt Finger haben sie Nervenbündel, eben wie aus Draht zusammengeflochten. So ist aber der ganze Arm.

Und unser Schiff sollte noch viel musikalischer werden, wir alle selbst mit.

Die Firma Godfroy in Amsterdam baut nicht nur Orgeln, auch alle anderen Instrumente, hatte gleichzeitig eine große Sendung nach Quito gemacht, hauptsächlich Blech- und sonstige Blasinstrumente, aber auch Violinen und dergleichen, auch einige Leierkästen waren dabei.

Hämmerlein wußte natürlich darum, hatte uns aber noch gar nichts davon gesagt, eine geöffnete Kiste enthielt keine Orgelbestandteile, sondern Blechinstrumente, oben drauf lag eine Posaune.

»Aaaah, eine Saupone!« frohlockte Oskar, gleich danach greifend, machte schnell ein Bändsel dran, hing sie sich um, kletterte die Wante hinauf, von einer Rahe zur anderen, höher und immer höher, bis zur Skyrahe hinauf, setzte sich und fing dort oben im Himmel zu blasen an: Im tiefen Keller sitz ich hier –.

»Ach,« sagte die Patrona zu Hämmerlein als sie von der Instrumentensendung hörte, »wenn wir hier ein Orchester zusammenbringen könnten!«

»Warum denn nicht?« meinte Hämmerlein. »Instrumente sind genug da.«

»Ja das will aber doch gelernt sein, dazu gehört doch musikalische Begabung –«

»Ach wo! Jeder bläst so gut wie er kann. Das muß nur arrangiert werden. In einer Woche will ich ein Blasorchester geschaffen haben, das sich überall hören lassen kann. Natürlich nicht in einem Konzertsaal; aber sonst soll das tadellos klingen. Nur müssen sie auf meinen Takt passen, weiter ist nichts nötig.«

Und wieder ging’s los!

Die zweite herbeigeschaffte Kiste enthielt eine große Pauke. Wie die August der Starke erblickte, geriet er ganz aus dem Häuschen.

»Mir die große Pauke, die große Pauke gehört mir!«

Aber die bekam er nicht. Der hätte sie doch nur kaput gemacht, sie gleich eingehauen. Nachdem er sich in diese Abweisung gefügt hatte, wenn auch blutenden Herzens, begehrte er die Pikkoloflöte. Zwischen der großen Pauke und der Pikkoloflöte ist ja nun allerdings ein kleiner Unterschied, aber des Menschen Wille ist sein Himmelreich, er bekam das winzige Pfeifchen in seine ungeheuren Pfoten gedrückt. Doch wiederum war es nichts, er konnte sie unmöglich spielen – weil er mit jedem seiner unförmlichen Bratwurstfinger immer gleich drei Löcher auf einmal bedeckte.

Dann wählte sich August unter den anderen Instrumenten das mächtigste aus, das Helikon – die runde Posaune, kreisförmig gebogen, die man sich über Brust und Rücken hängt. Schade nur, daß er wiederum eine falsche Wahl getroffen hatte, weil er das Ding gar nicht über seine Schultern brachte, und wie er mit den Füßen anfangen wollte, brachte er es erst recht nicht über den Bauch.

Nun, so blieb August der Starke eben bei der einfachen Posaune, die paßte auch am besten für ihn.

Die große Pauke war überhaupt ein heiß umstrittenes Instrument, jeder wollte sie haben. Da aber trat ich einmal als Waffenmeister mit unumschränkter Vollmacht auf: die große Pauke gehörte mir!! Die Leierkasten und die Pauke, das waren nämlich die beiden einzigen Instrumente denen ich reine Töne zu entlocken vermochte. Aber ich konnte bei dem Blasorchester doch nicht den Leierkasten drehen. Also hielt ich’s mit der Pauke.

Es wurde dann noch eine zweite große Pauke gefunden. Nach der griff schnell Mister Tabak, ehe ein anderer danach greifen konnte. Für ihn hatte die Pauke nämlich den Vorzug, daß er dabei die Tabakspfeife zwischen den Zähnen halten konnte, was bei einem Blasinstrumente doch nicht gut angängig war.

Und die musikalische Ausbildung begann unter Hämmerleins Leitung.

O weh, war das ein Getute!

Es war sehr, sehr gut, daß wir uns im Feuerlande befanden, wo auf die Quadratmeile noch kein ganzer Einwohner kommt.

In unsere Bucht kam eine Herde Walrosse herein. Alle diese Robben haben zweifellos ein wirklich musikalisches Gehör, sie lieben Musik. Wenn auf den Dampfern, die Vergnügungsreisen nach dem Norden machen, die Bordkapelle spielt, und es sind Seehunde in der Nähe, dann kommen die sicher heran und lauschen mit leuchtenden Augen. Die Robbenschläger locken sie mit melodischem Glockengeläute heran.

Aber diese Walrosse hier, als die uns blasen hörten, die machten schleunigst wieder Kehrt, machten daß sie wieder ins einsame Meer hinauskamen.

Ja und doch es wurde etwas daraus! Von Tag zu Tag merkte man mehr, daß das 60 Mann starke Orchester sich bemühte, eine Melodie zu spielen, daß nicht nur jeder blies, wie es ihm gerade so zu blasen beliebte.

Und da merkte ich erst, was der Kapellmeister überhaupt zu bedeuten hat! Bisher hatte ich immer geglaubt, der Kapellmeister haue mit dem Taktstock nur so zu seinem Vergnügen in der Luft herum. Nein, dem ist durchaus nicht so! Das war ja ganz wunderbar, wie das kleine bucklige Männchen das alles zu arrangieren verstand, wie es in das schreckliche Tohuwabohu immer mehr eine taktmäßige Melodie zu bringen wußte!

Und was hatte er für einen schweren Stand! Hans Leichtfuß zum Beispiel, sonst doch ein ganz intelligenter Bengel – aber wenn’s ans Konzertieren ging – der ging drauf wie Vater Blücher! Wenn wir beim zehnten Takte waren, war der mit seiner Klarinette schon drei Takte voraus, und wenn wir erst in der Mitte des Volksliedes waren, war der schon längst fertig.

Hingegen wiederum Max, der Matrose, dem der Klapperstorch die rechte große Zehe abgebissen hatte, der war mit seiner Trompete immer gleich von Anfang an ein paar Takte hinterher, und dieser Abstand wurde immer größer.

Also zum Beispiel, wir spielten das schöne Lied: Guter Mond, Du gehst so stille, durch die Abendwolken hin. Jetzt bliesen wir alle mit heiliger Andacht: so stii–ille. Da merkte Max, daß wir schon angefangen hatten, und nun legte auch er mit seiner Trompete los: Guuuuter Moooond – – Hans hingegen schwabbelte mit seiner Klarinette bereits in den Abendwolken herum.

Überhaupt, der einzige, der wirklich richtig und schön spielen konnte, das war Ich! Weiter als bis vier braucht man ja bei der ganzen Geschichte gar nicht zu zählen, ich paßte gut auf, und wenn es soweit war, dann gab ich meiner Pauke allemal einen Klaps.

Nur durfte ich dabei August den Starken nicht ansehen, sonst konnte ich vor Lachen nicht zählen. Himmel, wie der beim Blasen seine Pausbacken aufblähte, was der für einen Kehlsack bekam – überhaupt, mit welcher Inbrunst der seine Posaune blies! Und wie der Fettkloß dabei schwitzte! Und aller fünf Minuten fing seine Posaune ganz seltsam zu gurgeln und zu glucksen an, dann mußte er sie ausgießen, und – Himmel Herrgott, was da allemal für ein Wasserschwall herauskam!

Auch Mister Tabak hatte ja eine große Pauke, bis vier zählen konnte der doch auch, also hätte er doch auch so gut spielen können wie ich.

Aber Gott bewahre, nicht dran zu denken! Der ließ sich doch von keinem Menschen Vorschriften machen. Der paukte los, wann es ihm gerade paßte. Immerhin, ordnungsliebend war er. Wenn er zum Beispiel einmal seine Pfeife frisch gestopft hatte, wodurch er viele Paukenschläge versäumt, das holte er dann schnell wieder nach.

Auch gesungen wurde, ein Männerchor gebildet. Und wieder merkte ich, daß der Kapellmeister doch die Hauptsache ist. Wenn nur die Stimmbänder nicht defekt sind, wenn nur die Stimmritze genügend fiebt. Wunderbar war es, wie das Männchen uns zu dressieren verstand! Ich hatte noch gar nicht gewußt, daß ich überhaupt singen konnte. Über ein Blöken war ich bisher noch nie hinausgekommen. Mit einem Male ging es ganz famos. Nur durfte ich dabei den Doktor Isidor nicht anblicken, denn wie der beim Singen mit seinen großen Ohren wackelte, wie er sie lauschend nach den verschiedensten Richtungen herumklappte, das sah ganz merkwürdig aus.

Zwischen Blasen und Singen aber wurde fleißig geturnt und sonstiger Sport getrieben.

Doch da muß ich erst noch etwas anderes erwähnen.

Nach jener schönen, windstillen Zeit hatte damals der Hagelsturm draußen die stille See in eine tobende Wasserwüste verwandelt, und starker Westwind herrschte jetzt immer, auch bei Sonnenschein, ließ die See sich nicht wieder beruhigen.

Hier in unserer Bucht freilich war das Wasser fast ganz glatt, nur ein wenig gekräuselt. Diese Bucht war zu gut geschützt, und wir konnten auch jederzeit hinaus, aber nicht wieder herein hätten wir können.

Der Unterschied war nämlich ungefähr der, als wenn man bequem auf dem Bauche liegt und nach einem galoppierenden Pferde zielt. Dessen Reiter wird man wohl schnell weggeputzt haben. Nun soll aber einmal der Reiter vom galoppierenden Pferde herab den liegenden Gegner treffen!

Ja, hinaus konnten wir mit dem Schiff. Innerhalb der Bucht einen Anlauf genommen, durch den Kanal gerutscht und draußen waren wir. Dann konnte das Schiff tanzen wie es wollte. Aber herein konnten wir nicht. Da konnte das tanzende Schiff das Loch nicht finden. Da wäre es unfehlbar in Trümmer gegangen, auch jedes Boot.

Andere Schiffe bekamen wir nicht zu sehen, die Fahrstraße lag weit, weit nördlich, hierher auf dieses gänzlich unbekannte Gebiet wagte sich ohne Grund niemand! Doch, da tauchte einmal ein Dampfer auf, kam näher, zeigte Flaggen, signalisierte.

Ob wir mit gebackenen Pflaumen oder sonstigem Dörrobst aushelfen könnten. O, das war eine schlimme Frage!

Auf dem englischen Dampfer war der Skorbut ausgebrochen, jene Krankheit, die mit der Entzündung dies Zahnfleisches anfängt, dann fault es, dann fallen die Zähne aus, dann geht es über den ganzen Körper her. Es ist eine Folge des ununterbrochenen Genusses von Salzfleisch und anderen Konserven. Die Natur läßt ihrer nicht spotten. Die will nicht, daß wir Tiere töten und deren Fleisch pökeln und einsalzen, Gemüse in Büchsen kochen. Das Trocknen von Fleisch und Gemüsen erlaubt sie, das ist etwas anderes, so schützt sie unter Umständen selbst ihre Erzeugnisse vor dem Verderben. Aber Einpökeln und Einsalzen und Einkochen tut die Natur nicht.

Sobald man wieder frisches Fleisch und Gemüse hat, vor allen Dingen frisches Obst, ist der Skorbut, der sonst fast immer tödlich verläuft, gehoben. Sonst ist das beste Mittel dagegen getrocknetes Obst, das gekocht wird. Wunderbar, wie das hilft. Am allerbesten ist Zitronensaft, aber von frischen Früchten muß er stammen. Ist er sterilisiert oder mit Salizyl vermischt oder sonstwie präpariert und präserviert, dann verschlimmert er nur das Übel. Da sieht man eben, was man von solchem Zeuge zu halten hat. Wir lassen uns täuschen, aber die Natur ist empfindlicher. Kartoffeln führen das Übel weder herbei, noch verhindern sie es, was wiederum für den Wert oder vielmehr den Unwert der Kartoffel spricht.

Gewiß, mit getrockneten Pflaumen und Äpfeln und Birnen konnten wir massenhaft aushelfen. Einige wasserdichte Säcke wurden gefüllt, vor allen Dingen aber noch mehr mit lebenden Hummern. Deren frisches Fleisch würde den Kranken schnell wieder auf die Strümpfe helfen. Wer aber nun glaubt, man brauche ja nur Fische zu fangen, um mit deren frischem Fleische den Skorbut zu bekämpfen, der soll nur einmal auf hoher See die Angel answerfen. Da kann er aber lange warten, ehe er einen Fisch dran bekommt. Die Fischer gehen doch nur dorthin, wo es wirklich Fische gibt, so haufenweise, daß sie heißhungrig nach jedem Köder beißen. Von der Netzfischerei wollen wir gar nicht erst sprechen.

Die Jolle mit sechs Ruderern war klar. Als Waffenmeister konnte ich mir die Führung nicht nehmen lassen, hier lag etwas Besonderes vor. Ich sagte aber auch gleich, daß ich das Boot nicht heil zurückbringen könnte, und das wußten alle anderen auch. Das mußte der englische Dampfer später bezahlen, wenn es gefordert wurde.

Ehe wir abgingen, kam der erste Maschinist mit Zeugsack und Kleiderkiste. Er hatte mit der Patrona gesprochen, war auf seinen Wunsch abgemustert worden, wollte auf den Dampfer, der direkt nach London ging.

Gut, wir nahmen ihn mit. In die Riemen gelegt und durch den Kanal geschossen. Dann ging der Tanz los. Nun, wir kämpften uns durch, stoppten in vorsichtiger Entfernung vor dem wütend um sich schlagenden Dampfer ab.

Dabei aber darf man nicht etwa an Sturm und Graus denken. Es war das sonnigste Sommerwetter, heute wieder einmal ganz windstill. Aber es gehörte eine ganze windstille Woche dazu, um die einmal aufgewühlte See in dieser Gegend wieder zu beruhigen.

Noch ehe sich die anschickten, uns eine Leine zuzuwerfen, flog schon von uns eine stumpfe Harpune hinüber, die eine Leine aufrollte, mit unfehlbarer Sicherheit geschleudert. Denn auch Mister Tabak war mitgekommen, eben für diesen Zweck, damit wir nicht ein halbes dutzendmal zu werfen hatten, was gewöhnlich der Fall ist.

An dieser unserer dünnen Leine zogen wir ein stärkeres Seil vom Schiffe herüber, an diesem wurde ein Sack nach dem anderen hinüber befördert, natürlich immer durchs Wasser, dann des Maschinisten Zeugsack, dann seine Kiste, die zwar knackte, aber glücklich hinaufkam, dann bekam er selbst eine Schlinge unter den Armen umgelegt.

Ich hielt ihm die Hand hin.

»Na da machen Sie’s gut, Herr Ingenieur.«

Er nahm meine Hand, sagte freundliche, biedere Worte, zwischen uns sei doch alles kavaliermäßig erledigt worden, es läge doch gar nichts vor, nannte mich Kamerad.

Aber es wäre mir lieber gewesen, er hätte meine Hand nicht genommen, hätte mir gleich den Rücken gedreht; denn ich las in seinen Augen, daß es ihm nicht von Herzen kam, daß er mit falscher Zunge sprach.

Na meinetwegen.

Er wurde durchs Wasser geholt. Es sieht gefährlicher aus als es ist. Wer es noch nicht gesehen hat, dem freilich würden ja die Haare zu Berge stehen, besonders wenn er selbst diese Prozedur durchmachen soll. Der Lotse geht unter Umständen täglich mehrmals so an Bord, zwischen Schiff und Lotsenschoner hin und her, und das ist gewöhnlich ein Greis, und als Seemann von altem Schrot und Korn kann er nie schwimmen. Es hat ja hierbei auch keinen Zweck, das stimmt. Aber zu sagen, daß die geborenen Seeleute wasserscheu wären, das ist natürlich ein Unsinn.

Kalthoff kam glücklich an Bord, wir pulten zurück.

Zu versuchen, durch den Kanal wieder in die Bucht zu kommen, oder vielmehr in diesem das Boot zu opfern, darauf verzichtete ich von vornherein, und ich ärgerte mich, daß mich der Eskimo erst hierüber belehren wollte. Das Boot war so wie so futsch, meine Aufgabe konnte nur darin bestehen, möglichst wenig oder womöglich gar keine Menschenknochen zu zerbrechen, und am Eingange des Kanals starrte es von Klippen und Riffen, da wären wir alle zerschmettert worden.

Also ich steuerte um die Landzunge herum, erspähte die günstigste Stelle, ließ das Boot von einer Woge an Land tragen. Es zerschmetterte in seinen einzelnen Planken, ein Matrose verlor zwei Backzähne, einer verstauchte sich die Hand, sonst nur ein paar Hautabschürfungen, nichts weiter.

Das war geschehen in der Magalhaesstraße an einem schönen, windstillen Sommertage, und Kapitän Martin verstieg sich dazu, seine Hand aus der Hosentasche zu nehmen, um die meine zu schütteln und mir ein Kompliment zu sagen. Nun kann man sich ungefähr denken, wie es sonst dort aussieht. Daß unser ganzes Schiff in solch eine Bucht hatte einlaufen können, das war einmal die allergrößte Ausnahme gewesen. Aber das hätte ich doch nicht vorher erklären können. Und nun spreche man nicht etwa von einem Motorboot. Das hat man doch längst nicht so in der Gewalt, wie ein Ruderboot. –

Also zwischen Blaserei und Singerei wurde eifrig geturnt. Immer noch übte jede Farbe für sich, täglich aber kämpfte einmal Grün gegen Rot, in jedem Zweige des Sportes.

Die Silbersachen wanderten aus einem Schrank in den anderen, immer hin und her. Nur mein Haifischspazierstock, die Prämie für den Hochsprung, war für die rote Partei, der ich angehörte, ein für allemal verloren, das war ganz klar.

Ich war unterdessen von 123 Zentimeter auf 143 gekommen, Peter, der Heizer, übersprang mich noch weit – aber mit den Grünen war im Hochsprung überhaupt nicht mehr zu konkurrieren.

Daß Hans Leichtfuß seinen Namen noch bewahrheiten würde, das hatte ich ja gleich prophezeit. Aber daß er jetzt schon 170 sprang und sich täglich immer noch verbesserte, das hätte ich nicht erwartet. Und nicht nur der, sondern überhaupt alle Grünen sprangen so ausgezeichnet. Selbst August der Starke, dieser Fettklumpen, schien Federn in seine Elefantenbeine bekommen zu haben.

Kurz und gut, es war ein Rätsel dabei. Mit rechten Dingen konnte das nämlich nicht zugehen. Die Überflügelung war so plötzlich gekommen. Bis vor kurzem noch hatten wir Roten genau so gut gesprungen wie die Grünen, plötzlich aber, gleich nach dem Termin, nachdem wir das Wrack gefunden hatten, sprangen sie uns über die Köpfe weg. Und dann verbesserten sie sich mit einem Male auch so mächtig im Weitsprung. Am auffallendsten aber war es beim Hochsprung

Die hatten ihr Geheimnis. Das war schon daraus ersichtlich, daß sie ihren Übungsplatz hinter die Hügel verlegt hatten, dem sich keiner der Gegenpartei nähern durfte, sie stellten Wachen aus. An Bord übten sie niemals mehr, wenigstens nicht Springen, bei schlechtem Wetter setzten sie diese Übungen ganz aus. Die hatten dort hinten ihre Heimlichkeiten.

Ja aber was denn nur für welche? Was kann es denn beim Springen für ein Geheimnis geben? Zauberei? Die ganze Zauberei kann doch nur darin bestehen, daß man durch Übung die Springmuskeln stählt, die Beine möglichst hoch anzieht.

Nein, es gibt auch noch etwas anderes dabei. Für jede Sache scheint es ein Ei des Kolumbus zu geben, für jede! Es muß nur gefunden werden.

Ich will erst etwas anderes erwähnen, ein Beispiel, dessen sich viele Leser, die sich für so etwas interessieren, entsinnen werden.

Es muß Anfang der neunziger Jahre gewesen sein, als die Boote des Leipziger Rudervereins in Hamburg bei der Frühjahrsregatta sämtliche Preise gewannen. Sämtliche! Es war nichts gegen sie zu machen. Ob Zwölfer oder Einskuller – er sauste dem Gegner an der Nase vorbei.

Man stand vor einem Rätsel. Wie kommen denn die Leipziger dazu! Die auf ihrer Pleiße und Elster!

Das Geheimnis wurde verraten. Die Leipziger hatten den ganzen Winter hindurch im Sophienbad einer geschlossenen Schwimmhalle, jeden Abend stundenlang trainiert. Das betreffende Boot wurde in dem Wasserbassin festgeschraubt, man ruderte mit durchbrochenen Riemenblättern. Also ohne vorwärts zu kommen, das Wasser ging durch die Riemenblätter hindurch. Aber der Widerstand war doch noch immer viel stärker als beim wirklichen Pulen. Infolgedessen rissen dann im Frühjahr die Boote der Leipziger allen anderen aus.

Höchst einfach, nicht wahr? Ja, es ist eben die alte Geschichte mit dem Ei des Kolumbus. Trainierapparate hatte es ja schon immer gegeben, hauptsächlich mit Gummizügen, die das Rudern ersetzen sollen, aber das ist kein richtiger Ersatz. Die Leipziger hatten den ganzen Winter hindurch wirklich gerudert, unter erschwerten Umständen Heute wird das von jedem Ruderverein so gehandhabt, nun ist der Unterschied wieder ausgeglichen, bis jemand wieder auf eine andere Idee kommt.

Fritz, der Mondgucker, spekulierte es endlich aus.

»Sie springen mit Bleisohlen in den Schuhen.«

Da war das Geheimnis enträtselt. Hans war auf die Idee gekommen. Sie hämmerten Bleirohre zu Platten aus, legten diese in ihre Segeltuchschuhe, so wurde geübt, und immer schwerer und schwerer machten sie ihre Füße. Im Wettkampfe gegen uns sprangen sie natürlich unbeschwert. Und das schienen sie Flügel an den Füßen zu haben.

Nun wurde dieses Rezept natürlich auch von uns Roten gebraucht. Man probiere es einmal, was das für einen Erfolg hat! Natürlich darf es nicht übertrieben werden, die Vernunft muß immer dirigieren. Nun aber blieb es nicht nur beim Springen mit Bleigewichten. Wir turnten mit Bleichgewichten. Wir schwammen mit Bleigewichten. Wir legten um die Bootsriemen Bleiringe, immer mehr und immer dickere.

Es sind an sich schon gewaltige Dinger, diese fünf Meter langen Kutterriemen, es gehört ein starker Arm dazu, um sie zu dirigieren, besonders so, wie es in der Kriegsmarine verlangt wird. Wenn da ein dutzendmal hintereinander das Kommando kommt »hoch die Riemen!« da ist schon manchem riesenstarken Kerl vor Verzweiflung das Wasser in die Augen getreten. Da fühlt man nämlich, daß es nicht allein auf die Körperkraft ankommt. Der Bootsmann ist vielleicht nur ein kleiner, hagerer, unscheinbarer Mann, und der drückt den Riemen spielend mit einer Hand hoch, hundertmal hintereinander. Aber da jucken einem dann die Handgelenke!

So machten wir uns das Leben so schwer als möglich. Wenn wir aber nun einmal die Bleiringe abnahmen, dann verwandelten sich die mächtigen Riemen in unseren Händen in leichte Gerten.

Aber es blieb nicht allein bei Bleigewichten. Von jetzt an grübelte jeder darüber nach, wie wir uns das Leben möglichst versauern könnten. An den scharf zugeschnittenen Booten wurden vorn Platten befestigt, eben damit das Boot möglichst viel Widerstand fand. Und so bei allem und jedem, was ich nur noch durch ein Beispiel erläutern will.

Natürlich wurde auch kräftig Tau gezogen. Wenn zwei fremde Kriegsschiffe in einem fernen Hafen zusammenkommen, dann wird gewiß Tau gezogen, Mannschaft gegen Mannschaft, Nation gegen Nation, Flagge gegen Flagge. Aber auch die Mannschaft eines Handelsschiffes braucht nur die Herausforderung ergehen zu lassen, und alle anderen Besatzungen stellen sich, am Ufer tobt der lustige Kampf hin und her.

Erst begossen wir für da Tauziehen das Deck mit Wasser, dann schmierten wir es mit Seife ein, zuletzt auch das Tau. So, nun wollten wir Argonauten nach einigen Wochen einmal mit einer anderen Schiffsmannschaft Tau ziehen! Die Gegner konnten sich von uns ruhig die unscheinbarsten Gestalten aussuchen. Wir waren unserer Sache sicher.

So wurde auch das Fußballspiel gehandhabt, oder vielmehr gefußhabt, das, nachdem ich es einmal eingeführt, mit Leidenschaft betrieben wurde. Auch dazu wurde das Deck nach und nach immer mehr schlüpfrig gemacht, Masten und Winden genügten uns noch nicht als Hindernisse, immer raffiniertere wurden ausgedacht. –

Ja, wir versuchten uns das Leben so sauer als möglich zu machen.

Aber dabei schallte die Bucht von unserem Lachen und Jubeln wider.

Ach, war das damals ein Leben im Lande der trostlosen Verzweiflung!

Und immer und immer wieder etwas Neues ausgeheckt, alles Vorausgegangene noch weit überbietend.

Ich kann nur einige wenige Beispiele anführen. Ich tue es auch nur deshalb, um zu zeigen, wie sich der Charakter dies ganzen Schiffes nach und nach entwickelte.

Wir hatten also auch einige Leierkästen.

»Ich habe einmal einen Elefanten gesehen, der den Leierkasten drehte!« sagte jemand.

»Sennor Riata,« sagte darauf sofort die Patrona zum Peitschenmüller, »können Sie das nicht dem Lulu beibringen?«

»Na gewiß doch, warum denn nicht.«

Die Patronin wollte sonst ihre Tiere nicht dressiert haben, nicht zu Kunststückchen abgerichtet. Juba Riata mußte sie nur sonst in Zucht halten.

Aber das hier war doch einmal eine Ausnahme.

Das war früh um zehn gewesen, als die Patronin an den ehemaligen Dompteur die Forderung gestellt hatte, Peitschenmüller begab sich mit dem Elefantenbaby sofort ins Zwischendeck – es führte ein Liftzug hinab in einen besonderen Raum, nach noch nicht dreiviertel Stunden kam er wieder zum Vorschein – Lulu drehte mit seinem Rüsselchen den Leierkasten.

Anfang

Das war nichts Besonderes. Eigentümlich aber war es, mit welcher Leidenschaft das Elefantenkind die Kurbel drehte, Lulu hörte gar nicht wieder auf, und wenn er entfernt werden sollte, fing er unglücklich zu quäken an. Und wenn er von jetzt an den Leierkasten erblickte, dann stürmte er voller Freude drauf zu und leierte mit unglaublicher Vehemenz los. Und dazu kam nun noch, daß Huckebein mit Lulu ganz besondere Freundschaft geschlossen hatte, gern auf seinem Rücken saß und sobald nun Lulu den Leierkasten zu drehen anfing, dann war auch mit unfehlbarer Sicherheit Huckebein zur Stelle, hopste auf den Rücken seines Freundes und begann auf diesem einwärts hin und her zu marschieren. »Ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses.« Hörte Lulu einmal zu drehen auf, blieb auch der Rabe stumm sitzen. Sobald die Leierei wieder losging, begann auch der Rabe wieder schwatzend hin und her zu marschieren.

Nun war aber einmal das Eis gebrochen, nun kamen auch die Affen dran, von denen wir fünf Stück hatten, und wenn der Himmel wollte, so würden es demnächst sieben sein.

Es war ein großes Glockenspiel vorhanden, an dem sich mehrere Personen gleichzeitig betätigen konnten, und schon zwei Tage später produzierten sich die fünf Affen als Virtuosen auf dem Glockenspiel, klimperten einen ganz hübschen Marsch. Daß Siddy dazu durch Zeichen die Kommandos gab, merkte man gar nicht, höchstens dadurch, weil sie den Inder immer so aufmerksam anschauten, und was sie für Prügel bekommen hatten – denn ohne Prügel geht es doch bei Affen nicht ab – das verrieten sie dadurch, wie sie immer erschraken, wenn sie sich einmal unbedingt hatten kratzen müssen, wie sie dann die verloren gegangenen Takte schnell wieder nachholen. Denn Siddy war es, der sie vorführte. Dazu abgerichtet hatte sie allerdings Juba Riata, aber unter Assistenz des Inders. Mir war es auch sehr lieb, daß der edle Vaquero nicht den Kapellmeister der Affen spielte, das hätte ihm schlecht gestanden, und das fühlte er sicher selbst. Er hatte nur einen Wunsch der Patronin erfüllt, hatte gezeigt, daß er es könne.

Nun stelle man sich diese einzelnen Szenen in der Verteilung vor, mit dem sie begleitenden Spektakel im Lande der trostlosen Verzweiflung.

Dort am Waldessaum, aber noch in hörbarer Nähe, übten die Blechblaser unter Oskars Leitung: »Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus.«

Dort an der Küste übten die Flötisten, spielten den Pariser Einzugsmarsch.[Der Marsch wurde von Johann Heinrich Walch komponiert und war wohl schon um 1800 in Frankfurt am Main bekannt. Am 31. März 1814 wurde er in Anwesenheit von Kaiser Franz I., Zar Alexander I. und König Friedrich Wilhelm III. beim Einzug der verbündeten Truppen in Paris am Ende des Sechsten Koalitionskrieges gespielt. Anm. HP.]

Und dort an der Bucht studierten vom Männerchor die zweiten Tenöre ihre Stimmen ein. »Ännchen von Tharau ist’s, die mir gefällt.«

Nicht weit davon dirigierte Siddy das Glockenspiel der fünf Affen. »Zum tingeling, zum tingeling, zum tingelingelingeling.«

Und genau in der Mitte dieses Dreiecks stand Lulu und drehte mit seinem Rüsselchen mit unglaublicher Schnelligkeit den Leierkasten, das schnarrte nur so herab: »So leben wir, so leben wir, so leben wir alle Tage.« – »Nu wees Knebbchen, ach herrjeeehses, nu wees Knebbchen!« schwadronierte der auf dem Elefantenrücken hin und her marschierende Rabe.

Und schließlich rauschte über alles dieses hinweg unter Hämmerleins Händen gewaltig die Orgel.

Na, ein Jahrmarkt war nichts dagegen!

Und ich sah es schon kommen!

Ein Gauklerschiff war unsere »Argos« ja bereits. Das heißt insofern, als wir unversichert auf Abenteuer ausgingen, was dann eben der norddeutsche Kaufmann »Gaukelei« nennt, und das Schiff, das so etwas tut, ist ein Gauklerschiff.

Aber ich sah es schon kommen, daß unser Schiff diesen Namen bald auch noch in anderem Sinne verdienen würde!

Wir waren auf dem besten Wege, alle zusammen Gaukler zu werden, Seiltänzer!

Und wie ich das noch so denke, da bemerke ich, daß es nur vier Affen sind, die sich an dem Glockenspiel betätigen, und daß es nicht Siddy ist, der sie dirigiert, sondern Meister Kännchen, der Chinese, unser Koch, früher Zahnkünstler, überhaupt ein Gaukler von Profession – und wie ich noch darüber nachsinne, weshalb das Meister Kännchen ist und weshalb das nur vier Affen sind, da höre ich hinter mir eine ganz seltsame Musik, und wie ich mich umdrehe, da kommt Simson anmarschiert, der schwarze Riese, schlägt die große Pauke, und auf seinen Schultern sitzt Siddy, bläst eine endlos lange, Flöte, spielt sie vierhändig, nimmt nämlich auch seine Füße zur Hilfe – und auf Siddys Schultern wiederum sitzt ein Affe und schlägt dazu das Becken, dessen einer Teil auf Siddys Kopf befestigt ist.

Und wie dieses zusammengewachsene Trio noch stolz und freudestrahlend und frohlockend vorbeimarschiert, da kommen die Patronin und Sennor Juba Riata anspaziert, und ich höre sie zu ihm sagen:

Können Sie auch einem großen Hunde beibringen, daß er vorwärts und rückwärts Saltomortales schlägt?«

»O gewiß. Das kann man sogar einem Bären beibringen.«

Na da gute Nacht!

Ich begab mich in meine Kabine und suchte meine Befriedigung in einem geistigen, edlen Genusse.

Ich dichtete.

Und was dichtete ich?

»Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres, oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste.«


9.
KAPITEL. »DU BIST, MEIN LIEB, SO SCHÖN UND SCHWEIGSAM WIE DIE NACHT!«

Nur ein ganz kleines Kapitelchen, nur eine ganz kleine Episode, die aber für uns später noch von höchster Bedeutung werden sollte.

Hämmerlein hatte, wie täglich, wieder den ganzen Männerchor vorgenommen, paukte ihnen »Ännchen von Tharau« ein.

Es war geradezu rührend, mit welcher Geduld und Sanftmut dieses Männchen alle die falschen Töne einschluckte.

Nur in einem einzigen Falle konnte unser Dirigent die Geduld verlieren, sogar böse werden. Wenn jemand zu tremulieren anfing, so hinten in der Kehle zu trillern.

So war es auch heute. Diesmal war Albert der Sünder.

Der Matrose Albert war ein junger, stiller, besonnener Mensch. Ein tüchtiger Matrose, kein Spielverderber, aber sonst auszeichnen tat er sich durch nichts, höchstens dadurch, daß er absolut kein Hochdeutsch sprechen konnte. Nicht einmal nachsprechen konnte er es, er mußte es sich erst in sein Platt übersetzen. Und zwar in sein eigenes Platt. Er war ein geborener Bremerhavener oder vielmehr Geestemünder, hatte sich aber sein eigenes Platt zugelegt. Zwischen Emden und Memel werden doch eine ganze Masse platte Mundarten gesprochen. Sie ähneln sich wohl, sind aber doch wieder grundverschieden. Albert sagte wieder Memeler »dü« anstatt »du«, oder vielmehr »ei dü«, sch sprach er wie der Ostfriese wie sk aus – Mensk, skon, skwimmen, friske Fiske« – und ch konnte er überhaupt nicht aussprechen, er schalt dafür stets ein k ein.

Daß er besonders gut singen konnte, davon hatten wir noch nichts bemerkt. Erst jetzt. Immer mehr machte er sich mit seinem Tenor heraus.

Wie Albert nun jetzt solo einen hohen Ton zu singen hatte, da legte er so einmal seine ganze Kraft und seine ganze Seele hinein, schmetterte wie ein Kanarienvogel los, hörte gar nicht wieder damit aus, trillerte weiter und weiter, ganz in Seligkeit versunken.

Und wahrhaftig, es klang schön! Für mein Ohr und für das der anderen, gar kein Zweifel!

Nur für das Ohr unseres Dirigenten nicht. Hämmerlein brauste einmal aus, wie er es noch nie getan, machte eine Bewegung, als wolle er den Taktstock hinwerfen und darauf herumtrampeln.

»Zum Kuckuck noch einmal, so tremulieren Sie doch nur nicht!! Es kann jeder so falsch singen, wie er will, das schadet nichts, das will ich schon noch verdecken! Aber um Gottes willen nur nicht tremulieren, nicht trillern, nicht zittern! Sie verderben mir ja den ganzen Chor! Sobald das Tremulieren einmal eingerissen ist, kann ich aus dem ganzen Chor nichts mehr machen. Dann können Sie sich, meine Herren, als rollende Kanarienvögel hören lassen oder in einem Cafe chantant, aber nicht als – nicht als das, wozu ich Sie machen möchte. Also bitte, meine Herren, noch einmal von vorn.«

Sein Unmut war gleich wieder vorüber.

Seit dieser Zeit weiß ich und beobachte ich, daß mancher Sänger, der die prächtigste Stimme hat, von wirklichen Kunstkennern als hoffnungslos aufgegeben wird, weil er tremuliert. Es hat ihm an einem guten Lehrer gefehlt, er hat sich’s angewöhnt und kann sich’s niemals wieder abgewöhnen. Ich finde nichts dabei, aber es mag schon sein, daß das für ein feines Ohr entsetzlich ist. Bei einer Koloratursängerin ist das wieder etwas ganz anderes, die kann und muß tremulieren.

Die Übungsstunde war beendet, Hämmerlein trat auf Albert zu.

»Bitte, wie war Ihr werter Name?« fragte er schüchtern oder doch sehr bescheiden wie immer den Matrosen.

»Wie ik heete? Nu wie skall ik denn anners heeten? Albert dau ik heeten.«

»Darf ich Sie bitten, mir zu folgen? Ich möchte Sie gern einmal unter vier Augen sprechen.«

Äußerst mißtrauisch blickte der hohe, schlanke Bursche, übrigens ein schöner Kerl, auf das kleine, verwachsene Männchen herab.

»Unner vär Oogen? O tjoo!« lautete dann sein Bescheid, und er ging mit an Bord.

Das kleine Männchen wollte Albert wegen seines Tremulierens doch nicht etwa vertobacken?

Das heißt, da kam er bei Albert an den Unrechten. Der schlug eine gute Nummer, so still er auch sonst war. So scherzten wir hin und her; denn es war doch natürlich nur Scherz.

Die Patronin suchte mich auf.

»Herr Waffenmeister, ich möchte Sie einmal unter vier Augen sprechen.«

Die mich auch unter vier Augen!

Na, ich hatte ein reines Gewissen, ich hatte nicht getrillert. Falsch gesungen, ja, massenhaft – aber das war ja erlaubt. Getrillert hatte ich nicht, weil ich’s nicht konnte.

Ich folgte ihr. Sie führte mich in ihre Privatkajüte.

Aber noch ehe sie die Tür geöffnet hatte, erschollen da drin Klavier- und auch Gesangstöne.

»Wer ist denn da drin?!« staunte die Patronin.

Sie öffnete die Tür leise. Da sitzt an dem Stutzflügel Meister Hämmerlein und schlägt Töne an. Albert steht daneben und singt »laaaa«.

Es war ein starkes Stückchen! Das war hier nämlich das Heiligtum der Patronin! Und dieser schüchterne Mensch geht ohne zu fragen hinein und setzt sich ans Klavier.

Nun, wir beide waren doch nicht auf den Kopf gefallen, gerade wir waren diejenigen, die sofort begriffen, was hier vorlag.

Das schüchterne, bescheidene Männlein, das nichts als seine Kunst im Kopfe hatte, hatte auf dem Klavier Töne anschlagen wollen, das Klavier in unserem Klubhaus war dank Oskars Fäusten kaum noch zu gebrauchen, also nur der Stutzflügel kam in Betracht, der stand in der Patronin Heiligtum, das wußte Hämmerlein auch recht wohl – aber in diesem Augenblick sah er in seinem Geiste doch nur dieses Klavier, und da war er eben hierher – genachtwandelt, möchte man sagen. Und hätte das Klavier in der Patronin Schlafzimmer gestanden, so wäre er auch ohne Anklopfen hineingegangen, und die Patronin hätte ruhig im Bette liegen oder sich ankleiden können, der hätte gar nichts davon gemerkt.

Also Hämmerlein schlug verschiedene Töne an, Albert mußte dazu »laaaa« singen.

Dann eine Pause. Wir wurden nicht bemerkt.

»Hm. Können Sie pfeifen?«

»Pf – pei– piepen? O tjoo!«

»Bitte, pfeifen Sie doch einmal die Töne die ich anschlage.«

Es geschah. Albert pfiff wie eine Lokomotive.

Wieder eine längere Pause. Gedankenvoll schaute das Meisterlein auf die Tasten herab.

»Hm. Ich möchte einmal einige Worte von Ihnen hören. Passen Sie auf, ich werde Ihnen einen kleinen Vers vorsingen. Ohne Klavierbegleitung. Sie singen mir die Worte sofort nach. Also passen Sie auf: Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam, wie die Nacht.«

Mit grenzenlosem Staunen blickten wir uns beide an, die Patronin und ich.

Bombenelement, hatte dieses kleine, bucklige Männchen eine Stimme!!

Nicht etwa gewaltig.

Im Gegenteil, ganz zart und leise hatte er es gesungen.

Aber auch wie silbernes Glockengeläute anzuhören!

Wirklich, es hatte genau geklungen, als wenn silberne Glöckchen angeschlagen würden.

Und gleich dahinter her erklang Alberts kräftiger Tenor:

»Düüü büüüühst mien Leif, so scheun un skwiegsam, wie deee Nackt!«

Er hatte es sehr schön gesungen. Aber nun nach den glockenreinen Worten dieses Platt – es war einfach von überwältigender Komik!

Doch wir platzten nicht heraus. Wir brauchten nur auf das kleine Männchen zu sehen, wie das so ernsthaft vor dem Klavier saß, und uns verging das Lachen. Weshalb, das ist nicht zu erklären. Sein tiefer, heiliger Ernst war es, der ansteckte, stärker wirkend, als die Komik, so etwas wie Komik nicht in seiner Nähe duldend!

»Hm. Ja Ich möchte Sie ausbilden. Ich kann Sie zum ersten Tenor bringen. Ich glaube, ich kann aus Ihnen etwas machen. Sie dürfen aber nicht mehr Bruststimme singen, nur noch mit dem Kehlkopf. Das müssen Sie erst lernen. Dann drücke ich die Stimme wieder aus dem Kehlkopf in die Brust hinab. Soll ich?«

Albert war durchaus kein dämlicher Junge, aber wenn er jetzt ein überaus dämliches Gesicht machte, und ein mißtrauisches dazu, das war begreiflich. Der dachte doch, der kleine Mann wolle ihn vivisezieren.

»Soll ich Sie ausbilden? Wollen Sie?«

Nein, fürchten tat sich Albert nicht.

»O tjoo, minetswagen. Mutt ik da väl Kreid fräten und Oil supen?«

Jetzt dachten wir, würde sich das kleine Männchen wenigstens ein Lächeln verbeißen. Aber es geschah nicht.

»Nein, solche Mittel gibt es gar nicht. Ich gebe Ihnen täglich einige Stunden Unterricht. Sonst dürfen Sie gar nicht mehr singen, nicht schreien, nicht einmal mehr laut sprechen. Und auch keine schwere Arbeit möchte ich Sie verrichten lassen. Sie müssen sich überhaupt ganz unter meine Kontrolle stellen. Dann, glaube ich, wie Sie veranlagt sind – in einem halben Jahre schon – doch das sind Zukunftsträume, denen man sich nicht hingeben darf.«

Die beiden verließen die Kajüte, ohne uns bemerkt zu haben.

Das war am späten Nachmittag gewesen.

Am Abend saß ich in meiner Kabine und dichtete am »Kling-Klang-Klung«. Ich mußte ihn ja ganz neu bearbeiten, sozusagen noch einmal schöpfen. Dafür aber wurde er diesmal auch ganz fein, ganz genial! Und die Rollen schrieb ich jedem einzelnen Schauspieler direkt auf den Leib. Besonders August dem Starken. Auf dessen Bauch war ja auch genug Platz dazu vorhanden.

Aber heute wollte es mit meiner Arbeit gar nicht recht gehen.

Mir kam das silberne Glockengeläute nicht aus den Ohren.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht!«

Fort und fort wiederholte ich diese Worte, diese bezaubernde Melodie, und was ich mit der Kehle nimmermehr gekonnt, das vermochte ich im Geiste vollkommen, da kam kein falscher Ton dazwischen.

Merkwürdig auch, daß ich gar nicht mehr an die komische plattdeutsche Wiederholung dachte.

Nur immer die silbernen Glockentöne, wunder-, wunderbar gesungen.

Aber ein anderes Bild wollte mir dabei immer auftauchen.

Ich wußte es mit Gewalt niederzudrücken.

Und wie ich noch so sinne und sinne und sinne, da erklingt es durch das offene Bollauge in einiger Entfernung draußen in der stillen Nacht:

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Eine Frauenstimme! Die Patronin!

Na ja, die brachte diese Melodie und diese Worte eben auch nicht wieder aus den Ohren heraus!


Seit dieser Zeit gehörte Albert nur noch halb zu uns Argonauten, oder gar nicht mehr.

Hämmerlein gab ihm täglich zwei Unterrichtsstunden, eine vormittags und eine nachmittags, sonst war Albert nur noch zu sehen, wenn er am Strande oder an Deck spazieren ging. Ein sehr stiller Mensch war er ja immer gewesen, jetzt änderte er sich aber noch mehr in recht eigentümlicher Weise, wurde geradezu menschenscheu.

So glaubten wenigstens die im Mannschaftslogis. Es war ja ganz anders. Es hatte nicht ausbleiben können, daß er gehänselt wurde, da half kein Verbot und keine Aufklärung und da war es am besten, wenn er sich gänzlich zu seinem Lehrer gesellte, der sich nun einmal ganz ihm gewidmet hatte. Die beiden bewohnten jetzt zusammen auch eine Kabine, aßen zusammen, die beiden allein.

Von der Singerei bekam man nicht viel zu hören. Die beiden hatten dazu ihren eigenen Raum im Zwischendeck, der dick ausgepolstert worden war, der Patronin Stutzflügel war hineingekommen.

Erlauschte man einmal etwas, dann war es nicht besonders schön, was man da zu hören bekam. Tonleitern und dann merkwürdige Töne, die geradezu unschön klangen.

»Jetzt habe ich’s heraus, wie der dressiert wird!« sagte Oskar einmal. »Hämmerlein macht’s genau so wie wir. Der steckt Albert ein Bleirohr in die Luftröhre, damit er dann, wenn er kein Blei mehr im Halse hat, recht gut singen kann.«

Also wir hatten Albert als Kameraden durch die Singerei verloren. Schade um den braven Jungen!

So dachten wir!

Aber gerade der sollte als ganzer Argonaut noch manchmal unser Retter werden! –

Noch eins will ich hier gleich erwähnen.

Ich fragte Hämmerlein einmal, aus welchem Liede denn jene Worte seien, die wir damals zufällig gehört hatten. Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.

»Aus gar keinem Liede!« lautete die Antwort. »Ich weiß nicht, ob sie schon existieren. Ich kenne sie nicht. Ich brauchte einige Worte und eine Melodie, und da habe ich das so gemacht, wie es mir gerade einfiel.«

Merkwürdig! Wenigstens merkwürdig für mich!

Dann hatte ich nur eine Frage.

»Komponieren Sie eigentlich?«

»Nein. Oder eigentlich ja.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich komponiere viel, aber ich vernichte alles sofort wieder.«

»Weshalb denn?«

»Wenn ich einmal etwas schaffen könnte, was kein Bach und kein Mozart und kein Beethoven hätte schaffen können, oder doch wenigstens etwas Ebenbürtiges – das würde ich bestehen lassen, sonst nichts.«

So sprach das Männchen.

O, wenn jeder so dächte – dann würde manches nicht komponiert und gedichtet und geschrieben worden sein.


10.
KAPITEL. ILSES GEBURTSTAG.

Wir konnten doch nicht immer in dieser Bucht liegen bleiben. Sonst hätten wir doch kein Schiff gebraucht, die Patronin hätte es verkaufen können, wenn sie sich für immer hier ansiedeln wollte. Und so paradiesisch war diese Gegend auch gar nicht, noch viel öder als die Lüneburger Heide. Wenn man freilich nach sechswöchentlicher Seefahrt in die Lüneburger Heide segelt, da findet man sie ja paradiesisch, und so mag es auch jedem Städter gehen, jedem Naturhungrigen.

Dazu kam jetzt nun noch ein ewiger Weststurm, der einen den Aufenthalt im Freien ganz verleidete. Wenn man in die Höhe sprang, wurde man einige Schritte zurückgeschleudert.

Am 16. Januar war ich als Schiffbrüchiger an Bord der »Argos« gekommen, am 19. Februar schlüpften wir wieder durch den Kanal.

Wohin nun? Nun, immer dahin, wohin uns der Wind trieb. Nicht die schönsten Punkte der Erde mit Absicht aufsuchen, sondern sie zufällig finden. Und da findet man gewiß immer noch schönere, von denen niemand nichts weiß, als alle schon bekannten Wunder der Erde. Denn, ach, die Erde ist so unermeßlich groß; und wir kennen noch so herzlich wenig davon!

So hätte ich’s gehalten, wenn ich mein eigenes Schiff besaß und nicht auf Verdienst durch Fracht angewiesen war, und so dachte auch die Patronin, sie stimmte mir bei, als wir einmal darüber sprachen.

»Ist es denn aber recht,« sagte sie ferner bei dieser Gelegenheit, »so ganz zwecklos in der Welt herumzufahren? Sollte ich nicht mein Schiff zum Nutzen der Menschheit arbeiten lassen?«

»Ach larifari!« war meine Antwort, nicht gerade sehr höflich, aber deutlich. »Ist es denn der Menschheit von so großem Nutzen, wenn sie ihr Kaffee und Tee zuführen, damit sie ihre Nerven ruinieren? Oder Tabak, damit sie die Luft verstänkern? Oder vielleicht Rum und Arrak? Oder gar Opium? Ja, Sie können der Menschheit auch Reis und Mais und Kohlen zuführen, gewiß, das ist sehr nützlich. Aber passen Sie auf, wie dann die anderen Reedereien über Sie schimpfen, weil Sie ihnen den Verdienst wegnehmen, wo Sie’s gar nicht nötig haben. Es ist jetzt überhaupt eine faule Zeit, viele Schiffe liegen im Hafen ohne Fracht, viele Seemannsfamilien müssen darben. Nehmen Sie den armen Leuten doch nicht das Brot weg. Und soll sich denn kein reicher Mann mehr seinen Palast bauen können? Ist er etwa verpflichtet, für dieses Geld ein Kranken- und Waisenhaus zu bauen? Nein, Frau Neubert, solche Gedanken schlagen Sie sich ein für allemal aus dem Kopf! Wenn Sie der Menschheit einen Nutzen erweisen wollen, dann fangen Sie Haifische. Weil die andere Fische, die uns gut schmecken, ganz zwecklos fressen. Das heißt zwecklos nach unseren Ansichten! Der liebe Gott könnte Ihnen die Haifischjagd doch vielleicht sehr übelnehmen, Sie könnten der Natur doch einen großen Strich durch die Rechnung machen, wofür sie sich schon rächen wird. Denn ganz zwecklos sind die Haifische sicher nicht da.«

So sprach ich.

Und es war gut, daß es einmal so gekommen, daß dieses Thema einmal angeschnitten worden war, und daß ich so hatte sprechen können. Ich hatte diese Ansichten über die Welteinrichtung, über die Pflichten, die man der Menschheit schuldig ist, und so weiter, und so weiter, von meinem Vater von Kindesbeinen an eingebläut bekommen.

Und gut war es, daß die Patronin mir glaubte. Nun war diese Sache ein für allemal erledigt, sie kam nie wieder auf solche dumme Gedanken.

Denn wer sentimental veranlagt ist und auf solche Gedanken gerät, der bekommt vor lauter Sentimentalität die Schöpsdrehe. Jawohl, er dreht sich immer im Kreise, findet keinen Ausweg mehr aus seinem Dilemma. Und doch hätte ich ihr einen Rat erteilen können, wie sie sich der Menschheit sehr, sehr nützlich machen konnte, und zwar durch eine höchst ritterliche Beschäftigung. Die mythischen Helden des klassischen Altertums, ein Herkules oder Achilles, befreiten die Welt von Ungeheuern, nur deshalb wurden sie später unter die Götter versetzt. Nicht, weil sie Wüsten in blühende Gefilde verwandelt hatten. Ungeheuer gibt es noch heute. Die Männer, meist Engländer, die sich ganz der Tiger- oder Löwenjagd gewidmet haben, das sind sehr, sehr nützliche Menschen. Denn ein Tiger oder Löwe, der bei einem Dorfe oder zwischen Nomaden haust, richtet jährlich für mindestens 6000 Mark Schaden an, das läßt sich genau berechnen, und zwar nach dortigen Fleischpreisen. Solche Sportsmen werden denn auch von den Eingeborenen wie die Götter verehrt.

Aber es gibt auch noch andere Ungeheuer. Zweibeinige. Von diesen konnten wir die Welt befreien, wir hatten die Mittel dazu.

Doch soweit waren wir noch nicht. Jetzt hatten wir erst, einmal etwas anderes vor. Deshalb behielt ich meinen Plan noch ruhig für mich. Ich bin nicht so voreilig, ich kann warten.

Was wir wollten? Nun, ein Eliteschiff mit einer Elitemannschaft schaffen. Ein Schiff, von dem jeder einzelne Matrose zum Athleten ausgebildet ist. Oder, wollen wir sagen: jede körperliche Fähigkeit, die er zum Schiffsdienst braucht, ist soweit als möglich entwickelt. Und das war auch etwas sehr, sehr Nützliches, was wir da vorhatten. Es mußte nur erst einmal ein Beispiel gegeben werden, dann würden wir schnell Nachahmer bekommen, Schule machen. Jawohl, Schule! Damals gab es wohl schon Schulschiffe der Kriegsmarine, aber noch kein Schulschiff für Seekadetten, die als Offiziere für die Handelsmarine ausgebildet werden, das ist erst vor ganz kurzem eingeführt, und die Lehrer für diese Offiziersaspiranten, die nur besseren Familien entstammen, oder begüterten, wollen wir sagen, müssen natürlich die allerbesten Matrosen sein. Und was tüchtige Matrosen zu bedeuten haben, das zeigt sich am besten dadurch, daß ein griechisches Schiff mit griechischer Besatzung für seine Versicherung und für die der Fracht eine fast dreimal so hohe Prämie zu zahlen hat, als ein deutsches Schiff mit deutscher Mannschaft.

Ja, ich hätte die schönste mir gebotene Karriere aufgegeben, um mich in den Dienst dieser Sache zu stellen, so phantastisch sie auch auf den ersten Blick erscheinen mochte. Es war ein Ideal – aber ein Ideal, das Hand und Fuß hatte.

Nur mußten wir, ehe wir Schule machen konnten, etwas leisten, mußten mit einem Male hervortreten und etwas zeigen, was die Welt noch nie gesehen hatte, denn die Welt will geblendet, will verblüfft werden, sonst geht es nicht!

Aber soweit waren wir noch lange nicht. Man kann doch nicht aus gewöhnlichen, das heißt normalen Menschen, aus Arbeitern, mögen es auch noch so kräftige und gewandte Burschen sein, in vier Wochen Athleten machen, die zu den olympischen Wettkämpfen antreten können. Auch in einem halben Jahre ist das noch nicht möglich. Daß Hans Leichtfuß schon über einen mittelgroßen Mann hopsen konnte, das hatte doch nichts zu sagen, das bringt jeder Zirkusclown fertig. Nein, die Argonauten in der Gesamtheit mußten es sein, welche die ganze Welt in Staunen setzten, sonst war nichts zu machen. –

Mit Westwind segelten wir zur Magalhaesstraße hinaus, und wenn wir dann nach Nordwesten hielten, so war das ganz richtig, durch das Parallelogramm der Kräfte wird der Wind von der Seite her besser ausgenützt, als wenn man direkt mit dem Winde segelt.

Ich überspringe fast 14 Tage. Die nötige Schiffsarbeit wurde verrichtet, es wurde geturnt und sonstiger Sport getrieben, die Leute begannen sich auch immer mehr für die Bibliothek zu interessieren. Auch von den vielen humoristischen Zwischenfällen will ich keinen einzigen erwähnen; denn an solchen fehlte es ja nicht, unabsichtlich passiert oder mit Absicht herbeigeführt. Die Stimmung, in der wir uns befanden – wie wir gebaut waren, möchte ich fast sagen – es konnte ja gar nicht anders sein. Ein dickes Witzbuch könnte ich über diese 14 Tage schreiben. Aber daran übersättigt man sich zu leicht, das heißt beim Lesen. Also lieber nicht.

Dann aber kam das große Ereignis, das ich ausführlich schildern muß. Ein Nichts für andere – für uns von allerhöchster Wichtigkeit.

»Ja, Ilse, da mußt Du eben Segeltuchschuhe tragen!« hörte ich die Patronin sagen.

»Weshalb denn?« fragte ich.

Alle ihre Stiefeln und Lederschuhe sind ihr zu klein geworden, mit einem Zuwachs habe ich nicht gerechnet, zumal nicht mit so einem schnellen. Das Kind wächst ja sichtlich.«

»Na dann – mag sie Segeltuchschuhe tragen!« sagte ich höchst geistreich.

Na dann machen wir ihr ein Paar Lederstiefeln, hatte ich aber sagen wollen, es noch rechtzeitig unterdrückt.

Wir leben einander zu Liebe! Und sie ist doch so schön, die heimliche Überraschung.

Ein Matrose muß viel können, mindestens alles das, was er braucht, muß er sich selbst machen, soweit es irgendwie möglich ist. Tabak kann er sich natürlich nicht selber machen. Ein Matrose, der bei der Anmusterung barfuß an Bord kommt, weil er seine Stiefeln versoffen hat, na das will ich verzeihen; aber wenn er im nächsten Hafen noch keine Stiefeln hat, dann habe ich keinen Respekt mehr vor ihm. Die muß er sich selbst machen können, mögen sie auch noch so unförmlich ausfallen, und hat er kein Leder, dann macht er sich selbst eine Lederimitation, teert Segeltuch, streut Kolophonium oder Eisenfeilspäne oder Kohlenstaub oder sonst was darauf, was trocknet und hart wird und sich polieren läßt, dann braucht er im Sommer nicht barfuß und im Winter nicht in Segeltuchschuhen an Land zu gehen.

War Leder an Bord? Ja, Leder für Ventildichtungen, zum Putzen und dergleichen. Das war nicht das richtige. Na ja, wenn es nicht anders gegangen wäre. Aber zum Beispiel der Bezug von meinem Sofa, das feinste Rindleder, vielleicht schon mehr Kalb, das war genau das richtige, was man für gutes Schuhwerk braucht.

Und wie ich noch sinnend mein Sofa betrachte, das ich zum Teil in ein Paar Kinderstiefel verwandeln wollte, ob ich nur ein Stück herausschneiden sollte oder gleich alles, durch was ich den Bezug dann ersetzen würde, da kam mir eine Idee.

Ein besonderer Schusterheld war ich nicht. Es würde Matrosen geben, die es viel besser verstanden. Welche? Welcher am besten? Das wußte vorläufig nur der allwissende Gott. Hatte ein jeder Matrose ein Paar Schuhe oder Stiefeln gemacht, dann wußte auch ich es, ohne ein Gott zu sein.

Und es war ein so liebes, liebes Kind! Würde sich die kleine Ilse nicht mächtig freuen, würde sie vor Überraschung nicht auf den Rücken fallen, wenn sie –.

Vorwärts, den ganzen Lederbezug vom guten Sofa geruppt!

»Alles antreten zur Musterung in der Batterie!«

Sie traten an, die Grünen und die Roten, kauten gerade noch.

»Wer von Euch kann Lederstiefeln machen?«

Nicht weniger als 25 Matrosen meldeten sich, wozu ich hierbei auch die Unteroffiziere rechne, also 25 von der Deckmannschaft, wozu noch zwei Heizer kamen, und der eine von diesen mußte es auch können, weil es nämlich ein gelernter Fußbekleidungskünstler war.

»Wat for Stäbeln?«

»Für Ilse. Wasserstiefeln oder Halbschuhe mit Knöpfen oder Schnüren oder Gummizug oder Tanzlackschuhe – – ganz egal, es fertige jeder seine Sorte, auf die er am besten geaicht ist, Verstanden?«

Verstanden hatten sie mich wohl, aber für 27 Paar Stiefeln langte mein Sofabezug nicht. Na, erstens hatte ich noch ein zweites Kanapee mit ebensolchem Lederbezug, und dasselbe galt von den Kabinen der Steuerleute rund Maschinisten.

Her damit!

Ehe ich es verhindern konnte, lagen schon nicht weniger als acht Sofabezüge da. Na, hatte nichts zu sagen, wir verstanden doch so ein Ding wieder aufzupolstern. Aber ein Tapezierer und Möbelpolsterer oder auch ein Maurer und Zimmermann soll einmal auf einem glatten Deck einen 30 Meter hohen Mast aufrichten und einsetzen! Das will erst theoretisch auf der Schule studiert sein – und nachher geht’s noch lange nicht. Aber das Wort »unmöglich« steht nicht im Schiffswörterbuch. Mit einer wahren Begeisterung, nein, mit einer wahren Berserkerwut gingen die 27 Mann an ihre Schusterei. »Für die Ilse! Für unsere Ilse! Für unser Kind!« Denn »unser Kind« war die kleine Waise schon längst. Und nun außerdem konnte auch der Phantasieloseste, so zum Beispiel ich, sich vorstellen, was das für eine Überraschung geben würde, wenn das Kind plötzlich ganz unvermutet siebenundzwanzig Paar Stiefeln in die Hand gedrückt bekam.

Natürlich mußte erst Maß genommen werden. Es waren ja Segeltuchschuhe vorhanden, die noch paßten, aber das war für diese Matrosen nichts, die mußten erst einmal den Fuß sehen, ihn wirklich messen, ehe sie ihn in Leder wickeln konnten, sonst waren sie sich ihrer Sache nicht sicher.

Nun, das konnte geschehen, als Ilse wieder einmal schlafend auf ihrem Lieblingsplätzchen, auf dem Bauche der Marchesse, der Königstigerin, lag. Und wie dieses Maßnehmen geschah, das war schon merkwürdig genug. Jeder mußte es selbst tun, da traute keiner dem andern. Selbst ist der Mann! Der gelernte Schusterheizer war der einzige, der sich dabei eines Zollstockes bediente, die anderen maßen mit den Fingern, oder mit den Knöcheln, der wieder mit seiner Mütze, einer brauchte dazu unbedingt seinen eigenen Wasserstiefel, und einer mußte sich dazu auf den Rücken legen und seinen Fuß an den des schlafenden Kindes halten.

Nun aber war sich auch jeder seiner Sache sicher, und nun ging es los.

Die Patronin mußte ja etwas merken, tat aber, als merke sie nichts.

Dann jedoch besann sie sich, kam zu mir.

»Hören Sie, Herr Waffenmeister – Sie lassen wohl für Ilse ein Paar Schuhe machen, gleich einige Paar – ich will die Überraschung nicht etwa stören, sondern möchte sie noch verdoppeln – am 7. März hat Ilse ihren Geburtstag –«

Was, ihren Geburtstag? Und bis dahin noch fünf Tage Zeit!«

Jetzt änderte sich die Sache noch. Wenn ich keine Phantasie habe, so weiß ich doch, was man da sonst noch machen kann. Zuerst muß ich mit Hammid sprechen, dem arabischen Zimmermann, der soviel auf seinen Beruf hielt, daß er sich sogar eines seiner Beine selbst aus Holz gezimmert hatte, vom Schenkel an.

Jawohl, der wollte für die 28 Paar Schuhe – denn ich selbst beteiligte mich an der Schusterei – ein feines Schränkchen liefern, mit feinen Glastüren.

»So sehr fein braucht es gar nicht zu sein,« sagte ich, »die Schnitzereien machen wir anderen, die nageln wir dann mit Goldstiftchen drauf.«

Jeder Matrose kann doch Kerbholz schnitzen.

Also am zweiten Tage schon begannen die meisten zu schnipseln, einige hatten zu ihrer Schusterei auch nur einen Tag gebraucht.

Was nun das gelieferte Schuhwerk anbetraf, von Kinderwasserstiefel an bis zum zierlichen Lackschuh, wirklich gelackt – na, da waren ja tüchtige Pflaumen darunter! Auch meine Halbschuhe, die ich geliefert hatte, die sahen auch nicht besonders elegant aus. Dagegen waren vier Paar vorhanden, mit denen sich die Arbeit des professionellen Schusters nicht im entferntesten messen konnte!

Aber alles wurde in den Schatten gestellt von dem Paar Halbstiefeln, die dann noch Mister Tabak brachte. Die denkbar feinste Arbeit, gelb gewichst, unten mit roten Knöpfchen besetzt, die sich dann aber als Muschelchen erwiesen, weiter oben mit blauen Schnürsenkeln, aber aus Seehunddarm, überhaupt das Ganze aus Seehundfell, wunderbar dünn geschabt, innen die Haare.

Wir hatten gar nicht gewußt, daß sich der Eskimo an der Konkurrenz beteiligt hatte. Aber wir sahen dann seine Werkstatt, die Abfälle.

Jedenfalls waren es ein Paar Stiefeln, die – es sonst gar nicht in der Welt gibt. So ein Paar Stiefelchen bekommt keine Prinzessin vom Schuster geschenkt, der vom Papa König den Titel Hofschuhmachermeister ergattern möchte.

Nur einen kleinen Fehler hatten diese herrlichen Stiefelchen: sie stanken ganz entsetzlich nach angebranntem Fett und mehr noch nach Tabaksschmant.

Ja, sogar Doktor Isidor hatte ein Paar Schuhe gefertigt! Hatte sie allerdings nicht genäht, sondern gegossen. Nämlich Gummischuhe. Sehr hübsch.

Nun konnte es aber bald aufhören mit den Schuhen. Mehr als 30 Paar gingen in das Schränkchen nicht hinein; wenigstens wenn sie hübsch in Reih und Glied auf den Regalen stehen sollten.

»Braucht Ilse sonst noch etwas?« fragte ich Siddy, der als Chefsteward ja gewissermaßen die Rolle der Kammerzofe spielte, und einen Weiberrock hatte der Inder ja auch gewöhnlich an.

Ob die sonst noch was brauchte? Ach, eine ganze Masse!

Erst jetzt erfuhr ich es, wie es so schlimm mit des Kindes Garderobe bestellt war. Die Ausrüstung mußte sehr schnell geschehen sein, die Erfahrung hatte gefehlt, und das Kind war eben sehr gewachsen.

Nun, das hatte ich ja nicht wissen können. Aber erst jetzt erfuhr ich, daß die Patronin fortwährend für das Kind flickte und stopfte, Strümpfe waren überhaupt kaum noch vorhanden.

»Ja weshalb ist sie denn da nicht zu uns gekommen zu den Matrosen?!«

Ja weshalb nicht! Wenn sie vielleicht auch wußte, daß Matrosen doch all das können, so hatte sie ihnen eben solche Weiberarbeit nicht übergeben wollen, gerade deshalb nicht, weil es ihre eigenen Matrosen waren – ihre Argonauten, ihre Helden!

Jawohl, das können wir Matrosen, flicken, stricken, sticken. Aber nicht etwa, daß wir solche »Bästler« nur aus Langeweile sind. Wir können keine solche lumpigen Strümpfe tragen, mit der Maschine gestrickt, mag die Wolle auch noch so gut sein. Wir müssen darauf gefaßt sein, daß wir die Seestiefeln wochenlang nicht von den Füßen bekommen, und dann nach solch einer Periode soll man einmal das Resultat untersuchen. Dieser Unterschied zwischen Maschinenarbeit und Handstrickerei! Und so ist es mit allen Kleidungssachen. Wir können uns auf See doch nichts wieder anschaffen, auf Segelschiffreisen, die ein Jahr und länger dauern, will man im fremden Hafen nicht fabelhafte Preise zahlen. Und wir wissen am allerbesten, daß das Teuerste eigentlich das Billigste ist. So ein blaues Hemd kostet mindestens zehn Mark. Dadurch aber, weil man immer aufpaßt, weil eben die Unterkleidung bei uns so eine überaus wichtige Rolle spielt, bekommt man auch eine ganz besondere Erfahrung. So ein Matrose will in einem Geschäft Hemden kaufen, es sollen garantiert reinwollene sein, der Matrose befühlt den Stoff zwischen den Fingern und sagt dem Verkäufer auf den Kopf zu, daß er entweder lügt oder sich selbst übers Ohr hat hauen lassen. Da ist so und so viel Prozent Baumwolle dazwischen. Deshalb kauft man sich lieber gutes Wollentuch und macht sich die Sachen selbst. Zeit genug hat man ja dazu.

Also losgeflickt und -gestrickt. Alles war vorhanden, Leinwand und verschiedene Stoffe und Seidenzeug. Das konnte uns Siddy aus dem Magazinraum verschaffen, so viel wir haben wollten, ohne daß die Patronin etwas wußte. Nur an Strickwolle hatte sie nicht gedacht. Nun, die hat jeder Matrose in seiner Kiste, wenn er nicht auch an Bord ein Lump ist. Und wie konnten die Jungens Strümpfe stricken, wenigstens einige von ihnen! Gleichzeitig drei verschiedene Garne auf acht Nadeln, bunte Muster hineingestrickt! Und die anderen machten Hemdchen und Höschen und Röckchen und Kleidchen. Und wir waren mehr als 60 Mann, lagen in Windstille, und bei täglich sechzehnstündiger Arbeitszeit läßt sich etwas fertig bringen, wenn dabei nicht zu viel geschlawwert wird. Man muß dabei die Luft anhalten, den komprimierten Dampf nicht zu viel oben zum Loche herauspfeifen lassen, sondern ihn in die Fingerspitzen dirigieren, dann fleckt’s. Wenn man Brot schneidet, und man denkt daran, daß man Brot schneidet, dann wird man sich auch nie in den Finger schneiden.

Während dieser fünf Tage wurden die Musikübungen und Sportspiele ausgesetzt. Nur eines durfte nicht unterbrochen werden.

Ab und zu stand ein Mann unter der Back oder im Klubraum, wo geschneidert wurde, auf.

»Ich werde jetzt meinen Törn abmachen.«

Er begab sich in die Batterie, in den Turnsaal.

Wir wollen ihm einmal folgen, und er soll ausnahmsweise der einzige sein, der »seinen Törn« abmacht.

Die Batterie – die aber nicht etwa durch das ganze Schiff geht, sie nimmt noch nicht ganz die Hälfte ein – ist 42 Meter lang und ziemlich 12 Meter breit. Die Turngeräte sind weggestaut. An der einen Wand stehen in einer Stellage Bleirohre wie die Gewehre, daneben See- oder andere derbe Stiefeln, darüber hängt ein Rucksack, immer über jedem Bleirohr. Ferner ist noch eine Dezimalwage vorhanden, eine Federwage für kleineres Gewicht, ein großer Holzkasten, ein Polyphone aus dem Orgelwrack stammend, darüber tickt eine Uhr.

Der Mann zieht seine leichten Schuhe aus – das Barfußgehen liebt die Patronin nicht, sie hat mir einmal einen Wink deswegen gegeben – zieht dafür die großen Stiefeln an, die man jetzt nicht braucht. Wie ihm einer aus der Hand fällt, gibt es einen gewaltigen Plauz. Es sind Bleisohlen eingelegt. Dann nimmt der Mann das Bleirohr, über dem ein Täfelchen mit seinem Namen hängt, auch mit einem Register, in das schon viel eingetragen ist. Das Bleirohr ist an einem Ende zugequetscht, am anderen mit einem Holzpfropfen verschlossen, den zieht er heraus. Dann greift er in die Kiste, die kleingehacktes Blei enthält, wiegt davon auf der kleinen Wage hundert Gramm ab, die er in das Rohr füllt, es wieder verschließend.

Mit diesem Bleirohr macht er einige Minuten Übungen. Es ist nicht gerade ein Hantelstemmen. Mehr Gewehrübungen, aber doch auch wieder anders. Man merkt gleich, daß er genau nach Vorschrift übt, jeder Körperteil wird angestrengt, die Takte werden gezählt.

Hierauf nimmt der Matrose den Rucksack vom Nagel. Man merkt gleich, wie sehr gewichtig der ist. Aber das ist noch nicht genug, der Mann wägt wieder gehacktes Blei ab, diesmal 250 Gramm, also ein halbes Pfund, füllt es in den Sack, hebt ihn sich auf den Rücken, schnallt ihn fest. Alles sehr praktisch eingerichtet.

Dann zieht er das Polyphon auf, Glöckchen erklingen, er wirft einen Blick nach der Uhr, beginnt, das Bleirohr wie ein Gewehr über der Schulter, an den Wänden entlang zu marschieren, immer im Kreise.

Es ist der Pariser Einzugsmarsch, den die stark klingenden Glocken spielen. Kann man denn nach diesem wirklich marschieren? Ja, im Geschwindschritt, aber in einem noch wahnsinnigeren, als der bei der englischen Armee eingeführte.

Und in diesem Eiltakte, wie jemand rennt, der es verschlafen hat, aber doch nicht wirklich rennen will, marschiert der Mann eine Stunde im Kreise herum, mit Bleisohlen an den Füßen, einem Bleirohr auf der Schulter, einen Bleisack auf dem Rücken.

Ganz genau eine Stunde. Sie wird lang, diese Stunde. Ich weiß es, denn ich selbst mache jeden Tag meinen »Törn«, immer mit zunehmendem Gewicht, das sich in größeren Perioden auch auf die Belastung der Füße erstreckt. Aber man hat immer Gesellschaft. Daß, wie jetzt nur ein Mann marschiert, kommt eigentlich gar nicht vor. Der Pariser Einzugsmarsch klingt ununterbrochen Tag und Nacht. Ist die Feder kaput, wird eine neue eingesetzt. Ist die Platte zu abgenützt, stanzen wir eine neue. Können wir doch alles machen. Also man hat immer Gesellschaft, da geht es schon besser, auch wenn natürlich an eine Unterhaltung nicht zu denken ist. Und außerdem: was man aus Liebe tut –

Ist die Stunde beendet, dann jagt der Mann noch immer dreimal im Laufschritt in der Batterie herum, dann schnallt er ab, stellt sich auf die Dezimalwage, konstatiert sein heutiges Gewicht. Letzteres tut er nur dem Doktor Isidor zu Liebe, der dabei seine wissenschaftlichen Beobachtungen macht. Dicker wird man davon nicht. Nur August dem Starken scheint das ausgezeichnet zu bekommen, der nimmt dabei zu.

Nachdem der Mann sein Gewicht auf das Täfelchen geschrieben hat, geht er zu seinen Kameraden zurück und näht wieder Kinderhemdchen oder strickt Kinderstrümpfchen. Und wozu nun dies alles.

Der stärkste Mann, von dem nicht die Sage, sondern die Historie berichtet, war der Athlet Milo von Croton, um 500 vor Christi, von dem man bestimmt weiß, daß er sechs olympische, sieben pythische, zehn isthmische und neun nemeische Siegeskränze gewann. Solche siegreiche Athleten genossen damals ein ganz anderes Ansehen als heute, der olympische Sieger wurde Ehrenbürger seiner Stadt, war steuerfrei und hatte andere Vorzüge, überall wurden ihm Denkmäler errichtet. Daher wissen wir noch so viel von diesen griechischen Athleten.

Dieser Milo machte zuerst dadurch von sich reden, daß er einen großen Stier, der doch wohl seine zehn Zentner wiegt, durch die ganze Arena trug.

Dabei soll Milo anfangs gar kein so besonders starker Kerl gewesen sein. Er hatte seine besondere Methode zur Ausbildung. Für dieses Kunststück fing er erst mit einem kleinen Kalbe an, das er täglich auf den Schultern eine gewisse Strecke weit trug. Das Kalb nahm an Gewicht zu, diese tägliche Zunahme merkte der Träger nicht besonders, und so trug er eben zuletzt einen ausgewachsenen Stier auf seinen Schultern!

So heißt es.

Das Rezept ist wenigstens gegeben, wie es zu machen ist.

Wenn Du, lieber Leser, noch ein gelockter Jüngling bist und noch nicht das Zipperlein hast, und Du willst ein Milo werden, dann schaffe Dir eine Hantel von 50 Pfund an. Die wirst Du doch wohl stemmen können, oder Du hast eben schon das Zipperlein, oder Du eignest Dich sonst nicht dafür, und dann hast Du doch auch keine Lust, ein Milo zu werden.

Die beiden Kugeln auf dem Stabe sind hohl, haben eine verschließbare Öffnung, lassen sich von dem Stabe abnehmen, andere Eisenscheiben lassen sich aufsetzen. Das Pfund Hantel kostet etwa 40 Pfennige.

Diese 50 Pfund stemmst Du jeden Morgen nach dem Aufstehen zehnmal, dann noch einmal so oft nach dem DAnziehen. Dann gehst Du Deinem Berufe nach. Kannst Du diese Übung täglich imehrmals wiederholen, desto besser, aber nötig ist es nicht.

Am nächsten Morgen füllst Du in jede der beiden Kugeln 25 Gramm Schrotkörner, und so fährst Du fort und fort, das tägliche Gewicht der Hantel um 50 Gramm zu vermehren. Hast Du einmal gerade keine Schrotkörner, dann steckst Du einstweilen in jede Kugel zwei alte Liebesbriefe, die zusammen auch ungefähr 25 Gramm wiegen. Ab und zu ersetzt Du die Schrotkörner durch Eisenscheiben, die zwischen den Kugeln eingeschaltet werden.

Wie Du Dir nun berechnen kannst, beträgt die Gewichtszunahme im Jahre 36 Pfund. In zehn Jahren sind das 860 Pfund. Dazu kommen die 50 schon vorhanden gewesenen. Macht zusammen 410 Pfund, die Du nach zehn Jahren jeden Morgen zehnmal stemmst. Das übertrifft schon etwas den bisher aufgestellten Weltrekord im Hantelstemmen.

Nun probiers. Es ist ein billiges Vergnügen. Nur darfst Du Deine Übung keinen einzigen Morgen vergessen, sonst vergißt Du es öfters, und dann – wirst Du nach zehn bis hundert Jahren vielleicht das Zipperlein haben, aber kein Milo sein.

Bist Du aber ein Mädchen, vielleicht etwas schwach auf der Brust, dann fange mit 20 oder nur 10 Pfund an, beschwere den Stab täglich auf jeder Seite mit einem Mehr von zwei Liebesbriefen – und ich garantiere Dir, daß Du Dir keine Pilalus Pilles orientales zu kaufen brauchst, um Deine Brust zu runden.


Während dieser fünftägigen weiblichen Handarbeitsperiode ereignete sich ein humoristischer Zwischenfall, den ich erwähnen will, weil er sehr traurig für uns endete, wenigstens verging zuletzt sehr vielen das Lachen, besonders auch mir.

Es war Mittagszeit, die Matrosen machten bei dem herrlichen, windstillen Wetter »backen und banken« im Freien, das heißt, sie hatten den Mittagstisch und Sitzgelegenheit an Deck aufgestellt, vor dem Fockmast.

Die Suppe wurde aufgetragen, eine mächtige Terrine, Kartoffelsuppe, oben darauf eine dicke Schicht ausgelassenes Ochsenmark aus der Konservenbüchse. Seeluft zehrt sehr, selbst in heißen Gegenden verlangt der Körper viel Fett, aber jeder mag es doch nicht, wogegen gutes Rindermark immer gern gegessen wird.

Ich stand an dem Tisch, hatte mit den Leuten etwas zu sprechen. Noch war es nicht zum Ausschöpfen gekommen, als wir auf eine komische Szene aufmerksam wurden. Wir hatten uns in jener Bucht reichlich mit lebenden Hummern verproviantiert. Die Tiere waren in einer Kiste untergebracht, die zwischen Kombüse und Kommandobrücke stand, sie lagen zwischen Steinen und Moos, wurden täglich mit frischem Seewasser begossen und blieben so ganz munter.

Eines Tages hatten sie ein Brett beseitigt, hatten das Freie gewonnen. Die meisten wurden ja schnell wieder eingefangen, einige blieben aber doch verschwunden. Hin und wider fand man einen Hummer unter einem Taubündel oder sonstwo, einen sogar tief unten im Raum, bis jetzt fehlten noch immer vier.

Da sahen wir unseren Nebukadnezar, der sich mit einem großen Hummer, der an Deck wieder zum Vorschein gekommen, amüsierte. Nebukadnezar war ein langgeschwänzter Affe. Wer ihn so getauft hatte, weiß ich nicht.

Es sah äußerst drollig aus, wie sich der Affe benahm.

Er saß vor dem Hummer, betrachtete ihn tiefsinnig und tippte ihm ab und zu mit der Fingerspitze auf den Kopf.

Mit einem Male aber schrie mein Nebukadnezar Zeter und Mordio, voltigierte die Wante hinauf, während ihm hinten am Schwanze der Hummer hing. Höher und höher ging es hinauf unter fürchterlichem Zetergeschrei, der Hummer wurde an dem langen Schwanze hin und her geschleudert, wollte aber nicht loslassen, sich auch nirgends festklemmen.

So kam Nebukadnezar auf die Obermarsrahe, auf dem Fockmaste. Mit einem Male ließ der Hummer los, sauste herab und – – gerade in die kochend heiße Kartoffelsuppe mit der Fettschicht hinein.

Anfang

Da verging den meisten das Lachen, besonders auch mir, es verwandelte sich in Fluchen und Schmerzgeheul, denn das heiße Fett spritzte doch nach allen Seiten. Ich hatte ein paar böse Brandblasen im Gesicht abbekommen. Es war ein Glück, daß sonst nichts passiert war, manches Auge hätte flöten gehen können.

Seit dieser Zeit blicke ich, auch im Zimmer, wenn Kartoffelsuppe auf den Tisch kommt, immer unwillkürlich und mißtrauisch in die Höhe, ob von der Decke nicht etwa ein Hummer in die Suppenschüssel fallen könnte.

Dann kam der große Tag.

Wir bauten in der großen Kajüte auf, die auch den Offizieren zur Verfügung stand, in die sie wohl auch einmal einen Mann rufen konnten. Es war ja überhaupt ein besonderer Fall. Früh um vier fingen wir schon an, alles zu arrangieren, um sechs Uhr, sobald der Tag anbrach, würde Ilse erwachen, das wußten wir bestimmt, dann kam sie mit der Tante zum Vorschein. Die Patronin wußte ja überhaupt, um was für eine Überraschung es sich handelte, im Grunde genommen aber wußte sie gar nichts, und im übrigen war Siddy instruiert, die beiden rechtzeitig eintreten zu lassen.

Wir schleppten herbei und bauten auf. Abgezählte drei Dutzend Hemdchen, ebensoviel Höschen, gestärkt und fein geplättet, mit gesticktem Monogramm, aber jedes Stück anders. Zwei Dutzend Paar Strümpfe, jedes mit einem anderen Muster und anderem Monogramm, ein Dutzend Röckchen und ebensoviel Kleidchen, aus Leinwand und Stoff und Tuch und Seide, mit und ohne Besatz, jedes ganz anders.

Ich selbst staunte, wie ich jetzt alles zusammen sah. Ja, in fünf Tagen können 62 Paar geschickte Hände schon etwas leisten, wenn man dabei die Luft anhält!

Die Wäsche wurde natürlich nicht übereinander geschichtet, so wenig wie die Kleider, sondern jedes Stück einzeln gelegt, was schon die Verschiedenheit der Monogramme rechtfertigte, und jedes Stück mit einem roten oder blauen Seidenbändchen umschlungen.

Na, wie das in der Kajüte aussah – großartig!

Was aber nun sonst noch alles dazukam. Ich kann nur Einiges noch erwähnen. Auch der sonst unsichtbar gewordene Albert hatte sich daran beteiligt. Das Kunststicken wird von den Matrosen überhaupt viel ausgeübt, und besonders dieser stille Mensch konnte großartig sticken! Er hatte ein Paar Strumpfbänder und einen Gürtel gefertigt, mit verschiedenfarbiger Seide gestickt, mit dem Namen unseres Schiffes und sonst noch mit Verzierungen – prachtvoll! Dann hatte der beste Kerbholzschnitzer noch ein besonderes Kästchen geliefert. Nun denke man sich den Kerbschnitt aber nicht so einfach, daß man links und rechts immer einen Schnitt macht, daß eine Ecke herauskommt. Da lassen sich Effekte erzielen, von dem der, der so etwas noch nicht gesehen hat, eben gar keine Ahnung hat. Der Deckel war ein ganzer Blumenstrauß und jedes Staubfädchen war eingeschnitten! Und in dieses Kästchen legte Meister Kännchen sein Geburtstagsgeschenk, einen hohlen Backzahn, den er einmal einem wimmernden Menschen herausgeruppt hatte – ein Monstrum von einem Backzahn, wie ich ihn so kolossal gar nicht für möglich gehalten hätte. Wenn der unter amerikanischen Raritätensammlern verauktioniert wurde, der brachte sicher ein beträchtliches Vermögen ein. Und so noch andere Überraschungen.

Den Mittelpunkt aber bildete der Schrank mit den 30 Paar Kinderstiefeln. Schon der Glasschrank war ein Glanzstück. Über und über mit Sternchen und Arabesken und Seeschlangen und Schiffchen bedeckt, die Stiftchen mit goldenen Köpfchen, und diese selbst bildeten wieder Arabesken und andere Figuren. Die Hauptsache aber war doch der Inhalt. Diese 30 Paar Stiefeln und Stiefelchen, Schuhe und Schuhchen, diese Eleganz und diese Unförmlichkeit, wie die auf den Regalen, alles Kerbschnitt in Reih und Glied standen – das war einfach von überwältigender Erhabenheit!

»Sie kommen!« meldete Siddy.

Wir stellten uns im Hintergrunde der großen Kajüte auf. Hämmerlein spielte die Orgel.

Ich habe noch nicht wieder von der Orgel gesprochen, werde es auch nie; nämlich wie das klang, wenn die Orgel spielte. 64 Register, 90 Stimmen mit 5000 Pfeifen. Auf dem einsamen Meere gespielt! Nie werde ich versuchen, da einen Eindruck schildern zu wollen. Das war nur zu erleben.

So traten die beiden ein.

Auch das Weitere vermag ich nicht zu schildern. Jedenfalls kam, wie gewöhnlich, alles ganz anders, als wie es sich irgend jemand vorgestellt hatte.

Ja, die Patronin hatte etwas gewußt, natürlich. Anderseits hatte sie gar keine Ahnung gehabt.

Da stand sie und starrte und starrte, minutenlang.

»Tante, was ist denn das nur?« staunte Ilse mit glückstrahlenden Augen des Unglaubens.

Und mit einem Male bekommt die Patronin einen purpurroten Kopf, dann wird das Gesicht wieder ganz weiß, und dann fängt sie an zu weinen und zu weinen, schreit vor Jammer laut auf.

Es störte nicht die Feststimmung, es war schnell wieder vorüber, und dann ging es anders los.

Jedenfalls aber hat noch keine Prinzessin und noch keine Milliardärstochter solch einen Geburtstag gefeiert, wie damals unsere Ilse, »unser« Kind!

Und ich ahnte damals noch nicht, daß dieser Schrank mit den 30 Paar Stiefelchen und Schuhchen, dann zum Teil schon stark abgenützt, dereinst noch einmal als erstes Schaustück im Salon meines eigenen Hauses stehen würde, daß ich selbst – doch ich will nicht vorgreifen.


11.
KAPITEL. IN MARSEILLE.

Wir lagen in Marseille, der Wind hatte uns dorthin getrieben.

Na, ganz so zufällig war es ja nicht gekommen. Aber einen Hafen hatten wir doch einmal aufsuchen müssen, und da war es ganz gut, daß es so ein großer wie Marseille war, wo alles zu haben ist, ohne daß man dafür Phantasiepreise bezahlen muß. Schon Kohlen kosten in Kapstadt genau das Doppelte wie in Marseille. Kohlen brauchten wir zwar nicht, aber manches andere destomehr. Wenn das Schiff auch unter Kapitän Martins Erfahrung ausgerüstet worden war, es war doch außerordentlich schnell gegangen, es hatte manches von Anfang an gefehlt, und das Schiff war bereits seit vier Monaten unterwegs!

Da war den Leuten einmal ein längerer Aufenthalt in einem Hafen, in dem das Leben alles bietet, was der Mensch nun einmal braucht, zu gönnen. Sie hatten doch nicht auf ein Segelschiff gemustert, das von Europa nach Australien geht, wobei man sich von vornherein mit dem Gedanken, monatelang von der anderen Welt nichts mehr zu sehen, abfinden muß, obgleich da doch manchmal ein Hafen angelaufen werden kann – noch weniger waren sie auf einem Walfischfahrer, der gleich einmal drei Jahre draußen bleibt – und diese meist jungen Kerls waren doch auch keine Asketen, hatten kein Gelübde abgelegt.

Die Patronin machte mir als dem Waffenmeister, der nun einmal gewissermaßen die Rolle eines Aufsehers von Fürsorgezöglingen spielte, einige zarte Andeutungen, von wegen, daß die Matrosen nicht gar so sehr in den Straßen herumtorkelten, nicht immer gerade in den allerschlimmsten Löchern vor Anker gingen, wo sie dann nicht wieder flott zu bekommen waren, nur mit Polizeigewalt – daß sie freilich mit den Leuten, mit ihrem Volke, nicht gleich ins Theater und in die Gemäldegalerie gehen könne, das wisse sie ja selbst – aber das alles war gar nicht nötig, auch nicht, daß ich den Leuten erst Instruktionen erteilte – ich wußte schon, wie es kommen würde, und hatte mich auch nicht geirrt.

Über unser Schiff war ein ganz besonderer Geist gekommen. Der Korpsgeist! Was das für ein Geist ist, das läßt sich nicht so leicht erklären. Wer ihn hat, der weiß es, kein anderer. Ich schlage im Wörterbuch nach und finde: Korpsgeist nennt man in Korporationen die tätigste Teilnahme jedes einzelnen an dem gemeinschaftlichen Wohle aller, unter Beiseitesetzung aller persönlichen Rücksichten.

Ja, diese Definition ist ganz richtig, aber – – das macht noch lange keinen Korpsgeist aus, da fehlt gerade die Hauptsache; denn sonst müßte in der Gesellschaft Jesu, unter den Jesuiten, der allerstärkste Korpsgeist herrschen, und gerade das Gegenteil ist der Fall.

Das Ritterliche ist es dabei, was den Ausschlag gibt! Und es brauchen nicht gerade Offiziere und Studentenverbindungen zu sein, unter denen dieser ritterliche Korpsgeist herrscht. Es können auch Arbeiter sein, Sangesbrüder oder eine Turnerriege. Aber mit dem heiligen Geiste hängt es etwas zusammen. Nur über Auserwählte kommt er, kann nicht erzwungen werden, kommt ganz plötzlich, man kann ihn festhalten und ihn auch sehr leicht wieder verlieren.

Bei uns kam aber auch noch etwas anderes hinzu, eine Macht, die vor allen schlimmen Abwegen behütet. Das ist der Sport. Das ständige Bewußtsein der Absicht, in einem ritterlichen Spiele die Meisterschaft erreichen zu wollen, wobei jede Sumpferei und Lumperei das größte Hindernis ist. Hierin liegt die ethische Bedeutung des Sports! Deshalb auch wird der Sport jeder Art auf den englischen Universitäten so eifrig gepflegt, am stärksten ausgedrückt durch das jährliche Wettrudern zwischen Oxford und Cambridge, zu welcher Stunde man nicht telegraphieren kann, weil alle Telegraphenlinien der ganzen Erde besetzt sind, um diesen Wettkampf der beiden Universitäten zu beobachten. Deshalb auch haben die deutschen Studenten von jeher das Fechten gepflegt, was allerdings ganz seinen ursprünglichen Zweck verloren hat. Nicht wer die wenigsten, sondern wer die meisten Schmisse hat, das ist heute der Held, also der ungeschickteste Raufbold. Deshalb aber ruft auch der deutsche Kaiser den Studenten bei jeder Gelegenheit zu: »Treibt Sport!« –

Die Mannschaft der »Argos« marschierte nicht etwa in geschlossenem Trupp durch die Straßen, sie setzten sich nicht wie die Rekruten, die zum ersten Male ausgeführt werden, in einem Lokal an bestimmte Tische, wie der Herr Unteroffizier befiehlt. Gott bewahre! Sie gingen, wie und wohin sie wollten, gute Freunde zusammen oder auch allein. Aber es war doch etwas so ganz anderes, als wenn sonst ein Schiff abmustert oder wenn die Leute im fremden Hafen Vorschuß bekommen.

»Wir sind etwas anderes als Ihr, wir haben etwas Großes vor, aber verraten wird nichts, Ihr sollt schon noch staunen, und dazu müssen wir uns halten!« Das war es!

Nur unser guter Doktor Isidor kam einmal vorgefahren, mußte eingeladen werden, hatte tausend Franken einstecken gehabt und jetzt nach einigen Stunden auch seine Uhr nicht mehr, nicht einmal seinen silbernen Bleistift, und dann glaubte er drei Tage lang, er wäre in Frankfurt am Main in der Kaltwasserheilanstalt, die Patronin redete er immer mit »Herr Professor« an. Dann aber, als er wieder hergestellt war, mit den nötigen kalten Duschen, als er sich beim Essen nicht mehr mit der Gabel in die Augen stach, als er wieder gehen konnte, ohne immer zusammenzuknicken, als die Lebenslust wieder neu erwachte, da ließ er sich willig ins Schlepptau nehmen. –

Eines Mittags, wie ich von der Hauptpost kam, wurde mir auf der Straße ein Zettel zugesteckt, von einem Zettelverteiler.

Wo speist man in Marseille am besten und billigsten für nur einen Frank? In Maison Oliganda, Rue Bergere 34.

1. Gang: Suppe.

2. Gang: Fisch.

3. Gang: Braten mit Kartoffeln und Gemüse.

4. Gang: Geflügel.

Nachtisch: Brot, Butter und vier verschiedene Sorten Käse. – Früchte. – Eis.

»Dazu eine halbe Flasche guten Rotwein. –

Hallo!!

Das alles für einen einzigen Frank?

Hatte ich auch richtig gelesen?

Jawohl, da stand es gedruckt. Alles für einen einzigen Frank, für 80 Pfennig.

Na, da mußte ich hin. Ich erkundigte mich nach der Straße – die Rue Bergere war gar nicht so weit.

Zwar erwartete mich die Patronin mit einer höchst wichtigen Post, aber sie konnte nicht anders glauben, als daß ich erst eine Stunde später käme. Und überhaupt – das war ich einfach der Wissenschaft schuldig.

Nun will ich gleich etwas bemerken, wodurch der ganzen Sache auch kein Abbruch geschieht.

Das war hier nicht etwa das einzige Restaurant in Frankreich, in dem man so billig und reichlich speist. Schon hier hatte dieses Restaurant, wie ich später erfuhr, mehrere Konkurrenten, ich habe dasselbe später auch in Nizza und in Paris gefunden, auch in italienischen Städten, für einen Franken oder Lire dasselbe Menü mit vielen Gängen und Nachtisch und Wein.

Damals aber wußte ich dies noch nicht. Nur eines war mir schon bekannt. Die halbe Flasche Wein konnte mich nicht weiter irritieren. Man las es hier ja überall, in jeder Weinhandlung und jedem Büdchen wurde guter Wein angepriesen, der ganze Liter zu vier Sous gleich 17 Pfennige. So ist das noch heute. Ein feiner Wein ist das natürlich nicht. Aber trinken läßt er sich schon. Und das ist nun der Detailpreis. Da kann ein großes Speisehaus, das starken Umsatz hat, im Großen einkauft, schon eine halbe Flasche geben, es braucht nicht der schlechteste zu sein, und sie kostet ihm höchstens einen Groschen.

Aber Suppe, Fisch, Braten mit Beilage, Geflügel, verschiedene Käse, Früchte, Eis – das alles für einen Franken.

Man sieht, wie ich meinen Denkapparat anstrengte, um dieses Rätsel durch eigenen Scharfsinn im voraus zu lösen.

Dabei kam ich, wie es, dann manchmal so geht, auf ganz merkwürdige Gedanken.

Sollte man da vielleicht erst ein gewisses Quantum Arbeit verrichten, ehe man dieses Genusses für einen Franken teilhaftig wurde? Erst einen Stapel Holz hacken?

Ich dachte nämlich an die Handwerksburschen an die armen Reisenden, die durch die vorsichtig geöffnete Vorsaaltür – »Mitglied des Vereins gegen Hausbettelei« – eine Anweisung auf 20 Pfennig zugesteckt bekommen, dort und dort gegen Nachtlager und einer kräftigen Mahlzeit einzutauschen, und wenn sie hinkommen, dann müssen sie erst einige Stunden Holz hacken.

Na, Holz zu hacken, das würde man doch von unsereinem nicht verlangen. Adressen schreiben? Auch nicht. Wollten die einem vielleicht mittels dieser Lockspeisen die Würmer aus der Nase ziehen, um Geschäftsgeheimnisse zu ergründen?

Ich kam nicht auf den Trichter. Aber jedenfalls sieht man doch, wie ich mich für diesen Fall interessierte.

Nun, ich hatte Maison Oliganda erreicht. Jetzt würde ja gleich des Rätsels Lösung kommen.

Es war ein gutbürgerliches Speisehaus. Da denke ich aber schon an französische Verhältnisse. In Deutschland wäre es eine hochfeine Aufmachung gewesen. Die Tische blendendweiß gedeckt, auf jedem schöne Blumen, Wasserkarraffen, verschiedene Arten Gläser.

Das Lokal war gut besucht, wenn auch nicht voll. Der Kleidung und auch dem Benehmen nach nur Herren und Damen besseren Standes. Essen tat noch niemand. Es wurde jedenfalls gleichzeitig serviert, wenn auch an einzelnen Tischen, und soweit war es noch nicht.

Ich nahm Platz. Etwas schüchtern, verlegen, gedrückt. Ich nehme nicht gern etwas geschenkt an. Und mich hier für acht Groschen mästen zu lassen – es war mir peinlich! Na, der Wissenschaft wegen.

Ein Kellner brachte unaufgefordert eine halbe Flasche Rotwein. Ein tadellos schwarzbefrackter Geist. Daß er auf dem Vorhemdchen einen großen Saucenfleck hatte, das machte für dieses Speisehaus nur Reklame. Hier wurde mit Sauce nicht gegeizt.

Ich kostete den Wein. Der war ganz gut. Ich verstehe ja allerdings nicht viel von Wein, mehr von Rum und dergleichen, aber – kratzen und beißen tat der Wein nicht, zog einem nicht die Strümpfe aus, gar nichts.

Wollte ich also diese halbe Flasche nur einen einzigen Groschen rechnen. Nun aber lag schon neben jedem Teller eine lange Stange Weißbrot. Die kostete im Laden anderthalb Sou, das wußte ich. Ich wollte nur 5 Pfennig annehmen. Da waren aber doch bereits 15 Pfennig weg, blieben nur noch 65 für das ganze Menü.

Ach Du mein armer Hirnkasten!

Ein Klingeln erscholl. Durch alle Gäste ging es wie ein Ruck, plötzlich verstummte alles, wie im Theater, wenn der Vorhang hochgeht.

Und richtig, alsbald kamen die Kellner angerannt, brachten die Suppe.

Einen großen Teller voll, es ging gar nicht mehr hinein, eine ausgezeichnete Kohlsuppe, eine ausgezeichnete Bouillon!

Ich wurde ganz kopfscheu.

Na, Kohl ist ja billig, und es war ja nur die Brühe von gekochtem Fleisch. Aber immerhin, sollte dieser Teller Suppe auch nur 5 Pfennig kosten, dann blieben doch nur noch 60 Pfennig für Fisch, Braten mit Beilage, Geflügel, Butterbrot mit vier verschiedenen Sorten Käse, Früchte und Eis!

Ach Du mein armer Hirnkasten! Wäre ich doch nur nicht hier hereingegangen. Meine verfluchte Wißbegierde! Ich genierte mich fürchterlich. Mich hier in einer fremden Stadt für sechs Groschen mästen zu lassen. Der Fisch kam. Ich nahm die Gabel in die rechte Hand, in die linke ein Stück Semmel.

Au!!!

Wie der Fisch vor mir stand, da freilich ging mir eine Ahnung auf!

Ja, Fisch war es. Sogar ein ganzer. Es war eine gebratene Sardine, nicht größer als mein kleiner Finger, aber längst, längst nicht so dick! Wie ein breitgequetschter Regenwurm, der eine Hungerkur durchgemacht hat.

Na, ich will mich kurz fassen; denn diese Schilderung hier ist erst die Einleitung für einen zweiten Besuch, den ich diesem Speisehaus abstattete, da ging der Witz erst richtig los.

So ging es weiter. Der Braten bestand in einem Hammelkotelett mit einer kleinen Kartoffel und sechs oder sieben Schnitt Bohnen. Nicht Schnittbohnen, sondern Schnittchen, die von einer Bohne recht sein abgeschnipselt worden waren.

Über das Hammelkotelett selbst will ich nichts weiter sagen als: Wenn ich nicht gerade ein mittelloser Hungerleider bin, und ich habe einen Hund – so einen abgenagten Knochen gebe ich ihm nicht. Da tut mir der Hund zu leid. Daß er nichts weiter als Knochen hat. Etwas Fleisch lasse ich denn doch dran.

Dann wurde das Geflügel serviert. Da aber mußte ich mir einmal kräftig auf die Lippen beißen. Ein kleines Taubenbeinchen! Und wie ich meine Blicke umherschweifen ließt da mußte ich zu dem Schlusse kommen, daß es in Marseille Tausendfüßler mit Taubenschenkeln gab, oder daß jede Taube tausend Füße hatte; denn alle anderen Gäste hatten auch nur Taubenbeinchen, jeder eins.

Und dann ein einziges Stückchen Butter mit tatsächlich viererlei verschiedenem Käse, freilich nur soviel als unsereiner für gewöhnlich an der Rinde dran läßt, dann eine Birne, eine Feige, drei Kirschen und vier Oliven, dann ein Stückchen Eis. Es rutschte mir vom Löffel, fiel auf den Boden, und wie ich hinblickte war’s bereits ein Wassertropfen geworden.

Das also war dies Rätsels Lösung.

Wenn ich es mir jetzt berechnete, so hatte der Wirt an alledem noch vier Groschen verdient.

Doch davon abgesehen. Von etwas anderem möchte ich jetzt sprechen. Ich stellte Beobachtungen an, die mir morgen, wenn ich zum zweiten Male hier speiste, nicht möglich waren. Denn da sollte ich hier etwas anderes erleben; nämlich mit Mister Tabak! Denn den mit seinem Riesenappetit brachte ich morgen mit hierher, das war von vornherein mein felsenfester Entschluß!

Es war nämlich höchst interessant, die anderen Gäste zu beobachten. Wie diese französischen und zum Teil auch italienischen Herrchen und Dämchen speisten. Mit welchem Genusse die sich dem Essen hingaben! Wie graziös die das elende Sardinchen mit der Gabel tranchierten. Wie die von dem Hammelknochen noch immer etwas Fleisch abzuschneiden wußten, wie zierlich sie die unsichtbaren Stückchen auf die Gabel schoben und zum Munde führten, wie fein sie das Taubenknöchelchen bearbeiteten. Überhaupt, mit welcher Behaglichkeit sie sich dem Ganzen hingaben.

Nachträglich sei noch erwähnt, was aber eigentlich bei dem Charakter des Ganzen fast selbstverständlich ist, daß nicht nur jeder Gang auf einem frischen Teller serviert wurde, man nichts etwa von einer Platte nahm, sondern daß man auch immer ein frisches Besteck dazu bekam, Gabel und Messer, und zum Nachtisch wurde sogar eine neue Serviette gereicht, sauber und blendend weiß! Und nun diese Unterhaltung! Immer über das Essen.

»Der Fisch ist heute vorzüglich.«

In der Tat, bei Levosier speist man längst nicht so gut.«

»Lassen Sie denn das Schwanzstück liegen?«

»Ja, auch das Kopfstück. Ich esse vom Fisch immer nur das Mittelstück!«

Ach Du allmächtiger Gott!! Ich sah schon morgen den gefräßigen Eskimo hier sitzen, vor dem winzigen Fischchen!

Dies alles aber charakterisiert so ganz den Franzosen, den Südfranzosen, und das geht weiter die Riviera entlang nach Italien hinüber.

Es sind glückliche Leutchen dort unten! Aber tauschen möchte ich mit ihnen nicht. –

Ich fragte nach der Rechnung – nur einen Frank. Als ich mir auf ein Fünffrankstück nur drei Franken zurückgeben ließ, bekam der Kellner vor freudiger Überraschung einen Hexenschuß.

Ich hatte die drei einzelnen Frankstücke in die Westentasche gesteckt, und wie ich sie mir dann bei Gelegenheit noch einmal besah, da waren zwei davon falsch oder doch wertlos, außer Kurs. Der Napoleonskopf hatte keinen Lorbeerzweig.

Na warte, alter Freund mit dem Saucenfleck!

Ich begab mich an Bord. Die Patronin hatte mich noch gar nicht erwartet. Sie las den postlagernden Brief, den ich mitgebracht hatte.

»Ja. Auch das ist nun in Ordnung. Ebenso wie die Sache mit der Orgel. Sie kostet also – es ist alles nach englischem Gelde berechnet worden – inklusive Versand und Versicherung genau 2100 Pfund Sterling. Auch schon die Instrumente sind dabei. Da nun der dritte Teil als Bergelohn abgeht, so habe ich noch 1400 Pfund nachzuzahlen. Das ist bereits alles erledigt, die Orgel ist mein Eigentum. Nun aber hat die Reederei, also ich, nur die Hälfte des Bergelohns zu beanspruchen. Ein Viertel fällt dem Kapitän zu, das letzte Viertel der Mannschaft. Also hat die Mannschaft von mir 175 Pfund Sterling ausgezahlt zu bekommen. Stimmt das so?«

Aufmerksam blickte ich die Sprecherin an. Ja, ich hatte mich schon vorhin nicht getäuscht. Sie war halb finster, halb trübselig, in ihrer Stimme lag auch ein Zittern, und jetzt, wie sie sich umwandte, um nach dem Panzerschrank zu gehen, sah ich es noch einmal verdächtig um ihre Mundwinkel zucken.

Sie machte sich an dem Geldschrank zu schaffen hinter der Panzertür, die sie ganz verdeckte.

»Nicht wahr, Herr Waffenmeister?« erklang es hinter dem gepanzerten Schutzwalle.

»Frau Neubert!« sagte ich leise.

»Ja.«

»Haben Sie schon mit Kapitän Martin darüber gesprochen?«

»Gewiß.«

»Der Kapitän hat sich seinen Anteil wohl schon auszahlen lassen?«

»Selbstverständlich.«

»Selbstverständlich, jawohl, selbstverständlich. Oder Sie dachten wohl, der Kapitän würde Ihnen die 175 Pfund schenken? Nein, dazu ist, Kapitän Martin ein viel zu lauterer, ehrlicher Charakter.«

Anfang

Hinter der Panzertür verstummte das Rasseln mit den Geldkassetten plötzlich:

»Was sagten Sie da?!« erklang es leise.

»Frau Neubert,« bat ich, »kommen Sie doch mal vor, blicken Sie sich doch mal an, wir sind doch hier unter uns.«

Sie kam hervor, mit starren Augen, die sich mit Tränen gefüllt hatten.

»Sie werden,« fuhr ich fort, »der Mannschaft die ihr zukommenden 175 Pfund Sterling auszahlen wollen. Ja, glauben Sie etwa, die Leute werden das annehmen?«

Sie begann mich noch mehr anzustarren, denn jetzt verstand sie mich noch weniger.

»Wie meinen Sie?«

»Nein, keiner von den Matrosen und Heizern wird das Geld annehmen wollen. Sie werden schon das Angebot als eine große Beleidigung empfinden. »Verflucht soll der Schuft sein, der auch nur einen Penny von der Patronin annimmt!« So ungefähr werden sie sprechen. Sie, Frau Patronin, sind doch so gut zu ihnen gewesen. Sie haben ihnen silberbeschlagene Meerschaumpfeifen und vieles, vieles andere geschenkt. Ja, so denken diese Leute, und das ist ganz wunderbar, höchst achtungswert. Aber keiner von ihnen ist ein Kapitän Martin. Der verbindet mit seiner Ehrlichkeit soviel weitsichtige Klugheit, daß er seinen Anteil ruhig in die Tasche steckt, jedenfalls ohne ein »Danke« zu sagen. Ja, Frau Neubert, verstehen Sie denn nicht, was hier vorliegt? Die Leute müssen gezwungen werden, daß sie das, was ihnen gesetzlich zukommt, annehmen. Tun sie es nicht, dann werden sie unbarmherzig fortgejagt! Weshalb? Ja, Frau Neubert, halten Sie es denn nicht möglich, daß einmal ein Riß in die Freundschaft kommt? Nun nehmen Sie einmal an, so ein Matrose geht in Unfrieden fort, oder es kann auch in Frieden sein, und er sieht einmal Ihr Schiff im Hafen liegen, oder die »Argos« fährt an seinem Schiff vorüber, und die Orgel spielt gerade – und da kann dieser Mann nun mit vollem Rechte zu seinen Kameraden sagen: das ist die »Argos« der Frau Helene Neubert, die Orgel haben wir aus einem Wrack genommen, haben uns schrecklich abrackern müssen, aber den Bergelohn haben wir nicht angenommen, wir haben ihr die Orgel geschenkt, von dieser Orgel gehört mir auch etwas –«

Ich brauchte nicht weiter zu sprechen. Sie verstand mich noch schneller, als ich es erwartet hatte, das sah ich gleich ihren Augen an, die immer größer geworden waren.

Während meiner letzten Worte hatte sie langsam die Hand erhoben, um sie sich kräftig gegen die Stirn zu klatschen.

»Waffenmeister – Sie haben recht! Hundertmal, tausendmal recht! Ach, ich Närrin –«

»Das alles weiß Kapitän Martin auch,« unterbrach ich sie, »aber der hält nicht erst so eine lange Rede wie ich, der müßte dazu am Ende die Hände aus den Hosentaschen nehmen –«

»Genug, genug! Ich verstehe, ich verstehe!«

»Na dann geben Sie mir gleich die 175 Pfund, ich will sie unter den Leuten gleich zur Verteilung bringen.«

Sie gab mir das Geld.

»Das wird prozentual nach der Höhe der Heuer verteilt, nicht wahr?« fragte sie.

»Jawohl.«

»Ja – verzeihen Sie, daß ich von so etwas beginne – nun bekommen Sie aber doch noch mehr Heuer als der Kapitän, also müßten Sie doch auch –«

»Nein, ich bekomme keine Heuer, sondern nur Gehalt. Ich habe überhaupt nichts von den Bergelohn zu beanspruchen. Ich stehe doch nicht mit in der Musterrolle.«

»Da – bekommen Sie gar nichts –?«

»Ich habe nichts zu beanspruchen. Ebensowenig die sogenannten Exklusiven oder Exklikusen. Die gehören gesetzlich nicht zur Schiffsmannschaft.«

»Aber – aber –« wurde die Patronin wieder ganz kleinlaut, »da ist zum Beispiel der Simson, der hat doch gerade am allermeisten geschleppt –«

»Na lassen Sie mich nur machen!« fing ich jetzt zu lachen an. »Das kommt alles ganz anders, als Sie sich jetzt denken. Sie werden schon zufrieden mit mir sein. Die Hauptsache ist, daß Sie Ihre heiteren Augen wiederbekommen. Na, die haben Sie ja jetzt schon.«

Ich ging, stellte eine kleine Berechnung auf, begab mich zuerst zum ersten Steuermann; denn die Offiziere mußte ich einzeln vornehmen.

Ich hatte gleich im Anfange gesagt, daß mir der erste Steuermann nicht gefiel.

Nein, das tat er auch nicht, auch jetzt noch nicht ganz. Er hatte ein scheues Auge, konnte einen nicht ansehen, mich wenigstens nicht.

In anderer Hinsicht aber hatte ich nichts an ihm auszusetzen. Er war der tüchtigste Steuermann, kujonierte nicht, paßte ganz vortrefflich zu uns. Die Übungen machte er freilich nicht mit. Dazu war er mit seinen 40 Jahren auch schon zu alt. Er sang und blies auch nicht mit. Aber zum Beispiel hatte er sich eifrigst an Ilses Geburtstag beteiligt, hatte in seiner Kabine viele Monogramme gestickt. Aber auch sonst hatte er schon wiederholt bewiesen, daß er ganz vortrefflich zu uns Argonauten paßte.

Ich ahnte schon, wußte, was mit dem los war. Der hatte etwas auf dem Gewissen, was ihn zugleich als tiefer Kummer bedrückte.

Nun, da bin ich der letzte, der auf so etwas ein Seil dreht. Wenn ich etwa weiß, daß jemand schon einmal im Zuchthaus gesessen hat, und mag es auch wegen eines noch so gemeinen Verbrechens gewesen sein – dem zeige ich gerade meine Teilnahme. Solange er ihrer würdig ist, Daran kommt es eben an. Ich finde das nachträgliche Bestrafen mit Verlust der Ehrenrechte ganz abscheulich. Der Mann kann sich doch in seiner einsamen Zelle gebessert, total umgewandelt haben. Warum soll er denn dann noch hinterher an so einer fürchterlichen Last schleppen. Gebt ihm doch statt dessen ein paar Jahre mehr. Aber wenn die Freiheitsstrafe vorbei ist, dann muß es auch wirklich vorbei sein, dann muß er wieder gerechtfertigt dastehen; denn er hat gesühnt.

Also wenn der Steuermann hier auf unserem Schiff ein Asyl gefunden hatte, dann wäre ich der letzte gewesen, der es ihm entzogen hätte. Er hätte mich einmal noch so beleidigen können, da hätte es bei mir kein persönliches Interesse gegeben. Aber leiden konnte ich ihn nicht. Lieber wäre es mir gewesen, er wäre im Pfefferlande.

Diese Angelegenheit hier sollte der Prüfstein sein. Forderte er seinen gesetzlichen Teil, dann paßte er nicht zu uns, dann mußte er fort. Mit mir hatte das gar nichts zu tun.

»So und so, Herr Steuermann, Sie bekommen von der geborgenen Orgel auf Ihren prozentualen Anteil 4 Pfund 8 Schilling 5 Pence.«

I Gott bewahre! Nicht einen Penny! Und er sagte, warum nicht. Er würde sich doch schämen, etwas anzunehmen.

Gut, nun konnte er bleiben. Und wenn er einmal der Schwester den Gatten freien wollte, und er brauchte einen Bürgen, der eventuell statt seiner erblassen mußte, so konnte er sich an mich wenden. Was ich ihm natürlich nicht sagte.

»Aber der Bergelohn muß angenommen werden. Die Patronin will es. Also, schlage ich vor, er wird gleichmäßig unter alle verteilt. Auch unter die, die nicht in der Musterrolle stehen.«

Recht so!

Die anderen Offiziere nahm ich zusammen vor. Das waren ja nur Ernst, der zweite und dritte Maschinist. Übrigens, daß ich es nicht vergesse: der Anteil des ersten Maschinisten war bereits reserviert, der wurde an seine Adresse geschickt.

Na, bei diesen dreien hatte ich noch weniger Arbeit, oder eigentlich mehr. Aber die armen Kerls sahen ein, daß sie das Geld doch annehmen mußten. Natürlich ebenfalls gleichmäßige Teilung.

Dann trommelte ich in der Batterie die Mannschaft zusammen. Da hatte ich den schwersten Stand.

»Ihr müßt es annehmen!«

Da hielt der Matrose Knut, ein wahrer Cicero von der ostfriesischen Waterkant, eine lange Rede, holte wenigstens dazu aus.

»Jau! Dann legen wir zusammen und machen der Patronin ein Geschenk –«

»Nein, es wird eben kein Geschenk gemacht! Schenkt Euren Mädels etwas, aber nicht der Patronin –«

»Ihr seid wohl der Vormund der Patronin?« mußte sich erst einmal Sam der Engländer spöttisch vernehmen lassen.

»Nein, das bin ich nicht,« entgegnete ich ganz ruhig, »aber ich weiß, was ich hier zu sprechen habe. Jungens, nun nehmt mal Euren Verstand zusammen. Ihr wollt also der Patronin ein Geschenk machen. Schön von Euch sehr schön! Aber wißt Ihr, womit Ihr der Patronin das schönste Geschenk machen könnt? Ihr wißt doch ganz genau, was die will, was die von Euch hofft. Daß Ihr sobald als möglich mit diesem Schiffe allen anderen Schiffen über die Nase rutscht, und das liegt nur an Euch –«

So sprach ich noch etwas weiter, und befriedigt gingen die Leute von dannen.

»Der Waffenmeister hat recht.«

Es war eine sehr, sehr verzwickte Geschichte gewesen, und ich hatte sie sehr geschickt gelöst: dessen rühme ich mich ganz offen. Ich atmete nämlich erleichtert auf, gratulierte mir selber.

Ja, eine ganz verteufelte Geschichte war es gewesen! Wegen so ein paar lumpigen Pfund Sterling wäre bald die ganze Freundschaft in die Brüche gegangen! Es war schon sehr nahe drangewesen. Die Patronin hatte ja schon vor Kummer an zu weinen gefangen.

Nun könnte man ja allerdings sagen, daß ich das alles – mit Ausnahme des Falles des Kapitäns – ja erst provoziert hätte. Die Matrosen wollten doch verzichten, da hätte sich die Patronin ob solchen Edelmuts doch höchst glücklich gefühlt.

Nein, nein, nein, nein!! Hier lag etwas ganz, ganz anderes vor! Nur kein Edelmut in so etwas! Wenn nun nur ein einziger darunter gewesen wäre, der nicht gern und freiwillig verzichtet hätte?

Die Patronin hatte zu zahlen, was sie zu zahlen hatte und damit basta!

Daß wir dann untereinander gleichmäßige Teilung ausmachten, das war unsere Sache!

Ich würde mich ja bei alledem nicht so lange aufhalten, wenn das nicht die größte Bedeutung für später gehabt hätte.

Wir sollten nämlich noch einmal in andere Lagen kommen. Da – da kam es drauf an, ob die Matrosen edelmütig und opferwillig waren – aber nicht bei lumpigen 175 Pfund Sterling.

So brauche ich das dann später nicht mehr ausführlich zu behandeln, das ist nun erledigt. Wenn wir fernerhin ein Wrack ausnahmen oder sonstwie eine Beute machten, so gehörte die Hälfte des Gewinnes der Patronin, ein Viertel dem Kapitän, das letzte Viertel wurde unter der ganzen Mannschaft gleichmäßig verteilt, der Küchenjunge Jimmy bekam ebensoviel wie der erste Steuermann und wie ich, und damit basta! –

Nun will ich gleich noch etwas im voraus erwähnen. Am letzten Tage, bevor wir Marseille verließer wurde für den Kapitän eine große Kiste gebracht. »Erster! Jimmy!«

Der erste Steuermann und der schwarze Küchenjunge mußten in die Kapitänskajüte kommen.

Ich habe die Szene ja nicht selbst gesehen, aber so etwas erfährt man doch ganz genau.

Der erste Steuermann mußte warten, Jimmy kam erst fünf Minuten später.

Daß sich der Kapitän gar nicht um den ersten Offizier, der an der Tür stand, kümmerte, das war selbstverständlich. Das wird man als Schiffsoffizier schnell gewöhnt. Da wird nicht einstweilen über das Wetter gesprochen. Wenn den Steuermann seine Beine nicht mehr trugen, dann konnte er sich auch ohne Erlaubnis setzen.

Der schwarze Küchenjunge kam.

»Well!«

Und der Kapitän hatte sein langes Bein nach dem Tische geschlenkert.

Auf diesem Tische stand eine prachtvolle silberne Bowle, eine Galeere darstellend, ein mächtiges Ding. Hinten der Name »Argos«. Und an anderer angebrachter Stelle eingraviert: »Kapitän Gustav Martin den Argonauten.« Und außerdem, um ja keinen Zweifel zu lassen, wozu diese Galeerenbowle dienen sollte, war sie mit grünen und roten Steinen oder einer sonstigen Masse ausgelegt.

Zum friedlichen Kampfspiel Grün gegen Rot!

Der Steuermann und Jimmy trugen sie hinaus.

Kein Wort weiter, keinen Dank!

Dieser Kapitän Martin war eine wirkliche, echte, unnahbare Majestät! Nur in Bordausgabe. Aber diese Majestät war auch in seiner Nähe direkt zu fühlen!

Und wie er nun die Übergabe des Geschenkes arrangiert hatte, so merkwürdig und doch so richtig! Ja, dieses Zartgefühl dabei! Man muß es nur richtig erfassen!

Der erste Steuermann war nach ihm eben der erste von der Schiffsbesatzung. Der mußte kommen. Von den »Exklusiven«, die aber doch mit zu den Argonauten gehörten, war ich der erste. Aber es war ganz richtig, wenn er mich nicht kommen ließ. Es war fast ausgeschlossen. Also ließ er von dieser Partei den letzten kommen, den Küchenjungen Jimmy. Der erste und der letzte vom registrierten Schiffe – also Argonauten ganz gleichberechtigt! Es war großartig ausgedacht gewesen!

Und wie ich dies alles erfuhr, da sah ich mich noch einmal an der Kommandobrücke stehen, damals gleich nach den ersten Stunden, und ich hörte ihn noch einmal:

»Ihr ungewaschenes Maul sollen Sie halten! Sie denken wohl, weil Sie Reserveoffizier sind? Und wenn Sie Großadmiral sind und kommandierender General –«

Ein prachtvoller Mensch! Es gibt wirklich Menschen, die man anbeten kann, ohne sich richtig Rechenschaft geben zu können, weshalb eigentlich.

Und was dieser Kapitän Martin auch sonst für ein Gentleman war, dafür sollte er noch später viele Beweise geben. –

Also diese Sache war nun erledigt.

Nur für mich noch nicht so ganz.

Als die Leute auseinandertraten, ging ich dem einen schnell nach und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Eh, Sam.«

»Wat?«

»Ihr fragtet mich doch vorhin, ob ich denn des Vormund der Patronin sei. Diese Frage paßte mir nicht. Verstanden? Das paßt mir nicht!«

Steif blickte mich der englische Matrose an.

»Will you fight with me?«

»Das ist es! Kommt mal mit mir hinunter in den Knockhimdown.«

Wir stiegen hinab nach dem Heizraum. Es war nicht etwa das erste Mal, daß so etwas vorkam.

Doktor Isidor bekam immer einmal etwas zu flicken und eine Schlinge an- oder eine Kompresse aufzulegen..

So etwas kann ja auch an Bord solch eines Schiffes gar nicht ausbleiben. Es ist so selbstverständlich, daß ich bisher gar nichts weiter davon erwähnt habe, weil eben noch kein besonders interessanter Fall vorgelegen hatte.

Nun darf man sich aber bei so einem Boxgang nicht etwas Besonderes denken, ihm eine große Bedeutung zulegen. Das ist nicht anders, als wenn sich zwei zu einer Partie Sechsundsechzig gegenübersetzen und um die Ehre spielen.

Wenn’s fertig ist, dann ist es eben vorbei. Manchmal sind’s die besten Freunde, die sich gegenseitig die Augen blau hauen, und sie bleiben die besten Freunde. Und ist es denn etwa bei den Studenten anders?

Ja, es kann vorkommen, daß daraus Feindschaft wird. Aber da paßte ich doch gut auf. Dann hätten beide Parteien gehen müssen.

Also wir stiegen hinab. Neben dem Heizraum war ein kleinerer, mit Waschvorrichtungen für die Heizer, auch eine Matratze lag da – alles wie geschaffen für einen kleinen Boxgang. Dieser Raum hieß schon allgemein der »Knockhimdown«. Schlagihnnieder.

Das elektrische Licht angedreht, die Jacken ausgezogen, und wir legten los.

Ich gab ihm ein blaues Auge, ließ ihn ein bißchen Blut spucken, brachte den Bewußtlosen mit kaltem Wasser wieder zu sich, wusch ihn auch sonst ab – das war dort alles so hübsch vorhanden – führte ihn, falls er noch einmal schwach wurde, selbst zum Schiffsarzt.

Denn das mußte gemeldet werden, daß der Matrose Sam in die Ketterkammer gestürzt war.

Doktor Isidor lag in der Koje und stierte uns mit käseweißem Gesicht an.

»Frankfurt!« schrie er uns entgegen. »Frankfuuuuhrt! Alles aussteigen!«

Ach so, der hatte ja noch seine drei Tage!

»Kellner – Bier her – schnell ein Glas Bier! Ich verdurste!«

Neben der Koje stand ein Krug mit Limonade, und der verwundete Sam war es, der dem Arzte zu trinken gab. Bewegen konnte er sich nämlich nicht, er war, damit er keinen Unsinn machte, in der Koje festgeschnallt.

Als ich am nächsten Morgen die Batterie betrat, da machte Sam schon unter den Klängen des Pariser Einzugsmarsches seinen Törn ab, auf dem Buckel einen Bleisack, auf der Schulter ein Bleirohr, über dem einen Auge eine Binde. Ich erwähne, daß wir auch das vom Wrack genommene Blei bezahlen mußten, abzüglich des Bergelohns, ebenso wie acht Sack Roggenmehl und sonstigen Proviant, aber mit solchen Kleinigkeiten will ich mich nicht aufhalten!«

»Waffenmeister,« frohlockte Sam mir entgegen, »heute fällt’s mir so leicht – ich weiß selbst nicht wie – es muß doch was dran gewesen sein, daß man früher manchmal Blut ohne sonstigen Grund abzapfte.«

Na, da wird wohl niemand glauben, daß der mir etwas übel genommen hatte.


»Kommen Sie mit, Mister Kabat?«

»Wohin?«

»Ich habe etwas auf dem Seemannsamt zu tun, dann will ich speisen gehen.«

»Speisen?!«

Seine Schlitzaugen erweiterten sich gleich, neben der Pfeifenspitze kam die Zunge zum Vorschein. Er war noch gar nicht an Land gegangen, hatte kein Bedürfnis danach.

»Ja, ich habe ein Restaurant empfohlen bekommen, in dem man vorzüglich speisen soll. Suppe, Fisch, Braten, Geflügel, als Nachtisch viererlei Käse, Früchte, Eis. Kommen Sie mit?«

Daß dies alles nur einen Frank kosten sollte, das sagte ich ihm aber natürlich nicht, und noch weniger flunkerte ich ihm vor, daß man etwa für diesen Frank einen armlangen Fisch bekam.

Aber der Köder genügte schon, er biß sofort an.

»Ja, ich komme mit.«

Er hätte das ja alles an Bord haben können, wenn er nicht an Land gehen wollte. Aber ich wußte schon, was hier vorlag. Er wäre nur gar zu gern an Land gegangen, aber nicht allein, sondern – er wollte dazu aufgefordert, eingeladen sein. Und mit Matrosen ging der nicht etwa. Er war etwas eingebildet eitel – sehr sogar. Freilich, sonst ja ein urgemütlicher Kerl. Ein Offizier hatte ihn zum Mitgehen noch nicht aufgefordert. Nun kam ich. Ei, da kam er gleich mit!

»Ja, ich komme mit. Ich ziehe mich gleich an –«

»Ich muß aber sofort auf das Seemannsamt.«

»Da holen Sie mich wieder ab.«

»Kommen Sie doch nach dem Seemannsamt. Ich erwarte Sie punkt halb zwölf vor dem Hauptportal.«

»Allright. Wo ist das Seemannsamt?«

Ich beschrieb es ihm. Doch es genügte ihm schon, zu wissen, daß es nur ein Seemannsamt gab. Dann fand er es schon. Dieser Eskimo hatte seine Zivilisation doch in Neu-york erlangt.

Also ich erledigte meine Sache und erwartete ihn vor dem Portal.

Punkt halb zwölf erschien er auf der Bildfläche.

Ach Du großer Schreck!

Hier in Marseille trug der Eskimo an Bord immer einen blauen Maschinistenanzug. Ich hatte ihn mir im Geiste vorgestellt, wie er jetzt in einem Sportkostüm kommen würde, wie er eins damals bei dem Ausflug im Feuerland getragen hatte.

Und jetzt kommt hier dieser Kerl an – in einen schwarzen Gehrockanzug eingeklemmt, mit Zylinder, mit Lackschuhen – aber mit was für Quadranten! – gelbe Glacehandschuhe, unterm Arme einen roten Regen- oder Sonnenschirm, aber einen Damenschirm, mit weißen Spitzen dran – und natürlich seine qualmende Fuhrmannspfeife im Maule – und vorn neben der goldenen Ochsenkette baumelt wie eine Bombe eine Fischblase, mit Tabak gefüllt – und die beiden strahlenden Orden nicht zu vergessen. Dafür hatte er Kragen und Schlips vergessen.

So kommt der Kerl auf mich zugelatscht! Wie ein krummbeiniger Dachshund, der seine Pfoten in ungeheure Futterale gesteckt hat, ganz einwärts.

Die Straßenpassanten gafften so, daß sie vor Staunen ob dieser seltsamen Erscheinung gar nicht lachen konnten.

Ach, wie ich mich genierte, wie ich mich schämte!

Aber ich konnte mir den Harlekin doch auch nicht wieder vom Halse schaffen. Selbst hierzu war ich zu feig!

Nur einen einzigen Ausweg wußte ich.

»Kommen Sie, wir fahren natürlich.«

Und hilfeflehend spähte ich die Straße entlang nach einer Droschke, womöglich nach einer geschlossenen. Aber da wollte keine kommen.

Doch dort drüben war ja ein Droschkenstand. Aber da mußte ich mit diesem Harlekin erst über den freien, weiten Platz gehen, von vielen Menschen belebt.

Ach wie ich mich schämte! Wie in meiner fürchterlichen Verlegenheit mein Kopf immer mehr zu glühen begann.

»Nun, wohin, meine Herren?« erklang da eine weibliche Stimme.

Es war die Patrona.

»Wir wollen – wir wollen – wollen –«

Mehr brachte ich nicht heraus. Was die denken mußte; wo wir hinwollten, auf welchen Abwegen wir uns befanden.

Der Eskimo freilich hatte keinen Grund zur Verlegenheit, der konnte Auskunft geben, und er tat es ganz gründlich.

»Wir wollen speisen gehen. Suppe, Fisch, Braten, Geflügel, als Nachtisch viererlei Käse, Früchte und Eis.«

Man sieht, welchen Eindruck dieses Menu auf Mister Tabak gemacht hatte. Das hatte er sich offenbar bis jetzt immer hergesagt, es klang ganz so.

»Sooo!« lachte die Patrona. »Also schlemmen wollen Sie gehen! Na da nehmen Sie mich doch mit. Ich habe überhaupt immer erwartet, Herr Waffenmeister, daß Sie mich einmal einladen würden. Ich gehe auch gern einmal ins Tingeltangel. Aber ich kann mich doch nicht den Matrosen anschließen. Ich habe immer stark auf Sie gehofft, Herr Waffenmeister.«

Ja, hatte ich das wissen sollen! Ich kann doch nicht zu meiner Schiffspatronin und überhaupt zu keiner anständigen Dame, mit der ich nicht durchaus vertraut bin, sagen: »Ziehen Sie sich an und gehen Sie mit mir ins Tingeltangel!«

Aber an so etwas dachte ich jetzt gar nicht. Ich dachte nur daran, diesen menschlichen Dackel im schwarzen Gehrock mit der Fuhrmannspfeife ohne Kragen und Schlips in einer geschlossenen Droschke verschwinden zu lassen.

»Wir wollen einen Wagen nehmen –«

»Wo ist denn das, wo es Suppe mit viererlei Käse gibt?«

»In der Rue Bergere –«

»Rue Bergere? Da bin ich doch gerade durchgekommen. Die ist doch ganz hier in der Nähe.«

»Ja es ist gar nicht weit –«

»Na, da promenieren wir doch zu Fuß hin.«

Und sie trat zwischen uns, brachte uns in Bewegung.

Und da geschah etwas.

Dort in Marseille ist damals eine große Umwandlung mit mir geschehen, ist eine große Erkenntnis über mich gekommen!

»Mensch, erkenne Dich selbst!«

So stand im alten Griechenland über der Tür eines Tempels, und die griechischen Weisen hielten diesen Ausspruch für so bedeutungsvoll, daß sie ihn einem Gotte zuschrieben. Es soll das A und O aller Weisheit sein. Mit dieser Selbsterkenntnis fängt der Mensch überhaupt erst an, ein wirklicher Mensch zu sein.

Und damals dort in Marseille wurde ich solch ein wirklicher Mensch.

Indem mir nämlich die Erkenntnis kam, daß ich ein Affe war. Ein ganz großer Affe! Ein elender, feiger Affe!

Ach, wie ich mich schämte! Jetzt aber aus einem ganz anderen Grunde. Ob meiner Affenhaftigkeit. Mein einziger Trost war, daß ich auch gleich daran dachte, wie ich in der Welt ja nicht der einzige menschliche Affe sei. Daß ich noch so viele, viele Kollegen hatte!

Oder ist es nicht so? Na, Hand aufs Herz! Wir Herren der Schöpfung wollen uns in Sachen der Modetorheiten nur ja nicht über die Damen lustig machen. Wir Männer sind noch viel, viel größere Affen.

Wenn es heute dem König von England einfällt, auf der Straße ohne Kragen und Schlips zu gehen, die lange Studentenpfeife im Munde, so wette ich 100 gegen 1, daß einige Wochen später in Berlin Unter den Linden alle Männer, die Herren sein wollen, Gentlemen, ohne Kragen und Schlips mit der langen Pfeife herumlaufen, und wenn der Schusterjunge am Sonntag den Kavalier spielt, dann legt er dazu Kragen und Schlips ab und nimmt statt der Zigarre oder Zigarette die lange Pfeife.

Ich wette 100 gegen 1 und ich weiß, daß ich gewinne. Denn daß es so ist, das lehren hundert ähnliche Beispiele.

Ich will gar nicht von all den Herrenmoden anfangen, die England kommandiert, gehorsam von aller Welt nachgeahmt. Von dem Stehkragen, heute ganz niedrig, morgen bis an die Ohren; von den Handgelenkröllchen, womöglich aus Papier, heute rund, morgen flach geknöpft; Hose oben eng und unten weit – unten eng und oben weit; nur vorn eine Bügelfalte – vorn und hinten eine Bügelfalte – vorn und hinten und links und rechts eine Bügelfalte – nein, ich will nicht erst damit anfangen, da wird man nie fertig.

Nur eines will ich erwähnen, auch wie es gekommen ist: es war ums Jahr 1880, als der damalige Prinz von Wales, der nachmalige König Eduard VII. – the first gentleman of the world – die ganze Herrenmode der Welt kommandierend – als der einmal in einer Gesellschaft versehentlich seine Schlipsnadel schief trug, sie nicht genau in die Mitte gesteckt hatte.

Niemand wagte, den kronprinzlichen ersten Gentleman der Welt auf diese Inkorrektheit, auf diese furchtbare Entsetzlichkeit aufmerksam zu machen. Aber eine kleine Verabredung, und sämtliche Herren der Gesellschaft steckten ihre Nadeln ebenfalls schief in den Schlips.

Und einige Monate später trug die ganze Männerwelt, alle Männer der ganzen Welt, soweit sie auf dieser Erde einen Schlips tragen, die damals unentbehrliche Nadel schief im Schlipse! Hatte man keine Nadel an, so war »man« einfach unmöglich, halbnackt. Hatte man sie aus Versehen in die Mitte gesteckt, so wurde man zart oder spöttisch darauf aufmerksam gemacht, verwirrt verbesserte man den schrecklichen Fehler.

Oder ist es nicht so gewesen?

Na also!

Und wie nennt man so etwas? –

Ich bin nie eitel gewesen.

Meine Affenhaftigkeit bestand darin, daß ich mich genierte, schämte, mit einem Menschen auf der Straße zu gehen, der anders gekleidet war, als es die Mode vorschrieb, der überhaupt auffiel.

Gewiß, der Patrona fiel der kuriose Kauz auch auf, die amüsierte sich ebenfalls über ihn. Aber die genierte sich nicht, mit ihm zu gehen, das war der Unterschied!

Dieses junge Weib hatte darin eben einen viel stärkeren Charakter als ich, viel freiere, reellere Ansichten!

Indem ich aber damals dies alles erkannte, vor allen Dingen mich selbst, da kam es plötzlich wie eine Offenbarung über mich, da habe ich diese Schwäche wie mit einem Ruck für immer abgelegt.

Ich sehe wohl noch alles, aber eine Kleidung kann mich nicht mehr beeinflussen. Ob der, der neben mir hergeht, ein stutzerhaftes Gigerl ist oder ob er einen Arbeitskittel trägt oder ob er ein Naturmensch ist, barfuß und im Hemd, das ist mir ganz gleichgültig. Erst neulich wurden einem Freunde von mir, mit dem ich in einem freien Flußbade gewesen war, die Stiefeln gestohlen, er mußte einen weiten Weg in Strümpfen machen, wir kamen zuletzt auch durch belebte Straßen. Der machte sich auch nichts daraus. Das Straßenpublikum aber lachte und lachte über den eleganten Herrn, der da in Strümpfen lief. Weshalb das Publikum eigentlich lachte, das kann ich mir jetzt gar nicht mehr richtig erklären. Mir ist damals in meinem Gehirn eben etwas wie ausgelöscht worden.

Also wir marschierten los, Mister Tabak links, ich rechts, die Patronin in der Mitte. Ich plötzlich ein ganz anderer Mensch.

Übrigens zeigte es sich bald, daß wir auf den menschlichen Dackel sogar sehr stolz sein konnten! Denn ein Dackel im schwarzen Gehrock war und blieb er ja.

Das erste war, was ich bemerkte, daß ein Polizist vor uns Stellung nahm und salutierte.

Ich dachte erst, er begrüße die ihm irgendwoher bekannte Patronin.

Aber nein, Mister Tabak war es, der nachlässig einen Glacehandschuhfinger an die Krempe seines Zylinders legte!

Die Orden, die beiden Orden!

Eine Abteilung Rothosen marschierte unter Führung eines Unteroffiziers durch die Straße.

Es gibt ausländische Orden genug, die gegrüßt werden müssen. Man erhält ja darüber Instruktion, wir wenigstens in der Marine erhielten sie.

Anfang

Ja Du lieber Gott, soll man all diese Orden kennen, auf der Straße erkennen! Das Beste und Einfachste ist immer, wenn man zum Beispiel auf Posten steht, man präsentiert vor jedem Jahrmarktsorden. Da kommt man nie in Verlegenheit, und dem anderen machts Freude. Ich habe immer auch vor jedem Zollbeamten und jedem Gerichtsvollzieher präsentiert. »Das haben Sie nicht nötig, vor mir zu präsentieren!« sagte mir zwar so einer einmal – aber ich tat’s, ich war eben ein höflicher Soldat.

So mochte auch der führende Unteroffizier denken, also die Rothosen nahmen Tritt und marschierten mit »Augen links« an uns vorüber, und dankend legte Mister Tabak den Finger an die Krempe.

Ein Offizier kam uns entgegen. Ich bemerkte, wie er bei Anblick der beiden Orden unsicher wurde, wie er scharf und immer schärfer blickte und dann grüßte er höflich, sich im Gehen mehrmals verbeugend.

Vielleicht mußte er es auch. Ich weiß, es nicht. Jedenfalls aber war das eine glänzende Ding der Danebrogorden. Bei der eingeschneiten Nordpolexpedition, die der Eskimo herausgeschippt und zurückgeführt hatte, war ein Mitglied des dänischen Königshauses gewesen, und das ist doch etwas anderes, als wenn der Schornsteinfegergeselle August Schulze herausgeschippt wird, der Eskimo hatte doch auch mit dem König an einer Tafel gespeist, hatte ihm alles weggefressen – na und da hatte er doch auch nicht so einen kleinen Schruzorden bekommen können, sondern gleich den Danebrogorden.

Nun, kann man auf solch eine Begleitung nicht wirklich stolz sein? Auch wenn sie krumme Beine hat, über die große Zehe latscht, keinen Kragen anhat und Fuhrmannspfeife raucht, ab und zu den Schmant austrinkt? Und das Straßenpublikum hatte einfach deshalb kein Lachen, weil es eben ganz Bewunderung war! Man muß diese Franzosen nur kennen, wie die für alles Exotische schwärmen, noch vielmehr als wir Deutschen. Jetzt, nachdem der Offizier gegrüßt und unser Begleiter mit der ganzen Hand am Zylinder gedankt hatte, wurde er auch erkannt. »Ist das nicht ein Japaner?!«

»Gewiß, das ist der Generalfeldmarschall Baron Noki, der Held vom Jalu.«

»O ciel!« hörte ich eine elegante Dame flöten. »Was der für einen herrlichen Sonnenschirm hat! Ach so ein echter japanischer Sonnenschirm!«

Da hatte ich’s! Ich wäre bald vor Entsetzen ob dieses roten Schirms mit den weißen Spitzen umgefallen – die hier wurde vor Entzücken darüber in den Himmel entrückt.

»Warten Sie mal hier, ich will mir ein paar Zigarren herausholen!« sagte jetzt Baron Noki und trat in einen Tabaksladen.

»Es war nicht gerade sehr rücksichtsvoll, aber als japanischer Generalfeldmarschall, der die Russen in die Pfanne gehauen hat, kann man sich so etwas schon leisten.

Diese Gelegenheit benutzte ich, um die Patronin über mein Vorhaben mit Mister Tabak einzuweihen. Ich hielt es für besser, wenn sie gleich darum wußte wie der sich mit der Sardine und dem Taubenbeinchen herumbalgen sollte.

»Ach, das wird ja köstlich!«

»Ja, hoffentlich wiederholt sich das alles auch so, daß die uns diesmal für den Franken nicht etwa jedem einen ganzen Hecht und einen ganzen Truthahn vorsetzen.«

Der Generalfeldmarschall Noki kam wieder heraus, mir einer Hundertkiste Zigarren, uneinpapiert.

»Halten Sie mal, Waffenmeister.«

Ich mußte die Kiste halten. Importierte, achtzig Franken. Er nahm eine heraus, zermürbelte sie zwischen den Händen und stopfte sie in seine Pfeife. Er rauchte nur zerkleinerte Zigarren in der Pfeife, das wußte ich schon. Richtiger Pfeifenknaster ist ja auch fast nur in Deutschland, Österreich und Holland zu haben. Selbst in Amerika, von wo er meist kommen soll, ist er kaum aufzutreiben, man muß, die Quellen kennen.

Dann, wie es wieder qualmte, schien er Lust zu haben, mir die Kiste aufzuhängen. Aber da gab es nichts, er mußte sie selber unter den anderen Arm nehmen.

Wir waren erst einige Schritte weiter gegangen, als Oskar einherkam. Er zog den Hut und marschierte vorbei.

Erstaunt blickte ihm die Patronin nach.

»War denn das nicht unser Segelmacher?!«

»Gewiß, das war Oskar.«

»Was gehst denn der so vorüber?!«

Ja warum! Weil Oskar eben wußte, was sich schickte. Und überhaupt, ein Soldat kann doch auf der Straße keinen Offizier ansprechen. »Wo wollen Sie denn hin? Darf ich Sie ein bißchen begleiten?«

»Ach, der sollte mitkommen!«

»So rufen Sie ihn doch!«

Ich rief ihn, er kam zurück – jawohl, der hatte nichts weiter vor. Nun wir ihn aber einmal eingeladen hatten, taute er auch gleich auf, war eben Oskar, der »Kölner Jong«. Das erste war, daß er mich um zehn Franken anpumpte. Obgleich er erst vorgestern, wie ich wußte, 300 Franken Vorschuß genommen, und vielmehr hatte er wohl auch nicht zu fordern.

»Sie bekommen es schon wieder, Waffenmeister. Von zu Hause habe ich zwar nichts mehr zu erwarten, aber ich beerbe einmal meinen Onkel, der hat erst neulich einen vorteilhaften Bankrott gemacht, und meine Tante hat – ach, meine Herrschaften, kennen Sie die famose Geschichte, wie der österreichische Seekadett in Peking mit dem russischen Offizier »meine Tante, Deine Tante« gespielt hat?«

So ging es gleich los.

Ja, ich kannte sie. Aber ich ließ Oskar erzählen. Es ist eine Tatsache, dieser famose Witz. Er war damals in aller Munde, die dort in den chinesischen Gewässern lagen, ich bekam ihn brühwarm erzählt, und der alte Kaiser Franz Joseph soll herzlich gelacht haben.

Der damalige Seekadett ist heute Kapitänleutnant in der österreichischen Marine.

Es war im Jahre 1900, damals bei dem Boxeraufstande, als die Truppen der verbündeten Mächte unter Graf Waldersees Oberkommando die in Peking belagerten Gesandtschaften befreit hatten.

Peking war eingenommen, es brannte an allen Ecken. Es wurde etwas mehr fouragiert, als erlaubt ist, jeder Soldat wollte ein Andenken mitnehmen. Besonders die Russen trieben’s arg. Noch einmal wurde der strengste Befehl erlassen, daß auch keine Stecknadel genommen werden dürfte!

Durch die Straße marschiert ein Trupp österreichische Marinematrosen, geführt von einem Seekadetten. Der steht im Range eines Unteroffiziers, in solch einem Falle aber ist er voller Offizier, wie auch im Boot, wenn er es steuert.

Sie sehen im Fenster eines brennenden Hauses einen Vogelkäfig hängen, mit einem flatternden Kanarienvogel drin. »Den retten wir!« Und die Rettung gelingt. Ein Matrose hängt den Käfig an die Mündung seines Gewehrs, es geht weiter.

Da kommt ein Trupp russischer Soldaten entgegen, geführt von einem jungen, aber hohen Offizier.

Der sieht den Käfig mit dem Vogel, hält die Österreicher an und stellt den Seekadetten zur Rede.

»Sie haben geplündert!!«

Der Seekadett, ein sechzehnjähriges Bürschchen, nimmt vor dem hohen Offizier Stellung und berichtet sachgemäß. Man hat dem armen Kanarienvogel nur das Leben gerettet.

Aber der russische Offizier läßt sich nicht darauf ein. »Ach was, Sie haben einfach geplündert!« fährt er den Kadetten an.

Da gibt das Knäblein die Stellung als Untergebener auf, aber nur, um sich stolz mit blitzenden Augen emporzurichten.

»Was wollen Sie denn eigentlich von mir?! Ich bin jetzt genau so gut Offizier wie Sie, österreichischer Offizier, und als Russe haben Sie mir gar nichts zu sagen.«

»Was?!« braust da der Russe aus. »Wissen Sie, wer ich bin?! Ich bin der Prinz Stanislaus, meine Tante ist die Großherzogin Pedrowitsch!«

»Und ich bin der Seekadett Müller, und meine Tante hat bei Graz eine Streichholzfabrik!« – –

So haben damals im brennenden Peking der österreichische Seekadett und der russische Offizier zusammen »meine Taute, Deine Tante« gespielt.

Und so erreichten wir das Speisehaus, befanden uns schon in der fidelsten Stimmung. Mit Ausnahme Mister Tabaks. Bei so einem transchluckenden Eskimo kann man doch auch keine humoristische Ader erwarten.

Wir setzten uns an einen Vierertisch. Es war wieder gerade so die richtige Zeit, gleich würde die Vorstellung beginnen. Den Wein brachte auch richtig wieder der Kellner mit dem Saucenfleck auf dem Vorhemdchen, das er noch gegen kein anderes vertauscht hatte.

Oskar schaute sich aufmerksam um. Der Bengel sprach ganz ausgezeichnet Französisch, besser als ich, war auch sonst schon in französischen Verhältnissen bewandert.

»Ach, jetzt weiß ich – das ist so ein Bums, wo man für einen Franken – auuuu!! Na hören Sie, Waffenmeister, Sie haben doch Platz genug, wenn Sie herumtrampeln wollen, die Erde ist doch so groß – weshalb denn gerade auf meinen Hiehneroogen?«

Aber mein gelinder Fußtritt unter dem Tisch war auch von einem Augenblinzeln nach Mister Tabak hin begleitet gewesen, und das genügte, Oskar verstand mich sofort.

Das Glockensignal zur Abfahrt des Zuges wurde gegeben, die Suppe kam. Es war dieselbe Kohlsuppe wie gestern, und nun beunruhigte ich mich auch nicht mehr, daß man heute jedem einen ganzen Hecht und einen ganzen Truthahn vorsetzen könnte. Vielleicht war’s diesmal zur Abwechslung ein Stint und ein Sperlingsflügel. »Ganz ausgezeichnet!« lobte Mister Tabak, der sein Weißbrot bereits verschlungen hatte und jetzt wie versehentlich nach meiner Semmel griff.

Während wir die Suppe verzehren, will ich etwas anderes erörtern. Es war doch trotz seiner Billigkeit ein hochanständiges Lokal, und wir betrugen uns sehr auffallend, sehr frei, und das wurde immer schlimmer, wir trieben an unserem Tische immer mehr Allotria.

Aber die anderen Gäste sahen doch gleich, daß wir Seeleute waren, und Seeleuten muß man etwas nachsehen, das ist in Hafenstädten auch ganz selbstverständlich. Das beruht nämlich auf Gegenseitigkeit. Wenn die Landratten zu uns an Bord kommen, eine Seereise machen, dann betragen die sich auch etwas auffallend und sehr frei, die spucken uns immer das ganze Schiff voll, es ist ihnen vollständig gleichgültig, wohin sie den Inhalt ihres Magens entleeren, und wir sagen nichts, wir sind behilflich, wo und wie wir können – also müssen die auch nachsehen, wenn wir Seeleute nach langer, öder Reise wieder einmal an Land kommen und uns nur ein bißchen amüsieren wollen. Und sie tuns auch wirklich, in den Hafenstädten! Das sieht man am besten in Hamburg, wo sich das Seeleben der ganzen Welt am meisten konzentriert, was da für Szenen auf der Straße passieren, und die Schutzleute sehen gar nicht hin, die sind eben von oben angewiesen, und müssen sie einschreiten, so tun sie es nicht als Rächer, sondern als Helfer, als Beschützer, und ebenso verhält sich auch das feinste Publikum, soweit es ein echt Hamburger ist, den Seeleuten gegenüber. Denn daß eine Bande Matrosen in das vornehmste Hotel eindringt, den Champagner batterieweise anfahren läßt und ihn aus Eimern trinkt, das kommt in Hamburg täglich etliche Male vor. Und der echte Hamburger, der feine Kaufmann, der Handelsherr, der Patrizier, der amüsiert sich nur darüber, der freut sich, das gehört mit zu seiner Welthandelsstadt. Diese jungen, tollen, überschäumenden Kerls sind es doch, durch die er hier vom Herzen aus das Blut durch alle Adern dieser Erde pumpt. Und wirkliche Ausschreitungen kommen dabei gar nicht vor, das ist die Hauptsache! Nie wird eine Dame von Matrosen, von echten Teerjacken, belästigt werden! Sie kann die obskurste Matrosenkneipe betreten, sie kann allein das Schiff besichtigen, in alle Winkel kriechen – immer wird man sie mit Respekt behandeln.

Genau dasselbe findet man in Amerika und in Australien unter all den Männern, die man für gewöhnlich zum Abschaum der Menschheit rechnet. Unter Goldgräbern, Cowboys und dergleichen wildem Gesindel. Einerseits das ungenierteste Benehmen, bei jeder Gelegenheit hauen sie furchtbar übern Strang – anderseits wieder das artige, feine gentlemanlike, ritterliche Auftreten, besonders dem Weibe gegenüber, sobald sie merken, daß es nicht zu ihrer Gesellschaft gehört.

Es ist hiermit ein tiefes psychologisches Geheimnis verbunden. Die Hauptursache dabei ist wohl das Gefühl und das Bewußtsein der eigenen Kraftfülle. Der amerikanische Novellists Bret Harte hat diese Doppelnatur solcher Männer in unübertrefflicher Weise geschildert.

Hier in diesem Lokal wurden wir auch erkannt.

»Das sind welche von der »Argos«, wurde geflüstert, »von dem Menagerieschiffe.«

Unser Schiff hatte vom Hafenmeister einen sehr schönen Platz an einem einsamen Kai zugewiesen bekommen. Aber jetzt war dieser Kai nicht mehr einsam. Fortwährend staute sich darauf die Menge und gaffte unser Schiff an. Es konnte ja auch nicht anders sein. Schon das Aussehen des ganzen Schiffes, was man hier in solch einer großen Hafenstadt doch sofort beurteilen konnte – eine Kreuzerfregatte, ein Kriegsschiff, als Handelsschiff, als Lustjacht.

Unversichert! Das gab es in Marseille wohl wenige, die nicht wußten, was das zu bedeuten hatte, sonst hatten doch schon längst die Zeitungen dafür gesorgt. Und nun konnten die vielen Tiere doch nicht immer unten im Raume eingesperrt bleiben, und hätten wir auch in der Mitte des Hafens gelegen, selbst die Katzenraubtiere hätten jedenfalls einen Abstecher nach dem Lande gemacht. So war das ganze Vordeck, wozu schon alles vorhanden gewesen, mit einem Gitter umgeben, die Polizei hatte sich veranlaßt gesehen, die Sicherheit zu prüfen, hatte die Erlaubnis gegeben, und so trieb sich nun die ganze Menagerie doch noch auf dem freien Deck herum. Da hatte das Publikum natürlich etwas zu gaffen.

»Das sind Argonauten!« wurde geflüstert.

Also auch dieser Name war schon bekannt. Wir selbst brauchten ihn an Land gar nicht in den Mund genommen zu haben. Er kam jedem, der etwas von jener mythischen Erzählung wußte, ja von selbst, auf die Zunge.

»Das ist sie, la baronne de la mer!« hörten wir flüstern.

Die Freifrau von der See! Da war es schon! Ja, konnte man denn der Eigentümerin solch eines Schiffes – eines unversicherten, daher fast absolut freien Schiffes – einen passenderen Namen geben?

La baronne de la mer bekam einen ganz roten Kopf, sicher mehr vor Vergnügen, als vor Ärger.

Und dann wurde hier auch der japanische Generalfeldmarschall Baron Noki demaskiert, man erkannte seine wirkliche Gestalt. Das ging doch alles schon von Liverpool aus, wo alle Namen registriert worden waren, und solche große Hafenstädte hängen durch gemeinsame Interessen so eng miteinander zusammen, und die Zeitungen tragen alles in die Öffentlichkeit.

»Das ist der Eskimo, der berühmte Nordpolfahrer, früher ein Walfischjäger – der hat von der Königin Wilhemine der Niederlande –«

Undsoweiter, undsoweiter. Sie wußten alles! Und die guten Bürger dieser Republik, deren Wahlspruch »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« heißt – sie sind so überaus devot! Ach, wie die für Titel und für Orden und für dergleichen schwärmen! Wie die sich so gern bücken! So gern, so gern und so tief! Die Amerikaner sind aber da nämlich nicht viel anders.

Und ich habe so feine Ohren! Daher bin ich auch so musikalisch. Aber ich bin weithörig. Meine eigenen Töne höre ich nicht.

Nun aber, da wir erkannt worden, konnten wir uns auch mancherlei erlauben, das fand man jetzt nur noch »höchst interessant«, was sonst vielleicht für rüpelhaft gegolten hätte. »Quod licet Jovi, non licet bovi.« Was dem Jupiter erlaubt ist, ist noch lange nicht jedem Ochsen erlaubt.

Von diesem Gesichtspunkte aus mußte man auch das betrachten, was jetzt der ordensbesternte menschliche Dackel im schwarzen Gehrock tat, der den Zylinder auf dem Kopf behalten hatte.

»Kommt denn der Fisch nicht bald?« fragte er.

»Da kommt er schon.«

Mister Tabak hatte bereits mehrmals kopfschüttelnd das silberne oder versilberte Tafelmesser betrachtet, mit dem er speisen sollte, hatte die abgeschliffene Klinge schnellen lassen – jetzt legte er es hin, griff unter die Weste, brachte einen breiten Stahl zum Vorschein, der immer länger und länger wurde, bis es ein Schlachtmesser war, schon mehr ein Schlachtschwert.

Mit diesem ungeheuren Messer mochte er früher im hohen Norden so manchen Walfisch abgespeckt haben. Jetzt gebrauchte er es nur noch dazu, um den Schweinespeck, den er mit Vorliebe aß, in mundgerechte Viertelpfundbissen zu zerschneiden. Er kaute nicht gern, obgleich er ein wahres Wolfsgebiß hatte, und solche kleine Bissen, nur von einem Viertelpfunde, brauchte er nicht erst zu kauen.

Und nun stemmte er dieses ungeheure Messer in der rechten Faust aufrecht auf den Tisch, auch die linke Faust lag auf dem Tische. »Klar zum Gefecht! Nun kommt mal her, Ihr gebratenen Fische, ich forcht mi net, ich will mit Euch schon fertig werden!«

Das sagte er nicht etwa. Gar nichts. Aber alles drückte es aus. Ach, war dies allein schon ein Anblick! Wie der da saß, mit dem Zylinder auf dem Kopfe, mit dem ungeheuren Messer, so kampfbereit –.

Der Fisch wurde serviert.

Richtig für jeden wieder eine gebratene Sardine.

Und heute waren die Fischchen vielleicht noch dürftiger ausgefallen.

Ja, wie soll ich es nun beschreiben.

Wie der Eskimo dasaß mit seinem Schlachtschwert, ohne sich zu rühren, und vor sich das Fischchen anblickte.

Lange Zeit wortlos, bewegungslos, tiefsinnig.

Wie er mir dann schnell einen mißtrauischen Seitenblick zuwarf.

Wie er dann langsam sein Schwert hob und die Spitze senkte, das Sardinchen anspießte, es vor seine Augen brachte und es wieder lange Zeit ganz tiefsinnig betrachtete.

Wie er mir dazwischen wieder einen schielenden Blick des Mißtrauens zuwarf. Wie er dann seine linke Faust hob und öffnete, zugriff, das Fischchen vorsichtig mit zwei Fingern von der Messerspitze nahm, wie er seinen ungeheuren Rachen aufklappte, das Fischchen langsam hineinsteckte, wie er seinen Rachen wieder zuklappte – nur ein Druck, nicht eigentlich ein Schluck, und das Fischchen war begraben. Und dann saß er wieder wie vorhin da, das Messer aufgestemmt, ernst, feierlich, tiefsinnig, auf das Weitere wartend.

So etwas geht eben gar nicht zu beschreiben; wenigstens die Wirkung bleibt aus.

Ich wundere mich noch heute, daß ich damals so ernst bleiben konnte.

Auch die Patronin blieb ernst; nur daß sie ab und zu ein ganz seltsames Grunzen von sich gab.

Und als sie dann herzlich lachte und ich auch, da hatten wir hierfür auch schon einen anderen Grund gefunden.

Die Ursache dazu war nämlich Oskar. Der hatte die Situation doch sofort erfaßt, er wußte jetzt, daß die Schiffsherrin mit uns gegangen war, um sich mit uns zu amüsieren, und da ließ nun der »Kölner Jong« seinem Mutterwitz die Zügel schießen.

Ach, wie der seine Sardine tranchierte! Natürlich nur mit der Gabel in der Rechten, in der Linken ein Stückchen Semmel – noch viel zierlicher und eleganter als dort drüben das schickste Dämchen – aber wie er nun dann die Bissen in den Mund schob, wie er auf beiden Backen kaute! Und nun dieses Schwadronieren dazu!

Ich will es nicht wiedergeben. Nur das, was er zuletzt machte, als er aber noch die Hälfte seiner Sardine auf dem Teller liegen hatte.

»Aaaaah, ich kann nicht mehr! Entschuldigen die Herrschaften, es ist nicht sehr fein, aber – bitte, Herr Oberkellner – Garcon! – einen Bogen Zeitungspapier! Einen recht großen. So, danke. Ich werde mir die andere Hälfte mit nach Hause nehmen, gerade Bratsardine esse ich sehr gern kalt – vielleicht noch etwas in Essig eingelegt – sie muß erst ein paar Tage ziehen –«

Und er packte den Rest der Sardine ein, machte ein recht großes Paket davon.

Nicht nur wir lachten. Das ganze Lokal lachte mit. Auch die Kellner und die hinterm Büfett.

Dann kam der Braten. Das war diesmal aber doch etwas anderes. Kalbskotelett. Aber an dem Knochen war heute noch weniger dran als gestern. Kalb ist teurer als Hammel. Und wieder fing Oskar zu tranchieren und mächtig zu kauen an, konnte nicht alles aufessen – »beim besten Willen nicht! Weshalb nur immer so große Portionen? Garcon! Bitte! Einen Zeitungsbogen.«

»Um Gottes willen, Mister Kabat, was machen Sie denn?« rief die Patronin erschrocken.

Der hatte, nachdem er den »Braten« genügend lange angestarrt, es mit ihm genau so gemacht wie mit der Sardine, hatte gleich den ganzen Knochen verschluckt.

Ja, da war nichts mehr zu machen, der war weg!

Dann kam für jeden richtig wieder ein Täubchenbein, und wie der Eskimo dieses längere Zeit tiefsinnig betrachtet hatte, es am Knöchelchen vor sich hin haltend, kopfschüttelnd, da fand er endlich auch einmal Worte.

»Geflügel. Hm. Also das ist Geflügel. Herr Waffenmeister, was heißt das auf Französisch, Geflügel?«

»Volaille. La volaille.«

Volaille. So. La volaille. Das hier scheint aber nur volaille zu sein, da fehlt das la dran.«

Und er verschluckte das Taubenbein.

Hatte er diesen Witz mit Absicht gemacht? Wußte er überhaupt, was für einen ausgezeichneten Witz er da gemacht hatte?

Aber so etwas läßt sich ja gar nicht schildern, das läßt sich nur miterleben.

Er hatte Englisch gesprochen. Es mochte hier doch Herren und Damen geben, die Englisch verstanden. In unserer Nähe saß ein älterer, würdevoller Herr, der sich gar nicht um uns kümmerte, noch keine Miene verzogen hatte.

Der trinkt gerade aus seinem Glase, wie der Eskimo die Bemerkung macht, daß diesem »volaille« wohl das »la« zu fehlen scheine – und plötzlich bekommt der alte Herr einen Hustenanfall, sprudelt den ganzen Rotwein wieder heraus, macht, daß er hinauskommt, kann aber vor Lachen kaum noch das Freie gewinnen.

»Aaaaah!« machte da Oskar mit ganz verklärtem Gesicht, plötzlich einen Hundertfrankenschein in der Hand haltend.

Er hatte seine Rocktaschen untersucht, um darin Platz für die drei Pakete zu schaffen, und hatte einen Hundertfrankenschein gefunden.

»War es mir doch immer, als ob ich drei Hundertfrankenscheine noch gar nicht hätte ausgeben können! Nee, meine Herrschaften, wenn ich noch hundert Franken habe, dann bleibe ich nicht hier!«

Und er stürzte hinaus. Kam allerdings bald wieder, schon beim viererlei Käse, aus dem er wie aus den Früchten und sogar aus dem Eise, wozu er sich eine Butterbüchse geben ließ, immer mehr Pakete machte, um sie »mit nach Hause« zu nehmen.

»Der Wagen ist vorgefahren!« meldete der Kellner.

Was denn für ein Wagen?

Ja, da war allerdings einer vorgefahren, ein leerer Lastwagen, bespannt mit zwei mächtigen Gäulen.

Auch der Kutscher trat ein, der Fuhrknecht, ein Herkules mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, blickte sich suchend um.

»Hier, hier, mein Lieber!« sagte Oskar. »Fassen Sie an, aber sehen Sie sich vor, heben Sie sich keinen Bruch, ich helfe mit.«

Und er half mit, die sechs Paketchen hinauszutragen und auf den Lastwagen zu laden, der Fuhrknecht schmunzelte nicht schlecht, besonders als Oskar gleich bezahlte, er hatte den Hundertfrankenschein schon gewechselt, 15 Franken kostete die Fuhre bis nach der »Argos«, natürlich gab Oskar einen Louisdor.

»Höööh!!« stöhnte er dann, wie er sich hinten gegen den Wagen stemmte, um ihn in Fahrt zu bringen, mit den sechs Paketchen.

Das sind eben solche Matrosenwitze. Das muß man aber selbst mit ansehen. Und nicht eigentlich, daß die Matrosen dabei andere belustigen wollen. Nein, das tun sie zu ihrem eigenen Gaudium.

Die Patronin lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen rannen. Und das ganze Lokal mit ihr.

Wir waren fertig, hätten gehen können.

Da nahm erst noch einmal der heute so schweigsame Mister Tabak das Wort.

»Suppe –« sagte er bedächtig vor sich hin, »Fisch – Braten – Geflügel – viererlei Käse – Früchte – Eis –«

Dann hob er langsam sein gewaltiges Messer, das er noch in der Faust hielt und schüttelte es gegen mich.

»Waffenmeister – mit Ihnen gehe ich ja gleich wieder speisen!«

»Na was denn?« übernahm Oskar da meine Verteidigung. »Das war doch der erste Gang.«

Der Eskimo stutzte, wenn er sonst auch nicht viel fürs Stutzen war.

»Wie? Der erste Gang?«

»Na freilich doch. Haben Sie noch nie in einem französischen Restaurant gespeist?«

»Nein.«

»Dann werden Sie jetzt merken, wie das in Frankreich gehandhabt wird. Das ist eben in Frankreich ganz anders. Diese fünf oder sechs Gänge bildeten nur den ersten Teil des Ganzen, das sechs solche große Abteilungen hat. Nun wird dasselbe noch einmal serviert, aber meist fängt man dabei von hinten an. Und überhaupt mit Variationen. Und zwischen den einzelnen Hauptgängen gibt es auch immer eine Zwischenpause. Da kommt sie ja schon –« – 332 – Gleich vier Kellner kamen schmunzelnd anmarschiert, jeder eine große Platte tragend, und auf jeder lag majestätisch ein mächtiger Schweinskopf, lorbeer- und oliven- bekränzt, eine Zitrone im Maule.

So bekam jeder von uns vier seinen Schweinskopf vor sich hingesetzt!

Oskar hatte sie schnell besorgen lassen, wo und wies, das habe ich nicht gefragt, jedenfalls aber hatte er sie bezahlt.

Und nun vor allen Dingen wundere man sich nicht mehr, wo die Matrosen immer ihr Geld lassen.

Und niemand wolle sagen: solch ein Unsinn, solch eine Zwecklosigkeit!

Da müßte man doch erst einmal ergründen, was beim Geldausgeben Sinn und Zweck hat.

Wenn ein Matrose für ein Jahr furchtbar schwere, gefährliche Schiffsarbeit tausend Mark ausbezahlt bekommt und es macht ihm Vergnügen, sich einen Kutschwagen zu mieten, eine Spazierfahrt aufs Land zu machen, vor einem Kolonialwarengeschäft zu halten, drei Pfund Astrachaner Kaviar zu kaufen und mit diesem die quietschenden Wagenachsen einzuschmieren – wie wir es nämlich einmal in Bremerhaven gemacht haben – so geht das keinen einzigen Menschen etwas an! Wenn es nur bezahlt wird!

Dem Kaufmann ist es ganz egal, ob man mit seinem Kaviar die Wagenachsen einschmiert oder ob man ihn verschlingt, der freut sich über den großen Verdienst, da kann er sich ein Paar neue Hosen machen lassen, die er vielleicht sehr nötig hat, und da freut sich wieder sein Schneider.

Und wenn jemand sagt: das sollte man doch lieber den Armen und Waisen zuwenden – gut, Ihr braven Leute, dann macht’s vor, dann wollen wir’s Euch nachmachen! Dann aber, geehrte gnädige Madam, dürfen Sie auch nicht mehr für einen Hut hundert Mark oder zwanzig Mark oder fünf Mark ausgeben, man bekommt schon einen Hut für eine Mark, das, was Sie ersparen, geben Sie also den Armen und Waisen – wir machen’s nach!

Und so fort, und so fort! –

Ich mache hier Schluß mit dieser Essereigeschichte.

Wir drei räumten das Schlachtfeld, überließen es dem Eskimo, mit den vier Schweinsköpfen fertig zu werden.

Als wir am Fenster vorbeigingen, sahen wir ihn, wie er den einen schon beim Wickel hatte und ihm mit ganz verklärtem Gesicht einen Kuß auf die Schnauze gab, wobei freilich viel zwischen seinen Wolfszähnen hängen blieb.

Halt! Ich mußte doch noch einmal zurück. Ich hatte ja ganz meinen Saucenfleckonkel vergessen, die Sache mit den zwei Napoleonsköpfen ohne Lorbeerkranz.

Ich traf ihn in der Hausflur und nahm ihn vor.

»Non, non, non, non, non, monsieur!«

»Oui, oui, oui, out, oui, monsieur! Alter Junge, Du hast mir gestern hier die beiden falschen Frankenstücke gegeben. Parole d’honneur – auf mein Ehrenwort!«

Ich brauchte ihn nur scharf anzublicken, da gab er sein Zögern auf, und nicht etwa, daß er nun so tat, als wolle er mir zwei Franken schenken, was ich mir nicht hätte gefallen lassen.

Ohne weiteres griff er in die Tasche, fand aber nur ein Fünffrankenstück. So gab ich ihm noch drei Franken zu, die Sache war in Ordnung.

Es war spät am Abend, schon in der Nacht. Draußen am Belle de Mai war Volksfest, wir fuhren Karussell. Nicht nur wir drei, es hatten sich noch andere Argonauten zusammengefunden, und selbstverständlich gehörte dieses Karussell überhaupt uns, alles hatte freie Fahrt.

Die Patronin ritt gerade auf einem Zebra. August der Starke neben ihr auf einem Schwan, oben über ihnen machte Oskar an einer Eisenstange die Bauchwelle, als ich wieder einmal bezahlen wollte.

»No good, no good, Mister – Papa no good!« sagte der internationale Karussellbesitzer, mir das Fünffrankenstück zurückgebend.

Ich besah es mir. Ich hatte nur ein einziges Fünffrankenstück bei mir gehabt, das von dem Saucenfleckonkel.

Himmelbombenelement noch einmal, tausend mit Granaten, Klüverbaum und Katzenschwänze!

Hat mir der Kerl ein Fünflirestück vom alten Kirchenstaate gegeben, mit dem Papste darauf!

Italienische Fünflirestücke werden in ganz Frankreich als voll genommen, aber – – »Papa no good«.

Das heißt, nun ging ich aber nicht noch einmal hin. Der knöpfte mir sonst noch mein ganzes Vermögen ab. Gewiß er würde das wertlose Fünflirestück wieder zurücknehmen, hatte aber nur einen Louisdor bei sich, ich gab gutes Geld heraus – und dann hatte er mir wieder einen falschen Louisdor aufgehalst! Und so ging das immer weiter, bis ich zuletzt eine Million falsche Tausendfrankenscheine hatte! Nein, ich ging nicht mehr hin! Diese Erfahrung genügte mir, wenn ich auch ein paar Franken dabei verloren hatte.

Diese Sache hat aber auch noch eine sehr ernste Seite. Es gibt doch auch in Deutschland falsches Geld. Direkt falsches, und dann wertloses, außer Kurs gesetztes, alte Taler, alte Fünfgroschenstücke und dergleichen. Jeder Ladeninhaber hat solche Münzen in einer besonderen Schublade, er bekommt doch immer einmal eine aufgehängt.

Nun nehme man an, ein Franzose, ein Arbeiter, nur ein paar Brocken Deutsch sprechend, betritt in Deutschland einen kleinen Laden, kauft etwas, ein Stück Wurst, ein paar Zigarren, gibt ein gutes Fünfmarkstück hin. Hier wäre Gelegenheit, dem Manne falsches Geld aufzuhängen. Hat er’s genommen, ist er einige Zeit weg, dann kann er gar nicht mehr viel machen.

Glaubt man, daß solch ein deutscher Ladeninhaber – oder eine Fleischersfrau, wollen wir einmal annehmen – diesem Franzosen nun mit Absicht falsches Geld aufhängen würde, um sich zu bereichern?

Nein, der Deutsche, der wirklich ein echter Deutscher ist, der ist zu so etwas gar nicht fähig! Und ich bin nicht etwa ein so großer Patriot, so ein Chauvinist, meine ich, so ein Hurraschreier. Aber was man als feste Überzeugung bekommen hat, das muß man auch aussprechen, sonst ist’s eine Sünde wider den heiligen Geist, die allein nie verziehen werden kann. Der Deutsche ist zu so etwas viel zu ehrlich. Aber »ehrlich« ist hierfür nicht das richtige Wort. Solch eine Niederträchtigkeit, einen armen Kerl, der nicht deutsch kann und das Geld nicht kennt, so übers Ohr zu hauen, das kommt einem Deutschen überhaupt gar nicht in den Sinn! Einem germanischen Deutschen, meine ich! Und dasselbe gilt für den Holländer, für den Dänen, für den Skandinavier, für den Engländer! Aber der Geschäftsinhaber muß auch wirklich ein germanischer Engländer sein! Es gibt auch noch viele andere Engländer.

Und nun gehe man nach Frankreich und Italien. Allerdings nicht als Vergnügungsreisender, der nur in besseren Hotels wohnt, sich einen Führer nimmt. Nein, man frage einen Deutschen, der in Frankreich und Italien gearbeitet hat, was der für Erfahrungen gemacht hat, ehe er Sprache und Geld und alle Verhältnisse kannte. Oder wir Seeleute, die wir in eine kleine Bude treten, weil wir ein paar Nähnadeln brauchen.

Was man da für falsches und wertloses Geld aufgehängt bekommt, wie man da in jeder und jeder Weise betrogen wird!

O diese romanischen Völker!

Äußerlich Kavaliere, jeder Straßenkehrer von liebenswürdigster Höflichkeit – innerlich alles durch und durch verrottet!

Diese romanischen Völker sind nicht durch Schicksalsbestimmung dem Untergang geweiht.

Die graben sich ihr eigenes Grab.

Eine faule Frucht kann nicht mehr lange am Baume hängen.


12.
KAPITEL. IN PARIS, MEINES VATERS BRIEF UND EINE ROSE.

Die Patronin ließ mich zu sich in ihre Kajüte bitten. »Würden Sie mich einmal nach Paris begleiten, Herr Waffenmeister?«

»Sie brauchen doch nur zu befehlen.«

»Nein, es hat nichts mit dem Schiffsdienst zu tun. Es ist eine ganz private Angelegenheit. Wollen Sie mich als mein Beschützer nach Paris begleiten?«

»Bis ans Ende der Welt – würde ich sagen, wenn das nicht eine schon zu abgedroschene Redensart wäre.«

»Aber wir halten uns gar nicht auf. Nicht, daß wir Paris besichtigen. Mir ist es höchst unangenehm, daß ich mich nur für eine Stunde von meinem Schiffe, von meinen Argonauten trennen muß, und hier muß ich doch wohl mit 36 Stunden rechnen. Wir kehren mit dem nächsten Schnellzuge zurück.«

»Wie Sie bestimmen.«

»Ich nehme nichts weiter mit als eine Hundepeitsche.«

»Eine Hundepeitsche?« stutzte ich.

»Lesen Sie mal hier diese Broschüre.«

Es war ein dünnes Heftchen, das sie mir gab, nur 16 Druckseiten, das meiste daran war der dicke Umschlag. Kostete aber einen ganzen Frank.

Der Titel lautete: »Madame Helene Neubert et les Argonautes.«

Hallooohhh!!

Ich las die erste Seite und bekam schon einen ganz roten Kopf – es wurde auf die Ungeheuerlichkeiten vorbereitet, die auf der »Argos« an der Tagesordnung waren. Ich blätterte herum und las nur noch eine einzige Stelle – einfach die größte Schweinerei – und ich schleuderte das Heft zu Boden.

»Genug!«

»Lesen Sie nur.«

»Genug, genug!!«

»Diese Broschüre ist noch nicht im Buchhandel erschienen!« fuhr die Patronin gemächlich fort. »Die Sache ist folgende: so ein Berufsschriftsteller, der übrigens schon durch verschiedene Schandpamphlete bekannt ist, schon mehrmals deshalb bestraft worden ist, hat von mir gehört, kommt plötzlich auf den Gedanken, wie er an mir ein paar tausend Franken verdienen kann. Er schmiert hier einfach so etwas zusammen, alles aus der Luft gegriffen, nur recht skandalös. Einen Verleger dafür findet er schon. Die beiden machen halbpart. Verklage ich sie – na, das ist sogar gut für die, dann werden sie erst recht berühmt und ihr Schäfchen bringen die erst ins Trockene. Aber ich bin ja auf hoher See, ich weiß ja gar nichts davon. 100 000 Exemplare werden die schon absetzen. Nun ist das aber erst eine Einleitung. Hinten steht, daß alles, was hier erst angedeutet ist, wenn auch schon deutlich genug ist, demnächst in einem Buche ausführlich behandelt wird, von einem Augenzeugen geschildert. Preis sechs Franken. Es kann schon jetzt darauf subskribiert werden. Also jedenfalls wird’s ein Bombengeschäft.

Nun aber bin ich mit einem Male mit meinem Schiffe in Marseille. Der Verleger in Paris erfährt es und – da wird es ihm doch etwas schwummrig zumute, sagt man wohl. Jetzt ist es noch Zeit, den Unschuldigen zu spielen. Noch ist kein Risiko vorhanden. Da schickt er mir also jetzt diese Broschüre, ein Probeexemplar, das andere ist noch nicht im Druck – ob das stimme, ob das den Tatsachen entspreche, ob er das mit meiner Erlaubnis veröffentlichen dürfe –«

Die Patronin mußte erst einmal lachen, und es klang gar nicht gezwungen, ehe sie fortfuhr:

»Nein, es entspricht nicht den Tatsachen, und ich gebe meine Erlaubnis nicht dazu! Und wenn er auch nur ein einziges Heft in die Öffentlichkeit kommen läßt, dann könnte er ja was erleben. Das habe ich ihm telegraphiert. Aber auch noch etwas anderes habe ich ihm telegraphiert. Der edle Mann hielt es nicht mit seiner Ehre für vereinbarlich, mir den Namen des anonymen Verfassers zu nennen. Jetzt hat er es aber doch getan. Alfonso Leblanc heißt der Gute, Paris, Montmartre, Rue de la Victoire Nummer 117 –«

Da kam Doktor Isidor eiligst herein, ein Kursbuch in der Hand.

»Verzeihen Sie – Ihr Schnellzug fährt schon um acht – ich habe mich vorhin geirrt!«

Die Patronin warf einen Blick nach der Uhr.

»Und jetzt ist es halb. Hinkommen tun wir noch! Herr Waffenmeister, sind Sie fertig?«

»Wenn ich nichts mitzunehmen brauche – ich bin fertig.«

Wir gingen, wie wir standen, nahmen erst unterwegs einen Wagen nach dem Bahnhof, punkt acht entführte uns der Schnellzug. Acht Uhr abends!

Die Patronin, die schon im Reisekleid gewesen, hatte nur eine Handtasche bei sich, ich hatte mir noch vier Taschentücher und zwei Kragen eingesteckt.

Natürlich fuhren wir erster. Natürlich – denn wenn die Besitzerin eines schuldenfreien Schiffes von 5000 Tonnen nicht erster Klasse fahren soll, wer soll es denn sonst tun? Bis Lyon war in unserem Kupee noch eine Dame, die sich dann zufällig als Kellnerin entpuppte.

Während der ganzen Fahrt sprachen wir nur einmal noch über unser Vorhaben.

»Sie wollen den Monsieur mit der Hundepeitsche traktieren?« fragte ich.

»Nein. Eine Hundepeitsche habe ich allerdings mit, die werde ich aber nur auf den Tisch legen. Ich werde mir keine Blöße geben, daß er mich wegen Hausfriedensbruch und wegen Mißhandlung verklagen kann.«

»Ja, was wollen Sie denn sonst mit ihm machen?«

Da fing die Patronin zu lachen an.

»Passen Sie nur auf, ich habe eine famose Idee bekommen. Es wird etwas ganz Köstliches! Nur ich ganz allein könnte es nicht ausführen. Haben Sie eine Waffe bei sich?«

»Einen Revolver.«

»Das genügt. Sie werden schon selbst gleich merken, was Sie zu tun haben, ich brauche Ihnen nicht die geringste Instruktion zu geben. Sie sind eben mein Beschützer, nichts weiter. Sie werden sich hinterher totlachen. Sie werden wohl auch schon lachen wollen, während ich ihn bestrafe. Da aber müssen Sie ernst bleiben; sonst verrate ich nichts.«

Na, da war ich gespannt.

Es gibt ja verschiedene Schnellzüge, dieser hier war ein sehr guter, brauchte nur 13 Stunden nach Paris, hatte in Lyon nur eine Viertelstunde Aufenthalt, die anderen Aufenthalte in größeren Städten zählten nur nach wenigen Minuten.

Wir unterhielten uns hauptsächlich über das, Gauklerwesen. Wir hatten nämlich in Marseille schon eine Unmenge von schriftlichen und mündlichen Angeboten erhalten, von Seegauklern, die überall auf dem Meeresgrunde und an der Küste Schätze liegen wußten, die nur des Abholens warteten.

Da wir uns auf keines einließen, will ich hier auch nicht weiter darüber sprechen. Ich muß es später desto mehr.

Interessant war jedenfalls unsere Unterhaltung. Ein Schlafwagen war vorhanden, aber wir benützten ihn nicht, destomehr den Speisewagen, und von Mitternacht an machten wir ein Nickchen, jedes in seiner Ecke.

Früh um neun kamen wir in Paris an. Was hier zuerst geschah, das hatte mir die Patronin schon gesagt. Es war zur Ausführung ihres Vorhabens noch zu früh, und sie hatte überhaupt etwas zu tun, was sie zwei Stunden beschäftigen würde, und was sie allein erledigen wollte. Ich möchte einstweilen in ein Hotel gehen, von wo sie mich abholen würde. Sie könne aber erst mit hinfahren.

Also wir nahmen einen Wagen, eine Droschke – na, in Paris, dieser eleganten Weltstadt, haben sie aber Droschken, und diese elenden Gäule, was ja auch bekannt genug ist! – Wir sagten dem Kutscher, er solle uns nach einem besseren Hotel in der Nähe bringen.

»Nach dem Hotel des Anglais?«

»Ganz egal, wenn es nur gut und nicht zu weit ist.«

Wir fuhren los, und der Kerl fuhr uns genau eine halbe Stunde lang. Erst später habe ich es konstatiert, nämlich, daß uns der Halunke im Kreise herum gefahren hat. Wir waren auf dem Lyoner Bahnhof angekommen, und das Hotel des Anglais befand sich gleich nebenan in einer Seitenstraße.

Das war schon die erste Prellerei gewesen, und als ich es merkte, war der Kutscher schon längst fort. Was hätte man denn tun sollen? Ihn etwa verprügeln?

Die Patronin benutzte diese selbe Droschke noch weiter, kam gar nicht erst mit herein.

»Also hier warten Sie auf mich. Aber Sie brauchen nicht immer hier zu sitzen. Jetzt ist es halb zehn. Ich bin punkt elf wieder hier. Keine Minute früher und keine später. Ich halte etwas auf Pünktlichkeit. Auf Wiedersehen.«

Der Wirt selbst komplimentierte mich hinein, Monsieur Alfonse Gueit, ein echter Franzose, Pariser. Es war ein sehr kleines Hotel, unten war nur ein einziges Lokal, allerdings alles sehr schön aussehend. Jedenfalls, das fiel mir aber erst später ein, war der vor dem Bahnhof haltende Kutscher gespickt, daß er Fremde hierher brachte, erhielt seine Provision. Mit Engländern hatte dieses Hotel des Anglais gar nichts zu tun, und weder der Wirt, noch der einzige Kellner, den ich zu sehen bekam, sprach Englisch.

»Wünschen Sie zu frühstücken, mein Herr?«

Jawohl, frühstücken! Erst aber wollte ich mich einmal waschen. Und noch vorher meinen Durst löschen. Ich hatte einen schmählichen Durst. So trank ich erst zwei kleine Flaschen Sodawasser, dann wurde ich auf ein Zimmer geführt, ganz hübsch, aber auch ganz einfach, nicht etwa luxuriös, wusch mir Gesicht und Hände, wozu ich aber erst klingeln mußte, um mir ein Stück Seife geben zu lassen, dann nochmals für einen Kamm, für eine Kleiderbürste, dann begab ich mich wieder hinab.

Das Frühstück wurde serviert. Zuerst ein Spiegelei. Als zweiter Gang ein gebratenes Scheibchen Schinken, wieder mit einem Spiegelei darauf.

»Na nun hören Sie auf mit der Eierei.«

»Der dritte Gang ist Filet de boeuf.«

»Ja, schon gut, ich mag nichts mehr, ich bin satt.«

Hierzu hatte ich noch eine dritte Flasche Sodawasser getrunken.

Dann gesellte sich wieder der Wirt zu mir und versuchte eine Unterhaltung mit mir anzuknüpfen. Ich war sehr einsilbig.

»Ist der Herr schon in Paris gewesen?«

»Nein.«

»Wie lange bleiben der Herr hier?«

»Hier in diesem Hotel nur eine Stunde.«

»Darf ich den Herrn inzwischen etwas in Paris herumführen?«

»Während dieser einen Stunde?«

»Nur hier in der näheren Umgebung. O, wir haben hier wunderbare Sehenswürdigkeiten.«

Nun, das ließ sich machen. Das war doch überhaupt sehr liebenswürdig von dem Herrn, daß er mir so die eine Stunde vertreiben wollte.

Gut, ich ging mit. Der Gang um die nächste Ecke führte uns in eine dürftige Allee. Monsieur Gueit machte mich auf eine Pappel aufmerksam, in die vor vier Jahren der Blitz geschlagen hatte, und der Riß war so gut wieder zugeheilt, daß keine Spur mehr davon zu sehen war.

Mit den nächsten drei Schritten hatte er mich vor ein kleines Schaufenster geführt, in dem Hosen hingen, nichts weiter als Hosen.

»Ach, ich habe hier drin ein paar Worte zu sprechen. Wollen Sie mit eintreten? Es ist sehr sehenswert, dies ist das größte Spezialgeschäft in Paris für Pantalons.«

Gut, ich ging mit hinein. Nur der Wissenschaft halber. Es schien mir mehr eine Ramschbude zu sein. In die erste Etage hinauf, vollgepfropft mit Hosen, auf Stangen aufgereiht. Ein Stuhl wurde mir angeboten, und ich sah zu, wie sich Monsieur Alfonse Gueit den Stoff zu einer Hose aussuchte, wozu er ausgerechnet – ich kontrollierte mit meiner Uhr – 28 Minuten brauchte und dann ging das Anmessen los, was 34 Minuten währte, so daß ich dort auf meinem Stuhle eine Stunde und zwei Minuten gesessen habe.

Der Leser wird meinen, ich sei verrückt gewesen.

Nein, das war ich nicht.

Mir imponierte mächtig, daß ich jetzt in Paris herumgeführt wurde. Eine Stunde hatte ich Zeit, und diese benutzte ich, um Paris zu besichtigen. Andere haben in Paris den Eiffelturm und den Louvre und andere Sehenswürdigkeiten besucht. Ich aber bin mit dem Schnellzug von Marseille nach Paris gejagt, habe eine Pappel gesehen, in die vor vier Jahren einmal der Blitz geschlagen hat, habe eine Stunde in einer Hosenramschbude gesessen und bin dann gleich wieder nach Marseille zurückgejagt.

Ja, mir machte es das größte Vergnügen, hier zu sitzen und zuzusehen, wie der sich Stoff aussuchte und eine Hose anmessen ließ. Lieber hätte ich ihn ja beim Hosenboden genommen, aber das war keine besondere Kunst. Kunst war dagegen, hier ruhig dazusitzen. Ruhe, Georg, nur immer Ruhe. »Mut zieret auch den Mameluck, Gehorsam ist des Christen Schmuck!«

Also ich schaute zu, eine Stunde und zwei Minuten.

»Sie langweilen sich doch nicht etwa?«

»Nein, o nein, durchaus nicht!«

Es war ja auch gar nicht langweilig. Da waren soviel Hosen, ach soviele, die ich studieren konnte. Lange Hosen, kurze Hosen, enge Hosen, weite Hosen, braune Hosen, grüne Hosen, karrierte Hosen, längsgestreifte Hosen, quergestreifte Hosen – – und auf einer weißen Flanellhose lief eine große Wanze.

»Ich muß aber jetzt fort!« sagte ich endlich.

»Nur einen Augenblick noch, mein Herr.«

Der Augenblick währte noch zehn Minuten, die ich auch noch zugab, dann ging es nach dem Hotel zurück, in zwei Minuten zu erreichen. Unterwegs brannte ich mir eine Zigarre an, Monsieur Alfonse Gueit winkte ob des guten Geruches dermaßen mit dem Zaunpfahle, daß ich ihm eine präsentierte. Er wollte sich revanchieren, hat es aber wohl vergessen.

»Die Rechnung, bitte.«

Sie wurde ausgeschrieben, ich habe sie noch jetzt hier vorliegen. Vom Hotel des Anglais, Paris, beim Gare Lyonais Besitzer Alfonse Gueit.

1 Frühstück 5 Franken
3 Mineralwasser 3 Franken
1 Frontzimmer 5 Franken
1 Zimmerbedienung 1 Franken
1 Stück Seife 1 Franken
1 Stück Kamm 1 Franken
1 Stück Kleiderbürste 1 Franken
Für Führung durch Paris 5 Franken
Summa 22 Franken

Ich bezahlte, ohne ein Wort zu verlieren, gab dem Kellner noch ein reichliches Trinkgeld. Daß ich den Kamm und die Bürste nicht mitgenommen hatte, brauchte ich wohl nicht erst zu sagen.

Als mir dann aber beim Abschied der Monsieur Alfonse Gueit auch noch ein Dutzend Geschäftskarten mitgab – »Bitte, empfehlen Sie mein Hotel« – da überwältigte mich die Rührung. Da hätte ich diesen unschuldsvollen Engel beinahe an meine Brust geschlossen.

Leute, denen ich das dann später erzählt habe, sagten: »So etwas darf man sich doch nicht gefallen lassen.«

Das sind einfach Klugschnacker, die so sprechen!

Ich habe später in Paris selbst den deutschen Genenalkonsul gesprochen, erzählte ihm den Fall.

»Da ist hier gar nichts dagegen zu machen. Hat der Mann Sie gefragt, ob Sie geführt werden wollen? Ja. Und Sie haben bejaht. Er berechnet die Stunde mit 5 Frank. Sie haben auf alle Fälle zu zahlen, und wenn er klagen muß, haben Sie die Kosten zu tragen. Wer nach Paris fährt, muß schon in seiner Heimat genau wissen, wo er sich dort hinzuwenden hat. Gewiß, es ist eine nichtswürdige Übervorteilung, es ist eine Gaunerei – aber es ist gar nichts dagegen zu machen.« –

So sprach zu mir einige Jahre später der deutsche Generalkonsul in Paris.

Damals aber hat auch das Schicksal mir etwas ins Ohr geflüstert.

Etwas davon, daß die ewige Gerechtigkeit doch kein so leerer Wahn ist.

Der Weg führte mich, also nach vielen Jahren, an dem Hotel des Anglais vorüber. Ich trat einmal ein. Es war ein anderer Besitzer drin. Aber den Monsieur Alfonse Gueit kannte man noch recht wohl.

Leben tat der freilich nicht mehr. Hatte ein klägliches Ende genommen. Er hatte sich in Monte Carlo aufgehängt. Vorher hatte er seinen Revolver verkauft, um sich noch einmal sattessen zu können, ehe er zum Stricke griff.

Der kleine Bandit war einem größeren Räuber in die Hände gefallen. –

Punkt elf holte mich die Patronin mit einem Automobil ab.

»Alles in Ordnung Monsieur Leblanc ist zu Hause, erwartet uns. In solch einem Falle ist doch eine Kriegslist erlaubt. Ich konnte ihm doch nicht telephonieren, daß die Madame Helene Neubert mit einem ihrer Argonauten kommt. Dann würde er uns schwerlich empfangen. Ich habe uns als einen Monsieur Foulard und Gattin angemeldet. Die empfängt er sehr gern, weil sie ihm wahrscheinlich einige hundert Franken bringen. Das ist nämlich so ein Revolverjournalist, Sie wissen schon, so ein Lump, der eine Skandalgeschichte ausspioniert und mit Veröffentlichung droht, wenn ihm nicht so und so viel Schweigegeld gezahlt wird. Jetzt erwartet er also das Ehepaar Foulard, dem er die Pistole auf die Brust gesetzt hat. Woher ich das weiß, tut nichts zur Sache. Er wird seinen Irrtum schon bald merken.«

»Und wie werden Sie ihn nun züchtigen?«

Wieder fing die Patronin zu lachen an.

»Nein, nein, ich verrate nichts – sonst verderbe ich Ihnen den ganzen Spaß.«

Na, das mußte ja eine sehr lustige Bestrafung werden. Da war ich doch wirklich gespannt.«

»Wird der Monsieur ebenfalls lachen?« fragte ich nur noch.

»Wenn er klug ist – ja. Denn ich will ich ihm nicht tun. Er kann dabei tatsächlich lustig lachen.«

Das Wohnhaus, vor dem wir in der Rue de la Victoire ausstiegen, war ebenfalls ein sogenanntes Hotel – ein Garcon-Hotel. Eigentlich wird in Paris überhaupt jedes gemeinsame Wohnhaus Hotel genannt.

Wir fragten unten den Portier nach Monsieur Leblanc, mußten uns sogar anmelden, der Portier weiß aber auch bestimmt, wer das Haus verlassen hat und wer nicht. Wir stiegen drei Treppen hinauf, die Patronin klopfte an eine der vielen Türen, alle mit Nummern versehen, auch mit Schild oder Visitenkarten.

»Entrez!«

Es war ein Junggesellenzimmer, das Bett hinter einer Gardine, ein wüster Schreibtisch, darauf auch noch die Überreste eines Frühstücks.

Monsieur Alfonso Leblanc, ein kleiner Franzose mit schwarzem Spitzbart, den pomadisierten Poposcheitel bis ins Genick gezogen.

Daß er das Ehepaar Foulard persönlich gar nicht kannte, hatte mir die Patronin bereits gesagt, und Monsieur Foulard schien nicht viel zu sagen haben, denn es war die Gattin, an die sich jener gleich wandte. »Madame Foulard? Es ist mir sehr angenehm. Bitte, wollen Sie Platz nehmen.«

Aber wir nahmen noch keinen Platz.

»Nicht Madame Cecile Foulard – sondern ich bin Madame Helene Neubert – und dieser Herr ist einer meiner Argonauten, der Waffenmeister.«

Ein Starren, und dann ein kleiner Hexenschuß. Und dann bekam ich etwas sehr Merkwürdiges zu hören, was ich aber noch öfters zu hören bekommen sollte. »Ma–Ma–Madame Helene Neubert – es ist mir sehr angenehm.«

Na, das glaubte ich ja nun nicht, daß das dem gerade sehr angenehm war!

»Und – und – Sie wünschen? Womit darf ich Ihnen dienen?«

Die Patronin hatte das Heft aus der Tasche gezogen und hielt es ihm hin.

»Haben Sie diese Broschüre geschrieben?«

Wieder ein kleiner Hexenschuß. Dann wollte er sich sammeln, was ihm aber doch nicht recht gelang. »Und – und – wenn ich sie nun geschrieben hätte?«

»Ja oder nein! Doch Ihre Antwort ist gar nicht nötig. Ich weiß, daß Sie sie geschrieben haben. Sie werden jetzt diese Broschüre aufessen. Jetzt hier sofort! Ohne Widerrede! Setzen Sie sich dorthin und essen Sie diese Broschüre auf!«

Und die Patronin zog aus ihrer Kleidertasche, die aber wohl ein Loch dafür haben mußte, eine schwere, steife Hundepeitsche und legte sie wuchtig neben die Broschüre auf den Tisch.

Hallo!

Jetzt allerdings wußte ich es!

Ja, das war wirklich eine originelle, eine geniale Idee! Und das sollte allgemein eingeführt werden! Daß so ein Skribifax, der etwas geschrieben hat, was er nicht verantworten kann, das auffressen muß! Eigentlich sollte es ja das Manuskript sein, aber das ist nicht immer zu haben. Dann also das, was gedruckt worden ist. Nicht immer gleich die ganze Auflage, nur ein Exemplar, Buch oder Zeitung, das genügt schon. Außerdem könnte beim Manuskript die Tinte schädlich sein. In der Buchdruckerschwärze hingegen ist Öl, die macht also sogar fett! Ei, das wäre vortrefflich, wenn das allgemein eingeführt würde, dann würde manches Unheilvolle ungeschrieben bleiben!

»Vorwärts, essen Sie!«

»Los!« mußte ich doch auch mich einmal vernehmen lassen. »Mangez, mangez!«

Anfang

Ich zog dabei nicht meinen Revolver, um ihn ihm auf die Brust zu setzen, im Gegenteil, ich kreuzte dabei die Arme. Hatte aber Mühe, dabei meinen Ernst zu wahren. Diese Idee war doch wirklich zu nett!

Der Monsieur Leblanc merkte, daß ihm nicht viel anderes übrig blieb, als zu gehorchen, hatte sich bereits gesetzt, auch schon nach der Broschüre gegriffen und befühlte zunächst mit zitternden Händen den dicken Umschlag aus Pappe.

»Den – den – den Umschlag auch?« fragte er ganz kleinlaut, und das war begreiflich.

»Nein, den will ich Ihnen schenken!« entgegnete die Patronin.

»Den können Sie sich sauer einlegen und für später aufheben!« mußte ich hinzusetzen.

»Das – das – ist mir sehr angenehm. Und – und – wenn ich das Papier nun aufgegessen habe –?«

»Dann ist die Sache zwischen uns ein- für allemal erledigt.«

»Sie – Sie – tun mir nichts weiter?« erklang es immer kläglicher.

O, das war ja ein Held!

»Nein doch. Natürlich dürfen Sie nicht wieder so etwas über uns schreiben. Wenigstens nichts, was nicht der Wahrheit entspricht, was Sie nicht als Tatsache beweisen können. Die Wahrheit zu schreiben, das kann man ja niemandem verbieten. Aber das nächste Mal, wenn Sie solche aus der Luft gegriffene Behauptungen aufstellen, dann müssen Sie die ganze Auflage aufessen. Diesmal nur hier dieses Probeexemplar.«

»Das – das – ist mir sehr angenehm.«

Diese stereotype Redensart klang um so drolliger, weil er dabei die Betonung dabei immer stark auf das »sehr« legte.

»Nun aber vorwärts, essen Sie!«

Und Monsieur Alfonso Leblanc begann zu essen, das Papier zu kauen und zu verschlucken. Er hatte nicht einmal den Mut, eine Seite erst herauszureißen, er ließ die anderen einstweilen daran hängen.

Ach, dieses Bild, wie der das Buch auffraß! Dieses wehmütige Gesicht dabei!

Da fiel mir etwas ein. Warum ihm nicht die Sache erleichtern, ihm die Kost schmackhafter machen, wenn es möglich war? Auf dem Schreibtisch neben den Frühstücksüberresten stand eine Menage.

»Wünschen Sie vielleicht etwas Salz und Pfeffer und Senf?«

Ich setzte ihm die Menage hin.

»Ja – ja – danke sehr – das – das – ist mir sehr angenehm.«

Und er schmierte sich auf das Papier Senf, streute Pfeffer und Salz darauf.

»Vielleicht auch etwas Essig und Öl?«

Denn auch das war in zwei Fläschchen vorhanden.

»Ja – ja – das – das – wäre mir sehr angenehm.«

»Bitte sehr, hier.«

»Sie – Sie – sind sehr liebenswürdig.«

Und er machte sich eine Art Majonnaise aus Senf, Öl und Essig zusammen, tauchte das Papier hinein, das herauszureißen er jetzt auch den Mut hatte, und kaute die delikaten Bissen.

»Wenn ich – wenn ich – um ein Glas Wein bitten dürfte –«

»Nein, geehrter Herr, den müßten wir erst holen –«

»Das – das – ist nicht nötig, ich habe in meiner Kommode eine Flasche Wein –«

»Halt, sitzen geblieben!«

Denn der hätte doch mit einem Sprunge zur Tür hinaus sein können. Aber er beschrieb mir, wo die Flasche Rotwein zu finden sei, ich holte sie, entkorkte sie, schenkte ihm ein, und er speiste weiter, nun die Bissen ab und zu mit einem Schluck Wein würzend.

»Wenn ich – wenn ich – etwas Brot dazu nehmen dürfte – es wäre mir sehr angenehm – dort in dem Wandschrank –«

Ich fand das Weißbrot, auch eine Butterbüchse.

»Soll ich Ihnen vielleicht ein belegtes Brötchen machen?«

»Sie – Sie – sind sehr liebenswürdig – es – es – wäre mir sehr angenehm!«

Gut, ich bemutterte ihn, schnitt eine Scheibe Brot ab, schmierte Butter darauf, nicht zu knapp, da bin ich nicht so, legte selbst eine halbe Druckseite darauf.

Senf, Salz und Pfeffer, eventuell auch Essig und Öl, konnte er sich selbst nach Belieben darauf tun, was er denn auch tat. Wenn noch verschiedene andere Fleischsorten und Käse und Radieschen und Sardellen hinzugekommen wären, dann wär’s eine Hamburger Stulle gewesen. So war’s nur ein einfaches, belegtes Bahnhofsbrötchen. Er biß denn auch hinein, kaute emsig – aber bald schmeckte ihm das Brot nicht mehr, er hatte doch eben erst gefrühstückt – und da machte er es bald so, wie es verwöhnte Kinder tun: er fraß von dem Brote den Belag ab, nur das Papier.

Ach, und dabei sollte man nun ernst bleiben! Denn Mitleid empfand ich nicht etwa.

So verschwand eines der acht Blätter nach dem anderen. In noch nicht einer Viertelstunde war es geschehen. Die Patronin, die sich gesetzt hatte, erhob sich. »So, Monsieur Leblanc, es ist zwischen uns erledigt.

Sie haben mir Genugtuung gewährt – es ist erledigt. Ob diese Sache an die Öffentlichkeit kommt, das hängt ganz von Ihnen ab. Von meiner und dieses Herrn Seite aus geschieht es nicht. Allerdings wäre es mir sehr lieb, wenn Sie Ihre Herren Kollegen von der Feder warnten. Wer über mich und über meine Argonauten etwas schreibt, was nicht den Tatsachen entspricht, was er nicht verantworten kann, das – muß er aufessen! Und ich werde den betreffenden Herrn zu finden wissen. Und wenn er sich auf dem Meeresgrunde versteckt oder auf dem Himalaja. Ich hole ihn herauf, respektive herab! Und wenn er über uns ein zwanzigbändiges Lexikon geschrieben hat – er muß alle zwanzig Bände aufessen! Adieu.«

»Es – es – – es war mir sehr angenehm!« klang es uns nach.

Ich will hier gleich bemerken, daß über uns nichts Unvorteilhaftes mehr geschrieben wurde. Monsieur Leblanc hatte doch wohl den Mund nicht halten können, oder die Wände hatten Ohren und Augen gehabt. Mit uns sollte man sich überhaupt bald in ganz anderer Weise beschäftigen.

Daß uns aber sonst der Bestrafte nicht verklagte, das war ja ganz selbstverständlich, der wollte doch nicht auch noch den Spott dazu haben.

Ferner schicke ich gleich jetzt voraus, daß über diese Sache noch einmal einer unserer Heizer, ein gelernter Buchdrucker oder Schriftsetzer, einen ganz famosen Witz vom Stapel ließ. Aber das geschah viel später, bei einer ganz besonderen Gelegenheit, und so kann ich davon erst berichten, wenn es soweit ist. Ich möchte nur schon jetzt darauf aufmerksam machen, damit sich der Leser dann später erinnert. Ein köstlicher Witz, den der Heizer dann noch nachträglich lieferte!

Wie ich die drei Treppen hinabgekommen bin, weiß ich nicht, ich hatte zu sehr mit mir selbst zu kämpfen, denn ich konnte doch nicht das ganze Haus mit meinem Gelächter erfüllen. Auf der Straße konnte ich’s erst recht nicht.

Die Patronin blickte nach der Uhr.

»Halb eins geht ein Schnellng nach Marseille, den erreichen wir noch. Nicht wahr, wir fahren doch gleich wieder zurück? Ach, ich sehne mich so nach meinem Schiffe, nach meinen Argonauten, nach meinem Volke! Mir ist, als wäre ich schon eine Ewigkeit fort. Nicht wahr, wir fahren gleich wieder zurück?«

»Es – ist – mir – sehr angenehm!« platzte ich los.

Denn diese stereotype Redensart war immer von unbeschreiblicher Wirkung gewesen, besonders das letzte Mal.

Da aber, als ich losplatzte, saßen wir schon im geschlossenen Automobil, und 20 Minuten später wieder in einem Kupee erster Klasse.

Jetzt lachte aber auch die Patronin mit.

Und ich hatte ihr noch etwas Besonderes zu sagen.

»Wissen Sie, Frau Neubert, daß Sie da etwas geliefert haben, was überhaupt nur ein Seemann fertig bringt, so eine echte Salzwasserratte?«

»Wieso denn?«

»Kennen Sie den Kapitän Marryat, der viele Seemannsromane geschrieben hat? Kennen Sie von ihm den Peter Simpel?«

Nein, sie kannte ihn nicht.

Und ich erzählte ihr die betreffende Geschichte, die hier als Pendant in Betracht kam.

Vorausschicken will ich noch, daß der englische Kapitän Marryat in diesem seinen »Peter Simpel« die köstlichsten Seemannsgestalten geschildert hat, wie man so etwas nicht wieder in der Literatur findet! Aber man muß es englisch lesen, auch in der besten Übersetzung will es nicht so wirken. Diese Kapitäne, diese Matrosen, diese Midshipmen, Seekadetten, diese Bumbootsfrau – köstlich! Das ist alles wirkliches Fleisch und Blut!

Die Erzählung spielt im 18. Jahrhundert, als es also noch keine Dampfschiffe und Eisenbahnen gab.

Peter Simpel, der kleine Held, ein Seekadett, fährt mit der Postskutsche von London nach Liverpool. Fünf Tage Fahrt! Auch ein Kriegsschiffsmatrose steigt noch ein, salutiert vor seinem kleinen Vorgesetzten, wird vertraulich, erzählt, daß er erst heute von Liverpool nach London zurückgekommen ist, sich sofort noch einmal zehn Tage Urlaub hat geben lassen, um nochmals nach Liverpool zu fahren, dann sofort wieder zurück.

»Weshalb denn?«

Der Matrose berichtet. Er hat sich in Liverpool bei einem Juden ein silbernes Petschaft gekauft, für drei Schilling. Und jetzt ist ihm in London gesagt worden, daß das nur versilbertes Blech ist, kaum einen Schilling wert.

»Ja,« schließt der Matrose gemütlich, »und da habe ich mir nun noch einmal zehn Tage Urlaub geben lassen, fahre noch einmal nach Liverpool, um dem Juden das Jackstück auszuklopfen.« –

Das ist so ganz, ganz echte Matrosenart! Auf solch einen Gedanken kommt ja überhaupt gar kein anderer Mensch. Fährt der noch einmal fünf Tage lang mit der Postkutsche nach Liverpool, um dem Juden, der ihn um zwei Schilling betrogen hat, das Jackstück auszuklopfen!

Und hatten wir hier nicht ein ganz ähnliches Stückchen geleistet?

Und bei mir kam noch die Pappel hinzu, in die vor vier Jahren einmal der Blitz geschlagen hatte, und dann das Hosenmuseum. Deshalb fährt man von Marseille nach Paris!


Ach, geht mir doch weg mit Paris! Ich bin später noch mehrmals in Paris gewesen, habe mir alles, alles besehen, damals war noch das Tanzhaus Moulin rouge, ich habe selber mit Cancan getanzt – aber so amüsiert habe ich mich nie wieder!

Die Patronin lachte denn auch herzlich, als ich ihr jetzt erzählte, wie ich in der einen Stunde die Sehenswürdigkeiten von Paris besichtigt hatte.


An Bord fand ich einen Brief meines Vaters vor, schon die Antwort auf meinen.

Ich hatte ihm sofort geschrieben, schon unterwegs, hatte den Brief sofort in Marseille zur Post gegeben. Ich hatte ihm alles ausführlich berichtet. Freilich nicht von glockenspielenden Affen und Posaunen und Orgeln und dergleichen. Nur die Hauptsache, worauf es hier zwischen uns ankam, aber auch ganz ausführlich.

Mein Vater, Universitätsfechtmeister, eng mit der ganzen Akademie verwachsen, nicht nur so aus Scherz, der Vater der akademischen Jugend genannt, mit allen Professoren intim verkehrend, selbst ein Akademiker – er hätte mich, seinen einzigen Sohn, so gern studieren sehen. Ich aber hatte so gern zur See gehen wollen; und er hatte sein einziges Kind gehen lassen.

Ich hatte ihm immer Freude gemacht. Ich war Reserveoffizier geworden. Ich würde dereinst, wenn nichts dazwischen kam, als Kapitän einen großen Passagierdampfer führen.

Und jetzt war ich auf einem Gauklerschiffe, auf einem unversicherten Abenteurerschiffe. Was das im Seehandel und im Seemannsberuf zu bedeuten hat, das hatte ich ihm ausführlich berichtet. In Kiel konnte er sich aber noch viel ausführlicher darüber berichten lassen. Und auf diesem Gauklerschiffe war ich Waffenmeister, nahm eine Stellung ein, die es überhaupt gar nicht gibt. Nur in der französischen Armee – Wachtmeister. Zirkusdirektor ist wenigstens ein anerkannter Titel. Ich war nicht einmal Zirkusdirektor. Ich war Vortänzer auf einem Gauklerschiffe

Das alles hatte ich meinem Vater geschrieben.

»Nun weißt Du es. Nun entscheide. Ich gehorche.«

Mit welchen Empfindungen ich dies geschrieben hatte, das war dabei ganz Nebensache.

Und jetzt kam die Antwort.

Es war ein großer, großer Briefbogen. Und genau in der Mitte standen zwei Zeilen.

Was ich hier in drei oder vier Zeilen wiedergeben muß, das war dort in zwei Zeilen zusammengequetscht, obgleich noch mit dem Gänsekiel geschrieben.

Mein lieber Georg! Tue immer, was Du vor Gott und Dir selbst verantworten kannst. Um die anderen brauchst Du Dich nicht zu kümmern. Also auch um mich nicht. Ich bin stets Dein treuer Vater.

Ei, ei, ei, so ein Vater!

Ich schreibe ihm einen Brief von acht Seiten, und der antwortet mit zwei Zeilen!

Nur ja kein Wort zu viel!

Und die Anrede schreibt er nicht einmal groß!

Schreibt mir nicht einmal, was in Kiel jetzt für Wetter ist!

Schreibt mir nicht, wie’s ihm geht!

Wünscht mir nicht, daß mich dieser Brief bei recht guter Gesundheit antrifft!

Na, so ein Vater aus der alten Zeit!

Nun aber wußte ich auch, was ich zu tun hatte.

Wir waren nachts um drei angekommen, die Patronin schlief bis um zehn. Dann ließ ich mich ihr melden.

»Frau Patronin!«

»Ja?«

»Gleich bei unserer Ankunft in Marseille habe ich meinem Vater geschrieben, habe ihm alles mitgeteilt, was das hier für ein Schiff ist, auf dem ich als Waffenmeister bin – na, Sie wissen ja, ein unversichertes Gauklerschiff, wir haben uns doch oft genug darüber unterhalten – ob mein Vater damit einverstanden ist, daß ich diese Stellung weiter bekleide.«

»Ja?«

»Hier ist seine Antwort.«

Ich gab ihr den Brief, sie las die zwei Zeilen.

»Ja?« erklang es nach wie vor, ganz ungerührt.

»Ich bitte um meine Entlassung.«

Da wurde sie kreideweiß, es sah erst aus, als wolle sie sich auf den Teppich hinsetzen, aber sie tat es nicht, drehte sich ruhig um und ging nach dem Panzerschrank.

»Wie Sie wünschen.«

Sie kam mit zwei Büchern an den Tisch zurück.

»Also Sie möchten abmustern.«

»Abmustern? Nein. Entlassen möchte ich werden. Ich kann doch gar nicht abgemustert werden, denn ich bin ja gar nicht angemustert worden. Aber jetzt möchte ich Sie bitten, mich regelrecht auf Ihrem Schiffe anzumustern.«

Sie blickte mich an.

»Aber Sie sind ein schlechter Mensch!«

Ach, wie sie das hervorgebracht hatte!

Und ich mußte lachen!

»Nein, dind Sie aber ein schlechter Mensch!« wiederholte sie noch einmal in demselben Tonfall.

»Na was denn?« lachte ich. »Das war nur eine kleine Revanche. Ich komme doch aus Paris. Revanche, Revanche! Sie haben mich doch auch einmal so entlassen. Aber damals konnten Sie mich gar nicht entlassen, denn ich war gar nicht angestellt, sondern ich war als dritter Steuermann angemustert. Nun habe ich einmal den Spießt herumgedreht.«

Na, wir beruhigten uns wieder. Eine kleine Weile ging ja das allerdings noch so weiter.

»Also angemustert möchten Sie werden? Als was denn?«

»Als Kargo-Kapitän.«

»Kargo-Kapitän? Was ist denn das?«

»Das wissen Sie nicht? Auf größeren Schiffen, die Fracht für eigene Rechnung nehmen, gibt es einen Mann, der diese Fracht unter sich hat. Ist es ein Vertreter der Reederei, aber kein Seemann, so heißt er Kargador oder Superkargo. Ist er zugleich ein berufsmäßiger Seemann, so heißt er Kargo-Kapitän. Ohne daß er wirklicher Kapitän zu sein braucht. Ein patentierter Steuermann muß er allerdings unbedingt sein. Er nimmt mit dem eigentlichen Kapitän ganz gleichen Rang ein, wenn sich die beiden auch einander gar nichts angehen. Hie Schiff, hie Fracht! Würden Sie mich als Kargo-Kapitän anmustern?«

»Ja selbstverständlich wenn Sie es wünschen!«

»Famos! Mir ist das nämlich auch deshalb so lieb, weil ich dann mit Kapitän Martin gleichgestellt bin; denn der arme Mann weiß ja gar nicht, was er mit mir anfangen soll. Als Waffenmeister bin ich ein Nichts in seinen Augen, anderseits habe ich mehr Heuer als er, habe mehr zu sagen – ich bin für ihn bisher ein wesenloses Gespenst gewesen. Nun aber kann ich als Kargo-Kapitän unmöglich mehr bekommen als der nautische Kapitän –«

Anfang

»Kapitän Martin hat mir hier in Marseille bereits ganz offen erklärt, daß er fünf Pfund Zulage haben möchte, es ist bereits geregelt. Er hat jetzt 25 Pfund, im Monat.«

»Na, dann ist es ja gut!« lachte ich. »Dann beziehe ich jetzt also meine 25 Pfund als Kargo-Kapitän.«

»Und als Waffenmeister? Das Amt wollen Sie niederlegen?«

»O nein! Das ist und bleibt mein Hauptamt. Als Kargo-Kapitän habe ich hier auf diesem Schiffe doch gar nichts zu tun. Destomehr als Waffenmeister. Aber das ist von jetzt an ein unbezahlter Ehrenposten. Und das darf nun auch nicht mehr anders sein.«

»Gut, abgemacht! Aber nun sagen Sie mal: ist denn das nun auch mit Ihrer Seemanns- und Offiziersehre vereinbar, daß Sie auf diesem Gauklerschiff den Rang eines Kapitäns einnehmen?«

»Nu allemal, erst recht!« lachte ich wieder. »Es handelte sich nur um meinen Vater, der alte Herr hätte doch seine eigenen Ansichten haben können, und ich bin nun einmal ein gehorsamer Sohn – aber wenn der nichts dagegen einzuwenden hat – mir ist es sehr, sehr lieb, auf einem Gauklerschiffe als Seemann zu dienen, und nun gar als Kargo-Kapitän, was genau so gut wie voller Kapitän ist.«

»Weshalb ist es Ihnen denn so lieb?«

»Frau Neubert! Ich will Ihnen einmal reinen Wein einschenken. Sie nehmen es doch nicht übel. I wo, werden Sie’s übel nehmen! Solch ein unversichertes Gauklerschiff ist nämlich ungefähr mit einer Balletteuse oder einer gefeierten Soubrette oder sonstigen Schauspielerin zu vergleichen. So eine hat doch keinen Zugang in bessere Kreise. Anderseits aber wird sie geradezu vergöttert. Fast genau so ist’s mit solch einem unversicherten Schiffe. Nicht einen Groschen bekommt man darauf gepumpt. Selbstverständlich nicht. Keine solide Seehandlung gibt ihm Fracht, weil’s – nicht reputierlich ist, obgleich es der größte Unsinn ist; denn mit einem unversicherten Schiffe ist man doch viel, viel vorsichtiger als mit einem versicherten. Aber es gilt nun einmal für einen Leichtsinn. Was ja auch wirklich der Fall ist. Deshalb also steht auch der Kapitän eines unversicherten Schiffes, eines Gauklerschiffes, außerhalb der berufsmäßigen Seemannskreise. Zum Beispiel ist es ganz ausgeschlossen, daß er etwa in das Schiedsgericht einer Seemannskommission gewählt wird.

Nun wollen wir aber einmal die Kehrseite der Medaille betrachten. Oder ich kann mich ganz kurz fassen. Es ist heute nicht mehr so leicht, als Kapitän ein Schiff zu bekommen. Ich kenne viele, viele Männer, die schon längst ihr Kapitänsexamen bestanden, und die manchmal sogar noch als Matrose fahren, weil sie nicht einmal als letzter Steuermann ankommen können!

Und ich sage Ihnen nur noch das eine: wenn ich einige Zeit auf solch einem Gauklerschiff als Kargo-Kapitän gefahren bin, und ich sehe mich nach einer anderen Heuer um – ich sage Ihnen, ich brauche nur die zehn Finger auszustrecken – und an jedem einzelnen Finger hängt eine Reederei, die mich mit Kußhänden als Kapitän annimmt!

Weshalb? Nu weil auf solch unversicherten Gauklerschiffen eben nur die tüchtigsten Kerls zu finden sind! Der hat ein Gauklerschiff gefahren – Dunnerslag der muß was können! Und das ist auch wirklich so! Also es ist der reine Eigennutz von mir, wenn ich hier bei Ihnen bleibe. Mehr habe ich nicht zu sagen.«

»Ich hoffe aber,« lächelte die Patronin, »daß Sie recht lange bei mir bleiben.«

»Jawohl, das hoffe ich auch stark. Und nun gehe ich gleich zum Kapitän Martin, um ihn als meinen Kollegen zu begrüßen – um ihm zu sagen, daß ich auch so schlau gewesen wie er.«

Und ich wandte mich denn auch gleich der Tür zu.

»Herr Waffenmeister!« wurde ich da mit recht seltsamer Stimme noch einmal gerufen.

Ich blieb stehen, ging zurück. Und nun ereignete sich die gewaltige Szene. Wenigstens gewaltig für mich.

Was sie zuerst sagte, sprach sie wohl nur zu sich selbst, ganz in Träumen versunken, obgleich sie mich dabei anblickte.

»Ich – möchte Ihnen etwas zum Andenken an diese Stunde schenken. Ich schenke so gern. Aber das Teuerste, was ich besessen, haben Sie schon. Den Ring meiner Mutter. Und – es müßte auch etwas ganz anderes sein. Etwas, was ein Mensch gar nicht schaffen kann, nur Gott –«

Plötzlich erwachte sie aus dem Traume, ihr Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an, sie trat an den Tisch, nahm aus einer Vase eine rote Rose, eben erst entfaltet, trat einen Schritt näher auf mich zu, und ernst und feierlich erklang es:

»Georg!

Wir beide sind keine Kinder mehr.

Obgleich wir in anderem Sinne noch die reinen Kinder sind.

Wir beide wollen uns nicht herumzerren wie in einem Romane.

Du hast mich vorhin tödlich erschrecken sehen, als ich glaubte, Du wolltest mich verlassen; weil es so unvermutet kam, nur deshalb konnte ich so erschrecken, denn ich weiß es besser, sonst würde ich doch jetzt nicht so zu Dir sprechen.

Ich liebe Dich, Georg!

Ich gehöre Dir.

Du hast über mich zu befehlen.

Nur eines möchte ich Dich bitten, Georg – bitte, laß mir meine Freiheit!

Laß mir mein Schiff, mein Volk und – meinen Waffenmeister!

Laß mir meinen schönen Traum.

Bleiben Sie mein Waffenmeister, mein Vasall, mein Ritter.

Und dennoch – ich gehöre hiermit Dir –«

Sie führte die Rose an ihre Lippen, küßte sie, mit einem langen, langen Kusse, und reichte sie mir.

Und ich nahm sie, auch ich küßte sie – und ging!

Aber zum Kapitän konnte ich jetzt nicht mehr gehen.


13.
KAPITEL. DER ATLANTIK-INDIA-ATLANTIK-MARSCH.

Es war an einem Freitag Vormittag, als ein Mann, seemännisch gekleidet, im Batterie-Bureau des vierten Forts von Kapstadt fragte, ob er den Festungskommandanten sprechen könne.

»Wozu?«

»Ob sechzig Mann, die morgen den Atlantik-India-Atlantik-Marsch machen wollen, dazu die Gewehre und Tornister bekommen können.« –

Diese Frage bedarf der Erklärung.

Das Wettgehen wurde in England schon eifrigst gepflegt, als man in Deutschland Fußball und Lawn-Tennis und dergleichen Sportspiele noch gar nicht kannte. Das ist ja auch so etwas, worüber sich jedes deutsche Herz kränken muß, daß wir dies alles erst von unseren englischen Vettern importieren, alles so nach und nach. Wenn es dort schon bald abgekleppert ist, dann fängt es bei uns erst an.

So läßt sich auch der Anfang des Wettgeh-Sportes in England gar nicht mehr ergründen. So lange die Bank von England existiert, ist der Wettmarsch der sämtlichen Angestellten dieser Bank über eine Strecke von 20 englischen Meilen, ausgeführt am zweiten Pfingstfeiertage, einem sogenannten Bankholiday, von nationaler Bedeutung.

Schon viele, viele Wochen vorher trainieren alle die Hunderte von Buchhaltern und Kommis täglich für diesen Wettmarsch. Da sieht man mitten in den Geschäftsstraßen Londons Szenen, Gestalten, die anderswo einfach gar nicht möglich sind.

Ich wohnte in jenen Pfingstwochen einmal in der Commercial Road, der Hauptgeschäftsstraße des östlichen Londons, und jeden Nachmittag um fünf sah ich durch diese Straße einen alten Herrn rennen – oder vielmehr gehen, aber nun wie, mit welchen Schritten, mit welcher Körperhaltung! – Nur bekleidet mit einem leichten Badekostüm, die Hosen gingen nicht bis zur Hälfte der Schenkel, mit leichten Schuhen und einem Strohhut. Er war einer der ersten Kassierer der englischen Bank, 68 Jahre alt. So rannte dieser alte Herr täglich nach Barking und zurück, halbnackt, noch nackter, eben nur mit einer Badehose bekleidet – die Fäuste geballt, die Ellenbogen in die Seiten gestemmt, so marschierte er weitausgreifenden Schrittes, mit weit vorgelegtem Oberkörper durch die belebtesten Geschäftsstraßen.

Kann man sich so etwas in Berlin, Wien oder Paris vorstellen? Nein! So etwas ist nur in London möglich! Nämlich wie man dort so etwas auffaßt! Nur Bewunderung, nur Respekt vor diesem alten Herrn!

Das war damals noch das Wettgehen.

Anfang des 20. Jahrhunderts kam dann das Wettmarschieren daran, der Armee-Gepäckmarsch mit feldmarschmäßiger Ausrüstung, sehr bezeichnend, aber nicht eingeführt von den Organisationen der Armee, sondern von einfachen Sportsleuten.

Glaubt man etwa, solch ein Sport sei ganz zwecklos, sei nur eine athletische Spielerei?

Leser, hüte Dich, irgend etwas in der Welt als zwecklos zu bezeichnen, sonst dürfte vielleicht auch einmal Deine jetzige Tätigkeit, die Du für sehr, sehr nützlich hältst, als ganz zwecklos verurteilt werden!

Ich befand mich gerade in Hamburg, am 10. Juni 1900, ich stand gerade auf einer elektrischen Straßenbahn, wir fuhren am Zirkus Busch vorbei, mittags halb eins.

»Extrablatt, Extrablatt!! Die Gesandtschaften in Peking von den Boxern genommen, alles ermordet!!«

Man mußte in Hamburg sein, wo man den Pulsschlag der ganzen Welt am deutlichsten fühlt, um verstehen zu können, was das zu bedeuten hatte!

Ich will gar nicht von der Börse sprechen. Dieser Eindruck der Meldung im allgemeinen in solch einer Seestadt!

Ich sehe noch einen alten, feinen Herrn, wie er auf der Straße seinen Zylinder vom Kopfe nimmt, ihn zu Boden schleudert und darauf herumtrampelt.

»O Jammer, o Jammer – o Schmach über Schmach! Wozu haben wir denn unsere Kriegsschiffe?!«

Und ich sehe noch eine elegante junge Dame über die Straße rennen, weinend, schreiend, die Verzweiflung selbst.

»Mama, Mama – die Gesandtschaften sind gefallen – alles tot, alles tot – unser Fritz – unser Gretchen!«

Denn nun diese Einzelheiten, die man in den Extrablättern und dann in den weiteren Berichten las!

Sie hatten erst ihre Frauen und Kinder erschossen, mit eigener Hand, ehe sie sich zum letzten Verzweiflungskampfe rüsteten.

Ja, was sollten sie denn anderes tun? Die Belagerten konnten doch nicht ihre Frauen und Kinder lebendig in die Hände dieser chinesischen Boxer fallen lassen.

Diese Meldung war verfrüht und übereilt.

Nur die italienische und österreichische Gesandtschaft war schon geräumt worden, die anderen, einen geschlossenen Komplex bildend, hielten sich noch.

Aber das wußte ja niemand.

In Taku lagen einige Kriegsschiffe, nur von Matrosen besetzt. Also es waren keine Seesoldaten mit vollständiger infanteristischer Ausbildung dabei, meine ich. Die Nationalität dieser Schiffe nenne ich später.

Am 10. Juni traf aus dem in Aufruhr befindlichen Peking die Botschaft in Taku ein, datiert schon vom 4. Juni.

Hilfe! Allerhöchste Not! Wir können uns keinen Tag mehr halten! Wir müssen unsere Frauen und Kinder töten. Das wurde dann in die Welt telegraphiert, als wäre es bereits geschehen.

Die in Taku liegenden Kriegsschiffe setzten sofort eine Expedition zusammen, nur aus Matrosen bestehend. 915 Engländer, 509 Deutsche, 312 Russen, 150 Franzosen, 112 Amerikaner, 54 Japaner, 40 Italiener, 25 Österreicher. Den Oberbefehl übernahm der englische Admiral Seymour.

Man muß einen gesprochen haben, der diesen dreitägigen Gewaltmarsch mitgemacht hat! Der kann etwas erzählen!

Aber wir wollen hier nicht von Kilometern sprechen.

Dieser Gewaltmarsch von Taku nach Peking ist ein dunkler Punkt in der Kriegsgeschichte. Nicht ehrenvoll für Europa! Auch nicht für uns Deutsche, obgleich die sich am besten hielten. Gleichzeitig marschierten die 2000 Mann ab, es war ein internationales Wettmarschieren, immer länger dehnte sich der Zug aus, und die deutschen Matrosen marschierten immer an der Spitze. Die schlappsten waren die Amerikaner. Die blieben gleich am ersten Tage liegen. Sie hatten eben die wenigste Übung, die wenigste Ausbildung in solchen Parforcemärschen.

Aber auch den Deutschen weit, weit voran waren immer die japanischen Matrosen! Die hätten Peking auch erreicht, aber sie mußten auf Befehl Seymours immer auf die Nachzügler warten. Und am 12. Juni, nach zwei Tagen, wurde der ganze Marsch überhaupt als hoffnungslos aufgegeben, man kam auf den grundlosen Wegen nicht weiter, und alle die europäischen Krieger lagen wie die Fliegen da.

Es sollte dann ja noch ganz anders kommen, die Gesandtschaften in Peking konnten sich eben noch halten, dann traf von der Peiho-Mündung auf die nötige Hilfe ein und räumte in Peking auf. –

Seit dieser Zeit sind die Armee-Gepäckmärsche als Sport eingeführt worden.

Und nun sage man nicht mehr, daß solch ein Sport zwecklos sei.

Daß man bei so etwas nun gleich ins Extreme fällt, gleich über den Strang haut, das ist beim menschlichen Charakter, wie er nun einmal ist, selbstverständlich. Jedenfalls aber ist es besser, ein Kommis kann drei Tage nicht ins Bureau kommen, weil er vor Überanstrengung das Fieber hat, als weil er gewettet hat, in einer Stunde zehn Liter Bier auszusaufen. Ganz merkwürdig ist es auch – merkwürdig für uns! – was die englischen Prinzipale in Sachen solchen Sports ihren Angestellten für Konzessionen machen, wieviel sie da Urlaub geben, ein Auge zudrücken, wenn einer einmal ausbleibt. Nicht nur, daß es sich hier um eine nationale Ehrensache handelt, sondern die haben eben ihre Erfahrung! Der Bureauarbeiter, der in England nicht irgend einen körperlichen Sport treibt, nicht solch einemt Klub angehört, dem er außerhalb der Geschäftszeit sein ganzes Interesse widmet, dem traut man nicht recht, der wandelt auf Abwegen. Ja, es ist schon etwas daran!

Und wollen wir doch nur nicht vergessen, daß jedes Volk – jedes! – als es aus der Höhe der Kultur und seiner Macht stand, am meisten den athletischen Sport pflegte. Als das alte Hellas die damalige Welt beherrschte, errichtete es seinen olympischen Siegern Denkmäler, gab ihnen Triumphzüge, ernannte sie zu Ehrenbürgern, machte sie steuerfrei. Das heutige Griechenland kennt keinen Sport mehr. Die Türken in ihrer alten Macht waren die eifrigsten Sportjünger – heute ist es ihr liebstes Vergnügen, auf dem Hosenboden zu hocken. Spanien kennt nur noch das erbärmliche Stiergefecht. Heute hat England die Weltmacht.

Das ist ein Thema, über das man sich einmal mit einem gelehrten, wissenschaftlich gebildeten Sportsmann unterhalten muß. Da kann man etwas zu hören bekommen!

Also natürlich waren es wieder zuerst die Engländer, die sich mit Leidenschaft, aber auch mit der größten Energie auf diesen neuen Sport des feldmarschmäßigen Marschierens mit Gewehr und Gepäck warfen. Es ist auch wirklich großartig, wie in England so etwas gleich gehandhabt wird. So großzügig! Gleich von oben herab! Jede englische Garnison in der ganzen Welt erhielt von oben herab den Befehl, daß jeder Mann – also jeder Zivilist – der sich für einen Gepäckmarsch trainieren wollte, um sich an einem ausgeschriebenen Wettmarsch zu beteiligen, oder um außerhalb der Zeit einen neuen Rekord aufstellen zu wollen, alles dazu erhielt, was er brauchte, ein Gewehr, den beschwerten Tornister und so weiter.

Natürlich nicht jeder Nigger und jeder Stromer! Alles mit Unterschied. Man darf nicht alles gleich buchstäblich nehmen. Aber immerhin, das Entgegenkommen der englischen Garnisonen in dieser Sache ist heute noch großartig. Und da macht der Engländer auch keinen Unterschied in der Nationalität. Der Sport ist international. So wie es die Wissenschaft ist – oder sein sollte.

So war es auch in Kapstadt.

Dort handelte es sich um den Atlantik-India-Atlantik-Marsch. Der wurde schon damals umstritten und wird es noch heute.

Kapstadt liegt an der Westküste an einer Bucht, die vom Kap der guten Hoffnung noch 30 Kilometer nördlich entfernt ist. Wenn man die Karte betrachtet, wird man gleich erkennen, daß dieses Kap nicht eigentlich den Atlantischen Ozean vom Indischen trennt. Diese Grenze bleibt richtiger das Kap Agulhas oder das Nadelkap. Anderseits ist es wieder ganz richtig, wenn man das mächtig vorspringende Kap der guten Hoffnung als die Scheidegrenze annimmt. Die Geographen sind so ehrlich gewesen, die östlich davon liegende Meeresbucht »die falsche« zu nennen – ich hätte es nicht getan.

Von Kapstadt, direkt am Atlantischen Ozean liegend, nach Muizenberg, an der falschen Bucht, also am Indischen Ozean, und wieder zurück, das war die Route für den »Atlantik-India-Atlantik-Marsch«, heiß umstritten mit feldmarschmäßiger Ausrüstung.

Nun muß ich zunächst etwas bekennen. Ich weiß, daß das englische Infanteriegewehr 4,2 Kilogramm wog, mit aufgepflanztem Bajonett 4,904 – aber ich kann nicht einmal sagen, wie lang diese Strecke war. In der Luftlinie betrug sie nicht ganz 30 Kilometer. Sie ging erst südwestlich nach der Küste, von Brighton ab direkt südlich, durch die Schluchten der »Zwölf Apostel«, immer noch mehr Gebirgsschluchten, dann direkt auf Muizenberg zu und auf ebener Straße am Bahndamm entlang nach Kapstadt zurück.

Aber nun diese Drehungen und Schleifen! Die Sache war nämlich die, daß damals die Länge dieses Weges überhaupt nicht bekannt war. Die Strecke war topographisch noch nicht vermessen worden. Mit Schrittzählern und Fahrrädern und Automobilen, die Umdrehungszähler hatten, war sie wohl gemessen worden – ja Du lieber Gott, da kamen Unterschiede von Kilometern heraus!

Und heute existiert diese Straße über die Zwölf Apostel gar nicht mehr. So ausgezeichnet die Straßen auch beschaffen waren, wurden sie doch aufgegeben, als man durch Tunnel und Überbrückungen einen kürzeren Weg geschaffen hatte.

Die Länge ist ja auch ganz Nebensache, Hauptsache ist die Zeit, wie der Rekord immer mehr herabgedrückt wurde.

Von der englischen Armee hatte bisher die beste Zeit ein Sergeant mit 5 Stunden 24 Minuten aufgestellt. Die Sekunden brauche ich hierbei nicht zu nennen. Der beste Zivilist war ein junger Franzose, Aufseher in einem Lagerhause. Doch bekleidete er diese Stellung nur noch dem Namen nach, eben um nicht als Berufsläufer zu gelten, in Wirklichkeit tat er überhaupt nichts weiter mehr als marschieren. Der hatte 5 Stunden 11 Minuten gebraucht, das war bisher seine Höchstleistung. Den Rekord hatte der australische Meisterschaftsgeher Frank Green mit 5 Stunden 4 Minuten 31 Sekunden geschaffen.

Aber nicht etwa, daß solche Wettmärsche und Rekordversuche nur zeitweilig stattfanden. Der Atlantik-India-Atlantik-Marsch war für Kapstadt ein Tagesereignis geworden. Einige Läufer befanden sich immer auf dieser Strecke, bei Tag und bei Nacht, wenn sie Mondschein dazu hatten, und nicht einmal der war nötig, und wer sich den glühendsten Sonnenbrand dazu auswählte, der trainierte sich eben, um in kühleren Stunden dann Besseres leisten zu können. Sollte solch ein Marsch ein wirkliches Resultat haben, so mußte der Betreffende mindestens von einem unparteiischen Radfahrer begleitet werden, der ihn kontrollierte, der fand sich auch immer, oder selbst dieser wurde vom vierten Fort – eigentlich vierte Batterie – zur Verfügung gestellt, oder sogar Kavalleristen begleiteten solch einen Mann, nur einen einzigen, der sonst vielleicht die Nadel schwang. Es war eben ein Befehl von oben herab, es waren zugleich militärische Übungen. Nur die absolute englische Sonntagsruhe wurde eingehalten, das wurden auch keine Gewehre und Tornister geliefert.

Zu einem wahren Volksfeste aber wurde diese Sache an jedem Sonnabend nachmittag ohne Ausnahme. Das kam besonders daher, weil der Abmarsch von der Pferderennbahn aus begann, die am vierten Fjord liegt, hier auch wieder endete. Kapstadt hat eine sehr traurige Umgebung. Es wird Busch genannt, ist aber die reine Heide. Seitdem der prachtvolle botanische Garten freigegeben worden ist, hat Kapstadt wenigstens einen Park, sonst würde man dort gar keine Bäume kennen. Und dann ist mit der Rennbahn, sehr günstig gelegen, wieder ein Stück Wildnis geschaffen worden.

Die englischen Fabriken, Werkstätten und Bureaus schließen sonnabends schon um eins. Und da wanderte nun alles, was frei hatte, mit Kind und Kegel nach der Rennbahn hinaus. Hier wurde einmal Hinterwäldlers gespielt, man kochte im Freien ab, wozu schwarze Hausierer Brennholz und Holzkohlen verkauften, es wurde aber überhaupt alles feilgeboten, was man irgendwie brauchte, an anderen Stellen standen Jahrmarktsbuden aller Art, und außerdem lag in der Mitte der Pferderennbahn die Radrennbahn, auf der die verschiedenen Sportklubs ihre Kämpfe ausfochten, aber nicht nur Radrennen, sondern auch Fußball, Kricket, Traberrennen, Polospiele zu Fuß und zu Pferde und dergleichen. Da diese Klubs im Auslande politische Bedeutung haben, für die nächsten Wahlen ihre Anhänger suchen, so war dies alles frei, außerdem versuchte jeder Klub den anderen noch zu überbieten, das Volk durch Belustigungen zu unterhalten. Kurz und gut: so herrschte auf der Rennbahn jeden Sonnabend das bunteste Jahrmarktstreiben, das um zwei begann und bis Mitternacht währte.

Nun kam also auch noch der Atlantik-India-Atlantik-Marsch hinzu. Nicht gerade, daß man ihm besonderes Interesse entgegenbrachte. Mit Ausnahme, ein bekannter Läufer wurde zurückerwartet, auf den gewettet worden war. Denn gewettet wurde natürlich. Nicht etwa, daß er den Rekord brechen konnte – aber wieviel Minuten er mehr oder weniger als sechs Stunden dazu brauchen würde. Denn wer diese Strecke in sechs Stunden zurücklegte, das war schon ein tüchtiger Kerl! Aber auch sonst wurde jedes einzelne Resultat verkündet. Eine Viertelstunde vorher, ehe der Zurückkehrende, von Radfahrern gemeldet, zu erwarten war, fiel ein Kanonenschuß, oder ein Kanonenschlag knallte, dann eilte alles, was sich dafür interessierte, nach der Radrennbahn, denn auf dieser, 500 Meter lang, mußte der Zurückgekehrte erst noch eine Runde im Laufschritt machen. Das sollte gewissermaßen zeigen, daß der Mann als Soldat nach dem langen Parforcemarsch auch noch kriegsfähig war. Trotzdem wurde schon vorher, sobald der Mann das Band als Endziel überschritt, überall auf schwarzen Tafeln das Resultat der Zeit verkündet. Wenn die letzte Runde Dauerlauf dieses Resultat auch erst wirklich gültig wachte.

Noch muß ich bemerken, daß die feldmarschmäßige Ausrüstung nur in Gewehr, mit Sand beschwertem Tornister – 35 englische Pfund – Seitengewehr und zwei Patronentaschen mit zwei Pfund Eisengewicht bestand; sonst konnte sich jeder kleiden wir er wollte, er brauchte nur eine Badehose anzuhaben.

Das ist ja nun nicht gerade sehr »feldmarschmäßig«. Aber das hängt auch wieder mit dem zusammen, was wir von den Japanern aus ihrem letzten Kriege gelernt haben; denn da haben diese Mongolen uns Europäern doch Verschiedenes vorgemacht. Schon ihre gewaltige Überlegenheit auf dem Marsche von Taku nach Peking beruhte wohl hauptsächlich darauf, daß die europäischen Matrosen vorschriftsmäßig ihre Seestiefeln anhatten, während die japanischen Matrosen leichte Segeltuchschuhe trugen, ein Reservepaar auf dem Rücken. Sonst trugen sie überhaupt nur ihre Waffen. Alles andere ließen sie sich von besonderen Trägern, die wieder von Waffen befreit waren, nachtragen. Und so haben es die Japaner ja auch im Kriege gegen die Russen gehandhabt. Nichts weiter als Gewehr, Patronen und eine Lederflasche mit Wasser; alles andere wird ihnen nachgetragen, ihnen mitten im Gefecht zugeführt. Läuft sich der japanische Soldat einen Wolf, so zieht er die Hose aus, wirft sie weg, marschiert im Hemde weiter. Es ist ganz richtig so. Vorwärts, nur vorwärts! Dem Feinde ist es doch ganz egal, ob der, welcher ihn totschießt, vorschriftsmäßig gebügelte Hosen anhat oder nur im Hemde herumläuft.

Aber den 35 Pfund schweren Tornister hatte man hier doch beibehalten.


Am 26. März hatten wir Marseille verlassen, am 2. Mai – an einem Donnerstag – trafen wir in Kapstadt ein.

Was wir hier wollten? Es lag uns eben gerade am Wege. Wir wollten wieder einmal an Land, der Wind hatte uns hergetrieben.

Nicht etwa, daß ich gerade an diesen Atlantik-India-Atlantik-Marsch gedacht hätte. Gehört hatte ich schon von ihm, kannte auch sonst die Verhältnisse, aber deshalb waren wir nicht nach Kapstadt gekommen, auch nicht, um sonst eine Herausforderung ergehen zu lassen.

Das mußte überhaupt alles ganz anders kommen. Ganz von selbst. Das durfte auf keinen Fall forciert werden. Wir waren auch noch gar nicht soweit. Ja,wir hätten ein paar Schiffsmannschaften mit dem Taue über den Haufen ziehen können. Uns hätte einmal die Mannschaft eines Kriegsschiffes im Bootsrudern besiegen sollen! Auch im Fußball wollten wir unseren Mann stellen. Wenn wir aber nun doch besiegt würden?

Nein. Wir durften uns keinem Risiko aussetzen. Das mußte einmal wie ein Schlag vom Himmel kommen – und der kommt eben von selbst. Nur ruhig abwarten! Wir hatten Zeit.

Aber hier einmal den Atlantik-India-Atlantik-Marsch mitmachen – das war etwas anderes. Dabei wurde nichts riskiert. Das geschah ja außer Konkurrenz. Wir forderten doch niemanden heraus. Die Mannschaft eines Handelsschiffes wollte einmal versuchen, wie lange sie zu der Strecke brauchte. In aller Gemütlichkeit. Von solchen Handelsmatrosen und Heizern kann man doch überhaupt nicht viel verlangen. Und es war etwas ganz Neues. So hatten wir beraten, und am anderen Vormittag ging ich hin nach der vierten Batterie an der Rennbahn. Die Sache mußte 24 Stunden vorher angemeldet werden, wegen der Gewehre und so weiter. Denn, wie gesagt, jeder Stromer bekam natürlich keine Ausrüstung. Daß der mit dem Gewehr, mochte es auch ein ausrangiertes sein, und mit dem Sandsack aus dem Rücken etwa über die Schweiz ging! Unbekannte Personen mußten in Kapstadt mindestens einen sicheren Bürgen nennen.

»Wozu?« fragte der martialische Wachtmeister auf meine Bitte, ob ich den Herrn Festungskommandanten sprechen dürfe.

»Ob sechzig Mann, die morgen den Atlantik-India-Atlantik-Marsch machen wollen, dazu die Gewehre und Tornister bekommen können?«

Von einem Schreibtisch erhob sich ein jüngerer Offizier.

Anfang

»Dazu brauchen Sie nicht erst den Kommandanten zu sprechen, das könnte ich gleich erledigen. Für sechzig Mann? Wer sind denn die?«

»Die Mannschaft der »Argos«, die heute früh in den Hafen gelaufen ist.«

»Was, das ist doch das als Kriegsregatte getakelte Handelsschiff aus Noald?!« rief der Offizier überrascht.

»Jawohl.«

»Das am zweiten Kai liegt?«

»Jawohl.«

»Wo die Löwen und Tiger und Bären darauf herumspazieren?«

»Jawohl.«

Weiter wollte sich der Offizier nicht neugierig zeigen, er ging zur Sache zurück.

»Sechzig Mann?«

»Sechzig Mann.«

»Alle zur registrierten Besatzung gehörend?«

»Jawohl. Einige sind allerdings nur Angestellte, stehen nicht in der Musterrolle –«

»O, das tut nichts zur Sache. Wenn sie nur zum Schiff selbst gehören. Verzeihen Sie, ich muß so fragen, es ist meine Pflicht. Gewiß, die Mannschaft des englischen Schiffes kann alles bekommen. Es brauchte auch nicht gerade ein englisches zu sein. Mit wem habe ich die Ehre?«

»Georg Stevenbrock, Kargo-Kapitän der Argos.«

»Ist nicht auch ein erster Kapitän vorhanden? Nicht auch die Schiffsbesitzerin selbst?«

»Jawohl, Missis Neubert.«

»Ja, ja, ich weiß. In diesem Falle brauche ich nämlich die Bestätigung des Schiffsbesitzers, also hier der Patronin, daß die mit alledem einverstanden ist –«

Ich hatte mir schon von der Patronin solch eine Vollmacht ausstellen lassen und präsentierte sie nebst einem Schiffspapier.

»So, danke, das genügt vollkommen. Ich mußte es nur einmal sehen, nichts weiter. Danke, Herr Kapitän. Also morgen, sechzig Mann. Wann wollen Sie da abmarschieren?«

»Wir hatten an um 12 gedacht.«

»O, warum denn gerade in der heißesten Mittagsstunde?!«

Ja, die Zeit des Abmarsches schien schlecht gewählt zu sein. Aber wir hatten schon unsere Gründe dafür. Das war beraten genug worden. Mittags war nicht die heißeste Zeit, die fing erst um eins an, da wollten wir schon im Gebirge sein, und außerdem – wir hatten einige ausgezeichnete Wetterpropheten an Bord – es gab auch noch andere Gründe, daß wir die Nachmittagsstunden dem kühleren Vormittag vorzogen.

Das alles sagte ich dem Offizier aber natürlich nicht.

»Wir hätten gern den Marsch mittags um zwölf angetreten.«

»Nun, wie Sie wollen. Das stehst ganz in Ihrem Belieben. Marschieren Sie selbst mit, Herr Kapitän, wenn ich fragen darf?«

»Jawohl. Es sind sehr wenige, die sich von der Mannschaft davon ausschließen. Wir sind genau sechzig Mann, und wir möchten, daß unser Marsch außer Konkurrenz geschieht, wir wollen auch als geschlossene Truppe gelten, gewissermaßen als einzelne Person –«

»Ach so! Ja, aber darüber müssen Sie morgen die Schiedsrichter sprechen, die das alles arrangieren. Meine Sache ist nur, die Ausrüstung zu geben. Nun, da seien Sie also morgen um elf – nein, bei so vielen Leuten lieber schon zwei Stunden eher. Also morgen früh um zehn sind Sie hier mit den Leuten, nicht wahr?«

»Jawohl. Ich danke Ihnen sehr, Herr Leutnant.«

»Haben Sie schon für kontrollierende Begleitung – doch da werden Sie schon genug bekommen, die brauche ich nicht erst zu stellen. Nun, Herr Kapitän, da wünsche ich Ihnen, daß Sie oder einer Ihrer Matrosen den Atlantik-India-Atlantik-Preis gewinnt.«

»Was ist das für ein Preis?«

»Den der Capetowner Athletik-Klub gestiftet hat. Ein feldmarschmäßig ausgerüsteter Soldat, mit Gewehr und Tornister, fast eine Elle hoch, alles aus Silber. Prachtvoll! Wer den Marsch in fünf Stunden macht, also des Australiers Frank Green aufgestellten Rekord noch um 4 Minuten und 31 Sekunden herabdrückt, der hat ihn. Ohne weitere Verteidigung. Er gehört ihm für immer. Na da wünsche ich Ihnen oder einem Ihrer Matrosen also, daß Sie diesen Preis gewinnen.«

Lächelnd, mit etwas gutmütigem Spott hatte es der junge Offizier gesagt. –

Am anderen Morgen um neun Uhr rückten wir ab, nach der Rennbahn, nach dem Fort.

Der erste Steuermann hatte wahrhaftig richtig prophezeit!

Man befand sich ja hier auf der südlichen Halbkugel der Erde mitten im Winter. Aber da kann es in der Kapkolonie auch noch sehr heiß sein, Kapstadt liegt genau auf dem 34. Breitengrade, was genau der Lage von Fez in Marokko entspricht.

Und es waren gerade in letzter Zeit immer wolkenlose, sehr heiße Tage gewesen. Heute nacht aber hatte es tüchtig geregnet, und noch immer rieselte es vom grauen Himmel herab.

Das war ganz vorzüglich! Denn der entsetzliche rote Tonstaub, der im ganzen Kaplande zur Plage wird, den hatte ich am meisten gefürchtet, den waren wir an Bord des Schiffes nicht gewöhnt worden. Jetzt aber war der niedergeschlagen, und zwar bildete er keinen Schlamm, sondern, vorläufig mit so wenig Wasser gemengt, eine harte, zementähnliche Kruste. Besser hätten wir es gar nicht treffen können!

Wir waren alle gleichmäßig bekleidet. Einfach mit Hemd und Hose aus grauem, leichtem Drillich. Darunter trugen wir leichtes Flanellunterzeug. Breitrandige Strohhüte, an den Füßen leichte Segeltuchschuhe mit starken Ledersohlen. Dazu kam noch eine umgehängte Zweiliterflasche mit Tee und Zitrone.

Die hatten wir eigentlich gar nicht nötig. Ganz so wie im Kriege ging es bei diesem Sportmarsch doch nicht zu. Die Radfahrer und Automobilisten führten immer alles mit, um die Marschierenden unterwegs zu stärken. Es gab sogar einige Abspritzstationen. Da bekam man kalte Duschen. Man konnte sich ja auch einmal hinsetzen. Warum nicht? Dann freilich hatte man keine Aussicht, den Rekord herabzudrücken. Wir wollten aber lieber unser Trinkwasser selbst mitnehmen.

Wir marschierten schon so durch die Straßen, wie wir dann auch vom Start abmarschieren würden und hoffentlich auch wieder ankamen: in 15 Sektionen zu je 4 Köpfen, der Größe nach geordnet. Das war ja eigentlich ganz falsch. Die besten Geher, die ich nun schon beurteilen konnte, hätten als Schrittmacher fungieren müssen. Aber wir wollten ja gar nichts Besonderes leisten. Wir wollten diesen Atlantik-India-Atlantik-Marsch nur auch einmal machen, eine ganze Schiffsbesatzung, nur zum Spaß. Na, wir würden ja etliche Stunden über die Rekordzeit brauchen, wenn wir wirklich so geschlossen bleiben wollten.

So war der Flügelmann der ersten Sektion der lange Heinrich, den man sich als Matrosen kaum länger und dürrer vorstellen konnte, der kleinste Soldat im letzten Glied war natürlich Fritz, der Mondgucker, obwohl ihn Peter, der Heizer, wenig an Größe übertraf. Ich marschierte ziemlich in der Mitte, direkt vor mir August, der nur wegen seiner unförmlichen Dicke kleiner aussah, als er wirklich war.

Wir hatten zu unserem Unternehmen, ohne Beabsichtigung, uns auch nicht gerade sehr angenehm, auch noch einen ganz besonderen Tag getroffen. Kapstadt hatte Bankholiday, Bankfeiertag. Das heißt nichts anderes, als daß in den Banken einmal gründlich gescheuert wird. Großes Reinemachen. Das englische Geschäftsleben, wo auch der kleinste Geschäftsmann sein Scheckbuch hat, ist aber so eng mit den Banken verknüpft, daß bei deren Schluß gleich alles still steht. Bis auf die Detailläden wird auch alles andere gleich geschlossen.

Also es war so gut wie Feiertag. In den Straßen wimmelte es. Gerade wegen dieses leichten, herrlichen Regens, der die ganze Natur wieder aufleben ließ, in dem man wieder einmal atmen konnte, ohne den schrecklichen Staub schlucken zu müssen. Überdies würde der Regen bald aufhören, heute wurde noch das herrlichste Wetter.

»Da kommen sie, die Argonauten!«

Überall erklang es so. Es war schon alles bekannt. Es konnte ja auch gar nicht anders sein.

Nun marschierte aber auch alles mit nach der Rennbahn.

Halb zehn trafen wir dort ein. Neben der Tribüne, die sich bereits zu füllen begann, wurden die Vorbereitungen getroffen, wir wurden »gesattelt«. Die Herren, die bei diesem Marsche als Schiedsrichter fungierten, waren äußerst liebenswürdig, aber auf meine Erklärung, daß unser ganzer Trupp als Gesamtheit betrachtet werden sollte, ließen sie sich nicht ein. Das hätte erst eine Umänderung der Statuten und Bedingungen erfordert. Gut, die beiden Zeitpunkte sollten genommen werden, wann die erste und die letzte Sektion über das Band marschierte, und wieder die Zeitpunkte, wann der erste Mann und der letzte wieder über das Band schritt. Mehr konnte dabei nicht kontrolliert werden. Ja, mehr hatte ich ja aber auch gar nicht verlangt!

Wir wurden viel photographiert, einige Herren, wahrscheinlich Ärzte, die Wagen aufgestellt hatten, baten uns um Feststellung des Gewichtes. Doch das war rein wissenschaftliches Interesse.

Während dieser Zeit kamen kurz hintereinander zwei Mann zurück, die den Marsch nachts gegen vier angetreten hatten, von den Laternen der Radfahrer und auch eines Automobils begleitet.

Herrgott, wie die beiden Kerls aussahen!

Inwiefern, das ist nicht so einfach zu sagen.

Nicht etwa kotbedeckt, nicht wie in der Kaffeetrommel geröstet. Sie hatten die günstigsten Bedingungen gehabt, der Regen hatte nichts zu sagen. Aber in den Zügen, in den Augen stand es geschrieben, in was für einer Verfassung die sich befanden! Wie die Sterbenden, wenn sie auch noch marschierten.

Beide kamen über das Band, der eine setzte noch zum Laufschritt an, verlor aber dabei sein Gewehr, bückte sich und konnte sich nicht wieder aufrichten – und der zweite brach mit dem ersten Schritte über das Band wie ein Toter zusammen. Nur bis hierher noch hatte ihn seine letzte Energie getragen, keinen Schritt weiter.

Und die beiden hatten fast sechs Stunden zu der Strecke gebraucht! Und beide waren als die tüchtigsten Läufer bekannt!

Aber freilich, mit jenem Australier und jenem Franzosen konnten sie nicht konkurrieren, auch nicht mit dem englischen Sergeanten. Das waren eben gottbegnadete Genies auf dem Gebiete des Marschierens.

Und wie dieses Publikum hier schon diese Leistung von sechs Stunden zu würdigen wußte, das zeigte es durch sein Verhalten.

Ach, dieses Gejohle und Gepfeife, womit die beiden empfangen wurden! Wobei man wissen muß, daß das Pfeifen bei den Engländern ein Zeichen des Beifalls ist. Sonst kann es einem so gehen, wie erst kürzlich einer berühmten deutschen Opernsängerin, die in London gastierte und im zweiten Akt nicht wieder auftreten wollte, weil sie beim Fallen des Vorhanges so schrecklich ausgepfiffen worden war. Es war eben der höchste Beifall gewesen. Wenn nicht nur auf der Galerie, wenn auch im Parkett und in den Logen gepfiffen wird – dieser Beifall kann in England nicht mehr übertroffen werden.

Die beiden wurden im Triumphe auf den Schultern durch die Rennbahn getragen, die sie selbst nicht mehr hatten passieren können. Auch der Tote oder doch Halbtote.

Und sehr, sehr bemerkenswert dabei war, daß der eine ein Bure und der andere ein Deutscher war, und Engländer bereiteten ihnen diese Ovationen!

In Sachen des Sports ist der Engländer durchaus unparteiisch! Das muß man ihm hoch anerkennen!

Es waren früh um vier noch mehr abgerückt, sie kamen viel, viel später an – aber auch sie wurden begeistert empfangen. Ja, marschiert nur einmal diese Strecke mit Tornister und Gewehr, ohne einmal Rast zu machen, fast immer im Geschwindschritt! Die hier wußten schon, warum sie jenen Ovationen bereiteten!

Unsere Ausrüstung ging schneller, als der Offizier gemeint hatte. Halb elf waren wir schon fix und fertig. Und wir hatten uns nicht gerade auf punkt zwölf versteift.

Zehn Minuten nach halb elf Uhr überschritt die erste Sektion das Band, 50 Sekunden später die letzte.

Noch einmal hob die Patronin grüßend die Hand, dann war sie hinter uns.

Der Regen hatte aufgehört, der Himmel aber war noch bedeckt und würde es voraussichtlich auch bleiben. Ganz windstill.

Im Geschwindschritt ging es durch die Heide, auf vorzüglich chaussierter Straße, wie zementiert, gänzlich staubfrei.

Gegen fünfzig Radfahrer waren um uns herum, mindestens zehn Automobile, die aber hinter uns bleiben mußten, oder sehr weit voraus; wegen des Staubes, wenn es den jetzt auch nicht gab. Es war Vorschrift.

»Stopp, stopp, stopp!« erklang es von allen Seiten und immer wieder. »Diesen Schritt haltet Ihr doch keine Viertelstunde aus!«

Ach, wenn die gewußt hätten! Nämlich wie uns der schwere Tornister auf dem Rücken ein Federkissen dünkte, und das Gewehr war einfach ein Bleistift. Wir waren an Zentnergewichte gewöhnt! Und dieser Geschwindschritt, den wir jetzt angeschlagen hatten, das war noch lange nicht der Takt des Pariser Einzugsmarsches! –

Lang, lang war die Einleitung.

Desto kürzer soll nun der Schluß werden.

Und so muß es wohl auch sein, wenn dabei eine Pointe herauskommen soll.

Als wir in Muizenberg nach Norden herumschwenkten, da war es bereits längst entschieden!

Da wußte man es aber auch bereits auf der Rennbahn, in ganz Kapstadt.

Denn Muizenberg ist telegraphisch verbunden, jetzt marschierten wir ja den Bahndamm entlang.

Ungefähr fünf Minuten vor halb vier hörten wir den Kanonenschuß donnern, der unsere Ankunft anmeldete.

»Nun los, Jungens!«

Und leise pfeifend wurde der Pariser Einzugsmarsch angestimmt, jetzt in dem Takte, wie ihn der Komponist vorgeschrieben hat, und so wurde jetzt losgelegt!

Als die erste Sektion das Band überschritt, gingen überall an den schwarzen Tafeln die weißen Zahlen hoch. 4 Stunden 56 Minuten 13 Sekunden!

40 Sekunden später überschritt die letzte Sektion das Band.

»Gewehr zum Laufschritt – marsch, marsch!«

Und wir absolvierten unsere Runde, im elastischen Laufschritt.

Und die Ovationen, die uns gebracht warden, die wir alle zusammen den Rekord des australischen Champions um mehr als sieben Minuten gebrochen hatten?

Ja, das eben ist die Pointe!

Keine Hand rührte sich zum Klatschen, kein Pfiff, kein anderer Laut.

Über der vieltausendköpfigen Menge lagerte eine wahre Todesstille. Auch so eine seltsame Bewegungslosigkeit. Auch wieder die reine Todesstarre.

Daß es nicht mit rechten Dingen zugegangen wäre, daß wir etwa gefahren wären, daran dachte natürlich gar niemand.

Wir hatten doch immer die Kontrolleure bei uns gehabt.

Und doch, mit rechten Dingen konnte es nicht zugegangen sein.

Also Hexerei! Oder eben etwas ganz Unbegreifliches, etwas, was in das Hirn keines Menschen hinein wollte. In dieser Totenstille absolvierten wir auf der Radrennbahn unsere Laufschrittrunde.

Ich hatte schon während des ganzen Marsches meine Freude daran gehabt, wie vor mir August der Starke bei jedem Schritte mit seinem Hinterteile wackelte. Wie es immer so wie ein Pendel hin und her schwenkte. Wirklich, ich hatte mich nicht satt dran sehen können. Aber das war noch nichts dagegen gewesen, wie dieses Hinterteil jetzt bei dem Laufschritt hin und her pendelte. Wie bei einem Hunderttalergaule.

»Abteilung – halt! Gewehr – ab!«

Dort stand die Patronin, blickte uns an, lautlos und regungslos wie alle anderen.

Aber sie sah aus, als wäre sie mit uns marschiert und wäre den Anstrengungen nicht gewachsen gewesen.

Wahrhaft leidend sah sie aus.

Und in diesem Augenblicke, wie wir das Gewehr abnahmen, hörte ich auch ein Wort, zwei Worte.

»Damned Germans!«

Verdammte Deutsche! Ein alter Herr hatte es leise hervorgestoßen. Mit finsteren Augen unter buschigen, zusammengezogenen Brauen stierte er uns an.

Daß die Besatzung der »Argos«, auch wenn sie unter englischer Flagge segelte, fast nur aus Deutschen bestand, das wußte man ja nun schon.

»Damned Germans!«

Wir schnallten den Tornister ab, legten das Gewehr daneben hin, marschierten geschlossen, wie wir gekommen, nach dem Hafen zurück und begaben uns an Bord, ohne uns um etwas zu kümmern.


14.
KAPITEL. IM ATLANTIK-INDIA-THEATER.

Der Sonntag war angebrochen. Schon in aller Frühe drängte sich das Publikum auf dem Kai, begaffte unser Schiff.

»Das sind sie, die –«

Na lassen wir!

Wir bedurften der Sonntagsruhe.

Denn ganz so einfach war die Sache nicht etwa gewesen. Wir hätten heute nicht etwa zu Tanze gehen können. Nur Fritz, der Mondgucker, stolzierte an Deck herum, besonders auch deshalb, weil dem Jungen heute erlaubt war, eine Pfeife zu rauchen; er fütterte die Tiere und tat, als ob das ganze Schiff sein wäre. Aber Auskunft gab der nicht etwa.

Die Morgenpost kam, die einzige des Sonntags, und unter den Briefen war – mir nicht so merkwürdig – nur ein einziger, der auf unseren gestrigen Triumph Bezug nahm. Er war von dem Kapstädter Athletikklub.

Wir haben für den Atlantik-India-Atlantik-Marsch, wenn er in weniger als fünf Stunden ausgeführt wird, eine Prämie gestiftet. Diese Prämie ist gestern gewonnen worden. Wir wissen aber nicht recht, wem sie zuzusprechen ist. So erlauben wir uns höflichst, Sie, hochgeehrte Missis, und die in Frage kommende Mannschaft morgen abend acht Uhr in unser Klubhaus einzuladen.

Das war kurz wiedergegeben der Inhalt des längeren Briefes. Also eine Festlichkeit mit Überreichung des Preises. Die Patronin machte ein mißmutiges Gesicht.

»Das paßt mir eigentlich gar nicht.«

»Was paßt Ihnen nicht?«

»Diese Einladung. Ich möchte nicht eingeladen werden –«

»Da haben Sie sehr recht! Bleiben Sie die Freifrau von der See. Eine freie Seekönigin. Einen König kann man nicht einladen, wenigstens kann es nicht jede xbeliebige Person, nicht so ein Klub. Und wenn seine Mitglieder auch lauter Fürstensöhne wären. Nur ein König kann einen König einladen. Der kann auch jede andere Person einladen. Bleiben Sie die unnahbare Majestät.«

Ich hatte mit kurzen Worten ganz genau das zusammengefaßt, was die Patronin gedacht hatte, es aber nicht gleich in Worte kleiden konnte.

»Ja, wie soll ich aber diese so überaus höflich gehaltene Einladung ablehnen, ohne zu beleidigen, ohne zu kränken?«

»Sprechen Sie einfach von einem Gelübde. Solche Gelübde sind heute nicht mehr modern, unsere nüchterne Zeit ist nicht mehr danach – well, führen Sie als freie Seekönigin so etwas wieder ein. Oder Sie brauchen deshalb auch keine Königin zu sein. Denken Sie an Walter Scotts angelsächsischen Than, an diesen alten, prächtigen Haudegen, der das Gelübde abgelegt hatte, keinen Menschen vor seinem Hause zu begrüßen, und er ging auch seinem Könige nicht entgegen, auch der mußte zu ihm hereinkommen, und Richard Löwenherz wußte dieses Gelübde zu würdigen. Sie müssen dann aber solch ein Gelübde auch wirklich ablegen, es erst recht natürlich halten. Und wenn der König von Großbritannien und Kaiser von Indien Sie einlädt – Sie kommen nicht. Er muß zu Ihnen auf Ihr Schiff kommen, wenn er Sie persönlich sprechen will.«

So sprach ich. Und, ach, das war ja nun so etwas für dieses romantische Persönchen!

»Waffenmeister,« jauchzte sie mit ganz verklärten Augen aus, »Sie haben doch immer die besten Einfälle – ja, wir lassen die alten Ritterzeiten wieder aufleben! Wenn dazu auf dem Lande kein Platz mehr vorhanden ist, so werden wir ihn auf dem freien Meere schaffen!« Sie schrieb sofort, ohne mich noch einmal um Rat zu fragen.

Der Brief, den sie mir dann zeigte, hatte aber gar nichts Romantisches an sich. Sie bedauerte einfach, der Einladung nicht Folge leisten zu können, sie nehme prinzipiell keine Einladung an. In der Hoffnung, daß der hochgeehrte Athletik-Klub dies nicht verüble – und so weiter.

»Na, die Prämie bekommen wir nun natürlich nicht!« meinte ich.

»Haben wir deshalb etwa den Marsch gemacht?«

Ich hatte nichts weiter einzuwenden.

Der Sonntag verging. Wir hatten viel, gar viel zu beraten.

Am nächsten Morgen führte ich gleich aus, was wir beraten hatten.

Kapstadt hat mit Votorten 80 000 Einwohner und trotzdem mehrere Theater und andere Vergnügungslokale. Dort unten sitzt Geld; Gehälter und Arbeitslöhne sind sehr hoch, und wie es nun überhaupt in solchen Kolonien ist – ein unverheirateter Europäer kann des Abends gar nicht zu Hause bleiben, er ist förmlich gezwungen, in einen Klub zu gehen oder den Abend sonstwo zuzubringen, oder er würde sich einfach unmöglich machen, seine schwarzen Boys würden ihn des Abends gar nicht im Hause dulden oder er bekam keine Diener mehr, und dann könnte er dort unten auch nicht mehr existieren. Das größte Theater, mit 2000 Sitzplätzen, führte wiederum den Namen Atlantik-India, und dorthin lenkte ich zuerst meine Schritte, darauf gefaßt, noch anderswo anfragen zu müssen. Aber es war nicht nötig. Der Direktor war zu sprechen, und er erklärte sich mit allem einverstanden.

Für 200 Pfund stellte er mir das ganze Theater von morgen früh bis Mitternacht zur Verfügung, inklusive Beleuchtung und allem, allem, was wir dazu brauchten, also auch mit dem nötigen Hilfspersonal. Auch den Billettvertrieb wollte er besorgen; sogar die Ankündigung auf seine Kosten.

Ich war erstaunt. Auf 300 Pfund hatte ich mich nach einer Kalkulation mindestens gefaßt gemacht.

Freilich, als ich bezahlt hatte, da erst teilte der Schlauberger mir mit, daß das Theater morgen überhaupt geschlossen war! Seine Schauspielertruppe trat morgen früh ihren kontraktmäßigen achttägigen Winterurlaub an. Nur das andere Personal mußte noch drei Tage bleiben, um das ganze Theater einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.

Na, das hatte ja nichts zu sagen. Jedenfalls hatte ich es sehr gut getroffen.

Also eine Vorstellung der Argonauten. Nichts weiter sollten Zeitungen und Theaterzettel melden. Natürlich mußte ich dem Direktor etwas Ausführliches darüber berichten, schon wegen der polizeilichen Anmeldung und Erlaubnis. Aber was ich ihm berichtete, das genügte, er übernahm gleich die Garantie, daß wir gar keine Scherereien hätten, das würde er alles selbst erledigen.

Und dann erhöhte Preise der Plätze! Denn nur nicht billig sein! Davon hatte ich die Patronin, die erst anders dachte, zu überzeugen gewußt. Oder sonst alles ganz frei! Aber das war nicht gut angängig, weil wir ja gar nicht wußten, wen wir hätten einladen sollen.

Also um die Hälfte erhöhte Preise. Daß wir dann den Reingewinn nach Abzug unserer Unkosten oder einfach dieser Theatermiete, einer wohltätigen Anstalt überweisen wollten, das brauchte jetzt auch der Direktor noch nicht zu erfahren.

Es war alles erledigt. Es hatte aber doch ziemliche Zeit gedauert, ich kam erst gegen Mittag an Bord zurück.

In der Kajüte räumte Siddy gerade einige leere Champagnerund Portweinflaschen vom Tische, ferner Schüsseln mit Resten von Kaviar, Lachs und dergleichen Delikatessen.

»Einige Herren vom Athletik-Klub waren hier, sie haben in aller Form die Prämie gebracht!« rief mir die Patronin glückstrahlend entgegen.

Sie stand bereits in unserem Klubzimmer in dem großen Glasschranke, der den Grünen wie den Roten gemeinschaftlich gehörte, als erstes Siegeszeichen.

Alle Wetter noch einmal! Ein englischer Infanterist, kriegsmäßig ausgerüstet, fast einen Meter hoch, von Silber. Und nicht etwa getriebenes Silberblech. Alles massiv! Schon das silberne Gewehr, das man abnehmen konnte, imponierte mir mächtig. Alles bis aufs kleinste naturgetreu. Ja, so ein Klub läßt sich nicht lumpen, wenn er nun einmal etwas stiftet!

Und überhaupt, das war sehr, sehr fein von diesen Herren gewesen, daß sie selbst gekommen waren, um den Preis zu bringen. Kein Wort wegen der zurückgewiesenen Einladung.

»Na, da wollen wir ihnen auch Freibilletts – aber nein, nun gerade nicht! Nun sollen sie auch noch den Eintritt bezahlen!«

Und ich war so unverschämt, an diesen Klub auch noch 50 Billetts für die teuersten Plätze zu schicken, die aber erst gegen bares Geld eingelöst werden mußten, ehe man sie benutzen konnte.

Mit anderen Augen betrachtet, war es natürlich keine Unverschämtheit. Diese Herren hätten sich doch nichts schenken lassen, hätten sich höchstens beleidigt gefühlt. Am Abend desselben Tages passierte eine dumme Geschichte. Unser Hahn war in einer Spelunke von Matrosen eines englischen Kriegsschiffes, das erst am Nachmittag in den Hafen gelaufen war, verprügelt worden. Dieser Matrose wurde einmal mit seinem Vatersnamen gerufen, weil er Hahn hieß, und weil’s auch ein richtiger Hahn war.

Er war in der deutschen Marine Zwölfjähriger gewesen, hatte seine zwölf Jahre auch abgedient, hatte es aber nie über den Obermatrosen hinausgebracht, und auch der Winkel war ihm immer wieder gekappt worden. Nichts weiter als dumme Streiche im Kopfe. Dumme, nicht böse. Und dabei hatte gerade der Aussichten für eine Karriere gehabt. Auch dieser Matrose hatte zwei Orden. Einen für seine Bravour im Gefecht bei Bagamojo in Ostafrika, und dann eine Lebensrettungsmedaille. Er hatte im Roten Meere einen Offizier zwischen den Haifischen herausgeholt. Diese beiden Orden hatte man ihm ja nicht nehmen können. Aber er trug sie nie; konnte sie nicht tragen, er hatte sie beide versetzt. Die silberne Medaille lag im Leihamte von Hull, mit dem Verdienstorden hatte er zwei Glas Bier bezahlt. Aber er wußte nicht mehr genau, ob das in Sidney oder Neu-york gewesen war.

Im übrigen ein tüchtiger Matrose! Überhaupt ein tüchtiger Hahn! Besonders im Abtakeln hatte er etwas los. Auf der letzten Reise hatte Kapitän Martin einmal den Großmast bis zum Mars abtakeln lassen, also Mars- und Bramstänge ab und alles was dazu gehört, vier Mann hatte er dazu hinauf geschickt – aber da war bereits unser Hahn oben, und ehe der zweite den Mars erreicht, hatte er schon mit einer wahren Berserkerwut, mit einer fabelhaften Schnelligkeit alles kurz und klein geschlagen. Aber regelrecht! Doch es war wirklich staunenswert wie der die Bolzen und Zapfen herausschmetterte.

Als Kuriosum erwähne ich noch, daß gleichzeitig, als der Matrose Hahn dort oben im Himmel sein Zerstörungswerk verrichtete, unten im Schiffsbauche Meister Hämmerlein auf seiner Orgel gerade Haydns »Schöpfung« spielte.

Also Hahn hatte am Montag abend mit englischen Kriegsschiffmatrosen in einer Spelunke Streit bekommen, er war allein gewesen, war von der Übermacht verprügelt worden. Mitleidige Zivilisten brachten ihn blutüberströmt an Bord. Es war nicht so schlimm, er konnte dann am nächsten Abend schon wieder mitmimen.

Immerhin – meine Jungens wollten doch sofort los! Aber mein Veto hielt sie fest, ich ließ sie nicht von Bord, mochten sie brummen, wie sie wollten.

Am nächsten Morgen, also am Dienstag, schickten wir in aller Frühe dem englischen Kriegsschiffe eine Herausforderung zu. Auf Tauziehen! Das hört sich sehr harmlos an. Ist es ja auch. Ganz unblutig. Im Grunde genommen aber ist es doch nicht so harmlos, als wenn sich Studenten gegenseitig das Bäckchen etwas aufschlitzen.

Es kommen da uralte Seemannsbräuche in Betracht, vielleicht schon von den Vikingern ausgeübt, ganz sicher aber von den Vitalienbrüdern, dieser räuberischen Seemannszunft des 14. Jahrhunderts. Von denen haben wir noch schriftliche Überlieferungen.

Ich kann nur einiges Wenige anführen, wie dieser »Komment« gehandhabt wird. Ungemein umständlich, es geht aber trotzdem alles sehr schnell.

Auf ein möglichst großes Segel wurde die Herausforderung ganz klein geschrieben. Dreißig Mann gegen dreißig!

Dabei ist auch Hohn erlaubt. Unser Hohn bestand darin, daß wir 60 Mann stellen wollten, und der Gegner sollte sich davon die 30 schwächsten selbst aussuchen.

Dieses Segel wurde zusammengerollt, von sechs Mann hingetragen. Soviel Mann waren zum Tragen der Last auch wirklich nötig.

Angenommen! Die Eingländer waren gerade beim Deckwaschen, die ausgesuchten 30 Mann bekamen sofort frei. Wir lagen nicht weit auseinander, trafen in der Mitte an Land zusammen. Wir 60 Mann. Zuerst aber mußte bestimmt werden, wer die Waffe zu liefern hatte, das Tau, worauf doch sehr viel ankommt.

Jede Partei brachte eine Pfütze, einen Holzeimer mit, und ein Pint, dreiviertel Liter, irgend eines Getränkes. Es kann Bier oder Rum oder Zuckerwasser sein. Die Hauptsache ist, daß dieses Getränk nun noch mit einem Pint Seewasser vermischt wird. Welcher Führer von jeder Partei diese deliziöse Mischung am schnellsten hintergießt, dessen Partei hat dann das Tau zu liefern, ist also im Vorteil.

Die Engländer wurden von einem rotnäsigen Bootsmann geführt. Das Kommando erscholl, und der soff pardon, trank die anderthalb Liter mit einem einzigen Ruck aus, sich dann schnell den Eimer über den Kopf stülpend. Die Nagelprobe. Unser erster Bootsmann setzte seinen Eimer nur an die Lippen und goß ihn dann aus, was erlaubt ist.

»Gaukler, Gaukler!« erklang es drüben höhnend. »Nicht einmal Seegaukler, nur Landgaukler! Haben sich als Fußlatscher ausgebildet. Können kein Salzwasser vertragen!« Solcher Hohn ist also erlaubt. Vorher. Nicht mehr hinterher. Wir blieben ihn schuldig.

Das Tau wurde gebracht, ziemlich stark, sechs Zentimeter im Durchmesser. Desto besser für uns, denn wir waren ganz andere Taue gewöhnt, viel, viel dünner. Aber eben darum sehr günstig für uns. Und wie wir uns nun sonst noch für einen Taukampf präpariert hatten! Mit Seife eingeschmiert, mit – doch davon will ich jetzt nicht noch einmal sprechen.

Das Tau wurde in der Mitte durchschnitten, wieder zusammengesplißt, die Stelle mit grüner Farbe gestrichen.

Jetzt wählte der englische Bootsmann sorgfältig die 30 Mann unter uns 60 Angetretenen aus, hielt auch mit den anderen manchmal Besprechungen ab.

Ganz englisch war es ja nun, aber menschlich gerechtfertigt, daß der von uns die unansehnlichsten Figuren aussuchte.

Na ja – wenn schon, denn schon. Er konnte doch nicht die stärksten Kerls von uns wählen. Dann wäre er doch ein Narr gewesen.

Ich hätte es ja freilich nicht machen können. Ich hätte eben diese Bedingung überhaupt gar nicht angenommen. Da aber die Engländer das nun einmal akzeptiert hatten, mußte ihr Führer doch auch jede günstige Chance benützen.

Geradezu possierlich freilich war es, daß der Bootsmann als ersten »Mann« von uns den Schiffsjungen erkor, Fritz, den Mondgucker!

Und als zweiten erkürte er Napoleom unseren ersten Bootsmann.

Da hatte er aber nun gerade eine falsche Wahl getroffen, war gerade an den Unrechten gekommen!

Ich habe über diesen unsern ersten Bootsmann noch gar nicht gesprochen. Das kann ich auch immer nur, wenn einmal eine besondere Gelegenheit vorliegt.

Napoleon wurde er genannt, weil er eben einen Napoleonskopf hatte. Napoleon III. Es war ein Finne, eine kleine, magere, unansehnliche Gestalt mit ganz schräg herabfallenden Schultern und furchtbar krummen Beinen. Aber wieder eine ganz andere Krümmung als die bei Mister Tabak. Diese Krümmung hier des Bootsmannes war doch etwas mehr eleganter. Wir hatten ja noch ein drittes Krummbein an Bord: unseren Doktor Isidor. Bei dem aber war es wiederum etwas ganz, ganz anderes. Der hatte dabei so einen wehmütigen Zug »um die Beine«.

Den Atlantik-India-Atlantik-Marsch hatte Napoleon nicht mitgemacht. Das konnte man von solchen Beinen nicht verlangen. Dagegen trat er jetzt als Ersatzmann für unseren Hahn ein, der in seiner Koje lag, eine Eiskompresse auf der Nase. Der Bootsmann konnte mitziehen, auch wenn er zuerst den Schiedsrichter gespielt hatte.

Also er wurde von den Gegnern als zweiter Mann gewählt. Da aber hatte man also gerade eine falsche Wahl getroffen. Denn das kleine, unansehnliche Männchen hatte eine wahre Bärenkraft, was man ihm aber eben nicht ansehen konnte; nur mußte er seine Hände in den Hosentaschen verstecken, wenn er das nicht verraten wollte. Unverschämte Pfoten! Eben Bärentatzen. Und dazu entsprechende Handgelenke.

Und so ging die Wahl weiter. August der Starke wurde natürlich nicht erkürt, dagegen ich, mir sah man auch nicht viel an.

Die Wahl war beendet, wir traten an. Die grüne Marke am Tau über der Marke im Sande. Es war grober Kies, der den Boden bedeckte, sehr hoch aufgeschüttet.

Die dort drüben hatten ja natürlich ihre Leute ausgesucht! Es waren bannige Pflaumenschmeißer dazwischen. Den ersten, den Vorzieher, machte ein Riese, an dessen Herkulesarmen die Stränge wie die Saucischen hervortraten.

Nun aber machte ich mir auch den Spaß diesem Riesen als unseren Vorzieher unseren Fritz, den Mondgucker, gegenüberzustellen.

Ach, wie das aussah, wie diese beiden sich in fünf Schritt Entfernung kampfbereit gegenüberstanden, der herkulische Riese und der dagegen zwerghafte Schiffsjunge!

Ich weiß nicht – daß diese Engländer sich nur gar nicht genierten! Man wird wohl schon gemerkt haben, daß ich im allgemeinen sehr gut auf die Engländer zu sprechen bin; aber in gewissen Hinsichten sind sie wie – wie – wie von Gott verlassen.

»Turn –!« leitete der englische Bootsmann das Kommando ein.

»To!« gab ich das letzte Wort.

Ein Ruck und wir gingen mit den 30 Engländern ab!

Denn wie todessicher wir unserer Sache von vornherein gewesen waren, davon habe ich doch vorher gar nichts zu sagen brauchen.

Aber das war mir doch etwas gar zu schnell gekommen.

Die hätten dann sagen können, sie wären überrumpelt worden.

Ein leises Kommando, und sofort gehorchten die Jungen, gaben nach.

Anfang

Wir ließen uns wieder bis zur Marke zurückziehen.

Aber vorsichtig, vorsichtig!

»Zu – gleich!!«

Ein Ruck, und nun aber ging es mit Hurra davon, bis das Kai uns Halt gebot!

Es war nichts gegen uns ausgesuchte Schwächlinge zu machen! Der Riese zog mit seinem vorgestemmten Seestiefel eine wahre Ackerfurche in den Kiesboden hinein – wohl, wir zogen diese Ackerfurche, soweit wir konnten!

Alle war’s.

Die 30 englischen Matrosen schlichen mit ihrem Bootsmann wie die begossenen Pudel davon.

Wir splißten das Tau auf, nahmen unsere Hälfte als Trophäe mit, die im Mannschaftslogis angebracht wird, aber fernerhin dem Schiffe gehört, auch wenn die Besatzung wechselt, und keine Inschrift darf melden, wo und wann und durch wen und von wem sie gewonnen worden ist.

Alle war’s!

Ja, aber nun der Effekt?

Das ist eben wiederum so etwas, was ich gar nicht schildern kann, weil der Effekt nämlich ganz ausblieb. Eigentlich hätten uns die Besiegten in die nächste Kneipe führen und uns traktieren müssen, die Sieger müssen sich dann tüchtig revanchieren.

Aber ich habe schon gesagt, daß die englischen Matrosen wie die begossenen Pudel davongeschlichen waren. Einfach Kehrt gemacht und an Bord ihres Schiffes zurückmarschiert, aber nicht in Schritt und Tritt, ihr rotnäsiger Bootsmann voran.

Aber wir Tauzieher waren doch nicht die einzigen auf dem Plane. Hunderte und Aberhunderte standen da, von allen Seiten waren sie hierbeigeströmt, sobald bekannt geworden war, daß hier zwei Schiffsmannschaften Tauziehen wollten, Seeleute und Hafenarbeiter, und aus den Straßen waren die Passanten in hellen Scharen gelaufen gekommen.

Ach, und wie geht das sonst zu, wenn zwei solche Schiffsmannschaften an der Hafenmauer Tauziehen! – Dieses Johlen und Brüllen! Jeder nimmt natürlich sofort eine Partei, noch natürlicher wird sofort gewettet, sonst wäre man doch nicht in einer englischen Kolonie.

Da müssen aber die beiden Parteien erst einmal angezogen haben, damit man sich ein Bild machen kann. Und dann, wenn der Kampf hin und her wogt, einmal dorthin, einmal dahin, dann wird gejohlt und gebrüllt.

Wir hatten angezogen – und wir waren davongelaufen.

Und nun stand das vielhundertköpfige Publikum da, stand und starrte, lautlos und regungslos. Und so war es noch, als wir schon wieder an Bord gegangen waren. Dann verlief es sich, langsam und schweigsam.

Mehr vermag ich nicht zu schildern.

Es war eben der zweite Blitz gewesen, den die Argonauten vom heiteren Himmel herabgelockt hatten.

In Wirklichkeit läßt sich aber solch ein Blitz gar nicht herablocken, er muß von allein kommen.

Jedenfalls konnten wir mit dem Erfolge zufrieden sein. Und die Patronin fing wieder einmal zu weinen an.

Man konnte leicht auf den Verdacht kommen, daß sie etwas hysterisch veranlagt sei, was aber durchaus nicht der Fall war.

Sie hatte nur – »viel z’viel G’fiehl!« sagt der Bayer.


Der Abend war gekommen, das Atlantik-India-Theater war bis auf den letzten der 2000 Plätze gefüllt. Der billigste kostete 2 Schilling, der teuerste 20, und so hatten wir rund tausend Pfund Sterling in der Kasse, 20 000 Mark.

Das muß ich erwähnen, sonst vergesse ich die Hauptsache jeder Vorstellung, die irgendwo in der Welt stattfindet, wenn dabei Eintrittsgeld erhoben wird. Wenn Menschen so tun, als wäre die Einnahme dabei ganz Nebensache, so sind’s gewöhnlich gerade die verhungertsten Köter.

Das Theater hätte wohl dreimal soviel Plätze haben können, es wäre sicher gefüllt worden, die Preise hätten auch noch höher sein können. Tausende hatten kein Billett bekommen können. Dabei war für ein gewisses Publikum gerade eine recht schlechte Zeit. Der letzte Arbeitstag war doch ausgefallen, das hat für solche Leute viel zu bedeuten. Die vielen Leihhäuser waren stark frequentiert worden, nur unseretwegen, und nun hatten sie nicht einmal einen Platz bekommen. Das war bedauerlich, das konnten wir aber nicht ändern.

»Eine Vorstellung der Argonauten.«

Mehr hatten Zeitungen und Anschlagzettel nicht gemeldet.

Preise der Plätze, Anfang um acht, Ende gegen elf.

Drei Stunden wollten wir dem Publikum etwas vormimen. Was eigentlich, davon hatten die noch keine Ahnung.

Nun, wir wollten ihnen etwas vorblasen und vorsingen.

Jawohl, blasen und singen!

Wir hätten uns doch gehütet, hier im Theater ein Instrumentalkonzert zu geben, dann im dreistimmigen Männerchor ein Lied zu gröhlen!

Denn weiter als Gröhlerei wäre es doch nichts geworden. Und ebenso jämmerlich hätte unsere Tuterei geklungen.

Ja, draußen auf dem Meere, wenn wir auf den Rahen standen und brüllten, da wäre es etwas gewesen! Da hätten sie etwas zu hören bekommen, was sie noch nie gehört hatten, keiner von diesen allen!

Aber doch nicht hier im geschlossenen Theater!

Dort unten saß kunstverständiges Publikum genug, mancher Journalist mit gar feinen musikalischen Ohren. Die hätten uns ja morgen in den Zeitungen nicht schlecht abgetoffelt!

Dann waren die ersten beiden Blitze aus heiterem Himmel vergeblich gewesen, dann hätten wir alles wieder verspielt, was wir schon gewonnen.

Und trotzdem wollten wir diesem Publikum hier im Theater etwas vorblasen und vorsingen, und wir waren unseres Erfolges so totsicher wie heute früh, da die »Schwächlinge« der Argonauten den englischen Herkulessen zum Tauziehen gegenübergetreten waren.

Ja aber, was wollten wir denn da nun blasen und singen?

Nun, vor uns unter der Souffleurmuschel kauerte bereits Meister Hämmerlein, den Taktstock in der Hand.

Dieses kleine, bucklige, elende Männlein hatte seinen Beruf verfehlt.

Doch nein – gerade das Gegenteil – das bewies er ja eben jetzt. Daß er sonst nichts von sich reden machte, das war seine Sache.

Jedenfalls aber wären wir ohne dieses Männlein hier im Theater nichts gewesen. Von ihm stammte die geniale Idee, er hatte alles arrangiert und uns dressiert.

Ein Klingelzeichen und der Vorhang ging hoch.

Die Bühne war sehr breit und tief, für ein hundertköpfiges Ballett mit zweihundert Schlenkerbeinen berechnet.

Aber wir wollten kein Ballett tanzen, wenigstens jetzt noch nicht.

Vorläufig standen wir alle angetreten, 22 Mann im Hintergrunde erhöht auf ganz simplen Stellagen, vorn 40 Mann in vierfach durchsichtigen Reihen. Alle gleichmäßig gekleidet, ganz, ganz einfach, so wie bei dem Wettmarsch, in grauen Arbeitsanzügen, nur der Strohhut fehlte, dafür die Hemdsärmel möglichst hochgekrempelt, vorn das kragenlose Hemd weit offen, und Meister Hämmerlein hatte uns noch einmal inspiziert, daß sich nicht etwa einer gekämmt hatte. Nur so wild und struppig als möglich.

Die 22 dort oben hatten Posaunen in den Händen, 22 Stück, und unten die 40 in jeder Hand eine Keule. Und als der Vorhang hochging, da fingen wir 40 Mann unten, zu denen auch ich gehörte, zu brüllen an:

Festgeschmiedet sind wir – hei!!!

Nichts weiter. Nur ein einziges Mal diese vier Worte.

Dann hoben die 22 Mann dort oben ihre Posaunen und schmetterten mächtig los, und gleichzeitig hoben wir 40 unsere Keulen und machten eine Übung, nur wenige Sekunden.

Dann senkten die dort oben wieder ihre Posaunen, wir ließen unsere Keulen herabhängen und brüllten dreistimmig die zweite Strophe:

Festgeschmiedet sind wir – hei!!!

Und dann wieder unter Posaunengeschmetter eine kurze Keulenübung, dann wieder Bewegungslosigkeit, während wir den Schlußvers des Liedes brüllten:

Tor und Odin!

Es war ein, germanischer Barrit, gedichtet und komponiert von Meister Hämmerlein.

Ja, gedichtet! Obgleich es immer ein und derselbe Vers war.

Sollte es etwa anders sein?

Wenn die alten Teutonen in die Schlacht gingen – in die Schlacht, die für sie sehr zweifelhaft aussah – mit Ketten aneinandergeschweißt, um vereint entweder zu siegen oder zu sterben, und auch die Leichen mußten noch mit vorwärts – dann haben sie sicher nicht das Lied vom guten Monde oder von der Loreley gesungen.

Festgeschmiedet sind wir – hei!!! Festgenietet sind wir – hei!!! Tor und Odin!

So posaunten und brüllten die 62 Mann und schwangen ihre Keulen dazu.

Und der Erfolg dieser Bläserei und Singerei und Schwingerei?

Die dort unten, 2000 Menschen, sperrten einfach Maul und Nase auf.

Mehr kann ich nicht sagen, finde auch keinen anderen Ausdruck, um deren Stimmung anzudeuten.

So ging es etwa zehn Minuten lang, nur die Keulenübungen wurden immer komplizierter, Posaunengeschmetter und Barrit blieb der gleiche, dann fiel der Vorhang.

Und unten saßen lautlos und regungslos die 2000 Menschen.

Dann freilich legten sie los.

Ach, dieses Gebrüll und Gejohle und Gepfeife und donnernde Getrampel!

Wir wollten keine Zugabe machen, es war ein für allemal beschlossen, aber wir mußten es, sonst hätten die sich noch in den Keller hineingetrampelt.

Also noch einmal diesen Barrit mit der nötigen Begleitung – dann aber ließen wir uns nicht wieder hervorlocken, wie die auch toben mochten.

So haben wir Argonauten damals in Kapstadt dem Publikum etwas vorgeblasen und vorgesungen, und die Zeitungen mochten ja recht haben, wenn sie am nächsten Morgen behaupteten, so etwas Gewaltiges und Überwältigendes habe man noch nicht gehört – und zugleich gesehen – so lange die Welt existiere:

Und ich muß offen bekennen, daß besonders der letzte dreistimmige Schlußsatz »Tor und Odin« wirklich von einfach überwältigender, überirdischer Wirkung war. In diese drei Worte hatte Hämmerlein eine Harmonie und eine Kraft und eine Wucht gelegt – doch wie soll man denn so etwas beschreiben. –

Dann kam mein Theaterstück daran. »Kling-Klang-Klung, der Schrecken des gelben Meeres oder der blutige Popanz in der Kleiderkiste«.

Aber dieser Titel wurde nicht etwa auf dem Programm angegeben. Gar nichts. Es gab ja überhaupt gar kein Programm.

Den künstlerischen Wert dieses von mir verfaßten Dramas, gänzlich neu bearbeitet, will ich nur mit folgenden Worten charakterisieren: nur immer so unmöglich als möglich! Nur immer der horrendeste Blödsinn!

Aber einen großen Vorzug besaß mein Geisteskind vor anderen Dramen: jeder Schauspieler konnte in irgend einer Sprache reden, ganz wie ihm beliebte. Darauf kams gar nicht an. Das Publikum verstand ihn schon.

Es war eben mehr eine Pantomime, wenn dabei auch gesprochen wurde. Und wie gesprochen! Aber der Hauptsache nach handelte es sich doch nur um den szenischen Effekt.

Ein deutscher Geschäftsreisender, in Dynamit, sauren Gurken und Nähmaschinen machend, kommt nach China, um hier seine Artikel anzupreisen, verirrt sich an den Hof des Kaisers, und nun geht die Geschichte los. Er wird für den furchtbaren Seeräuber Kling-Klang-Klung gehalten, der selbst sonst gar keine Rolle spielte, weshalb auch ich ihn mimte.

Mehr brauchte der Leser eigentlich gar nicht zu wissen. Höchstens noch, daß die Kaiserin-Mutter eine höchst exzentrische Dame war, besonders für europäisches Ballett schwärmte, selbst Ballettunterricht nahm, ab und zu einmal durchbrannte und in den deutschen Geschäftsreisenden alias Kling-Klang-Klung bis über die Ohren verliebt war.

Den deutschen Geschäftsreisenden spielte Siddy. Na ja, so ein Kommis voyageur muß doch alles können! Als Schlangenmensch mit den Füßen Violine spielen und dabei eine brennende Lampe auf der Nase balancieren! Zumal wenn er in Dynamit, sauren Gurken und Nähmaschinen reist!

Und die Kaiserin-Mutter wurde von August dem Starken gegeben!

Ach, diese Liebesszene zwischen den beiden! Erst singt Kling-Klang-Klung alias Balduin Lehmann eine Arie – und Siddy sang sie gar fein! – schwärmt von seiner Geliebten, von dem süßen, kleinen Veilchen – und – jetzt kommt sie hereinspaziert, die Kaiserin-Mutter – August der Starke, dieser dreizentrige Fettkoloß, als Balletteuse im kurzen Flitterröckchen – setzt sich und nimmt den kleinen, mageren Hering auf die Knie – und jetzt fangen die beiden an ein Duett zu singen.

Im Zuschauerraum kamen tatsächlich Krampfanfälle vor. Einige mußten hinausgebracht werden. Sie konnten nicht mehr vor Lachen. Es mochte ja auch manche prüde Engländerin dabei sein – aber gerade von denen entfernte sich keine. Lieber wälzten sie sich.

Und wie nun erst der Ballettunterricht anfing! Und wie zierlich dieser Fettkoloß tanzte! Und der Ballettmeister war Napoleon! Der mit seinen Säbelbeinen!

»Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr!« So und ähnlich erklang es fortwährend dort unten.

Auch die Szene, wie die Kaiserin-Mutter mit ihrem Geliebten flieht, war sehr hübsch.

Wie sie den mageren Hering auf den Tisch legt, wie sie den Oberkörper des Kautschuckmännleins vornüberklappt, dann die Arme und Beine einklappt, den Geliebten in Zeitungspapier einwickelt, ihn in eine gar nicht so große Handtasche steckt und so mit ihm abmarschiert.

Ich hatte nämlich aus der Kleiderkiste eine Handtasche gemacht, Siddy wurde immer einmal hineingesteckt, kam dadurch in die unmöglichsten Situationen.

Aber überhaupt, wie die Kaiserin-Mutter den Geliebten immer einmal so einpackte und wieder auspackte.

Und was nun sonst noch alles für Szenen vorkamen!

Festlichkeiten am Hofe des Kaisers von China!

Unsere ganze Menagerie trat mit auf!

Die fünf Affen produzierten sich als Virtuosen auf dem Glockenspiel, Lulu drehte dazu den Leierkasten, auf seinem Rücken spazierte Huckebein herum und schwadronierte dazu.

Aber auch die Raubtiere hatten wir mit.

Davon hatte ich dem Direktor allerdings nichts gesagt, das wäre uns polizeilich nicht erlaubt worden. Aber nun waren sie einmal da, und wer hätte sich denn noch einmischen sollen, da war doch niemand mehr fähig dazu. Und Peitschenmüller war seiner Sache doch ganz sicher.

Tiere spielten überhaupt eine große Rolle. Kling-Klang-Klung wollte seiner Geliebten, die ihm fürchterlich zu werden begann, immer entwischen, aber die hatte einen gezähmten Königstiger, der apportierte ihn immer wieder!

Undsoweiter, undsoweiter.

Zwei Stunden währte das Stück, dann fiel der Vorhang nach dem Schlußakt, und es war gut. Zu großem Beifall waren die dort unten gar nicht mehr fähig.

Nun möchte ich an dieser Stelle noch etwas sagen.

Ich will eine gute Idee verraten, wie ein tüchtiger Geschäftsmann, der etwas wagt – mit dem Theater braucht er sonst gar nichts zu tun zu haben – schweres Geld verdienen kann, vielleicht goldene Berge.

Und ich bin da nicht so, mir so etwas patentieren zu lassen.

Wir haben schon Bauerntheater genug. Nicht nur die Oberammergauer.

Aber wir haben noch kein Matrosentheater.

In England werden wohl viel Seemannsstücke gegeben, aber von professionellen Schauspielern, nicht von Seeleuten. Nun mustert einmal die Schiffe durch und in der Kriegsmarine die Kasernen, was Ihr da für gottbegnadete Schauspieler unter diesen Matrosen finden werdet. Bei Gelegenheit kann man das ja auch merken. So bei Kaisers Geburtstag, wenn einmal gemimt wird.

Aber die Sache ist nur die, daß dann irgend ein Lustspielchen aufgeführt wird.

Nein, Szenen aus dem Seemannsleben müssen es sein, an Bord und im Hafen, in fremden Kolonien!

Die Rollen müssen den Kerls auf den Leib geschrieben werden!

So etwas gibt’s aber noch gar nicht.

Da wird man sehen, was in diesen Matrosen, besonders in den deutschen, für ein Mutterwitz steckt! Und wie die ihn auf der Bühne herausbringen können!

Da läßt sich als Theaterdirektor, als Impresario und Manager noch etwas verdienen!

Mit solch einer echten Matrosen-Schauspielerbande im Lande herumreisen! –

Und was kam jetzt daran?

Denn es war noch nicht ganz halb elf.

Ich wußte es selbst noch nicht.

Ich wußte nur, daß Hämmerlein den Stutzflügel von Bord ins Theater hatte bringen lassen, daß Albert singen sollte.

Aber was er singen sollte, das wußte ich nicht. Ich hatte ihn überhaupt noch gar nicht singen hören, noch kein anderer. Manchmal hatten wir in der ausgepolsterten Kammer im unteren Deck ein paar Tönchen erlauscht, weiter nichts, und die hatten gar nicht schön geklungen »De– hüüüh – de – hüüüh!«

Der Vorhang ging hoch.

Ich saß in der reservierten Loge bei der Patronin.

Seitwärts auf der Bühne stand der Stutzflügel, daran saß Hämmerlein im schwarzen Anzug und intonierte leise.

Vorn an der Rampe stand Albert.

Ach, sah der Kerl unglücklich aus!

In seinem blauen Landanzug, der aber nicht mehr ganz neu war, ein weißes Halstuch umgewürgt, das linke Hosenbein war ganz heraufgerutscht, so daß man den Seestiefel zur Hälfte sehen konnte – so stand er da, mit seinen großen Pfoten an der Hosennaht herumfingernd.

Ach, hatte der das Lampenfieber!

Und jetzt, wie das Klavier etwas lauter wurde, sperrte er den Mund auf, griff sich noch einmal recht kräftig an die Hosennähte, und begann zu singen.

Und was sang er?

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Daß er es jetzt hochdeutsch hervorbringen konnte, das war aber auch alles.

Aber nun wie!

Wie der die Stimme in seiner fürchterlichen Verlegenheit quetschte!

Ach, wie ich mich genierte!

Und so ging es auch der Hälfte des Publikums dort unten. Die genierte und schämte sich, weil sie mitfühlte. Die andere Hälfte war noch nicht ganz soweit auf dieser menschlichen Stufe – die fing also bereits zu lachen an.

Ja, war denn Hämmerlein nur plötzlich verrückt geworden, daß er uns zuletzt so alles noch verpfuschte?!

»Das begreife ich nicht, das begreife ich nicht!« flüsterte auch die Patronin mit ganz entsetzten Augen.

Und der quetschte seine Töne weiter aus der Kehle heraus.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Immer dasselbe. Wenn auch immer mit anderer Melodie.

Ja aber was war denn das?!

Das plötzlich geschah etwas!

Da vollzog sich dort unten in Kapstadt ein übersinnliches Wunder! –

Ganz gewiß gibt es Zauberei. Übersinnliche Wunder.

Wenn zum Beispiel in einer spiritistischen Gesellschaft ein Geist im ätherischen Leichenhemd erscheint, die eine Hand in eine Schüssel mit Mehl, die andere Hand in eine Schüssel mit Ruß taucht, und er schmiert damit die Gesichter der Anwesenden voll – und dann nimmt der Geist aus der vierten Dimension etwa eine Ofengabel und haut sie den Gläubigen um die Ohren und dazu spielt in dem finsteren Zimmer eine Klimperdose das schöne Lied: wir sitzen so fröhlich beisammen, und haben einander so lieie–ie–ieb – – na, ist das etwa keine Zauberei? Das sind ganz einfach übersinnliche, ganz und gar unerklärliche Wunder aus der vierten Dimension.

Oder nicht? Na da probier’s mal. Mach’s mal nach. Nimm als gewöhnlicher, irdischer Mensch eine Ofengabel und hau sie einer um den Tisch mit gefalteten Händen sitzenden Gesellschaft um die Ohren. Polstere aber vorher Deinen Rücken gut aus, nimm auch in jede Backentasche einen Bausch Watte. Denn paß auf, wie schnell die ihre Hände entfalten und Dich backpfeifen. Dem Geiste aber tun sie nichts, eben weil’s ein Geist aus der vierten Dimension ist mit einem ätherischen Leichenhemde Na also! Also es gibt ganz echte Zauberei und Wunder.

Dort unten aber im Atlantik-India-Theater zu Kapstadt vollzog sich damals noch eine ganz andere Zauberei! Inwiefern – ja das vermag ich nicht zu sagen. Denn ich wurde selbst angezaubert, daß mir die Sinne schwanden.

Nur eine kleine Andeutung kann ich machen.

Die Drahtsaiten des Klaviers schienen sich zu verlängern, bis sie den Sänger erreichten, mit diesem eine unsichtbare Verbindung herstellend.

Das war der Hauptzauber dabei.

Wer begleitete eigentlich?

Hämmerlein auf dem Klavier den Sänger oder der Sänger den Klavierspieler?

Nein, die beiden waren eine Seele geworden.

Das Klavier konnte spielen, was es wollte – Albert sang immer dieselben Worte dazu. Und er konnte singen, was für eine Melodie er wollte – das Klavier begleitete ihn dazu.

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Nichts weiter und nichts weiter.

Aber nun wie, wie!

Wann sich der Gesang plötzlich so verändert hatte – plötzlich oder nach und nach – das weiß ich nicht zu sagen.

Mächtig und immer mächtiger erklang die Tenorstimme, herrlich und immer herrlicher!

»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«

Der Vorhang fiel.

Hinter ihm brach Albert wie ein Toter zusammen.

Er brauchte aber nur ein Glas Soda mit Kognak, dann hatte er sich wieder erholt. Und vor dem Vorhang saßen 2000 Menschen wie gelähmt da.

Sie waren einfach verzaubert.

Die erst schadenfroh gelacht hatten, die hatten dieses Lachen noch in den Zügen, waren nicht fähig gewesen, diesen Ausdruck zu verwischen.

Dann freilich brach der Tumult los. Ein Tumult, wie ihn wohl selten ein Theater, ein Konzertsaal gehört und gesehen hat.

Aber es gab keine Zugabe mehr, wenn auch die Bühne gestürmt wurde.


Und zu derselben Stunde feierten die Argonauten durchs einen Vertreter noch einen anderen ungeheuren Triumph.

Erin Capetowner Klub hatte keines seiner Mitglieder in das Theater schicken können. Der Schachklub. Wahrscheinlich wäre auch so wie so gar niemand von ihnen gekommen. Man weißt doch, wie solche »Geistesheroen« über alles denken, was nicht direkt mit dem Gehirn zusammenhängt, obgleich Ochsen ja auch mit dem Gehirnkasten ziehen. Man weiß doch, wie so ein Kunstenthasiast täglich in der Bildergalerie und in der Skulpturensammlung schwärmen kann, aber die herrlichsten menschlichen Körper im Zirkus in Fleisch und Blut zu bewundern, das fällt ihm gar nicht ein. Das ist für ihn verächtlicher Schnickschnack. Seine Figuren müssen aus Stein sein, mindestens tausend Jahre unter der Erde gelegen haben, oder ein berühmter Maler muß sie auf die Leinwand geklitscht haben, aber auch noch nicht im vorigen oder gar diesen Jahrhundert.

Also diese Schachspieler kamen nicht zu uns ins Theater.

Außerdem weilte nun jetzt in Kapstadt der gegenwärtige Weltschachmeister, ein Amerikaner.

Heute abend war er in den Schachklub eingeladen, zeigte den Herren einige Probleme und ihre Lösungen, machte ein Blindlingsspielchen mit ihnen.

Doktor Isidor Cohn hatte schon vorgestern Bekanntschaft mit einigen von diesen Mitgliedern gemacht, war auch heute abend dort.

Daß unser Isidor ein sehr starker Spieler war, das wußten wir, er hatte es uns selbst erzählt. Wie er sich bei jedem Schachturnier beteiligen könne, keinen Gegner fürchte.

Aber er konnte niemals mitmachen.

»Weshalb nicht?

Weil er immer besoffen war.

Daran war aber mehr eine Nervosität schuld, und zwar eine ganz eingebildete Nervosität.

Er glaubte, nicht spielen zu können, wenn er nicht sein gewisses Quantum Alkohol im Leibe hatte. Und war dies der Fall, dann konnte er natürlich erst recht nicht spielen.

So war es bisher gewesen. Das hatte sich durch die Seereisen sehr geändert, wenn er auch noch bei jeder Gelegenheit einen pfiff. Die nervöse Einbildung war es, die ihm das Salzwasser abgespült hatte.

So war er heute abend in den Schachklub gegangen, außerdem begleitet von Kapitän Martin, der immer bereit war, eine Hand aus der Hosentasche zu ziehen und dem Doktor das Schnapsglas wegzunehmen.

Und während wir im Theater die wahnsinnige Burleske aufführten, besiegte der Schiffsarzt der Argonauten in zwei Spielen den Weltschachmeister!


15.
KAPITEL. AM ANDEREN MORGEN.

»Also,« sagte Mister Ritchie, der Direktor des Atlantik-India-Theaters, der uns einen frühen Morgenbesuch abgestattet hatte, »ich fasse meinen Vorschlag noch einmal kurz zusammen.

Ich trage sämtliche Unkosten dieses Schiffes, sämtliche!

Wir fahren von Hafen zu Hafen, machen ab und zu mit der Mannschaft auch einen Abstecher nach einer Binnenstadt.

Die Bestimmung dieser Häfen und Städte, in denen wir auftreten, muß, natürlich ganz mir überlassen bleiben, ebenso die Zeit, die wir darin verweilen.

Für jede Vorstellung zahle ich Ihnen, Frau Patronin, tausend Pfund Sterling, und garantiere monatlich drei Vorstellungen, also dreitausend Pfund Sterling.

Außerdem gestatte ich Ihnen noch, ja, ich möchte Sie vielleicht noch dazu verpflichten, daß Sie von Hafen zu Hafen Fracht mitnehmen. Der Verdienst dabei gehört vollständig Ihnen, nur muß mir natürlich diese Frachtmitnahme von Hafen zu Hafen zu erlauben oder zu verbieten vorbehalten bleiben. Weshalb natürlich? Weil die Hauptsache dabei doch mein eigenes Unternehmen ist. Das Schiff kann nicht zu lange auf eine Fracht warten; sonst aber werde ich Ihnen darin das größte Entgegenkommen zeigen. Das läßt sich ja auch noch genau formulieren. Bitte, nun fassen Sie Ihren Entschluß kurz. Die Sache kann sofort beginnen, heute schon! Ich kann mich sofort freimachen. Und ein besseres Angebot wird Ihnen von keiner Seite offeriert, dessen seien Sie versichert.«

So sprach Mister Ritchie.

Und dabei schielte er ängstlich nach dem Stapel Briefe, den die Morgenpost gebracht hatte, und von denen die Patronin schon einige zu öffnen begann.

Daß er ängstlich war, in Sorge, in solch einem Briefe könne uns schon ein noch besseres Angebot gemacht werden, das erkannte wenigstens ich, nämlich in seinen Augen.

Sonst war es ein eisernes, unbewegliches Gesicht, das wir vor uns hatten, durch seine Bartlosigkeit jünger erscheinend, als der Mann wohl in Wirklichkeit war. Ich hielt ihn mehr für einen Amerikaner, als einen Engländer, er sprach ja auch etwas durch die Nase. Dann war er der Typ eines echten, smarten Yankees, der nichts weiter kennt als »Dollars machen«, der bereit ist, deshalb über Leichen zu schreiten, wenn er dabei nicht mit Polizei und Schwurgericht in Konflikt kommt. Dem man aber gerade deshalb in Geldsachen absolut vertrauen darf, bis auf einen gewissen Punkt, der sich nicht so leichst definieren läßt, bis auf den Punkt, wo solch ein Yankee auch seinen besten Freund oder seinen eigenen Bruder oder Vater bei der Kehle packt und ihn langsam abwürgt, wenn dabei Dollars zu machen sind.

Außer der Patronin und mir befand sich auch Kapitän Martin in der Kajüte. Und es war sehr, sehr gut, daß die Patronin auch den als Beirat gerufen hatte. Eigentlich wäre diese Angelegenheit, wenn die Patronin nun einmal einen Beirat haben wollte, nur meine, des Kargo-Kapitäns Sache gewesen; denn mit der Fracht, mit dem Geldverdienen des Schiffes hatte es doch zu tun. Aber ich fühlte schon, wie ich diesem Yankee gegenüber in solch einer Sache geradezu ein Kind war, und weiter fühlte ich, daß hingegen unser Kapitän Martin, wenn ihm auch nur die nautische Leitung des Schiffes oblag, diesem smarten Yankee in jeder Hinsicht gewachsen war.

Kapitän Martin saß auf einem Wandstuhl, betrachtete aufmerksam seine Füße, die er so ziemlich in der Mitte der Kajüte liegen hatte, die Hände natürlich bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, und schob seinen Kautabak von einer Backentasche in die andere. »Well,« nahm er jetzt zum ersten Male das Wort, »Sie garantieren monatlich dreitausend Pfund, sagten Sie. Womit garantieren Sie denn?«

»Ich habe gegenwärtig achttausend Pfund zur Verfügung. Die deponiere ich noch heute, wo Sie bestimmen, außerdem habe ich eine große Gesellschaft hinter mir. In vier Wochen deponiere ich eine weitere Summe.«

»Wieviel?«

»Bestimmen Sie die Höhe.«

»Wie lange soll der Kontrakt gelten?«

»Nun machen wir doch erst einmal drei Monate aus. Ich bin aber auch sofort mit einem ganzen Jahre einverstanden, nur muß ich mir das Recht vorbehalten, den Kontrakt erneuern zu können. Ich meine, daß ich das Vorrecht dazu habe. Daß dann nicht ein anderer kommt und das Fett erst richtig abschöpft; denn ich werde doch zuerst ungemein große Ausgaben haben. Ist das nicht recht und billig, diese meine Forderung?«

»Well. Sind Ihnen denn die Unkosten dieses Schiffes bekannt?«

»Nun, wie hoch sind sie?«

»Monatlich dreizehnhundert Pfund Sterling.«

Der Yankee machte wenigstens einen Ansatz dazu, die Augenbrauen hochzuziehen.

»Das ist ja ganz außerordentlich viel!«

»Das ist die Durchschnittsberechnung eines halben Jahres. Die Frau Patronin hat mir Einblick in ihre Bücher gewährt. Es stimmt. Dabei sind alle Nebenausgaben nicht mit eingerechnet. Nur die Unterhaltung des Schiffes. Und dabei haben wir sehr, sehr wenig Kohlen verbraucht, sind fast immer gesegelt.«

»Ja wie kommt denn da diese enorme Summe zusammen? Ich verstehe nämlich auch etwas vom Schiff.«

»Einfach, weil die Heuern und Gehälter so hoch sind.«

»Ach so! Nun ja, das muß man ja auch bei solch einem Schiffe und solch einer Mannschaft erwarten. Dann also deponiere ich zuerst für drei Monate sechzehntausend Pfund Sterling; die eine Hälfte sofort, die andere Hälfte in vier Wochen. Später, wenn Sie sehen, wie vortrefflich unser Geschäft geht, werden Sie mich doch wohl davon entlasten, damit dieses Kapital besser arbeiten kann. Einverstanden, Frau Patronin?«

»Herr Kapitän Martin hat noch das Wort!« entgegnete diese, einen Brief nach dem anderen öffnend und überfliegend.

»Well!« begann Kapitän Martin denn auch gleich wieder. »Wir können also auch von Hafen zu Hafen, wenn es Ihren Geschäften nicht zuwiderläuft, Fracht mitnehmen.«

»Das können Sie. Auf eigene oder fremde Rechnung, wie Sie wollen! Der Verdienst gehört Ihnen.«

»Sie würden uns sogar zur Mitnahme solcher Fracht verpflichten, sagten Sie.«

»Ja, das möchte ich allerdings.«

»Weshalb?«

»Weil es mir darauf ankommt, daß Ihre Mannschaft nicht etwa als eine Schauspielertruppe gilt. Es muß ein Handelsschiff bleiben, es müssen echte Matrosen sein, die ich in den Städten vorführe.«

Wahrhaftig, dieser Mann hatte sich alles, alles reiflich überlegt! Das hatte alles Hand und Fuß!

Gleichzeitig aber sah ich, wie die Patronin die Oberlippe hochzog. »Die ich in den Städten vorführe.« Jawohl, hatte der eine Ahnung! Ich sah doch schon alles kommen. Wir verhandelten hier doch ganz zwecklos.

Aber es war ja ganz interessant, solche Vorschläge einmal anzuhören. Da merkten wir, wieviel wert wir waren.

»Sie versichern das Schiff?«

»Selbstverständlich. Das heißt, wenn es Fracht nimmt, dann werden Sie diese versichern, auch das Schiff, von Hafen zu Hafen. Das ist doch recht und billig.«

»Well.«

»Außerdem werde ich natürlich auch die ganze Mannschaft versichern, jeden einzeln.«

Kapitän Martin sagte diesmal kein »Well«, dafür aber verschob die Patronin die Oberlippe nochmals und noch höher nach oben.

Ihre Leute von einem Fremden so versichern zu lassen, nicht einmal richtig als Menschen, sondern ungefähr so, wie man Mastvieh und Mißgeburten als Schauobjekt versichert, das war doch nichts für die!

»Well, und was sollen wir denn nun da für Vorstellungen geben?«

»Nun, dieselbe, die Sie gestern abend in meinem Theater aufführten. Zuerst das Keulenschwingen mit Posaunenbegleitung und Gesang, dann die Burleske, an der ich allerdings Verschiedenes ändern würde, und dann –«

Er wurde durch Siddys Eintritt unterbrochen.

Sonst hätte ich den Herrn unterbrochen.

Wollte der an meinem Theaterstück, an meiner Geistesschöpfung etwas ändern!

I drrr Deiwel noch einmal!!

»Mister Bull bittet um Empfang!« meldete Siddy, hatte es sofort beim Eintritt gesagt, als Mister Ritchie noch sprach, und besonders dieser Name »Bull« schien es zu sein, der ihm gleich das Wort in der Kehle ersticken ließ, er machte auch gleich ein so eigentümliches Gesicht.

»Du weißt doch, daß ich niemanden empfange, er habe denn meinen schriftlichen Bescheid erhalten!« sagte die Patronin.

»Er behauptet, er habe sich bereits angemeldet.«

»Das mag sein, aber ich habe ihm doch nicht – Halt!« die Patronin suchte zwischen den Briefen, nahm eine Karte. »Mister Bull? Ach so, der kommt wegen – ja, den möchte ich doch einmal sprechen, das interessiert mich. Ich lasse ihn bitten.«

»Gnädigste Frau,« nahm da der Theaterdirektor hastig das Wort, mit allen Zeichen der größten Unruhe, so eisern dieser Yankee auch sonst sein mochte, nehmen Sie kein Angebot dieses Mister Bull an, er kann das meine unmöglich überbieten –«

Da trat Mister Bull schon ein.

Ja, der führte seinen Namen mit Recht. Das war ein richtiger Bulle!

Oder doch eine Bulldogge in menschlicher Ausgabe.

Oder auch ein richtiger John Bull, womit man den Engländer vom alten Schrot und Korn bezeichnet, wie er in Witzblättern karikiert wird, in seinen eigenen, womit also der Engländer sehr wohl einverstanden ist.

Also eine dicke Bulldogge in menschlicher Ausgabe, wozu aber auch noch wirklich etwas Ochsenähnliches kommt, und unbedingt muß diese Figur Kniehosen und Wadenstrümpfe tragen, was hier denn auch der Fall war.

»Bull!« fing der Eingetretene ohne weiteres zu bullern an. »Ephraim C. W. H. G. Bull. Sie kennen mich doch schon als den erfolgreichsten Impresario und Mennidscher (ich schreibe es hier einmal, wie es gesprochen wird), der je die Welt bereist hat. Ich habe vierzehn Monate den Zwerg General Timtomtum gemennidscht und habe ihm dreimalhunderttausend Dollars ausgezahlt. Ich habe den indischen Riesen Radschah Ramaparadra von Radschhure vier Monate gemennidscht und habe ihm hundertzwanzigtausend Dollars auszahlen können. Ich habe ein halbes Jahr das größte Wunder der Welt gemennidscht, das sechsbeinige Kalb mit zwei Köpfen, und habe an ihm nachweislich eine Viertelmillion Dollars verdient. Ich habe die größte menschliche Mißgeburt der Erde gemennidscht, drei zusammengewachsene Kinder mit nur vier Beinen, fünf Händen und zwei Köpfen und habe –«

»Aber bitte, bitte,« unterbrach die Patronin den Redeschwall mit erhobenen Händen, »ich habe hier an Bord keine einzige Mißgeburt, was wollen Sie denn eigentlich –«

»Ich will den Matrosen Albert Bohnsack mennidschen, ich zahle –«

»Halt!« fuhr da Mister Ritchie, von seiner Kaltblütigkeit vollständig verlassen, plötzlich wie ein Wilder auf die Patronin los. »Dieser Bohnsack gehört mir, dieser Bohnsack muß natürlich für mich singen –«

»– zahle Ihnen ein monatliches Fixum von zehntausend Dollars –«

»Der Matrose Bohnsack gehört mit zu meinem Kontrakt,« fing Mister Ritchie jetzt zu brüllen an, weil auch schon der andere schrie, »der darf nur für mich singen –«

»– und die Hälfte vom Reingewinn!« konnte der menschliche Bulle aber noch ganz anders brüllen.

Einen Augenblick verstummte die Brüllerei, die beiden konnten nicht mehr.

Aber ich stand schon bereit, falls sie die Patronin jetzt auch handgreiflich attakieren wollten, denn so sah es bereits aus.

»Aber meine Herren, meine Herren!« lachte die Patronin, halb ärgerlich, halb wirklich belustigt. »Wofür halten Sie mich denn eigentlich? Bin ich denn etwa eine Sklavenhälterin?«

Und dann machte sie es äußerst kurz.

»Nein!« wandte sie sich an den Theaterdirektor. »Ich bedaure, Ihr Angebot ablehnen zu müssen.«

»Aber ich zahle Ihnen eventuell auch –«

»Nein! Geben Sie sich keine Mühe mehr. Jedes weitere Wort ist zwecklos. Nein, sage ich, nein!!«

Dieses energische »Nein!« imponierte mir äußerst.

Sie hatte mir doch einmal gesagt, damals gleich im Anfange, sie sei in gewissem Sinne so energielos, könne zum Beispiel niemanden, der sich sonst gut führe, entlassen. Nun gut, eben nur in gewissem Sinne war sie schwach, eine Folge ihrer Herzensgüte. Jetzt bewies sie genau das Gegenteil.

Mister Ritchie sah denn auch gleich ein, daß gegen ein solches »Nein!« nichts zu machen war.

»Sie werden es sich noch überlegen, ich werde Ihnen noch einmal schreiben!« sagte er nur noch, als er nach seinem Hute griff.

»Es ist zwecklos.«

Anfang

Der Theaterdirektor war gegangen, Mister Bull war noch vorhanden.

»Also ich zahle Ihnen für Ihren Matrosen Bohnsack monatlich ein Fixum von zehntausend Dollars –«

»Ja, geehrter Herr, Sie verkennen die Verhältnisse doch vollkommen!« fiel ihm die Patronin ins Wort.

»Wieso denn?«

»Sie tun ja gerade, als wäre dieser Matrose mein Sklave, über dessen Leib und Seele ich zu befehlen hätte!«

»Solch eine Sklaverei gibt es heutzutage allerdings nicht mehr. Aber Sie haben ihn doch gemennidsscht.«

»Gemanaget? Was wollen Sie denn nur damit sagen?«

»Nun, Sie haben doch mit ihm einen Kontrakt gemacht –«

»Daß er für mich singen muß? I Gott bewahre! Dieser Matrose ist eben ein Matrose auf meinem Schiffe. Und es besteht nicht einmal ein Musterkontrakt! Die ganze Mannschaft ist für wilde Fahrt geheuert. Also auch dieser Matrose könnte hier in Kapstadt sofort das Schiff verlassen –«

»Wie, er ist, ganz frei?!« horchte die menschliche Bulldogge mit ihren Knorpelohren hoch auf.

»Wie ich sage. Sprechen Sie doch mit dem Matrosen selbst. Machen Sie ihm Ihren Vorschlag selbst. Er ist jetzt an Bord. Fragen Sie nach ihm. Fragen Sie aber nach dem Matrosen Albert, nicht nach dem Matrosen Bohnsack.«

Das ließ sich Mister Bull nicht zweimal sagen, er galoppierte sofort hinaus.

»Nun, meine Herren, was sagen Sie denn zu alledem?« wandte sich die Patronin jetzt an uns.

»Well,« nahm zuerst Kapitän Martin das Wort, »das war sehr interessant und besonders auch sehr lehrreich.«

»Wieviel bot uns der Theatermensch?«

»Wollte alle Unkosten des Schiffes bestreiten und garantierte monatlich dreitausend Pfund.«

»Ja, richtig, so war es! Nun, dieses Angebot kann ich begreifen. Wir haben gestern abend mit einer Vorstellung tausend Pfund eingenommen. Dieser gerissene Theaterdirektor würde noch ganz andere Einnahmen erzielen. Und der würde die Mannschaft in jedem Hafen doch nicht nur einmal auftreten lassen. Aber nun unseren Albert? Ein monatliches Fixum von zehntausend Dollars oder zweitausend Pfund Sterling und die Hälfte des Verdienstes? Kann denn das so ein einzelner Mann mit seiner Singerei wirklich verdienen?!«

»Well,« zeigte sich Kapitän Martin, dieser alte Seebär, auch hierin durchaus bewundert, »da ist jetzt ein italienischer Tenorist aufgetaucht; Caruso heißt er, der singt den Abend nicht unter zehntausend Franken, ich weiß es –«

»Jaaa, Caruso! Mit dem kann sich aber doch nicht unser Albert vergleichen, so herrlich er auch gestern abend –«

»Well,« ließ aber Kapitän Martin diesen Einwand nicht gelten, »was heißt Caruso, was heißt singen! Da ist so eine spanische Tänzerin, die Otero, die bekommt für ihre Beinstrampelei und Bauchwackelei ebenfalls pro Vorstellung zehntausend Franken. Ich weiß es. Ich selbst habe sie in Lissabon gesehen, Ein Schiffsmakler nahm mich mit hinein, pro Platz 20 Milreis, das sind rund hundert Franken. Und dabei konnten wir uns nicht einmal setzen. Aber ein anderer hat sich auf meinen Hut gesetzt. Und ebensoviel bekommt die australische Tänzerin, die Saharet. Zehntausend Franken für eine Viertelstunde Hopserei. Manchmal noch mehr. Die habe ich ebenfalls gesehen. In San Franzisko. Die hopst wieder ganz anders als die spanische Otero. Ich will ja nicht etwa sagen, daß Caruso nicht wirklich der größte Sänger wäre, der seine zehntausend Franken auch wirklich verdient – aber der Hauptsache nach kommt es doch immer auf den Manager und Impresario an, der eine geschickte Reklame zu machen weiß. Hier ein Matrose – der Matrose Bohnsack – vollkommen ungeschult – ein Traum- und Trance-Sänger – die Plätze werden verauktioniert, und der Bullenbeißer schleppt das Geld in Säcken nach Hauses! Natürlich nicht in der Hundetürkei, aber in Amerika!«

So hatte unser Kapitän Martin gesprochen.

Und dieser alte Seebär hatte sofort das Richtige getroffen, obgleich er gestern abend gar nicht im Theater gewesen war, vorher nichts davon gewußt hatte, nur davon nachträglich gehört hatte.

Ein Traum- und Trance-Sänger.

Ja, das war es!

Damals kamen die Traumtänzerinnen auf.

Man weiß doch, was das ist. Ich möchte mich darüber nicht weiter verbreiten.

Nur eines will ich dazu bemerken: das hat nichts mit Zauberei zu tun, nicht einmal etwas mit Hypnotismus. Oder wir sind überall von solcher Zauberei umgeben, werden bezaubert und bezaubern andere, täglich und stündlich.

Dann wäre jeder Feldherr, der seine Truppen gegen den übermächtigen Feind anführt und diese seine vielleicht schon ganz erschöpften Soldaten wissen doch ganz, ganz bestimmt, daß sie siegen werden, solch ein Zauberer.

Und eine gewisse Art von Zauberei ist ja auch dabei! Einer der größten Zauberer war Napoleon der Erste.

Diese Art von Zauberei findet aber fortwährend im täglichen Leben statt. Einer verfügt über die größten Kapitalien, ist wirklich der tüchtigste, erfahrenste Geschäftsmann, und er bringt’s zu nichts. Ein anderer hat nichts weiter als Schulden, und er bringt für sein Unternehmen im Handumdrehen eine Aktiengesellschaft zusammen, hat Erfolge über Erfolge. Das ist auch ein Zauberer!

Unser Albert war ganz und gar von der Klavierbegleitung seines Meisters abhängig, der ihn ausgebildet hatte. Wahrscheinlich sogar von dessen Person. Ohne Hämmerlein war er ein Nichts!

Vorläufig!

Das konnte sich ja noch andern. Er konnte sich an einen anderen Klavierbegleiter gewöhnen, der einen ebenso starken Einfluß auf ihn gewann, er konnte sich später aber auch ganz von dieser Beeinflussung freimachen.

Vorläufig konnte er als ein Traum- und Trance-Sänger gelten, das hätte sein Impresario doch natürlich in die Welt posaunt und hätte dafür gesorgt, daß es bei diesem Verhältnis auch blieb. Selbst wenn daraus zuletzt Betrug oder Vorspiegelung falscher Tatsachen wurde. –

Hierüber hatten wir uns etwas unterhalten und kamen dann wieder auf das Hauptthema zu sprechen.

»Nein,« sagte die Patronin, »uns zu einem Theaterschiff herabwürdigen, das wollen wir nicht tun! Wir wollen wenigstens kein Geld damit verdienen. Freilich kann ich es ja den Leuten nicht verbieten, daß sie nun öffentlich gegen Geld, gegen Honorar auftreten, dazu aber müssen sie mich erst verlassen –«

»Frau Patronin,« war diesmal ich es, der sie unterbrach, »was Sie da eben sagten, ist geradezu eine Beleidigung für mich!«

»Wie?!« stellte sie sich erstaunt

»Ja, eine Beleidigung für mich. Sie wissen, daß ich sonst sehr bescheiden bin. Aber dessen darf ich mich rühmen: ich bin es, der alle diese Männer soweit gebracht hat, daß sie jetzt so etwas ausführen können. Und ich kenne alle diese meine Jungens auch sonst, dem Charakter nach. Ja, ich glaube sogar, daß ich es erst gewesen bin, der diesen Charakter gebildet hat! Und ich versichere und garantiere Ihnen, daß wir keinen solchen Hundsfott unter uns haben!«

Sie wollte mich nicht verstehen, stellte sich sogar etwas beleidigt, und ich hatte ja auch sehr derb gesprochen.

»Ich weiß nicht, was Sie da für Ausdrücke gebrauchen, Herr Waffenmeister –«

»Ach, Frau Patronin, Sie wissen ganz genau, was ich meine! Und da brauchen Sie sich gar nicht beleidigt zu fühlen, es muß vielmehr Ihr eigener Stolz sein, und den fühlen Sie auch recht wohl –«

»Da geht der Mister Bull wieder von Bord,« sagte Kapitän Martin, »er muß den Albert doch wohl gesprochen haben, rufen wir ihn doch einmal.«

Albert kam, ein stiller Mensch wie immer, und daß er die Mütze zwischen den Händen drehte, war das einzige Zeichen von Verlegenheit.

Er konnte noch immer nicht Hochdeutsch sprechen, obgleich er sich sichtlich abmühte, ab und zu auch solche Brocken und ganze Sätze hervorbrachte.

»Hat Dir der dicke Engländer einen Vorschlag gemacht?«

»Tjau, tjau –«

»Was denn?«

»Ick schäll im Theater singen, un he will mi twölftusend Dollars im Monat geben –«

»Wieviel?!«

»Twölftusend Dollars.«

Mister Bull war also schon zweitausend Dollars höher gegangen.

»Na und Du?«

»Ick hämm mien Seestäbel ann Kopp smäten.«

»Was?«

»Ick treckte grad mien Seestäbel an, un weil dee nich uphörte to quasseln und to quattern, dö häww ick em een Seestäbel ann Kopp worfen, nur een, do is he ook glieks freewillik gahn, sonst hädd ick emm noch rutsmätn.«

»Ja aber Albert!« sagte die Patronin: »Warum denn nur?! Warum hast Du das nicht angenommen?«

Mit einem Male richtete sich der Matrose hoch auf, bekam einen ganz roten Kopf.

»Nu weil ick doch keen Hundsfott bin!«

Nichts weiter.

Die Augen der Patronin aber wanderten zu mir und blieben an meinem Blick hängen.

Albert wurde entlassen, bekam nichts weiter zu hören.

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« sagte dann die Patronin mit leiser, etwas zitternder Stimme, und sie wandte ihre Augen wieder ab, ich sah aber noch, wie es darin leuchtete und glänzte, »ich danke Ihnen, Herr Kapitän Martin, ich danke Ihnen, Herr Waffenmeister, ich – bin sehr erschöpft.«


16.
KAPITEL. »ZU DIESEM AUGENBLICKE MÖCHT’ ICH SAGEN –«

Ich machte mich sofort auf den Weg, um die Geldangelegenheit zu erledigen, die mit unserer Theatervorstellung zusammenhing.

Es waren genau 1021 Pfund und 7 Pence eingenommen worden. Davon gingen 200 Pfund Theatermiete ab. 21 Pfund und 7 Pence erhielt das Theaterpersonal, das uns gestern geholfen hatte, als besondere Gratifikation, und die einzige Vorschrift war, daß es ganz gleichmäßig verteilt wurde. Na, die würden sich ja nicht schlecht freuen.

Von den übrigbleibenden 800 Pfund erhielt ein Drittel das Seemannsheim in Kapstadt, ein Drittel das Seemanns-Witwen- und Waisenhaus hierselbst, das letzte Drittel wurde für dasselbe Institut nach Hamburg geschickt.

Das wollte ich gleich persönlich abmachen, wozu da erst schreiben – einfach das Geld abgeliefert, Quittung dafür, fertig!

Daß die ganze Mannschaft hiermit vollständig einverstanden war, brauche ich wohl nicht extra noch zu sagen. Wie man im allgemeinen hierüber dachte, hatte am besten Albert mit seinen Worten ausgedrückt: »Ich bin doch kein Hundsfott!«

Was er hiermit gemeint hatte, wie er dazu tat, so etwas zu sagen, das weiß der Leser ganz genau, sonst könnte ich es ihm auch nicht weiter erklären.

Nein, wir spielten nicht gegen Geld! Wir hatten das Theaterstück und alles andere zu unserer eigenen Belustigung einstudiert und eingeübt, und das machten wir den anderen auch zu unserer eigenen Belustigung vor!

Aber heute nachmittag wurde eine Partie auf den Tafelberg gemacht! Und dann später ein Ausflug in die weitere Umgebung, da wurde getanzt, wieder so etwas arrangiert wie damals in Liverpool! Und das alles bezahlte natürlich die Patronin, das war ganz selbstverständlich, aber doch nicht etwa mit dem Gelde, das die Matrosen durchs ihre Mimerei eingenommen hatten!

Also ich ging nach der Post, zahlte für Hamburg ein, besuchte jene Institute, zählte das Geld bar auf den Tisch und ließ mir Quittung geben. »Auf wessen Namen?«

»Ganz egal – schreiben Sie: erhalten von den Argonauten.«

»Der Segen Gottes wird es Ihnen vergelten!« sagte salbungsvoll und wirklich gerührt der alte Herr, der das für das Seemanns-Witwen- und Waisenhaus besorgte.

»Das wollen wir stark hoffen!« entgegnete ich und ging.

Einige Stunden hatte mich diese Geschichte aber doch aufgehalten. Mittags war schon etwas vorüber, als ich den Rückweg antrat.

Als der Hafen vor mir lag, ich aber noch nicht unser Schiff sehen konnte, fuhr an mir ein Depeschenbote auf dem Zweirad vorüber.

Und als ich das Deck betrat, lehnte sein Rad an unserem Großmaste. Gerade kam der Postjunge wieder aus der Kajüte, radelte über das Laufbrett und davon.

Ahnungslos betrat ich die Kajüte, um der Patronin die Quittungen zu geben. Gott, so ein Schiff bekommt im Hafen doch fortwährend Telegramme.

Als ich aber die Patronin da drin auf dem Sofa sitzen sah, in dieser Haltung und mit diesem Gesicht, da wurde mir gleich recht ungemütlich zumute.

Anfang

»Georg – Waffenmeister – ich bin – – – ruiniert!«

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?!« rief ich erschrocken.

»Die Neu-Yorker Boden-Kreditbank ist zusammengebrochen – nicht 5 Prozent werden ausgezahlt!«

»Ach sooo! Jagen Sie mir da einen Schreck ein! Weiter nischt? Ich denke doch, Sie haben eine Tasse Kaffee getrunken und statt Zucker ein Stück Zyankali hineingetan.«

Da mußte sie mich wohl groß anblicken.

»Ich bin vollkommen ruiniert!«

»Ja wieso denn nur?«

»Ich habe kein Geld mehr.« »Aber sonst sind Sie doch gesund?«

Da fing sie zu lachen an.

»Sie nehmen ja die Sache verdammt kaltblütig – o, verzeihen Sie – aber weiß, Gott, da muß auch ich einmal so ein Wort gebrauchen, und angewöhnen kann man es sich hier allerdings leicht, es ist verzeihlich – also, Herr Waffenmeister, Sie finden gar nichts weiter dabei, daß ich alles verloren habe? Meine zwei Millionen Dollars sind futsch. Mein Rechtsanwalt in Neuyork erklärt es mir klipp und klar, sagt auch gleich, daß ich wohl nicht mit zu denen gehören werde, die höchstens 5 Prozent erwarten dürfen. Nur daß ich auch nichts zuzuzahlen habe. Ich habe nichts mehr.«

Ich hatte mich gesetzt.

»Sie haben doch noch dieses Schiff.«

»Das allerdings –«

»Schuldenfrei, es gehört ganz und gar Ihnen?«

»Ja.«

»Was haben Sie dafür bezahlt?«

»Hunderttausend Pfund Sterling.«

»Bar bezahlt, alles in Ordnung?«

»Alles.«

»Na also. Da können Sie doch nicht etwa sagen, daß Sie ruiniert sind. Das ist ja geradezu sündhaft gesprochen.«

Sie starrte erst etwas vor sich hin.

»Ja aber – ich habe gar kein Betriebskapital mehr. Ich kann die nötigsten Ausgaben nicht mehr bestreiten. Ich wollte gerade eine größere Summe von der Bank holen lassen. Ich habe mich vollständig ausgegeben. Ich habe gerade noch fünf Pence in der Kasse. Anderswo habe ich gar kein Geld.«

Und sie stand auf, ging nach dem ungeheuren Panzergeldschrank, öffnete die nur angelehnte Tür, kramte dahinter, es klimperte, dann kam sie wieder zum Vorschein.

»Hier – und noch einen alten silbernen Zwanzigpfenniger habe ich gefunden, der mir einmal als Dreipencestück aufgehangen worden ist.«

Und sie hielt mir die Hand hin, in der die fünf einzelnen Kupferpennies und der alte deutsche Zwanziger lagen, auch noch ein Loch durchgeschlagen!

Wollte sie einen Witz machen?

Ganz sicher nicht.

Aber wie nun das aussah, wie die mir jetzt die paar Kupfermünzen und den durchlochten Zwanziger hinhielt, sie, die bisherige zehnfache Millionärin, die davon acht Millionen verloren hatte, aber noch immer ein schuldenfreies Schiff im Werte von zwei Millionen Mark besaß – kurz und gut, ich lehnte mich zurück, und lachte lachte, lachte!

»Verzeihen Sie – aber das ist zu gottvoll – wir haben gerade mehr als sechzehntausend Mark an die Armen verschenkt –«

Doch ich brauchte nicht um Verzeihung zu bitten. Jetzt empfand sie selbst die Komik dieser Situation, sie lachte selbst aus voller Kehle mit.

Freilich verging ihr das Lachen sehr schnell, sie wurde desto ernster.

»Herr Waffenmeister – ich spreche jetzt zu Ihnen, als den Anführer der ganzen Besatzung als zu ihrer Seele – ich muß das Schiff verkaufen.«

Da wurde auch ich sehr ernst. Aber das, was ich eigentlich sagen wollte, sprach ich nicht aus, als ich fragte:

»Weshalb müssen Sie das Schiff verkaufen?«

»Weil mir gar nichts anderes übrig bleibt.«

»Weshalb nicht? Bitte, wollen Sie sich näher erklären.«

»Einfach weil ich kein Betriebskapital mehr habe. Ich kann die Leute nicht mehr bezahlen, muß ihnen die Heuern schuldig bleiben –«

Weiter ließ ich sie nicht sprechen, jetzt konnte ich mich nicht mehr beherrschen.

»Nun hören Sie aber auf!!« brach ich los. »Was Sie da sagen, das ist noch viel mehr als eine Beleidigung der ganzen Mannschaft, deren Vertreter, deren Seele ich bin, wie Sie selbst sagten – das ist eine Mißachtung, eine direkte Verhöhnung ein Vorwurf der Unehrenhaftigkeit! Wissen Sie denn nicht, was Sie an diesen Männern haben?!«

Ich war tatsächlich so erregt, daß ich nicht weiter sprechen konnte, daß ich aufspringen mußte, um einige Gänge durch die Kajüte zu machen.

Ganz niedergeschmettert saß sie auf dem Sofa. Und ich hatte mich schnell wieder beruhigt.

»Na, Helene, das glaubst Du doch – Frau Patronin, das glauben Sie doch selbst nicht, daß diese Männer Sie treulos verlassen werden, weil Sie ihnen vielleicht einmal nicht die Heuer bezahlen können.«

»Nein, das glaube ich nicht!« flüsterte sie, Tränen im Auge.

»Das haben Sie doch nur gesagt, um sich selbst Schmerz zu bereiten, oder so wie manche Frauen am liebsten von ihrem Begräbnis sprechen.«

Sie schwieg, und es war auch ein dummes Gleichnis von mir gewesen, obwohl vielleicht ganz richtig.

»Ja was soll ich nun tun?« flüsterte sie dann. »Einfach den Kopf oben behalten, das ist die allererste Aufgabe. Wir wollen einmal nicht an die Schätze denken, die dort im Feuerlande liegen sollen, die Sie in drei Jahren heben können. Weiß es eigentlich schon Kapitän Martin? Von dem Zusammenbruche der Bank?«

»Nein.«

»Teilen Sie es ihm mit. Jetzt gleich. Ich möchte erst dessen Ansichten und eventuelle Vorschläge hören, ehe ich die meinen zum besten gebe.«

Kapitän Martin wurde gerufen.

Bis dieser kommt, will ich eine kleine Erklärung einflechten.

Unsere Lage war natürlich durchaus nicht so traurig. Wenn man ein Schiff hat, das zwei Millionen wert ist, für das ein Schiffhändler schon mehr geboten hatte, braucht man sich doch nicht arm zu fühlen.

Anderseits aber war auch die erste furchtbare Niedergeschlagenheit der Patronin, daß sie gleich ganz verzweifeln wollte, begreiflich, menschlich gerechtfertigt.

Wenn jemand zehn Millionen Mark besitzt, und er verliert davon mit einem Schlage acht, es bleiben ihm nur noch zwei Millionen, die in einem Schiffe stecken, sonst ist gar kein bares Geld mehr vorhanden, so kann sich der Betreffende plötzlich wohl als ein Bettler fühlen. Das ist menschlich begreiflich, man muß sich nur in die Sachlage hineindenken. Solch ein Schiff hat ja auch immer große Ausgaben. Ganz abgesehen von der Beköstigung und Bezahlung der Mannschaft und vom Kohlenverbrauch eines Dampfers. In jedem Hafen sind Abgaben zu entrichten: Ankergeld, Steuern für Unterhaltung der Leuchtfeuer, der Bojen, eventuell Lotsengebühren und noch vieles andere mehr.

Wie hoch diese Gebühren sind, das kann ich hier nicht erörtern. Es wird pro Tonne berechnet, aber das ist in jedem Hafen total verschieden. Manchmal pro Tonne nur ein paar Pfennige, manchmal ein paar Groschen. Es handelt sich dabei weniger um die Größe des Hafens, als darum, ob die Anlagen des betreffenden Hafens schon bezahlt sind, wieviel Schulden noch darauf ruhen, ob die Unterhaltung hohe Kosten erfordern, undsoweiter, undsoweiter. Mancher winzige Hafen an der Westküste Südamerikas fordert mehr Ankergeld und sonstige Gebühren als Hamburg, London und Neu-york.

Ferner kommt es ganz darauf an, aus welchem Grunde man den Hafen anläuft. Will man dabei Geschäfte machen, so sind die Gebühren natürlich am höchsten. Seenot befreit meist von allen Abgaben. Sucht man einen Hafen auf, weil etwa der Skorbut ausgebrochen ist, der durch frisches Fleisch und Gemüse schnell wieder beseitigt wird, so wird es schon viel, viel billiger. Natürlich auch, wenn man Trinkwasser und Proviant braucht. Ja, es ist sogar vorgesehen, daß die Mannschaft keinen Tabak mehr hat und der Kapitän deshalb einmal einen Hafen anläuft; denn ohne Tabak hört die Gemütlickeit zur See auf. Da mag sich dann noch auf der öden Wasserwüste herumtreiben lassen, wer Lust hat. Dann eröffnet sich wieder ein neuer Frauenberuf.

Alle diese zum Teil internationalen Hafenbestimmungen sind nämlich nicht von Juristen am grünen Tische gemacht worden, sondern von alten erfahrenen Seeleuten! Das ist der Unterschied! Die wissen, was es heißt, wenn der Mannschaft unterwegs der Tabak ausgeht. Es gibt einige Hafen, welche bei Tabaksnot alle Gebühren weglassen.

Unser Schiff hatte hier in Kapstadt für sieben Tage 600 Mark Hafengelder zu zahlen. Blieben wir länger liegen, so wurde das ja bedeutend billiger. Einen Lotsen hatten wir bei der vorzüglichen Einfahrt nicht nötig gehabt. Ich hatte einmal gesagt, daß man auf ein unversichertes Schiff keinen Groschen gepumpt bekommt. Das ist ja auch ganz richtig. Nämlich wenn man dabei an eine Beleihung denkt, die registriert wird, so wie man auf ein Haus eine Hypothek nimmt. So etwas ist bei einem unversicherten Schiffe ganz ausgeschlossen. Es braucht ja nur aus dem Hafen hinauszufahren, eckt an, sinkt in nur 20 Meter Tiefe, die Hebungskosten würden seinen Wert übersteigen – alle ist es! Beim abgebrannten Hause ist wenigstens noch der Grund und Boden vorhanden; aber Meeresgrund kostet nichts.

Anderseits darf man aber alles nicht gleich buchstäblich nehmen. Wenn wir 30 Pfund Sterling Gebühren zu zahlen hatten, und wir besaßen sie nicht, und wir hätten die nicht auftreiben können, für ein Schiff, das zwei Millionen Mark wert war – das wäre nichts anderes gewesen, als wenn ein Zigarrengeschäft, mag es auch noch so ein kleines Büdchen sein, keine Streichholzschachtel mehr hinlegen kann, um dem Kunden Feuer zu geben. Dieser Vergleich ist ganz richtig.

Wir hatten doch noch Wertvolles genug an Bord. Von den Schmucksachen der Patronin will ich gar nicht sprechen, das war wieder etwas ganz anderes. Aber wir hatten zum Beispiel in den Bunkers noch 400 Tonnen Steinkohlen! In Liverpool hatten sie 300 Pfund Sterling gekostet, hier in Kapstadt waren sie das dreifache wert, man bekam sofort 900 Pfund dafür bezahlt. Jeder Kohlenhändler nahm sie mit Kußhänden. Kohle ist im Seehandel ein feines, sicheres Geschäft! Schon in Gibraltar kostet Steinkohle das doppelte als in Cardiff, in Valparaiso das vierfache! Denn amerikanische Kohle kann dort nicht viel in Betracht kommen, sie muß; zuerst zu weit mit der Eisenbahn befördert werden, das macht sie zu teuer. In der Steinkohle kann mit England höchstens noch Deutschland konkurrieren

Aber die 600 Mark Hafengebühren hätten wir auch gepumpt bekommen. Irgendwo. Wenn wir die nicht aufzutreiben wußten, dann waren wir – einfach dumme Luders. Anders kann ich mich nicht ausdrücken. Mit einem Schiffe von zwei Millionen Mark! Wenn ein gutsituierter, anständig gekleideter Mann eine kleine Reise macht, eine Fahrt mit der Elektrischen in einen Vorort, den Groschen dazu hat er in der Westentasche gehabt, beim Aussteigen merkt er, daß er sein Portemonnaie zu Hause hat liegen lassen – hängt der sich etwa vor Verzweiflung gleich auf? Fast ein ganz gleicher Fall lag hier bei uns vor.

»Daß freilich die Patronin zuerst den Kopf verloren hatte, das war begreiflich. –

Kapitän Martin kam. Beim Eintreten nahm er die Mütze vom Kopfe, wozu er doch die eine Hand aus der Hosentasche hatte ziehen müssen, und da der Bann nun einmal gebrochen war, nahm er auch noch die andere heraus – als er aber die Mütze auf den Tisch gelegt hatte, vergrub er schleunigst beide Hände wieder bis an die Ellenbogen in den geliebten Hosentaschen.

Die Patronin berichtete ihm die Sachlage.

»Well.«

Vorläufig nichts weiter. Auf mich aber wirkte dieses »Well« geradezu humoristisch.

Dann begann Kapitän Martin in der Kajüte auf und ab zu gehen, was er ja nicht getan, wenn hier nicht ein ganz besonderer Fall vorgelegen hätte, der die gesellschaftlichen Verhältnisse etwas lockerte. Wenn es brennt, springt bekanntlich sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemde zum Fenster heraus. Also konnte jetzt auch der Kapitän hin und her marschieren, wenn das seinem Gehirn förderlich war. Und dabei knickte er ab und zu mit einem seiner endlos langen Beine etwas zusammen und schlenkerte es dann wieder von sich, immer die Hände tief, tief in den Hosentaschen vergraben, und man merkte ihm an, wie er sich abmühte, sie noch tiefer hineinzubringen.

»Sie haben sonst nichts weiter?«

»Nein. Allerdings habe ich ja wertvollen Schmuck.«

»Äh!« erklang es verächtlich. Und dann weiter nach einer mit Beineschlenkern ausgefüllten Pause.

»Well, Sie nehmen einfach Fracht. Natürlich muß das Schiff versichert werden. Aber das will ich wohl alles fixen. Ich will hier sofort lohnende Fracht bekommen.«

Wieder eine marschierende Pause mit Knicken und Schlenkern. Dann, als keine Antwort kam, blieb der Kapitän in einiger Entfernung stehen und schielte zurück nach der Patronin.

»Das wollen Sie wohl nicht, Fracht nehmen, he?«

Stumm stand die Patronin da, zu Boden blickend.

»Da haben Sie auch ganz recht. Ich würde es an Ihrer Stelle och nich tun.«

Ach, wie das herausgekommen war! Aber mit vollem Ernste. Der alte Kapitän mit dem graumelierten Haar und Bart setzte seine Wanderung fort: Ich will es versuchen, wiederzugeben, wie er sprach:

»Well.

Ich bin keiner von der Waterkant.

Bin tief, tief von binnen her.

’s sind Berge dort.

Abenteuerlust hat mich wie manchen anderen Jungen zur See getrieben.

Bei Nacht und Nebel durchgebrannt bin ich.

Verstoßen hat mich mein Vater.

Hat mir aber nix geschadet.

Gefunden habe ich das freilich nicht, was ich zur See suchte.

Wollte Seeräuber werden, und ganz simpler Kapitän, wurde ich.

Habe verdammt wenig Abenteuer erlebt. Kein Zeitungsmensch würde mir Sixpence dafür geben, was ich erlebt habe. Habe Kohlen gefahren und Reis und Kopra (Fleisch der Kokosnuß) und anderes Teufelszeug.

Habe auch acht ganze Jahre lang aus Konstantinopel Knochen und Hadern und Lumpen abgeholt für eigene Rechnung.

Habe schweres Geld dabei verdient, well.

Bin verheiratet gewesen.

Well.

Habe vierzehn lebendige Kinder. Neun Jungen und fünf Mädels.

Sind alle groß und fein ab, die Rackers.

Mein erster ist Landgerichtsdirektor und hat schon eine Glatze.

Meine jüngste hat einen Rittergutsbesitzer in Pommern und ist eine auf, zu und von.

Ich soll zu meinen Kindern kommen, zu meinen Enkeln. Einmal zu dem, einmal zu dem.

Verdammt, ich kann nicht.

Ja, mal zum Besuch.

Aber dann wieder – ahoi!!

Kann nicht lassen von dem verdammten Salzwasser, das man nicht einmal gurgeln kann.«

Eine längere Pause. Aber immer ausgefüllt von Hinund Hermarschieren, Beinknicken und Beineschlenkern, Tabakkauen und dem Bemühen, die Hände noch tiefer als bis zu den Ellenbogen in die Hosentaschen zu pfropfen.

»Kohle, Reis, Kopra, Knochen und Lumpen!« erklang es dann weiter. »Auch einmal Kirschkerne für eigene Rechnung. Kirschkerne ist ein feines Geschäft. Und mein dritter hat eine ätherische Ölfabrik.

Da, Frau Patronin, lernte ich Sie kennen.

Well, ich fuhr Ihr Schiff.

Unversichert, well.

Gauklerschiff, well.

Verdammt noch einmal, ich – ich – habe noch kein altes Herz bekommen, die Sehnsucht, ach, die Sehnsucht meiner Kinderjahre –«

Mit einem Rucke blieb er plötzlich vor der Patronin stehen.

»Na, Madam, da gaukeln Sie doch mal los!!«

Ach, wußte dieser Mann zu sprechen!

Wenn ich es nur wiedergeben könnte!

Aber der Leser wird’s schon verstehen.

Wird verstehen, weshalb die grauen Augen dieses alten Kapitäns plötzlich so zu sprühen begannen!

Es war begreiflich, daß die Patronin nicht gleich eine Antwort wußte. Und er nahm seine Wanderung wieder auf, beineknickend und beineschlenkernd, aber elastisch wie ein Jüngling.

»Kein Kapital mehr – Unsinn.«

Auch kein solches Schiff braucht man zu haben.

Laß die breitgetretnen Plätze, Steig nach unten, steig nach oben – Reiche Nibelungenschätze Liegen rings noch ungehoben.

Von wem ist das?

Weiß nicht.

Nevermind.

Aber recht hat der Kerl.

Wir haben schon solche Schätze liegen sehen.

Haben schon einmal darüber gesprochen, ohne noch an eine Ausführung zu denken.

Mein Kollege, der Kargo-Kapitän, hatte damals eine feine Idee.

Dort mit den Hummern in der Feuerlandbucht.

Hummern – mit Hummern muß sich ein feines Geschäft machen lassen.

Habe es mir schon einmal auskalkuliert. Wir nehmen eine Million Pfunddosen mit, auch Zweipfund- und Dreipfunddosen, leere Blechbüchsen, halten ein bißchen Umschau in so einer Konservenfabrik, engagieren einen tüchtigen Sieder, fahren nach dem Feuerland, errichten dort eine Kocherei, erst werden die Krebse im Dampfkessel abgesotten, dann an Land weiter präserviert, Steine gibt’s dort ja genug für einen geeigneten Feuerherd, zugelötet – habe mir auskalkuliert, daß wir in einem halben Jahre tüchtiger Arbeit netto eine halbe Million Franken verdienen können. Habe mich schon in Marseille recht genau erkundigt. Abnehmer sofort!«

Ja, daran hatte auch ich schon gedacht. Nicht nur schon früher, sondern gerade jetzt! Diesen Vorschlag hätte ich jetzt auch noch gemacht. Da es mein Kollege getan, war es ja gut. Ich bin doch nicht so einer: »Das haben Sie erst von mir, Sie haben es mir nur weggenommen.«

»Well,« fuhr mein Kollege fort, »das Hummerprojekt läßt sich aber jetzt im Winter, den wir hier haben, nicht ausführen. Da ist dort im Feuerland nichts zu wollen. Da müssen wir bis zum Sommer, mindestens bis zum Oktober warten, ehe wir uns da näher heranmachen können. Immerhin können wir uns ja schon gelegentlich nach den Blechdosen und sonstigen Vorbereitungen umsehen.«

Also ein halbes Jahr haben wir noch Zeit. Wie füllen wir die nun aus.

Geld verdienen! Geld ist Pulver, und ohne Pulver kann man keine Schlacht gewinnen. Nur mit dem Bajonett – da ist’s heutzutage faul.

Geld verdienen!

Frau Patronin, Herr Kollege!

So praktisch und nüchtern spricht ein Mann, der Ihnen in demselben Atemzuge gleich einen ganz anderen Vorschlag machen wird.

Einen höchst romantischen Vorschlag.

Was ist Romantik?

Nevermind.

Es ist meiner ehrlichen Überzeugung nach ein großer Fehler, daß man den Vorschlägen dieser Gaukler so gar keine Beachtung schenkt.

Was heißt Gaukler? Seegaukler?

Kolumbus war in den Augen der damaligen sachverständigen Welt nichts weiter als ein verrückter Seegaukler.

Auf dem Seewege nach Westen herum nach Indien zu kommen – wahnsinniger Blödsinn!

Eine wissenschaftliche Kommission wurde zusammenberufen, und sie bewies nach allen Regeln der logischen Wissenschaft, daß es nicht möglich sei, nach Westen hin um die Erde zu segeln.

Weil doch die Erde rund sei, also weil man dort und dort doch mit dem Schiffe hinabrutschen müsse, ins bodenlose Weltall hinein.

Nevermind.

Jedenfalls aber, wenn alles richtig gänge, hätten wir ohne diesen Gaukler Kolumbus heute noch kein Amerika und daher auch keinen Tabak.

Kapitän Martin benutzte diese Gelegenheit, um sich schnell ein neues Stück abzuschneiden und im Munde verschwinden zu lassen, ohne das bisherige Päckchen zu entfernen.

»Eine weitere Einleitung erspare ich mir!« fuhr er dann fort, noch mit seinem Tabak beschäftigt. »Frau Patronin, geben Sie mir doch einmal alle die Briefe der Gaukler her, die Sie hier und auch schon in Marseille erhalten haben. Ich habe mich noch gar nicht darum gekümmert. Jetzt will ich sie doch einmal prüfen. Vielleicht ist doch ein ganz vernünftiger Vorschlag dazwischen.«

Aha, aha, aha!!

In dem alten Knaben erwachten wieder die Seeräubergelüste oder doch die Abenteuerlust, wollen wir sagen.

Na, und war das etwa so etwas Wunderbares?

Wir, die wir nicht zur See gegangen sind, weil wir mußten, weil schon unsere Urururväter zur See fuhren, wir sind doch alle aus ein und demselben Holze geschnitzt. Wenn man nur Gelegenheit hätte, seinen romantischen Gelüsten nachzugehen! Dabei kann man noch immer praktisch und sogar nüchtern sein, nämlich immer dabei das Geldverdienen im Auge behalten.

Die Patronin, schon wieder lächelnd, auch mit recht strahlenden Augen, brachte aus ihrem Panzerschranke zwei große Stöße meist sehr schmieriger Briefe angeschleppt.

»So, danke, ich werde sie dann mitnehmen –«

»Es sind merkwürdige Sachen dazwischen, und einige scheinen wirklich gar nicht so ohne –«

»Ja, ja, glaube ich schon. Das will ich eben prüfen und glauben Sie mir nur, daß ich wenigstens mein möglichstes tun werde, um eine spätere Blamage zu vermeiden. Nun aber brauchen wir immer noch erst einmal Geld. Wie wir uns überhaupt erst einmal weiterhelfen wollen, bis wir die goldenen Schätze auch wirklich in der Tasche haben. Well, Frau Patronin, Ihnen kann es doch niemals an Geld gebrechen. Sie haben doch eine wahre Goldquelle. Eh?«

Und, die Hände wieder vergraben, blickte er seitwärts nach der Patronin.

»Sie meinen unsere Vorstellungen!« lächelte sie, und daß sie dabei lächelte, war mir höchst angenehm.

»Ahem!« nickte jener. »Na und das Weitere wissen Sie ja, was ich meine. Daß Sie Ihre Leute nicht für Geld schauspielern lassen wollten, so lange Sie zwei Millionen Dollars hatten, das kann ich begreifen. Aber nun, denke ich, ist es doch etwas anderes. Oder ist das etwa eine Schande? Meine zweite Tochter is och enne Schauspielerin. In England. Kennen Sie die Sinclaire?«

»Was, die Sinclaire?!« echote die Patronin mit ganz entgeisterten Augen. »Die berühmte Shakespeare-Darstellerin? Die unvergleichliche Ophelia?!«

»Jawohl, das ist meine Tochter. Miß Sinclaire. Aber das ist ihr Künstlername. Die ist verheiratet. Mit einem Baronet. Glücklich verheiratet. Das ist nicht so ein Luftikus und Habenichts. Der macht Seefe. Mit 800 Arbeitern. Also, was ich sagen wollte, ich dächte, Sie lassen unsere Jungens ruhig schauspielern, wenn wir Geld brauchen. Und damit Sie sich keine Sorge machen – nichts für ungut, Herr Kollege, wollen Sie uns mal – nee, bleiben Sie nur, Sie können’s hören – und daß Sie sich also keine Sorge machen, Frau Patronin – ich habe Ihnen ja schon einige Andeutungen gemacht, daß ich’s mir leisten kann, habe es natürlich mit Absicht getan – ich stelle erst mal dreitausend Pfund zu Ihrer Verfügung – well.«

Und hinaus war er.

Wir blickten uns an, die Patronin und ich.

»Das – das – kann ich doch gar nicht annehmen!« flüsterte sie.

»Um Gottes willen,« rief ich erschrocken, schon wieder Verwicklungen fürchtend, »weshalb denn nicht?!«

Da trat Siddy ein.

»Ich soll für den Herrn Kapitän die Briefe holen, Sie wüßten schon welche.«

»Dort liegen sie.«

»Und draußen steht der Matrose Albert, er möchte die Patronin sprechen.«

»Herein mit ihm.«

Albert kann, und jetzt drehte er nicht mehr die Mütze verlegen in den Händen.

»Ick hävv hört, See hämm keen Geld mehr!« platzte er gleich los.

»Woher weißt Du denn das schon?!« fragte die Patronin überrascht, gleich ein ganz rotes Gesicht bekommend.

»Der Siddy hädd’s uns verzählt.«

Siddy machte schleunigst, daß er mit seinen Briefen hinauskam.

»Ja und?«

»Der Mister Bull is all wedder da.«

»So?«

»Jetzt bietet er mir schon törtientusend Dollars, wenn ick for emm singen dau.«

»Dreizehntausend Dollars im Monat? Ja und?«

»Ick häww schon mit Hämmerlein sproken.«

»Ja und?« wiederholte die Patronin, aber recht unsicher werdend.

»He will mi beglieten.«

Eine Pause. Die Patronin rang mit sich. Dann ward sie ganz ruhig.

»Du willst das Angebot annehmen?«

»Tjau. Ick weet, daß dat Schipp monatlich tusenddriehundert Pund kostet. Un ick schall monatlich mehr als tweetusend Pund bekommen. Also brukt Ihr Euch keen Sorge mehr to maken.«

Wieder eine Pause. Regungslos stand die Patronin da; nur in ihren Augen las ich etwas Besonderes.

»Die willst Du mir wohl geben, Albert?« fragte sie dann leise.

»Tjau!« erklang es einfach zurück.

»Also Du willst uns verlassen?«

»Dat geiht doch nich anners.«

Wieder eine Pause.

Dann ging es durch den Körper der Patronin wie ein Ruck, sie hob dabei auch etwas die Arme.

Ich glaubte erst, sie wolle auf den Matrosen zustürzen um ihn in ihre Arme zu schließen.

Sie hatte es ja tun wollen, aber sie tat es nicht. Und es war gut so. Nicht etwa, daß ich eifersüchtig geworden wäre.

Aber was dem einen recht ist, ist dem anderen billig.

Dann hätte sie nämlich auch alle anderen Matrosen, alle Leute umarmen müssen: denn Opfer bleibt Opfer, die Größe tut dabei nichts zur Sache.

»Ich danke Dir, Albert,« sagte sie dann ganz ruhig, »ich nehme es für geschehen an, aber es ist nicht nötig, Du brauchst uns nicht zu verlassen, es ist alles wieder in Ordnung.«

»Ihr hebbt all wedder Geld?« erklang es treuherzig.

»Ja, der Kapitän hilft aus, falls wir wirklich welches brauchen.«

»Desto better. Nix for ungaut, Madam, ’s war nich beus mient.«

Und der Matrose ging, einfach wie er gekommen. In der Mitte der Kajüte stand die Patronin, sie blickte zu dem Skylight empor, durch das ein Strahl der Nachmittagssonne hereinfiel, jetzt hob sie auch noch langsam die Arme, und feierlich und jauchzend zugleich erklangen aus ihrem Munde Fausts letzte Worte, die er spricht, als ihm auf dieser Welt nichts mehr zu wünschen übrig bleibt:

Zu diesem Augenblicke möcht ich sagen:
Verweile doch, Du bist so schön –«

Aber nach diesen Worten brach sie nicht wie Goethes Faust tot zusammen, sondern fiel mir um den Hals, weinend wohl, aber sonst ganz lebendig.


17.
KAPITEL. GELD UND CHININ.

Ach, war das ein Leben, eine fröhliche Aufregung an Bord der »Argos«, als die ganze Mannschaft jetzt alles erfuhr.

Kein Geld mehr vorhanden, der Kapitän nur als letzte Sicherheit dahinterstehend, sonst von jetzt an ganz auf die eigene Schlauheit und Tatkraft angewiesen, wahrscheinlich immer nur so von der Hand in den Mund lebend. Es ist nicht so leicht zu definieren, weshalb da die fröhliche Aufregung, die sich bis zur enthusiastischen Begeisterung steigert.

Hier kommt ein menschlicher Charakterzug in Betracht, ohne den die Menschheit niemals die Stufe erreicht hätte, auf der sie jetzt steht, ohne den sich der Mensch überhaupt nie über das Niveau des Tieres erheben würde.

Es ist, könnte man sagen, die Lust am wagemutigen Spekulieren. Denn der kaufmännische Spekulationsgeist, der erst wägt und dann wagt, der ist es, der die Menschheit in Schwung bringt und erhält, ohne den die Menschheit erstarren und wieder zum Tierleben herabsinken würde.

Der kaufmännische Spekulationsgeist, sagte ich. Aber mit »Kaufmannschaft« braucht es gar nichts zu tun zu haben. Es ist genau derselbe Geist, der den Kolumbus nach Westen hat segeln lassen, der den Goldgräber in wasserlose Einöden führt, der einen jungen Kaufmann seine sichere Stellung aufgeben läßt, um sich selbständig zu machen, derselbe Geist, der in Wolle spekuliert, oder in fernen Ländern Handelsbeziehungen anknüpft oder einen deutschen Bauern nach Amerika auswandern läßt. Alles dasselbe, alles dasselbe.

Mag diese Andeutung genügen.

Es ist immer ein Werfen mit der Wurst nach dem Schinken.

Jedenfalls aber wäre ohne diesen Charakterzug, dem man nach Belieben nachgeben kann, den meisten Menschen das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert. –

Dieser Geist war es, der unser ganzes Schiff erfaßt hatte.

Ja, das Schiff selbst kam dabei stark mit in Betracht.

Es wurde alles gleich schriftlich formuliert, ich selbst tat das, schrieb auf, was die Beratungen der Mannschaft zu Tage förderte, legte es dann der Patronin vor, die es gut hieß oder Änderungen vorschlug, und so kamen nach und nach regelrechte Statuten zustande, welche den Wert eines Kontraktes hatten, wenn dies anfangs auch nicht beabsichtigt gewesen war.

Eine professionsmäßige Schauspielertruppe und Gauklerbande wollten wir natürlich nicht werden, dem Seemannsberuf wollten wir treu bleiben.

Die erste Verpflichtung war, daß wir in keinem gemieteten Theater auftraten, sondern nur in unserem eigenen. Und das konnte nur unser Schiff sein.

Also wir würden solche Vorstellungen fernerhin nur noch auf oder in unserem Schiffe geben. Hierzu fehlten bei dem ursprünglichen Kriegsschiffe allerdings die Räumlichkeiten. Aber die waren leicht zu schaffen, ein Theatersaal, der mindestens tausend Zuschauer faßte. Wie wir das machten, werde ich später schildern.

Es waren gerade einige der simpelsten Matrosen, die sofort argwöhnten, daß wir dadurch unserem Seemannsberufe untreu werden könnten. Schauspielern und schauspielern, um Geld zu verdienen – na, und je mehr man Geld in die Kasse bekommt, auf die Bank bringt, destomehr will man doch haben. Das ist doch die alte Geschichte.

»Das machen wir ganz einfach so!« schlug sofort ein Matrose vor. »Es darf nur geschauspielert werden, wenn sich in der Schiffskasse weniger als – na sagen wir tausend Mark, 50 Pfund befinden. Dann dürfen wir eine Vorstellung geben, um wieder Geld zu verdienen. Mit dem Gelde werden die Heuern bezahlt, wird alles angeschafft, was wir brauchen, und dann darf so lange nicht mehr gespielt werden, bis wieder weniger als 50 Pfund in der Kasse sind.«

Wohl, ich ging mit diesem Vorschläge zur Patronin. Und die gab fröhlich lachend ihre Bestätigung. Und auch Kapitän Martin lächelte, als er, sein »Well« sagte.

Hiermit war die Hauptsache der ganzen Geschichte, des neuen Verhältnisses, erledigt. Denn wenn die Reederei kein Betriebskapital hat, nur noch eine Pumpstation, dann darf man in Bezug der Mannschaft wirklich von einem neuen, besonderen Verhältnis reden.

Und wenn wir nun einmal ein lohnendes Wrack ausnahmen? Nun, dann wurde eben nach den Gesetzen gehandelt. Sich nur ja nicht außerhalb der Gesetze stellen! Wer das getan hat, der ist noch immer zugrunde gegangen! Alle Gesetze sind von Menschen geschaffen worden, die sich dazu für befähigt hielten und dabei nach bestem Wissen und Willen gehandelt zu haben glaubten. So muß man wenigstens annehmen. Irren ist freilich menschlich. Und Ausnahmen bestätigen die Regel. Also muß man auch solchen Gesetzen sich unterordnen, sonst gerät man schnell auf die schiefe Bahn. Ich glaube, da denke ich ganz vernünftig, und so dachten wir alle, weil wir alle Seeleute waren, die da ihre eigenen Ansichten haben.

Also die Hälfte des Bergelohns der Patronin, die ihr Schiff riskierte, ein Viertel dem Kapitän, der seinen Ruf riskierte, das letzte Viertel der Mannschaft, zu der als Kargo-Kapitän in diesem Falle auch ich gehörte. Wenn wir unser Teil gleichmäßig verteilten, so war das unsere Sache. Und wenn wir nun ein Wrack oder sonst etwas fanden, was keinen Besitzer oder Erben mehr hatte? Denn so etwas gibt es doch auch. Oder uns auf eine Spekulation einließen, wie etwa auf die Hummern? Nun, dann kam der Verdienst eben in die gemeinschaftliche Kasse. Wie da der Anspruch war, das konnte ja später noch erörtert werden.

Hierbei erwähne ich gleich einmal, daß der erste Maschinist noch nicht ersetzt war. Der zweite und dritte waren eben höher gerückt, einen dritten brauchten wir gar nicht, ebensowenig wie einen dritten Steuermann. Matrosen, Heizer und auch Offiziere hatten sich ja schon massenhaft angeboten, besonders hier in Kapstadt nach unseren verschiedenen Triumphen. Sie wollten so gern an Bord der »Argos«. Gut, wenn wir einen uns passenden Mann fanden, wollten wir ihn gern in unseren Kreis reihen. Aber wir hatten noch keinen gefunden. Fremde nahmen wir natürlich nicht so leicht auf. Das mußte überhaupt von ganz allein die Gelegenheit mit sich bringen. –

Am Abend desselben Tages, da sich diese letzten Szenen abgespielt hatten, wurde ich in die Kajüte zur Patronin gerufen.

Auch Kapitän Martin war da, hatte die Gauklerbriefe gesichtet, der Patronin einen zu lesen gegeben, so schmutzig und schwierig aussehend wie die meisten anderen.

»Hm,« brummte die Patronin, die letzte Seite lesend, »also nach dem Amazonenstrome.«

»Well, ich halte diesen Vorschlag für den solidesten.«

»Hm. Ja. Darf ich den Brief dem Waffenmeister geben?«

»Well, deshalb ist er ja da.«

Ich nahm den Brief und las. Er war englisch geschrieben, aber sehr fehlerhaft, ich merkte gleich an verschiedenen Ausdrücken und Interpunktion und dergleichen – zum Beispiel wurde das Fragezeichen sowohl hinter als vor den Satz gestellt – daß der Schreiber ein Spanier sein mußte, was die Unterschrift auch bestätigte, und überhaupt der ganze Brief war spanisch!

Der Schreiber, Sennor Adamita Lopez, kannte das Eldorado mit seinen unermeßlichen Goldschätzen, offerierte sie uns.

Ich sage »das Eldorado«. Das ist an sich ein Unsinn. Das spanische el ist schon ein Artikel. Also sagt der Gebildete« das Dorado, ohne zu wissen, daß das auch wiederum falsch ist. »Dann müßte es im Spanischen Lodorado heißen. El ist der.

Also bleiben wir, um aus dieser Drehe herauszukommen, nur ruhig bei »das Eldorado«, wie es unsere Großväter gesagt haben, ohne sich um den Ursprung des Wortes zu kümmern und doch genau wissend, was sie damit meinten.

El dorato heißt »der vergoldete«, wozu also etwas zu ergänzen ist. Nämlich das Wort »Mann«. Der vergoldete Mann. Wir haben im Laufe der Zeit »das goldene Land« daraus gemacht.

Ich werde hier einfach eine Lesung wiedergeben, wie sie in einem neuen Konversationslexikon steht.

Eldorado, der Vergoldete, nannte man in Europa den Beherrscher eines angeblich an Gold und Edelsteinen überreichen Landes in Südamerika, der mit Goldstaub belegt sein sollte. Die Erzählung hat, wie es scheint, ihren Grund in einem Bruch, der unter den Chibche geübt ward und der darin bestand, daß an einem bestimmten Tage der Kazike von Guatavita mit Goldstaub überzogen sich auf einem Floß, auf den heiligen See von Guatavita hinaus begab, dort Opfergaben brachte und dann den Goldstaub im Wasser des Sees abwusch. Später wurde der Name auf das Goldland selbst übertragen, dessen Dasein seit dem 16. Jahrhundert für eine ausgemachte Sache galt, und dasselbe in die Gebirge im spanischen Guayana, an den Parimesee, bei den Quellen des Oyapoc, verlegt. Glücksritter und unternehmende Männer, wie Georg von Speyer (1536), Philipp von Hutten (1541), Walter Raleigh (Ende des 16. Jahrh.), Lorenz Keimis (1596), Nikolas Horsmann (1740) usw. bemühten sich, die Stadt Manoa del Dorado mit ihren Dächern aus Gold, in die sich die Reste der Inkafamilie zurückgezogen haben sollten, aufzufinden. Wiewohl aber ein Engländer gegen das Ende des 16. Jahrhunderts selbst eine Beschreibung und eine Karte des Landes erscheinen ließ, mußte es doch, gleich dem Parimesee, endlich in das Reich der Dichtung verwiesen werden. Indessen ließ sich der Spanier Antonio Santos nicht abhalten, noch 1780 auf eine Entdeckung des Goldlandes auszugehen.–

Soweit das Konversationslexikon.

Erwähnen will ich noch, daß jener Engländer, der Beschreibung und Karte veröffentlichte, George Malvalle hieß. Ich habe später einmal dieses Buch mit der Karte in der Bibliothek des Britischen Museums selbst in der Hand gehabt. Jedenfalls höchst interessant, wenn man auch gleich merkt, daß alles nur Phantasie ist. Vor allen Dingen bleibt jener Engländer, der selbst dort gewesen sein will, die Erklärung schuldig, weshalb er kein Gold eingesackt hat.

Nun also wollte hier der Sennor Adamita Lopez wissen, wo dieses Goldland lag. Es wurde von einem Nebenflusse des Amazonenstromes durchflossen, auch mit unserem Schiffe zu erreichen. Näher bezeichnete er die Lage natürlich nicht. Er selbst war nicht dort gewesen, wohl aber sein Freund. Der hatte auch die Goldklumpen und Edelsteine schaufelweise eingesackt, hatte aber bei einer Verfolgung durch Indianer alles im Stiche lassen müssen, um sein nacktes Leben zu retten. Auf dem Hinwege hatte er eine genaue Karte über das in Frage kommende Flußgebiet entworfen, hatte sie bei seinem Tode seinem Freunde vermacht, hier dem Briefschreiber. Und nun bot der uns diese Schätze an, gegen Teilung des Gewinnes. Er die Hälfte, wir die Hälfte. –

Als ich dies gelesen hatte, da war ich – einfach paff!

Das hielt Kapitän Martin für den solidesten Vorschlag!

Ich hatte auch schon einige solcher Gauklerbriefe gelesen. Da war mancher darunter, dem man hätte trauen können.

Warum sollte denn solch ein Matrose nicht wissen, wo in erreichbarer Tiefe das Wrack eines Schiffes lag, das einige Goldbarren an Bord gehabt hatte? Er selbst war auf diesem Schiffe gewesen, war der einzige Überlebende, kannte die Lage des Wracks ganz genau.

Da waren uns aber auch noch ganz, ganz andere Vorschläge gemacht worden. Einer immer verrückter als der andere.

Als Kuriosum erwähne ich nur, daß solch ein Seegaukler wissen wollte, wo die Juden anno dazumal durch das Rote Meer trockenen Fußes gezogen waren, und da hätten sie, behauptete der Kerl, die Hälfte der goldenen Tempelschätze verloren, die sie aus Ägypten hatten mitgehen heißen – und wo die nun im Roten Meere lagen, das wollte der wissen!

Na, und da war mir dieser Vorschlag denn doch noch solider, als der mit dem Eldorado.

Ach, wir Seeleute, die wir nach Südamerika gekommen sind, wir können ja von diesem Eldorado etwas erzählen!

Jedes Schiff, besonders jeder Passagierdampfer, der nach Para oder einem Hafen von Guayana oder Venezuela kommt, wird immer gleich von verlumpten Individuen, Spaniern und Portugiesen, geradezu überschwemmt, die einen direkt nach diesem märchenhaften Goldlande führen wollen. Man wird sie nicht eher wieder los, bis man ihnen eine Kupfermünze oder wenigstens eine Zigarette geschenkt hat.

Und da nannte Kapitän Martin dies hier den Vorschlag, den er für den solidesten hielt?

Merkwürdig, ganz merkwürdig! Der mußte gerade mit dem Eldorado gar keine Erfahrungen haben.

»Hm,« brummte jetzt auch ich, wie vorhin schon die Patronin gebrummt hatte, »also um das Eldorado handelt es sich –«

»Um was?« fragte Kapitän Martin.

»Um Eldorado, um das sagenhafte Goldland –«

»Wuoat?!« machte der Kapitän jetzt in noch ganz anderer Weise.

»Na, hier steht doch, daß –«

»Geben Sie mal den Brief her.«

Er nahm ihn und blickte nur auf die erste Seite.

»Nanuu! Ich habe den Brief verwechselt. Der hier muß gerade so aussehen. Warten Sie, ich hole den richtigen, jetzt weiß ich, wo er liegt. Nee, mit dem Eldorado wollen wir lieber nischt zu tun haben.«

Er entfernte sich schnell.

Ach so! Der hatte uns aus Versehen einen falschen Brief zu lesen gegeben!

Jetzt fing auch die Patronin zu lachen an – »drum, ich denke doch!« – die kannte eben auch schon etwas von diesem Goldlande.

Der Leser aber wird später merken, daß diese Einleitung doch nicht umsonst gewesen war. Kapitän Martin kehrte sehr schnell zurück, mit einem anderen Briefe, der jenem tatsächlich sehr ähnlich sah. Besonders war er ebenso schmutzig und schmierig und fettig. Aber der Inhalt bestand nur aus wenigen Zeilen. Gerichtet an Sennora Helene Neubert, Patrona der »Argos«. Die englisch und orthographisch, aber wie mit einem Besen geschriebenen Zeilen lauteten:

Ich offeriere Ihnen eine wilde Chinarindenkultur, die ich am Amazosnas kenne. Eine vollständige Ausbeutung derselben schätze ich auf mindestens vier Millionen Milreis. Für die Sicherheit meines Projek- tes garantiere ich mit einem vollwertigen Einsatz.

Montezuma della Estrada.
Prospektador.
Q. B. S. M.

»Aaah, ein Prospektador!« rief ich zunächst.

Im englischen Amerika heißen Prospektors die Goldgräber oder richtiger die Goldsucher. Sie selbst nennen sich mit Stolz so, bilden eine eigene Zunft. Sie kundschaften also erst aus, wo Gold vorhanden sein könnte, wozu ja allerdings eine große Erfahrung nötig ist, dann leiten sie gewöhnlich eine Expedition dorthin und nehmen nur Prozente von dem Gewinn, unterscheiden sich insofern von den eigentlichen Goldgräbern.

Im spanischen Amerika sind dasselbe die Prospektadores. Das ist aber noch ein weiterer Begriff geworden, diesem Worte haftet ein Makel an. Nicht nur Schatzsucher, sondern auch Schatzschwindler. Vielleicht hat auch schon ein deutscher Leser mit ihnen Bekanntschaft gemacht. Es gibt Perioden, wo auch Deutschland mit den Prospekten solcher spanischen Schatzschwindler geradezu überschwemmt wird. »In Ihrer Nähe ist ein Schatz vergraben, eine französische Kriegskasse, ich habe das Geheimnis von meinem Großvater, schießen Sie mir die Unkosten der Reise vor, dann komme ich hin, wir teilen den Schatz zusammen.« Oder auf dem Bahnhofe liegt ein Koffer, er enthält wertvolle Sachen, womöglich gestohlene Pretiosen, er muß mit einigen hundert Mark eingelöst werden.

Das ist der Geschäftsbetrieb der spanischen, Prospektadores. Also Schatzschwindler. Ursprünglich aber war es eine ganz ehrliche Zunft, wenn auch noch so abenteuerliche Glücksritter.

»Well,« meinte Kapitän Martin auf meinen Ausruf, »es ist gar kein schlechtes Charakterzeichen, daß er sich gleich selbst einen Prospektador nennt.«

»Was bedeuten die vier Buchstaben darunter? Q. B. S. M.?«

»Que besan sus manos!« erklärte der Kapitän. »Welcher Ihre Hände küßt. Das spanische »Hochachtungsvoll«, der Unterschrift nachgesetzt.«

Ich konnte etwas Spanisch, das lernt man schon, wenn man einige Reisen nach Südatnerika macht – mein Kollege schien aber doch noch mehr zu können als ich.

»Well, wir wollen doch mal den Mann kommen lassen. Dort am Amazonenstrome wächst der Chinabaum, und diese ungeheuren Wälder, ein Gebiet fast so groß wie ganz Europa einnehmend, sind uns ja fast noch gänzlich unbekannt, man kann gar nicht eindringen, nur auf Wasserstraßen, die man aber auch erst finden muß. Weshalb soll der nicht einmal eine wilde Chinarindenkultur entdeckt haben. Wilde Kultur? Das ist zwar ein Paradoxon, aber doch nicht so unlogisch. Auch die Natur kann doch eine Kultur anlegen. Er will damit ausdrücken, daß dort nichts weiter als Chinabäume wachsen, wie in einer von Menschenhänden gepflegten Kultur.«

»Und wie hoch schätzt er die Ausbeutung?« fragte die Patronin, obgleich sie den Brief selbst gelesen hatte.

»Auf vier Millionen Milreis. Das wären noch etwas mehr als sechzehn Millionen Mark.«

»Wie ist denn das möglich?«

Nun, da war gar nichts so Unmögliches dabei.

Kapitän Martin hatte bereits in Handbüchern nachgelesen, konnte uns Auskunft geben, auch jetzt noch zogen wir einige Bücher zu Rate.

Chinin, ein weißes, ungemein bitter schmeckendes Pulver, ist das einzig sichere Mittel gegen Wechselfieber, welches es vollständig neutralisiert, aber auch von unschätzbarem Werte bei allen anderen Arten von Fiebern, wie Sumpffieber, Malaria, Kindbettfieber usw., usw.

Alle Fieberzustände beruhen auf einer Zersetzung des Blutes, die Eiweißbestandteile des Blutes werden vernichtet. Durch geordneten Genuß, von Chinin aber wird der Eiweißbedarf des Körpers auf ein Minimum reduziert, die Fieberbakterien haben keinen Angriffspunkt mehr.

Ohne Chinin können wir Nordländer in den tropischen Gegenden gar nicht existieren, nicht einmal die Rolle von ganz passiven Aufsehern über die gegen Fieber immunen Eingeborenen spielen. Und man braucht nur einmal eine Reise nach den Tropen gemacht zu haben, nur ein einziger Tag Aufenthalt im Hafen, so ist man schon mit Fieberbazillen infiziert, man siecht auch im kalten Norden am immerwiederkehrenden Wechselfieber – ohne Chinin!

Gegenwärtig wird der Chininverbrauch auf der ganzen Erde auf jährlich 250 000 Kilogramm im Werte von elf Millionen Mark (Engros-Preis) geschätzt, wobei aber zu bedenken ist, daß es noch eine Unmasse, eine Legion von ähnlichen Fiebermitteln gibt, welche wohl auch ähnlich wirken, aber das echte Chinin, den Auszug aus der Rinde des Chinabaumes, nicht im entferntesten ersetzen können.

Die Nachfrage ist also viel größer als das Angebot. Man legt wohl überall Chinakulturen an, aber man kann den Bedarf noch immer nicht decken. Die Rinde dieser künstlichen Kulturen hat auch nicht die intensive Wirkung, wie die der wildwachsenden Bäume.

Ja, unsere moderne Chemie kann sogar das Chinin in der Retorte darstellen, auch im Großen, ganz billig. Nach der chemischen Zusammensetzung ist es genau dasselbe Chinin, hat auch denselben Geschmack. Da zeigt aber wieder einmal die Natur, daß sie sich nicht so leicht ins Handwerk pfuschen läßt. Dieses künstliche Chinin hilft nicht gegen Fieber. Weshalb nicht, das wissen wir nicht. Nur den Magen kann man sich damit ruinieren, was allerdings auch beim natürlichen Chinin der Fall ist, wenn man die Sache übertreibt; denn so ganz ungestraft läßt die Natur doch niemals ihrer spotten.

Die Heimat des echten Chinabaumes – weshalb dieser Baum kurzerhand »China« genannt wird, das habe ich nicht ergründen können – sind die Gebirgsabhänge der Anden vom westlichen Venezuela bis zum nördlichen Bolivia. Das heißt, dort kommt er in Masse vor. Man findet ihn aber im ganzen nördlichen Südamerika, an Stellen, wo man ihn gar nicht vermutet, und gerade an Flußniederungen enthält die Rinde außerordentlich viel Prozent Chinin von bester Wirkung.

Ja, wenn man solche Bäume nur finden könnte! Heute gibt es besonders auf Ceylon, Java und Jamaika riesige Kulturen. Aber dort ist man schon zufrieden, wenn man nur ein einziges Prozent Chinin in der Rinde hat! Die wildwachsenden Bäume haben bis zu zehn Prozent! Und noch von ganz anderer Wirkung! Was man schon im voraus durch Bestimmung eines Alkaloides erkennen kann.

Der wilde China ist ein Baum bis zu 40 Meter Höhe und 3 Meter Stammdurchmesser. Die Rinde wird abgeschält, wobei es gleichgültig ist, ob er erst gefällt wird oder nicht. Die Rinde nur teilweise abzuschälen, um den Baum am Leben zu erhalten, daß er die verlorene Rinde womöglich wieder ergänzt, das ist bisher nicht gelungen. Der Baum geht durch Saftverlust unter allen Umständen zugrunde. Also zieht man ihn gleich ganz ab.

Ein mittlerer Baum von 20 Meter Höhe und anderthalb Meter Stammdurchmesser liefert im Durchschnitt 10 Zentner getrocknete Rinde, die als solche in den Handel kommt. Der Wert wird bestimmt nach dem »Unit«, was ein Prozent Chiningehalt bedeutet. Das englische Pfund-Unit kostet heute anderthalb Pence, gleich 12 Pfennig. Da nun die wilde Rinde mindestens fünf Units hat, kostet das englische Pfund Rinde mindestens 50 Pfennig, also liefert solch ein Baum für mindestens 500 Mark Rinde. Das ist aber ganz bescheiden gerechnet.

Wo die wilden Chinabäume vorkommen, da stehen sie trotz ihrer Höhe eng zusammen, dulden keine anderen Bäume zwischen sich. Man rechnet auf 100 Quadratmeter mindestens einen ausgewachsenen Baum.

Der Prospektador schätzte die Ausbeutung auf sechzehn Millionen Mark. Dazu wären bei 500 Mark pro Baum 32 000 Bäume nötig gewesen. Die konnten also unter Umständen auf drei Quadratkilometer stehen. –

So hatte uns Kapitän Martin vorgerechnet, gleich mit Bleistift auf Papier.

Ich horchte nicht schlecht, und die Patronin bekam immer größere Augen.

»Frau Patronin, da könnten Sie ja gleich das Doppelte Ihres verlorenen Geldes wieder verdienen!« sagte ich.

»Ja, spotten Sie nur!«

»Well, da gibt es gar nichts zu spotten!« nahm mein Kollege für mich Partei. »Ich habe einmal im Amazonenstrom ein Inselchen besucht, und da standen vier große Chinas drauf. Mehr hatten gar nicht Platz drauf. Und das war gar nicht weit von Manaos entfernt, dieser großen Stadt mit 45 000 Einwohnern. Und niemand ahnte etwas von diesen kostbaren Bäumen. Dort wimmelt es ja freilich von solchen Inselchen, und niemand hat ein Interesse daran, sie zu besuchen. Es ist auch wegen der Stromschnellen sehr gefährlich. Ich ließ die vier Bäume abrinden, erhielt in Manaos sofort 540 Milreis dafür bezahlt, ungefähr 2400 Mark. Und was haben denn dort drei Quadratkilometer zu bedeuten? Ich halte es schon für möglich, daß jemand so eine wilde Kultur kennt.«

»Warum beutet der Mann das da nicht selbst aus?« mußte dann wohl unsere nächste Frage sein.

»Ja, warum nicht?! Weshalb führt auch der solideste Prospektor lieber eine Expedition nach dem von ihm gefundenen Geldgebiet, als daß er selbst zur Hacke und Schaufel greift? Der weiß schon, warum er es tut. Vielleicht ist dort ein Indianergebiet. Die schießen mit vergifteten Pfeilen. Auf solche Möglichkeiten muß man sich bei so etwas natürlich gefaßt machen. Die gebratenen Tauben fliegen einem nicht in den Mund.«

»Womit will er denn für die Sicherheit des Unternehmens garantieren?«

»Das mag er uns selbst sagen. Also wollen wir den Mann kommen lassen?«

Na gewiß doch wollten wir!


18.
KAPITEL. EIN LEBENDES RÄTSEL.

Seine Adresse stand am Kopfe des Briefes.

Es war ein »Hotel«, in Wirklichkeit in der ältesten Hafenstraße die größte Räuberspelunke von Kapstadt, das Hotel zur Schildkröte.

»Wer dort logiert, der sieht aber gar nicht danach aus, als ob er für alle Unkosten solch einer Expedition garantieren könne!« meinte ich.

»Well, wir werden ja sehen.«

Kapitän Martin schrieb den Brief, die Patronin unterzeichnete ihn nur. Ein Matrose wurde hingeschickt.

Nach 20 Minuten kam er zurück, allein.

»Der Mann wohnt gar nicht dort, hat dort nur seine Adresse. Na, das ist ja eine Spelunke! Und der Wirt war gar nicht gut zu sprechen auf den Hidalgo, wie er ihn nannte. Einen größeren Hungerleider gebe es nicht.«

»Holt er denn den Brief ab?«

»Ja, es wäre möglich, daß der Hidalgo heute abend noch einmal käme. Ihm geben wollte der Wirt den Brief, mehr könnte er nicht sagen.«

Es verging nur eine halbe Stunde, als Sennor Montezuma della Estrada gemeldet wurde. Ich befand mich noch in der Kajüte bei der Patronin, der Kapitän wurde schnell gerufen.

Na, das war ja eine Gestalt, die da eintrat!

Ich hatte schon manches merkwürdige Individuum gesehen, aber so eines noch nicht!

Die Hauptsache an ihm war ein weiter, schmieriger Mantel von unbestimmter Farbe, der ihn vom Kinn bis zu den Füßen einhüllte. Diese letzteren hatte er wie die Slowaken – aber auch wie die spanischen Basken – mit Lederstreifen umwickelt, was gerade noch zu sehen war. Dann auf dem Kopfe ein Sombrero, ein schäbiger Filzhut mit mächtiger Krempe, tief, tief in die Stirn gedrückt, so daß man von dem mumienhaft eingetrockneten, bartlosen Gesicht nicht viel mehr als die lange, schmale Adlernase und die scharfen Adleraugen sah.

Die linke Hand hatte er unter dem Mantel, hielt diesen zusammen, und vorn aus einem Schlitze – Ärmel – hatte der Überwurf, ein Poncho, gar nicht – sah die rechte Hand hervor, die ausgedörrte Hand einer Mumie, nur aus Knochen und gelber Haut bestehend, schmutzig, an den Spinnenfingern reichlich zollange Nägel, ganz spitz, wie bei einem Raubvogel, und zwischen diesen Krallen hielt er eine brennende Zigarette, die er ab und an die blutleeren Lippen führte, wobei aber, da er sich hierzu stets bückte, sein Gesicht immer vollends verschwand.

Ich bemerke gleich, daß er ständig Zigaretten rauchte. Konnte er das Stummelschen nicht mehr halten, so verschwand die rechte Hand unter dem Mantel und kam gleich mit einer neuen, schon brennenden Zigarette zum Vorschein. Das besorgte er alles unter dem Mantel. Den glimmenden Stummel mußte er ausdrücken und einstecken.

So stand er vor uns. Unbeschreiblich! Diese Krallenhand, diese Nase, diese Raubvogelaugen – ganz unheimlich!

Wirklich, ich hätte mit diesem Manne nicht allein sein mögen!

»Montezuma della Estrada, Prospektador!« stellte er sich vor und ließ das Fragment seines Mumiengesichtes vollends verschwinden, weil er den Kopf beugte um aus der Zigarette in seiner Hand, deren Lage er nicht veränderte, einen Zug zu inhalieren.

Und diese Stimme! Nicht nur total heiser, sondern wie ein zischendes Krächzen klingend.

»Well!« übernahm Kapitän Martin, wie ausgemacht, das Verhör. »Sprechen Sie Englisch?«

»Si, si, Sennor!« wurde gekrächzt.

»Sie wissen am Amazonenstrome eine Stelle, wo wilde Chinabäume stehen?«

»Si, si, Sennor.«

»Wo?«

»Ich weiß es.«

Das hatte er aber immer noch auf Spanisch gesagt. Oder doch: Ich weiß.

Das Verbum wissen heißt auf Spanisch saber. Es wird unregelmäßig konjugiert. Ich weiß heißt yo se. Aber das Fürwort läßt der Spanier für gewöhnlich weg. Er sagt nur: se, gleich ich weiß.

Aber der Spanier konjugiert dieses Verbum unter Umständen auch regelmäßig, obgleich es grammatikalisch nicht erlaubt ist, Dann sagt er anstatt »ich« auch noch »mein«, also »mi« anstatt »yo«. Also sagt er »mi sabe.« Sowie es jetzt auch dieser Mann getan hatte.

Ich muß dies anführen, falls einer meiner Leser Spanisch kann und dann sagt: Mi sabe – das gibt’s ja gar nicht!

Nein, in Grammatiken und Schulbüchern steht es allerdings nicht. Aber man soll nur nach Spanien und nach Südamerika kommen, wie oft man es dort hört: mi sabe! Allerdings auch nur bei besonderer Gelegenheit. Es ist die stärkste Bejahung, oder vielmehr die größte Betonung einer Behauptung, deren der stolze Spanier fähig ist. Mi sabe – – Halt’s Maul, ich weiß es, nun aber keine Widerrede mehr!«

»Mi sabe.«

»Nebenfluß des Amazonenstromes?«

»Nebenfluß.«

»Auf wclchem?«

»Mi sabe.«

»Vor oder hinter Manaos?«

»Mi sabe.«

Nun weiß der Leser, was dieses »mi sabe.« unter Umständen bedeutet. Ich weiß es – Du brauchst es nicht zu wissen.

»Können wir mit diesem Schiffe bis hinfahren?«

»Si, si, Sennor.«

»Wissen Sie, wie tief dieses Schiff geht?«

»Mi sabe.«

»Nun, wie tief?« ließ diesmal Martin aber nicht nach. »Das Wasser ist tief genug, um mit diesem Schiffe bis in die Mitte des Gebietes zu fahren. Mi sabe.«

»Wie lange braucht man von Para aus?«

»Mi sabe.«

Es war nichts zu machen.

»Ist es gefährlich dort?«

»No, Sennor.«

»Fieber?«

»No, Sennor.«

»Kriegerische Indianerstämme?«

»No, Sennor.«

»Wie groß ist das Gebiet?«

»Mi sabe.«

Also auch so etwas wollte er nicht einmal andeuten. »Sie schätzen den Wert auf vier Millionen Milreis?«

»Si, si, Sennor.«

»Waren Sie selbst schon dort?«

»Si, si, Sennor.«

»Wieviel Prozent Chinin?«

»Sieben bis zehn Units.«

»Well. Weshalb beuten Sie denn das nicht selbst aus?«

»Mi sabe.«

»Sie selbst führen uns hin?«

»Si, si, Sennor.«

»Ohne weitere Begleitung?«

»Ich allein.«

»Die Arbeit des Abrindens soll auch unsere Mannschaft ausführen?«

»Si, si, Sennor.«

»Welchen Anteil wollen Sie am Gewinn haben?«

»Nichts.«

Es war sofort ausgesprochen worden, heiser hervorgezischt.

»Sie wollen gar nichts davon haben?«

»Nichts.«

Wir blickten uns an.

»Ja aber warum denn nur nicht?!« fragte die Patronin.

»Mi sabe.«

Es war wiederum ausgesprochen worden, wie es eben nur ein Spanier aussprechen kann, und wenn er auch noch in ganz andere Lumpen gehüllt ist.

»Well!« nahm wieder Martin das Wort. »Also keinen Anteil am Gewinn. Was fordern Sie sonst?«

»Nichts.«

»Auch kein Gehalt?«

»Nichts. Nur Brot, Zwiebeln und Wasser.«

Wir blickten uns wieder an. Wenigstens die Patronin und ich. Der Kapitän hob nur etwas die Schultern.

»Well. Nun schrieben Sie doch davon, daß Sie für die Sicherheit des Unternehmens garantieren könnten. Einen vollwertigen Einsatz für unsere Unkosten geben wollten.«

»Si, si, Sennor.«

»Womit garantieren Sie?«

»Con eso – hiermit!«

Auch seine linke Hand schlüpfte einmal hervor und warf etwas auf den Tisch.

Anfang

Alle Wetter noch einmal!

Es war ein runder Diamant von der Größe einer welschen Nuß in Brillantschliff, gefaßt in einen goldenen Ring. Aber nicht etwa als Fingerring! Um den ganzen Diamanten zog sich eine breite Goldscheibe herum, in der saß er drin.

Ich habe später im Louvre zu Paris den »Regent« gesehen, auch »Pitt« genannt. 136 Karat. Es ist nicht der größte, wohl aber der schönste aller bisher bekannten Diamanten, daher auch der kostbarste. Sein Wert wird heute auf 15 Millionen Franken geschätzt.

Dieser Diamant, den ich hier sah, der war noch größer und noch viel, viel schöner als der Regent.

Fabelhaft war das Feuer, das im Scheine des elektrischen Lichtes von denn Dinge ausstrahlte! Ein Feuermeer in allen Farben des Regenbogens!

Nur Kapitän Martin blieb ganz gelassen, so nahm er den Diamanten vom Tisch.

»Sie gestatten mir wohl die Frage,« konnte auch dieser kalte Seebär sehr höflich sein, »ob dieser Diamant Ihnen gehört?«

»Si, si, Sennor.«

»Wo haben Sie denn den her?!« staunte jetzt die Patronin, viel weniger höflich als der Kapitän, welche Frage aber verzeihlich war.

»Mi sabe.«

»Ist denn der auch wirklich echt?!«

»Si, si, Sennora.«

Heute nachmittag war in der Kajüte die undichte Glasscheibe eines Bollauges nachgezogen worden, sie war dabei gesprungen, die beiden Hälften lagen noch auf dem Nebentisch. Solch eine Glasplatte ist zolldick.

Der Kapitän nahm eine Hälfte.

»Gestatten Sie, daß ich das Glas ritze?«

»Si, si, Sennor.«

Erst ritzte der Kapitän allerdings nur, dann drückte er bedeutend stärker auf, nahm die Scheibe in beide Hände – sie brach sofort durch. Zollstarkes Glas!

Ein Zeichendes echten Diamanten ist das ja allerdings noch nicht. Es gibt noch andere Steine und auch Metalle – Iridium – die Glas schneiden.

Kapitän Martin führte den Diamanten an den Mund und hielt längere Zeit die Zunge daran.

So sollen es die Diamantenhändler machen, wenn sie sonst kein Mittel bei der Hand haben, um die Echtheit eines Steines zu prüfen. Was sie dabei mit der Zunge herausfühlen, weiß ich nicht.

»Natürlich, das ist ein echter Diamant da, ist gar kein Zweifel dran, und zwar einer vom reinsten Wasser.«

»Si, si, Sennor.«

»Wie hoch schätzen Sie den Wert dieses Diamanten?«

»Mi sabe.«

»Sie wollen mit ihm dafür bürgen, daß wir dort für vier Millionen Milreis Chinarinde erbeuten?«

»Si, si, Sennor.«

»Dann schätzen Sie also doch auch diesen Diamanten aus vier Millionen Milreis?«

»Si, si, Sennor.«

Der Kapitän wog das schimmernde Ding in seiner Hand.

»Well, dann dürfte er nicht zu hoch taxiert sein. Also Sie deponieren diesen Diamanten bei der Siennora Patrona?«

»Si, si, Sennor.«

»Wollen wir das schriftlich machen?«

»No, Sennor.«

»Erbeuten wir dort, wohin Sie uns führen, nicht für vier Millionen Milreis Chinarinde, dann gehört dieser Diamant der Sennora Helene Neubert?«

»Si, si, Sennor – si, si, Sennora.«

»Well, Frau Neubert, nehmen Sie diesen Diamanten unter Verschluß.«

Mit etwas zitternder Hand nahm die Patronin den funkelnden Stein, verschwand hinter der Panzertür, kam wieder zum Vorschein.

Ja, mir wurde auch immer seltsamer zumute. Nur Kapitän Martin blieb ganz ungerührt.

»Wann können wir die Expedition antreten?«

»Ahora – jetzt.«

»Jetzt sofort Kapstadt verlassen?«

»Si, si, Sennor Capitano.«

»Well, wir wären dazu imstande. Wir könnten in spätestens drei Wochen in Para sein. Ist jetzt die Zeit zu der Expedition auch günstig?«

»Si, si, Sennor.«

»Wegen der Wasserverhältnisse?«

»Si, si, Sennor.«

»Die Regenzeiten sind im Amazonasgebiete auf den verschiedenen Flußgebieten total verschieden.«

»Mi sabe.«

»Also mit der Regenzeit hat es gar nichts zu tun?«

»No, Sennor.«

»Wieviel Bäume sind wohl abzurinden?«

»Mi sabe.«

»Nein, Sennor, hierüber möchte ich doch eine nähere Auskunft haben. Gezählt werden Sie sie ja nicht haben, aber ungefähr taxieren werden Sie doch können, sonst könnten Sie nicht auch so bestimmt von vier Millionen Dollars sprechen.«

»Ungefähr 30 000 Bäume.«

Da – unsere Berechnung hatte gestimmt!

»In welcher Zeit könnten wir die entrinden?«

»Wieviel Leute haben Sie für diese Arbeit zur Verfügung?« fragte der Spanier erst ganz richtig.

»Well – sechzig Mann könnten sich daran beteiligen.«

»In vierzig Wochen!« erklang es jetzt sofort.

»Wie berechnen Sie das?«

»Jeder Mann pro Tag zwei Bäume. Macht in der Woche mit Ausschluß des Sonntags 720 Bäume. In vierzig Wochen wäre es geschehen.«

»Well, diese Berechnung stimmt. Ich weiß, daß zwei Cascarilleros ganz bequem täglich sechs große Bäume abziehen, auf vier würden es zwei unserer Jungens wohl auch bringen, gleich im Anfang, und ich kalkuliere, daß die bald noch viel schneller arbeiten würden; denn was ich von den Cascarilleros gesehen habe, das hat mir nicht besonders imponieren können. Wohl sind sie gewandt wie die Affen, und sehr gefährlich sieht es aus, wenn sie die Rinde oben anschneiden und sich an dem abschälenden Streifen herablassen, aber das ist auch so unpraktisch wie möglich, da würden wir wohl bald anders arbeiten.«

»Si, si, Sennor!« stimmte die Mumie denn auch bei.

»Also wollen wir uns auf ein Jahr gefaßt machen.«

»Si, si, Sennor.«

»Wir sind aber nur für ein halbes Jahr mit Proviant versehen.«

»Mi sabe.«

»Woher wollen Sie denn das wissen?«

»Mi sabe.«

»Well. So müssen wir uns erst noch für ein weiteres halbes Jahr verproviantieren.«

»Si, si, Sennor.«

»Sind Sie Seemann?«

»No, Sennor Capitano.«

»Sie kennen aber doch sicher die hier in Betracht kommenden Verhältnisse?«

»Si, si, Sennor.«

»Würden Sie vorschlagen, daß wir den Proviant hier in Kapstadt nehmen?«

Jetzt fühlte der Kapitän dem Manne einmal auf den Zahn.

»No, Sennor.«

»Sondern?«

»Erst in Para, besser vorher in Rio.«

Der Mann hatte die Prüfung bestanden. Es ist ja manchmal ein kolossaler Unterschied dabei, in welchem Lande man sich verproviantiert. In Rio de Janeiro kostet der Zentner bestes Salzfleisch 20 Mark, hier in Kapstadt war er nicht unter 50 Mark zu haben; ebenso Hülsenfrüchte, Mehl und dergleichen. Und nun gar Spezialitäten wie Kisteneier! In Kapstadt das Schock nicht unter sechs Mark – man weiß gar nicht, woher die Eier dort unten so furchtbar teuer sind – in Rio bekommt man für dasselbe Geld fünf Schock Eier!

Noch billiger aber verproviantiert man sich in Buenos Ayres oder Montevideo. Dort bekommt man unter Umständen das Fleisch umsonst, muß nur Faß und Salzlake bezahlen, nicht einmal die Arbeit wird gerechnet.

»Sie meinen also, wir sollen uns in Rio verproviantieren?«

»Si, si, Sennor.«

»Ist das Flußwasser in jener Gegend gut trinkbar?«

»Si, si, Sennor.«

»Es gibt dort auch Flüsse mit verdammt schlechtem Wasser. Der Tintorello führt seinen Namen mit Recht, der verpestet den Amazonas noch auf eine weite Strecke, das soll noch nicht der schlechteste sein.«

»Mi sabe.«

»Also das Trinkwasser dort ist gut?«

»Si, si, Sennor.«

»Haben wir sonst noch etwas Besonderes mitzunehmen?«

»No, Sennor.«

»Wir müssen doch wohl besonderes Handwerkszeug haben?«

»Messer, Äxte und Seile.«

»Die sind allerdings genug an Bord vorhanden. Also wir könnten jetzt sofort den Hafen verlassen?«

»Si, si, Sennor Capitano.«

»Bleiben Sie gleich hier?«

»Si, si, Sennor.«

»Gehen aber doch erst noch einmal an Land?«

»No, Sennor.«

»Ihr Gepäck?«

»Habe keins, Sennor.«

Dieses Geständnis machte unserem Kapitän Martin absolut nichts aus.

»Well. Frau Patronin, soll ich aufs Seemannsamt gehen, uns abmelden? Dampf aufmachen lassen? In zwei Stunden können wir auf hoher See sein und Segel setzen. Der Wind ist günstig. Soll ich?«

»Wie Sie wollen!« flüsterte die Patronin, und ihre Erregung war begreiflich. Mir ging es nicht viel anders.

»Nein, wie Sie wollen, Sie haben zu bestimmen. Wollen Sie die Fahrt sofort antreten?«

»Ja.«

»Well.«

Und der Kapitän ging sofort hinaus, fünf Minuten später überschritt er das Laufbrett.

Wir blickten uns an und dann wieder auf das eingewickelte Mumienskelett, das eine Zigarette nach der anderen rauchte.

Himmel, wie in diesem Totenschädel die Raubvogelaugen über der mächtigen Adlernase, die übrigens, wie ich jetzt bemerkte, etwas schief war, funkeln konnten!

»Mann – Sennor!« begann die Patronin leise. »Wer sind Sie denn nur?!«

»Ein Prospektador!« erklang es heiser, mehr krächzend, und man hörte den Stolz heraus.

»Wie kommen Sie denn dazu, mir so etwas anzubieten?!«

»Mi sabe!« blieb der Kerl auch uns beiden gegenüber derselbe.

»Haben Sie denn dieses Angebot schon einmal einem anderen gemacht?«

»No, Sennora Patrona.«

»Noch keiner anderen Person?«

»No, Sennora.«

»Sie haben das mit den Chinabäumen erst jetzt erfahren?«

»No, Sennora.«

»Sie wissen es schon seit längerer Zeit?«

»Si, si, Sennora.«

»Schon seit Jahren?« examinierte die Patronin weiter, was auch ich getan hätte.

»Si, si, Sennora.«

»Und haben noch nicht daran gedacht, diese Schätze auszubeuten?« »No, Sennora.«

»Ja, warum denn nun gerade mir?!«

»Mi sabe.«

»Sie haben sicher einen besonderen Grund dazu?«

»Si, si, Sennora.«

»Kennen Sie mich denn?«

»Si, si, Sennora.«

»Was wissen Sie denn von mir?«

Durchbohrend ruhten die glühenden Adleraugen auf der Patronin.

»Sie haben,« erklang es dann heiser wie immer, »heute früh achthundert Pfund Sterling den Armen überwiesen – alles, was Sie gestern abend im Theater verdient haben.«

Alle Wetter noch einmal!!

Auch die Patronin verstand natürlich sofort, war mächtig erschüttert und brauchte längere Zeit, ehe sie fortfahren konnte, und dann stellte sie gleich eine sehr richtige Frage, woran ich nicht gleich gedacht hätte.

»Das können Sie aber doch höchstens erst heute mittag erfahren haben.«

»Si, si, Sennora Patrona.«

»Und wann haben Sie denn diesen Brief geschrieben?

»Heute mittag.«

Ach so! Der Brief war erst mit der Nachmittagspost gekommen. Das hatten wir nicht gewußt. Jetzt aber stimmte es auch.

»Und weil ich diese Theatereinnahme abzüglich unserer Unkosten wohltätigen Anstalten überwiesen habe, das hat auf Sie solchen Eindruck gemacht, daß Sie mir solch ein Millionen einbringendes Geheimnis übergeben?«

»Mi sabe!« erklang diesmal diese Redensart ausweichend. Es war aber doch angebrachter gewesen als ein »si, si, Sennora«.

»Bestimmen Sie nun, wie ich den Erlös der Chinarinde verwenden soll?«

»No, Sennora.«

»Daß ich einen Teil den Armen vermachen soll?«

»Ich habe keine Bedingungen, Sennora!« erklang es mit Nachdruck.

»Auch nicht, wie ich es unter meine Mannschaft verteile?«

»Sennora, ich stelle gar keine Bedingungen!« erklang es immer noch einmal.

Dann war diese Sache aber auch erledigt.

»Und Sie wollen also gar nichts davon haben?« begann die Patronin doch noch einmal.

»No, Sennora.«

»Sie fordern nur Brot, Zwiebeln und Wasser.«

»Si, si, Sennora.«

Dann war es gut, daß wir gestern eine gute Portion Zwiebeln eingenommen hatten.

»Sie sind ganz bedürfnislos.«

»No, Sennora.«

»Nicht?!«

»Ich bedarf Brot, Zwiebeln und Wasser.«

Da durfte man wohl wenigstens lächeln, obgleich dieser Mann sicher keinen Witz hatte machen wollen. Aber er hatte ja auch ganz recht.

»Und Tabak,« ergänzte ich.

»No, Sennor.«

»Sie rauchen doch.«

»Ich bedarf ihn wohl wie Papier, aber ich habe selbst genügend bei mir.«

»Ach so! Den sein ganzes Gepäck bestand also in Tabak und Zigarettenpapier.

Und Seife? hätte ich jetzt gern noch gefragt, unterdrückte es aber lieber.

»Sie bleiben also gleich hier an Bord?« begann wieder die Patronin.

»Si, si, Sennora.«

»So begrüße ich Sie herzlichst als meinen Gast.«

Die eingewickelte Mumie machte mit Grandezza eine Verbeugung.

»Herrgott, ich habe Ihnen noch nicht einmal einen Stuhl angeboten!«

»Gracias, Sennora.«

Aber er setzte sich nicht, wie auch wir immer gestanden hatten.

»Ich werde Ihnen sofort eine Kabine anweisen lassen.«

»Gracias, Sennora – danke, nein.«

»Was nein?«

»Ich brauche keine Kabine.«

»Sie brauchen keine Kabine?«

»No, Sennora.«

»Ja wo schlafen Sie denn?«

»Wo ich mich hinlege.«

A la bonheur! Ein bedürfnisloser Diogenes, Wohnraum und Bett verachtend, sich mit einem Fasse zum Schutze gegen Regen und Sonne begnügend. Meine Hochachtung! »Wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich Diogenes sein.«

Bei dieser Gelegenheit fällt mir ein guter Witz ein. Den Stoiker oder Zyniker Diogenes kennt wohl jeder. Ein Philosoph, der in möglichster Bedürfnislosigkeit das höchste dem Menschen erreichbare Glück zu finden wähnte. Als er nur noch eine hölzerne Trinkschale besaß, und er sah einmal ein Kind aus der hohlen Hand trinken, warf er auch noch diese Schale fort. Aber eine Wohnung hatte er doch noch – ein Faß, wobei man jedoch an kein hölzernes denken darf, das man damals noch gar nicht kannte, sondern ein mächtiges, irdenes Gefäß ein Tank, ein Bassin aus gebranntem Ton, in dem damals der Wein aufgehoben wurde oder in dem man ihn doch gären ließ; sonst gab es ja Weinschläuche, vielleicht auch ein Wassertank.

Auch König Alexander von Mazedonien, den wir jetzt den Großen nennen, besuchte einmal den merkwürdigen Sonderling. Diogenes sonnte sich gerade vor seinem Fasse. Alexander unterhielt sich mit ihm, der Mann gefiel ihm, obgleich Diogenes natürlich nicht etwa aufstand. Das gab’s bei dem nicht.

»Ich gewähre Dir eine Bitte.«

»Dann, bitte, gehe mir aus der Sonne.«

Und der König ging davon mit den Worten: »Wenn ich nicht Alexander wäre, dann möchte ich Diogenes sein.« Diese Geschichte darf historisch für verbürgt gelten, Plutarch erzählt sie mit allen Einzelheiten, und dem königlichen Schüler des Aristoteles sieht solch eine Äußerung auch ganz ähnlich.

Nun kam mir einmal ein Buch in die Hände, in dem dieses Geschichtchen erzählt wurde. Nicht gerade ein Schulbuch, aber doch immerhin ein belehrendes Buch für die Jugend. Und da, wie der König ging, sollte er gesagt haben: »Wenn ich nicht Alexander der Große wäre, dann möchte ich Diogenes sein!«

Ich war noch ein Kind, als ich das las, empfand es aber schon damals als einen guten Witz, daß der sich gleich selbst Alexander den Großen nannte. Und vielleicht habe ich Unrecht, vielleicht ist es gar kein Witz, denn so etwas kann heute auch noch vorkommen.

Übrigens habe ich später einmal selbst solch einen Diogenes kennen gelernt, am Bodensee, in der Nähe von Konstanz. Der alte Mann hauste in einer Bretterbude am See, war ganz bedürfnislos, und wenn er doch einmal Geld brauchte, so ging er als Hausschlächter. Dabei ist nichts weiter. Solch ein faules Leben kann jeder Zigeuner und Tagedieb führen. Erst eine gewisse Philosophie und noch ein gewisses Etwas macht den Diogenes aus.

Ich habe mich mit dem alten Manne oft köstlich unterhalten, und von den vielen Geschichtchen, die über ihn zirkulierten, will ich hier nur eine anführen.

Der Bürgermeister des nächsten Ortes war Holzhändler, hatte dem Einsiedler einmal Bretter geliefert, schickte vergebens Rechnungen, zuletzt auch eine energische Mahnung, jener solle doch endlich seine Schulden bezahlen; worauf der moderne Diogenes ganz einfach zurückschrieb:

Sehr geehrter Herr Bürgermeister! Bezahlen Sie Ihre eigenen Schulden, aber kümmern Sie sich nicht um die Schulden von anderen Leuten.

Ich selbst wurde einmal Zeuge solch eines originellen Ausspruchs, begleitet von einer entsprechenden Handlung.

Der Alte schlachtete wieder einmal ein Schwein, was im Monat höchstens einmal geschah, dafür bekam er drei Mark, mehr brauchte er nicht monatlich für seinen Lebensunterhalt.

Die Prozedur des Schweineabstechens geschah in dem Städtchen in einem Hofe mit öffentlichem Durchgang, und, wie das nun so ist, es hatte sich ein zahlreiches Publikum versammelt, um mit anzuhören und anzusehen, wie die noch lebendige Zukunftswurst quiekt und sich verblutet.

Als nun das Schwein seine Seele ausgehaucht hatte, da nahm der Alte sein Käppchen ab, faltete die Hände und sagte salbungsvoll, so wie es der Pfarrer oder Kantor nach beendetem Begräbnis tut:

»Die lieben Anverwandten und Leidtragenden können nun nach Hause gehen.«


19. KAPITEL.
BROT AUF DEM MEERE!

Wir waren mit günstigem Winde nach Rio de Janeiro unterwegs, nur um uns dort für ein weiteres halbes Jahr zu verproviantieren.

Die ganze Mannschaft hatte natürlich erfahren, um was es sich dann später handelte. Ja, die freudige Erregung war natürlich groß in einem Jahre durch Abrinden von Bäumen so runde sechzehn Millionen Mark verdienen zu können. Wie die dann geteilt wurden, darüber wurde noch nicht gesprochen Jedenfalls waren wir dann fein heraus, dann konnten wir schon einmal »anecken«. Dann wurde einfach eine neue »Argos« gekauft, wir ließen eine neue nach eigenen Plänen bauen, und wir hätten viele Verbesserungen vorzuschlagen gehabt. Obgleich das Schiff für das Herz eines Seemannes nicht so ein toter Gegenstand ist. Lieber behielten wir diese »Argos« hier. Immerhin, unsere Zukunft war sicher gestellt.

Aber ich glaube, ich glaube fast – meine Jungens hätten lieber Zigeuners gespielt. Hätten lieber, wie wir uns es schon ausgemalt hatten, von der Hand in den Mund gelebt.

Ich dachte nämlich auch so.

Und die Patronin sicher auch. Die machte manchmal solche Andeutungen, ohne sich weiter auszusprechen.

Doch immerhin, die sechzehn Millionen wurden mitgenommen.

Eine Gaukelei war es ja doch auch, ebenso wie es das Geschäft mit den Hummern gewesen wäre, nur noch viel einträglicher. Und überhaupt hatten wir sie ja noch gar nicht in der Tasche! Vorläufig hatte die Patronin beim Kapitän gegen tausend Mark Schulden, und an Heuern standen auch schon wieder gegen 4000 Mark; denn die 70 Mann erforderten täglich gegen 400 Mark an Heuer und Gehalt, wobei ich nicht den von Juba Riata und Mister Tabak mitrechne, worüber ich nicht fragte und die Patronin mir noch nichts gesagt hatte, die aber, glaube ich, noch einen ganz anderen Gehalt bekamen.

Ja, war das überhaupt nicht nur ein märchenhafter Traum, das mit den sechzehn Millionen Mark, die wir innerhalb eines Jahres von den Bäumen schälen können sollten?!

So hätten wir uns wohl manchmal gefragt, hätten wir Kajütsgäste nicht ab und zu den riesenhaften Diamanten bewundert und seinen Besitzer immer vor Augen gehabt. Sennor Montezuma della Estrada, von der Mannschaft kurz der Prospektador genannt, war und blieb ein lebendiges Rätsel, mindestens ein ganz merkwürdiger und auch unheimlicher Gesell.

Er hielt sich ganz zurückgezogen, lebte nur von Brot und Zwiebeln, aber man mußte aufpassen, wollte man ihn einmal essen sehen, das machte er in aller Heimlichkeit nur so nebenbei, schlenderte den ganzen Tag an Deck oder im Schiffe herum, kein Lieblingsplätzchen habend – wo er sich einmal anlehnte, da blieb er stundenlang lehnen, immer dicht in seinen Mantel gehüllt, den alten Filz tief über die Augen gezogen, eine Zigarette nach der anderen rauchend. Wenn er müde war, legte er sich in einen Winkel, in dem er sicher war, daß ihn niemand auf die Beine trat, wußte sich überhaupt wie eine Katze zu verkriechen, die manchmal spurlos verschwindet, bei Tage oder Nacht irgendwo zum Vorschein kommt.

Man wurde auch sonst recht an eine Katze erinnert, schon durch sein Schleichen. Waschen tat er sich nie, war wasserscheu wie eine Katze. Wenn das Deck naß war, hielt er sich in den unteren Räumen aus. War das Deck trocken, und es wurden Vorbereitungen zum Deckscheuern getroffen, so verschwand er schleunigst. Nur ja kein Wasser! Nun konnte es aber doch einmal passieren, daß er auch bei schönstem Wetter von einem überdammenden Spritzer getroffen wurde, dann schüttelte er sich genau wie eine Katze, schlenkerte auch in so eigentümlicher Weise einen Fuß nach dem anderen, genau wie es eine Katze tut, die nasse Pfoten bekommen hat, und machte schleunigst, daß er unter Deck kam.

»Si, si, Sennor, – No, Sennor. – Mi sabe.«

Mehr war aus ihm nicht herauszubringen. Da wurde er natürlich bald in Ruhe gelassen.

Unterdessen richteten wir den Raum ein, in dem wir unsere Theatervorstellungen geben wollten; denn das wollten wir nicht vergessen, dieser Gedanke machte meinen Jungens viel größeren Spaß, als der an die vier Millionen Milreis, wenn sie sich auch daran freuten, in dem brasilianischen Urwald einmal den Hinterwäldler spielen zu können.

Wenn ich sage, daß wir aus der Batterie den Boden herausnahmen, so drücke ich mich zwar nicht seemännisch aus – denn im Schiffe gibt es nur Decks und Decken – aber für den Leser ist es viel verständlicher.

Also wir entfernten auf dem Zwischendeck, das wir Batterie nannten, den Boden, so daß dieser Raum mit dem darunterliegenden Mitteldeck vereint wurde. Den Raum unter diesen nenne ich das Unterdeck, unter diesem befand sich der Doppelboden des Schiffes, auch noch ein Raum, aber nicht mehr verwendbar.

Jetzt verfügten wir über einen Raum von sechs Meter Höhe, der immer noch 42 Meter lang und 12 Meter breit war. Das war erst der Zuschauerraum des Theaters, der bei 500 Quadratmeter leicht 1000 Menschen fassen konnte. Hinten abgeschlossen wurde er durch den Mittelschacht, durch den der Schornstein und anderes ging, was für die Maschinen- und Kesselräume in die Höhe geführt werden muß, wie die Ventilationsröhren, durch welche auch die Asche entfernt wird. Aber noch immer blieben an den Seiten geräumige Zu- und Ausgänge für das Publikum, womit man rechnen mußte, daß die Polizei uns nicht etwa Schwierigkeiten in den Weg legte, uns solche Vorstellungen in einem Schiffe einfach verbot.

Vor der Entfernung des Bodens waren ja überhaupt erst viele Beratungen und prüfende Erwägungen aller Sachverständigen nötig gewesen. Aber es ging. Und als die Sache erst einmal eingeleitet war, dann konnten alle Mann in noch nicht ganz zwei Stunden den ganzen Boden entfernen und ihn in derselben Zeit wieder einsetzen, wozu eben verschiedene Vorrichtungen getroffen werden mußten, so zum Beispiel, daß jedes Deckbrett noch ein besonderes Loch am äußeren Ende bekommen mußte.

Mit diesen Decksbrettern errichteten wir in derselben Zeit, gleichzeitig beim Abnehmen, aber auch schon die tausend Sitzplätze, von vorn nach hinten etwas ansteigend, so daß die Bühne von jedem Platze aus gut zu sehen war, und jeder Platz war leicht zu erreichen und mit einer deutlich sichtbaren Nummer versehen, welche Nummern wiederum dann das Zurückversetzen der Bretter zum Deck erleichterten.

Anfang

Es war wirklich eine ganz geniale Einrichtung, wie wir das alles arrangiert hatten, mit welcher Schnelligkeit wir aus Batterie und Mitteldeck einen großen Theatersaal schufen, diesen wieder in zwei Schiffsräume zurückverwandeln konnten, und der geniale Gedanke, der dies alles überhaupt erst möglich machte, stammte aus dem Kopfe des Kapitäns Martin, woraus man schon ersieht, wie sehr der sich dafür interessierte.

Vorn unter der Back, mit der Batterie in gleicher Linie, lag unser Klubraum. Der mußte, wenn das Theater hergestellt wurde, fallen. Unter diesem lag die Segelkammer. Das heißt, ein ganz beträchtlicher Raum, solch eine Bühne hat manches Theater nicht! Der wurde dann also zur Bühne, etwas erhöht angebracht. Und nun von dieser Bühne nach oben in die Back und nach unten in das Unterdeck ein Liftzug.

Mag diese Beschreibung genügen. Ich kann nur sagen, daß wir eine Bühne schufen, die mit solchen technischen Einrichtungen wohl wenige Theater besitzen.

Während dieser Arbeiten wurde der Schiffsdienst nicht vernachlässigt, wozu auch die höchste Sauberkeit des ganzen Schiffes gehört, und unsere »Argos« glich immer einem Schmuckkästchen. Ebensowenig aber wurde der Sport vergessen, noch immer kämpfte täglich zu gewissen Zeiten Grün gegen Rot, noch immer wanderten die Silbersachen aus einem Schrank in den anderen. Gerade vier Monate war ich nun an Bord, seit vier Monaten führten wir nun dieses Leben von sich trainierenden Athleten, und nicht an einem einzigen Tage waren diese Übungen unterbrochen worden.

Wie wir uns noch entwickeln würden, darauf war ich wirklich gespannt! Es waren ja von Anfang am starke, muskulöse Kerls unter uns gewesen – aber nun dieses tägliche Hantelstemmen mit fortgesetzt gesteigertem Mehrgewicht, ganz regelmäßig eingehalten, immer nach der Tabelle kontrolliert, niemals eine Überanstrengung – nur das nicht – und das ganze sonstige Sportleben, alle die anderen Übungen, bei denen keine Muskel unberücksichtigt blieb – und nun überhaupt auch sonst unsere ganze Lebensweise, ständig in frischer Seeluft, das beste, kräftigste Essen, reichlich Schlaf, nicht die geringste Aufregung, also niemals etwa ein Zechgelage, dem sonst auch nur zu gern unsere Turnvereine huldigen – ja, ich war wirklich gespannt, wie wir uns nach einem Jahre entwickelt haben würden!

Wenn man sich vorzustellen vermochte, wie es vor vier Monaten gewesen war, und wenn man die Gestalten mit den damaligen verglich – da konnte man Wunder konstatieren.

Da war zum Beispiel der Matrose Max, dem der Klapperstorch die große Zehe abgebissen hatte – gewiß, ein kräftiger Kerl war er immer gewesen, Schwächlinge kann man an Bord doch nicht gebrauchen – aber von besonderen Muskeln hatte er nichts gezeigt, und nun ein langsamer, phlegmatischer Stockfisch! Und jetzt war dieser selbe Max schnell und gewandt wie eine Katze und zeigte außerdem Muskeln wie ein kleiner Herkules! Und so war es auch bei allen anderen der Fall. Sie bekamen einen ganz anderen Fleischansatz, der sich aber nur in festen Muskeln äußerte.

Doktor Isidor sprach oftmals darüber. Er selbst beteiligte sich immer mehr an unseren Übungen, griff sich fortwährend an seine Armmuskeln, von denen früher keine Spur zu bemerken gewesen war – ach, hatte der dünne Ärmchen gehabt! – und eine Folge davon war, daß er immer weniger Kognak pfiff.

»Waffenmeister,« sagte er also oftmals, »wir machen der Welt etwas vor, was sie noch nicht gesehen hat. Daß einzelne Menschen, die sich sonst nicht durch Körperkräfte auszeichnen, durch systematische Übungen zu Athleten trainiert werden, das ist ja schon dagewesen, aber eine ganze Schiffsbesatzung aus 70 Mann bestehend, deren Körperbeschaffenheit sich so sichtlich verändert – das ist wohl noch nicht dagewesen, das ist auch ein wissenschaftliches Ereignis – hätte ich’s nur von Anfang an sorgfältig verfolgt!«

So tat er es wenigstens noch jetzt, wog und maß täglich jeden einzelnen, prüfte besonders auch den Herzschlag, hatte dadurch viel zu tun. Und da wunderte sich und staunte dieser Doktor der Medizin, bei dem die »Medizin« aber doch nur ganz Nebensache war, besonders über die Gleichmäßigkeit des Herzschlags jedes einzelnen. Ja, da staunte er wirklich, machte kein Hehl daraus, sprach es bei jeder Gelegenheit aus.

Das Herz des erwachsenen, gesunden normalen Menschen macht in der Minute 70 bis 80 Schläge. Die Anzahl ist aber bei jedem gleich. Meines macht zum Beispiel 76 Schläge. Das bleibt sich immer gleich, mit Ausnahme natürlich, wenn man aufgeregt ist, seelisch oder wenn man sich überanstrengt hat. Normal, meine ich immer.

Aber man braucht ja nur die Fingerspitzen auf den Puls zu legen, so fühlt man, daß der Pulsschlag kein gleichmäßiger ist; bald geht er schneller, bald langsamer, wenn auch in jeder Minute die gleiche Anzahl herauskommt. Die langsamen Pulsschläge werden dann immer durch schnellere wieder eingeholt. So ungefähr, wie Mister Tabak auf seiner Pauke die ausgefallenen Takte schnell wieder einholte.

Und nun staunte Doktor Isidor, wie gleichmäßig jetzt bei uns allen der Puls ging. Er hatte dazu einen besonderen Apparat konstruiert, durch den er die Schläge auf einem Papier registrierte.

»Wunderbar, wunderbar, diese Regelmäßigkeit! So etwas hätte ich nicht für möglich gehalten!«

Mehr will ich davon nicht sagen, ich selbst verstehe nichts weiter davon. Es genügt, daß dieser Arzt diese Regelmäßigkeit so staunenswert fand.

Und aus dieser Herztätigkeit darf man wohl auch auf die Gemütsstimmung schließen. Ich kann nur sagen, daß ich mich selbst damals in einer ständigen Arbeitsfreudigkeit befand, wie ich sie bisher nie gekannt hatte, obgleich ich nie ein arbeitsscheuer Mensch gewesen bin. Es war etwas so ganz Besonderes in mir. Und dasselbe mußte bei allen anderen der Fall sein. Ins Herz sehen konnte ich ihnen ja nicht, aber ich las es doch in ihren strahlenden Augen. Wirklich, sie hatten jetzt alle solche strahlende Augen bekommen. Und wenn es einmal eine schwere Arbeit gab, so gingen sie alle mit einer wahren Wut daran. Uns wäre nichts angenehmer gewesen, als wenn wir jetzt ein Wrack gefunden hatten, auch wenn es nur mit Salz beladen gewesen wäre, in Doppelzentnersäcken. Uns mit diesen Säcken herumbalgen zu können, es wäre uns die reine Lust gewiesen! Da wir nun aber keine solche Gelegenheit hatten, so mußten wir eben dem Überschuß von Kraft, den wir in uns fühlten, in Sportübungen Luft machen. –

Am 8. Mai hatten wir Kapstadt verlassen, und am 17. – wir hatten gerade den Wendekreis passiert – trat völlige Windstille ein, bald wurde die See glatt wie ein Spiegel.

Nun, wir konnten ja dampfen. Aber weshalb sollten wir? Keiner von uns hatte es mit den Millionen so eilig, jeder hatte es lieber, diese Ruhe des Schiffes einmal zum Bootspulen und zum Schwimmen zu benützen.

Höchstens hatte da der Prospektador ein Wort mitzusprechen.

»Wir möchten gern hier liegen bleiben, bis wir wieder günstigen Wind haben, oder so lange die See so ruhig ist!« sagte der Kapitän zu ihm.

»Si, si, Sennor Capitano.«

»Die Leute wollen bootspulen und schwimmen.«

»Si, si, Sennor.«

»Sie haben es nicht so eilig, nach Brasilien zu kommen?«

»No, Sennor.«

»Kann denn die Chinakultur nicht unterdessen schon von anderen gefunden und ausgebeutet worden sein?«

»No, Sennor.«

»Weshalb denn nicht?«

»Mi sabe.«

»Sie wissen bestimmt, daß die Bäume dort noch unangetastet stehen und bis zu unserer Ankunft dort unangetastet stehen bleiben werden?«

»Si, si, Sennor.«

»Woher wollen Sie denn das so genau wissen?«

»Mi sabe.«

»Sie sind wohl allwissend?«

»Mi sabe.«

»Well.«

Die Vorbereitungen wurden getroffen. Die einen wollten Bootsrudern, die anderen unterdessen nach einem ausgesteckten Ziele schwimmen

»Haifische!« erklang da der Ruf.

Sie statteten uns einen Besuch ab, Blauhaie, Menschenhaie, Menschenfresser, mindestens zwei Dutzend, stattliche Burschen darunter, bis vier Meter lang.

Da sie uns nun einmal ausgekundschaftet hatten, würden wir sie nun auch nicht wieder los werden, sie würden uns bis nach Rio begleiten.

Da war es nun natürlich nichts mehr mit dem Schwimmen im offenen Meere.

I Gott bewahre! Haifische – Schnickschnack!

Was man von der furchtbaren Gefährlichkeit der Haifische fabeln hört, das wird einem zuletzt zum Ekel.

Da es aber nun einmal so ist, die Landbewohner so etwas gern hören, so flunkern wir nur noch mehr dazu.

Ja, natürlich – wenn das Schiff langsam versinkt, man hängt in den obersten Wanken – oder man klammert sich am gekenterten Boote fest, umringt von Haifischen – dann hört der Spaß auf.

Oder man fällt über Bord, wird beim Wasseraufschlagen von der Pütze herabgerissem zwischen die Haifische – dann heißt es tüchtig strampeln! So lange man sich heftig bewegt, beißt der Hai nicht. Er muß sich dazu erst auf den Rücken wälzen, das Fassen der Beute in dieser Lage macht ihm Schwierigkeiten, das weiß er, deshalb schnappt er überhaupt nicht, so lange man sich tüchtig bewegt, so lange man schwimmt. Er liegt auf der Lauer, bis sich die Beute einmal nicht mehr bewegt. Dann freilich hat er sich mit Blitzesschnelle umgewälzt und sein Opfer auch schon beim Beine oder beim Arme oder mitten um den Leib gepackt und verschwindet mit ihm. Ob ein Hai von vier Meter Länge wirklich einen erwachsenen Menschen auf einmal verschlingen kann, darüber gehen die Meinungen auseinander. Ich möchte es nicht bezweifeln. Ich selbst habe im Magen solch eines Haies einen Tunfisch von zwei Meter Länge gefunden. Am gefährlichsten ist daher, wenn man über Bord zwischen Haifische gefallen ist, der Moment, da man sich schon gerettet glaubt. Wenn man das Fallreep ergreift oder das zugeworfene Tau, an dem man in die Höhe gezogen wird. Der Hai schnellt noch hoch und packt sicher zu, wenn man schon ein Meter über Wasser ist; denn da kann er eben von unten noch zuschnappen.

Sonst aber, so lange man das feste Deck unter den Füßen hat, ist der Mensch Beherrscher des Meeres und über alles, was darin schwimmt, da läßt er sich nicht von Haifischen irritieren.

Wer schwimmen wollte, der schwamm, die Strecke wurde von einigen Booten bewacht, der Hai taucht niemals plötzlich von unten auf, er zeigt seine Rückenflosse schon von weitem, besinnt sich lange, ehe er sich nähert – und dann bekam er einfach eine Gewehrkugel, worauf der Hai wie ein geölter Blitz auf Nimmerwiedersehen von dannen schießt.

Auf diese Weise konnten wir uns also schon zuvor von den Haifischen befreien. Wir beschossen sie einfach. Alle trifft man dabei nicht. Mit den ersten Getroffenen geht die ganze »Schule« ab.

Aber auch das wollten wir nicht tun. Wir hatten schon immer ein Experiment ausführen wollen, wozu wir Windstille abgewartet, oder wir hätten alle Segel festmachen müssen. Jetzt war die Gelegenheit dazu gerade günstig. An Haifische hatten wir dabei gar nicht gedacht, aber desto besser, daß welche vorhanden waren.

Bemerken will ich noch, daß man den Haifisch nicht anders fangen kann, als mit dem Köder an der Angel. Geschossen kann er also nicht werden. Auch wenn er ganz bestimmt eine große Kugel durch das Gehirn bekommen hat, schießt er doch noch pfeilschnell davon und verschwindet. Von der Harpune reißt er sich unter allen Umständen los, läßt nur einen Fetzen Fleisch daran zurück. Dagegen beißt er auf jeden Köder, es braucht gar kein Fisch zu sein.

Wenn er am Haken hängt, so beginnt er sich mit rapider Schnelligkeit zu wälzen, in der Längsrichtung des Seiles, würgt dieses regelmäßig ab, selbst eine Stahltrosse. Also muß eine Vorrichtung vorhanden sein, daß das Seil die Drehungen mitmacht. Dann kann es der Hai natürlich nicht abwürgen.

Man hat soviel Gelegenheit dazu, aber es wird selten gemacht. Ab und zu fordert der Kapitän dazu auf, macht sich die Mannschaft im Hafen oder auf einem Segler bei Windstille oder flauem Winde dieses Vergnügen. Es ist überhaupt gar kein Vergnügen. Liegt der Hai an Deck, dann ist es nur noch eine scheußliche Schlächterei. Man kann auch mit dem Tiere gar nichts anfangen. Die Haut wird von Drechslern wie Glaspapier benutzt. Aber Glaspapier ist doch billig genug. Die Leber, bei großen Tieren meterlang, gibt einen sehr guten Tran. Das ist aber auch alles. Das Fleisch ist nur von jungen Tieren genießbar, ist aber auch eine besondere Liebhaberei. Ich kann es nicht essen. Aus dem Rückgrat wird ein Spazierstock gefertigt. Das macht aber jeder Seemann in seinem Leben nur einmal. Die Abdreherei ist eine einsame Arbeit. So läßt man den Haifisch ungeschoren, meiner Ansicht nach viel zu viel oder man vertreibt ihn durch Schüsse.

Also wir hatten schon immer etwas Besonderes vorgehabt, nur eine günstige Zeit dazu abgewartet – eine besondere Art von Fischfang, obgleich wir dabei nicht an Haie gedacht hatten. Nun aber konnten auch gleich die drankommen.

Doktor Isidor präparierte schnell ein Medizinfläschchen, füllte Pulver hinein, leitete durch den durchbohrten Kork zwei übersponnene Kupferdrähte mit blanken Enden, der Kork wurde noch durch Teer gedichtet. Jetzt um das Fläschchen eine dünne, aber große Scheibe Salzfleisch gewickelt, etwas befestigt, und so diesen Köder über Bord geworfen.

Sofort drehte sich ein Hai herum, das Stück Fleisch verschwand im zähnestarrenden Rachen; daß er untertauchte, erlaubten wir noch, dann ein Druck auf einen Knopf, der elektrische Strom war geschlossen, – pardauz, eine Explosion, und weg war der Kopf!

Furchtbar arbeitete noch der Leib. Aber daß der ohne Kopf davonschoß, soweit ging es denn doch nicht. Und da sauste auch schon des Eskimos Harpune herab und um den Leib, der sich schnell ausgetobt hatte, wurden Schlingen angebracht, so wurde er dann an Deck gezogen.

Für uns war dieser Haifisch ja nicht so nutzlos. Wir hatten Raubtiere genug an Bord, die das für Menschen ungenießbare Fleisch mit Wollust fraßen.

Allerdings hatten wir es nicht nötig, brauchten auch sonst nicht auf Fischfang auszugehen, wegen Fütterung der Raubtiere. Bei der Ausrüstung in Liverpool hatte die Patronin oder Kapitän Martin in einer Zwangsauktion 150 Tonnen, gleich 3000 Zentner Stockfische erstanden, für 70 Pfund Sterling. Das ganze Kilogramm kostete also noch nicht einmal einen Pfennig. Solche Gelegenheiten hat man manchmal in Seestädten. Vorn das Unterdeck war noch ganz vollgepfropft von Stockfischen, ohne daß sich ein Geruch bemerkbar machte. Und alle die Raubtiere und Hunde fraßen das Zeug noch mit derselben Gier wie am ersten Tage, gleich steinhart wie es war, amüsierten sich damit als mit kaubaren Knochen, es bekam ihnen ausgezeichnet.

Noch waren wir damit beschäftigt, um den kopflosen Haifischkörper die Schlingen zu legen. Die anderen waren bei der Explosion davongeschossen. Da begann sich die Oberfläche des Meeres mit Fischen zu bedecken, bis zu einem halben Meter groß, alle auf der Seite schwimmend. Lauter Makrelen. Ein köstlicher Fisch!

In einiger Tiefe hatte sich gerade ein Zug Makrelen bewegt, sie waren durch den Wasserdruck, von der Explosion erzeugt, betäubt worden, sie kamen an die Oberfläche, immer mehr und mehr, bis alles davon wimmelte. Aber auch viele andere Fischarten waren darunter, besonders größere Raubfische, die auf die Makrelen Jagd gemacht hatten. Ich will keine Arten aufzählen.

Das war es gewesen, was wir beabsichtigt hatten. Einmal auf diese Weise zu fischen. Durch Explosion. Indem wir daran gedacht hatten, daß wir einmal kein Geld hatten, uns Proviant zu kaufen. Daß wir dann wenigstens Fische hatten.

Wie schwer es ist, auf hoher See Fische zu fangen, das habe ich ja schon einmal erwähnt. Fische gibt es im Meere sicher allüberall in den verschiedensten Tiefen. Aber sie wollen nicht beißen, das ist es! Sie haben dort unten andere Nahrung genug, als daß sie gleich nach jedem Köder schnappen. Ein Fisch frißt doch immer den anderen auf.

Etwas anderes ist es dort, wo sie in kolossalen Rassen vorkommen, wie auf den Neufundlandsbänken, auf der Doggerbank, überhaupt an jenen untiefen Stellen, die man Fischbänke nennt, welche die Tiere regelmäßig zu gewissen Zeiten in ungeheuren Schwärmen aufsuchen, wohl wegen des Laichens, sich überhaupt immer dort aufhalten, oder eine Art verdrängt immer die andere. Dort lohnt sich sogar die Angelfischerei, weil die Fische alles Genießbare sofort erschnappen.

Es war nicht etwas Neues, was wir da erfunden hatten. Besonders auf Kriegsschiffen, die in fischreichen Buchten liegen, machen es sich die Matrosen oft zum Spaß, sich auf diese Weise ein Gericht Fische zu verschaffen. Allerdings nicht durch Pulver und elektrischen Funken. Sie nehmen eine alte Selterswasserflasche mit Patentverschluß, lassen sich vom Lazarettgehilfen etwas doppeltchlorsaures Kali und Schwefelsäure geben oder besorgen sich diese Chemikalien von Land; es wird in die Flasche geschüttet, diese schnell verschlossen und ins Wasser geworfen. Es muß aber sehr fix gehen, sonst explodiert sie in der Hand, und dann wird’s bös!

Bald brodelt eine mächtige Luftblase empor, dann kommen die betäubten Fische, die sich im Umkreise befunden haben, nach oben, man liest die besten Sorten heraus.

Diese Art von Fischerei ist streng verboten, soweit es sich verbieten läßt. Bis auf drei oder in einigen Ländern auch vier Seemeilen von der Küste entfernt, und in Binnenmeeren, wie in Nord- und Ostsee.

Meiner Ansicht nach ist es ganz mit Unrecht verboten. Es ist durchaus keine Aasfischerei, wie man sagt. Wohl mögen die Fische, die sich in allernächster Nahe der direkten Explosion befunden haben, getötet werden – alle anderen werden nur betäubt, erholen sich bald wieder und schwimmen davon. Ich habe mich später zahllose Male davon überzeugt, daß es dem betäubten Fische nichts geschadet hat. Ich weiß nicht, weshalb diese Art von Fischerei nicht erlaubt ist. In süßen Binnengewässern ist es freilich etwas ganz anderes, da dürfte man wohl zuviel junge Brut dabei vernichten. Aber im Meere? Und im offenen Meere kann man es ja überhaupt gar nicht verbieten.

Wir schöpften in handlichen Netzen, setzten auch schnell die Boote aus. Wir mußten uns beeilen, denn die Fische kamen bald wieder zu sich. Jetzt kehrten auch die entflohenen Haifische zurück, um sich an der bequemen Beute zu mästen. Sie wurden mit Gewehrkugeln empfangen, und da gingen sie davon, um nicht wieder zurückzukehren.

Anfang

Wir zählten dann 627 große Makrelen, im Durchschnitt ein Kilogramm schwer, die wir geschlachtet und ausgeweidet hatten. Wenn alle Mann anfaßten, so war das eine Kleinigkeit. Sie wurden sofort gebückelt oder auch gebökelt, nicht etwa aber gepökelt. Der Pökling hat gar nichts mit pökeln zu tun, wie das Pökelfleisch, man kann höchstens Bökling sagen, was auch richtiger wäre als das Bückling. Diese Art von Konservierung ist nämlich eine Erfindung des flandrischen Fischers Christian Boekel! Es ist ein unglücklicher Zufall, daß der gerade so heißen mußte, dadurch kommt nun die fortwährende Verwechslung zwischen pökeln und bökeln. Deshalb sagt man eben bückeln.

Wir hatten schon vorher alle Vorbereitungen zum Bückeln getroffen oder doch alles erwägt, indem wir eben schon an solch eine Fischerei gedacht hatten, wenn auch nicht gleich solch eine Beute erhoffend.

Die Fische wurden mit den durchbohrten Köper an eisernen Stangen aufgereiht und diese in einer der beiden Ventilationsröhren befestigt, die nach dem Heizraum hinabgingen. Mit dem 500. Fisch machten wir erst einmal Schluß, mehr hätten wir auch nicht gut hineinbringen können.

Und das war überhaupt nicht so einfach, wie ich hier erzähle. Wir hätten in dieser Blechröhre nicht so einfach mehr als zehn Zentner Gewicht befestigen können. Dazu wurde erst ein Krahn aufgebaut, an dem das Ganze hing. Das war es eben, was wir schon vorbereitet hatten, sonst wären wir nicht so schnell damit fertig geworden.

Es war noch eine kleinere Dampfmaschine von einigen Pferdekräften vorhanden, der Donkey, der Esel. So genannt, weil sie zu allerhand Hilfsleistungen verwendet wird, wenn die große Maschine steht; wie zum Treiben der Winden im Hafen. Jedes größere Segelschiff hat jetzt seinen Donkey.

Dazu gehört natürlich auch ein besonderer Kessel. Die Feuerung geht auf Dampfern in einen großen Schornstein, muß aber auch isoliert werden können.

Unter diesem Kessel wurde ein Holzfeuer angemacht. Holz hatten wir jetzt genug an Bord. Vorher wurde das Feuerrohr in die Windtute mit den Fischen geleitet. Ein zweites Rohr wurde mit dem Orgelgebläse in Verbindung gebracht und gleichfalls in die Windtute geleitet, und nun ging die Geschichte los. Zuerst wurde das Gebläse mit der Hand gedreht, wozu ein Mann genügte, er erzeugte einen ganz intensiven Luftstrom, dann später, als im Kessel der nötige Atmosphärendruck war, konnte ja auch die kleine Maschine laufen.

Na, wir waren ja gespannt, was da herauskommen würde! Wir konnten uns ja auch tüchtig verspekuliert haben mit unserer ingeniösen Idee! Unter den Matrosen befanden sich einige Sachverständige, welche immer einmal prüften, Beratungen abhielten und Wärme und Luftstrom regulierten. Zu diesen gehörte Mister Tabak nicht. Dieser Eskimo verstand sich nur auf die verschiedene Präservierung des Kabeljaus, auf Stockfisch, Klippfisch und Laberdan, womit er aber nun auch schon große Pläne im Kopfe hatte, schon davon zu schwärmen begann, wie er aus dem ganzen Schiffe eine Fischdörrerei und -Salzerei machen wolle.

Nach vier Stunden wurde die Räucherei für beendet erklärt, aus der Windtute kamen 500 prachtvolle Makrelen-Bücklinge zum Vorschein, wie Gold glänzend! So, nun konnte Meister Hämmerlein wieder Orgel spielen, sein Blasebalg war wieder frei.

Aber nein! Wir hätten diese Räucherei ins Endlose fortsetzen können.

Doktor Isidor hatte eine zweite Flasche präpariert, eine viel größere, und brachte sie in einer Tiefe von genau 100 Metern zur Explosion.

Ach, was hatten wir da gemacht! Bald bedeckte sich die Meeresoberfläche in einem Umkreise von einigen hundert Metern mit Tausenden und aber Tausenden von betäubten Makrelen! Überhaupt gar nicht zu taxieren. Es war einfach eine dicke Schicht von Fischleibern, welche alles Wasser verdrängten.

Auch der Magen dieser Tiere war ebenso wie bei den ersten strotzend mit kleinen Fischchen gefüllt. Mehrere Matrosen,behaupteten, daß das ebenfalls Makrelen seien, junge Brut, und sie würden schon recht haben. Alle Raubfische fressen ihre eigene Brut. Die Fruchtbarkeit der Makrele kenne ich nicht. Ein rochener Kabeljau hat vier bis sechs Millionen Eier im Leibe, Leeuwenhoeck, seinerzeit der beste Fischkenner will neun Millionen Eier gezählt, respektive gewogen haben. Und die Makrele wird dem Kabeljau nicht an Fruchtbarkeit nachstehen. Da dürfen schon solche Fische ihre eigenen Kinder fressen. Was soll denn sonst daraus werden.

Merkwürdig war, daß diese kleinen Fischchen nicht in die Höhe kamen; deren Luftblase war eben noch anders beschaffen.

Wir hatten sechzehn große, leere Fässer zur Verfügung, die salzten wir unter fachkundiger Leitung mit Makrelen voll. Der Überschuß an geschlachteten Fischen wurde sofort verspeist, die Tiere damit gefüttert.

Da aber waren die anderen Makrelen schon längst verschwunden. Eine Viertelstunde später, nachdem die ersten erschienen waren, schwammen die letzten schon wieder davon. Man konnte es deutlich beobachten, wie sie nach und nach wieder lebendig wurden. Leichen waren nicht zu bemerken.

Unter uns bewegte sich ja wahrscheinlich gerade ein Makrelenzug hin, vielleicht nach Milliarden zählend. Von der Massigkeit dieser Fischzüge können wir uns ja gar keine Vorstellung machen.

Wie dem aber auch sei, das wußten wir jetzt bestimmt: wenn wir auch kein Geld mehr hatten, verhungern würden wir nicht auf dem Meere. Und wenn wir wollten, konnten wir aus unserem Schiffe eine Fischräucherei machen. Geld läßt sich damit verdienen.


20. KAPITEL.
EIN KAUM GLAUBLICHER VORFALL.

Am 27. Mai früh in der neunten Stunde nahmen wir Peilung auf Rio, machten Dampf auf, nahmen einen Lotsen an Bord. Die Einfahrt in die Bucht ist wegen vieler Inselchen sehr schwierig. Dafür aber gibt es auch nur ein Rio de Janeiro. Nur der Hafen von Sidney übertrifft es noch an Schönheit. Was will denn der Hafen oder die Bucht von Neapel dagegen sagen! Na ja, durch seinen Vesuv.

»Die Argos von Noald, los Argonautes von Kapstadt!« rief der Lotse sofort.

Es war alles schon bekannt. Der »Neuyork Herald« war natürlich die erste Zeitung auf dem amerikanischen Kontinent gewesen, die von unseren Triumphen in Kapstadt in einem Berichte von 200 Zeilen erzählt hatte – ein telegraphischer Bericht! – der mindestens tausend Dollars Depeschengebühren gekostet hatte. Aber so etwas leistet sich ja so eine Zeitung jeden Tag.

Das hatten die Zeitungen in Rio nachgedruckt, eine Menge portugiesische, englische, spanische, französische und italienische Blätter – eine deutsche Zeitung gibt es in Rio noch immer nicht, so viel Deutsche dort auch leben, so viele Vereine sie auch bilden – dann aber hatten uns bereits auch schon zwei Dampfer überholt, aus Kapstadt kommend, welche wußten, daß die »Argos« nach Rio wollte, so daß gerade jetzt alles wieder brühwarm war.

Auf Reede liegend, ließen wir über uns das Chor der Rache ergehen, alle die Beamten des Zolles, der Hafenpolizei, der Sicherheitspolizei, der Gesundheitspolizei und sonst noch verschiedener Polizeien, wir fütterten und tränkten sie ab und logen ihnen etwas vor, bekamen dann aber auch, wie wir wünschten, vom Hafenmeister einen möglichst einsamen Platz angewiesen, ganz am Ende der Häuserreihen, am Kai St. Christavao, hatten, falls ein Bedürfnis vorlag, den Friedhof ganz in der Nähe, auf der Halbinsel Caju. Noch näher lag dem Friedhof ein spanischer Dampfer, der auch schon sehr nach Sterben aussah, er erstickte bald vor Dreck, dann kam ein Italiener, dann zwei Franzosen, dann wir, dann weiter viele Eingländer und Deutsche und noch mehr Franzosen.

Einsam blieben wir freilich nicht lange. Bald sammelte sich das Publikum an, um uns anzustarren, auch Menschen genug, die uns einen Besuch abstatten wollten, besonders Zeitungsmenschen.

Das Betreten eines jeden Schiffes ist immer erlaubt, kann vom Kapitän nicht verboten werden. So lange es bemannt ist. Denn das Schiff gilt als Wohnung der Besatzung und jeder Mensch muß doch in seiner Wohnung besucht werden können.

Aber das ist es eben! Man braucht doch nicht jeden Besuch zu empfangen. Also das Laufbrett ausgeschoben, um der allgemeinen Höflichkeit nachzukommen, ein paar handfeste Matrosen als Portiers davorgestellt, und dann war Zapfen ab. Wenn sich ein guter Freund meldete, der uns besuchen wollte, so hätten wir es schon erfahren, der wurde empfangen, sonst niemand. Nur Beamte in Uniform oder mit Legitimation mußten freien Zutritt haben.

Als alles soweit geregelt war, ging ich zur Patronin, um mit ihr zu besprechen, wie wir es wegen der Eintrittskarten halten wollten. Heute abend schon?

Ich war noch nicht weit mit meinen Auseinandersetzungen gekommen, als sie plötzlich vor mir auf die Kniefiel.

»Georg, Georg – ich bitte Dich um alles in der Welt – habe Erbarmen mit mir!« jammerte sie mit gerungenen Händen.

»Ja um Gottes willen, was ist denn los?« rief ich tödlich erschrocken.

»Ich kann nicht, ich kann nicht – ich kann nicht auf meinem Schiffe solche Theatervorstellungen geben und das Geld dafür nehmen!«

Da war es!

Hatte ich es doch fast geahnt!

Sie war auf der ganzen Reise nicht mehr die Richtige gewesen.

Und ich konnte es ja ganz gut begreifen. Die Freifrau von der See, die freie Seekönigin – die war sie nun nicht mehr. Sobald sie auf solche Theatervorstellungen angewiesen war, daraus ein Geschäft machte. Da hatte sie vollkommen recht, das konnte ich ihr ganz deutlich nachempfinden.

»Na dann also nicht!« sagte ich einfach.

Aber sie blieb liegen und jammerte weiter.

»Nehmt mein Schiff – tut damit, was Ihr wollt – aber ich kann dann nicht länger darauf bleiben – ich verstecke mich einstweilen irgendwo an Land –«

»Ach dummes Zeug, Helene!« stellte ich mich ärgerlich. »Was hast Du denn nur zu jammern? Wir machen’s eben nicht und damit basta! Wir nehmen nur Proviant ein, dann segeln wir weiter und holen uns die vier Millionen Milreis, dann ist ja die ganze Sache wieder im Lote –«

So sprach ich noch weiter, jetzt freilich wieder als Waffenmeister zur Patronin. Es gelang mir, sie wenigstens wieder zu beruhigen. Das Richtige war es ja noch längst nicht.

»Ich will den Kapitän rufen –«

»Nein, nein– sprechen Sie mit ihm – ich kann jetzt nicht – ich will allein sein, nur allein sein –«

Ich ging zum Kapitän Martin und berichtete ihm.

»Well.«

Dann mußte er aber doch erst einige Gänge durch die Kajüte machen, ehe er seine Gedanken gesammelt hatte. »Auf diese Theatereinnahmen hier in Rio hatte ich freilich stark gerechnet, sonst hätte ich gar nicht vorgeschlagen, erst nach Rio zu gehen, um uns zu verproviantieren. Ich habe schon die Produktenbörse gelesen und meine Kalkulation aufgestellt 15 000 Mark brauchen wir für ein halbes Jahr Proviant. Ich würde sie gern verlegen, aber – wozu denn eigentlich? Nach der Berechnung des Prospektadors handelt es sich doch um dreimalhunderttausend Zentner Chinarinde, das sind 15 000 Tonnen, dazu müssen wir doch überhaupt mindestens vier Fahrten machen. Was sollen wir da gleich soviel Proviant mitnehmen? Da behalte ich mein Geld doch lieber in der Tasche. Also sagen Sie der Patronin, daß wir –«

Er brach ab, um einmal ganz energisch mit den Beinen zu schlenkern.

»Nein, sagen Sie, daß alles in Ordnung ist. Ich kaufe den Proviant. Solchen Schmerz will ich ihr nicht machen, als hätte die Aufgabe der Theatervorstellungen etwas an meinem Entschlusse geändert.«

Ich holte ihm seine Hand aus der Tasche, um sie zu schütteln und zu drücken.

»Well, da ist gar nichts weiter dabei. Ich werde den nötigen Proviant schon ohne Zwischenhandel direkt vom Schiff bekommen, dann können wir unter Umständen noch ein feines Geschäft dabei machen. Ich gehe gleich jetzt.«

»Wollen Sie nicht einmal den Diamanten mitnehmen und Erkundigungen einziehen, was er wert sein mag? Gerade hier in der brasilianischen Hauptstadt muß es da doch Sachverständige genug geben.«

»Ja, das will ich. Aber nicht jetzt, sonst könnte sie denken, ich wollte erst eine Sicherheit haben. Nein, ich brauche keine Sicherheit. Die Sache des Prospektadors scheint mir schon sicher genug.«

Kapitän Martin ging.

Ich begab mich in die Batterie, in der gerade alle Mann beschäftigt waren, sie in einen Zuschauerraum mit tausend Plätzen zu verwandeln.

»Stoppt mal Eure Arbeit. Kommt mal alle her. So und so.«

Ruhig nahmen sie meine Erklärung hin.

Aber ihre Niedergeschlagenheit war groß, sehr groß. »Sie kann es natürlich recht gut mit ihrer Ehre vereinigen, aber nicht mit ihrer Würde, nicht mit ihren Idealen. Versteht Ihr, was ich meine?«

»Freilich, ja freilich, Waffenmeister.«

»Wenn wir mit der Chinarinde wieder genügend Geld verdient haben, dann wird es wieder anders, dann geben wir wieder Vorstellungen, aber nur, um das Geld wieder den Armen zu geben.«

»Freilich, ja freilich, Waffenmeister.«

Und schweigend trugen sie die Sitzplätze wieder ab, um aus den Brettern wieder die Decke herzustellen.

Ich ging in meine Kabine, zerriß den langen Brief, den ich während der letzten Tage an meinen Vater geschrieben hatte. Nur eine Vergeßlichkeit war es gewesen, daß ich ihn noch nicht zur Post gegeben hatte. Jetzt empfand ich es als ein Glück. Es stand manches darin, was jetzt ganz haltlos geworden war. So schrieb ich einen neuen. Eine Stunde verging.

»Die Patronin läßt den Herrn Waffenmeister bitten!« meldete Siddy.

Ich begab mich hin. Sie hatte die funkensprühende Wallnuß in der Hand.

»Wir wollen uns hier doch einmal erkundigen, was dieser Diamant wohl –«

»Der Herr Kapitän!« meldete Siddy, die Tür aufreißend.

Kapitän Martin trat nicht, sondern er stürmte herein.

»Dunnersslag!! Hält denn der Mensch so etwas für möglich?!«

Zunächst mußte ich den Kapitän für betrunken halten.

Erstens diese Worte bei dem stürmischen Eintritt, zweitens dieses dunkelrote, glühende Gesicht, und drittens – und das war das allerschlimmste Zeichen! – hatte er seine Hände nicht in den Hosentaschen.

»Frau Patronin, zeigen Sie mir doch noch einmal die Depesche von Ihrem Neu-yorker Rechtsanwalt.«

Sie hatte sie gleich zur Hand, er nahm und las sie.

Bodenkredit bankrott, alles verloren!

Das las er laut, das andere für sich.

Und dann warf er das Papier auf den Tisch, steckte die Hände in die Hosentaschen, warf sich auf einen Stuhl und streckte die Beine weit von sich.

»Nein, hält man denn so etwas für möglich, hahahaha!!«

Und er brach in ein unauslöschliches Gelächter aus, wozu ich diesen Mann gar nicht für fähig gehalten hätte. Oder ich mußte ihn mir am Grogtisch zwischen anderen alten Kapitänen vorstellen, wenn so die besten in aller Welt selbsterlebten Witze durchgenommen werden.

Wie wir ihn noch verständnislos anstarrten, sprang er wieder auf.

»Frau Patronin, ich will meine Botschaft nicht lange hinhalten – ich gehe vorhin auf meine Bank – frage so nebenbei, ob denn bei dem Bankrott der Neu-yorker Bodenkreditbank noch etwas herauszuholen wäre. – »Wuat,« brüllt mich der Kerl an, »die Neu-yorker Bodenkreditbank bankrott?! Sie sind wohl ein bißchen verrückt geworden.« –«

»Was?!« schrien auch wir beide jetzt auf. »Die Neu-yorker Bodenkreditbank nicht bankrott?!«

Der Kapitän holte seine Hand hervor, um sie, vorgebeugt da stehend, gegen seine Stirn zu klatschen.

»Na Menschenkinder – wie könnt Ihr denn nur glauben, daß die Neu-yorker Bodenkreditbank überhaupt krachen gehen kann? Das ist doch die solideste Bank, die’s überhaupt in der Welt gibt, die beleiht doch nur Grund und Boden im Staate Neuyork – ins Gesicht haben sie mir gelacht – und jetzt lache ich Euch ins Gesicht – Menschenkinder, wie könnt Ihr denn nur glauben, daß die Neuyorker Bodenkreditbank zahlungsunfähig werden könnte – seid Ihr denn nur ganz und gar von Gott verlassen – hahahaha!!«

Und der alte Kapitän blickte sich und klatschte aus seine Knie.

Ich will gleich vorgreifen, es etwas anders erzählen, als wie es kam.

Wie war denn so etwas nur möglich?!

Nun, gegen zwei Uhr war ich damals in Kapstadt an Bord zurückgekommen, gerade wie der Depeschenbote das Telegramm abgeliefert hatte.

Bodenkredit bankrott, alles verloren!

Undsoweiter. Gegen zehn Zeilen. Die Aktionäre haben höchstens 5 Prozent zu erwarten.

Aus Neu-york, unterzeichnet oder vielmehr aufgegeben von Steffenson, dem früheren Rechtsanwalt und noch jetzigen Geschäftsvertreter der Mistreß Helene Neubert, an die das Telegramm gerichtet war. Daß sie sich mit ihrem Schiffe in Kapstadt befand, hatte sie ihm sofort bei ihrer Ankunft telegraphiert.

Wer von uns dachte daran, nun gleich in die Stadt zu laufen, um nähere Erkundigungen einzuziehen? Das war doch hier Tatsache, da brauchte doch nicht weiter gefragt zu werden.

Kapitän Martin kam, las das Telegramm. Der kannte diese Bank nur so dem Namen nach. Der hatte, wenn er in Amerika, in Neu-york war, mit anderen Banken zu tun, die sich mehr mit dem Seehandel beschäftigen.

Kennt denn etwa in Deutschland jeder Kaufmann, der nicht gerade im Bankfach ist, die Kredit Lyonnais, die größte Bank Frankreichs? Wer kennt denn aber nun erst die Neuyorker Bodenkreditbank? Der Neuyorker, der Amerikaner, Bankleute, Börsenleute, Bodenspekulanten; anderen geht die ja gar nichts an.

Auch Kapitän Martin hatte keinen Zweifel in die Tatsache gesetzt, die dieses Telegramm verkündete. Dann hatte er seine lange Rede gehalten, dann hatte er die Gauklerbriefe studiert. Dann war der Prospektador gekommen. Da war es schon Abend gewesen.

»Soll ich das Schiff abmelden?« hatte Kapitän Martin gefragt. »Soll ich Dampf aufmachen lassen? Well.«

Und er war nur auf dem Seemannsamt gewesen, hatte dort keine Erkundigungen über diese Neu-yorker Bank eingezogen. Und zwei Stunden später waren wir auf hoher See gewesen. –

Ja, wie kam denn nun überhaupt diese falsche Meldung?

Das ist überhaupt nie aufgeklärt worden.

Der Rechtsanwalt Harris Steffenson in Neu-york hatte kein solches Telegramm aufgegeben; der wußte von nichts.

Hatte da jemand einen Putsch für die Börse vorbereitet?

War es ein Streich einer jener lieben Verwandten? Und sei es auch nur, um der lieben Helene einen grimmigen Schrecken einzujagen? Oder vielleicht, um sie zum Verkauf ihres Schiffes zu veranlassen?

Wir haben es nie erfahren.

Ja, wir konnten später, als wir uns darum bemühten, nicht einmal mehr konstatieren, ob dieses Telegramm überhaupt in Neu-york aufgegeben worden war!

Das stammte vielleicht aus Kapstadt! War gefälscht! Dem Depeschenboten in die Hände geschmuggelt worden!

Denn möglich ist so etwas. Da sind schon ganz andere Sachen gemacht worden.

»Kinder,« sagte dann später Kapitän Martin, als er sich nochmals ausgelacht hatte, »es erscheint als ein schier unglaublicher Fall! Daß wir an so etwas draufgehuppt sind! Aber, wenn man es richtig bedenkt, da sind in der Weltgeschichte schon ganz andere Fälle passiert! Nehmt nur einmal an, wie anno 70 die Franzosen schon auf der ganzen Linie geschlagen waren, und in Paris feierte man noch immer einen französischen Sieg nach dem anderen! Wie ist denn so etwas zu erklären?«

Ja, da hatte der Kapitän allerdings recht.

Aber da lassen sich auch noch andere Fälle herbeiziehen, die wir selbst mit erlebt haben.

Da war einmal – es ist noch gar nicht so lange her, ums Jahr 1900 muß es gewesen sein – in Paris eine Madame Humbert. Eine Bauerndirne, eignet sich als Dienstmädchen bei einer Herrschaft etwas Schliff und eine gewisse Bildung an. Kommt auf einen genialen Gedanken. Schafft sich einen mächtigen Panzergeldschrank an und behauptet, in diesem befänden sich hundert Millionen Franken, die hat sie von einem geheimnisvollen Unbekannten bekommen – es war wohl ein brasilianischer Minenbesitzer – sie dürfe aber den Geldschrank erst nach einer gewissen Zeit öffnen.

Und auf diesen leeren Geldschrank hin bekommt sie nach und nach vierzig Millionen Franken gepumpt!

Vierzig Millionen Franken!

Von den größten, solidesten, gewieftesten Bankhäusern!

Alle fallen sie darauf herein!

So weiß diese Bauerndirne ihr Märchen zu erzählen!

Was soll man denn dazu sagen?

Nun soll das nicht passiert sein, ein Schriftsteller erfindet das als Sujet, schreibt darüber einen Roman.

Na, der könnte ja sein Manuskript lange herumschicken!

Hat er Glück, findet er unter den Redakteuren oder Verlegern eine mitleidige Seele, so bekommt er freie Kost und Logis in einer Tobzelle.

Und in Wirklichkeit passiert es!

Die Wirklichkeit läßt eben alles, alles weit hinter sich, was ein Mensch auch in seinen verwegensten Träumen jemals erfinden kann! –

Die Patronin sah natürlich etwa wie ein Geist aus der vierten Dimension aus, oder auch wie einer aus der fünften bis sechsten Dimension.

»Nein, ist es denn nur möööglich?!«

»Na, gehen Sie mal mit Ihrem Kreditbrief hin nach der Bank, holen Sie sich den goldenen Mammon ab!«

»Georg – Georg –«

Es sah ganz so aus, als ob sie mit ihrem verklärten Gesicht mir um den Hals fallen wollte.

Das ließ ich mir aber nicht gefallen.

Jetzt beugte ich mich vor und klatschte mit meiner Hand gegen meine Stirn.

»Aber Frau Patronin – wie können Sie auch nur auf so einen Gedanken kommen, daß so ein Bankhaus wie die Neuyorker Bodenkreditbank pleite gehen kann –«

Weiter hielt ich meine Vorlesung nicht, ich stürmte hinaus, in die Batterie hinein, wo die Leute gerade die letzten Planken in die Decke oder in den Boden einfügten. »Jungens, Jungens, was macht Ihr denn da?! Seid Ihr denn verrückt?! Ihr sollt doch den Zuschauerraum aufbauen! Vorwärts, vorwärts, die tausend Sitzplätze geschaffen, heute abend wird Theater gespielt!«

Die Jungens starrten mich natürlich nicht schlecht an. Auch der Matrose Albert war dabei, und der stille Bengel mußte doch wohl der Gescheiteste sein, der traf gleich den Nagel auf den Kopf.

»See hädd woll all wedder Geld?«

»Wieder Geld?« schrie ich. »Hat sie denn jemals keins gehabt?«

Und dann klatschte ich mir wiederum die Hand vor die Stirn.

»Jungens, Jungens, seid Ihr denn nur ganz und gar von Gott verlassen, daß Ihr glauben könnt, so ein Haus wie die Neu-yorker Bodenkreditbank könnte zusammenkrachen?! Jungens, Jungens, Ihr werdet doch mit jedem Tage dämlicher!«

Ich wieder hinaus. Mochten die von mir denken, was sie wollten.

Am Ufer drängten sich die Massen, man machte Anstalten, die Laufbrücke zu stürmen, die drei Matrosenportiers standen in Boxerstellung, schrien nach Sukkurs.

»Ist hier noch der Redakteur von der Gazeta de Noticias?!« überschrie ich das Toben.

Denn ich hatte ja schon eine Unmenge von Karten in der Tasche, noch mehr lagen auf meinem Tische.

»Hier, hier!«

Der Herr durfte passieren, ich nahm ihn mit in meine Salonkabine.

»Also wir werden heute abend wieder so eine Vorstellung geben. Aber diesmal bei uns an Bord. Sie schrieben mir, daß Sie ganz und gar zu meiner Verfügung ständen. Nun, ich würde Ihnen eventuell die Ehre geben, daß Sie den Billettverkauf besorgen dürfen.«

Mit vor Freude zitternden Händen zog der Zeitungsmensch sein Notizbuch.

»Wieviel – viel – Plätze?«

»Genau tausend Plätze, einer so gut wie der andere.«

»Und – und – der Preis?«

»Nun, ich dächte, drei Milreis pro Platz ist gerade ein hübscher, runder Preis.«

»Und – und – werden Sie die Einnahme wieder einer wohltätigen Anstalt überweisen?«

Ich drehte mich halb zur Seite, um jenem einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

»Na, dachten Sie etwa, wir spielten in unsere eigene Tasche?! Alles für die Armen, alles für die Armen!«


21.
KAPITEL. DIE SEEZIGEUNERIN.

Früh um sechs ging die Sonne auf.

Wie gewöhnlich so ungefähr im Osten.

Ich drehte ihr aber den Rücken zu.

Lehnte an der Bordwand, rauchte eine Zigarre und schaute unseren Matrosen zu, die schon wieder bei der Arbeit waren, die Rahen richteten, in besonderen Weise, was am besten von der Straße aus geschah, die in dieser Gegend um diese Zeit noch ganz menschenleer war. Wir lagen direkt an einer Straße, drüben mit Häusern besetzt.

Die Jungens waren schon wieder bei der Arbeit, obgleich sie bis Mitternacht gemimt hatten.

Ach, war das ein Getöse gewesen!

Genau 3000 Milreis hatten wir in der Theaterkasse, was nach damaligem Kurse genau 12 750 Mark entsprach.

Wobei ich nämlich – wie immer bisher – den portugiesischen Milreis meine! Denn wenn ein Leser nachschlägt, so wird er finden, daß der brasilianische Milreis ja nur 2.25 Mark hat.

Dort unten herrschen ganz unklare Geldverhältnisse, in die man sich erst hineinfitzen muß. Wir aber wußten schon, was wir meinten, wenn wir von einem Milreis sprachen. Den brasilianischen Doppelreis. Ich werde von jetzt an lieber Dollar sagen, wie auch dort unten sehr üblich, da weiß jeder, wieviel das ist.

Genau 3000 Dollars in der Kasse!

Nicht einmal der Redakteur hatte ein Freibillett bekommen, obgleich er sich, wie noch andere Angestellte seiner Zeitung die Beine abgelaufen hatte.

Sie mußten alle vollen Eintrittspreis berappen!

Na ja, wenn man alles den Armen geben will!

Aber die würden schon noch eine Anerkennung von uns bekommen, die sich gewaschen hatte. Da brauchten sie keine Angst zu haben. Da ließen »WIR« uns doch nicht lumpen.

So simulierte ich, wie ich an der Bordwand lehnte, eine Zigarre rauchte und zusah, wie sich meine Jungens mit den vertrackten Rahen abquälten.

Ach, ist das eine Wonne, dieses Bewußtsein, auf der bombensicheren Neuyorker Bodenkreditbank zwei Millionen Dollars zu vier Prozent liegen zu haben! Und mit diesem Bewußtsein bei Sonnenaufgang eine echte Havanna zu rauchen!

»Chachachettaaas!« erklang der Ruf, das ch wie bei »rauchen« ganz hinten in der Kehle hervorgebracht.

Das spanische Wort für Krabben, Taschenkrebse.

Es war eine Krabbenverhäuferin, die gerade an dem spanischen Schiffe langsam vorüberging und ihre Ware aussang.

Ja, da kam sie!

Holde Erinnerung aus meiner Jugendzeit, kehre noch einmal zurück!

Da kam sie!

Klothilde, Du holder Engel mit dem Teufel im Leibe!

Klothilde, Du scheußliche Teufelsfratze mit dem Engelsherzen!

Lieber Leser!

Es ist keine erfundene Figur; die ich Dir hier vorzeichne.

Sie lebt noch heute, die Klothilde Gracco, Du kannst sie besuchen, wie auch ich es vor noch gar nicht so langer Zeit getan habe.

Sie lebt noch heute in Monako, in der unteren Stadt Condamine, hat die Pension Maison Bellando.

Dort kannst Du Dir von ihr einer ihrer tausend und einen Geschichten erzählen lassen, in aller Welt alles selbst erlebt.

Und es ist gleichgültig, ob Du ein Deutscher oder ein Franzose oder ein Engländer oder ein Schwede oder ein Holländer oder ein Italiener oder ein Spanier oder ein Portugiese bist – sie erzählt immer in Deiner Muttersprache.

Und wenn Du bei ihr wohnst oder Du hast sonst ihr Wohlgefallen errungen, und Du bist einmal in Geldverlegenheit oder hast kein Hemd mehr anzuziehen, brauchst es ihr bloß zu sagen, die zieht sofort ihr Hemd aus und gibt es Dir.

Dabei kommt sie als Pensionswirtin freilich auf keinen grünen Zweig. Aber die weiß sich schon durchzuhelfen, die pumpt dann wieder einen reichen Kauz an, der von vornherein weiß, daß er nichts wiederbekommt. Ich sah sie kommen, ein barfüßiges Weib, mit einem kurzen Kittel, oben ein Hemd, in der Hand einen großen Bastkorb. »Chachachettaaas!«

Das war eine schlechte Zeit zum Krabbenverkaufen, früh um sechs.

Von dem spanischen Schiffe wurde ihr ein Wort zugerufen.

»Caracho di bognetti!« gab sie zurück.

Na ich danke!

Was das heißt, das steht in keinem Wörterbuche.

Jetzt kam sie an das italienische Schiff.

»Granchiiios – granchiiios di mareee!«

Auch nichts. Auch das italienische Schiff war wie ausgestorben.

Jetzt bam sie an dem französischen Dampfer vorüber.

»Crevetts – crevetteees!«

Auf dem französischen Schiffe schlief erst recht noch alles.

Nun kam sie zu uns.

»Kerrreeebs!!«

Ganz genau wie in London die Krabbenhändler auf der Straße!

Jetzt sah ich sie nun deutlich, zumal sie zu mir emporblickte.

Eine schlanke, kräftige Gestalt. Kleine, schöngeformte Füße. Aber nun dieses Gesicht! Ja, wie soll ich es beschreiben.

Es war nichts weniger als schön. Hagere, strenge, männliche Züge. Eine gerade, scharfe Nase. Unter dieser ein Bärtchen, um das sie mancher Husarenleutnant beneidet hätte. Aber nun diese Augen, die in dem schwarzbraunen Gesicht funkelten!

»Krabben gefällig?« fragte sie jetzt auf deutsch zu mir herauf. »Taschenkrebse, mein Herr?«

Ich antwortete nicht, war noch ganz in dieses eigentümliche Gesicht versunken, mochte aber doch den Kopf geschüttelt haben.

»Na da nich!« sagte sie und wollte gehen.

Aber sie ging nicht, schaute den an einem Tau ziehenden Matrosen zu.

Dann wandte sie sich wieder mir zu und rief:

»Eh, Stürmann, häbbt Jü nich ehn Zigahr for mi?«

Lachend warf ich ihr eine Zigarre hinab, der Kreolin, die mich im schönsten Schiffsplatt anbettelte.

»Häbbt Jü nich en bäten Für? Oder Jü dacht wohl, ick schäll mi dat Für ut’n Ooogn slagn?«

Lachends warf ich ihr meine Streichholzbüchse zu, sie brannte sich die Zigarre an, warf mir die Schachtel mit einem kurzen »danke« zurück, setzte sich auf einen eisernen Boller und gab sich ganz dem Genusse der Zigarre hin, paffte wie ein Schornstein, den Rauch durch die Nase blasend.

Anfang

Dann schaute sie aufmerksam nach den Matrosen, die mit einer Rahe nicht fertig werden wollten, vergebens an einem Tau rissen.

»Na da pult doch, Jungens,« ermunterte sie, »pult doch – zu – gleich! Zu – gleich!«

Die Rahe wollte sich nicht hiven lassen.

»Na da singt doch, Jungens,« ermunterte sie wieder, »singt ein Schandy –«

Und sie fing an zu singen:

Uuund dr Käpten hädd enn beuses Wief,
O ho, ho!
See hädd’n Düwel in den Lief
Und tanzt mit emm Jim Cro.

Und wie sie so weit war, steckte sie Daumen und Zeigefinger einer Hand in den Mund und pfiff das »zu – gleich«, pfiff, wie nur ein alter, ausgeteerter Bootsmann pfeifen kann.

Die Matrosen stutzten, blickten nach der Sängerin und Pfeiferin, und dann konnten sie vor Lachen nicht mehr ziehen.

»Na da pult doch, Boys, pult –«

Uuuund bin ick mal mit ihr allien,
O ho, ho!
Dann slag ick ihr den Schädel in
Und tanz dazu Jim Cro.

Und dann pfiff sie wieder.

Und dann sang sie weiter, das Schandy, das auch ich noch gar nicht kannte.

Uuuund wat schiert mi Fru,
was schiert mi Kind,
O ho, ho!
Ick ersup see in dee Waterpin
Und tanz: dazu Jim – –.

Mit einem Male brach sie ab, sprang auf und jumpte von der ziemlich hohen Ufermauer ins Wasser.

War das ein verrücktes Frauenzimmer!

Ja aber weshalb sprang sie denn plötzlich ins Wasser?!

Weil sie gesungen hatte, daß sie, als Seemann gedacht, Frau und Kinder im Wasserfaß ersäufen wollte, hinterher Jim Cro tanzend?

Nein, irgend einen Grund mußte dieser plötzliche Wassersprung doch haben!

So, wie ich stand, konnte ich sie nicht sehen. Sie war im Wasser unter dem übergebauten Heck, unter dem sich Steuer und Schraube befindet, verschwunden.

Also ich springe schnell nach achtern und blicke über das Heck.

Da sehe ich unter mir gerade wieder ihre Gestalt aus dem Wasser emportauchen, sie hat ein weißes Bündel in den Armen.

Allmächtiger Gott!

Unsere Ilse!

Ich will es gleich erzählen, wie es gekommen war. Ilse, wie immer aufstehend, sobald der Morgen graute, hatte schon gespielt, hinten im Heckraum, noch hinter der Kajüte, ihrer Kinderstube.

Dort befand sich die Heckluke, hinten an der Wand angebracht. Wir hatten sie gestern benutzt, um einiges einzunehmen. Sie war zuzuschließen vergessen worden, nicht einmal zugeriegelt.

Das Kind hatte sich angelehnt, war ins Wasser gepurzelt, war verschwunden gewesen, ohne einen Laut von sich zu geben.

Ich hatte nichts plumpsen hören.

Aber jenes Krabbenweib hatte es gesehen. Sofort war sie ins Wasser gesprungen, mit drei Stößen hingeschwommen, nachgetaucht, das Kind zu fassen bekommen. Es wäre rettungslos ertrunken.

Plötzlich hatte ich ein Seil in der Hand und warf es ihr zu, daß sie nur wenigstens erst einmal einen Halt bekam. Übrigens hätte sie gar nicht ans Ufer kommen können, hier war keine Treppe.

Unvergeßlich ist mir, was in den nächsten Sekunden geschah. Wenn ich überhaupt etwas dachte, so hatte ich ja jetzt an etwas ganz anderes zu denken, und dennoch mußte ich darüber staunen, grenzenlos staunen, was die dort unten im Wasser ausführte.

Wasser tretend, im linken Arm das Kind, fing sie mit der rechten Hand das Seilende auf, zog nach, schleuderte es von sich, griff nach, schlang sich das Seil am das Handgelenk, schlug einen Steg, schleuderte das Seil nochmals von sich, zog es durch die Luft im Bogen zurück – und die regelrechte Schlinge war fertig, die sie sich sofort um den Oberkörper legte, unter den Armen durch.

Die Matrosen üben sich viel in Knotenkunststückchen, einen Knoten nur mit einer Hand zu schürzen zu werfen, zu schleudern. Da sieht man manchmal Virtuosen, die Fabelhaftes fertig bringen. Ich kann so etwas nicht.

Aber was dieses Weib dort unten leistete, das habe ich niemals wieder gesehen, das hat ihr auch kein anderer nachmachen können! Und nun dabei schwimmend, beim Wassertreten! Über ihren Kopf weg! Im anderen Arme ein Kind, das über Wasser zu halten war!

Im Augenblicke meinte ich eine Hexerei gesehen zu haben. Ich war wirklich wie verhext. Grübelte nur darüber nach, wie die denn das fertig gebracht hatte!

Das währte freilich nur einen Moment, dann dachte ich an etwas anderes.

Da aber fing die dort unten wieder zu singen an; sie hatte ihren Schandy doch nicht zu Ende gesungen.

Ick ersup see in de Waterpint
Und tanz dazu Jim Cro – hiv up!

Wir zogen sie herauf. Noch andere waren herbeigesprungen, keines Wortes fähig. Sie starrten nur nach dem blonden Lockenköpfchen unseres Kindchens.

»Wo ist denn nur Ilse?« erklang es da hinter uns.

Die Patronin war es, die fragte.

Da kamen die beiden gerade über die Bordwand, von zwanzig ausgestreckten Armen empfangen.

Na, ich brauche wohl nicht zu sagen, wie die auch sonst empfangen wurde.

Ich könnte es übrigens gar nicht schildern. Ich weiß nicht, was sich in den nächsten Minuten alles abspielte, was in der Kajüte alles gesagt wurde, wie sich die Patronin benahm. –

Sie blieb bei uns an Bord, wurde eine Argonautin.

Obgleich sie dadurch einen heiligen Schwur brach, denn sie hatte erst kürzlich das Gelübde abgelegt, sogar in die Hand eines Priesters nie, nie wieder an Bord eines Schiffes zu gehen.

Aber diesen Schwur brach sie nun gerade zum dreizehnten Male.

»Na, Kinders, diese Geschichte kostet mich ja mindestens wieder drei Dutzend Vaterunser!«

»Sie sind katholisch?«

»Tjo, all wedder mal.«

Sie hatte nämlich schon alle Religionen durchgemacht.

Jetzt war sie 34 Jahre.

Ich hätte sie viel jünger gehalten, zumal als ich sie für eine Kreolin gehalten hatte; höchstens für zwanzig.

Klothilde konnte sofort Bescheid geben, woher das kam.

»Das macht einfach die viele Liebe. Wer viel geliebt hat, dem wird auch viel verziehen. Auch in Anrechnung der Jahre.«

Klothilde Gracco aus Genua. Beruf: Stewardeß (Schiffskellnerin).

Daß sie aus Genua war, das stand wenigstens in ihrem Seefahrtsbuche, das jetzt aber in Rio auf dem deutschen Konsulate lag. Um es wieder zu bekommen, mußte sie entweder 40 Mark Strafe zahlen oder 14 Tage brummen, weil sie zuletzt von einem deutschen Passagierdampfer desertiert war. Und zwar schon zum – – ixten Male.

»Wenn ich mir durch meinen Krabbenfang die 40 Mark zusammengespart habe, dann brumme ich die 14 Tage ab dann also habe ich doch 80 Mark zusammen. Na dann aber geht Klothilde los!«

Also aus Genua.

Doch was hieß bei der aus Genua?

Man entscheide:

Ihre Mutter war eine Deutsch-Schweizerin, ihr Vater ein Kapitän aus Genua. Das war der einzige Anhaltspunkt, daß sie aus Genua sein sollte. Ihr Vater fuhr ein Triestiner Schiff, das aber unter französischer Flagge segelte, an Bord dieses Schiffes wurde Klothilde geboren, im Hafen von Gibraltar, also in Spanien, aber Gibraltar ist englisch.

Nun soll einmal jemand entscheiden, welcher Nation die eigentlich angehörte!

»Ach, mich hat ja überhaupt eine Möwe im Fluge ausgebrütet.«

Der Esel hat mich im Galopp verloren – sagt man entsprechend wohl am Lande.

Sie blieb bei der Mutter an Bord.

Als sie dreizehn Jahre alt war, starb die Mutter, und Klothilde kam nach Genua in eine feine Pension.

Nicht ganz eine Woche hielt sie es drin aus, dann verschwand sie und tauchte auf einem englischen Schiffe aus dem Kohlenbunker wieder auf. Als Junge. Und als Schiffsjunge blieb sie auch auf diesem Schiffe.

Dann musterte sie auch auf anderen Schiffen an, auch auf Seglern – als Leichtmatrose und Matrose.

Bis in ihrem achtzehnten Jahre durch Zufall einmal ihr zartes Geschlecht entdeckt wurde.

Nun war es aus mit der Seefahrerei. Das heißt als Matrose. Nun ging sie als Stewardeß. Kam sie aber nicht einmal gleich als Schiffskellnerin an, dann ging sie wohl auch wieder einmal als Matrose, sogar als Bootsmann war sie schon einmal gefahren.

Vorher aber, noch ehe ihre zweite Periode richtig begann, in ihrem zwanzigsten Jahre, als sie nach italienischen Gesetzen mündig wurde, bekam sie die Erbschaft ausgezahlt, die ihr der unterdessen verstorbene Vater hinterlassen hatte, rund hunderttausend Lires, also achtzigtausend Mark.

Nun ging sie erst mal nach Paris. Sie brauchte noch nicht ganz 14 Tage, um die 100 000 Lires totzuschlagen.

Das mußte man aber von ihr selbst erzählen hören.

»Ei, Kinders, da hättet Ihr mich mal sehen sollen! Eine russische Prinzessin, die Tochter von einer Großfürstin, wollte mit mir konkurrieren! Aber die konnte doch nicht mit der Klothilde antreten! Wenn die vierspännig fuhr, dann fuhr ich sechsspännig und hatte hinten dran noch extra zwei Gäule, die mußten schieben. Ei, Kinder, war ich da angesehen! Jedem Konstabler, der vor mir salutierte, haute ich einen Hundertfrankenschein um die Ohren. Und nun von oben bis unten und hinten und vorn mit Diamanten gepanzert! Natürlich mit falschen, mit Similis. Na ja, für hunderttausend Franken kann man sich doch nicht mit echten Diamanten panzern. Aber das konnte man doch nicht unterscheiden. So wurde ich geehrt, daß ich zuletzt auf Regierungsunkosten freie Fahrt nach Havre bekam. Mit zwei Gendarmen, die gut aufpassen mußten, daß mir unterwegs nichts passierte. Per Schub mit der Polizei.«

Und nun ging es wieder los, die christliche Seefahrerei. Als Stewardeß oder was sich sonst gerade bot. Noch 14 Jahre lang. Bis heute. Dabei aber nun auch immer einmal an Land sich betätigt, in allen Weltteilen. Meist war sie als Kellnerin gegangen. Aber auch als Goldgräber hatte sie sich versucht, mehrmals, Pferde hatte sie gestohlen – ach, was die alles gewesen war!

»Ob ich in Kapstadt gewesen bin? Ei, da hatte ich doch eine Strohhutfabrik! Aber das Geschäft ging nicht. Und da war gerade so ein neues Patent aufgekommen, Kaffeesäcke aus Strohgeflecht. Also ich krempelte alle meine Strohhüte zu Kaffeesäcken um. Nun machte ich Konkurs, es kam alles unter den Hammer. Nun glaubte aber der Auktionator, ich hätte noch eine Strohhutfabrik, also der verauktionierte alle die Kaffeesäcke als Hüte –«

Ach, konnte die Geschichten erzählen!

Und es waren Tatsachen, was sie erzählte, das konnte man und kann man noch heute nachprüfen.

Eine ihrer Geschichten möchte ich hier doch einmal wörtlich wiedergeben. Wie sie in Melbourne gekellnert, was sie da Seltsames erlebt hatte.

Nun muß ich aber den Leser von vornherein um Entschuldigung bitten. Ich muß sie so sprechen lassen, wie sie selbst erzählte, sonst hat es gar keinen Zweck. Und sie ließ den australischen Spelunkenwirt so sprechen, wie solch ein australischer Spelunkenwirt eben wirklich im Leben spricht.

Sollte ich der Geschichte einen Namen geben, so würde ich sie »Diana mit dem Goldregen« betiteln.

Wobei ich an das bekannte Bild denke – obgleich ich jetzt nicht gleich weiß, von welchem Meister es ist – wie die Göttin Diana von Jupiter besucht wird, der sich ihr in Gestalt eines Goldregens naht, auf sie herabfällt. Also ich beginne:

Diana mit dem Goldregen.

Hatte mich mal in Melbourne festgerannt. War wiedermal von Bord gelaufen – hatte was ausgefressen – hielt mich in einer Spelunke versteckt, bis das Schiff fort war. Dann wurde ich in der Spelunke Kellnerin.

Weil drin Wein verschenkt wurde und weil’s drin richtige Tische und Stühle gab, hieß man’s eine französische Weinstube.

Ebensogut konnte man mich die Jungfrau von Orleans nennen.

»Klothilde,« sagte der Baas zu mir, wie er mich einrichtete, »you bloody damned nice girl – jeden Morgen um zehn kommt ein old Gentleman zu mir, Mister Hailgig, ein bloody damned reicher Boy, trinkt immer eine bloody damned halbe Rotwein für nen bloody damned Schilling – der bezahlt nur mit Farthings,[Die kleinste englische Kupfermünze = 2 Pfennige] stopft jedesmal fünfzig einzelne Farthings in Ihren bloody damned Hals hinein. You understand, ay?«

»Er stopft sie mir in den Mund nein?«

»No, Miß Hinten, nein.«

»Hinten nein?«

»Yes, Miß. Hinten in den Hals hinein, zwischen Haut und Hemd. Der alte Krauter macht’s nicht anders. Hat’n Spleen. Aber sonst ein Gentleman. Well, dann gehen Sie hinauf in Ihre Kammer und schütteln Ihre bloody damned Kittel aus, bringen mir die fünfzig Farthings. You understand, ay?«

Ja, nun hatte ich’s verstanden.

Früh um neun mußte ich schon unten sein – und bis um drei ging’s immer – hatte die Stube zu fegen und die Tische zu scheuern. Punkt zehn kam Mister Hailgig, ein alter Knasterbart im schäbigen Rock, trank eine halbe Flasche vom billigsten Rotspon, sprach kein Wort, gab auch keine Antwort auf eine Frage. Wie ich ihm in der Nähe seines Tisches einmal den Rücken zudrehte, erwischte er mich von hinten oben bei der Halskrause und ließ mir zwischen Hals und Hemd eine Handvoll Münzen den Buckel hinunterrutschen, ohne dabei etwas zu sagen. Na, wenn’s dem Spaß machte – mir war’s egal, wo er das Geld hinsteckte, da ist Klothilde nicht so. Und ich mußte mich sowieso dann gleich umziehen.

Also ich ging nach oben in meine Kammer, heftelte meine bloody damned Kittel auf – da fielen die Farthings herunter, kollerten am Boden herum. Erst fehlten ein Dutzend oder noch mehr am Schilling. Aber ich mußte nur ordentlich suchen, unterm Bette und unterm Schranke krebsen, mit einer Haarnadel in den Dielenritzen stochern, in die man eine Pudelmütze werfen konnte – da brachte ich die fünfzig zusammen; freilich auch keinen mehr, Trinkgeld gab’s bei dem nicht.

Am andern Morgen wieder dieselbe Geschichte. Diesmal aber machte ich’s praktischer, als ich mich des Mammons entleerte – ich breitete am Boden mein Bettuch aus und stellte mich darauf. Da rollten die kleinen Dinger nicht so. Und weil ich sie nun einmal so hübsch beisammen hatte, nahm ich dann gleich das ganze Betttuch wie einen Sack auf den Rücken und brachte die fünfzig Farthings so dem Baas. Der lachte unbändig. »You bloody damned rascal!«

Und so ging das Morgen für Morgen. Ich wunderte mich nur, wo dieser Mister Hailgig die vielen Farthings herbekam! Die kleinen Dinger sind in Australien noch seltener als in England.

In dieser Spelunke hatte noch kein Mädchen länger als drei Tage ausgehalten. Das kommt dort in Australien überhaupt nicht vor. Immer hin und her. Hier aber hatten es die Mädels immer auf den verrückten Kerl geschoben, hatten es ihm auch gesagt, er solle seine fünfzig Farthings an seinem eigenen Leibe sonstwo hinstecken, aber nicht in ihren Hals. Und trotzdem machte er’s bei jeder neuen Kellnerin immer wieder.

Es war am siebenten Morgen. Am Mittwoch war ich angetreten, und am Dienstag war’s. Old Hailgig hatte mir wieder, wortlos wie immer, die fünfzig Farthings den Buckel herunterrutschen lassen. Ich machte meine Arbeit fertig, dann ging ich hinauf, trat aufs Bettuch band meine Kittel auf.

Ein Korsett trug ich früh noch nicht. Der kupferne Mammon rasselte herab.

Kupfern? Wie das heute klang! Und dann traue ich doch meinen Augen nicht – – da sehe ich auf dem Bettuch lauter Goldstücke liegen! Englische Pfund, funkelnagelneue Sovereigns!

Ich träumte nicht nur, es waren und blieben echte Sovereigns, fünfzig Stück.

Konnte das ein Versehen sein? Es wäre möglich gewesen. Der reiche Knacks, der zu Hause so viele Farthings im Kasten hatte, würde wohl auch noch andere Münzen aufgespeichert haben, und er griff, wenn er bezahlte, nur immer so in die Hosentasche, hatte sofort die abgezählten fünfzig Farthings in der Hand, steckte sie mir sofort in den Hals, ohne sie noch einmal angesehen zu haben. Konnte er da zu Hause nicht einmal aus Versehen in den falscher Geldkasten gegriffen haben? Hatte die fünfzig Stück vielleicht im finstern abgezählt? Die Farthings sind doch genau so groß und so dick wie die Sovereigns. Ja, diese sind allerdings viel schwerer – aber immerhin, so ein Irrtum wäre doch möglich gewesen. Auch ich hatte nicht das geringste davon gemerkt, was ich auf den Hüften für eine Goldlast eine halbe Stunde lang mit mir herumgeschleppt hatte.

Ich hätte mit den fünfzig Goldfüchsen einfach verschwinden können. Ich habe auch schon genug gemaust, auch Geld – was der Mensch braucht, muß er haben – aber in gewisser Beziehung ist die Klothilde ehrlich. Das mußte aufgeklärt werden.

Jetzt war er schon fort. Die Goldstücke brachte ich dem Baas natürlich nicht, sagte ihm auch nichts davon. Er war überhaupt einmal fortgegangen, ich steckte einen Schilling in den Kassenschlitz.

Als dann seine Tochter kam, die manchmal mit half, ging ich in die Horsestreet, wo der Alte wohnte. Das ganze Haus gehörte ihm. Er selbst aber hauste nur in einer Dachkammer. Er war ein alter Geizknüppel, der sich früh den Wein nur als Lebenselexier gönnte.

Ich klopfte an. Er öffnete. So und so, erklärte ich. Was es mit den fünfzig Sovereigns wäre.

Ich denke doch, der will mich auffressen!

»Die gehören Ihnen, weil Sie sich das von mir altem Esel eine ganze Woche lang haben gefallen lassen!« brüllte er mich wütend an und schmetterte die Tür zu, daß er mir bald die Nase eingeklemmt hätte.

Ich will nicht renommieren – aber ich hatte so etwas schon geahnt. Klothilde ist nicht so dumm. Der hatte mir nach gewisser Zeit die Goldstücke statt der Farthings mit Absicht hineingesteckt. Der hatte gewissermaßen eine Wette mit sich selber abgeschlossen, daß das kein Mädel sieben Tage mitmachen würde.

Am anderen Morgen kam er wieder. Kein Wort von ihm, ansprechen durfte man ihn gar nicht. Ich hielt ihm wieder meinen Hals so recht gefällig hin, obgleich ich nicht etwa dachte, daß der mir nun wieder fünfzig Goldstücke hineinpfropfen würde. Aber jetzt war es auch mit den Farthings vorbei. Jetzt legte er wie jeder andere Mensch einen Schilling auf den Tisch. Der Baas wunderte sich. Mochte er. Von mir erfuhr er nichts.

Dann ging ich. Die fünfzig Goldfüchse brannten mir gar zu fürchterlich in der Tasche. Sie wurden in Melbourne schleunigst verjuckt. Dann zog ich lange Stiefeln an, pfropfte Männerhosen hinein und ging mit in die Barribarriberge, wo man Gold gefunden hatte.

Ob ich welches gefunden habe?

Nicht die Bohne.

Zwei Stiche und einen Revolverschuß habe ich mitgebracht, aber kein Gold.

Dann wurde ich in Sidney Gouvernante und Anstandsdame bei einer Familie mit dreizehn lebendigen Kindern. Aber es waren Juden, es mußte eine Israelitin sein. Und ich war damals gerade evangelisch-reformiert. Schön, da wurde ich einmal hebräisch. Na, wie ich da umgekrempelt worden bin, und Klothilde als Anstandsdame.

Aber das muß ich Euch ein andermal erzählen. Prost, Maate – auf Ihr Wohl, Frau Patronin – hoch lebe Backund Steuerbord!


»Das war so eine Erzählung der Klothilde Gracco. Nun mußte man aber das von ihr selbst erzählen hören, wenn sie in der Kajüte hinter der dampfenden Punschterrine saß mit einer qualmenden Zigarre, so lang und so dick und so schwarz als möglich.

Und was für Grimassen und Fratzen die nun dabei schnitt! Aber daß war nicht etwa Angewohnheit, noch viel weniger Nervosität. Ihre Seele spiegelte sich auf ihrem Gesicht wider, und diese ihre Seele war ganz Feuer. Eine geborene Schauspielerin! Wenn sie den australischen Spelunkenwirt sprechen ließ, so war sie im Moment dieser selbst, und wie sie nun den breiten, australisch-englischen Dialekt hervorbrachte, mit ganz schiefem Munde – »Klothilde, you bloody damned rascal« – einfach zum Totschießen!

Vor drei Wochen war sie also hier in Rio von einem deutschen Passagierdampfer gelaufen, als Stewardeß, hatte zum dreizehnten Male den Schwur abgelegt, nie wieder das Deck eines Schiffes zu betreten. Weshalb eigentlich, das wußte sie wohl selbst nicht recht. Sie wollte der Seefahrt eben endlich entsagen, weil sie das Gefühl hatte, daß es für ein Weib auf die Dauer doch nichts sei. Jetzt hatte sie von Krabbenfang und Krabbenverkauf gelebt und recht hübsch dabei verdient. Wenn sie genug Geld zusammen hatte, wollte sie in Rio eine Seemannsherberge aufmachen.

Nun hatte sie doch wieder das Deck eines Schiffes betreten müssen, war aus dem Wasser heraufgeleiert worden – sie ergriff diese Gelegenheit nur gar zu begierig, um ihr Gelübde zum dreizehnten Male zu brechen. Sie war ja ganz unschuldig daran, hatte das Deck ja nicht freiwillig betreten.

Nun aber blieb sie bei uns, selbstverständlich!

Sie wußte sich sehr, sehr nützlich zu machen. Sie hätte ja auch jede seemännische Arbeit verrichten, sogar die Funktion eines Steuermannes übernehmen können – aber es fand sich bald etwas Geeigneteres für sie, wodurch sie uns eine große Sorge abnahm.

Unsere Ilse brauchte nun ernstlich Schulunterricht. Ihre Tante eignete sich nicht dazu, keiner von uns. Am besten Meister Hämmerlein, der hatte ihn auch übernommen, aber der vergaß, manchmal mitten im Satze das Sprechen, konnte dann, wenn er nicht geweckt wurde, stundenlang vor sich hinträumen, mit den Fingern auf dem Tische trommelnd.

Jetzt übernahm Klothilde den Schulunterricht, und diese internationale Seezigeunerin, Matrose, Stewardeß und sogar Bootsmann gewesen, von der man doch nicht viel Ewig-Weibliches, das uns hinanzieht, erwarten durfte, die manchmal haarsträubend fluchte – sie war die beste, gewissenhafteste, aufmerksamste, geduldigste Lehrerin – dem Kinde die zarteste Pflegerin.

Unter den Matrosen war sie dann wieder deren Kamerad.

Und was die nun sonst noch alles aufstellte, davon werde ich noch gar viel zu erzählen haben.

Ende des Ersten Teils