Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.
Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.
Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.
Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.
Inhaltsverzeichnis
22. KAPITEL. TRIUMPHE IN RIO.
23. KAPITEL. AUF DEM AMAZONENSTROME.
24. KAPITEL. ANGENEHME UEBERRASCHUNGEN.
25. KAPITEL. GETÄUSCHT!
26. KAPITEL. SIEBEN WOCHEN IM URWALDE.
27. KAPITEL. DER PHÖNIZISCHE DIAMANT.
28. KAPITEL. WIR LASSEN UNS CHARTERN!
29. KAPITEL. DER STERNKIEKER.
30. KAPITEL. DAS ERSTE MENSCHENLEBEN, DAS ICH MIT ABSICHT VERNICHTE.
31. KAPITEL. HUNDEGEBELL UND MONDESZAUBER.
32. KAPITEL. EIN WRACK BESONDERER ART.
33. KAPITEL. KAPITÄN SATAN VOM »SEETEUFEL«,
34. KAPITEL. IM KAMPFE MIT PIRATEN.
35. KAPITEL. WAS WIR IN DEM SCHLUPFWINKEL FANDEN.
36. KAPITEL. AUF VANCOUVER.
37. KAPITEL. WIE WIR UNSERE KONKURRENTEN RETTEN.
38. KAPITEL. WIR SICHTEN UNSERE KONKURRENTEN UND WAS WIR SONST NOCH ERLEBEN.
39. KAPITEL. DIE KÖNIGIN DER AMAZONEN.
40. KAPITEL. DIE BLAUEN UND DIE GELBEN.
Zweiter Teil
22. KAPITEL. TRIUMPHE IN RIO.
Am Freitag waren wir gekommen, am Sonnabend gaben wir die zweite Vorstellung.
Wir hätten es nicht getan, wenn wir klar zum Auslaufen gewesen wären. Aber so weit würden wir erst am Montag sein, und so lange wurde auch im Weinberge der Kunst gearbeitet.
Unsere Statuten, daß wir in der Theater- oder sogar Schiffskasse immer nur 50 Pfund Sterling haben durften, so ist war die Mimerei verboten, hatte jetzt natürlich keine Gültigkeit mehr. Jetzt waren »Wir« ja wieder vermögende Leute, Bankkapitalisten, die ihre »Kunst« nur zu wohltätigen Zwecken betrieben. Aber Spaß hatte es doch gemacht, als wir damals diese Statuten ausgesetzt. Und die Patronin hätte ihren vermeintlichen Bankrott auch nicht in ihrem Leben vermissen mögen. Dabei hatte sie doch einmal recht tief in das Herz ihrer Leute, »ihres Volkes« blicken können.
Ach, es war herrlich gewesen, was sich dabei offenbart hatte! Albert hatte ja damals nur für alle gesprochen.
Die verschiedenen Theater und sonstigen Vergnügungslokale Rios wollten sich auf die Hinterbeine setzen, gegen die polizeiliche Erlaubnis für das fremde Theaterschiff ankämpfen, gaben es aber sofort auf, als sie erfuhren, daß wir die ganze gestrige Einnahme, tausend Dollars, bereits dem Seemannshospital überwiesen hatten; sonst hätten sie einmal vollends boykottiert werden können.
Wir konnten an ihrem Verlust nichts ändern. Was dem einen seine Nachtigall, ist dem anderen eben seine Eule. Die mußten unfreiwillig mit wohltätig sein. Übrigens hat Rio de Janairo mehr als eine halbe Million Einwohner, wir nahmen ihnen nur tausend Menschen weg, und auch nur solche, die für einen Platz drei Dollars zahlen können.
Diesmal aber wurde der Billettverkauf anders gehandhabt. Die Plätze wurden verauktioniert. Das geschah in 25 Hotels und größeren Lokalen, übernommen wurde das Ganze wieder von der Zeitung »Gazeta de Noticias«, die sich uns überhaupt in liebenswürdigster Weise zur Verfügung stellte, ohne einen direkten Vorteil davon zu haben.
Gegen sechs Uhr abends liefen die letzten Resultate der Billettauktion ein, gleich in Masse, und als die eine Summe von fast neuntausend Dollars ergaben, da wurde uns doch etwas schwummrig zumute.
So etwas hätte niemand erwartet. Der Platz im Durchschnitt 36 Mark!
Allerdings kam hinzu, daß jeden Sonnabend nachmittag, oder schon am Mittag, aus der ganzen Umgebung, gut mit Eisenbahnen durchzogen, die steinreichen Hazienderos mit ihren Familien nach der Hauptstadt kommen.
Sennor Traquez, jener gefällige Redakteur, war mit diesem Resultate nicht einmal im entferntesten zufrieden. Es sei zu viel Zwischenhandel vorgekommen, schon erstandene Plätze seien bis zum sechsfachen Preise weiterverkauft worden. Auch habe die telephonische und telegraphische Bestellung nicht richtig funktioniert. Morgen könne er für mindestens 20 000 Dollars Einnahme garantieren.
Wir selbst mußten uns erst an solche Erfahrungen gewöhnen, wenn wir doch auch die Welt schon so ziemlich kannten.
Da kommen eben die Verhältnisse in Betracht. Das ist Amerika. In Europa ist so etwas gar nicht denkbar. Das ist ja auch der Grund —— von dem Goldbeutezug europäischer Künstler nach Amerika ganz abgesehen — weshalb in Amerika selbst große Theater, Zirkusse, Menagerien und dergleichen Unternehmungen die weitesten, kostspieligsten, beschwerlichsten Reisen unternehmen, per Achse mit Pferden, in vielen, vielen Planwagen durch Prärie und Urwald, um irgend ein winziges Nest zu erreichen, das auf keiner Karte angegeben ist. Was in solch einem Neste manchmal für Geld steckt, Gold, gemünzt und ungemünzt! Die alten Goldgräberzeiten sind noch immer nicht vorüber. Es gibt aber auch noch andere Beschäftigungen. Ein riesiger Wald wird in Bretter verwandelt. Die Arbeiter kommen nicht fort, haben keine Gelegenheit zum Geldausgeben, aber jeden Sonnabend wollen sie ihren Lohn in bar haben, da gibt es nichts! Und sie wissen wirklich nicht, was sie mit dem Gelde anfangen wollen. Ja, es sich im Spiele gegenseitig abnehmen. Da wechselt es aber doch immer hin und her. Professionelle Falschspieler, wie sie Gerstäcker geschildert hat, gibt es heute gar nicht mehr in Amerika, diese Pest ist glücklich ausgerottet. Und diese Leute warten nur auf eine Gelegenheit, um einmal Geld ausgeben zu können. Natürlich möchten sie auch etwas dafür haben, etwas sehen und hören, Oder wie aus den Rinder— und Pferdefarmen die Cowboys. Es braucht gar nicht nach Schluß der Season zu sein, wenn er sein Jahresgeld ausgezahlt bekommt. Solch ein Cowboy schnallt einen Silbersporen ab und wirft ihn auf den Kassentisch, und der Sängerin auf der Bühne, mag sie auch noch so gröhlen, wirft er den anderen pfundschweren Sporen an den Kopf.
Aber sehr bemerkenswert ist dabei, daß nun nicht etwa jede zusammengelaufene Schauspielerbande kommen darf. Auch diese Hinterwäldler wollen etwas »Berühmtes« sehen. Sie wollen für ihr Geld eben dasselbe haben, wie die »Swells« in den großen Städten. Dann aber bezahlen sie auch. Ganz egal, was es kostet. »Was die »Swells« sich leisten können, das bezahlen wir mit einer Hand.«
Die Hauptsache freilich liegt ja auch im Aplomb, im pomphaften Auftreten, schon im Ein— und Aufzug solch einer Truppe, sonst ist nichts zu machen. Und da sieht man ja auch manchmal in solch einer Bretterbude mitten im Urwalde oder in einem vergessenen Neste fabelhafte Toiletten! Und die Diamanten, die solch eine Chansonette zeigt, müssen echt sein! Schöpft man Mißtrauen, so wird die Sache untersucht, und sind es Similis, dann werden die Wagen der Gesellschaft mit Johlen zum Tempel hinausgeschoben, die Schauspieler mit Eiern und Pech und Federn beworfen! Das ist eben amerikanisch.
Nun kann ich gleich wieder mit der Klothilde anfangen.
Sie hatte noch nichts von unserem Schiffe und seiner »künstlerischen« Bedeutung gewußt. Am vorhergehenden Tage hatte sie draußen am einsamen Meeresstrande gekrebst, wohnte auch dort draußen bei einer Fischerfamilie. Auch vorher hatte sie sich doch nicht um die Zeitungsberichte gekümmert.
In der sechsten Morgenstunde war sie an Bord gekommen, nun erfuhr sie doch bald alles.
»Eine Vorstellung gebt Ihr? Was denn für eine Vorstellung? Kann ich da nicht mitmachen?«
Nun natürlich machte Klothilde doch gleich mit!
Am Abend trat sie schon auf.
Und wie!
Was die in aller Schnelligkeit ausgeheckt und sich auch schon eingeübt hatte, nämlich mit einem Partner zusammen, den sie dazu brauchte!
Nun muß ich erst Verschiedenes erwähnen, um die ganze Sache plausibel zu machen.
Klothilde hielt Musterung unter ihren nunmehrigen Schiffskameraden, mit Wohlgefallen ruhte ihr künstlerisch entwickeltes Auge besonders auf dem dreizentrigen Fett- und Fleischkloß, August der Starke genannt, sie hörte ihn sprechen.
»Ei dü, Du bist doch ein Bayer! Noch hinter München her. »Von Kempten Du bist ein Allgäuer, nicht?«
August der Starke sperrte vor Überraschung seinen Rachen auf.
Klothilde sprach nämlich sämtliche deutsche Dialekte — sämtliche, glaube ich! Das kam von den vielen Fahrten auf deutschen Auswandererdampfern her. Nun hatte sie ein sehr feines Ohr und außerdem eine wahre Zündnadelschnauze! Man konnte von ihr irgendwelchen Dialekt verlangen, sie machte ihn sofort nach, gleich mit einer Charakterfigur. Am ergötzlichsten war es, wenn sie einen deutschsprechenden Ungarn markierte, es brauchte nicht gerade der Baron Mikosch zu sein, noch ergötzlicher aber wohl war es, wenn sie als deutschsprechende Tschechin schimpfte. Na‚ diese Ausdrücke! Das waren ja nur so kleine Privatunterhaltungen, aber wir wälzten uns immer wieder vor Lachen.
Jawohl, unser zweiter Bootsmann, August Bringmayr, war ein Bayer, noch hinter Kempten her, ein echter Allgäuer.
Hierin muß ich immer noch etwas anderes bemerken.
Die besten Matrosen stellt das Binnenland.
Das mag manchem Leser merkwürdig klingen. Aber das ist unter uns Seeleuten allgemein bekannt, das weiß jeder Kapitän.
Es ist auch sehr einfach zu erklären, daß es sogar gar nicht anders sein kann.
Die von der Waterkant, von der Küste, die ergreifen den Seemannsberuf aus Tradition. Der Vater, der Großvater, alle Ahnen waren Seeleute, also muß der Junge auch Matrose werden. Ob er will oder nicht. In seinen Gedankenkreis schleicht sich überhaupt gar kein anderer Beruf ein. Und dabei ist es also auch ganz gleichgültig, ob sich der Junge überhaupt dafür eignet oder nicht; wenn er nur nicht gerade ein Krüppel ist, aber sonst kann er direkt wasserscheu sein, er geht zur See.
Aus dem Binnenlande aber gehen doch natürlich nur die Jungen zur See, die aus Neigung und Sehnsucht dazu getrieben werden. Und daß die gute Turner und Kletterer und Schwimmer sind, das ist doch ganz selbstverständlich. Da wird doch niemals ein Muttersöhnchen dabei sein, das im Winter Ohrenklappen trägt.
Nun allerdings versagen ja auch viele solche Binnenländer. Na‚ dann geht so ein Junge, der die Nase vollbekommen hat, eben wieder nach Hause zurück! Bleibt er aber dabei, dann ist er auch gut! Während der Junge von der Küste gar keine Wahl hat, ob es ihm gefällt oder nicht. Das ist eben der gewaltige Unterschied dabei!
Gerade die Matrosen aus Bayern haben einen ganz besonderen Ruf als die tüchtigsten Schiffsleute. —
August Bringmayr war schon zwei Jahre lang Lehrling in einer Dorfbäckerei bei Kempten gewesen. Da hatte er sich frei gemacht, um seiner Neigung folgen zu können, war nach Hamburg und zur See gegangen.
Kein Mensch hörte ihm mehr den Bayer und gar den Allgäuer an, wenigstens meiner Meinung nach nicht. Er sprach Platt oder Hochdeutsch wie jeder andere Hamburger.
Klothilde aber hatte seine Heimat bis zum engsten Bezirk sofort herausgehört! Mir unbegreiflich!
»Du bist ein Allgäuer? Da mußt Du doch auch — können.«
»Ei gewiß das kann ich noch!«
Es hatte niemand gehört, oder die es doch gehört hatten, verrieten nichts.
Aber so mußte es doch wohl gekommen sein.
Nein, verraten wurde nichts.
Das war nämlich mit die Hauptsache bei unserer Theaterspielerei.
Wir spielten nämlich auch für uns selbst, nicht nur für das Publikum. Wir überraschten uns gegenseitig
Muß den Schauspielern ihre »Kunst« nicht zum Halse heraushängen, wenn sie ein und dasselbe Stück hundert oder auch nur fünfzigmal hintereinander spielen müssen, müssen, müssen!? Ich habe Schauspieler darüber gesprochen. Da kann man ja etwas zu hören bekommen.
Wir konnten nicht in solch eine Verlegenheit des verzweifelten Lachens und des lachenden Jammers kommen.
Wer eine gute Idee hatte, der ging zu Meister Hämmerlein, trug sie ihm vor, machte ihm seine Sache vor, oder einige zusammen. Aber sie brauchte gar nicht so gut zu sein, Hämmerlein wußte dann schon etwas daraus zu machen.
Da wurde dann heimlich einstudiert. Dazu geeignete Räume hatten wir ja genug. Und dann wurde das als Zwischenspiel in meinen »Kling—Klang—Klung« eingeschoben, bei der Festlichkeit am Hofe oder bei sonst einer Gelegenheit.
Davon wußten wir anderen aber noch gar nichts. Das bekamen die Unbeteiligten erst auf der Bühne zu sehen, — 564 wenn es eben so weit war. Wurde dadurch das ganze Stück zu lang, so wurden eben andere Szenen gestrichen, aber ohne Verabredung, alles frei aus dem Handgelenk heraus, und es klappte vorzüglich, ohne vorherige Generalprobe.
Das heißt, das war gestern abend das erste Mal gewesen, daß das so gehandhabt worden war. Wir hatten ja noch gar nicht wieder zusammen gespielt.
Aber so war es gestern abend gewesen. Eine ganze Menge neuer Zwischenspiele, von denen wir selbst, die wir nicht direkt daran beteiligt waren, zum Teil gar keine Ahnung gehabt hatten. Und das eben war das Amüsante dabei, auch für uns! Also nun hatte Klothilde wieder etwas Neues ausgeheckt und im zweiten Bootsmann einen Partner gefunden. Noch einige andere mußten ins Vertrauen gezogen werden, die bekamen schnell etwas zu nähen und zu schnitzen. Die beiden übten im Geheimen unter Hämmerleins Klavierbegleitung im Verborgenen. Aber nicht so still wie die kleinen Veilchen. Es war ein Heidenspektakel, den man manchmal zu hören bekam. Aber was sie übten — keine Ahnung!
Als Hämmerlein dann einmal herauskam und an mir vorüberging, schlenkerte er die Finger und schüttelte sich vor geräuschlosem Lachen, was man bei dem kleinen, buckligen Männchen selten sah.
»Das ist ja ein Teufelsweib! Ich habe manchmal vor Lachen nicht begleiten können! Na‚ das wird ja etwas heute abend!«
Der Abend kam, die Vorstellung begann. Zuerst wieder das Keulenschwingen. Das sich aber nun ganz bedeutend verbessert hatte, wenn es auch, derselbe Barritgesang und dieselbe Posaunenbegleitung geblieben war.
Der Effekt war derselbe wie gestern abend, wie vor drei Wochen in Kapstadt — grenzenlos!
Nur daß hier noch ein ganz anderes Publikum in Betracht kam, eines mit spanisch-portugiesisch-brasilianische Blute.
Es war gut, daß die Mitteldecke oder der Batterieboden dafür berechnet war, noch ein ganz anderes Gewicht zu tragen, als nur das von lumpigen tausend Menschen. Mehr brauche ich wohl nicht zu sagen, der Leser mag sich das im Geiste selbst ausmalen.
Dann »Kling—Klang—Klung«. Von den neuen Einlagen, die wir schon gestern abend gespielt hatten, erwähne ich nur einen Fanfarenmarsch von zwanzig Mann auf sogenannten Engelsposaunen oder Heroldstrompeten geblasen, wozu Hämmerlein unter Mitwirkung einiger Heizer, die kunstfertige Schlosser waren, gewöhnliche Posaunen und selbst Trompeten umgebaut hatte, zu zwei Meter langen Rohren. An jedem hing eine gold- und silbergestickte Flagge, mit unserem Schiffsnamen. Es waren eben die Argonauten, die am Hofe des Kaisers von China ihren Einzug hielten, mit Fanfarengeschmetter, unter den Klängen des Argonautenmarsches natürlich vom Hämmerlein komponiert.
Kennt man den bekannten Kreuzritter—Fanfaren—Marsch von Henrion? So ungefähr. Aber noch viel, viel imposanter. Und der ist für sechs Trompeten gesetzt, — wir verfügten über zwanzig Heroldsposaunen!
Musikdirigent war August der Starke. Der sollte ja eigentlich am chinesischen Hofe die Kaiserin—Mutter sein, aber das war ja ganz egal. Jetzt war er einmal der Bootsmann der nach Peking gekommene Argonauten. Seine Gestalt war unersetzlich, auch seine Kraft. Er spielte nämlich gleichzeitig zwei Pauken, und was für Dinger, die Felle doppelt und dreifach verstärkt, bearbeitete sie mit zwei mächtigen Keulen. So gab er den Takt an.
Großartig! Fabelhaft! Unbeschreiblich! Einfach überwältigend!
»Mit diesem Stücke könnten wir auch im besten europäischen Konzertsaale paradieren!« hatte sogar der Komponist gesagt, der sonst so überaus bescheidene Hämmerlein. »An die Beurteilung dieses Marsches wagt sich auch der bissigste Kritiker nicht heran — er verliert ja gleich die Besinnung.«
Aber wirklich — einfach großartig!
Außerdem wurde jetzt die Menagerie noch viel mehr ausgenützt.
Und dann kamen die beiden, wieder August der Starke — und Klothilde
In tyroler oder oberbayerischen Kostümen.
Schuhplatteln!
Und wie die beiden schuhplatteln konnten!
Wie der ungeheure Fettkloß seine Beine schlenkerte, wie er gegen die an den mächtigen Schenkeln prall ansitzenden Lederhosen klatschte, wie er fingerschnalzend um sein Dearndl herumtanzte, dazwischen immer einmal ein »Holdrio juhuuu« — und wie Klothilde tanzte wie er sie dann nahm und herumschwenkte, bis zu der sechs Meter hohen Decke emporschleuderte und sie wieder auffing, daß die weißen Unterröcke flogen, und dann wieder losgestampft und losgeklatscht — »Holdrio juhuuul« — »Uiiiii!« quiekte dann wieder das Dearndl1 dazwischen.
Ich kann nur eines sagen: es konnte nicht weiter gespielt werden. Das Theaterstück mußte abgebrochen werden. Die tausend Menschen tobten und rasten und wollten die Bühne stürmen. Die beiden sollten weiter tanzen. Wir standen hinter dem gefallenen Vorhang wirklich schon mit dem Wasserschlauch bereit, die Dampfpumpe war angestellt, um den Brasilianern eine kalte Dusche zu geben.
Da ging der Vorhang wieder hoch. Ich selbst befand mich übrigens im Zuschauerraum neben der Patronin.
Also auch wir beiden wußten nicht, was jetzt kommen würde. Weiter gespielt konnte das Stück nicht werden.
Wieder kamen die beiden, August und Klothilde.
Jetzt aber als holländische Bauern. Er im Flausrock mit großen Silberknöpfen, mit Pumphosen und der Zipfelmütze auf dem Kopfe, sie im kurzen, schwarzen Rock, blumengestickt, mit roten Strümpfen, im Haar einen merkwürdigen Aufputz — und vor allen Dingen beide an den Füßen ungeheure, unförmliche Holzschuhe. Also Schuhe, keine Holzpantoffeln.
Und jetzt begannen die beiden einen holländischen Bauerntanz, wobei es nur darauf ankommt, mit den Holzschuhen möglichst aufzustampfen, möglichst viel Spektakel zu machen.
Ach, wie soll ich es schildern!
Wie die beiden sich an den Händen faßten und im Kreise hopsten, wie die angeschossenen Frösche, tiefer und tiefer in die Kniebeuge gehend und immer höher springend, um immer kräftiger aufstampfen zu können, und wie sie dabei lachten!
Denn das ist mit die Hauptsache bei diesem holländischen Bauerntanz, das Lachen!
Bei unserer Tanzerei, beim Walzer und dergleichen, wird doch nicht etwa gelacht. Im Gegenteil, wenn man scharf beobachtet — bei uns schleicht sich in die Gesichter der Tanzenden, wenn sie sich so eng umschlungen hinwälzen, immer ein Zug, der dem wirklichen Menschen gar nicht recht gefallen will. Es wird immer so etwas Tierisch—Sinnliches.
Bei natürlicheren Tänzen, welche der Freude und Ausgelassenheit Ausdruck geben sollen, wie eben beim Schuhplatteln, kommt der Jubel auch nur ab und zu zum Durchbruch, das Richtige ist es noch längst nicht.
»Aber das holländische Holzschuhstampfen, das ist ein richtiger Tanz! Man muß es nur einmal gesehen haben, wie die sonst so ernsten, phlegmatischen Holländer da zu ausgelassenen Kindern werden. Wie sie sich totlachen — 569 wollen, weil sie solchen Unsinn machen, sich gegenseitig bei den Händen zu fassen und im Kreise herumzuhüpfen, nichts weiter als mit den Holzschuhen möglichst viel Spektalel machend.
Und so tanzten diese beiden, nur im Kreise herumhopsend, in der Kniebeuge stehend, möglichst stampfend und sich ausschüttend vor Lachen.
Man sieht aber wohl, daß man so etwas nicht beschreiben kann.
Ich sehe noch seitwärts von mir einen brasilianischen Hüter der Ordnung stehen, wie er sich krampfhaft an einen eisernen Stützpfeiler klammert, wie er vornüber neigt und den Helm vom Kopfe verliert. Und in derselben Verfassung befand sich das ganze Publikum. Ein einziges brüllendes Lachen aus tausend Kehlen.
Nein, das Theaterstück konnte nun nicht mehr fortgesetzt werden.
Diese beiden durften wir überhaupt nicht mehr im Zwischenspiel auftreten lassen. Die machten doch mein ganzes Stück wirkungslos. Hinterher wirkte doch gar kein Witz mehr.
Albert trat auf.
»Du bist, mein Lieb, so schön und schweigsam wie die Nacht.«
Nichts weiter.
Aber es genügte.
Wiederum erlag das gesamte Publikum dem seltsamen, unbeschreiblichen Zauber, eine ganz echte Zauberei!
Wohl wurden noch Beifallsstürme des Wahnsinns entfesselt, dann aber leerte sich der Theatersaal in ziemlicher Ordnung.
Wir waren in der Kajüte, die Patronin und ich. Auch Kapitän Martin kam.
»Frau Patronin, hier ist ein Herr draußen. Er wollte mich sprechen. Habe ihn gesprochen. Ehe Sie ihn empfangen, können Sie ja schon erfahren, um was es sich handelt.«
»Nun?«
»Es ist nämlich der Direktor und Besitzer vom Olympia-Theater. Dem größten hier. Auch mit Zirkus 3000 Sitzplätze. Er will Ihnen für jeden Abend 25 000 Dollars zahlen. Und das eine Woche lang. Sieben Vorstellungen. Er garantiert also 175 000 Dollars. Garantiert wirklich. Und seine Garantie ist gut. So viel hat er selbst auf dem Theater als Hypothek stehen.«
Die Patronin faltete die Hände, sah ganz kläglich aus.
»Ach, nun wieder das!«
»Well,« fuhr der Kapitän fort, »ich halte es für meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß Sie nur drei solcher Wochen brauchen — und die werden wir schon zusammenbekommen, wenn auch nicht gerade in Rio allein — Und Sie haben einen Fond, mit dem Sie sich ein neues solches Schiff kaufen können, falls Sie dieses einmal verlieren sollten.«
Hilfesuchend blickte die Patronin nach mir.
»Georg —?«
»Nein!« sagte ich einfach.
»Nein! Nein!« fing sie da zu schreien an. »Verschonen Sie mich doch nur mit solchen Vorschlägen!«
»Well, ich hielt es nur für meine Pflicht. Also ich soll den Herrn fortschicken?«
»Ja! Ja!«
»Well, ich würde es an Ihrer Stelle auch nicht tun!« sagte Kapitän Martin und ging.
Und die Sache war erledigt.
Nein, wir durften so etwas nicht tun, sonst war unsere Freiherrlichkeit futsch!
Wer es versteht, der weiß eben, um was es sich hierbei handelte, und wer es nicht versteht, dem wird man es auch niemals begreiflich machen können.
Ich will hierbei gleich noch eines bemerken.
Wir haben sehr bald viele Konkurrenten bekommen. Es hat bald nach uns noch viele Theaterschiffe gegeben, die von Hafen zu Hafen fuhren.
Nicht eines hat bestehen können! Sie kamen nie auf die Kosten. Hatte sich der Unternehmer eine Kalkulation gemacht, daß er so etwas wagte, dann war diese Kalkulation eben stets falsch gewesen.
Bei uns war das ja etwas ganz, ganz anderes! Solch eine Mannschaft, wirkliche Matrosen und Heizer, die selbst schauspielerten, hat man nie wieder zusammentrommeln können. So etwas läßt sich doch überhaupt nicht »zusammentrommeln«. Wir hatten doch auch nicht getrommelt. In Liverpool kommen die beiden Mannschaften zweier Schiffe auf einem einzigen zusammen und — ja Du lieber Gott, was soll man da weiter sagen!
Zusammentrommeln läßt sich so etwas jedenfalls nicht, niemals!
Das kommt, wie's eben kommt! Ist ein Geheimnis dabei, so läßt sich solch ein Geheimnis doch niemals mit Worten definieren.
Unser ganzes Schiff besaß nur zwei menschliche Arme, und an jedem Arme befanden sich 36 Paar Hände, und alle diese Hände wurden nur von einem einzigen Kopfe dirigiert.
Aber es war immer ein verschiedener Kopf. Einmal war es Kapitän Martins Kopf, einmal war es Hämmerleins Kopf, einmal war es mein Kopf.
Und diese menschliche Maschinerie besaß auch nur ein einziges Herz. Aber dieses blieb immer ein und dasselbe Herz.
Es war das Herz unserer Patronin
Das war das ganze Geheimnis! Anders weiß ich es nicht auszudrücken.
Auf dem Mississippi fahren einige Theater- und Zirkusschiffe. Dort rentiert es sich. Aber ein Seeschiff, von Hafen zu Hafen fahrend, um Vorstellungen zu geben wer es gewagt hat, der hat dabei sein und anderer Leute Kapital verspekuliert.
Oder noch eine andere Lösung des Geheimnisses, weshalb es gerade uns glückte, will ich geben.
Das Rezept dazu stand in dem Ringe, den mir die Patronin gegeben hatte.
»Wir leben einander zu Liebe.«
Am anderen Vormittag — Sonntag — war in der Bucht von Rio internationales Bootsracen der im Hafen liegenden Kriegsschiffe, Wettrudern im zehnriemigen Kutter. Zwischen zwei brasilianischen Kriegsschiffen, zwei englischen, einem nordamerikanischen, einem französischen und einem argentinischen.
Ein deutsches Kriegsschiff war nicht da; sonst wäre dieses Bootsracen nämlich auch nicht arrangiert worden.
Der geneigte Leser wird wohl schon gemerkt haben, daß ich in Sachen der Nationalitäten sehr gerecht bin. Ich bin deutscher Patriot. Aber alles hat seine Grenzen. Mir gefällt vieles, vieles nicht. Und nun gar in Sachen des Sports können wir vorläufig den Engländern nicht das Wasser reichen.
Aber das ist eine Tatsache: wenn Kriegsschiffe verschiedener Nationen ein Wettrudern ausschreiben, und ein deutsches Boot ist dabei, dann siegt aber auch ganz gewiß dieses deutsche Boot!
Ich weiß nämlich selbst nicht, woher das kommt! Die Engländer haben doch genau dieselben Boote, genau dieselben stämmigen Kerls, genau dieselbe Disziplin, sie werden genau so eingepult — aber mit den deutschen Kriegsschiffmatrosen können sie nie antreten! Ich bin doch selbst mit in der Marine eingepult worden. Aber ich weiß nicht, worin das Geheimnis liegt. Der erste Bootsmann bestimmt zum Bootsracen die Ruderer, wählt den Kuttersteurer, meist nur einen Obermatrosen, dann noch eine kleine Rede —. »Jungens, Gnade Euch Gott, wenn Ihr nicht — unter meine Augen dürft Ihr ja nicht wieder treten!« — und das Boot geht ganz sicher als erstes durchs Ziel.
Die sieben Kapitäne der verschiedenen Schiffe hatten zusammen für die Offiziersmesse des siegenden Schiffes einen sehr schönen silbernen Pokal gestiftet, für die Deckoffiziersmesse einen silbernen Aschenbecher, die Mannschaft des ersten Bootes erhielt hundert Dollars, des zweiten fünfzig, des dritten fünfundzwanzig Dollars. Recht annehmbare Preise. Außerdem stiftete ein Privatmann aus Rio für die ganze Mannschaft des siegenden Schiffes noch für den Nachmittag Schokolade mit Kuchen.
Auch jedes Handelsschiff konnte sich mit einem Kutter beteiligen, ohne Einsatz. Es meldete sich keines. Da hätten auch höchstens die großen Passagierdampfer in Betracht kommen können, von denen ja genug im Hafen lagen, besonders deutsche, deren Mannschaft wird ja richtig eingepult. Aber mit Kriegsschiffen können sie da denn doch nicht konkurrieren, da fehlt die fortwährende Übung. Ein Handelsmatrose läßt sich doch nicht drillen, bis er nicht mehr weiß, ob er nur so schwitzt oder ob ihm etwas anderes Fatales passiert ist. Denn man soll nur einmal sehen, wie die »Manofwars«, die Kriegsschiffmatrosen, gezwiebelt werden! Das Publikum bekommt es aber gar nicht zu sehen. Das würde wahrscheinlich solch eine Tierquälerei gar nicht dulden.
Nur eine Privatjacht meldete sich, einem Londoner Multimillionär gehörend, so einem Pillendreher, der die hartleibige Menschheit beglückt.
Aber das Boot wurde von den Schiedsrichtern nicht angenommen. Wohl war es ein zehnriemiger Kutter, seetüchtig, konnte aber nicht als großes Rettungsboot gelten, dazu war es zu leicht und zu schmal. Es war ein Rennboot für See.
Und dann schließlich die »Argos«, ein Mittelding zwischen Kauffahrteischiff und Jacht bildend.
Halb zehn ging es zum Start, nach der Ilha das Cobras — Schlangeninsel, es sind aber keine Schlangen mehr darauf, alles befestigt. Von hier nach Ilha Caquaradas, ungefähr sechs Kilometer, dort herum und zurück. Das heißt, so war die Strecke! Erst wurde gestartet. Die Bucht wimmelte von Lustdampfern und anderen Fahrzeugen, aber die Strecke wurde gut freigehalten. Das Wasser war leicht gekräuselt.
Während des Startes kollidierte das nordamerikanische Boot mit einem kleinen Dampfer, eine Planke wurde ihm eingedrückt. Mir hatte es recht ausgesehen, als ob etwas Absicht dabei gewesen wäre. Und richtig, die Yankees machten nicht mehr mit, obgleich sie ja noch andere Kutter an Bord hatten. Nein, sie wollten nicht mehr. Na, die wußten schon, warum nicht.
Wir lagen in einer Reihe. Unser Boot allein mit einer Handelsflagge. Natürlich mit der englischen.
Punkt zehn fiel der Kanonenschuß wir pulten an.
Es ging, wie es immer geht. Bei dieser Sorte Mischung ist es immer dieselbe Geschichte. Zuerst schossen die Brasilianer und Argentinier weit voraus. Diesen Südländern wird man nie, nie angewöhnen können, daß sie Kräfte für später sparen.
Allerdings darf dieses Kräfteaufsparen beim Bootsrudern nicht übertrieben werden. Es ist doch etwas ganz, ganz anderes als beim Pferde- und Radrennen. Bleibt man einmal beträchtlich zurück, dann läßt es sich nicht wieder einholen. Aber sich gleich mit solcher Wut in die Riemen zu legen, das ist natürlich Unsinn.
Dann kamen die Franzosen, dann wir, und in unserem Kielwasser folgten die beiden englischen Boote, deren Steuerleute geduckt wie die Katzen vorm Mäuseloche saßen.
Schon nach fünf Minuten hatten die Brasilianer und Argentinier ihre Lungen vollkommen ausgepumpt, und sofort schossen die beiden Engländer an uns und an dem Franzosen vorüber.
Nun aber los! In der nächsten halben Minute hatten auch wir den Franzosen hinter uns, lagen dicht hinter dem letzten Engländer.
Nun war also die Sache betreffs der Nationalität bereits entschieden. Die englische Flagge siegte unter allen Umständen. Wenn nicht die englische Kriegsflagge, dann eben die englische Handelsflagge.
Und da kam auch noch, um das Kraut vollends fett zu machen, eine zweite englische Handelsflagge auf! Das Rennboot dies englischen Pillendrehers.
Eine unerhörte Dreistigkeit! Machte einfach mit!
Na‚ da es nun einmal mitlief, mochte es laufen. Zu sagen hatte es natürlich nichts. Es überholte uns schnell, war schon längst hinter der Insel verschwunden, als wir erst eine Landzunge erreicht hatten. Kunststück, solch ein leichtes Rennboot!
Herum um die Insel!
»Nun aber mal los, Jungens! Zu — gleich!!«
Und meine zehn Jungens legten los, jetzt erst richtig!
Sie zogen durch, daß ich gefürchtet hätte, sie könnten die Esschenstangen durchbrechen — wenn es möglich gewesen wäre. Aber biegen taten sie sich wie die Reitgerten; denn jetzt waren sie nicht mehr mit schweren Bleirohren umgeben.
Es ist etwas Seltsames, ganz Seltsames mit dem Bootsrudern.
Mir gegenüber saß als erster der Matrose Erich, ein kleiner Blondkopf von Rügen, er gab den Schlag an. Seine blauen Augen bohrten sich in die meinen und diesen Blick reflektierte ich auf alle die anderen Augenpaare, und so wurde nur ein einziges Augenpaar daraus.
Weiß der Leser, was ich hiermit sagen will?
Pferd und Reiter können eins werden. Das ist gewiß.
Beim Bootsrudern aber können zehn Menschen und noch mehr plötzlich eine einzige Seele bekommen, und das Boot selbst wird lebendig, das ist kein totes Holz mehr, und jeder Riemen wird lebendig, und das alles hat nur eine einzige Seele.
Und so gingen wir an den beiden Engländern glatt vorüber, und ich konnte nur noch sehen, daß der Steuermann im vordersten Boot plötzlich die Maulsperre bekam.
Ach, dieses Toben an Land, dem wir uns jetzt immer mehr näherten, und ringsherum auf den Fahrzeugen, dieses Brüllen und Heulen und Pfeifen!
Vor uns lag das Rennboot ruhig auf Riemen. Es wollte mit uns noch ein bißchen spielen. Uns gleichgültig; es rannte ja nicht mit, aber eine Gemeinheit war's doch.
Jetzt brauchte ich nicht mehr den suggerierenden Blick, unser Sieg war bereits entschieden, und so blickte ich nach unserem Schiffe am Kai, deutlich zu sehen, ihm immer näher kommend.
An Deck mochten unsere Kameraden stehen, sie mochten jubeln — ich sah sie nicht. Ich sah nur dort oben in halber Höhe der Mittelwanten die Patronin hängen, in der einen Hand ein Doppelglas, das sie aber schon nicht mehr brauchte, in der anderen Hand ein weißes Tuch, um uns zu winken — aber sie winkte nicht.
Und dann blickte ich anders wohin.
Nach dem Heck unseres Schiffes, an dem die englische Flagge wehte.
Und dann fing ich an zu beten. »Lieber Gott, laß doch schon die Depesche gekommen sein, laß doch gerade jetzt —«
Und in demselben Augenblick ward mein Gebet erhört.
Und in demselben Augenblick fing vor uns das Rennboot wieder zu pulen an, aber es klappte nicht, die Ruderer spielten Sechsundsechzig, das heißt, die Riemenblätter klapperten zusammen.
Und in demselben Augenblick erfaßte ich die Situation.
»Durch, zieht durch, Jungens!« heulte ich auf. »Die Depesche ist da, wir sind registriert!«
Und in demselben Augenblick schossen wir am Friedhof von Caju und an dem englischen Rennboote vorbei, und das konnte uns nun nicht mehr einholen auf dieser kurzen Strecke!
Und da bückte ich mich und holte aus dem Bootskasten etwas hervor, was ich für alle Fälle mitgenommen, wenn ich auch nicht darauf zu hoffen gewagt hatte — und dann griff ich hinter mir, zog die Flaggenstange heraus und riß mit den Zähnen die englischen Farben ab, knüpfte mit einer Hand und mit den Zähnen andere Farben daran und setzte die Stange wieder ein.
So gingen wir noch weit vor dem englischen Rennboot als erste durch das Ziel, aber nicht mehr als englisches Boot — jetzt knatterten hinter mir die schwarzweißroten Farben, so wie auch schon dort auf unserem Schiffe die deutsche Flagge wehte, und Kapitän Martin stand daneben und salutierte.
Das längst und sehnsüchtig erwartete Kabeltelegramm von Hamburg war endlich eingelaufen — die »Argos« war von Noald nach Hamburg überschrieben worden!
Noch eines muß ich erzählen, ehe wir Rio verlassen.
Ein Stückchen, das August der Starke ausführte, noch an demselben Tage, überhaupt gleich nach unserer gewonnenen Wettfahrt.
Doch muß ich erst etwas vorausschicken
August der Starke hieß er, nicht wegen seiner Dicke, sondern weil er so stark war wie weiland der Kurfürst von Sachsen.
Der Mensch besaß eine geradezu unheimliche Kraft! Nicht nur eine gewöhnliche Bärenkraft. Der quetschte in seinen Armen jeden Bären zusammen.
Doch was heißt Kraft? Ich glaube, daß man Körperkraft niemals wird messen können.
Ich habe einen schmächtigen Kerl gesehen, der zehnmal hintereinander eine Dreizentnerhantel stemmen konnte, aber auf der Schulter nicht einmal eine Fünfzigpfundkiste tragen.
Unser August war kein besonderer Held im Hantelstemmen. Er wog ziemlich drei Zentner, brachte nur mit Mühe und mit unsäglichem Schnaufen einen Klimmzug fertig, konnte also auch keine drei Zentner stemmen, brachte sie nicht über Brusthöhe, brachte die Arme nicht darunter.
Anderseits bewies er manchmal eine geradezu übermenschliche Kraft! Es mußte nur einmal die Gelegenheit kommen. Da bekam er plötzlich einen roten Kopf, packte zu und führte etwas aus, was — man überhaupt gar nicht begreifen konnte. Leistungen, die man nur einem göttergleichen Herkules zuschreibt. Aber das ließ sich nicht kommandieren.
Das erste Mal hatte ich so etwas von ihm gesehen, als wir damals vor der Bucht in der Magalhaesstraße vor Anker gingen. Gerade als der Anker fiel, schlippte die Kette von dem Zahnrad der Winde ab, sie war nicht ordentlich aufgelegt worden. Die herabrasselnde Kette konnte sofort gebremst werden, es hatte auch sonst nichts weiter zu sagen, es ging auch so, wurde dann aber eine überaus langweilige Geschichte.
Als die Kette abschlippte, sprangen sofort vier Matrosen hinzu, gaben aber auch gleich den lächerlichen Versuch auf, die Kette noch über die Winde werfen zu wollen.
Da sprang auch der zweite Bootsmann herbei, packte die Kette und warf sie über die Winde.
»Let go!«
Was hierzu für eine Kraft gehört hatte, das läßt sich nicht mit Zahlen ausdrücken. Da muß man die Verhältnisse kennen, um so etwas beurteilen zu können. Und nur mit der einen Hand, nur mit der linken Hand hatte er das ausführen können! Denn mit der rechten Hand hatte er gleichzeitig die Kettenglieder über dem Zahnrad geordnet! Es war eine Kraftleistung gewesen, die man keinem Menschen zutraut, einfach menschenunmöglich, wenn man sie nicht selbst gesehen hat.
Ich will nicht weiter schildern, wie unser siegendes Boot an Bord empfangen wurde, jetzt unter deutscher Flagge.
Wir hatten übrigens noch gar nicht die Berechtigung die zu hissen, vorläufig hatte die Depesche aus Hamburg erst Kapitän Martin bekommen, das mußte erst angemeldet werden.
»Frau Patronin, da gehen Sie gleich selbst auf Seemannsamt, dann geht's am schnellsten. Sie sind die Reederei, ich komme als stellvertretender Kapitän mit.«
Gut, wir beide gingen sofort; nahmen aber einen Wagen, einen zweirädrigen, ein Handsome, elegant und schnell.
Wir fuhren nach dem Seemannsamt, in einer Viertelstunde war alles erledigt; den Wagen hatten wir draußen warten lassen.
Als wir einstiegen, wurden wir erkannt. Die von der »Argos«, die Sieger im heutigen Bootsrennen, welche dem Waisenhaus wiederum die gestrige Theatereinnahme überwiesen haben, 8000 Dollars.
Oder wahrscheinlich hatte der Portier oder sonst wer gesagt, daß wir da drin wären und bald wieder herauskommen müßten, das Publikum, sich immer mehr anstauend, wartete schon darauf, um uns eine Ovation zu bringen.
Also sie brüllten und schwenkten Hüte und Tücher. Und dann, als wir glücklich eingestiegen waren, schirrten — 583 sie das Pferd ab, um selbst den Wagen zu ziehen und zu schieben. Der Kutscher sprang schnell ab, um das Pferd unter seine Obhut zu nehmen, um seinen Wagen kümmerte er sich nicht, da hätte ihm ja jeder Schaden ersetzt werden müssen.
Die Fuhre ging unter dem nötigen Brüllen und Johlen ab, bis der Hafen und unser Schiff in Sicht kam.
Da kam ein Trupp unserer Jungens die Straße entlang. Sie wollten an diesem schönen Sonntagnachmittag in Rio noch ein bißchen poussieren; denn heute abend ging's in See, da konnten sie nur noch mit Fischen poussieren.
Die sahen uns und auf welche Weise wir vorwärts befördert wurden.
Und da wurden die Jungens eifersüchtig.
Einmal eine sehr schöne Eifersucht.
»Hallo, zurück da, dat is unser Sach!«
Also auch die menschlichen Pferde wurden ausgespannt, ob sie wollten oder nicht.
Aber auch die drei Dutzend Argonauten kamen nicht dazu, uns zu ziehen.
»Dat is allien mien Sach!« sagte der zweite Bootsmann, der mit dabei war.
Was nun weiter geschah, konnte ich ja nicht sehen, denn ich saß mit in dem Wagen.
August kroch unter den Wagen, bückte sich noch tiefer, stemmte Kopf und Hände fest an und — hob den ganzen Wagen aus!
Noch etwas ausbalanciert, und nun Paradeschritt angenommen. Und so im elastischer Paradeschritt marschierte er die noch wenigstens 400 Meter, marschierte über die Laufbrücke und setzte den Wagen fein säuberlich an Deck nieder.
Und wie er wieder hervorkroch, da verwandelte sich das Ungetüm in einen österreichischen Hausdiener, so elegant öffnete er mit, einer zierlichen Verbeugung den Schlag.
»Bitte, gnä Frau, wollen's gefälligst herausspazieren!«
Kapitän Martin schüttelte dann den Kopf.
»Man hält es nicht für menschenmöglich!«
23. KAPITEL. AUF DEM AMAZONENSTROME.
Einem Segelschiffe, in der Nähe der brasilianischen Küste, das die Orientierung verloren hatte, war schon seit einiger Zeit das Trinkwasser ausgegangen.
Immer drohender wurde das Schreckgespenst des Verschmachtungstodes!
Da tauchte ein Dampfer auf, kam näher, kam in Rufweite.
»Wasser, Wasser, wir verdursten!«
»Na da schlagt doch eine Pütze auf,« wurde zurückgelacht, »Ihr seid doch schon hundert Meilen drin im Amazonenstrome!« —
Solche und ähnliche Geschichten werden erzählt, um die Mächtigkeit des Amazonenstromes zu charakterisieren. Mögen ja auch wirklich passiert sein.
Schon hundert Meilen den Amazonenstrom hinauf? Also Seemeilen. Das sind 25 geographische Meilen. Das ist gar nichts.
Dort ist man noch auf dem Meere
Daß das Süßwasser ist, das sieht man ihm nicht an.
Der Amazonenstrom, Rio das Amazonas, hieß früher Maranon, mit welchem Namen die Engländer ganz fälschlicherweise jetzt nur noch den Oberlauf bezeichnen, und alle Welt plappert gehorsam nach.
Mar a non? So müßte es im fragenden Tone heißen. Meer oder nicht? Diese Frage gebührt aber doch dem Unterlaufe, doch nicht dem Oberlaufe!
Was man über diesen Strom auch für Schilderungen lesen mag — von diesen Wassermengen kann man sich gar keine Vorstellungen machen. Bis man den Strom selbst einmal befahren hat, wenigstens bis nach Manaos.
Wenn man eine gewöhnliche Karte von Südamerika hat, womöglich Nordamerika auch noch gleich darauf, so sieht man Manaos sehr nahe der Küste liegen, an der Einmündung des Rio Negro.
's ist nur ein Katzensprung.
In Wirklichkeit beträgt die Entfernung von Para, dem Mündungshafen des Amazonas, bis nach Manaos in der Luftlinie 180 geographische Meilen!
Das ist genau dieselbe Entfernung, wie von Hamburg über die Alpen weg bis nach Neapel.
Das ist genau die Länge der Donau von der Quelle bis zur Mündung, in der Luftlinie.
Die Hamburg—Amerika—Linie läßt — in Verbindung mit der Südamerikanischen Linie — fünf Dampfer nach Manaos gehen, aller 14 Tage einen. Darunter ist zum Beispiel die »Rhaetia«, 6600 Tonnen, die geht vollbeladen bis nach Manaos hinauf!
Die braucht dazu von Para an fünf Tage und fünf Nächte ununterbrochene Fahrt, legt des Nachts nicht etwa an. Sie dampft allerdings nicht volle Kraft, sondern nur acht Knoten.
Und wenn man nun so 800 Seemeilen in fünf Tagen und Nächten gedampft ist, dann kann man sich dort oben bei Manaos noch immer fragen: mar a non? Ist das ein Meer oder ist das ein Strom?
Mit den bloßen Augen sind die Urwälder an den Ufern noch nicht zu erkennen.
Allerdings gibt es viele bewaldete Inseln.
Der Rio Negro gilt als der größte Nebenfluß. Nur weil er der längste ist und am weitesten befahren werden kann. Er hat die größte Bedeutung; trotzdem ist er bei seiner Mündung bei Manaos ja nur zwei Kilometer breit.
Vorher der Tapajos zum Beispiel hat gar keine Bedeutung, er kann wegen Stromschnellen nur lumpige 340 Kilometer befahren werden, und mündet trotzdem mit einer Breite von dreizehn Kilometern! Fast zwei geographische Meilen breit!
Der Amazonas selbst ist an seiner Mündung 250 Kilometer breit, das ist ungefähr so wie von Berlin nach Hamburg; er drängt, obgleich man von einer Strömung kaum etwas merkt, bei Ebbe das Meer 200 Kilometer zurück, so weit also macht sich sein Wasser bemerkbar.
Die ankommende Meeresflut muß nun wieder den Strom zurückdrängen, das will sich der Strom erst nicht gefallen lassen, und daraus entsteht aller 12 Stunden und einigen Minuten das Phänomen der sogenannten Pororoca. Die Meeresflut wälzt sich als eine drei bis vier Meter hohe Mauer mit unheimlicher Geschwindigkeit heran, ihr Donnern ist mehr als 10 Kilometer weit hörbar. Dieses Phänomen würde an der Mündung alle Schiffahrt unmöglich machen, jedes kleinere Fahrzeug wenigstens, das in den Bereich dieser Welle kommt, ist verloren, wenn der liebe Gott nicht dafür gesorgt hätte, daß auch in dieser Hinsicht kein Baum in den Himmel wachsen kann. An jeder tieferen Stelle der Mündung sinkt nämlich diese Flutwelle in sich zusammen, und ganz, ganz merkwürdig ist es nun, daß an diesen Stellen das Wasser ganz ruhig bleibt. Die Wassermauer verschwindet plötzlich, schnellt erst auf der nächsten Untiefe wieder empor, wälzt sich weiter, und die übersprungene Stelle bleibt ganz glatt. Der Physiker kann erklären, woher das kommt, das ist aber sehr umständlich.
Diese Untiefen sind genau bekannt, ebenso die Zeit, wann die Pororoca kommt, und so ist es nur eine Unvorsichtigkeit, wenn einmal ein Unglück geschieht.
Bei Obidos, in der Luftlinie hundert geographische Meilen von Para, also von der Mündung entfernt, läßt sich die Wassermasse des Amazonenstromes einmal berechnen, weil er hier zwischen Felswänden auf zwei Kilometer zusammengedrängt wird bei einer Tiefe von 80 bis 100 Meter. Dabei ist aber zu bedenken, daß der Unterschied der Wasserstandshöhe zwischen trockener und Regenzeit 12 bis 14 Meter beträgt. Es wird also das Mittel angenommen. Demnach bewegt der Strom bei Obidos in der Sekunde 120 000 Kubikmeter Wasser.
Das ist aber noch nicht das ganze Wasser des Amozonenstromes. Abgesehen davon, daß sich ja auch noch hinter Obidos einige ungeheure Nebenflüsse in den Hauptstrom ergießen.
Ungefähr 200 Nebenflüsse sind bekannt, von denen keiner kleiner ist als der Rhein. Die anderen Nebenflüsse sind ganz unbekannt.
Die professionellen Lotsen sprechen von 700 Nebenflüssen, und es ist recht glaublich.
Nun aber kommen noch die sogenannten Bifurkationen in Betracht, ein Wort, das ich noch öfters gebrauchen werden muß.
Das sind die natürlichen Wasserverbindungen wieder zwischen den Nebenflüssen. Die großartigste Bifurkation, die es überhaupt in der Welt gibt, ist die zwischen dem Rio Negro und dem Orinoko, so daß dieser ungeheure Strom von Venezuela also überhaupt direkt mit dem Amazonas verbunden ist! Man kann von Paras aus durch ganz Brasilien fahren und kommt oben am Karibischen Meere wieder heraus! Mit Dampfern! Allerdings Umladestellen wegen Stromschnellen, tagelange Märsche.
Und ebenso kann man von Para aus bis nach den Anden am Stillen Ozean fahren, eben auf diesen Bifurkationen, ohne überhaupt den Amazonenstrom zu berühren! Immer von einem Nebenflusse zum andern!
Von diesen Bifurkationen wissen wir freilich herzlich wenig. Jeder Indianerstamm kennt doch nur die,‚ an der er wohnt. Und wir kennen doch nicht einmal diese Indianerstämme. Es wird eben eine Gegend so groß wie ganz Europa, bedeckt mit undurchdringlichem Urwald, von zahllosen Wasseradern durchzogen, welche das Wasser der Regenzeiten, total verschieden, auffangen und es zum Teil nach dem Atlantischen Ozean abführen, ohne daß es den Hauptstrom, den Amazonas, erreicht. Erst an der Mündung, ein Gebiet umfassend so groß wie ganz Deutschland, 10 000 Quadratmeilen, trifft alles wieder zusammen.
Noch will ich erwähnen, daß eine Reise von Hamburg nach Manaos, vier Wochen dauernd, 160 Mark kostet. Natürlich Zwischendeck. Aber inklusive Beköstigung. Und so eine Beköstigung wie auf solch einem Hansa—Dampfer bekommt man in keinem Sanatorium für wöchentlich 60 Mark. Hier kostet sie nur 40 Mark, und man hat dafür noch freie Fahrt. Auch unsereiner kann sich gar nicht ausrechnen, wie die das so billig machen können. In Madeira und Para einige Tage Aufenthalt — alles mit eingeschlossen, nicht etwa noch extra Bezahlung für Aufenthalt an Land. In Manaos bleibt der Dampfer fünf Tage liegen, nimmt neue Fracht, und fährt man mit ihm gleich wieder zurück, so kann man auch noch diese fünf Tage frei an Bord wohnen. Fleisch so viel wie man verschlingen kann,
Der billigste Preis für eine Fahrt 1. Klasse — eine 2. Klasse gibt es an diesen Dampfern nicht — beträgt 600 Mark. Das kommt auf die Kabine an. Man kann in der Kapitänskajüte, dem Staatszimmer der Salondampfer entsprechend, für 4500 Mark fahren, aber die Beköstigung ist ganz die gleiche.
Ich habe hier einen Speisezettel von der »Rio Grande«, von Hamburg aus auch diese Linie befahrend, nach Manaos, an Bord gedruckt am 16. Februar 1910, und es dürfte den Leser doch vielleicht interessieren, zu erfahren, was so ein Kajütsreisender für seine 600 Mark für die vier Wochen bekommt.
Ich schreibe die Tages—Speisekarte wörtlich ab.
Erstes Frühstück von 7 bis 9: Kaffee, Tee, Kakao Weiß und Feinbrot, Zwieback, Semmel, geröstetes Brot, verschiedenes Gebäck. Marmelade, Ingwer, Honig. Früchte, Hafergrütze, Milchreis. Gekochte und verlorene Eier, Rühreier, Spiegeleier mit Schinken oder Speck. Omelettes mit jungen Erbsen, mit Spargel, mit Champignons und mit feinen Kräutern. Pfannkuchen, Apfelkuchen Kalbskotelettes, Beefsteak, Hammelkotelettes, Frankfurter Wurst vom Rost. Rauchheringe. Gekochte, gebratene und gebackene Kartoffeln. Verschiedene Sorten Aufschnitte. Käse.
Nun bemerke ich aber dazwischen, daß dies nicht etwa so serviert wird, wie dort in dem Speisehaus von Marseille! Jeder langt zu und bestellt, so viel er will. —
Gabel—Frühstück um 12: Schwedische Vorspeise. Olla Podrida. Geeiste Kraftbrühe. Kalbszunge nach Mailänder Art mit Erbsen. Entrecote mit Strohkartoffeln, Salat, Apfelkompott, Baba mit Früchten. Frikadellen mit Kartoffelsalat.
Gleichzeitig auf dem Nebenbüfett: Geräucherter Lachs, Bratheringe, Sardinen in Öl, Rollmops, Anchovis, Bismarck Heringe. Geräucherter Schinken. Frische Wurst. Kalter Braten. Geflügel. Mikado—Salat. Russischer Salat. Kartoffelsalat Radieschen.
Nachmittags Kaffee, Tee, Kakao mit Gebäck, in den Tropen Limonade und Eis mit Waffeln.
Hauptmahlzeit abends 7: Russische Platte. Fasanensuppe nach Dubarry. Kraftbrühe. Steinbutt mit geschlagener Butter. Hammelrücken garniert. Chaud—froid nach Villeroi. Kapaunen. Kompot und Salat. Stangenspargel. Gefrorene Speise von Ananas. Nachtisch.
Dann wird an Deck oder im Salon noch ein Büfett aufgeschlagen. Solch eine Seereise ist eine einzige große — — Fresserei!
Nun muß man aber auch gesehen haben, was diese Passagiere, besonders nach Überstehung der Seekrankheit verschlingen!
Denn von einem »essen« oder gar »speisen« darf man da nicht mehr sprechen. Das wäre Frevel.
Wer so etwas nicht miterlebt hat, der kann sich gar keine Vorstellung davon machen.
Seit drei Tagen segelten wir den Amazonenstrom hinauf.
Nach der englischen Seemannssprache, die doch auch die deutsche beeinflußt, segelt auch jeder Dampfer, wenn er auch überhaupt gar keinen Mast hat.
Wir aber segelten wirklich, hatten alle Leinwand gesetzt! Denn in dieser Breite, fast direkt auf dem Äquator, weht fast ununterbrochen das ganze Jahre hindurch der Passat. Bis nach Tabatinga kann man hinaufsegeln bis an die brasilianische Grenze, von Para aus 3650 Kilometer Wasserstrecke, was einer Entfernung von London bis nach Konstantinopel entspricht. Ich gebe solche Vergleiche, weil man sich ja sonst gar kein Bild machen kann. So wird man übrigens auch auf der Seemannsschule instruiert.
Natürlich alles mit Ausnahme. Bei großen Krümmungen hört die Segelei auf. Auch durch die Enge von Obidos muß, man unter allen Umständen dampfen oder sich schleppen lassen.
Bis dorthin sollten wir aber überhaupt gar nicht kommen.
In Para war kein Lotse an Bord genommen worden.
»Mi sabe.«
Gut, wenn der Prospektador uns führen konnte. »Sie haben den Amazonenstrom oder doch die betreffende Strecke öfters befahren?« fragte Kapitän Martin nur noch.
»Si, si, Sennor Capitano.«
»Sie kennen die Strecke auch wirklich ganz genau?«
»Si, si, Sennor.«
»Wenn uns ohne Lotsen ein Unfall passiert, wenn wir ein anderes Schiff rammen, sind wir dafür voll und ganz verantwortlich?!«
»Mi sabe.«
»Sind Sie denn ein verantwortlicher Lotse?«
»No, Sennor.«
»Ja, wenn uns nun etwas passiert? Können Sie denn eine Verantwortung auf sich nehmen?«
Dieses Gespräch fand in der Kajüte statt, und der Spanier deutete einfach auf den mächtigen Panzerschrank.
Ja, da hatte er allerdings recht! Dort lag doch sein Riesendiamant drin. Gewiß, das war Garantie genug. Da konnten wir schon einmal einen Dampfer über den Haufen rennen.
Also wir segelten mit voller Leinwand hinauf, machten in der Stunde im Durchschnitt sechs Knoten, hielten freilich immer auf Dampf.
Ich will diese dreitägige Partie auf dem Unterlaufe nicht weiter schildern. Es war später interessanter, und sonst müßte ich später wiederholen, wenn ich jetzt schon von Krokodilen und dergleichen erzählen wollte.
Während der ganzen drei Tage waren von der Mitte aus die waldigen Ufer nur durch das Fernrohr zu erkennen. Freilich näherten wir uns manchmal einem Ufer ganz beträchtlich und dann gab es eine Unmasse von Inseln.
Und das war es ja eben! Wir mußten ja nicht, zwischen welchen Inseln man durch mußte. Mancher tiefgehende Dampfer vermied die freie, kilometerbreite Wasserstraße, fuhr ganz dicht an einer Insel vorbei, was wir nie gewagt hätten. Wir hätten die freie Straße benutzt und wären festgerannt. Der Dampfer hatte eben einen Lotsen an Bord. Aber solch einem Dampfer kann man doch nicht immer folgen.
Nun, der Prospektador führte uns eben, und der kannte das Wasser, das merkte man an allem und jedem. Unablässig stand er Tag und Nacht auf der Kommandobrücke, die Richtung angebend. Dann kamen ja auch stundenlange freie Strecken, die bezeichnete er, während dieser Stunden schlief er. Mit den entgegenkommenden Jankandas, den riesenhaften Flößen, auf denen die eingeborenen Schiffer mit ihren Familien ganze Dörfer errichten, wußte der Kapitän allein fertig zu werden. In der Nacht wurde gedampft, da hat man das Schiff denn doch anders in der Gewalt.
Am Morgen des vierten Tages streckte der Spanier seine Krallenhand nach Nordwesten aus.
»Aca — dort!«
»Was ist dort?« fragte Kapitän Martin.
»Maycuru.«
»Das ist ein See.«
Wir studierten doch unaufhörlich die Karten. Was darauf zu sehen war, werde ich gleich sagen, nämlich herzlich wenig.
»Si, si, Sennor.«
»Durch einen Nebenfluß mit dem Amazonas verbunden?«
»Si, si, Sennor.«
»Von diesem See geht ein Strom weiter nach Norden oder kommt vielmehr von dort oben her, der ebenfalls Maycuru heißt?«
»Si, si, Sennor.«
»Da wollen wir hinein?«
»Si, si, Sennor.«
»Mensch! — Sennor Montezuma della Estrada! — Nun lassen Sie doch endlich einmal mit sich sprechen!«
»Si, si, Sennor Capitano.«
»Wie weit ist es dann noch bis nach jener Stelle?«
»Mit dieser Fahrt, sechs Knoten in der Stunde, noch vier Tage, nur Tagesfahrt.«
Na endlich! Denn bisher hatte der Spanier auf solche Fragen immer nur ein »Mi sabe« gehabt.
»Also nur Tagesfahrt?«
»Si, si, Sennor. In der Nacht machen wir fest oder gehen vor Anker oder bleiben einfach liegen.«
»Und wir kommen mit diesem großen Schiffe überall durch?«
»Es todas partes — überall.«
»Brauchen die Rahen nicht abzunehmen?«
»No, Sennor.«
»Sie nicht einmal längs zu richten?«
»No, Sennor.«
»Aber segeln können wir nicht mehr?«
»No, Sennor. Dampfen.«
»Wir haben aber doch nur 350 Tonnen Kohlen an Bord.«
»Mi sabe!« fing es jetzt wieder an.
»Ich glaube ja, daß es reicht. Aber warum waren Sie denn nur so dagegen, daß wir in Rio oder in Para noch mehr Kohlen einnahmen?«
»Mi sabe.«
»Das Schiff kann den Weg mit voller Ladung machen?«
»Muß es doch können.«
Natürlich, wir wollten doch gleich bei der ersten Rückfahrt 4500 Tonnen Chinarinde mitnehmen. So viel konnte unser Schiff dann noch fassen.
Dann will ich hier gleich erledigen, weshalb wir keine anderen Arbeiter mitnehmen konnten.
Einfach deshalb nicht, weil der wilde Chinabaum frei ist.
Wer ihn findet, der kann ihn abschälen, dem gehört die Rinde.
Und dagegen hilft kein Arbeitskontrakt und gar nichts.
Wir konnten wohl Hunderte von Arbeitern engagieren, wir brachten sie hierher — und dann schälen sie für sich die Rinde ab.
Oder wir mußten den ganzen Distrikt kaufen. Dann hatte der Arbeitskontrakt natürlich Gültigkeit. Was auf dem Lande wächst, das gehört doch dem Besitzer.
Da mußten wir aber erst wissen, wo sich der Distrikt befand, also seine geographische Lage kennen. Oder das war auch gar nicht nötig, auf jeden Fall kamen dann Regierungsbeamte und Vermesser mit. Das sind die hauptsächlichsten Unkosten. Sonst bekommt man ja dort das Land für ein Butterbrot oder wirklich geschenkt, allerdings unter sehr scharfen Bedingungen. Man muß es auch wirklich urbar machen.
Das wollten wir nicht? Was wollten wir denn sonst dort mit dem Lande machen?
Schon deshalb kamen Regierungsbeamte mit.
Nun fanden die dort die Chinabäume.
Dann fingen die selber zu schälen an, oder, wenn sie so patriotisch gesinnt waren, dann benachrichtigten sie die Regierung, dann registrierte die das Land für den Fiskus, beutete die wilde Chinakultur für eigene Rechnung aus.
Kurz und gut, bei solch einem Geschäft konnte nur ein Schiff wie das unsere in Betracht kommen, mit solch einer Mannschaft! Auf jedem anderen Schiffe hätte leicht Mord und Totschlag ausbrechen können. Wenn sechzehn Millionen Mark an den Bäumen wachsen, man brauchst sie nur abzuschälen, dann hört die Gemütlichkeit und die Freundschaft auf, oder die Menschheit müßte sich plötzlich sehr verändern.
Natürlich gibt es gute Kameradschaft. Aber die erst einmal finden! Hier bei uns war sie vorhanden.
Ja, wie war denn dieser Spanier in Kapstadt gerade zu uns gekommen?! Er kannte uns doch noch gar nicht!
»Mi sabe.«
Na schön. Und wenn er von alledem auch nicht den geringsten Anteil haben wollte — war uns auch recht.
Jetzt, da wir uns dem Ziele näherten, da die Sache greifbare Wirklichkeit bekam, freuten wir uns ja nicht schlecht auf die sechzehn Millionen. An warnenden Stimmen fehlte es freilich immer noch nicht, wenn einmal gar zu große Zukunftspläne gemacht wurden.
»Täuv man, täuv man, wir haben sie noch nicht in der Tasche, die Chinarinde noch nicht im Laderaum, noch nicht einmal für die erste Rückfahrt!«
Diese Warner oder Zweifler hatten auch ganz recht. Nur das konnte schon besprochen werden, daß wir uns dann für einige Zeit trennen mußten. Das beste war wohl, wir schälten erst alle Rinde ab — anders war es überhaupt gar nicht möglich — dann wurde die erste Rückfahrt angetreten. Vielleicht die Hälfte der Mannschaft blieb als Bewachung zurück. Die einmal abgeschälte Rinde gehörte dann natürlich uns, die wurde in weiteren Fahrten abgeholt, oder dann konnten wir ja auch andere Fahrzeuge mieten.
Eine Stunde später dampften wir mit festgemachten Segeln in den Maycuru ein.
Wir besaßen drei Spezialkarten von diesem nordöstlichen Teil Brasiliens, eine deutsche, eine englische und eine französische. Dabei bemerke ich, daß es bis heute noch keine bessere Spezialkarte gibt.
Auf allen dreien war dort, vom Amazonenstrom durch eine schmale Landzunge getrennt, ein blauer Klecks angegeben, ungefähr 50 Kilometer im Durchmesser. Das war der See Maycuru.
Auf der englischen und deutschen Karte floß in diesen See von Norden her ein Fluß oder ein Strom, wollen wir gleich, sagen. Für Flüsse war auch auf dieser Spezialkarte gar kein Platz. Die englische Karte nannte diesen Strom ebenfalls Maycuru, die deutsche gab ihm — immer gewissenhaft — lieber gar keinen Namen. Und noch gewissenhafter waren diesmal die Franzosen, die hatten überhaupt gar keinen Strom eingezeichnet. Und da taten sie sicher recht, denn auf der englischen und deutschen Karte hatte dieser Strom einen total anderen Lauf bekommen!
Nun kann man sich wohl ungefähr ein Bild machen! So unbekannt ist dort alles noch, gleich nahe der Mündung des Amazonenstromes! Mächtige Dampfer fahren dicht vorüber, man weiß, daß dort, nur durch eine schmale Landzunge getrennt, die natürlich ebenfalls durchflossen wird, ein großer See liegt, 2500 Quadratkilometer, aber man weiß noch nicht einmal, ob dieser See einen Zufluß hat, wahrscheinlich ein mächtiger Strom, so lang und breit wie der Rhein!
Und im übrigen ist dort ein Gebiet von 800 Kilometer Breite und 600 Kilometer Länge, nämlich bis nach Guayana hinaufreichend, also 10 000 geographische Quadratmeilen, so groß wie Deutschland, wo auch auf den genauesten Spezialkarten einfach ein weißer Fleck gelassen ist, nur durchzogen von dem »vermutlichen« Maycuru!
So sieht es dort aus! So viel wissen wir von Brasilien. Und das nahe der Küste! Vom Innern darf man gar nicht erst sprechen.
24. KAPITEL. ANGENEHME UEBERRASCHUNGEN.
In dieses völlig unbekannte Urwaldgebiet, so groß wie ganz Deutschland, drangen wir jetzt ein.
Das heißt, der Prospektador sagte es uns, daß wir den Amazonenstrom verlassen hätten und uns jetzt auf einem Nebenstrome befanden, auf dem Maycuru.
Wir konnten das doch nicht riechen, wir konnten doch auch wieder einmal um eine Insel herumfahren.
Bald freilich merkten wir doch, daß wir nicht mehr auf dem Hauptstrome waren. Die Schiffe, die Boote, die Flöße fehlten. Kein Mensch mehr war zu erblicken.
Ja, wer hat denn auch abseits des Amazonenstromes etwas zu suchen? Höchstens noch auf denjenigen Nebenflüssen, an denen Ansiedlungen oder doch wenigstens Indianerdörfer liegen, mit denen etwas zu feilschen ist; oder noch eine Forschungsexpedition könnte in Betracht kommen.
Wir sahen keine Forschungsexpedition und kein Indianerdorf, nicht einmal einen einzelnen Indianer.
Aber destomehr Krokodile. Und die Burschen wurden hier immer dreister. Wir konnten dicht an einer Sandbank vorüberfahren, auf der sie sich in Masse sonnten, die rührten sich gar nicht mehr. Wir konnten schießen — der Angeschossene schleppte sich dem Wasser zu, die anderen nicht.
Die kannten die Feuerwaffe noch gar nicht, noch nicht einmal den Menschen! Das war es! Und so ging es weiter und weiter dem Nordwesten zu — vier Tage lang!
Uns ward ganz unheimlich und immer unheimlicher zumute!
Weshalb?
Weil wir Seeleute waren!
Weil wir hier mit unserem Seeschiffe von 5000 Tonnen mit dreißigmetershohen Masten im Urwalde herumgondelten!
Wenn hier nun einmal unserem Prospektador etwas passierte?
Wenn dem jetzt plötzlich beliebte, mit dem letzten Atemzuge seine edle Seele auszuhauchen?
Wir fanden uns nicht wieder zurück.
Weshalb nicht — das läßt sich nicht so leicht erklären, da muß man solch eine Wald— und Wassergegend gesehen haben.
Wo war denn eigentlich der berühmte See Maycuru geblieben?
Wir hatten nichts davon bemerkt, obgleich wir wirklich durchgefahren waren. Der war eben gleichfalls mit zahllosen Inseln und Inselchen durchsetzt.
Und so gingen hier allüberall zahllose Wasserstraßen ab, wenn man um sich blickte, so sah man immer mindestens ein Dutzend Einbuchtungen die ebensogut weiter gehen, wie blind enden konnten.
Wie dieser Spanier sich in diesem Labyrinth zurechtfand, das wußten wir nicht; aber das wußten wir, daß wir uns nicht wieder zurückfinden würden.
Daß wir aller Stunden eine geographische Ortsbestimmung machten, das hatte eigentlich gar keinen Zweck, so genau kann die im Handumdrehen nicht gemacht werden, außerdem war ja der Himmel manchmal bedeckt, bei der nächsten Bestimmung waren wir schon wieder einige zehn Meilen vom letzten Punkte entfernt.
Und mochte Juba Riata, dieser ehemalige Cowboy auch einen noch so guten Orientierungssinn besitzen, ebenso der Eskimo — in diesem Urwaldslabyrinthe hörte es auf. Die beiden gestanden gleich ganz offen, daß sie sich nicht wieder zurückfinden könnten.
Naja, zurückfinden! Das wollten wir schon. Aber nicht in vier Tagen; in vier Wochen oder in vier Monaten, oder in vier Jahren wollten wir den Amazonenstrom schon wieder erreichen, denn dann mußte doch vor dem Schiffe Schritt für Schritt gelotet werden, damit es nicht aufrannte.
Doch es hatte ja gar keinen Zweck, sich solchen Grübeleien hinzugeben. Der Prospektador war ja bei uns. Wir mußten nur aufpassen, daß er nicht einmal über Bord rutschte, einem Alligator in den Rachen hinein. Überessen tat der sich mit seinen Zwiebeln und Brot schon nicht. Überarbeiten ebenfalls nicht. Und auch sonst schien er ganz gesund zu sein, sonst hätte er doch nicht so mörderlich Zigaretten rauchen können.
Die vierte Nacht brach an.
Wir waren auf einer größeren Wasserfläche vor Anker gegangen, umringt vom Urwald, durch den sich die Wasserstraßen zogen. Guter Ankergrund fand sich überall in einer Tiefe von fünfzehn bis zwanzig Meter.
Sobald die Dunkelheit anbrach erwachte der Urwald zum eigentlichen Leben. Die Jaguare brüllten, die Wasserschweine grunzten, die Tapire quiekten und die Affen machten einen noch größeren Spektakel als am Tage. Nur das Geschrei der Papageien war verstummt. Die hielten ihren nächtlichen Schlummer auf dünnen Zweigen, wo ihnen die Raubtiere nicht beikommen konnten.
Ich werde von diesen Tieren später noch viel zu erzählen haben; nur die Moskitos will ich gleich erledigen.
Die wurden ebenfalls bei Nacht erst richtig lebendig. In Myriaden stellten sie sich ein. Sie sind nicht größer als unsere Mücken. Es sind überhaupt ganz genau dieselben lieben Tierchen, nur wirkt in der tropischen Hitze ihr Stich noch ganz anders, jeder Stich wird zu einer Beule, wozu auch kommen mag, daß sie dort am Rüssel mehr Verwesungsstoff haben. Und nun eben Myriaden!
Doch man kann sich leicht gegen sie schützen. Man reibt einfach alle Körperstellen, die ihren Angriffen ausgesetzt sind, mit Lorbeerfett ein, vermischt mit etwas Nelkenöl. Da beißt einen keine Mücke. Noch besser ist Nelkenöl allein, aber das greift zu sehr die Haut an. Und auch vor dem grünen Lorbeerfett scheinen alle Insekten einen Widerwillen zu haben.
Weshalb dieses Mittel in jenen von Moskitos verseuchten Gegenden nicht allgemein angewandt wird? Ja Du lieber Gott, weshalb nicht!
Das sogenannte persische Insektenpulver kommt aus Dalmatien, wird durch Mahlen der getrockneten Köpfe einer Art von Gänseblume gewonnen, und gerade bei jenen Landleuten, die es bereiten, wird man von Flöhen aufgefressen.
Überdies ist es auch nicht gerade angenehm, Hände und Gesicht immer mit solch einer Fettschicht bedeckt zu haben. Die Leute dort in den Städten und Dörfern wissen sich schon anders zu helfen, und wir wußten es auch.
Vor der Koje ein Moskitonetz auszuspannen, wie man es zu kaufen bekommt, eine Art Gardine, das hat gar keinen Zweck. Einige Mücken wissen sich immer durch eine Spalte einzuschleichen, und es reicht schon eine einzige aus, um die Koje zur Hölle zu machen. Und das ist sie so wie so, auch ohne Moskitos, man hält es darin vor Hitze gar nicht aus.
Wir hatten schon in Rio an diese Qual gedacht und uns gewappnet, uns reichlich mit Lorbeerfett und Nelkenöl versehen, außerdem mit Holzplatten und dünner Drahtgaze.
Jeder baute sich seinen eigenen Sarg, ein Lattengestell, dessen Wände aus Drahtgaze gebildet wurden, eng vernagelt. Unter diesem Kasten schlief jeder an Deck, auf einer Matratze. Da konnte keine Mücke hinein.
Hiermit verbanden wir aber auch noch ein zweites Mittel, um auch die gerade bei Nacht unerträgliche Hitze oder vielmehr Schwüle zu lindern.
Bekanntlich wird durch schnelle Verdunstung von Wasser Kälte erzeugt. Also wir legten über den Kasten auch noch angefeuchtetes dünnes Segeltuch, Leinwand. Wie deren Feuchtigkeit austrocknete, so entstand unter ihr eine angenehme Kühle. Noch intensiver wirkt es, wenn die Sonne darauf brennt, weil dann das Wasser noch schneller verdunstet. Auf diese Weise kann man sich auch im Garten einen ganz einfachen Kühlapparat bauen, in den man sich hineinsetzt. Unter uns Seeleuten ist das allgemein bekannt.
Natürlich muß die Leinwand, wenn sie ausgetrocknet ist, wieder angefeuchtet werden. Das besorgte bei uns einfach die Nachtwache, die verstärkt ging. Die gingen ab und zu mit der Gießkanne die Reihe entlang und besprengten das Tuch wieder. Natürlich nicht gleich so, daß es durchregnete. Das kam ja auch einmal vor, aber das machte ja gerade Spaß.
Auf diese Weise lagen wir jede Nacht wie im kühlen Grabe, nur kerngesund, hielten einen tiefen Schlaf, der eben die Hauptsache zur Gesundheit ist. Zwar nahm jeder täglich zur Vorsicht eine kleine Dosis Chinin, aber ich glaube gar nicht, daß es nötig war. Wenn man schlafen kann, dann ist alles in Ordnung, dann kann man auch essen, und dann kriegt man kein Fieber. Etwas anderes ist es ja, wenn man sich gerade in einen Fiebersumpf hineinsetzt.
Die Wachegänger waren inzwischen tüchtig mit Lorbeerfett eingeschmiert. Nach zwei Stunden wuschen sie sich und krochen in ihren Sarg, andere kamen an die Reihe.
So verbrachten wir also auch die vierte Nacht.
Es war eine stockfinstere Nacht.
Wenige Sekunden Dämmerung, und dann plötzlich war es heller Tag. Der Schatten des Urwaldes konnte uns nicht erreichen.
»Törn to! Ankerlichten!«
Dann erst, wenn wir schön wieder in Fahrt waren, wurde gefrühstückt.
»He, wo ist denn das Dinghy hin?«
Das Dinghy ist das kleinste Boot. Es gehen knapp vier Menschen hinein. So eine Art Teichgondel. Fast nur Kriegsschiffe führen es, um schnell einmal ein Seil auszufahren. Wir schleppten es bei dieser Fahrt immer nach. Es konnte doch einmal gebraucht werden. Wir hatten schon einige Tiere des Fleisches wegen geschossen, wenn sie in Schußweite durchs Wasser setzten, besonders Wasserschweine, auch schon einen Tapir, das brasilianische Flußpferd wenn es auch etwas anders aussieht, ganz schrill pfeift — da war das Dinghy immer von Nutzen.
Es mußte bei der Ankerkette liegen.
Da lag es aber nicht mehr. Es war samt der Leine, mit der es befestigt gewesen, verschwunden.
»Wo ist denn das Dinghy hin?«
»Na zum Donnerwetter, wo ist denn das Dinghy?« ließ sich jetzt auch Kapitän Martin vernehmen. »Wer hat Wache gehabt?«
Die wußten von nichts.
Ob ein Indianer, der es uns gestohlen hatte, herangeschwommen war? Oder in einem anderen Boot?
Da konnte man nur raten, Erklärung brachte es nicht.
»Klar zum Ankerhiven!«
Der Anker ging hoch.
»Wo ist denn der Sennor?«
Der stand sonst, wenn es so weit war, schon immer auf der Kommandobrücke.
»Na wo ist denn nur der Sennor Estrella?!«
Wir riefen und suchten in allen Winkeln, wo er zu schlafen pflegte.
Ob die anderen auch schon so eine dunkle Ahnung hatten wie ich, weiß ich nicht.
Da kam die Patronin aus der Kajüte gerannt.
»Kapitän — Kapitän —«
»Na was denn?!«
»Ich will mein Tagebuch in den Geldschrank legen, da steht die Schublade auf — und da — und da — da ist der Diamant fort!«
»Na da guten Morgen!« sagte Kapitän Martin ganz gemütlich und drehte um, als wolle er nach seiner Kajüte gehen.
Er kam freilich gleich wieder zurück.
»Wissen Sie, daß das Dinghy fort ist?«
»Ja!« flüsterte die Patronin.
»Daß der Spanier nicht zu finden ist?«
»Ja.«
»Wie hat er denn den Geldschrank aufbekommen? Gewalt angewendet?«
»Ich — ich — hatte — habe — die Tür aufstehen lassen.«
Natürlich. Die machte in ihrer Sorglosigkeit die Panzertür überhaupt niemals zu.
»Well. Nevermind. Das heißt, meine ich: es ist allein meine Schuld.«
Und dann zog Kapitän Martin die rechte Hand aus der Hosentasche, um sie als Faust gar nicht so sanft gegen seine Stirn zu schlagen.
»Daß mir altem Manne so etwas noch passieren muß! Aber Alter schützt eben nicht vor Torheit. Hat mich doch noch einmal so ein Gaukler hineingelegt! Na‚ nun müssen wir eben sehen, wie wir hier wieder herauskommen. Anker klar? Halbe Kraft rückwärts! Ruder hart steuerbord!«
Der Dienst begann, das Schiff wendete.
Ei, ei, ei, ei, ei!!
Das war ja eine nette Überraschung!
Der Herr Prospektador futsch, der Riesendiamant futsch, die vier Millionen Milreis futsch, überhaupt gar keinen Chinabaum zu sehen bekommen — und wir hier mit unserem Fünftausendtonnenschiffe mitten im brasilianischen Urwalde, nicht wissend, »wo bin«!
Weshalb hatte uns der Kerl denn in diese Wildnis gelockt?
Denn daß dies alles von vornherein arrangiert war, daran war doch gar kein Zweifel, und darüber wurde doch natürlich gesprochen.
»Der will uns überfallen!«
»Womit denn?«
»Nun mit Piraten. Auf dem Amazonenstrome wimmelt es von Piraten.«
»Wirklich?«
»Ich habe einmal so eine Erzählung gelesen: Die Strompiraten des Amazonas.«
Ja, so etwas hatte ich auch gelesen, sogar eine ganze Menge solcher Geschichten, vom dünnleibigen Groschenheft an bis zum zehnbändigen Bandwurm. Der Leser weiß doch: ich hatte doch Seeräuberuniversalgeschichte studiert!
Na schön, sie sollten nur kommen! Wir erwarteten sie sehnsüchtig.
»Bleakfast is leady!« sang der chinesische Koch aus seiner Kombüse mit quäkender Stimme.
»Hallo, Meister Kännchen!« lachte ich. »Wir segeln unter deutscher Flagge!«
Er gab sich seit Rio alle Mühe, sich im Deutschen zu vervollkommnen, war nur in der Verwirrung durch dieses große Ereignis ins Englische zurückgefallen.
»Flühstück is feltick!« verbesserte er sich also.
Als waschechter Chinese konnte er nämlich das r nicht aussprechen, schaltete dafür immer ein l ein.
Bald war alles wieder an Deck.
»Von dort sind wir hergekommen.«
»Nein, aus diesem Kanall«
»Ach wo, ganz von dort her!«
Es wurden noch andere Richtungen angegeben, jeder behauptete, ganz bestimmt recht zu haben.
Kapitän Martin folgte natürlich der Partei, von deren Meinung er selbst überzeugt war.
Nach einer Viertelstunde Fahrt mußten wir erfahren, daß wir in eine Sackgasse geraten waren, der betreffende Wasserkanal endete blind.
Na‚ das konnte ja gut werden!
Und da knirschte auch schon der Kiel auf Sand!
Also ein Boot ausgesetzt, ein zweites, als Piloten voraus, immer lotend. Sechs Knoten konnten wir nun natürlich nicht mehr machen, kaum noch zwei.
Und der zweite Kanal erwies sich wiederum als eine Sackgasse, diesmal aber erst nach einer halben Stunde!
»Sennor Riata,« wandte ich mich an Peitschenmüller, »können Sie nicht die Richtung angeben?«
Der zuckte die Achseln.
»Ich habe mich bereits zweimal geirrt.«
»Dann brauchten Sie also nicht unbedingt hier als Lotse zu stehen?«
»Nein, ich verzichte, Ratschläge zu geben.«
»Dann mache ich Sie darauf aufmerksam, daß es gleich um acht ist.«
»Wohl, ich bin bereit.«
Und wir begaben uns in die Batterie, die aber jetzt immer sechs Meter hoch blieb, um unsere gewöhnliche Fechtstunde von acht bis neun abzuhalten.
Peitschenmüller war der einzige, der es im Fechten mit mir aufnehmen konnte, er hatte es überraschend schnell gelernt, es bereits zur Meisterschaft darin gebracht, im Säbel sowohl wie mit Florett, er bot mir schon einmal die Spitze, und so konnte ich mich allein an ihm auch weiter ausbilden.
Die Jungens hörten, daß wir fochten. Und die von der Freiwache kamen, und es dauerte gar nicht lange, so begannen auch sie mit ihren verschiedentlichen Übungen, turnten und sprangen und rannten und balgten sich mit Bleigewichten herum.
Auch die Patronin kam in die Batterie, machte ein erstauntes Gesicht und sah eine Weile schweigend zu.
»Das ist ja großartig!« sagte sie dann
Ich fragte nicht, was sie denn so großartig fand. Denn ich wußte es. Eben deshalb aber durfte ich nicht sagen; oder nur etwas anderes, dessen konnte ich mich nicht enthalten.
»Dem Koch dem Meister Kännchen müssen Sie Ihr Kompliment machen, Frau Patronin.«
Sie verstand mich sicher nicht, und ich gab ihr keine Erklärung.
Was ich damit meinte?
Ja, es ist für den, der kein Seemann ist schwer zu sagen. Der Seemann weiß, es sofort, was ich meine.
Weil uns der Koch zum Frühstück gerufen hatte.
O, diese Schiffsköche sind Helden!
Die Gelegenheit muß nur kommen.
Sie müssen Helden sein, sonst können sie eben nicht als Schiffskoch fahren.
Schiffskoch, was ist Schiffskoch! Smeerkock!
Das Schiff ist verloren.
Jeden Augenblick muß es von Sturm und Brandung zwischen die Klippen geschleudert werden.
Die ganze Mannschaft ringt und ringt mit letzter verzweifelter Kraft um ihr Leben, um das Schiff vielleicht doch noch frei zu bekommen. Die Masten werden gekappt, alles über Bord!
Nur der Koch beteiligt sich nicht an diesem Kampfe gegen den Tod.
Der stehst mit weißer Schürze und weißer Mütze in seiner Kombüse, schürt das Feuer und rührt in den Töpfen.
Jetzt blickt er nach der Uhr an der Wand. Es ist die vorschriftsmäßige Zeit. Und er öffnet vorsichtig die obere Hälfte der geschlossenen Tür auf der Leeseite, um nicht einen gar zu großen Schwall des eisigen Salzwassers abzubekommen.
»Mittag ist fertig!!« brüllt er in das Heulen des Sturmes, in das Donnern der Brandung hinaus.
Der alte Schiffskoch weiß, daß ihm niemand das Essen abholen wird; seit gestern mittag hat er schon viermal vergebens gerufen.
Aber wenn nun das Schiff jetzt freikommt?
Dann wollen die Matrosen erst essen. »Schaffen!« heißt es an Bord deutscher Segelschiffe.
Und wenn sie dann nichts haben?
Überhaupt ganz gleich — der Schiffskoch weiß, was er zu tun hat.
»Mittag ist fertig!!« — 613 Bruch!! Ein Splittern und Bersten und, den Rührlöffel in der Hand, von seinen Töpfen begraben, verbrüht und verbrannt, so sinkt der Schiffskoch mit den anderen hinab in die eisige Tiefe!
Schrumm — wieder mal einer, der kein Denkmal bekommt.
Und wir hätten wegen dieses spanischen Halunken, weil er uns hier im brasilianischen Urwalde versetzt hatte, nicht unsere täglichen Übungen abhalten sollen?
Pah!
Bös war es freilich dennoch.
Wir kamen nicht vorwärts und nicht rückwärts; wenn wir auch immer wieder eine ganz andere Umgebung sahen, aber immer wieder in Sackgassen hinein.
Und so verging der ganze Tag!
Gegen fünf Uhr ankerten wir, in sechs Meter Tiefe, auf Sand. Sehr viel flacher durften wir auch nicht gehen. Etwa hundert Meter von Backbord war der Urwald entfernt, auf der anderen Seite war eine größere Wasserstrecke, dann kam wieder Urwald mit abzweigenden Wasserstraßen.
In der großen Kajüte fand eine Beratung statt, an dem auch diejenigen Matrosen und Heizer teilnehmen sollten, die ich als die intelligentesten Köpfe und erfahrensten Männer vorschlagen mußte.
Zu Tage zeitigte diese Beratung nichts.
Das Einzige war, unsere Versuche, eine Durchfahrt zu gewinnen, ruhig fortzusetzen. Wir mußten uns an den Urwald, an diese Verhältnisse gewöhnen. Dann bekamen wir sicher mit der Zeit ganz andere Augen, andere Erfahrungen, andere Instinkte. Die bisherigen vier oder fünf Tage hatten noch nichts zu bedeuten gehabt, da hatten wir uns immer auf den Führer verlassen. Wir befanden uns in der Lage des in Gefangenschaft geborenen oder lange gefangen gehaltenen Vogels, der in Freiheit gesetzt wird. Der ist draußen zwischen den Bäumen zuerst ganz hilflos, weiß keinen Wurm und kein Korn und kein Wasser zu finden. Oder auch umgekehrt ist es ganz richtig. Selbst ein Vogel, der immer in der Stube ist, aber im Käfig, er wird hinausgelassen — für den bedeutet die Stube, so klein sie auch sein mag, plötzlich eine weite, fremde, rätselhafte Welt, in der er irrend herumflattert, sich den Kopf an den Scheiben stoßend. Aber er untersucht immer mehr, er wird ein ganz anderer Vogel — nach einigen Tagen schon fühlt er sich in der Stube heimisch. Es war gar kein so unpassender Vergleich mit unserer Lage.
»Wann ist hier die Regenzeit?«
Niemand wußte es. Die Bücher gaben für diese Gegend keine Auskunft. Die Regenzeiten sind auf der ungeheuren Länge des Amazonenstromes selbstverständlich ganz verschiedene, aber auch in der näheren Umgebung wechseln sie scheinbar ganz ohne System ab. Dort hingegen, wo man sie kennt, kann man das Steigen und Fallen des Wassers bis zum bestimmten Tage voraus verkünden.
Von einer Flutmarke war nirgends etwas zu bemerken. Also kein Zeichen, daß das Wasser früher schon einen höheren Stand gehabt habe, was doch an den Bäumen deutlich zu sehen gewesen wäre. Das war eigentlich schlimm für uns. Danach hatten wir jetzt also doch den höchsten Wasserstand. Demnach also mußten wir uns auf ein Fallen des Wassers gefaßt machen, ob nun früher oder später.
Es hatte keinen Zweck, hierüber weiter zu sprechen, sich in Befürchtungen zu ergehen.
»Ob der Spanier denn wirklich einen Angriff auf uns mit Komplicen plant?«
»Well, wir tun, was wir können. Die Lichter sollen lieber gelöscht werden. Sonst kein unnötiger Wachtdienst. Aber die Nachtwache möchten besonders dazu geeignete Leute übernehmen. Das besorgen Sie wohl, Herr Waffenmeister.«
Gut, ich sorgte dafür. Anderseits war ich ohne jede Sorge, wie alle die anderen.
Gegen elf Uhr kroch auch ich in meinen Sarg und lauschte noch ein wenig dem Höllenspektakel der Tiere des Waldes, welchen die unseren glücklicherweise nicht beantworteten — in den ersten Tagen hatten sie Lust dazu gehabt, diese musikalische Neigung hatte ihnen aber Peitschenmüller bald ausgetrieben — dann schlummerte ich sanft ein.
Als ich erwachte, war das Konzert verstummt, wonach es schon nach vier Uhr sein mußte, denn um diese Zeit hört das Konzert auf, die letzten Nachtstunden verschlafen auch diese Tiere.
Die tiefste Stille herrschte. Einen Schritt der Wache hörte ich nicht, sonst hätte ich sie angerufen, um nach der Zeit zu fragen, lauter rufen wollte ich nicht; so riß ich ein Streichholz an und leuchtete auf die Taschenuhr.
Schon halb sechs! Ich kroch heraus und dehnte die Glieder; ich fühlte mich wie neugeboren.
Absolute Stille! Bis auf einiges Schnarchen. Der so sägte, das war Knut, und das Pusten dazwischen, wie eine den Berg hinaufkeuchende Lokomotive, das erzeugte August der Starke. Und dazu stockfinster! Der Himmel hatte sich wieder überzogen, um diese Zeit gibt es auch nicht mehr die prachtvollen Glühkäfer, die nur bis gegen zwei ihren Fackelglanz machen, von unbeschreiblicher Pracht, manche so groß wie die Hühnereier.
Ein Matrose ging auf Segeltuchschuhen lautlos vorüber, ich bemerkte ihn nur durchs ein Rascheln.
»Nichts Neues?!«
»Nichts.«
Ich ging an meine Toilette. Als zivilisierter Seemann spülte ich mir natürlich zuerst den Mund aus. Warm, aber trocken. Das heißt nämlich, ich brannte mir zuerst eine Pfeife an. Das machte ich im Durchgang unter der Kommandobrücke. Es sollte ja kein Licht gezeigt werden.
Dann lehnte ich mich über die Bordwand und blickte ins Wasser hinab. Zu sehen war allerdings nichts davon.
Ach, schmeckt so eine Pfeife gut, früh halb sechs im brasilianischen Urwald! Aus dem Urwald duftete es köstlich heraus, aber meine Pfeife duftete noch viel köstlicher.
Einige wenige Sekunden Dämmerung und plötzlich war es heller Tag.
Und da —!
Allmächtiger Gott!
Was erblicken da meine Augen unter sich!
Nicht etwa Wasser.
Nur Sand!
Sitzt unser ganzes Schiff mitten drin im Sand!
Gar keine Spur mehr von Wasser!
Bis zum Urwald hin alles Sand, auf Steuerbordseite hin auch wieder alles Sand, auch wieder ungefähr hundert Meter weit, dann erst fängt wieder das Wasser an und mitten auf dieser Sandbank liegt unser Schiff wie ein Walfisch im Sandbade!
Hat sich ziemlich bis zur Wasserlinie eingegraben, die Schraubenwelle ragt gerade noch heraus, die unteren Schraubenflügel stecken auch schon drin im Sand!
Das Wasser war in der Nacht ganz sachte abgelaufen, ganz sachte hatte sich das Schiff, ursprünglich eine Kreuzerfregatte, mit seinem scharfen Kiel in den weichen Sand eingegraben!
Niemand hatte auch nur das geringste davon gemerkt, gehört, verspürt!
Kein Hund hatte angeschlagen!
Denn Bordhunde werden da bald sehr scharf, wenn irgend etwas nicht in Ordnung ist, die merken es sofort und machen Lärm. Sie können kein Segel mehr schlagen hören, weil sie wissen, daß dann die Mannschaft aufentern muß und tut es die Mannschaft nicht, dann melden sie eben diese Unordnung.
Nicht einmal die Glieder der Ankerkette konnten geklirrt haben, wenigstens nicht übertrieben, so sachte mußte sich das Schiff eingebettet haben.
Fassungslos wie ich standen alle die anderen da.
Jetzt kam Kapitän Martin an Deck.
Ich sehe noch, wie er den Kopf vorreckt.
Jetzt hätte er wiederum sagen können: Na da guten Morgen!
Aber diesmal sagte er es nicht.
»Damn —«
Auch diesen Fluch vollendete er nicht. Es wurde etwas anderes daraus, nachdem er sich erst einmal über die Bordwand gebeugt hatte.
»Kinder, flucht nicht, sondern betet lieber!« erklang es feierlich. »Nicht, daß wir hier aus dieser Lage erlöst werden. Das kommt schon von allein — oder es kommt eben nicht. Aber wir wollen dem Schöpfer danken, daß er hier solchen weichen Sand geschaffen hat, der uns wie Wasser aufgenommen hat und trägt, sonst lägen wir hier bereits Wrack für immer auf der Seite!l«
Wir alle verstanden, was er meinte.
Wir hätten doch umkippen können!
Dann war's für immer vorbei!
Das kann so ein Schiff, so ein hohles Ei aus doch nur dünnen Eisenplanken nicht aushalten!
So aber, wie es jetzt war, hatte es im Grunde genommen wenig zu sagen.
So wie wir jetzt lagen, lagen wir fest und sicher. Freilich festgenagelt. Aber das Hochwasser mußte doch einmal wiederkommen, und dann wurden wir auch wieder gehoben.
»Der Prospektador!« erklang da der Ruf, langgedehnt und staunend hervorgebracht.
25. KAPITEL. GETÄUSCHT!
Wahrhaftig, da kam er!
Kam angerudert in unserem Dinghy! Ruderte vorwärts, noch ein kräftiger Schlag mit beiden Riemen, das leichte Boot schusselte etwas die schräge Sandfläche hinauf. Er stieg aus, schritt auf unser Schiff zu, fest in seinen Ponchomantel gewickelt, den Sombrero tief in der Stirn, eine qualmende Zigarette zwischen den Krallenfingern.
»Well, Jungens, da laßt man das Fallreep zum Wasser hinab, das sich in Sand verwandelt hat oder lieber gleich die Falltreppe. Solch ein Besuch muß seinem Werte entsprechend empfangen werden.«
Die Treppe senkte sich hinab, der Spanier erstieg sie. Die Patronin, die sich ob des Sandes schon ausgestaunt hatte, war mit zur Stelle. Frage und Antwort übernahm aber nur Kapitän Martin, erst an Deck und später in der Kajüte.
»Buenos dias, Sennora e Sennores.«
»Schönen guten Morgen, Herr Prospektador.«
»Dispense uste — ich bitte Sie um Entschuldigung.«
»Bitte, bitte. Haben Sie gut geschlafen?«
»Danke, Sennor Capitano. Nein.«
»I warum denn nicht?«
»Ich bin Ihnen eine Erklärung schuldig.«
»Nu, das ist, nicht gerade nötig. Was denn für eine Erklärung?«
»Weshalb ich mich vorige Nacht von Bord entfernt habe.«
»Haben Sie? Das haben wir noch gar nicht gewußt! Ist uns gar nicht aufgefallen. Na ja, bei den Mahlzeiten werden Sie ja niemals vermißt.«
Der Spanier ließ sich durch den Spott nicht irritieren. Er blieb immer derselbe.
»Es war etwas nach Mitternacht, als ich im Walde einen Laut vernahm, einen Tierlaut, einen imitierten Tierlaut, aber nur für das Ohr desjenigen als solcher erkennbar, der das Geheimnis kennt. Kurz, es konnte nur ein Kamerad von mir sein, den ich allerdings nicht hier vermutete, so wenig wie er mich. Er gab einem anderen dieses auch mir bekannte Zeichen. Auch ich gab das Zeichen. Es wurde beantwortet. Nun mußte ich Gewißheit haben.
Es war ein unverzeihlicher Fehler von mir, daß ich das Boot nahm und davon ruderte, ohne wenigstens einer Wache nur ein Wort zu sagen, aber ich hab's nun einmal getan.
So ruderte ich nach dem Walde, dachte sofort zurückzukommen. Ja, ich stieß auf Kameraden. Aber aus den Minuten wurden Stunden. Sie verleiteten mich mit, ihnen zu kommen. Ich dachte vor Sonnenaufgang zurück zu sein. Auch dieses versäumte ich.
Es war schon gegen halb acht, als ich an die Ankerstelle zurück kam. Das Schiff war fort. Weshalb, das konnte ich mir ja leicht denken.
Bis jetzt habe ich ununterbrochen nach Ihnen gesucht, mit Ausnahme dreier Stunden, die ich unbedingt zum Schlafe bedurfte, sonst habe ich ununterbrochen nach Ihnen ausgespäht. Besonders nach Lichtern. Ich sah keine. Eine Schußwaffe habe ich nicht bei mir. Ich habe gerufen und gepfiffen. Meine Kameraden zu alarmieren, das hatte aus besonderem Grunde keinen Zweck. Ich habe ununterbrochen nach Ihnen gesucht. Jetzt habe ich Sie endlich gefunden. In einer höchst unangenehmen Lage.«
Der Spanier machte eine Pause, ließ wieder einmal auch feine linke Krallenhand hervorschlüpfen, die mußte die Zigarette übernehmen, denn mit der rechten Hand lüftete er jetzt seinen Filz. Zum ersten Male bekamen wir seinen Schädel zu sehen, mit schwarzen Haaren bewachsen, kurz geschnitten, aber noch immer struppig genug.
So den Filz in die Höhe haltend, blickte er im Kreise herum. Die ganze Mannschaft hielt sich ja doch in der Nähe auf.
»Sennores,« redete er so die Matrosen an, »durch mich sind Sie in diese höchst unangenehme Lage gekommen. Durch mich haben Sie sicher auch sonst einen höchst sorgenvollen Tag und eine ebensolche Nacht gehabt. Es gibt für mich eigentlich keine Entschuldigung, trotzdem wage ich es, Sie um Entschuldigung zu bitten.«
Er setzte seinen Filz wieder auf und blickte wieder uns an, die Hauptpersonen.
»Diese Erklärung war ich auch Ihren Leuten schuldig, auch diese hatte ich um Entschuldigung zu bitten. Dies habe ich hier öffentlich an Deck getan. Jetzt bitte ich Sie, mit Ihnen weiter in der Kajüte sprechen zu dürfen.«
Carambo! Das war doch eigentlich höchst nett gesprochen und gehandelt.
Ich wurde überhaupt etwas kopfscheu.
Der hatte den Diamanten doch schon gemaust!
Der hatte ihn doch schon in Sicherheit gebracht!
Hatte doch schon seinen Zweck erreicht!
Weshalb kam der überhaupt noch einmal hierher?
War da nicht ein Rätsel vorhanden?
So grübelte ich!
Kapitän Martin war vernünftiger als ich, der grübelte nicht erst.
»Well. Kommen Sie mit in die Kajüte.«
Wir gingen in die Kajüte, auch der Spanier setzte sich diesmal, ohne Aufforderung.
»Well?«
»Sprechen Sie im Namen der Sennora Patrona?«
»Well. — Ja.«
»Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen.«
»Well?«
»Bitte entbinden Sie mich meines Versprechens.«
»Was für eines Versprechens?«
»Das ich Ihnen gegeben habe.«
Eine kleine Pause, Kapitän Martin war nicht anders, als ob er überlege, was für eine Farbe er jetzt aus seinen unschuldigen Karten ausspielen solle. »Na nun mal los!« sagte er dann aber doch in etwas schroffem Tone, wie er aber vielleicht auch beim Kartenspiele gesprochen hätte. »Was wollen Sie eigentlich, he?«
»Ich habe Ihnen doch versprochen, für vier Millionen Milreis Chinarinde zu liefern.«
»Na sicher haben Sie das versprochen.«
»Ich werde mein Versprechen halten.«
»Na sicher müssen Sie Ihr Versprechen halten.«
»Jeder Mensch kann aber doch einmal in die Lage kommen, sein Versprechen nicht halten zu können.«
Wieder eine kleine Pause.
»So. Hm. Well. Na also?«
»Ich bitte Sie, mich meines Versprechens zu entbinden.«
Zum Kuckuck, wo wollte der Mensch denn nur hinaus?!
Was baute der uns hier für eine Falle?!
»Was heißt entbinden?«
»Ich habe eben meine Wette verloren, denn eine Wette war es doch schließlich.
»Wette?«
»Wenn Sie allerdings darauf bestehen, so werde ich Ihnen dennoch die Chinarinde im Werte von mindestens vier Millionen Doppelreis liefern. Zum größten Teil sogar schon abgeschält. Und auch für diese Arbeit hätten Sie nichts zu zahlen.«
»So. Hm. Sehr liebenswürdig. Und wenn wir darauf nicht eingehen?«
»Dann habe ich eben meinen Einsatz verspielt.«
»Einsatz?«
»Meinen Diamanten.«
»Ihren Diamanten?«
»Dort.«
Und der Spanier deutete mit seinem Krallenfinger nach dem Panzerschranke.
Nun allerdings hätte ich gesagt: den haben Sie doch bereits gemaust!
Kapitän Martin sagte es nicht.
»Der ist nicht mehr da drin.«
»Nicht? Wo sonst?«
»Den haben wir nicht mehr.«
»Den — haben — Sie — nicht — mehr?!« erklang es lang gedehnt.
Kapitän Martin lehnte sich zurück und betrachtete den Mann.
Ich wußte, was der Kapitän dachte.
Ja, was sollte man denn nun mit diesem Schufte anfangen? Was half es denn, ihm ins Gesicht zu sagen: Du hast den Diamanten entwendet und mitgenommen! Er leugnete einfach. Wie sollte er denn überführt werden? Mochte seine Schuld auch noch so kraß zu Tage liegen, der bezichtete einfach uns, den Diamanten beiseite gebracht zu haben!
Nein, Kapitän Martin hatte ganz recht: es mußte vorsichtig sondiert werden, was der Spanier mit seiner Wiederkunft überhaupt bezweckte.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Plötzlich kam der Matrose Klaus herein, unangemeldet‚ er stürmte herein.
»Die is he!!«
In seiner Hand, die er uns hinhielt, lagen einige Glassplitter, ein Streifen blankes Kupferblech, ein blanker Schilling, ein blankgescheuerter Zinnlöffel — — und unser Diamant!
Hat der Leser bereits erraten, was hier vorlag?
Wir wußten es sofort, wie wir auch nach der hingehaltenen Hand starrten
»Wo?« flüsterte der Kapitän, einen Kopf wie eine Klatschrose bekommend, mit ganz entgeisterten Augen.
»In der neuen Segelkammer, ganz vorn in der Ecke.«
»Ach herrjeehses, ach herrjeehses!« schnarrte da im Hintergrunde der Kajüte Huckebeins Stimme.
»O Gott, o Gott, daß wir nicht an diese Möglichkeit gedacht haben!« flüsterte die Patronin mit gerungenen Händen.
Ja, an diese Möglichkeit hätten wir denken können! Huckebein stahl, wie eben ein Rabe stiehlt, alles was glänzte, was er forttragen konnte, das schleppte er nach einem Versteck, ohne dieses besonders heimlich zu verbergen. Wir fanden immer einmal ein Räubernest mit solchen Sachen.
Und niemand hatte mit einem Gedanken an solch eine Möglichkeit gedacht!
Ja freilich, wir denken doch, die Patronin hat mindestens die Schublade in dem Panzerschrank zugemacht, die den kostbaren Diamanten enthält! Aber das war eben nicht der Fall gewesen, nur ein Spalt, der Rabe hatte das glänzende Ding herausgeholt!
Und der Leser versteht doch auch, weshalb uns so fürchterlich zumute war! Vierundzwanzig Stunden lang haben wir diesen Mann in allen Tonarten verflucht und beschimpft, den Gauner, den Schuft, der uns hierher gelockt, uns treulos verraten hat, den Einbrecher, der den Diamanten im Werte von vier Millionen Milreis gestohlen hat.
Eigentlich ist es ja ganz gleichgültig, ob man eine Stecknadel oder solch einen Diamanten von Wallnußgröße stiehlt.
Ja, eigentlich ist es ganz gleichgültig. Vor Gott. Aber den menschlichen Richter möchte ich einmal sehen, der da keinen Unterschied macht. Läßt er sich durch diesen Unterschied der Objekte nicht beeinflussen, so wäre er ja gar kein Mensch.
Kurz und gut — mir wäre es im Augenblicke angenehm gewesen, wenn ich im Boden versunken wäre, um nie wieder aufzutauchen.
Kapitän Martin war aufgestanden, um einen Gang durch die Kajüte zu machen.
»O ist das fatal, ist mir das fatal! So eine Affenschande! Tja, da gibt es nur eines —«
Und er trat vor den Spanier, holte die Hand aus der Hosentasche und hielt sie ihm hin.
»Sennor della Estrada! Ich bitte Sie um Verzeihung. Sie sollen Ihre Revanche öffentlich haben. Jetzt nehmen Sie erst einmal meine Hand als die des Kapitäns dieses Schiffes.«
»Weshalb?« fragte der Spanier ungerührt, wie er bei dieser ganzen Szene geblieben war, nur daß seine Raubvogelaugen noch mehr funkelten.
»Wir haben geglaubt, Sie hätten gestern nacht den Diamanten mitgenommen, ihn dort aus dem Geldschrank entwendet —«
Und Kapitän Martin berichtete ganz ausführlich. Ungerührt hörte der Spanier zu, bis der Kapitän geendet hatte, wobei er aber auch schon wieder die Hand in die Tasche gesteckt hatte.
»Sie haben sich eben geirrt!« erklang es dann gelassen wie immer. »Also ich biete Ihnen den Diamanten als Ersatz für die Chinarinde an.«
Wenn der Spanier die Sache so auffaßte, dann war die Sache erledigt — vorläufig Kapitän Martin ging sofort darauf ein.
»Well. Die 30 000 Chinabäume sind vorhanden?«
»Sind vorhanden.«
»Noch weit von hier?«
»Mi sabe!« wurde ausgewichen.
»Sie werden schon abgerindet?«
»Si Sennor.«
»Von wem?«
»Mi sabe. Aber die Rinde gehört mir. Sie steht Ihnen zur Verfügung. Sie haben gar keine Schwierigkeit dabei. Nur das Einladen. Aber ich bitte Sie, auf die Chinarinde zu verzichten und dafür meinen Einsatz anzunehmen.«
»Den Diamanten?«
»Ja. Sind Sie überzeugt, daß er echt ist?«
Kapitän Martin hatte ihn nicht, wie er erst beabsichtigt, in Rio prüfen lassen. Er hatte keinen Vertrauensmann gefunden, das war in Brasilien überhaupt nicht so einfach, da muß man sehr vorsichtig sein — weshalb, davon werde ich später berichten.
»Ja, ich bin überzeugt, daß der Diamant echt ist!« entgegnete Martin.
»Glauben Sie, daß dieser Diamant einen Wert von vier Millionen Doppelreis hat?«
»Hm. Wenn man einen Liebhaber dafür findet —«
»Ja oder nein, Sind Sie von diesem Werte überzeugt oder nicht?«
»Ja.«
»Auch Sie, Sennora Patrona?« wandte er sich jetzt an diese.
»Ja.«
»Wollen Sie diesen Diamanten für die versprochene Chinarinde annehmen?«
»Wir erweisen Ihnen also eine Gefälligkeit,« nahm wieder Kapitän Martin das Wort, »wenn wir statt der Chinarinde den Diamanten nehmen?«
»Ja, eine sehr große Gefälligkeit, und ich werde Ihnen auch dankbar dafür sein.«
»Well, Frau Patronin, da müssen Sie die letzte Entscheidung treffen.«
»Aber das können wir doch unmöglich annehmen,« sagte diese ganz verwirrt, »wie kommen wir denn dazu, uns von Ihnen so etwas schenken zu lassen —«
Sie kam nicht weiter. Jetzt taute der Spaniole zum ersten Male auf, jetzt wurde er eklig.
Wenigstens stand er langsam aus, hüllte sich noch fester in seinen schäbigen Mantel, um uns mit einem unsagbar verächtlichen Blicke zu messen.
»Für wen halten Sie mich denn, Sennora?« erklang es schneidend. »Sennor Montezuma della Estrada ist von jeher ein Ehrenmann gewesen und wird es immer bleiben! Ich habe Ihnen damals in Kapstadt das Angebot gemacht, Sie haben es angenommen. Weshalb ich keinen Anteil an dem Gewinn der Chinarinde haben will, geht Sie nichts an, oder Sie hätten schon damals fragen müssen, hätten es allerdings auch damals nicht erfahren. Ich versprach einen gleichwertigen Einsatz, habe mein Wort gehalten, und Sie nahmen den Diamanten an. Jetzt sind Sie damit einverstanden, auf die Chinarinde zu verzichten, also habe ich meinen Einsatz verloren. Der Diamant gehört Ihnen, basta! Nun möchte ich deswegen kein Wort mehr hören!«
Ganz energisch hatte er gesprochen.
Dann war freilich gar nichts mehr dagegen zu machen.
Also der Diamant gehörte uns, der Patronin. Sie mußte ihn nur unter besseren Verschluß nehmen. Einen Liebhaber, der den vollen Wert bezahlte, wenn ihn die Patronin zu verkaufen wünschte, wollten wir schon finden. Da braucht man nur nach Neuyork in die fünfte Avenue zu gehen, wo die Milliardäre alle zusammenhocken. Aber da gibt es auch noch andere.
Wo der diesen Diamanten her hatte, darnach durften ihn wir natürlich nicht fragen. Nun, uns konnte das auch gleichgültig sein, jetzt waren wir seine rechtmäßigen Besitzer. Übrigens konnten wir ihn ja auch spalten lassen, kleinere Steine daraus machen, wodurch der Gesamtwert allerdings sehr verringert wurde.
»Well, nun sitzen wir aber hier fest!« nahm Kapitän Martin wieder das Wort.
»Am 2. August trifft hier das Regenwasser aus dem Gebirge ein, am anderen Tage sind Sie wieder frei.«
Wir durften dieser Prophezeiung ohne weiteres glauben. Ich habe ja schon einmal gesagt, wie genau man den Eintritt der Regenzeit bestimmen kann, eben weil die Termine so regelmäßig sind, was mit den Kalmen und Passaten zusammenhängt. Das heißt, es ist immer nur für eine gewisse Gegend gültig. Ein untrügliches Zeichen zum Bestimmen des Termins, wann das Wasser fällt und wieder steigt, ist auch das Verhalten einer besonderen Art von Schildkröten, worüber ich später noch sprechen werde.
Heute hatten wir den 16. Juni. Demnach also mußten wir 47 Tage hier liegen bleiben. Nun, die Zeit wollten wir uns schon vertreiben.
»Wie ist es denn nur möglich,« fragte Kapitän Martin, »daß das Wasser in einer einzigen Nacht sechs Meter fallen kann?«
»Sieben Meter.«
»Ja, wo fließt denn das nur so plötzlich hin?«
»In die Bifurkationen; diese sind bei Hochwasserstand ausgetrocknet —«
»Bei Hochwasserstand ausgetrocknet?!«
»Si, si, Sennor. Die Bifurkationen füllen sich beim Steigen des Wassers, des eigentlichen Stromes. Dabei werden Dämme aufgeschlämmt, welche zuletzt die Kanäle absperren; nämlich wenn das Wasser etwas sinkt, um dann lange Zeit seinen Höchststand zu behalten. Während dieser Zeit nun trocknen die Bifurkationen wieder aus, sie haben ja keinen Zufluß mehr. Also ist der Damm auf der einen Seite ganz trocken, auf der anderen von Wasser bespült. Sinkt nun das Wasser wieder, so bearbeitet es den Damm, er bricht, in einem Moment viele tausend Dämme, und das Stromwasser ergießt sich in die Tausende von Kanäle. Daher die Schnelligkeit des Sinkens. In einer Nacht ist es geschehen, nun aber sinkt das Wasser auch nicht weiter. Am 2. August kommt es wieder, am 3. erreicht es schon seinen Höchststand.«
Die ausgetrocknete Mumie sprach plötzlich wie ein Gelehrter auf dem Katheder, und es war wirklich höchst interessant!
»Wäre aber das Wasser auf dem Strome auch jetzt noch tief genug für unser Schiff?«
»Si, si, Sennor. Daß Sie in einen Nebenarm und gerade auf eine Sandbank geraten sind, ist sehr bedauerlich.«
»Sie werden uns dann zurückführen?«
»Si, si, Sennor.«
»Sie begeben sich inzwischen zu Ihren Kameraden, welche die Chinabäume abschälen?«
»No, Sennor.«
»Sondern?«
»Ich bleibe bei Ihnen, werde das Schiff mit keinem Schritte mehr verlassen. Das bin ich Ihnen jetzt schuldig.«
So sprach der Spanier, und die Sache war erledigt.
Ein ganz vortrefflicher Mensch, dieser Spanier!
Was für ein bitteres Unrecht hatten wir ihm zugefügt!
Nicht er hatte uns getäuscht, sondern wir uns in ihm!
So dachten wir damals!
Die Sache sollte aber doch noch etwas anders kommen.
26. KAPITEL. SIEBEN WOCHEN IM URWALDE.
Es war eine schöne Zeit gewesen, damals die drei Wochen in jener Bucht im Feuerlande, in der Arnautenbucht, wie wir sagten — aber die sieben Wochen, die wir auf dieser Sandbank im brasilianischen Urwalde verbrachten, waren noch viel, viel schöner!
Spiel, Sport, Jagd — und jeden Tag tausend Dummheiten! Wir bedauerten nur, daß jeder Tag bloß 24 Stunden hatte, sonst hätten wir doch noch mehr Dummheiten machen können. Wir bedauerten, daß der Mensch doch ab und zu schlafen muß. Wir machten die Nacht zum Tage, hielten lieber in den heißen Mittagsstunden in unseren kühlen Särgen ein ausgiebiges Schläfchen.
Eine ingeniöse Idee jagte die andere, aber etwas »Dummheit« war doch immer dabei.
Die Nacht wurde durch den elektrischen Scheinwerfer erhellt, der intensiv weiße Lichtstrahl zog alle Moskitos der ganzen Umgebung hier bei uns zusammen, in Myriaden und Abermyriaden — und trotzdem blieben wir selbst jetzt ganz verschont von ihnen, eben weil sie alle in das Licht wollten.
Nun noch eine elektrische Falle gebaut, schwachglühende Kupferdrähte, an denen sie sich die Flügel verbrannten, und sie stürzten in dazu schon aufgestellte Kästen.
Hundert Liter Mückenleiber brachten wir auf die Weise jede Nacht mindestens zusammen. Nun sollte der Liter eine Mark kosten — das war schon ein ganz hübsches Geschäft, wenn es auch die Kosten unseres Schiffes nicht deckte. Immerhin, wir schaufelten Säcke voll, fühlten uns als Nachtigallenfutterfabrikanten.
Und während die armen Mücken sich ihre Flügel verbrannten, ließ die Orgel mit ihren 5000 Pfeifen unter Hämmerleins Händen eine Sinfonie erbrausen.
Ach, waren das Nächte dort im brasilianischen Urwalde!
Bereits am zweiten Tage fand die Durchstechung und feierliche Einweihung des Argonauten—Kanals statt.
Wir hatten die Sandbank von einem Wasserkanal zum anderen durchstochen, in einer Länge von 140 Meter, zwei Meter breit und etwas über einen Meter tief, vollkommen zum Schwimmen geeignet, und dann gab es noch ein tieferes Bassin mit zwei elastischen SprungBrettern.
Denn mit dem Baden und Schwimmen draußen im Flusse war es ja nichts, der Krokodile wegen, oder wir hätten eine größere Strecke mit einem Netz schützen müssen, aber doch immer eine unsichere Sache.
So brauchte nur dieser Kanal durch solide Schutzvorrichtungen abgesperrt zu werden.
In anderthalb Tagen hatten wir diesen Kanal hergestellt, mehr als 400 Kubikmeter Sand bewältigt.
Ja, wenn 70 Paar Hände feste zugreifen, wie an einem Arme gewachsen, da läßt sich etwas schaffen! Selbst Doktor Isidor hatte geschaufelt, daß er triefte, aber immer nobel, im schwarzen Gehrock und Zylinder, auf der krummen Nase den Kneifer, bei jedem Spatenstich mit den Ohren wackelnd.
Doch wir hatten die Schaufelei überhaupt gar nicht nötig. Ach, wir waren ja so ingeniöse Köpfe! Wir waren mit genialen Gedanken vollgepfropft wie das Ei mit Dotter.
Das Orgelgebläse mußte wieder einmal herhalten. Erst hatten wir mit ihm die Makrelen geräuchert, jetzt mußte es als Saugwerk den Sand heben. Das Schaufeln mit 70 Paar Menschenarmen ging freilich bedeutend schneller, aber immerhin, zum Herausschaffen des Sandes aus dem tieferen Bassin war es doch recht brauchbar und dann war es eben die geniale Idee, die uns den Hauptspaß dabei machte.
Bei der Einweihung des Argonauten—Kanals bliesen zehn Mann den brasilianischen Moskito—Marsch auf einer einzigen Riesenuniversaltrompete, gefertigt aus einer Windtute und dem Schornstein des Donkeys, und der dreistimmige Argonautenmännerchor sang die Jubelhymne des Königs Mwambanjululelangalaclick von Ulolombalaleclicjajalaloclick, von Seiner schwarzen Majestät selbst gedichtet und komponiert: Radau, Radau, Radaudaudau.
»Nee, wissen Sie, Waffenmeister,« sagte Kapitän Martin dann kopfschüttelnd zu mir, »ich glaube, die Jungens doch nun genau zu kennen — aber immer wieder muß ich sagen: nee, so eine verrückte Bande habe ich noch nicht gesehen!«
Und als Kapitän Martin dies sagte, da hatte noch gar nicht das große Wasserfest begonnen!
Von diesem will ich nichts weiter erwähnen, als daß Klothilde eine Seejungfrau mimte, die von einem tollen Seehund gebissen und infolgedessen wasserscheu wird, von den anderen Wassergöttern an die Kreuzleine genommen werden muß.
Mit dieser Wasserpantomime sollten wir später in Hafenstädten noch oftmals paradieren, daß die Zuschauer vor Lachen umfielen.
Sehr schön war auch der Argonautenberg. Der ausgehobene Sand, 400 Kubikmeter, war zu einem recht ansehnlichen Hügel aufgeschüttet worden, von dort oben ging auf spiegelglatt polierten Brettern eine Rutschbahn direkt in das Wasserbassin hinab. Auch ein geistreiches Spielchen war dafür schnell erfunden. Der Kampf um die Wurst. Es galt, in halber Höhe die Fahrt möglichst zu bremsen und nach einer seitwärts aufgehängten Wurst zu haschen, wozu man sich seitwärts biegen mußte, zur Balance die Beine nach der anderen Seite ausstreckend — da aber nun das Bremsen und der Griff nur in den seltensten Fällen gelang, so sauste der Betreffende immer in der urkomischten Stellung ins Wasser hinein.
Ach, dieses Gelächter!
Na‚ was von uns Menschen die Affen denken mußten, die dort oben in den Bäumen ihr Wesen trieben und unserem Treiben neugierig zuschauten!
Und ach, was wir mit diesen Affen der Freiheit alles angestellt haben, um sie in unsere Gewalt zu bekommen, nur um sie dann gleich wieder laufen zu lassen. Diese Fallen, die wir denen bauten, diese Schliche und Kniffe, die wir ersonnen, um sie zu überlisten! Ich will es nicht weiter ausführen.
Dagegen will ich hierbei erwähnen, daß wir keine Affen fingen oder schossen, um sie zu verspeisen. In Brasilien werden nämlich die Affen allgemein verzehrt. Ich hätte es nie fertig bringen können, und alle anderen teilten meine Ansicht, als wir uns einmal darüber unterhielten. Einen Affen schießen, um ihn auszustopfen — ja, warum nicht, aber ihn am Spieße oder inder Pfanne zu braten nee! Es hat doch eine verdammte Ähnlichkeit mit Menschenfresserei. So eine Affenhand, die man abschneiden muß, mit diesen Fingern — nee!
Ich habe mich später über diesen brasilianischen Geschmack näher orientiert, und da habe ich die doch sehr eigentümliche Entdeckung gemacht, daß wie die Eingeborenen nur die Portugiesen, die Spanier, die Italiener und die Franzosen den Affen, auch den meinschenähnlichsten, unbekümmert mit dem größten Behagen verzehren. Bei allen Yankees, Engländern und Deutschen, die dort dominieren, ist der Genuß von Affenfleisch durchaus verpönt. Ich will daraus nicht gerade einen Schluß auf den Nationalcharakter oder vielmehr auf die Rasse ziehen, aber — es ist doch sehr merkwürdig.
Sehr auffallend ist es auch, daß auf den brasilianischen Märkten kein Affenfleisch tot oder lebendig feilgeboten wird. Die Affen werden nur so unter der Hand bezogen. Auch in den Hotels und in den Restaurationen gibt es kein Affenfleischgericht. Also — so ganz richtig ist die Sache doch nicht, ein kleines Bewußtsein, daß etwas nicht in Ordnung ist, ist schon dabei! — —
Dann weiter bauten wir eine Riesenschaukel, oder nur eine Trapezvorrichtung mit 15 Meter langen Seiten zum Abspringen ins Wasser.
Zwei schlanke Baumstämme wurden gefällt, oben durch Querbalken verbunden, unten im Sande gut verankert, mit noch besser verankerten Seilen, die durch Doppelgewinde angespannt werden konnten, absolut festgehalten. So etwas verstehen wir Seeleute doch. Und nun zwischen diesen Balken an 15 Meter langen Seilen das Trapez, über dem Kanal schwingend, und wenn man beim starken Schaukeln den höchstmöglichen Punkt erreicht hatte, so mußte man beim Abspringen gerade in die Mitte des tiefen Bassins kommen.
O, mit solch einer langen Springschaukel kann man etwas machen! Ich habe sie nur noch im Leipziger Elsterbad gesehen. Und einige von uns wurden bald Meister. Prachtvolle Sprünge! Aber sie alle waren bereits halbe oder sogar schon ganze Akrobaten. Doppelsaltos mit nachfolgendem Hechtsprung waren gar keine Seltenheit mehr.
Wenn wir einmal in einem Wettschwimmen ein Kunstspringen bestritten, da würde man ja mit den Argonauten etwas erleben!
Und wenn ich mir nun diese Kerls noch vor fünf Monaten vorstellte, wie sie damals über das niedrige Sprungseil hopsten! Und jetzt, wenn sie aus der Höhe einer dritten Etage mit ausgebreiteten Armen, stolz den Kopf zurückgeworfen, von dem Trapez abgingen!
Ach was wir alles bauten!
Das Auffinden eines hohlen Baumes, in dem ein Volk Bienen hauste, das uns seinen reichen Vorrat an Honig lassen mußte, gab Veranlassung zur Errichtung eines Backofens.
Honig und Backofen reimt sich ja nicht so ohne weiteres zusammen. August der Starke war es, der dieses Zusammenreimen sofort fertig brachte, obgleich er sonst durchaus keine poetische Ader hatte.
»Kinders, jetzt werde ich Euch beweisen, daß ich nicht umsonst zwei Jahre als Bäcker und Konditor gelernt habe, jetzt werde ich Euch einmal einen Honigkuchen backen!«
Ein Backofen war ja an Bord vorhanden, für das ursprüngliche Kriegsschiff, dessen Offiziere doch immer Frischbrot haben wollen, sogar ein sehr großer, neben der Kombüse in einem besonderen Raume.
Aber es ist mit diesen Schiffsbacköfen immer eine dumme Sache. Sie müssen von Eisen sein, direkte Feuerung haben, es geht doch nicht anders. Ja, das Frischbrot, das wir ab und zu bekamen, oder überhaupt so oft wir Appetit darauf hatten, stellte Meister Kännchen tadellos her. Aber es konnten nur kleine Brötchen sein oder Dreipfundbrote, andere Dimensionen waren wie Kunstbäckereien darin nicht möglich, und der zweite Bootsmann hatte etwas ganz, ganz anderes vor.
Also wir bauten erst einen richtigen Backofen ihn in den Sand hinein, nämlich mit Zement, der in ziemlicher Quantität mit zur vorschriftsmäßigen Schiffsausrüstung gehört, um etwa mit Zement und Werg ein Leck zu verstopfen. Man braucht ihn aber auch noch für andere Zwecke.
Also erst wurde mit Zement und Sand ein Fundament gegossen, auf der Sandbank darüber mit Holzbrettern ein Gerüst gebaut, gewölbt, fünf Meter lang und vier Meter breit, mit kleineren Dimensionen wollte sich August der Starke nicht einlassen, und da mußte auch noch Spielraum vorhanden sein, um ein solches Kuchenblech bequem aufzunehmen, und über diesen Holzbau wurde nun die Decke gegossen, wieder mit einer Mischung von Sand und Zement. Zu unterst aber, die eigentliche Decke bildend, kam erst noch reiner Sand.
Wozu?
O, wir waren geniale Kerls! Wie wir uns das alles ausgediftelt hatten! Und wie das dann alles auch wirklich klappte!
Wir wollten nämlich die Sanddecke durch stärkere Hitze erst etwas schmelzen, damit später nichts auf den Kuchen herabbröckelte, mußten aber auch verhüten, daß der Zement wieder ausgebrannt wurde.
Doch mit solchen Kleinigkeiten will ich mich nicht einlassen, es waren noch andere Vorsichtsmaßegeln nötig.
Also jetzt den fertigen Ofen mit kleinem Holz beschickt, und wiederum mußte, um zuerst eine stärkere Hitze zu erzeugen, der Orgelblasebalg herhalten. Es klappte alles famos! Natürlich verbrannte auch das Holzgerüst mit.
Unterdessen wirkte August schon den Pfefferkuchenteig aus. Und wie der wirkte! Wie der mit dem kolossalen Teigbatzen herumfuhrwerkte, ihn in die Luft warf und wieder auffing! Und wie der Kerl dabei schwitzte!
»Aujust, Du hast nen Troppen an der Nase hängen.«
»Stimmt, der muß rin, der gibt dem Nürnberger Lebkuchen erst den richtigen Leb, sonst geiht he nich up!«
Dann den Ofen sich wieder etwas abkühlen lassen, wie August bestimmte, und auf einem Blech den Kuchen hineingeschoben, genau fünf Meter lang und vier Meter breit, so ungefähr ein Teppich, der ein ansehnliches Zimmer ganz ausfüllt.
Und wie das Ding nach einigen Stunden herauskam — Dunnerwetter, da erst staunten wir richtig! Jetzt erst sah man richtig, was das für ein Pfefferkuchen war bei einem Viertelmeter Dicke! Und wie famos der gelungen war! Wie fein braun lackiert!
Besonders die Patronin war einfach ganz weg vor Staunen.
Und dann hatte sie eine Idee. Der Kapitän war nämlich der einzige, der den Kuchen noch gar nicht gesehen hatte, auch nicht wie er als ausgerollter Teig hineingeschoben worden war.
Also die Patronin zog mich beiseite.
»Waffenmeister — ich begehe eine große Indiskretion — einen Verstoß gegen die Bordroutine — aber ich kann nicht anders — morgens hat Kapitän Martin seinen Geburtstag, es steht doch in seinen Papieren —— könnte der nicht den Riesenpfefferkuchen überreicht bekommen?«
Ei jawohl, ei gewiß das wurde gemacht!
Allerdings nicht als Geburtstagsgeschenk. Daß dies nicht angängig war, das hatte ja schon die Patronin gesagt. Weshalb das nicht angängig war, das läßt sich nicht so leicht erklären, dazu muß man Seemann sein. Es geht eben gegen die Bordroutine, gegen den Schiffsanstand, dem Kapitän zu seinem Geburtstang zu gratulieren und ihm ein Geschenk zu überreichen. Es wird wohl überhaupt jeder einsehen, daß so etwas gar nicht möglich ist. Die Mannschaft kann doch nicht dem Kapitän, dieser unnahbaren Majestät, zum Geburtstage gratulieren. Wenn der erste Steuermann sein Neffe ist, so kann er seinem Onkel gratulieren, aber doch nicht dem Kapitän!
Aber zu machen war es — nur in anderer Weise. Der Koch oder sonstwer konnte für den Kapitän doch einmal etwas Besonderes backen. Es ließ sich auch noch etwas mehr daraus machen.
August wurde ganz Feuer und Flamme, als er das vom Geburtstag des Kapitäns erfuhr.
»Ei, da spritze ich was drauf, Jungens, Ihr sollt mal sehen, wie Euer Bootsmann spritzen kann, und zwar nicht nur zum Deckscheuern mit der Dampfspritze!«
Also er traf seine Vorbereitungen und spritzte, wie der Kuchen erkaltet war. Spritzte mit einem weißen Zuckerschaum. Spritzte auf den braunen Kuchen eine ganze Landschaft mit Sonne, Mond und Sternen. Aber die Hauptsache war eine Kommandobrücke. Und auf dieser Kommandobrücke war die Hauptsache ein Mann, in voller Lebensgröße, nur auf einem Beine stehend, das andere endlos lange Bein über das Geländer gehängt, beide Hände bis an die Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben.
Na — großartig, kann ich nur sagen!
Unser Käpten, wie er leibte und lebte!
Man sah ihn förmlich seinen Tobak kleinkauen!
Und darunter die Widmung: Die Argonauten ihrem Kapitän.
So etwas war ja nun erlaubt. Da wäre sogar noch viel mehr erlaubt gewesen. Aber nur nicht so etwas wie vom Geburtstage anfangen! Das ist etwas rein Persönliches, das gehört nicht aufs Schiff. Wir hätten auch nicht seinen Namen darauf nennen dürfen. Mit dieser Unpersönlichkeit der Schiffsbesatzung hängt sogar das zusammen, daß es bei den Matrosen, wie ich schon einmal ausführte, nur den Vornamen gibt. Man fährt ein ganzes Jahr lang mit einem guten Kameraden zusammen, schließt innige Freundschaft, und man erfährt gar nicht seinen richtigen Namen. Ausnahmen gibt es natürlich immer, wie bei »unserem Hahn«.
Und nun bekam dieses Pfefferkuchengemälde noch einen mächtigen Rahmen aus Brezelgeflecht, mit Saffian und Ei fein goldgelb anlackiert!
Der Morgen des andern, des großen Tages brach an. Die Jungens standen auf der Lauer. Hoffentlich wurde der Käpten heute nicht seiner Gewohnheit untreu. Aber er wurde es nicht. Kapitän Martin betrat des Morgens nie das Deck von seiner Kajüte aus, sondern erschien zuerst immer auf der Kommandobrücke, aus dem Kartenhaus heraustretend, nach welchem, wie schon einmal erwähnt, ein Gang und eine Treppe von den Kajüten aus führte.
So geschah es also auch heute bei Aufgang der Sonne. Kapitän Martin trat aus dem Kartenhaus, natürlich die Unterarme bis zu den Ellenbogen in den Hosentaschen, ging nach vorn an das Geländer — und richtig, auch heute hob er das linke Bein, legte es über das Geländer, bei der Länge dieser Beine nicht viel anders, als wenn ein anderer den Fuß auf einen Stuhl stemmt, um in dieser Stellung erst einmal Takelage und Himmel zu mustern.
In diesem Augenblick kamen zwölf Matrosen anmarschiert, auf jeder Seite sechs, zwischen sich auf Stangen den riesigen Kuchen tragend, auf der Blechtafel ruhend, und so richteten sie ihn vor der Kommandobrücke aufrecht hin, die Vorbereitungen dazu waren schon vorher getroffen worden, stellten den Kuchen etwas schräge auf, wie man ein Bild auf eine Staffelei setzt. Dann gingen sie wieder.
Die Kommandobrücke war nicht allzuhoch, der Kapitän stand direkt seinem Ebenbild oder schon mehr Spiegelbilde gegenüber, nur daß es aus weißem Zucker war, sah sich in eben derselben Stellung, die er jetzt einnahm.
Wohl eine Minute blickte er regungslos sein weißgezuckertes Konterfei auf dem Riesenkuchen an, jetzt las er offenbar die Widmung, da nahm er die rechte Hand aus der Hosentasche um sich kopfschüttelnd den Vollbart zu streichen, in Wirklichkeit aber wohl mehr, um sein lautloses Lachen auch nicht sehen zu lassen.
»Well. Bootsmann! Laßt das Ding mal in meine Kajüte tragen.«
Er ordnete selbst an, wo es aufgestellt werden sollte, aufrecht gegen die Wand. Seine Kajüte war der einzige Wohnraum, der den fünf Meter hohen Kuchen, durch den Rahmen noch etwas höher, in dieser Stellung aufnehmen konnte. Er hatte eben die Kapitänskajüte bekommen, die für den Kommandanten des ursprünglichen Kriegsschiffes bestimmt gewesen, der doch manchmal repräsentieren muß. Es war sehr schön von der Patronin gewesen, — 645 daß sie diesen besten Raum auch wirklich dem Kapitän überlassen hatte. Aber so war sie ja immer.
Die Patronin, Ilse und ich, wir drei waren die einzigen, die ihm dann zum Geburtstage gratulierten. Ich war ja als Kargo—Kapitän sein gleichgestellter Kollege, da war es etwas anderes.
»So freudig bin ich an meinem Geburtstage noch nie überrascht worden!« konnte er dann als ganz gewöhnlicher Mensch zu uns sagen. »Und ich glaube, wenn ich König und Kaiser wäre, ein imposanteres Geschenk könnte mir kein Fürst machen. Es sind doch Teufelsjungen!«
Er war wirklich ganz gerührt.
Heute dinierten wir drei bei ihm in seiner Kajüte, das Essen ging ja auf Rechnung des Schiffes, hierüber hatte er überhaupt frei zu verfügen, aber das Getränk dazu, Johannisberger Cabinet und Sillery, entnahm er seinem eigenen Proviantmagazine.
Und von der Mannschaft erhielt heute zum Mittagsessen jeder eine Flasche Rüdesheimer, der erste Offizier sowohl wie der Schiffsjunge, ohne Erklärung wurden sie aufgestellt, respektive in der Offiziersmesse vor den Platz eines jeden hingesetzt, nicht etwa »das ist vom Kapitän, weil er heute seinen Geburtstag hat, für den Pfefferkuchen« — um Gottes willen nicht! — und nicht etwa, daß ein Hoch ausgebracht werden durfte, auch nicht im engen Kreise der Offiziere. Es geht gegen die Bordroutine, dieses eherne Gesetz, obgleich es ungeschrieben ist.
Dieser Wein ging zwar aus der großen Schiffsproviantkammer, aus der speziellen Weinkammer, in der Batterie über Batterie lagerte, aber es war ganz selbstverständlich, daß ihn der Kapitän dann später bezahlte, ebenso wie am Abend den eisgekühlten Schwedenpunsch in beliebiger Menge.
Den Riesenpfefferkuchen verspeiste dann natürlich ebenfalls die Mannschaft, aber erst war er doch zwei Tage in der Kapitänskajüte aufgestellt gewesen, und sein Eigentümer hatte sich ein gutes Stück reserviert und ein anderes noch größeres nach der Patronatskajüte geschickt.
Während wir vier in der Kapitänskajüte speisten, kam das Gespräch auf die Backerei im Besonderen und auf die Kocherei im Allgemeinen an Bord der Schiffe.
Da konnte ich auch ein Wort mitsprechen.
Ich kann nämlich auch kochen.
Und wie!
Ich bin einmal als Schiffskoch gefahren! Wenn auch nur 14 Tage lang.
Was ich damals erlebt habe, das erzählte ich und gebe es hier wieder.
Unser Hamburger Dampfer, 42 Mann Besatzung hatte in Singapore Reis geladen. Ich war als Matrose darauf.
Wie wir früh abfuhren wollen, fehlt der Koch. Ist vom Nachturlaub nicht zurückgekommen. In der letzten Stunde wurde er gesucht, nicht gefunden — wir hatten keine Zeit mehr, ein anderer war nicht aufzutreiben — wir fuhren ohne Koch los. Einen Kochmaat, einen Küchengehilfen, hatte er nicht gehabt, war ohne den fertig geworden, auch ein solcher war nicht aufzutreiben gewesen, und das ist auch noch lange kein Schiffskoch.
»Wer von Euch kann kochen?« fragte der Kapitän.
Na‚ welcher Matrose kann denn nicht kochen!
Aber keiner trat mutig aus den Reihen.
Es ist eben eine eigentümliche Sache mit der Kocherei an Bord. Umsonst ist doch nicht der Schiffskoch derjenige Unteroffizier, der die höchste Heuer bekommt, so viel wie der zweite Steuermann, also wie ein voller Offizier.
Aus was für Verlegenheiten muß sich so ein Schiffskoch manchmal zu helfen wissen! Was bekommt der manchmal für Proviant und Zutaten geliefert, von der Reederei, die nichts weiter in den Augen hat, als den Aktionären möglichst viel Dividende zahlen zu können. Salzfleisch und Speck, dem man erst die blaue Farbe und den Geruch nehmen muß, wofür jeder Schiffskoch sein eigenes Geheimnis hat. Erbsen, die man eine ganze Woche lang ununterbrochen kochen kann, und die doch nicht weich werden. Dazu ist doppelkohlensaures Natron da. Aber das ist schon in den ersten Tagen verbraucht. Also wird tüchtig mit Soda nachgeholfen; denn weich müssen die Erbsen werden, es geht um die Ehre des Kochs. Der Sodageschmack muß aber wieder weggeschafft werden. Undsoweiter, undsoweiter.
Allerdings gilt das nur für Segelschiffe, die lange Reisen machen. Bei der Übernahme des Proviantes muß er ja tadellos sein, aber die faule Sache ist die, daß es noch kein Gesetz gibt, welches bestimmt, daß auch das bisherige Alter des Proviantes angegeben werden muß. Man weiß, also nicht, wie lange sich das Fleisch, die Butter und alles andere halten wird.
Bei Dampfern ist das ja etwas ganz anderes. Die müssen aller 14 Tage einen Hafen anlaufen, wegen der Kohlen, und hat sich bis dahin schon eine Unreellität gezeigt, so wandert der schlechte Proviant über Bord, der Kapitän kauft neuen, dazu hat er das Recht. Oder ist er mit Aktienteilhaber und auch so ein Dividendenbruder, dann läuft ihm die Mannschaft davon und dieses Schiff bekommt so leicht keine andere!
Wir waren ganz ausgezeichnet verproviantiert.
Trotzdem meldete sich kein Matrose und kein Heizer, mochte er auch noch so gut kochen können.
Es ist und bleibt etwas Merkwürdiges bei der Schiffskocherei. Schon daß der Mann, der ja deshalb nicht gleich Unteroffizier wird, nur eine Zulage bekommt, von seinen bisherigen Kameraden nun fortwährend gehänselt wird. Nichts kann er recht machen, nur aus Scherz schikaniert man ihn in jeder Weise.
Ich kannte diese Verhältnisse — und kannte sie doch noch nicht so richtig.
Na‚ Georg, wenn sich niemand meldet — kannst Du denn nicht kochen?
Ich hatte allerdings noch nie gekocht.
Aber — bah! — was ist denn bei der ganzen Kocherei!
Ich hatte doch die Realschule absolviert, hatte ganz gute chemische Kenntnisse, auch in Bezug auf die Kocherei.
Und ich war doch überhaupt ein pfiffiger Junge.
Ich wußte, weshalb Soda, kohlensaures Natron, die Erbsen weich macht, weshalb es doppelkohlensaures Natron noch besser tut.
Ich wußte, daß man Fleisch, das man eben des Fleisches wegen verzehren will, gleich in kochendes Wasser bringt, weil da sofort das Eiweiß gerinnt, so eine undurchdringliche Kruste bildet, wodurch das innere Fleisch saftig bleibt, während man, wenn es sich um Fleischbrühe handelt, das Fleisch kalt ansetzt, es möglichst langsam erhitzt.
Ich wußte auch, worauf das Brotbacken beruht, weshalb durch Zusatz von Bierhefe der Teig aufgeht. Ich kannte auch die dazu nötige Temperatur. Und wenn ich einmal etwas nicht wußte, so brauchte ich ja nur in der Offiziersmesse in Meyers großem Konservationslexikon nachzuschlagen. Da stand alles, alles drin. Also konnte ich auch kochen und backen.
Denn einen anderen durfte ich deswegen nicht fragen, die hätten mir ja schöne Rezepte gegeben! Das wußte ich ebenfalls.
Kurz und gut, Rittersmann oder Knapp, Georg war es, der keck und verwegen aus den Reihen trat.
»Ick!«
Schön, das Heiligtum der Kombüse wurde mir überwiesen.
Es war in der achten Stunde, ich hatte gleich ans Mittagsessen zu gehen.
Den Küchenzettel macht der Kapitän selbst. Ist er faul, dann macht er ihn gleich für die ganze Reise, jeder Wochentag wiederholt sich immer wieder: sonst schreibt er ihn für jede Woche einzeln vor.
Wie dem auch sei — für heute lautete der Speisezettel, wobei man bedenken muß, daß man im Hafen doch frisches Fleisch mitnimmt, wenigstens für einige Tage.
Mannschaft: Rindfleisch mit Bouillonkartoffeln.
Unteroffiziere: Und Eierkuchen mit Preißelbeeren.
Offiziersmesse: Bouillonsuppe, Rinderbraten mit Salzkartoffeln, Eierkuchen mit Preißelbeeren.
Kajüte: Dasselbe. Dazu Schöpsenkeule gebraten. Und Mischgemüse und Stangenspargel.
Ich ging an die Arbeit. Mit dem Abschneiden des Fleisches von den großen Stücken hatte ich gar nichts zu tun, das hatte der Steward zu besorgen, es mir zu liefern.
Vorher bewies ich noch, daß ich Kaffee kochen konnte. Ein feiner Kaffee! Auch für die Mannschaft. Ich hatte nämlich dem Steward, als er einmal nicht hinsah, zwei Pfund extra gemaust.
Das Essen war tadellos! Ha, ich und nicht kochen können! Bei meiner Intelligenz! Es ist doch auch so einfach, ein paar Konservendosen aufzuknipsen und den Inhalt zu wärmen, für den Spargel Butter zu zerlassen und dergleichen, und nicht mehr Beschwerde hatte mir das Kochen und Braten des Fleisches gemacht.
Nur das Anrühren des Eierkuchenteiges hatte mir nicht recht gelingen wollen. Da waren Mehlklünkerchen und Mehlklumpen drin gewesen, die sich durchaus nicht herausquirlen lassen wollten, erst hatte ich sie alle einzeln zerdrücken wollen, erst mit einem Löffel, dann mit den Fingern, es schienen aber nur immer mehr zu werden, — 651 hieraus erkennt die kochkünstlerisch ausgebildete Leserin also ganz genau, daß ich nicht etwa nur ein Märchen erzähle — na, da goß ich das dünne Zeug ganz einfach durch ein Haarsieb und ließ die Klünkerchen und Klumpen über Bord verschwinden.
Dann aber sprachen mir die Offiziere auch ob der Eierkuchen ihre Bewunderung aus, wozu sie auch wirklich allen Grund hatten — nämlich weil ich statt der vorgeschriebenen Salzkochbutter zum Backen die feinste Kapitänskajütenspeisebutter verwendet hatte — das war mir doch ganz egal! — und ebenso hatte die Mannschaft noch nie solche Bouillonkartoffeln gehabt, nämlich weil ich aus der Proviantkammer außer des Kaffees auch noch eine Pfunddose Liebigs Fleischextrakt gemaust und sie zur Verbesserung der Fleischbrühe verwandt hatte.
Am nächsten Mittag gab es für die Mannschaft wiederum Rindfleisch — der mitgenommene halbe Ochse mußte unter diesen Breiten doch möglichst schnell aufgegessen werden — diesmal aber mit Reis.
Ich schicke voraus, daß der Koch alles, was er braucht, vom Steward in beliebiger Menge fordern kann. Nur das Fleisch und die Luxussachen wie Kaffee und dergleichen werden ihm zugewogen. Von den Hauptnahrungsmitteln, wie Kartoffeln, Hülsenfrüchten und Mehl, kann der Koch, wenn sie ihm nicht gleich offen stehen, vom Steward so viel fordern wie er will, der Steward hat es ihm einfach herauszugeben.
Wieviel ich für die 42 Mann Reis brauchte, das auszukalkulieren war jetzt also meine Sache. Da durfte ich — 652 auch niemanden fragen, sonst hätte ich mich doch blamiert.
Na‚ wieviel Reis brauchte ich wohl für die 42 Mann? Wieviel kann der einzelne Mann essen? Von Kartoffeln hatte ich gestern pro Kopf zwei Pfund genommen. Und da war gar nicht so viel übrig geblieben. Auf dem Schiffe wird ja tüchtig »geschafft«. Reis ist natürlich etwas ganz anderes als Kartoffel. Sagen wir also: pro Kopf ein und einviertel Pfund Reis. 42 mal 1,25 ist 52,50. Aber Kapitän und Offiziere essen weniger Reis, weil sie noch anderes bekommen. Also sagen wir rund 50 Pfund, einen halben Zentner.
Und ich gehe hin zum Steward und verlange einen halben Zentner Reis.
»Wozu?«
»Na wozu!« schnauze ich den dämlichen Kerl an. »Weil es heute Reis gibt! Oder 50 Pfund sind wohl für 42 Mann zu viel, was?! Ich soll die Leute wohl hungern lassen, wie?!«
Der Steward sagte nichts mehr.
Mißt mir dieses infame Biest von Steward in aller Seelenruhe 25 Liter Reis zu, zeigt mir auf der Wage, daß es sogar noch mehr als 50 Pfund sind. Grinst nicht einmal dabei!
Ich rücke mit meinem halben Zentner Reis ab, und wie es so weit ist, nehme ich einen Dreißiglitertopf, schütte den Reis hinein und fülle Wasser nach. Es stand noch eine gute Schicht Wasser darüber. Die See war glatt wie ein Spiegel, unser Dampfer gondelte wie auf einem Teiche. Daß der Reis etwas quoll, konnte ich mir denken, ich hatte doch die Realschule besucht und war überhaupt ein intelligenter Bursche. Deshalb eben ließ ich noch eine gute Wasserschicht darüber stehen, damit der Reis sich ausdehnen konnte.
Der Topf steht überm Feuer.
Und jetzt beginnt die Tragödie.
Ja, der Reis dehnt sich aus; denn das war kein Quellen mehr.
Ich fange an, mit dem großen Löffel zu schöpfen, fülle einen anderen Topf voll.
Und wie ich den dritten Topf voll Reis fülle, da bekomme ich es aber doch mit der Angst zu tun.
Je schneller ich schöpfe, desto schneller quillt das Teufelszeug in die Höhe.
Ich habe schon sämtliche Töpfe meiner Kombüse mit Reis angefüllt und sehe noch kein Ende dieser Quellerei.
Und, weiß der Teufel, ich habe auch gar keine Gelegenheit, den Reis über Bord zu schütten! Gerade haben die Matrosen auf beiden Seiten meiner Kombüse an Deck zu tun. Nicht etwa, daß sie mir in die Kombüse geguckt hätten. So etwas gibt's ja an Bord nicht! Aber — ich hatte eben keine Gelegenheit, den Reis über Bord verschwinden zu lassen; denn gesehen durfte das nicht werden.
Und in dem Kochtopf überm Feuer mehrt sich's und mehrt sich's!
»Und will sich nimmer erschöpfen und leeren, als wollte das Meer noch ein Meer gebären.«
Denn ich mußte doch auch immer noch Wasser nachgießen! Dabei aber mußte ich mich aber beeilen, um nur gleich wieder zu schöpfen, schöpfen, schöpfen!
Ich schwitzte Todesangst. Jetzt war auch schon der Backtrog mit Reis angefüllt. Die Aufwaschbalje schon längst. Und ich brauchte doch noch andere Töpfe für die sonstige Kocherei.
»Doch endlich, da legt sich die wilde Gewalt —«
Der Reis quoll nicht mehr. Ich will hierbei bemerken, falls ein Leser die Sache noch nicht kennt, daß der Soldat im Manöver, wenn er selbst abkocht, eine kleine Kaffeetasse voll Reis zugemessen bekommt, das gibt eine gar ansehnliche Portion, so ein Manöversoldat hat doch Hunger! Und ich hier mit meinem halben Zentner, pro, Kopf mehr als einen halben Liter!
Ja, nun hatte ich aber keine Töpfe mehr. Und noch immer keine Gelegenheit, den Reis über Bord zu schütten. Doch ich mußte mir zu helfen, und das ist immer die Hauptsache.
Ich hatte meine langen Seestiefeln an, die zog ich aus, füllte sie bis an den Rand mit dem Luderzeug, setzte sie in den Verschlag. So, nun hatte ich die nötigen zwei Töpfe frei. Solche Seestiefeln fassen doch etwas.
Das Mittagsessen ging gut vorüber. Nur meine Angst und Sorge nicht. Ich mußte mich doch des überflüssigen Reises entledigen, und jetzt stand gerade der Käpten auf der Brücke. Ach, was mir die vielen Reistöpfe, die ich natürlich versteckt hielt, für Sorge machten.
Da kam ein Matrose, wie es so manchmal geschieht, mit seiner Kumme an, seinem Eßnapf.
»Du, Georg, häst nich noch en bäten Reis?«
Ja, konnte er kriegen.
Da kam ein zweiter Matrose an.
»Du, Georg, häst nich noch en bäten Reis for mi?«
Mir wollte eine kleine Ahnung aufgehen — aber ich ließ sie nicht aufkommen. Der Kerl war ja auch ganz ernst. Ja, er konnte noch Reis bekommen, es war noch etwas vorhanden.
Und kaum ist der Matrose fort, da sehe ich einen Schiffsjungen angewatschelt kommen, trägt vor sich am Bauche eine mächtige Waschbalje, so eine kleine Badewanne.
Das heißt — jetzt blieb es aber nicht nur bei der Ahnung — ich spuckte schon in die Hand.
So kam der Junge heran. Es war ein Binnenländer.
»Sie möchten doch so freundlich sein,« begann er in seiner höflichen Weise, freilich etwas ängstlich, »und den Matrosen noch diese Balje voll Reis füll—«
Quatsch hatte der liebenswürdige Jüngling eine von mir drin!
Will mich der verfluchte Bengel veralbern!
Der arme Junge!
Der konnte doch gar nichts dafür, der war doch geschickt worden, mußte ja gehorchen.
So ist es aber nun einmal in der Welt. Gewöhnlich muß es ein Unschuldiger ausbaden.
Und wir sind alle einmal Schiffsjunge gewesen.
Dann wurde ich meine Sintflut von Reis in anständiger Weise los.
Das war die schwierigste Situation in meiner vierzehn.tägigen Kombüsenkunst gewesen. Wie ich in einem DreiBigliterkessel 25 Liter Reis kochen wollte!
Ich richtete mich immer mehr ein. Nur die Erbsen habe ich noch einmal angebrannt, was aber jedem Koche passieren kann, zumal wenn man die Töpfe nur ein Viertel voll füllen darf, mit ihnen herumbalancieren muß, weil das Schiff wie ein toller Ziegenbock tanzt.
Bei dieser Gelegenheit machte ich noch einen guten Witz, wenigstens einen für ein Schiff, der auch vom Kapitän stark belacht wurde.
Also ich hatte die Erbsen anbrennen lassen. Nicht sehr, aber es war doch zu schmecken. Nun ging ich aber gerade einmal ins Mannschaftslogis. Da gab es bei mir keine Feigheit.
»Na‚ Jungens, schmecken die Erbsen?«
Natürlich schmeckten sie nicht. Aber mir zu sagen, daß sie angebrannt wären, das tat keiner, dazu waren diese Matrosen zu anständig, weil es eben jedem passieren kann, daß er die Erbsen einmal anbrennt.
Anderes freilich bekam ich genug zu hören. Denn daß sie mit dem Essen zufrieden sind, das ist unmöglich, gerade wenn's ein Kamerad bereitet hat, der sich als Koch hervorgedrängt hat. Sie schimpften auf etwas, was gar nicht vorhanden war.
»Die Suppe ist ja viel zu heiß! Wie kannst Du uns nur so eine glühende Suppe schicken, Georg!«
»Und so versalzen! Total versalzen!«
Aber es waren auch einige darunter, die mich lobten, ausnahmsweise — eben gerade deshalb, weil die Suppe angebrannt war.
»Nee, die Erbsensuppe schmeckt ganz gut.«
In diesem Augenblick, wie ich dieses dreierlei Urteil hörte, bekam ich eine Idee.
Schnell ergriff ich eine Pütze, einen Holzeimer, füllte ihn an der Frischwasserpumpe, war sofort wieder zurück, goß die ganze Pütze in die mächtige Schüssel hinein.
»So, Jungens. Wem die Suppe vorhin zu heiß gewesen ist, dem ist sie nun nicht mehr zu heiß; wem sie zu salzig gewesen ist, dem ist sie nun nicht mehr zu salzig; und wem dieser angebrannte Fraß vorhin geschmeckt hat, der wird auch jetzt nichts daran auszusetzen haben.«
Da hatte ich die Lacher auf meiner Seite.
In Suez bekamen wir einen zünftigen Schiffskoch an Bord.
In der sechsten Nacht, in der wir auf der Sandbank lagen, gleich nach Sonnenuntergang hörten wir ein merkwürdiges Geräusch, ein Klappern und Rasseln, das sich immer mehr verstärkte, ganz unheimlich wurde.
»Die Arraus kommen, um ihre Eier zu legen!« erklärte Sennor Esstrada sofort. »Da sehen Sie auch, daß wir in 40 oder ganz genau in 41 Tagen wieder Hochwasser haben werden.«
Wir hatten uns über diese Schildkrötenart, die im Amazonenstrome und seinen Nebenflüssen, die zahlreichste und für den Menschen wichtigste ist, in Büchern schon zur Genüge orientiert, zumal in Alfred Brehms unvergleichlichem »Tierleben«, diesem erhabenen Denkmal in der zoologischen Literatur, welches alle anderen Nationen viel mehr anstaunen als die deutsche.
Die Arrau, die wir in einzelnen Exemplaren schon oft genug gesehen und gefangen und verzehrt hatten, hat im ausgewachsenen Zustande eine Panzerlänge von 50 Zentimeter bei einem Gewicht von 50 Pfund, wobei aber zu bedenken ist, daß Schildkröten sehr alt werden, also auch sehr langsam wachsen. Immerhin, wir hatten solche große Tiere schon oft genug gesehen.
Sonst einzeln lebend, vereinigen sie sich zum Eierlegen zu massenhaften Scharen. Wann dies geschieht, ist nach der Gegend ganz verschieden, hängt mit der Regenzeit zusammen, die aber eben in dem ungeheuren Amazonasgebiete, wozu noch das des Orinokos kommt, ganz verschieden ist. Jedoch wird der Termin in jeder einzelnen Gegend ganz genau eingehalten, eben wieder wegen der Regelmäßigkeit der Regenzeit. In Essequibo am unteren Orinoko legen sie ihre Eier in der Nacht vom 28. zum 29. Januar, am oberen Orinoko am 28. März, in den Gegenden des Amazonenstromes fallen die Legezeiten in die Monate Oktober und November.
Wir befanden uns in der Mitte, daher fingen sie hier im Juni an. Dabei werden immer wieder dieselben Sandbänke oder Sandinseln aufgesucht.
Nun allerdings kann sich die Regenzeit oder das Kommen des Hochwassers verschieben, sich auf viele Tage verzögern.
Das kann der Mensch vorher nicht wissen. Aber die Arrauschildkröte irrt sich niemals. Vierzig Tage nachdem Eierlegen setzt ganz bestimmt die Regenzeit ein!
Woher sie das so ganz genau berechnen kann? Das wissen wir nicht. Wir sprechen etwas von einem »Instinkt«, ohne zu wissen, was Instinkt ist.
Es ist die Sorge um ihre Brut, welche die Mutter genau instruiert, wann sie die Eier abzusetzen hat, auf daß so wenig als möglich vernichtet werden, anderen Tieren zur Beute fallen.
Dieaes mächtige Tier, wenn auch nicht gerade eine Riesenschildkröte, hat außer den Menschen wenig Feinde zu fürchten. Ab und zu wendet einmal ein Jaguar eine um, reißt ihr durch Tatzenschläge das untere Schild ab, frißt sie. Das muß aber ein sehr starker Jaguar sein, und der findet in diesen Wäldern andere Beute genug, als daß er sich öfters solche Arbeit macht.
Anders ist, wenn nach genau 40 Tagen — alle Vögel haben doch auch so eine regelmäßige Ausbrütezeit — aus dem heißen Sande die kleinen Schildkrötchen hervorkriechen, der zukünftige Panzer nur erst aus einer gallertartigen Masse besteht. Auch die anderen Tiere kennen diesen Termin genau, sie lauern schon einige Tage — 660 vorher auf diesen Leckerbissen, alle Raubtiere der weitesten Umgebung versammeln sich an der Brutstelle, Tausende von Wasserschweinen, und nun gar die zahllosen Vögel, und alle wollen sich mästen.
Es sind Millionen und aber Millionen von kleinen Schildkrötchen, die innerhalb von etwa sechs Stunden gleichzeitig ausschlüpfen, sie würden dennoch sämtlich vertilgt werden, wenn nicht während dieser Zeit das Hochwasser käme, das sie schützend aufnimmt.
Es ist wunderbar! Unerklärlich! Da kann eben der Mensch nur staunen.
Allerdings wenden sich die kleinen Tierchen ja sofort dem Wasser zu. Aber bei Trockenheit ist der Weg doch manchmal weit. Nur durch die Hochflut entgehen die meisten dem Tode.
Und wie sich die ausgeschlüpften Schildkrötchen sofort dem Wasser zuwenden, das ist überhaupt auch so eine ganz rätselhafte Sache!
Wir haben mehrmals das Experiment wiederholt, das Humboldt und Schomburgk gemacht haben.
Als es bald zum Auskriechen war, nahmen wir Eier und vergraben sie anderswo. Nach der einen Seite war es 28 Meter vom Wasser entfernt, nach der anderen 33 Meter, also nur 5 Meter Unterschied, und der Wind kam von der weiteren Strecke her. Außerdem war es so eingerichtet, daß die kürzere Strecke nach der anderen Richtung lag, als die der Haupttrupp auf dem großen Brutplatze nehmen mußte, so daß also kein suggestiver Muttergedanke in Betracht kommen konnte.
Als nun die Tierchen auskrochen, eilten sie sofort auf der kürzeren Strecke nach dem Wasser!
Wer sagte ihnen denn, daß es dort nur 28 Meter weit war? Wittern konnten sie das nicht. Dort strich der Wind hin! Da hätten sie viel eher das Wasser aus 33 Meter Entfernung wittern müssen.
Nun ging der Haupttrupp aber nach Westen diese Tierchen hier gerade entgegengesetzt nach Osten!
Man soll doch ja nicht von »Instinkt« sprechen! Hier liegt etwas vor, was der Mensch mit aller philosophischen Spekulation nicht enträtseln kann und niemals enträtseln wird!
Das Gelb der Eier, über die ich nachher noch sprechen werde, besteht der Hauptsache nach aus einem Öl, das einen wichtigen Handelsartikel bildet. Nach der Menge Öl, die ein Brutplatz ergibt, kann man nun berechnen, wieviel Schildkröten auf solch einer Sandbank in einer einzigen Nacht zusammenkommen, wobei man freilich auch wissen muß, wieviel Eier die Arrau legt.
Im Durchschnitt 100 Stück. Junge Tiere 50, ältere bis 150. Noch genauer hat es Schomburgk durch zahllose Untersuchungen berechnet. Im Durchschnitt 116 Stück.
Die Berechnungen der ganzen Eiermenge nach dem gelieferten Öle sind während vieler Jahre an drei verschiedenen Brutplätzen vorgenommen worden, auf den drei Inseln Cucurapuru, Uruanu und Pararuma.
Wir nehmen die Insel Uruanu am Orinoko heraus als diejenige, welche das wenigste Öl liefert.
Diese Insel ergibt im jährlichen Durchschnitt rund tausend Krüge Öl. In der sandigen Umgegend, also nur Uferstrecken, werden weitere 4000 Krüge zusammengebracht. 200 Eier geben eine Weinflasche voll Öl, auf einen Krug gehen 25 gewöhnliche Weinflaschen. Also kommen auch wieder 5000 Eier heraus, die zu einem Kruge, wie er im Handel üblich ist, nötig sind. Also müssen dort 250 000 Schildkröten zusammenkommen, keine unter 35 Zentimeter groß, in einer einzigen Nacht! Denn mit Sonnenaufgang ist keine mehr zu sehen.
Diese Art von Berechnung ergibt aber ein Resultat, das noch weit, weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibt! Vor allen Dingen kommen die »närrischen« Schildkröten in Betracht, die noch jungen, unerfahrenen Mütter, welche zuletzt drankommen und sich dann so ungeschickt benehmen, es besonders mit dem Eierlegen dann so eilig haben, weil sie sich durchaus nicht vom Tage überraschen lassen wollen, daß sie mindestens ein Drittel der in den schon vorhandenen Löchern befindlichen Eier, auf diese ihre Schicht legend, zerbrechen, dann auch noch beim Wiederzuscharren der Löcher, was diesen »närrisf Arraus überlassen bleibt; während das kunstvolle Aufgraben die alten Mütter besorgen.
Und was nun während dieser Zeit von den herbeigeströmten Indianern an Eiern verzehrt wird! Und wie die während des Ölauskochens mit den Eiern verfahren, was da noch nutzlos zerbrochen wird!
Schomburgk schätzt wohl richtiger die Zahl der Arraus, die bei Uruanu jährlich zum Eierlegen zusammenkommen, in einer einzigen Nacht auf mindestens 430 000 Stück.
Dabei sind die Brutplätze gar nicht so groß. Zu 100 Krügen Öl gehören in normaler Weise eine Ausbeute von 400 Quadratmetern. Die müssen also 500 000 nein, mindestens 800 000 Eier enthalten, wozu also 8000 Schildkröten nötig sind. Die quetschen sich also auf diesem Raume zusammen. Das heißt, die kommen innerhalb der 12 Nachtstunden hier angerückt. Da müssen aber doch nun erst die tiefen Löcher gegraben und dann auch wieder zugescharrt werden! Von dieser Wimmelei kann man sich gar keine Vorstellung machen. Da hüten sich auch die Jaguare, wie die Menschen. Wer unter dieses Gewimmel kommt, der wird selbst in dem weichen Sande zermalmt oder einfach erstickt.
Die Löcher haben oben einen Durchmesser von einem Meter und sind, von der ursprünglichen Oberfläche der Sandbank an gerechnet, 60 Zentimeter tief. Mehrere Schildkröten graben zusammen ein Loch, mit den Hinterfüßen schaufelnd, sich dabei immer im Kreise drehend, und dabei benetzen sie den Sand mit ihrem klebrigen Harn, wodurch es kommt, daß die Löcher auch unten breiter sind, als es sonst das Gefälle des trockenen oder etwas feuchten Sandes erlaubt. Die Eier werden mit den Hinterfüßen abgestrichen und ein Ei neben das andere geordnet. Durch das Zuscharren muß sich ja die ganze Stelle erhöhen, so daß jetzt die unterste Schicht einen Meter unter der Oberfläche liegt.
Dann ist die ganze Sandbank wieder völlig glatt. Weshalb die Tiere der Nachbarschaft, die das Eierlegen beobachtet haben, die Eier nicht ausgraben, um sie zu fressen, das ist wiederum so ein unergründliches Rätsel in der Natur. Diese Eier der Arrau schmecken köstlicher als Kibitzeier. Für den Menschen. Für die Raubtiere wohl nicht. Aber warum nicht? Die fressen doch sonst alles, was nur zu fressen ist. Und nun gar die Wasserschweine! Nein, sie gehen nicht an diese Eier, sonst würden die ja auch alles, alles vernichten! Erst wenn die Brut auskriecht, dann geht die allgemeine Jagd lustig los. Daß die »närrischen« Schildkröten in ihrer Unerfahrenheit so viel Eier zerbrechen, das dürfte wohl auch von der Schöpfungskraft Berechnung sein, die Suppe, die von oben nach unten dringt, ist zum Gedeihen der unversehrten Eier eben nötig.
Unser Prospektador war in dieser Gegend wie zu Hause, aber daß die Arraus hier ihre Eier ablegten, das hatte er noch nicht gewußt!
Denn daß die Schildkröten nur zufällig dieses Jahr einmal hierher kamen, das war ausgeschlossen. Sie halten immer dieselben Brutplätze ein und werden es so lange tun, so lange es noch eine Arrau gibt. Wo sie geboren worden ist, dahin kehrt auch die Arrau zum Brutgeschäft zurück, und ist das aus irgend einem Grunde nicht mehr möglich, so geht sie eben selbst zugrunde.
Nun, der Spanier kannte eben nur die fahrbaren Wasserstraßen, die Chinakulturen und dergleichen Hauptplätze, die ihn interessierten, sonst auch weiter nichts. Das war aber hieraus nun auch gleich zu bestimmen, daß es hier in der Umgebung gar keine Indianerstämme gab oder daß diese ebenfalls nichts von diesem Brutplatz wußten, sonst wären die schon hier gewesen und hätten auf die Schildkröten gelauert.
Also es klapperte und rasselte und krachte, und der Spanier hatte uns die Erklärung gegeben.
»Können wir die Tiere in der Nähe beobachten?« war unsere erste Frage.
»Gewiß. Die lassen sich durch nichts verscheuchen oder beirren. Sie können sie beleuchten. Nur die Sonne darf sie nicht überraschen.«
Die erste Sichel des Mondes und die Sterne verbreiteten doch nur ein schwaches Licht, wir nahmen Lampen mit, auch den elektrischen Scheinwerfer durften wir einstellen und taten es.
Die Strecke, auf welcher sich die Arraus beim Eierlegen vom Ufer entfernen, beträgt immer 40 Meter. Also diese ganze Strecke vom Wasserrande an wird in Angriff genommen.
Oben am Oberlause des Madeira, der noch in Bolivia entspringt oder oben am Orinoko, es sind immer 40 Meter, die sich die Arraus vom Wasser entfernen. Weiter gehen sie nicht. Als hätten sie ein Meßand bei sich. Wenn man auch nicht gerade mit einem halben Meter rechnen darf.
Wir sahen die Schildkröten schaufeln und Eier legen, wie ich es schon beschrieben habe; wenigstens bei den äußersten konnten wir es beobachten. Aber auch die wurden schon fortwährend verdrängt, richtig zu beobachten war nichts. Und alles andere nun vollends ein unentwirrbares Gewimmel. So war es auf unserer Sandbank, so war es allüberall auf den anderen sandigen Uferstrecken, so weit der Blendstrahl reichte, so weit wir die Ufer abschreiten konnten. Das Wasser zu gewinnen, um es etwa mit dem Boote zu befahren, das war jetzt rein unmöglich. Über die Panzer wegzuschreiten, das war leichter gesagt, als getan. Wer unter diese Tiere, von denen gar viele einen halben Zentner wogen, geriet, der war einfach verloren.
Wir sahen die ganze Nacht zu. Deutlicher konnten wir beobachten, wie kurz vor Tagesanbruch die »närrischen« Arraus als die letzten, kleinere Exemplare, eben jüngere Schildkröten, auch ihre Eier ablegten, mit ungemeiner Hast die unteren Eierschichten und ihre eigenen zerbrechend, und dann die Löcher zuschaufelnd, diesmal mit den Vorderpfoten, wobei sie sich nun wieder ungemein geschickt benahmen. Sie harkten und harkten, bis der aufgewühlte Sand wieder völlig eben war, als wenn soeben erst das Wasser abgelaufen wäre.
Als die Sonne aufging, war auch die letzte wieder in den trüben Fluten verschwunden.
Wir Menschen bewiesen uns als die größten Raubtiere dieser Erde, indem wir uns sofort über die Eier hermachten, sie wieder ausgruben. Na‚ wir wollten sie doch wenigstens kosten. Und da muß man sich beeilen; denn schon am dritten Tage ist es vorbei, da hat sich der Embryo bereits zu entwickeln begonnen.
Die kugelrunden Eier sind kleiner, als man sie so einem großen Reptil zutraut, nur etwas größer als Taubeneier. Das Eiweiß ist grünlich, das Dotter orangegelb. Sie schmecken ungekocht wie gekocht ganz vorzüglich, deliziös. Übrigens bringt das Kochen keinen Unterschied hervor. Beide Dotter bleiben flüssig. Sie gerinnen erst bei höheren Temperaturen, wie beim Braten in Butter, und dann will es nicht mehr so gut schmecken. Trotzdem werden die Eier allgemein gekocht, nämlich um sie länger aufbewahren zu können, weil dadurch natürlich die Lebenskraft getötet wird.
Mit diesen gekochten, aber auch mit den rohen ArrauEiern spielen die Kinder in Brasilien allgemein Ball. Es sind richtige Gummibälle. Wenn man sie auf die Erde haut, springen sie hoch empor. Es ist eine Kalkschale, aber eine ganz andere als bei Vogeleiern, äußerst elastisch.
Nun aber zerbrechen die letzten Schildkröten doch so viel Eier. Wie kommt das bei solcher Härte und Elastizität? Nun, zuerst sind die Schalen eben viel weicher, sie erhärten erst mit der Zeit, oder aber, glaube ich, eben die Suppe der zerbrochenen Eier ist nötig, den anderen diese Härte zu geben, da kommt eine neue chemische Verbindung zustande.
Daß man diese Eier als Gummibälle benutzen kann, das hat freilich eine Zeitgrenze. Bald springen sie beim Aufschlagen, und dann verbreiten sie regelmäßig einen fürchterlichen Gestank, der Geruch eines faulen Hühnereies ist dagegen noch Odeur zu nennen, wie wir zu unserem Leidwesen —— oder aber Belustigung — noch oft genug erfuhren.
Nun bereiteten wir uns aber auch Schildkrötenöl, dem besten Olivenöl gleichkommend, nur zu eigenem Bedarf, ein Geschäft ließ sich daraus nicht machen, denn für den ganzen Krug allerbesten Öls, zwischen das keine verdorbenen Eier gekommen sind, werden von den Händlern nur zehn Franken gezahlt — hierbei wird wieder einmal nach französischem Gelde gerechnet — wozu also ungefähr 5000 Eier nötig sind. Nein, da konnten wir bei unseren Arbeitslöhnen nicht auf die Kosten kommen. Gemacht wurde es natürlich dennoch, eben für den eigenen Verbrauch. Wir machten es so, wie es in den Büchern geschildert wird, welche Fabrikationsmethode von Sennor Estrada auch bestätigt wurde.
Eine höchst einfache Manipulation. Die ausgegrabenen Eier wurden in irgendwelche Bottiche geworfen, die Eingeborenen nehmen dazu gleich ihre Boote, und mit Keulen zerstampft. Es schadet nichts, wenn auch Sand dazwischen kommt. Nur vor faulen Eiern muß man sich hüten, die es jetzt ja aber noch gar nicht geben konnte. Das Öl, aus dem also fast das ganze Eigelb besteht, sammelt sich oben, wird abgeschöpft und in eisernen oder tönernen Gefäßen gekocht. Je länger man es kocht, desto haltbarer wird es, doch hat ein längeres Kochen als sechs Stunden keinen Zweck mehr. Dann ist es fast wasserklar, nur mit dem Anfluge eines gelben Scheines, der von dem eigentlichen Dotter kommt, vollkommen geruchlos und von einem höchst angenehmen Geschmack. Besonders zum Braten ist es vorzüglich geeignet, kann da wie Butter verwendet werden, während Olivenöl da doch nicht etwa ein Ersatz ist.
Da wir hier nun einmal von Öl und Butterersatz sprechen, will ich gleich ein chinesisches Rezept angeben, wie man sich auf eine höchst merkwürdige Weise ein vortreffliches Salatöl bereiten kann, das beste Olivenöl an Wohlgeschmack übertreffend. Unser chinesischer Schiffskoch hat es uns später noch oft genug vorgemacht. Manche Hausfrau dürfte mir dafür dankbar sein, aber auch der Chemiker sollte das Experiment einmal nachprüfen, denn es ist ein chemisches Rätsel dabei.
Man schmilzt über hellem Feuer Gänsefett und gießt unter ständigem Umrühren eine gleiche Menge gewöhnliche, frische Kuhmilch hinzu. Auf zwei Pfund Fett ein Liter Milch. Dieses trübe Gemisch läßt man mehrmals aufwallen, es immer einmal vom Feuer nehmend. Plötzlich, nach dem vierten bis sechsten Aufwallen, verwandelt sich die trübe Emulsion von Fett und Wasser, wird klar wie gelber Wein. Nun auf weiße Flaschen abziehen und diese einige Tage der Sonne aussetzen. Je länger dies geschieht, desto haltbarer wird das Öl. Es muß überhaupt immer wieder einmal den Sonnenstrahlen ausgesetzt werden, dann scheint die Haltbarkeit unbegrenzt zu sein. Zum Braten ist es weniger geeignet, gibt aber das feinste, wohlschmeckendste Salatöl.
Wie kommt es, daß die trübe Emulsion plötzlich weinklar wird? Daß sich das Fett mit dem Wasser der Milch verbindet? Daß sich die Milchsäure nicht mehr bemerkbar macht? Daß sich die Eiweißstoffe der Milch nicht mehr zersetzen? Daß die Haltbarkeit gerade durch die Sonnenstrahlen befördert wird, die doch sonst die Zersetzung der Milch und das Ranzigwerden des Fettes erst einleiten? Hier ist eben eine neue chemische Verbindung entstanden, mit der sich unsere Chemiker wohl noch gar nicht beschäftigt haben.
»Würden Sie‚« fragte Sennor Estrada gleich am ersten Tage dieser Eierausbeute, »den Cascarillos nicht einige Tausend Eier hinbringen? Sie können Ihnen ein höchst angenehmes Gegengeschenk machen.«
Gut, auch ohne Hoffnung auf dieses Gegengeschenk waren wir gern bereit, den Wunsch zu erfüllen. Der Prospektador erklärte weiter, daß die Chinakultur nur zwei Stunden Bootsfahrt entfernt sei, was aber in diesem Wald— und Wasserlabyrinth eine entlegene Welt zu bedeuten habe, nur durch einen wundersamen Zufall könnten sich die beiden Parteien finden, und er möchte nicht, daß die Rindenschäler von ihrer Arbeit abgehalten würden, übrigens sollte diese Brutstelle unser Geheimnis bleiben.
»Unser Geheimnis?« wiederholte Kapitän Martin. »Wir sind doch später gar nicht imstande, diese Brutstelle wieder aufzufinden, wenn Sie uns erst wieder hinausgebracht und dann verlassen haben.«
»Doch, ich werde Ihnen auf der Rückfahrt die Mittel angeben, wie Sie den Weg immer wieder zurückfinden können, dann erst werden Sie auch begreifen, weshalb ich Ihnen nicht schon auf der Herfahrt diese Merkzeichen angeben konnte. Erst auf der Rückfahrt ist es möglich.«
»Ach, das wäre ja herrlich, wenn wir ab und zu wieder herkommen könnten!« jubelte die Patronin sofort, und so dachten auch wir.
Ja, wir hatten diese Sandbank im Urwald bereits über alles lieb gewonnen, und es ist doch auch so schön, in der Welt hier und da ein Plätzchen zu kennen, »von dem sonst niemand nichts weiß«. Gerade durch diese Heimlichkeit ist es ja so schön.
Zuerst gingen wir sofort an die Eierkocherei für die Rindensammler, gegen 200 Mann, die dann ja auch eine gute Portion Eier verzehren konnten.
Als Kochgefäß benützten wir gleich den Kessel des Donkeys, der etwas über einen Kubikmeter Wasser faßte, und so konnten wir uns leicht berechnen, daß dann ungefähr 30 000 solche taubeneigroße Eier hineingingen.
Das war ja eine tüchtige Arbeit, die auszugraben, herbeizubringen und aufzuschlichten, aber es waren eben wiederum 70 Paar Hände, die von einem Kopfe gelenkt wurden. Schon nach wenigen Stunden konnte der Kubikmeter Eier mit kaltem Wasser gekühlt und nach dem großen Kutter geschafft werden, der unterdessen schon zu Wasser gebracht worden war.
Ehe ich die Expedition schildere, will ich etwas über den Urwald sagen. Das ist freilich eine sehr schwierige Sache. Gewisse Schriftsteller, besonders solche, die Jugenderzählungen schreiben, machen es sehr klug, wenn sie immer einfach nur vom »Urwald« sprechen, dann haben sie es auch sehr leicht, einige nähere Schilderungen zu geben, wenn sie noch gar keinen gesehen haben, so daß ihre Phantasie durch keinerlei Sachkenntnis getrübt wird.
An unsere Sandbank grenzte diejenige Art des Urwaldes, die von den Brasilianern Igapo genannt wird. Diese Art Urwald, hauptsächlich aus riesigen Wollbäumen gebildet, wird dadurch bedingt, daß der Boden selbst bei mäßigem Wasserstande unter Wasser steht, nur bei tiefstem Wasserstande wie jetzt trockenen Fußes begangen werden kann.
Schön war es in diesem Igapo nicht etwa. Duster, ganz duster! Nicht der feinste Sonnenstrahl konnte durch das dichte Laubdach dringen, das sich in einer Höhe von vierzig bis sechzig Metern über den Hinaufblickenden wölbt. Das Wasser hatte sich sofort verlaufen, kein Pfütz.chen stand mehr, aber vollkommen austrocknen würde der modrige Humusboden nie. Und nun dieses Gewirr von riesigen Wurzeln! Von einem »Begehen« darf man da überhaupt nicht sprechen. Ein ununterbrochenes Klettern, eine halsbrecherische Gebirgspartie. Wenn sich dann auch wieder Wurzeln wölben, daß man unter ihnen durchreiten kann, wenn es auch freie Bodenstrecken gibt. Wegen dieser Wurzeln kann man auch beim höchsten Wasserstande nur mit einem ganz flachen Boote eindringen, sonst bleibt man überall hängen, klemmt sich fest, daß man gar nicht freikommt.
Und an den dicken Riesenstämmen nun, die sich schnurgerade emporrecken, armstarke und noch stärkere Adern und Sehnen, die sich spiralförmig hinaufwinden. Das sind die »Stengel« der Schlingpflanzen. Sie gleichen umsomehr Adern und Sehnen eines Körpers, weil sie mit dem Hauptstamme des Wollbaumes, an dem sie schmarotzen, wirklich durch Wurzelfäserchen verwachsen sind, obgleich sie ihre Hauptnahrung aus dem Erdboden holen. Auch drücken sie sich im Laufe der Zeit in den Stamm ein.
Dort oben nun, in der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, entwickelt sich erst die wahre farbenreiche Pracht des Urwaldes und sein Leben. Hier im Scheine der Sonne entfalten die Schlingpflanzen ihre wunderbaren, riesigen Blüten, bringen Früchte hervor, hier oben hausen die Affen und zahllose Vogelarten, hauptsächlich aber doch Papageien, hier stellt ihnen der Jaguar nach, desgleichen die Baumschlange. Alle diese Tiere leben hier in einer luftigen Welt für sich, kommen nie auf den Boden.
Wir waren oben. Hatten einen günstigen Baum am Rande mit eisernen Steigeisen in eine leicht erklimmbare Leiter verwandelt. Hat man sich oben erst einmal durchgeschnitten, so ist ein unvorsichtiges Herunterfallen gar nicht mehr möglich. Entweder man steht auf Ästen und Zweigen oder auf einem unentwirrbaren Geflecht von Schlingpflanzen. Man merkt überhaupt gar nicht, daß man sich vierzig Meter hoch über dem Erdboden befindet. Ja, hier oben ist selbst schon wieder Erdboden. Hier hat sich auch schon wieder Humus gebildet, in dem Büsche und kleinere Bäume gedeihen.
Hier oben hausen bei den Überflutungen auch die Indianer, bauen sich ihre Hütten und braten erlegte Affen und Vögel. Trinkwasser liefert ihnen eine massenhaft vorkommende Pflanze, ein Mittelding zwischen Agave und Kaktus, deren große Früchte und vielleicht noch mehr fleischigen Blätter so saftreich sind, daß beim Anschneiden eine förmliche Quelle hervorsprudelt. Es gibt aber auch Indianerstämme, die überhaupt nie auf den richtigen Erdboden kommen. Die müssen allerdings auf anderes Wild verzichten. Hirsche und Schweine und dergleichen können da natürlich nicht hinaufkommen, nur Klettertiere.
Der Boden steigt von den Flüssen aus naturgemäß an, den Übergang bildet die Region des Kautschukbaumes, verschiedener Palmenarten und des Bambus, hier ist der Wald passierbar, hier hausen in zahllosen Scharen verschiedene Hirscharten, Tapire, Akutis, Wickelbär und Ameisenfresser und andere, und dann, wo auch das höchste Hochwasser nicht mehr hinkommt, beginnt die Hyläa, wie der Brasilianer diese Art des Urwaldes nennt. Wieder sind es meist Palmen, aber keine Kokos, Dattelnund Ölpalmen, wenn sie auch meist eßare Früchte tragen, und dann hauptsächlich auch die Castanheira, welche in kolossaler Menge die Paranuß liefert, bei uns auch Wasser— oder amerikanische Wallnuß genannt, von der bei uns auf dem Markte das Pfund 80 Pfennige kostet, in Para noch nicht zwei Pfennige, und in Manaos gar bekommt man sie geschenkt. Gott weiß, wieviel Zwischenhändler da sich erst die Finger versilbern, ehe die Paranüsse zu uns kommen. Freilich ist bei uns auch keine Nachfrage vorhanden, das ist es eben.
In die Hyläa kann man nicht eindringen. Hier geht das Gewirr von dünneren Schlingpflanzen bis zum Boden herab, dazwischen Wälle von übermanneshohem Schwertgras, die einzelnen Blätter wirklich wie Schwerter zu gebrauchen, man kann sich daran den ganzen Leib in zwei Teile halbieren, und dann Dornen von Armeslänge, spitz wie die Wespenstacheln, und mikroskopisch kleine wie die Bienenstacheln, die wird man gar nicht wieder los.
Na ja, eindringen kann man. Wir dringen doch auch in den Felsen ein. Mit dem schweren Saumesser und einer besonderen Sense, die auch dünnere Baumstämme durchhaut, kommt man in der Stunde zwei Meter vorwärts. Dringt man auf diese Weise tiefer ein, braucht man Tage dazu, so muß man sich aber auch wieder zurückhauen, so schnell verfilzt sich das Zeug wieder! Und dann die infamen Stacheln!
Wo der Boden noch höher ansteigt und sich nicht für Bäume eignet, ist die Region der Campos. Die entspricht den Prärien oder Savannen, sehr hohes Gras, das aber passierbar ist, sich nur in der größten Trockenheit niederlegt. Doch haben auch diese Campos immer ihre Waldinseln, Catingas genannt, wenn man eindringen kann, Capoes, wenn sie wie die Hyläa unpassierbar sind. Diese Campos nun sind die eigentlichen Tummelplätze alle der brasilianischen Wildarten.
Doch können diese drei oder sogar vier verschiedenen Regionen — es kommt ja noch die des Kautschukbaumes hinzu — natürlich nach und nach ineinander übergehen, können dicht nebeneinander bestehen. Unsere Sandbank hatte in dieser Hinsicht eine überaus glückliche Zeit. Uns freilich in den ersten Tagen ganz unbekannt.
Unsere Sandbank wurde also direkt vom Igapo begrenzt, in dem auch bei Tage so gut wie Nacht geherrscht hätte, wenn nicht gleich überall aus dem modrigen Boden ungeheure Pilze emporgeschossen wären, die sämtlich stark phosphoreszierten, ein Dämmerlicht verbreiteten. Was uns da wieder für eine geniale Idee kam oder doch unserem Doktor Isidor, die wir dann verwirklichten, das werde ich später noch schildern.
Jenseits des Flusses, wenn man da überhaupt eine Ufergrenze ziehen konnte, erhob sich auf höherem Boden die undurchdringliche Hyläa. So meinten wir wenigstens anfangs. Aus der luftigen Höhe unseres Steigebaums konnten wir erkennen, daß die Hyläa nur einen schmalen Gürtel bildete, den Flußlauf begleitend, dahinter erstreckte sich die grasige Campos. Dorthin mußten wir, dort fing erst das richtige Jagdgebiet an. Freilich hatten wir uns wenigstens zwei Kilometer weit durchzuhauen, und bald sahen wir ein, was für ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Beginnen dies war.
Doch woher kamen denn die massenhaften Pekaris und Wasserschweine, auch Tapire und selbst Hirsche, die sich manchmal im Wasser zeigten? Sennor Estrada machte uns gleich aufmerksam, daß hier irgendwo ein natürlicher Durchgang sein müsse.
Und richtig, wir fanden ihn, durch die Hyläa zog sich eine Catinga, eine passierbare Waldstrecke, die dann direkt in die Campos überging, und das war gar nicht weit von unserer Sandbank entfernt. Nun hatten wir alles in der Nähe, was unser Herz begehrte. Auf der Grenze der Catinga und der Hyläa wuchsen auch massenhaft die herrlichsten Baum—, Busch— und Bodenfrüchte. Ich will aber gleich sagen, daß sich diese alle mit unseren Äpfeln, Birnen, Kirschen und Pflaumen nicht vergleichen lassen. Wenn ein Brasilianer in Deutschland gewesen ist, und er kommt in seine Heimat zurück, so kann er seinen Landsleuten nicht genug von der Köstlichkeit der deutschen Früchte vorschwärmen. Und da hat er ja auch ganz recht. Mit den Äpfeln, Birnen, Kirschen, Pfirsichen und Weintrauben, die innerhalb der deutschen Grenzen gedeihen, läßt sich überhaupt nichts in der Welt vergleichen! Und nun unsere Walderdbeere! Das weiß der Deutsche, der nicht aus seiner Heimat herauskommt, nur nicht zu würdigen. Was will denn dagegen die Banane bedeuten, diese süße Mehlgurke. Und das gilt von allen diesen tropischen Früchten, nur süßes oder sauersüßes, wässeriges oder mehliges Zeug, nichts weiter. Ebenso ist es ja auch schon in Südeuropa. Eine Apfelsine bleibt doch immer eine Apfelsine. Wir aber haben Hunderte von verschiedenen Äpfelsorten, alle an Geschmack und Aroma ganz verschieden.
Als Ausnahme will ich in den Tropen die Ananas gelten lassen, die auch wir am Rande der Hyläa massenhaft fanden. Aber da muß man, wenn die Frucht reif wird, aufpassen wie ein Heftelmacher, mehr schon wie die Katze vorm Mauseloche. Eine Stunde später, nachdem die Frucht ihre Reise vollendet, wird sie schon holzig, am anderen Tage ist sie gar nicht mehr zu kauen. Die Ananasfrüchte, die auf unseren Märkten als westindische angeboten werden, sind sämtlich in englischen Treibhäusern gezogen, oder jetzt fängt man auch in deutschen Treibhäusern mit dieser Kultur an. Wir traten die Expedition im Kutter an. Als Waffenmeister und Bootssteurer war ich der Hauptmann, hatte dazu 18 Mann ausgesucht, die sich für solch eine Fahrt am meisten interessierten, daher wohl auch sich am meisten eigneten, die sich schon als die besten Jäger bewiesen hatten, darunter natürlich auch Juba Riata und Mister Tabak. Sennor Estrada diente nur als Lotse, die Patronin konnte jetzt einmal als Passagier gelten, wenn ihr auch das Boot gehörte, wir in ihren Diensten standen.
Drei Stunden lang ging es in flotter Fahrt durch den Urwald, ohne uns durch irgend etwas aufhalten zu lassen, nicht einmal durch den Anblick einer schillernden Riesenschlange. Sie war nämlich zu schnell in dem Dornendickicht der Hyläa verschwunden, sonst hätten wir uns doch zur Verfolgung aufgemacht.
Nach diesen drei Stunden hörten wir Menschenstimmen, und da waren wir schon am Ziele. Wir sahen einen parkähnlichen Bestand von zahllosen Chinabäumen, welche von den Cascarilleros entrindet wurden. Die meisten der 200 Mann waren oben in den Wipfeln, konnten von Baum zu Baum klettern, schnitten oben ringsum die Rinde an, packten das losgelöste Ende und ließen sich herabgleiten, durch ihr Gewicht einen Streifen von einem Viertelmeter Breite losschälend, bis sie am Boden waren.
Es sah ganz gefährlich aus. Unser Prospektador versicherte uns aber, daß Unglücksfälle zu den seltensten Ausnahmen gehörten.
Wir ließen uns nicht weiter mit diesen portugiesischen und spanischen Individuen ein, die noch viel mehr banditenähnlich als abenteuerlich aussahen. Wir sollten bewirtet werden, schlugen aber dankend ab, denn das uns vorgesetzte Fleisch stammte offenbar von Affen, ich sah eine knusprig gebratene Kinderhand, und das fade, süßsaure Zeug, von dem man uns zum Trinken nötigte, konnten wir selbst einer Palmenart abzapfen, wenn wir darnach begehrt hätten.
So gaben wir nur die Säcke voll Eier ab, beobachteten noch einige Zeit das Entrinden und fuhren wieder davon, nachdem Sennor Estrada unsere leeren Säcke zurückerhalten hatte, einen davon aber mit etwas vollgestopft.
»Was ist da drin?«
»Samen von Liprolla.«
»Was ist das?«
»Eine Art Salat, den die Cascarilleros immer bei sich haben, um immer frisches Gemüse essen zu können. Bekannt ist dieser Salat überall, aber sehr schwer zu haben. Die Liprolla gedeiht nur unter den Chinabäumen, aber auch nur unter den wilden. Anderswo wächst sie wohl auch, bringt aber keinen Samen hervor. Wir werden jetzt jeden Tag frisches Gemüse haben, das ausgezeichnet schmeckt und gegen Fieber noch sicherer wirkt als die Chinarinde, als Chinin.«
Na‚ das tägliche frische Gemüse ließ ich mir gefallen, das waren die 30 000 gekochten Eier wert!
»Teilen sich die zweihundert Mann den Gewinn?« fragte die Patronin.
»Mi sabe!« war die Antwort
Also ein Weiterfragen war nicht erlaubt oder hatte doch keinen Zweck.
Nun, mir war es gleichgültig, was die mit den vier Millionen Dollars machten. Nur das glaubte ich nicht, daß die das Geld einer wohltätigen Anstalt vermachten; eher verwendeten sie es für anarchistische Propaganda. Darnach hatten diese zerlumpten Individuen mit den Galgenphysiognomien sämtlich ausgesehen. Teilten sie es redlich, so kamen auf jeden 20 000 Dollars, jeder von ihnen wurde im Laufe eines halben Jahres ein vermögender Mann, was ja auch unter Goldgräbern noch heute vorkommen kann.
Wir traten sofort die Rückfahrt an, um noch vor Anbruch der Nacht unsere Heimat auf der Sandbank wieder zu erreichen. Zwar hatten wir ein großes Zelt mitgenommen, waren auch sonst mit allem versehen, um eine Nacht im Urwald möglichst bequem zu verbringen, aber wenn irgend möglich, sollte solch eine Übernachtung im Walde doch vermieden werden. Ist das Blut einmal zur Aufnahme von Fieberbazillen geeignet geworden, so bringt man diese, wie bereits erwähnt, gar nicht wieder heraus. Mitten im Urwald übernachteten wir ja freilich immer, aber auf unserem Schiffe war das doch etwas ganz anderes, das bot jede mögliche sanitäre Einrichtung.
So sehr wir uns auch beeilten, brach doch plötzlich die Nacht an, noch ehe wir unser Schiff in Sicht bekommen hatten. Aber der Mond stand schon am sternenklaren Himmel, und wir hatten auch nur noch um zwei Ecken zu biegen.
Und was für ein Anblick erwartete uns, als wir um die letzte Ecke bogen!
Wir hätten ja darauf gefaßt sein können, wir hatten ja selbst mit an den Vorbereitungen geholfen, und dennoch waren wir außer uns vor Staunen. Das ganze Schiff war mit Lämpchen illuminiert, die sich in doppelter Reihe an der Bordwand und weiter unten hinzogen, dann an den drei Masten hinauf und wieder an den Rahen entlang, und das strahlte und funkelte und flimmerte in einem unbeschreiblichen Lichte, das nichts mit Elektrizität oder einem Brennstoffe zu tun haben konnte; eher war es, als ob überall geriebener Phosphor aufleuchte.
Nun, wir wußten also, was hier vorlag. Das, was wir alle zusammen in den letzten Tagen vorbereitet, hatten die Zurückgebliebenen jetzt zur letzten Vollendung gebracht, sie überraschten uns damit, auch insofern, als jetzt unter Meister Hämmerleins Händen die Orgel zu rauschen begann.
Ich hatte schon der phosphoreszierenden Pilze gedacht, die in der auch am Tage herrschenden Nacht des Igapo—Urwaldes, sobald sich das Wasser verlaufen hatte oder bis auf die immerbleibende Feuchtigkeit des Bodens verdunstet war, überall massenhaft und zum Teil in riesenhaften Exemplaren, wie die ausgespannten Regenschirme, emporschossen.
Unser Doktor Isidor hatte sich gleich mit diesen Pilzen beschäftigt. Er besaß an Bord ein Laboratorium, um das ihn mancher private Chemiker und Physiker beneidet hätte. Was er Chemisches an den Pilzen entdeckte, weiß ich nicht — jedenfalls war keiner eßar — er überraschte uns nur mit einem physikalischen Experimente, das dann gleich im Großen mit praktischem Werte ausgeführt wurde.
Nur die Sporenfächer auf der unteren Seite des Hutes waren es, die so intensiv phosphoreszierten. Also nicht, daß diese Pilze wie die Laternen die Nacht dies Urwaldes erhellt hätten. Das Leuchten war ihnen Selbstzweck, sie erhellten nur den Boden unter sich, wozu die Natur wohl schon einen Grund haben würde. Immerhin, das Phosporeszieren war so stark, die Pilze wuchsen so massenhaft, wenn auch in noch so winzigen Exemplaren, daß der ganze Boden einer matten Glasscheibe glich, hinter der Licht brennt, alle Wurzeln wie die erleuchteten Milchglasröhren, und da verbreitete sich auch sonst Helligkeit genug. Unter großen Pilzen konnte man auch in der finstersten Nacht ganz bequem lesen.
Abgebrochen, leuchteten die Pilze noch lange, ebenso die herausgeschnittene Fächermaterie allein, doch wurde das Phosphoreszieren natürlich bald immer schwächer, nicht aber, wenn man für stärkere Zufuhr von atmosphärischer Luft sorgte, was am besten in einer Flasche geschah, mit doppelten Glasröhren. Dann phosphoreszierte diese Materie noch viel stärker als im Freien, und immer mehr, je stärker man blies, und immer und immer wieder, wenn die Leuchtkraft auch schon einmal erloschen schien. Freilich durfte man nicht den schon verbrauchtem kohlensäurehaltigen Atem einblasen. Pilze weichen ja bekanntlich insofern von den anderen Pflanzen ab, als sie nicht imstande sind, die Kohlensäure zu zersetzen, sie müssen das, was sie zum Zellenaufbau ihres Körpers brauchen, als Parasiten anderen Pflanzen oder überhaupt organischen Körpern entnehmen, woraus man an sich schon schließen kann, daß bei ihnen auch der Sauerstoff eine ganz andere Rolle spielen muß, als sonst bei den Pflanzen.
Hierauf gründete sich also das Experiment, das wir dann im Großen ausführten.
Leere Wein- und Bierflaschen waren genug vorhanden. So etwas wird ja an Bord des Schiffes nicht zwecklos weggeworfen. Weiße wurden bevorzugt, aber auch rote und grüne konnten gebraucht werden, die brachten dann schöne Farbeneffekte.
Also diese Flaschen wurden mit solcher Fächermaterie der Pilze gefüllt, die Korke doppelt durchbohrt, Glasröhren von verschiedener Länge hineingeschoben, wenn die Glasröhren ausgingen, wußten wir uns mit Bambusröhrchen zu helfen, diese miteinander durch dünne Gummischläuche verbunden oder gleich direkt. Wenn nur alles luftdicht war, wenigstens so ziemlich, das war die Hauptsache. Größere Entfernungen wurden durch Bleirohre überwunden. So drapierten wir das ganze Schiff wie mit Illuminationslämpchen.
Dann später haben wir auch die Räume unter Deck mit solchen Lampen erleuchtet. Für kleinen Bedarf genügten sie vollkommen. Immer neue Einrichtungen wurden erfunden, so daß man zum Beispiel den Luftstrom für die einzelnen Lampen an— und abstellen konnte.
Mit der Zeit nahm die Leuchtkraft ja ab, aber wir konnten die Materie ja immer wieder ersetzen.
Gerade als wir zurückkamen, wurde das Ganze zum ersten Male in Betrieb gesetzt, wenn auch schon eine Probe abgehalten worden war. Das Orgelgebläse trieb die Luft durch alle Illuminationsflaschen, nachdem sie aber doch erst durchs die Orgelpfeifen gegangen war. Auch konnte nur ein Teil des Luftstromes verwendet werden, sonst war er zu stark.
Es funktionierte tadellos. Der Effekt war unbeschreiblich. Und nun dazu dieses Orgelspiel im nächtlichen Urwald!
Ich will nur einen Eindruck erwähnen, den dies alles auf mich hervorbrachte. In diesem Augenblick dachte ich daran, wie gut es doch war, daß wir nichts mit den Chinabäumen zu tun bekommen hatten. Na‚ das wäre ja eine schöne Plackerei geworden, ein ganzes Jahr lang! Da hätten wir solche hübsche Spielereien, die aber doch auch ihren idealen Wert haben, nicht machen können.
Freilich, wenn 75 Mann in einem Jahre sechzehn Millionen Dollars verdienen können, das ist ja recht schön. Aber — es war doch besser so! Sonst hätten wir auf dieser Sandbank nicht solch ein lustiges Sport— und Jägerleben führen können. Wie Herkules anno dazumal den Stall des Augias ausgemistet hat, das hat mir in seinem Heldenleben am allerwenigsten gefallen.
Und wir hatten doch unseren Diamanten! Und außerdem — noch viel, viel schöner als dieser Diamant — zwei Millionen Dollars auf der bombensicheren Neuyorker Bodenkreditbank!
Hiermit wollten wir uns ja, ja genügen lassen, uns nicht mit geschäftlichen Spekulationen beschweren und mit Arbeit abplacken — es wäre solcher Argonauten, die — 686 wir nun einmal waren und sein wollten, gar nicht würdig gewesen.
Nun will ich zum Schlusse dieses langen Kapitels noch einen einzelnen Tag herausgreifen, ihn vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein schildern, um zu zeigen, wie wir auf unserer Sandbank im brasilianischen Urwald lebten, wie wir uns die Zeit zu vertreiben wußten, und wie alles das nicht möglich gewesen wäre, wenn wir jetzt Chinarinde hätten abschälen müssen.
Ich wähle dazu nach meinem sorgfältig wie ein Schiffsjournal geführten Tagebuch den 13. Juli, nachdem wir also schon vier Wochen hier lagen. Dieser Tag verlief genau so wie alle anderen, nur daß wir an ihm das aufregendste Jagdabenteuer der ganzen Zeit erlebten und daß auch sonst einige interessante Zwischenfälle vorkamen.
Sobald der neue Tag aufflammte — fast punkt sechs Uhr, denn wir lagen ja fast direkt auf dem Äquator, wo die Sonne eben immer um sechs Uhr auf— und untergeht — kroch ich aus meinem kühlen Drahtsarge hervor, in dem ich sieben Stunden wie ein Toter geschlafen hatte, mich nun aber auch wirklich wie ein neugeborener Mensch fühlend.
Sofort nach dem Argonautenkanal, der aber unterdessen verdoppelt worden war, so daß man jetzt im Kreise schwimmen konnte. Hier warteten schon einige Badeund Schwimmlustige auf mich, bis ich das Wasser freigab.
»Wasser gefahrenfrei!« stattete Juba Riata mir die Meldung ab, und jetzt erst, nachdem auch ich dies wußte, durfte das Spiel im Wasser beginnen.
Denn wenn auch die Zuflüsse der Kanäle durch starke und dichte Drahtgeflechte, die auch die dünnste Wasserschlange nicht durchließen, geschützt waren, so konnte doch über Nacht ein Krokodil oder eine Schlange über die Sandbank in unser Baderevier gekrochen sein, und die Verantwortung hierfür hatte ich als Waffenmeister freiwillig übernommen, wenn die Sicherheit selbst auch Peitschenmüller zu kontrollieren hatte. Solch eine Verantwortung für meine Jungens aber ließ ich mir nicht nehmen, ich erst gab das Wasser wirklich frei.
Wir hatten ein einfaches Mittel erfunden, um uns gegen solche Reptilien zu sichern. Jeden Abend wurde die Umgebung der Kanäle sorgfältig geharkt und gewalzt, und auf das Auge dieses ehemaligen Wildwestmannes durfte man sich verlassen, daß er am anderen Morgen in dem Sande den Eindruck auch der kleinsten Schlange oder eines Zitteraals sofort bemerkt hätte.
Außerdem waren während der Nacht die Hunde im Freien, wenigstens einige, und deren Anführer in dieser Sache war Moritz, einer der beiden Bernhardiner. Der hatte nämlich schon einmal eine böse Erfahrung mit einem Zitteraale gemacht, war lange Zeit gelähmt gewesen, daß wir an seinem Wiederaufkommen schon gezweifelt hatten, und sein furchtbarer Haß erstreckte sich nun auf alles Schlangenähnliche, sogar auf jeden größeren Regenwurm, und der hatte nun auch alle die anderen Hunde scharf gemacht. Auf unsere Sandbank durfte ja kein Zitteraal und keine Schlange kommen, dann ging der Spektakel los! Von einem Krokodil oder Alligator gar nicht zu sprechen.
Der aufmerksame Leser wird nun sofort daran denken, daß diese Hunde ja während der Nacht den gewalzten Sand zertrampeln konnten. Nein, das taten sie nicht. Nur eine festbegrenzte Strecke von einigen Metern Breite an den Rändern der Kanäle wurde geharkt und gewälzt, diese Strecken waren für die Füße der Hunde geheiligt. Dies ihnen beizubringen, war für ihren Herrn und Meister eine Kleinigkeit gewesen. So wie jeder gute Jagdhund nur diejenigen Felder durchstöbert, die ihm sein Herr freigibt, und sehr bald lernt ein intelligenter Hund durch eigene Intelligenz unterscheiden, welche Felder er betreten darf und welche nicht. Einige Hunde, besonders die kleineren, deren Intelligenz nicht so weit reichte — von einem Mops und einem Windspiel kann man so etwas nicht verlangen — wurden während der Nacht an Bord gehalten.
»Wasser gefahrenfrei!«
Zuerst wurde das Wettschwimmen über hundert Meter zwischen Grün und Rot ausgetragen oder doch beendet. Es handelte sich bei allen diesen Wettkämpfen ja immer um die Gesamtleistung einer Farbe, was nicht hintereinander stattzufinden brauchte. Nur immer kontrolliert mußte es werden. O, ich hatte gar viel zu tun! Als Kargo—Kapitän war ich ein Tagedieb, der seine monatlichen 25 Pfund Sterling ganz umsonst bekam; als unbesoldeter Waffenmeister aber verdiente ich dieses Geld redlich! Wenn die anderen schon längst schliefen, saß ich gar oftmals noch über meinen Registerbüchern, stellte die Resultate zusammen, was gar nicht so einfach war.
Von den Grünen hatten fünf Mann die Hundertmeterstrecke abzuschwimmen, von den Roten vier Mann, dann waren wir wieder einmal durch. Die Zeiten wurden mit einer Kontrolluhr gemessen, die auf ein fünftel Sekunde arretiert werden konnte.
Die neun Mann hatten ihre Tour absolviert. Die Roten hatten wieder einmal mit der Durchschnittszeit von einer Minute 27,3 Sekunden gewonnen, mit 2,5 Sekunden Vorsprung. Bei solch einer Masse muß es sich ja sehr aufheben. Wir hatten aber Schwimmer dabei, die nur wenige Sekunden über einer Minute brauchten! Der beste Schwimmer war der rheinländische Segelmacher, Oskar, der hatte es schon auf eine Minute fünf Sekunden gebracht. Freilich lag der jetzt auch immer im Wasser. Der Weltrekord im Hundertmeterschwimmen wird gegenwärtig von dem Pawnee—Indianer Kajanomoku! mit einer Minute 2,3 Sekunden gehalten, eben jetzt bei den olympischen Spielen in Stockholm aufgestellt.
Dieser neue Sieg der roten Farbe, wodurch sie den silbernen Fisch in ihrem Schranke behielt, war etwas so Wichtiges, besonders durch eine gute Zeitverbesserung, daß es sofort der Patronin gemeldet wurde, obgleich sie noch schlief. Sie verlangte es, es mußte gegen die Tür gepocht werden, bis sie Antwort gab.
Dann wurde das Wasser freigegeben für das allgemeine Baden, Schwimmen und Springen. Aber von einem Baden konnte man eigentlich nicht sprechen. Lauter Übungen, nichts als Trainieren, wenn es dabei auch einmal zu einer lustigen Spritzerei und dabei zu einer regelrechten Wasserschlacht kam.
Und wenn ich nun meine Jungen so sah, wie der liebe Gott sie geschaffen hatte, da mußte ich immer wieder meine Betrachtungen anstellen, mußte immer und immer wieder staunen! Wie die sich in den nun sechs Monaten in ihrem Körperbau verändert hatten! Da war zum Beispiel der lange Heinrich, der jetzt gerade die Riesenschaukel in Schwung brachte. Was war der vor sechs Monaten, da ich ihn zum ersten Male nackt gesehen, für eine Jammergestalt gewesen! Eine lange, krumme Latte. Nichts als fleischlose Pferdeknochen, unordentlich, schlottrig zusammengenäht. Die linke Schulter ganz herabhängend. Und was hatte der jetzt für eine EFigur bekommen! Der reine göttergleiche Achilles! Und der Fleischansatz konnte doch nicht von dem Essen herkommen. Der hatte doch schon vor meiner Zeit immer wie ein dreifacher Scheunendrescher gefuttert. Und nun was für ein Fleischansatz, was für ein Muskelbau! Diese prachtvoll ausgebildeten Arme, diese Schenkel, diese Brust! Ein Modell für jeden Bildhauer, der einen olympischen Athleten darstellen will.
Ich mußte manchmal an mich halten, daß ich nicht stolz wurde, mich als kleinen Herrgott fühlend.
Und jetzt ging der lange Heinrich, dieses ehemalige steife Knochengerippe, mit einem Saltomortale von der Schaukel ab, mit der Grazie einer zwei Meter langen Balletteuse.
Auch ich absolvierte mein Training im Wasser — mit beschwerenden Gewichten! — dann mußte ich unsere Ilse an die Angel nehmen. Sie hing schon vier Wochen dran, ohne das Tempo zu begreifen; aber das schadete nichts was lange währt, wird gut.
Vom Schiffe her schrillte die Bootsmannspfeife.
»Deckwaschen!«
Man glaubte nicht, daß das Deck noch schneeweißer werden könnte, als es schon war. Aber gescheuert mußte es jeden Morgen werden. Dazu kam noch Messingputzen und es gab gar viel zu putzen. Aber das ist eine Kleinigkeit, wenn, wie auf einem Kriegsschiffe, wie auch wir es hielten, jeder Mann seine Putzstation hat. Die hält er auch am Tage immer im Auge, hat immer etwas Putzwolle in der Tasche, mit der er bei jeder Gelegenheit einmal liebevoll über die blanken Teile wischt. Am leichtesten hatte es der Matrose, dem das Geländer auf der Kommandobrücke anvertraut worden war. Da mischten schon genug des Kapitäns Hosenbeine, das war immer spiegelblank.
Als die Sonne sich über den Urwaldbäumen erhob, war unser Schiff wieder wie aus dem Ei geschält, obgleich es schon vorher gar nicht hätte sauberer sein können.
Dann war das erste »Backen und Banken«. Frühstück. Den beliebtesten Anteil dazu lieferte immer unser Garten, auf der Sandbank hergestellt mit aufgeschüttetem Humus aus dem Urwald, wegen der Ameisen umgeben mit einer auszementierten Rinne, gefüllt mit Wasser, in dem Fische abgekocht worden waren. Das kann keine Ameise vertragen.
Bestellt wurde dieser Garten nur mit jenem Samen aus dem unerschöpflichen Sacke. Jeden Tag wurde gesät, jeden Tag hatten wir neues, frisches Gemüse, wenn auch nicht gerade dieser Samen über Nacht aufgegangen war. Es waren kleine Krautköpfe, die aus der Erde kamen, sie schmeckten ganz köstlich, wenn auch sehr bitter. Sie wurden stark gezuckert, aber nicht nur deshalb, um diesen bitteren Geschmack zu decken. Zucker spielte bei uns überhaupt eine große Rolle.
In meiner Jugendzeit noch war Zucker nur etwas für Kinder. Na ja, zum Kaffee Zucker. Sonst war Zucker nur Kindern zugänglich, und zuckeressende Jungen waren verweichlichte Muttersöhnchen, fürsorgliche Eltern beschränkten den Genuß von Bonbons und dergleichen auf ein Minimum. Süßer Kuchen schon eher, aber nur keinen blanken Zucker! Davon bekommt man einen versauerten Magen, schlechte Zähne.
Und heute?
In der neuesten Auflage von Brockhaus' großem Konversationslexikon ist wörtlich zu lesen:
»Der Zucker ist nicht nur, wie noch vielfach geglaubt wird, bloß ein Genußmittel wegen seines süßen Geschmackes, sondern auch ein billiges und vorzügliches Nahrungsmittel, besonders eine Quelle der Muskelkraft, weshalb er auch im deutschen Heere als Extraration bei starken Anstrengungen eingeführt ist.«
Meine geehrten Zucker—Physiologen des 20. Jahrhunderts!
Was Sie da unter ungeheurer Gehirnarbeit endlich entdeckt haben, das haben die amerikanischen Bauern schon vor vierhundert Jahren gewußt. Die Negersklaven haben zur Erntezeit immer Zucker erhalten, bis zu zwei Pfund pro Kopf, und zwar nicht etwa nur auf den Zuckerplantagen, sondern besonders auf den Baumwollpflanzungen! Weil da während einiger Tage eine ganz intensive Arbeit geleistet werden muß. Der Zucker baut nicht, wie Eiweiß, die Muskel nach und nach auf, sondern er erlaubt durch beschleunigte Verbrennungstätigkeit die höchste Leistung der schon vorhandenen Muskeln!
Zucker soll schlechte Zähne erzeugen? Nirgends wird mehr Zucker verkonsumiert als in Amerika, nirgends sieht man schönere Zähne als in Amerika.
Aber wenn man einem Säugling, der nach Milch brüllt, in den Mund einen Schnuller stopft, angefüllt mit aufgeweichter Semmelpappe und Rohrzucker, dann bekommt dieser Säugling hiervon einen schlechten Magen und davon auch schlechte Zähne, das stimmt allerdings!
Ach, was hat sich überhaupt in den letzten drei Jahrzehnten nicht alles auf dem Gebiete der Therapie, der Krankheitsbehandlung, geändert! Ich will gar nicht erst davon anfangen, wie wir sonst nach Gutachten der Ärzte und aller sonstigen vernünftigen Menschen die Rückenmarksdarre und den Gehirnschwund bekamen.
Aber von der Bleichsucht will ich noch einmal beginnen. Zu meiner Zeit durften bleichsüchtige Kinder und Jungfrauen keinen marinierten Hering essen, überhaupt nichts Saures und Scharfes.
Heute sollen Bleichsüchtige soviel Saures und Scharfes essen, als sie nur Appetit haben!
Und darum handelt es sich doch auch nur, um den Appetit! Es ist doch so einfach. Die Natur weiß sich immer von allein zu helfen, oder sie selbst gibt die besten Ratschläge. Dazu hat sie in der Ernährungsfrage eben den Hunger und den Appetit geschaffen. Nun muß man ihr aber auch gehorchen. Wenn eine blasse oder knallrote Jungfrau eine wahre Manie nach Essig hat, so soll sie eben Essig trinken, so viel sie mag. Merkwürdig — für unsere sogenannte Vernunft! — ist es ja, daß die allerverdorbensten Magen so leidenschaftlich gern die allerschwerstverdaulichen Sachen essen, wie etwa Hummermayonnaise. Und wenn man dem Verlangen nachgibt, dann fängt die Würgerei mit Magenkrämpfen an. Recht so! Immer eßt nur Hummermayonnaise! Diese Würgerei braucht der Magen, um zu gesunden! Und wer kein Geld für Hummermayonnaise hat, der mag Kieselsteine mit Essig und Öl schlucken, wenn er Appetit darnach hat, sonst nicht.
Traurig ist es nur, daß der Mensch, als Gesamtheit, niemals Maß halten, keinen Unterschied machen kann, alles gleich über einen Leisten schlagen muß. Heute gibt es schon viele, viele Menschen, die sich bei jeder Gelegenheit in die Sonne legen, ohne ein Bedürfnis darnach zu haben, nur weil sie Heilung von irgend einer Krankheit oder Schwäche erhoffen, und sie werden immer schwächer, und sie legen sich klagend doch immer wieder in die Sonne. Auf diese wirken die Sonnenstrahlen eben wie Gift. Da brauchen sie aber doch nicht erst einen Arzt zu fragen, nicht erst zu experimentieren. Es kommt doch ganz einfach darauf an, ob es einem Spaß macht oder nicht. Nach dem Frühstück begann wieder Spiel und Arbeit, aber ohne Kommando, ganz wie jeder wollte. Der hob Zentnergewichte, jener stopfte seine Strümpfe, ein dritter gerbte im Schweiße seines Angesichts Krokodilleder, um sich ein Paar Stiefeln und ein Portemonnaie daraus zu fertigen, in welches er dann seinen Anteil an die sechzehn Millionen Mark stecken wollte, wenn wir den Diamanten verkauften.
Das heißt, viele Krokodile für Portemonnaies waren in unserer Nachbarschaft nicht mehr vorhanden. Wir hatten in den vier Wochen bis heute schon 54 Stück geschossen oder harpuniert oder gefangen. Da wollten die Übriggebliebenen nicht mehr mitmachen, besuchten uns nicht mehr. Na‚ diese 54 Häute langten ja auch als Portemonnaie für die sechzehn Millionen, da konnte jeder auch noch ein Paar Stiefeln und eine Panzerkappe abbekommen. Oskar stolzierte sogar schon manchmal mit einer Alligatorenpanzerweste herum.
Von acht bis neun hielt ich mit Peitschenmüller meine gewöhnliche Fechtstunde ab. Bei dieser Gelegenheit fand auch immer gleich das Mannschaftsfechten statt, das ich in unseren Zwischenpausen beaufsichtigte. Heute wurde mit Säbeln gepaukt, Grün gegen Rot.
O, wie ich mich darauf freute, wenn ich erst einmal meine Jungens auch hierin öffentlich auftreten ließ! Da konnte ich einmal eitlen Träumereien nachhängen.
Als ich ins Freie kam, wurde gerade auf der Rennbahn, auf der Sandbank in einer Länge von 500 Meter elliptisch abgesteckt, eifrig trainiert.
Auch der Matrose Knut, der verpfuschte Cicero, der Parlamentsredner, unser bester Läufer, absolvierte einen 5000—Meter—Lauf, beendete ihn gerade, ich erfuhr das Resultat.
Ziemlich zwanzig Minuten.
Eine ganz, ganz traurige Leistung!
Der Weltrekord über 5000 Meter wird von dem Amerikaner Bonhag mit 15 Minuten und einigen Sekunden gehalten.
Und unser bester Läufer brauchte fünf Minuten länger!
Ja, der rannte aber in dem weichen Sande auch mit verschiedenen Bleigewichten!
Ohne Gewichte sprang heute einmal Peter, der Heizer, der kleine Peter, der sich vom Hochsprung ganz dem Weitsprung zugewendet hatte. Es sollte ein Entscheidungssprung sein, deshalb mußte ich kommen, um ihn zu kontrollieren und zu registrieren.
Sechs Meter 43 Zentimeter!
Nun messe man sich diese Länge einmal aus!
Aber der Weltrekord im ebenen Weitsprung steht auf sieben Meter 62! Gesprungen vom Amerikaner Gutterson.
Ja, ich kann es nicht helfen: es sind fast nur Nordamerikaner, welche solche Höchstleistungen der menschlichen Kraft und Körpergewandtheit aufstellen! Dann kommt England, dann Schweden, dann Deutschland. Und dann erst in weitem, weitem Abstande alle anderen Nationen.
Nun messe man sich diese sieben Meter 62 einmal aus.
Und von nun an wolle man nicht mehr solche Redensarten und Vergleiche gebrauchen wie: mit dem Sprunge eines Panthers stürzte er sich — —
Denn so wie der Mensch kann kein Panther und kein Tiger und kein anderes Tier springen!
0, es ist etwas Herrliches!!
Wenn Geistesarbeiter geringschätzend und verächtlich über allen Sport sprechen, über die Ausbildung der körperlichen Kraft und Gewandtheit, so beweisen sie nur, daß sie geistig noch nicht reif genug sind, um den Kern der ganzen Sache zu verstehen.
Der Mensch ist der Herr der Erde!
Wohl ist er es im letzten Grunde durch die Kraft seines Geistes geworden — aber der mußte erst die Ausbildung — 698 seiner körperlichen Fähigkeiten bis zur möglichsten Vollkommenheit vorausgehen, sonst hätte die Gehirnkraft niemals sich zur letzten Herrschaft aufschwingen können. Wer das nicht begreift, der versteht überhaupt die ganze Entwickelungsgeschichte der Menschheit nicht!
Wohl ist der Geist des Menschen eine furchtbarere Waffe, als die Klaue des Löwen. Durch die Erfindung des Gewehres und des Schießpulvers. Aber es gehörten auch Männer dazu, welche den Mut und die körperlichen Fähigkeiten hatten, um mit diesen Waffen gegen den Löwen den Kampf zu eröffnen! Sonst würde dieser noch immer seine ehemaligen Gebiete beherrschen!
Ja, im letzten Grunde ist es der Geist des Menschen, der jedes Tier in jeder Hinsicht immer mehr besiegt und dadurch sich immer mehr die Welt unterjocht. Nur noch die Rauchschwalbe übertrifft den Menschen in der Luft an Schnelligkeit, die gewöhnliche Schwalbe mit ihrer Höchstleistung von 35 Metern in der Sekunde wird bereits von den schnellsten Aeroplanen übertroffen!
Mit solchen Augen muß man einmal alle diese Erfindungen betrachten, dann bekommen sie noch einen ganz anderen, ethischen Wert!
Um aber mit solch einer Flugmaschine eine Schwalbe überholen zu können, dazu gehören erst Sportsleute, Seiltänzer der Luft, die erst durch jahrelange Übung und asketisches Training ihre Nerven und ihren ganzen Körper dazu stählen mußten, um so etwas ausführen zu können!
Und überhaupt — wer hat denn das erste brauchbare Luftschiff und den ersten Aeroplan konstruiert?! War es ein Gelehrter, der den Plan zum ersten Luftschiff am Schreibtisch entworfen hat oder war es nicht ein verwegener Reiteroffizier? Erinnert man sich noch, mit was für Hohn und Spott Graf Zeppelin seinerzeit übergossen worden ist, gerade von wissenschaftlicher Seite aus? Und wer waren denn alle jene Männer, welche als erste mit einer Drachenmaschine als Vögel in die Luft flogen? Waren es etwa berufsmäßige Ingenieure? Nein, es waren nichts weiter als abenteuerliche Ritter des Sportes, die diese Maschinen entwarfen und bauten, erst im Probieren studierend, dann zahllose Male ihr Leben riskierend, sich nach und nach jeden Knochen im Leibe zerbrechend — und die deutschen Zeitungsausschnitte sind noch vorhanden, in denen die Gebrüder Wright, als sie die ersten Resultate ihrer Leistungen auf einer Flugmaschine veröffentlichten, als eitle, phantastische Prahler, als amerikanische Humbugmacher hingestellt wurden!
Genug!
Nach dem Mittagsessen wurde Siesta in den kühlen Särgen gehalten. So wurden die Drahtkästen nun einmal genannt.
Heute sollte unsere Siesta einmal in ungeahnter Weise gestört werden.
Plötzlich schlugen wütend die Hunde an, die sich als einzige Wächter auf der Sandbank herumtrieben.
Aber was war das? Weshalb verwandelte sich das grimmige Hundegebell plötzlich in ein klägliches Heulen und Winseln?!
Hei, wie da die Toten in ihren Särgen schnell wieder lebendig wurden und zum Vorschein kamen!
Ja, was war denn das für ein Tier, das dort am Rande der Sandbank dem Wasser entstiegen war?
Eine Schildkröte. Das war leicht zu erkennen. Aber was für eine riesenhafte! Doch wegen der Größe der Schildkröte sollten unsere Hunde feige geflohen sein?
Wir eilten hin. Es war eine der sehr seltsamen Matamatas, der größten Schildkröte Brasiliens, überhaupt eine der größten der Erde. Die Länge ihres Schildes mußte fast zwei und ein halb Meter betragen.
Wir hatten ja die zoologischen Bücher über Brasilien studiert, wir hatten über sie gelesen, ihre Abbildung gesehen, wir erkannten sie sofort, wir waren also überhaupt vorbereitet.
Aber ein furchtbarer Ekel packte mich, packte uns alle. Nie wieder habe ich ein Tier von solch abschreckender Häßlichkeit erblickt. Häßlich nach unserem menschlichen Geschmack. War das ein Weibchen, so mochte es ja für ein Männchen derselben Art die herrlichste Juno sein. Die Schildkrötenjungs hatte gleich zwei Rüssel, nämlich beide Nasenlöcher waren wurmähnlich verlängert und nun auch der ganze Kopf mit dicken, langen Würmern besetzt. Das heißt mit wurmähnlichen Hautlappen, die aber umsomehr lebenden Würmern glichen, die auf dem Kopfe als Parasiten lebten, weil sich alles bewegte.
Und nun vor allen Dingen ein entsetzlicher Gestank, der von diesem Tiere ausging! Wie nach verwestem Fleische. Nein, wie nach — — ich will gar nicht mehr daran denken! Dieser Gestank war es, vor dem unsere Hunde heulend und winselnd die Flucht ergriffen hatten und wir hätten jetzt dasselbe getan, wenn das Ungeheuer sich nicht gleich wieder ins Wasser zurückgezogen hätte.
Befreit atmeten wir auf. Glücklicherweise verschwand auch gleich wieder der entsetzliche Gestank. Wir hatten eine Matamata gesehen und gerochen — wir hatten genug!
Mit unserer Siesta aber war es vorüber. Die Sportübungen und häuslichen Beschäftigungen wurden wieder aufgenommen, viele gingen jetzt aber auch auf die Jagd, in größeren Trupps oder zu zweit, ganz wie sie wollten. Das erbeutete Fleisch wurde, so weit es nicht verspeist werden konnte, eingesalzen oder geräuchert.
Eine abgeteilte Mannschaft der Grünen brachte die sechzehnriemige Pinasse, unser größtes Ruderboot, das natürlich auch segeln konnte, sogar mit zwei Masten und Bugspriet, zu Wasser. Eine gar schwierige Arbeit! Dieses Boot, zehn Meter lang und zwei breit, lag mittschiffs an Deck in Klumpen und Barrings, mußte in besonderen Davits, Bootskrahnen geliftet und über Bord geschwungen werden, dann natürlich auch noch die 120 Meter über Land getragen.
Es handelte sich hierbei wiederum um eine Übung, die täglich vorgenommen wurde, im Wettkampfe zwischen Grün und Rot, wer die Pinasse am schnellsten zu Wasser bringen, mit ihr eine Insel umrudern und wieder an Deck vorschriftsmäßig befestigen konnte.
Diese Übung hatte eine Vorgeschichte gehabt. Zu der Fahrt nach den Cascarilleros hatten wir doch den großen Kutter benutzt, der zwar in Davits hing, nur ausgeschwungen zu werden brauchte — aber die Matrosen waren doch nur mit dem Wasser vertraut, nicht mit solchen Sandbänken — kurz und gut, die Geschichte war sehr langsam vor sich gegangen, Kapitän Martin hatte zwar nichts gesagt, aber wiederholt mißilligend den Kopf geschüttelt.
Das sollte er ja nicht zum zweiten Male tun! Es war schon höllisch gegen meine Ehre als Waffenmeister gegangen! Ebenso aber auch allen anderen, nicht nur den beiden Bootsleuten, welche eigentlich dieses Manöver zu leiten hatten.
Es wurde jetzt also täglich geübt, und nun zwar gleich mit dem größten Boote, der Pinasse, im Konkurrenzkampfe Grün gegen Rot, nach Bestimmung der Zeit.
O, was hätte wohl so ein alter Seebär von echtem Schrot und Korn, wie Admiral Schröter, von der Pike auf gedient, selbst Matrose gewesen, der auch von seinem ältesten Offizier verlangte, daß er noch selbst die Flagge auf dem Mastknopf befestigen konnte, der seinem Burschen zeigte, wie man die Seestiefeln mit der Hand einschmiert — was hätte der wohl gesagt, wie hätte dem das Herz im Leibe gelacht, wenn der dieses Manöver hätte beobachten können! Nun, vielleicht tat er's vom Himmel aus.
Wie diese sechzehn Kerls das schwere Boot herunterbrachten, daß es sofort auf die Ruderstangen zu liegen kam, die sie aber auch schon auf den Schultern hatten, wie da jeder einzelne Handgriff bis ins kleinste berechnet war, wie sie abmarschierten, das Boot zu Wasser brachten, mit einem Satze auf den Duchten saßen — »Riemen — hoch! Setzt — ab! Laßt — fallen! Rudert — an!«
Und fort ging das mächtige Boot, das 80 Mann aufnehmen konnte, in sausender Fahrt, um die Insel zu umkreisen, eine Strecke von fünf Kilometern! Hei, wie die Kerls durchzogen, bei jedem Rucke unter der Bordwand verschwindend!
Und das um zwei Uhr, in der besten Mittagshitze, direkt unter dem Äquator, 40 Grad Celsius im Schatten!
Konnten die denn nicht einen Hitzschlag bekommen?
Hitzschlag, bah!
Die jetzt immer mehr zunehmenden Hitzschläge sind nur eine Folge unserer Narrheit. Jawohl, wir zivilisierten Europäer sind ganz einfach Narren, müssen dafür bestraft werden!
Die Natur hat diejenigen Organe, bei deren Erschaffung sie sich die größte Mühe gab, in den Kopf verlegt: das Gehirn, die Augen, die Ohren usw. Diese Organe bedürfen einer besonders reichlichen, geordneten, regelmäBigen Blutzufuhr. Deshalb hat die Natur oder sagen wir einfach der liebe Gott, diesen Kopf extra auf eine schlanke Säule gesetzt, Hals genannt, auf daß die Adern, welche durch den Hals gehen, immer von frischer Luft umspült werden.
Und was tun nun wir Menschen? Wir panzern diese schlanke Säule, Hals genannt, mit vier— bis sechsfach verstärkter und gestärkter Leinwand!
Und die Folge? Wenn's mal bei uns ein bißchen heiß ist, dann bekommen die Menschen Ohrensausen und fallen gleich um.
Recht so! Wir müssen so lange von der Sonne Stiche und von der Hitze Schläge bekommen, bis wir unsere Narrheit endlich einsehen und aufgeben! Bis wir den von der Natur schlank geschaffenen Hals wieder entblößen!
Du lieber Gott, wenn man in den Ländern, wo es wirklich heiß ist, solche Kragen tragen wollte! Und was man auch dort manchmal für Anstrengungen verlangt, von Soldaten, Matrosen, Arbeitern, auch weißen! Da würden ja an einem einzigen Tage sämtliche Menschen von der Hitze totgeschlagen werden, also am Hitzschlag sterben.
Aber so etwas gibt's ja gar nicht, man braucht nur den Hals so zu tragen, wie ihn die Natur haben will, also daß das Blut in den Adern frei zirkulieren kann, ohne die geringste Hemmung eines Kragenrandes.
Nach einer halben Stunde kehrte die Pinasse in derselben sausenden Fahrt zurück, mit der sie abgegangen. Die sechzehn Kerls natürlich pitschnaß, wie aus dem Wasser gezogen; aber einen Hitzschlag hatten sie nicht bekommen. Aufs Ufer geschossen, herausgesprungen, die Ruderstangen unters Boot geschoben.
»Haaalt die Pinaß, haaalt die Pinaß!« erklang da brüllend der Ruf.
Drei Matrosen kamen eiligst in der kleinen Jolle angerudert.
Ich erschrak.
Mit diesen drei Matrosen in der Jolle war Juba Riata gleich nach dem Essen auf die Jagd gegangen. Er hatte schon heute früh eine Unze gesehen, die schwarze Spielart des Jaguars, ein Weibchen, das offenbar Junge säugte, hoffte deren Lager zu finden, wollte die wertvollen Jungen ausheben, um sie unserer Menagerie einzuverleiben, hatte dazu also diese drei Matrosen in der Jolle mitgenommen.
Jetzt kehrten die allein zurück, schrien nach der Pinaß.
»Was ist geschehen?! Wo ist Juba Riata?!«
»Peitschenmüller hat eine Riesenschlange gefangen, wir sollen mit einem großen Boote hinkommen!«
Eine nähere Erklärung erfolgte, wenn auch so eilig als möglich.
Juba Riata hatte eine Anakonda erblickt, nach der Beschreibung der Matrosen ein riesiges Tier, die von einem Baumaste herabgehangen hatte, den Kopf überm Wasser. Schnell hatte Peitschenmüller nach seinem Lasso gegriffen, die Schlinge aber mit dem Stachelband vertauschend, dessen Wirksamkeit ich schon einmal kennen gelernt hatte.
Er hatte schon einmal auf diese Weise einen Tapir gefangen. Das eselgroße Tier mit dem einfachen Lasso fortzuziehen, wäre die einfache Unmöglichkeit gewesen. Aber dem Zuge des schmerzenden Stachelhalsbandes hatte es folgen müssen. Gezähmt konnte das Tier allerdings nicht werden, wie es Peitschenmüller ursprünglich geplant, da muß man wohl den Berichten aller derer glauben, die so etwas schon probiert haben, der Tapir hatte sich vor Menschenangst den Schädel eingerannt, er mußte geschlachtet werden.
Mit dem Stachelhalsband hatte Juba Riata also auch die Anakonda gefangen, ihr die Schlinge über den Kopf geworfen. Sie war sofort im Gebüsch verschwunden. Jetzt saß Peitschenmüller an ihrer Stelle auf dem Aste, das Lasso straff gespannt, erbat sich ein größeres Boot, mit dem er die Riesenschlange nachschleifen wollte. Die Jolle mit den drei Ruderern wäre der Kraft des Ungeheuers vielleicht doch nicht gewachsen gewesen.
So sicher war sich Peitschenmüller seiner Sache, daß er auch den Auftrag gegeben hatte, sofort einen Käfig herzustellen, der die Riesenschlange aufnehmen solle, mindestens sechs Meter lang, denn so groß schätze er das Ungeheuer, wenn nicht noch länger.
Wir hatten einige eiserne Raubtierkäfige an Bord, aber für solch eine Riesenschlange war keiner geeignet. Doch konnten wir uns schnell einen herstellen, das eben wußte Peitschenmüller schon.
Wir hatten am Rande der Hyläa Bambusstangen geschnitten, durchschnittlich zehn Meter lang, die man ja immer verwenden kann, hatten schon eine Unmenge aufgestapelt.
Sofort gingen die zurückbleibenden Matrosen daran, aus den Stangen solch einen Käfig zusammenzubinden, das verstanden sie doch, da kam weder eine Riesenschlange noch ein Löwe wieder heraus.
Ich hatte diese Anordnung nur getroffen, da war die Pinasse auch schon wieder zu Wasser.
»Ich komme mit!« rief die Patronin, die gehört hatte, um was es sich handelte.
Nun, das konnte ich ihr nicht verbieten, und warum sollte sie auch nicht.
»Wißt Ihr die Stelle auch wiederzufinden?«
Jawohl, es war gar nicht weit von hier, und meine Jungen waren ja unterdessen in der ganzen Umgebung wie zu Hause geworden, Peitschenmüller hatte doch auch gerade die richtigen mitgenommen.
»Ist er denn auf dem Baumast nicht einem Angriff der Riesenschlange ausgesetzt?«
»Er meinte nicht, daß die Schlange auf ihn losgehen würde, es wäre auch schade, dann bekäme er sie nicht lebendig, er müßte sie töten, denn der hat seinen Sägeknüppel bei sich.«
Ich kannte dieses fürchterliche Instrument des ehemaligen oder ja eigentlich noch jetzigen Ranbtierbändigers. Es war ein aus Rhinozeroshaut geflochtener Knüppel, und ich hatte gesehen, wie er mit diesem ein drei Zoll starkes Eichenbrett wie dünnes Papier durchschlagen hatte. Einen Löwenschädel hätte er wie ein hohles — 708 Ei zertrümmert. Ferner aber war dieser Knüppel auf der einen Seite mit jener Magenhaut eines Geiers besetzt, lauter kleine Zähnchen, winzig klein, eigentlich kaum zu fühlen, und dennoch als Säge von einer furchtbaren Wirkung. Wenn er zuschlug und schnell durchzog, sägte er einfach alles ab, was nicht gerade aus Metall oder Stein war. Aber ist der Knochen nicht eigentlich auch aus Stein? Kalkverbindungen? Nun, den stärksten Schenkelknochen eines Ochsen sägte er mit einem scheinbar ganz geringen Schlage glatt durch! Also wenn ihm die Riesenschlange irgend etwas wollte — einfach Kopf ab!
Da sahen wir ihn schon sitzen, auf einem niedrig sich über das Wasser reckenden Aste, ganz gemütlich, rauchte eine Zigarre und baumelte mit den Beinen, in der einen Hand das straffgespannte Lasso.
Schnell hatten wir uns verständigt. Als er ins Boot sprang, wäre er aber doch bald über Bord gezogen worden.
»Heu, heu, mein Tierchen! Das Halsband ist Dir wohl wieder zu weit geworden? Na da komm!«
Er zog, wir ruderten, wie er immer angab, ganz, ganz langsam an.
Da kam der Kopf aus dem Dickicht zum Vorschein. Dicht hinter ihm lag die mit Stacheln besetzte Schlinge um den Hals, wenn man da von einem Halse sprechen darf. —709 Der Schlangenkopf war nicht eben groß, was aber für ein Leib folgte nach! Wir maßen dann später an der stärksten Stelle einen Leibesumfang von ein Meter 14 Zentimeter, die ganze Länge betrug sechs Meter 43. Es mögen schon größere Riesenschlangen erlegt und gefangen worden sein, einigen solcher Berichte ist unbedingt zu glauben, aber gezeigt ist noch keine worden, weder lebendig, noch tot, noch ihre Haut.
Ob die Riesenschlange, speziell die Anakonda, wirklich Menschen verschlingt, darüber will ich mich hier nicht auslassen. Ich habe es niemals gesehen. Daß solch ein Ungeheuer einen ganzen Menschen samt Stiefeln und Schlips verschlingen kann, das ist ganz selbstverständlich.
Sie schien sich mit dem Schwanze oder dem hinteren Leibe an Baumstämmen festzuklammern, mußte aber durch den Zug des schmerzenden Stachelbandes wohl oder übel nachgeben — und dann plötzlich schoß sie in ihrer ganzen Länge hervor, durch oder über den Schlamm hin, der sich ziemlich breit am Ufer hin erstreckte, und in das freie Wasser hinein. Man kann die Anakonda ja fast eine Wasserschlange nennen.
Erst war sie verschwunden, sie mochte glauben, in Freiheit zu sein, da tauchte sie wieder auf, und nun ging der Tanz los.
Himmelherrgott, war das ein Tanz! Ich kann es nicht beschreiben, wie die im Wasser tobte! Zu sehen war überhaupt nichts, von solch einem Wasserschwall wurden wir überschüttet.
Ich kann nur sagen, daß sich auch mein Haar zuerst vor Entsetzen sträubte, und da war es begreiflich, daß sich Helene angstvoll an ihren Ritter Georg klammerte, der jetzt aber eben freilich kein furchtloser Drachentöter war.
»Ruhig, ruhig,« ermahnte Peitschenmüller, mit Lasso und Knüppel hinten neben mir stehend, »immer langsam rudern — die hat sich bald ausgetobt, und angreifen tut sie uns auf keinen Fall — oder ich würde sie schon empfangen!«
Das Wasserspritzen ließ denn auch bald nach.
Nun aber geschah etwas, gegen das die Wasserspritzerei noch eine Kleinigkeit gewesen war.
Die Anakonda sah bald ein, daß sie im Wasser doch nicht ihre Freiheit wieder gewann, daß sie hier erst recht keine Gelegenheit hatte, sich festzuklammern, und so wollte sie wieder ans Ufer, kam aber nur bis in den sumpfigen Teil hinein.
Hier, durch die schmerzende Halsschlinge festgehalten, wiederholte sie ihr fürchterliches Schlagen und Peitschen, und die Folge war, daß wir von einem Schlammregen übergossen wurden.
Wohl wurde sie durch das weiterrudernde Boot bald wieder ins freie Wasser gezogen, jetzt sorgte Juba Riata dafür, daß sie nicht mehr den Sumpf erreichen konnte, aber schon glichen wir alle Möhren, waren mindestens über und über mit Schlamm besprengelt.
Es kam wohl noch zu einigen Befreiungsversuchen, doch immer mehr gab die Schlange ihren Widerstand 1auf, ließ sich unter Wasser fortziehen, nur ab und zu mit dem Kopfe auftauchend, dann einige furchtbare Schläge mit dem Hinterleibe aufs Wasser führend. An einen tätlichen Angriff auf die Menschen dachte sie nicht.
Nach einer halben Stunde hatten wir die Sandbank wieder erreicht. Der Käfig war bereits fertig, neun Meter lang und ebenso breit, die Höhe hatte, wie ich angeordnet, nur einen halben Meter zu sein brauchen. An den Ecken kreuzten sich die Stangen, so daß dadurch also die Zwischenräume entstanden waren.
Juba Riata betrat mit dem Ende des gegen 20 Meter langen Lassos das Ufer, keine weitere Hilfe verlangend, zog die Schlange hinter sich her. Auf dem Sande folgte sie ziemlich willig, das Stachelhalsband mußte doch sehr schmerzhaft sein, wenn man auch kein Blut fließen sah.
Nur noch ein Zwischenfall ereignete sich, freilich einer, der auch dem Kaltblütigsten einen Schreckensschrei entlockte. Plötzlich schoß das Ungeheuer wie ein Pfeil über den Sandboden, hatte sich im Augenblick vor seinem Peiniger in Manneshöhe aufgerichtet, den Rachen weit aufgerissen, so daß man die ganz respektablen, hakenförmigen Fangzähne deutlich sah, und so zuckte sie vor Juba Riatas Kopfe hin und her, vor und zurück schieBend, aber immer steil aufgerichtet
Peitschenmüller selbst glaubte wohl, daß sein Kopf im nächsten Augenblick im Rachen der Schlange verschwunden sein würde, schon holte er zum Schlage aus, um jener den Kopf abzusägen — da sank die Schlange wieder blitzschnell zusammen und suchte seitwärts das Weite zu gewinnen.
Da war sie geliefert, dadurch brachte sie sich selbst in die Nähe des Käfigs. Für eine Tür war selbstverständlich gesorgt. Der erste Bootsmann war aber auch so intelligent, um gleich zu erkennen, was sonst hier noch fehlte, ohne eine Aufforderung dazu zu bekommen.
Schnell steckte er von hinten durch den ganzen Käfig eine solch längere Bambusstange, daß sie zur Tür wieder herauskam, Juba Riata verstand es sofort, er konnte dieses Stangenende schon mit dem Lasso erreichen, dieses daran festgebunden, wieder durch den Käfig gezogen, bis er es hinten wieder hatte — nun war es eine Kleinigkeit, die Anakonda zu zwingen, daß sie auch noch in ihre zukünftige Wohnung kroch. Dem Zuge dies schmerzenden Halsbandes konnte sie eben nicht widerstehen.
So wurde jetzt auch noch ihr Kopf an das Gitter gezogen, mochte der Leib auch toben, wie er wollte, diesen Bambusstäben, die meine Jungens mit geteertem Kabelgarn zusammengebunden hatten, vermochte sie nichts anzuhaben; Peitschenmüller hätte das Lederband einfach zerschneiden können, aber er brachte es sogar fertig, es zu lockern und der Schlange über den Kopf zu ziehen.
Die tiefen Eindrücke, welche die Stahlstacheln hinterlassen hatten, waren zu sehen, aber sie schienen die Haut gar nicht durchbohrt zu haben, Blut floß wenigstens nicht.
Auf diese Weise haben wir eine Anakonda gefangen, wie wohl noch niemals eine Riesenschlange gefangen wurde, von einer Größe, wie noch keine in einem zoologischen Garten gezeigt worden ist.
Ich will gleich noch hinzufügen, daß sich die Anakonda sofort ganz ruhig in ihre Gefangenschaft fügte, die ersten beiden Wochen Nahrungsaufnahme verweigerte, dann aber in einer Nacht gleich ein halbes Dutzend Waldhühner und ebensoviel brasilianische Eichhörnchen verschlang, von da an regelmäßig fraß, später sogar Salzfleisch. Auch ein reichlich einen Zentner wiegendes Wasserschwein wurde von ihr mit Leichtigkeit verschlungen, was ihr freilich für einige Tage genügte.
Ehe sie an Bord kam, wurde für sie ein soliderer Käfig gebaut, der aber nicht mehr so groß zu sein brauchte. Er wurde in dem Farbenraum im Mitteldeck aufgestellt.
So wurde die »Argonautenriesenschlange« ein eherner Bestand unseres Schiffes, wir sollten noch mancherlei mit ihr erleben. Das war ein einzelner Tag aus dem Leben auf unserer Sandbank im brasilianischen Urwald gewesen.
Die Nacht war angebrochen, die Glühkäfer funkelten, und unser Schiff leuchtete im Scheine von Hunderten von phosphoreszierenden Lämpchen.
O, wie soll ich es schildern, was sich nun ereignete!
Nicht nur in dieser Nacht, sondern Abend für Abend, dort auf der Sandbank im brasilianischen Urwalde!
»Herr Waffenmeister, ich hätte eine Bitte an Sie.«
So hatte Meister Hämmerlein gleich in den ersten Tagen unseres Hierseins zu mir gesagt, verlegen oder doch mit seiner schüchternen Bescheidenheit wie immer.
»Aber bitte!«
»Ich — ich — habe ein Oratorium komponiert — die neuen Seligpreisungen — mit einem Schlußsatze — Sie wissen, den Anfang der Bergpredigt aus dem Matthäi-Evangelium — es ist ein Solo mit Chor — Albert singt den Messias — er ist schon gut eingeübt — und nun — nun dachte ich — wenn unser Männerchor einfällt — mit dem Posaunenchor —«
»Ja warum nicht?! Darüber haben doch überhaupt nur Sie zu bestimmen, Sie haben uns doch erst ausgebildet.«
»Es ist — ist — der Chor der Gläubigen —«
Na ich verstand. Gewissermaßen hatte er ja auch ganz recht. Matrosen als Kirchensänger, die in einem Oratorium den Chor der Gläubigen markieren, die den Inhalt jeder Seligpreisung bestätigen, freundlich dazu einladen, an den Heiland zu glauben — 's ist eine dumme Geschichte!
Aber ich glaube, ich glaube — daß unter den professionellen Kirchensängern und sonstigen Künstlern, die in der Kirche zeitweilig mitwirken, manchmal Personen sind, die in moralischer Hinsicht doch noch unter uns Matrosen stehen!
»Na warum denn nur nicht?!«
Also es wurde gemacht.
Abend für Abend übten wir.
So auch heute abend, heute nacht.
Ach, wie soll ich es schildern!
Wenn Albert mit seinem wunder—wunder—wunderbaren Tenor begann, der immer und immer schöner wurde!
Wie das in dieser Urwaldsnacht erklang!
Wenn unter leiser, süßer Orgelbegleitung die erste Seligpreisung verklungen war, so glaubte man nichts Schöneres mehr hören zu können, und nun erklang es doch immer noch viel, viel herrlicher!
»Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden!«
Nein, das konnte nun nicht mehr übertroffen werden!
Wie der nur das Wort »suffering« hervorbrachte!
Es wurde nämlich Englisch gesungen. Hämmerlein hatte es nun einmal nach dem englischen Bibeltext komponiert, hatte etwas Englisches dazu gedichtet, hatte wahrscheinlich schon lange Zeit daran gearbeitet, vielleicht schon viele Jahre, das konnte oder mochte er nun nicht mehr ändern. Das war ja auch ganz gleichgültig. Wir Deutschen, die Englisch vollkommen beherrschten, hörten schließlich im Geiste doch nur das Wort »Leid«.
Wie der nun dieses Wort »Leid« hervorbrachte! Und diesen Ton, den in diesem Augenblick die Orgel erklingen ließ!
Das Herz krampfte sich einem im Busen vor unsagbarem Schmerz zusammen, um sich dann gleich wieder in süßer Wehmut aufzulösen.
Und dann nun — selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.«
Und so ging es weiter, immer herrlicher und immer herrlicher!
Wie dieser Kerl sang!
Und wie der dabei aussah!
Albert, der sich einen Vollbart stehen ließ bekam überhaupt immer mehr einen Christuskopf.
Gewiß, das war der Heiland selbst, der dort oben auf der Bank stand und dem Volke seine Seligpreisungen sang. »Siehe, ich habe die Welt überwunden —«
Und nun nach jeder einzelnen Seligpreisung immer der Chor der Gläubigen. Zwanzig Posaunen mit mehr als vierzig Männerstimmen, noch unterstützt durch die plötzlich gewaltig erbrausende Orgel:
Gracious savior, king of glory
Hasten now, his word obey.
Swing your heartdoor widely open.
Enter in while you may!
Wörtlich übersetzt: Gnädiger Heiland, glorreicher König! Eile, sein Wort zu hören. Schwinge weit auf Deines Herzens Tür, laß, ihn herein, so lange Du noch kannst.
Aber so etwas läßt sich ja gar nicht übersetzen.
Und nun besonders das »king of glory«, wie das herauskam, diese überirdische Majestät, die in diesen Worten lag.
Der letzte Satz war verstummt — »seid fröhlich und getrost, es wird Euch im Himmel wohl belohnet werden« der Chor der Gläubigen hatte es bestätigt.
Kapitän Martin, die Hände bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen, den Oberkörper weit vorgebeugt, schüttelte sich wie ein Pudel, der aus dem Wasser kommt.
»Das ist überwältigend — das ist einfach überwältigend!!«
Wir hatten das nun schon zum zweiundzwanzigsten Male geübt, und zum zweiundzwanzigsten Male hatte Kapitän Martin diese selben Worte so herausgeschüttelt.
Heute abend aber fügte er noch etwas anderes hinzu, denkwürdige Worte, welche es verdienen, der Nachwelt überliefert zu werden — dazu aber nahm er erst die rechte Hand aus der Hosentasche und schüttelte den astähnlichen Zeigefinger vor meiner Nase, nicht um mir zu drohen, sondern gewissermaßen um jedes Wort zu unterstreichen.
»Und heute abend habe ich es ganz genau konstatiert! Allemal, wenn die Stelle kommt »king of glory« — dann hören allemal im Walde die Affen zu schnattern auf!«
So sprach Kapitän Martin.
Na‚ dann war es ja gut, dieses Urteil ließ ich mir gefallen!
Wenn sogar die Affen ob unseres Gesanges verstummten, die Luft anhielten — dann durften wir hoffen, mit unserem Oratorium auch vor anderen Menschen gnädige Ohren zu finden.
Aber wir dachten gar nicht daran, dieses Oratorium anderen Menschen vorzusingen. Gerade dieses Oratorium nicht. Das sangen wir nur für uns.
Oder wenn wir es jemandem vorsangen, Abend für Abend, wenn sich jeder bemühte, sein Bestes zu leisten dann war dies alles nur für unsere Patronin bestimmt!
»Wir leben einander zu Liebe.«
Das war schon längst unser aller Wahlspruch geworden. Es war die Zauberformel der Argonauten.
27. KAPITEL. DER PHÖNIZISCHE DIAMANT.
Am 2. August krochen vorschriftsmäßig die kleinen Schildkröten aus, in ungezählten Legionen, wir stellten mit einigen jene schon früher erwähnten Experimente an, machten andere interessante Beobachtungen, gleich darauf begann das Wasser zu steigen, und am anderen Tage in der neunten Morgenstunde wurde unser Schiff von der Flut gehoben, die freilich jetzt auch über uns vom Himmel in Strömen herabgoß.
Unsere Sandbank hatte für zehn Monate zu existieren aufgehört. Daß sie aber nach dieser Zeit wieder uns gehörte, dafür hatten wir gesorgt. Hierüber hatte uns Sennor Estrada belehrt. Einfach einen abgerindeten Baumstamm im Sande aufrecht eingegraben, so daß er jetzt vom Wasser umspült wurde, und oben darauf ein Zeichen gemacht. Wir hatten das Wort »Argos« eingeschnitten.
Wer eine von Menschen noch unbenutzte Brutinsel oder Brutbank findet und er hinterläßt solch ein Zeichen, kann beweisen, daß er es selbst eingeschnitten hat, dem gehört auch fernerhin diese Brutstelle der Schildkröten, so weit sie sich auch erstreckt.
Allerdings kann ein einzelner nicht gleich das ganze Gebiet beanspruchen, er hat nur ein Vorrecht darauf. Ihm selbst als einzelne Person gehört nur ein Terrain von 400 Quadratmetern, das er auszubeuten vermag, nämlich ein Streifen von zehn Metern Breite, und die Schildkröten legen also ihre Eier immer 40 Meter am Ufer hinauf.
Aber er kann dann zur Brutzeit mitbringen, wen er will, alle seine Begleiter müssen als Besitzer der Brutstelle anerkannt werden. Also kann er schon vorher durch Preisgabe seines Geheimnisses Kapital daraus schlagen.
Haben auch andere die Brutstelle gefunden, sie respektieren das Zeichen nicht, sie wollen nicht weichen, dann kommt es zum Kampfe auf Leben und Tod, und das brasilianische Gesetz spricht den Besitzer und seine Begleiter frei von Mord, sie haben eben überhaupt in ihrem Rechte gehandelt, dürfen gegen jene anderen mit Waffengewalt vorgehen, sie eventuell töten. Dieses Gesetz besteht, seitdem die Portugiesen in Brasilien herrschen, obgleich es niemals geschrieben worden ist. Es ist überhaupt erst von den Indianern übernommen worden.
Sucht der erste Finder und Besitzer die Brutstelle einmal nicht auf, dann allerdings verliert er sein Eigentumsrecht daran.
Für uns sollte alles dies noch von größter Bedeutung werden, deshalb habe ich es hier so ausführlich wiedergegeben. Denn daß wir diese Sandbank später wieder einmal besuchten, das war ja, wenn es das Schicksal nicht anders wollte, ganz zweifellos, obgleich es uns ganz angenehm war, als wir jetzt den Anker aus dem Sand hiven konnten. Schön, herrlich, köstlich waren ja diese sieben Wochen gewesen, aber — schließlich waren wir doch Seeleute und keine Sandauguste
So traten wir die Rückfahrt an. Diesmal machte uns Sennor Estrada bei jeder Biegung auf einen besonders merkwürdig gestalteten Baum aufmerksam, der einen Namen bekam und mit einer Kennzeichnung auf einem Papier vermerkt wurde, dazu die Kompaßestimmung auf diese Weise entstand eine Karte, nach der wir uns später immer zurückfinden konnten.
Sennor Estrada hatte gesagt, daß er uns diese Kennzeichen erst auf der Rückfahrt geben könne. Da hatte er auch ganz recht. Aber weshalb, das vermag ich hier nicht zu definieren, höchstens kann ich daran erinnern, daß man, wenn man durch eine fremde Gegend kommt, und man will sich zurückfinden, sich immer einmal umdrehen muß, sonst findet man dann den Rückweg nicht.
Am Abend des vierten Tages erreichten wir wieder den Amazonenstrom, und 74 Stunden später lagen wir wieder im Hafen von Para am Kai.
»Buenas noches, Sennora e Sennores — wenn ich wieder etwas prospektiert habe, werde ich mir erlauben, Ihnen wieder mein Angebot zu machen.«
So sagte Sennor Montezuma della Estrada in der Kajüte, in der sich die Patronin, Kapitän Martin und meine Wenigkeit befanden, gleich in den ersten Minuten, nachdem das Schiff am Kai vertaut worden war, hüllte sich noch fester in seinen schäbigen Poncho, führte eine frische Zigarette zwischen die Lippen und verließ die Kajüte.
Fort war er!
So war der Abschied gewesen.
Da gab es nun nichts mehr dran zu ändern.
»So ein kurioser Kauz!« staunte die Patronin, als sie endlich glaubte, daß er wirklich gegangen war.
Na inwiefern denn kurios? Im Gegenteil, dieser Abschied imponierte mir. Was sollte er denn erst noch viel quasseln? Er hatte sein Versprechen eingelöst! basta, nun war er mit höflichem Gruße davongegangen, der stolze Spanier, mit dem wir länger als vier Monate zusammen gewesen waren, ohne auch nur die Innenseite seines Mantels gesehen zu haben. Ob er unter diesem Hosen oder was sonst trug, das war für uns immer noch ein Rätsel. Übrigens hatte ich auch gar kein Verlangen darnach, diese unteren Kleidungsstücke zu sehen, am wenigsten sein Hemd, falls er wirklich ein solches an hatte; denn das mußte dann wohl dasjenige der Königin Isabella, die ja auch seine Landsmännin war, weit übertreffen.
Der geneigte Leser weiß doch, was ich hiermit meine? Nicht?
Jedenfalls aber weiß, er doch, was Isabellenpferde sind. Eine gelbe Spielart mit weißen Hufen und roten Augen. Es sind die Albinos, die Kakerlaks unter den Pferden, den weißen Mäusen entsprechend. Isabellenfarbe nennt man aber überhaupt eine bräunlich— bis weißlichgelbe Farbe, etwa dem Milchkaffee entsprechend.
Wie kommt diese Farbe zu dem Namen?
Ich habe von einer Königin Isabella gesprochen. Das stimmt nicht ganz. Es war die spanische Prinzessin Isabella, die Tochter Phillipps II. die Gemahlin des Erzherzogs Albrecht von Österreich, welcher im Jahre 1601 Ostende belagerte, wobei seine Gattin feste mitmachte, sogar das Oberkommando dabei führte.
Als nun Ostende nicht so schnell fallen wollte, da tat die energische Isabella einen fürchterlichen Schwur:
»Ich ziehe mein Hemd nicht eher aus, als bis Ostende erobert worden ist!«
Die Belagerung von Ostende dauerte aber noch drei ganze Jahre.
Und Isabella, eine sehr fromme Dame, mußte doch natürlich ihren Schwur halten. Also behielt sie ihr Hemd drei ganze Jahre lang an.
Und seitdem nennt man Isabellenfarbe eine braungelbe Färbung.
Diese Sache ist historisch!
Daß wir einige Tage in Para liegen blieben, das war von vornherein ausgemacht worden. Das waren wir schon den Leuten schuldig. Sie waren zehn Wochen im Urwald gewesen, waren sogar schon fast vier Monate unterwegs, denn in Para hatten wir uns auf der Herfahrt gar nicht aufgehalten — na, und unsere Jungens waren doch keine Mönche, welche die drei bekannten Gelübde abgelegt hatten.
Nun, in Para brauchten sie auch unfreiwillig kein Mönchsleben zu führen. Para ist eine Stadt mit 70 000 Einwohnern und wie alle diese südamerikanischen Städte, mögen sie auch bis über die Ohren verschuldet sein, mit einem Komfort und Luxus ausgestattet, wovon manche europäische Residenzstadt nichts weiß.
Also unsere Jungens amüsierten sich.
Ja, sie sollten sich auch nach Herzenslust amüsieren.
Da war doch unsere Patronin nicht so.
Wenn einer um zehn Dollars Vorschuß bat‚ dann sagte sie, damit könne er sich in so einer großen Stadt doch unmöglich amüsieren — und gab ihm dreißig.
Doch sie betrugen sich ganz anständig. Vor allen Dingen meine ich, daß die übliche Sauferei ganz fortfiel. Das hing eben alles mit unserem Sport zusammen, womit ich aber nicht noch einmal anfangen will.
Nur zwei Leute hauten einmal mächtig übern Strang.
Daß der eine von diesen beiden Oskar, der Segelmacher war, das war ja nicht weiter verwunderlich.
Daß aber der zweite von ihnen August der Starke hieß, das hätten wir nicht erwartet. Der ehemalige Bäckerjunge war sonst ein so solider Mann geworden, hielt sogar sein Geld zusammen, sparte für die Zukunft! Und hier in Para betrug er sich so — saumäßig, daß ihn die Polizei einsperren mußte! Aber freilich war Oskar der Verführer gewesen, das mag als Entschuldigung gelten.
Ich will die Geschichte erzählen, als ob ich dabei gewesen wäre.
Am Abend des zweiten Tages gehen bis auf die unumgänglich notwendige Wache alle Mann an Land.
Nach und nach verlieren sie sich in der weitläufig gebauten Stadt, Oskar und August bleiben zusammen, wenn sie auch keine intimere Freundschaft geschlossen hatten. Kameradschaft selbstverständlich. Oskar hat sich — 724 drei Monate Heuer auszahlen lassen, hat also rund hundert Dollars in der Tasche, der Bootsmann trägt sein ganzes Erspartes in verschiedenem Papiergeld bei sich, wieviel weiß ich nicht. Dem brennt aber das Geld nicht so furchtbar in der Tasche, wie dem Segelmacher aus Köln.
»Na‚ Bootsen, was machen wir denn nun? Halt, dort stehen Reitesel! Reiten wir einmal!«
»Ach, was soll ich reiten! Mich trägt doch nicht so ein Tierchen.«
Aber Oskar geht hin, August begleitet ihn.
Die Esel sind aber gar nicht zu vermieten, sondern nur zu verkaufen.
»Was kostet der hier?«
»Zehn Dollars.«
Schön, Oskar greift in die Tasche und wirft dem Manne zehn Dollars an den Kopf, das Eselchen gehört also ihm.
»Nun kauft Euch nur auch einen, Bootsen.«
»Dummes Zeug! Der hat doch überhaupt gar keinen Sattel und keinen Zügel.«
»Hat er nicht? Nee, faktisch, nur einen Strick um den Hals! Wißt, Bootsen, dann lassen wir die Esel auf uns reiten, nehmen sie auf den Rücken, was?!«
August will nicht mitmachen, und Oskar bekommt den seinen nicht auf den Rücken oder kann ihn nicht tragen, was doch nicht so einfach ist.
»Das könnt Ihr auch nicht, Bootsen.«
»Was, ich könnte nicht so ein Eselchen tragen?« fällt August richtig sofort darauf ein, nimmt den Esel auf den Buckel und trägt ihn davon.
Aber nicht weiter als bis zur nächsten Kneipe. Nun nimmt Oskar aber seinen Esel auch mit hinein ins Gastzimmer. Es ist zugleich ein Cafe.
»Aber, meine Herren, das geht doch nicht!«
»Was geht nicht? Mein Esel hat Durst. Wenn er bezahlt? Eine Flasche Wein mit drei Gläsern. Kuchen her! Schlagsahne! Das ist nämlich eine Dame, die liebt so Was.«
Nun es aber einmal so weit ist, der Esel als voller Gast gelten soll, wird er auch auf ein Sofa gesetzt, hüben und drüben setzen sich Oskar und August, halten ihn unter den Vorderbeinen fest, brauchen sich aber gar nicht so anzustrengen, das Eselchen hält ganz still, frißt mit Wohlbehagen den vorgesetzten Kuchen und schleckert Schlagsahne.
»Hört, Bootsen, haltet ihn mal allein, ich habe eine Idee, komme gleich wieder.«
Oskar kommt denn auch schnell zurück, hat ein Damenkleid gekauft, ein hochelegantes Kostüm für fünfzehn Dollars und einen mächtigen Federhut, hat auch den Schleier nicht vergessen.
Also das Eselchen wird als Dame kostümiert. Die muß jetzt aber doch erst recht Torte und Schlagsahne bekommen. Und ihre beiden Kavaliere trinken eine Flasche Wein nach der anderen und probieren außerdem alle Liköre durch.
Und jetzt ziehen die beiden weiter, immer aus einem Cafe ins andere, zwischen sich unter den Vorderbeinen oder vielmehr unter den Armen den als Dame kostümierten Esel.
Die ganze Straße brüllt und läuft mit, auch das gemiedenste Cafe füllt sich im Nu, alles will doch sehen, wie die beiden Rivalen auf dem Sofa mit der langgeschnäuzten Dame poussieren, wie sie ihr Torte ins Maul schieben und ihr Schlagsahne hineinhauen.
Zuletzt aber werden sie dieser Sache doch überdrüssig, sie versetzen ihre Dame. Wo sie den Esel samt Kostüm und Hut eigentlich gelassen hatten, das wußten sie später gar nicht mehr.
An dieser Umwälzung in der Situation war besonders auch eine Unterhaltung und eine sehr nützliche Beschäftigung schuld, welche die beiden vornahmen.
In die kleine Kneipe waren zwei Maurer mit ihrem Handwerkszeug gekommen.
»Ich kann auch mäuern!« sagt Oskar. »Ich bin einmal in Philadelphia ausgekniffen, da habe ich drei Wochen an Land gemäuert.«
»Und ich fünf Wochen in Adelaide!« sagt August.
»Ach nee!! Ihr auch? Ich habe aber nicht etwa nur Steine getragen. Ich habe geputzt.«
»Geputzt? Ich habe auch geputzt!«
»Wände mit Kalk abgeputzt, meine ich.«
»Jawohl, ich auch.«
»Hört mal, Bootsmann, Ihr wollt mich doch nicht etwa veralbern?«
»Nenee, 's ist so, das ist eben ein merkwürdiges Zusammentreffen.«
»Na‚ das müßtet Ihr mir doch erst einmal vormachen.«
»Sofort, wenn ich nur etwas hätte —«
»Die Kerls dort haben ja Kellen.«
»Ja, aber wo nehmen wir den Kalk her?«
»Kalk? Nu — nu — dort auf dem Büfett steht Kartoffelsalat —«
Jawohl, auf dem Büfett stand eine mächtige Schüssel mit frischgemachtem Kartoffelsalat, und kurz und gut, meine beiden Kerls, durch Wein und Likör schon in der richtigen Stimmung, nehmen die Maurerkellen und putzen in der Kneipe um die Wette mit Kartoffelsalat die Wände ab! Wer am schnellsten mit seiner Wand fertig ist.
Schön war das ja gerade nicht. Aber — ich hätte mit dabei sein mögen! Wie die beiden mit Kartoffelsalat die Wände abputzten!
Na‚ dem Kartoffelsalat war es ja auch ganz egal, und es wurde alles bezahlt.
Hiermit aber waren die beiden in dieser Kneipe noch nicht fertig.
Sie waren wieder in Unterhaltung gekommen. Übers Geschützexerzieren. August hatte bei der MatrosenArtillerie gedient, Oskar bei der Matrosen—Division und wenn auch bei beiden ganz gleich am Geschütz exerziert wird, so waren die zwei doch über das »Kanonen los!« in Meinungsverschiedenheiten gekommen.
»Nein, das Geschütz wird erst ausgerannt!«
»Nein, erst werden die Taillen gespannt!«
»Aber, Junge — das ist doch so einfach — wenn ich Dir's nur einmal vormachen könnte — wenn wir nur so was wie ein Geschütz hier hätten —«
Und suchend blickten sich die beiden um.
Jawohl, so etwas Ähnliches wie ein Geschütz war im Gastzimmer vorhanden.
Wenn auch nicht gerade zum Schießen bestimmt.
Ein Klavier! Ein Piano, auch Pianoforte genannt.
Und jetzt fingen die beiden an, mit dem Pianoforte »Kanonen los!« zu machen, spannten es an Seilen, fuhrwerkten mit dem Klavier immer in der Gaststube hin und her!
Na‚ die Hauptsache war, daß sie durch diese praktische Demonstration ihre Meinungsverschiedenheit beseitigten. Sie hatten beide dasselbe gemeint, sich nur falsch ausgedrückt.
Ja, nun gerieten sie aber wieder über das Abreißen in Differenzen. Die Stellung, welche Nummer eins beim Abfeuern, beim Abreißen der Zündschnur, annimmt.
Oskar machte es vor, August machte es vor, aber etwas anders. Eine großartige Stellung, die man dabei einnehmen mußte! Bücken durfte man sich dabei nicht, wenn man visierte, sondern man mußte in die Kniebeuge gehen, aber nur mit dem rechten Beine, das linke streckte man weit, weit aus. Aber da jucken einem manchmal die Kniekehlen!
Diesmal wollten sich die beiden doch nicht so leicht einig werden.
Jetzt machte es wieder einmal August vor.
»Nein, so stellt sich Nummer eins hin!«
Und der Fleischkoloß nahm die entsprechende Stellung ein, rechts tief in die Kniebeuge, das linke Wurstbein weit von sich gestreckt, und jetzt griff er über die Reißleine.
»Feuer!!«
Pardauz! ging es da, und aus dem Klavier schlug eine mächtige Feuergarbe empor, der Deckel klatschte oben gegen die Decke, und dann war alles in Pulverqualm gehüllt!
Oskar war nämlich einmal draußen gewesen, war schnell über die Straße zu einem Waffenhändler gelaufen — in jenen Gegenden hat alles bis Mitternacht auf hatte ein Pfund Schießpulver gekauft und eine Zündpille zum Abreißen, hatte das heimlich ins Klavier praktiziert und alles arrangiert.
August denkt, er hat eine gewöhnliche Leine in der Hand, reißt vorschriftsmäßig ab — da explodiert dort drin in dem Klavier das Pfund Pulver, der ganze Oberteil des Pianofortes kracht gegen die Decke!
Als ich das dann später von meinem Augenzeugen habe erzählen hören —— habe ich mich gekugelt!
Ein norwegischer Steuermann war dabei gewesen, ein ganz phlegmatischer Mensch — aber auch der konnte vor Lachen kaum erzählen.
Besonders wie der dicke August dastand, in der vorschriftsmäßigen Stellung, wie der abriß, wie das harmlose Klavier plötzlich schoß, wie August das Maul aufsperrte und nach der Decke blickte, und dann wieder nach dem schießenden Klavier.
Es war ja freilich ein derber Spaß gewesen!
Aber von Matrosen kann man doch auch keine zarten Pfänderspiele verlangen.
Und die Hauptsache war, daß alles gut abgelaufen. Das hatte Oskar überhaupt schon gewußt, daß gar nicht viel passieren konnte. Das einfache Jagdpulver konnte nur nach oben explodieren, den Klavierdeckel heraushauen, ihn nach oben schleudern, weiter nichts.
Als Konzertinstrument war das Klavier freilich nicht mehr zu gebrauchen, wenn es auch noch Töne von sich gab, wie Oskar sofort durch Spielen des Dessauer mit anschließenden Walzer konstatierte.
»Herrlich, herrlich! Na endlich habe ich einmal ein Klavier gefunden, das mich befriedigt! Herr Wirt, was kostet dieses entzückende Instrument?«
Sechzig Dollars wurden dafür verlangt.
Aber die wollte Oskar nicht bezahlen.
Einfach deshalb nicht, weil er die gar nicht mehr hatte.
Aber da griff schon August in die Tasche.
»Das Klavier mußt Du überhaupt bezahlen!« wurde Oskar jetzt auch noch unverschämt. »Ich habe doch gar nicht geschossen, Du hast doch abgefeuert!«
Na‚ August bezahlte doch überhaupt mit Vergnügen. Bei dem wurde das Geld jetzt doch auch immer lockerer in der Tasche.
Jetzt aber gehörte das Klavier natürlich ihnen. Sie nagelten und banden es wieder zusammen, durch das Binden kamen sie auf Bandagen, sie machten dem kranken Klavier mit nassen Bettüchern Umschläge, legten Eiskompressen auf, gaben auch innerlich verschiedene Einflößungen.
Zuletzt nahm August das kranke Kanonenklavier auf den Rücken, das heißt nur, um weiter aus einer Kneipe in die andere zu ziehen und musikalische und ärztliche Vorstellungen zu geben, wozu dann auch noch eine Klistierspritze kam, durch deren eifrige Benutzung das Instrument ja nicht eben wohltönender wurde; denn so krank es auch sein mochte, herhalten mußte es unter Oskars Fäusten noch immer tüchtig. Es war auch schnell eine Einrichtung ersonnen worden, daß Oskar auch unterwegs spielen konnte, während August es auf dem Rücken trug.
So zogen die beiden armen fahrenden Musikanten mit ihrem im Sterben liegenden, auf dem letzten Loche pfeifenden Pianoforte noch stundenlang in dem nächtlichen Para herum, bis sie kein Restaurant und kein Cafe mehr offen fanden. Das heißt, sie mußten doch erst suchen, ob sie wirklich keines mehr offen fanden.
So kamen sie in das alte Viertel von Legut, wo bei den letzten Häusern und Hütten gleich der Urwald beginnt. Man kommt in Para aus den Straßen wahrhaftig direkt in den Urwald.
Da sahen sie vor einem Tore eine rote Laterne brennen.
»Dort ist noch etwas offen!« jauchzte August, und Oskar intonierte auf seinem Rücken eine Jubelouvertüre.
Das Tor ließ sich öffnen, sie kamen in einen Hof, sahen wieder vor einer Tür eine Laterne brennen, die in einen geräumigen Stall führte, und in diesem Stalle stand ein großer Elefant, mit einem Fuße angekettet.
Man hat schon öfters versucht, in den tropischen Gegenden Amerikas den Elefanten, besonders den indischen, als Arbeits- und Reittier einzuführen. Es ist gar keine schlechte Spekulation. Der Elefant leistet dasselbe wie zehn Pferde, seine Unterhaltung kostet dort ja gar nichts, er geht auch zur Fortpflanzung. Die faulen Südamerikaner haben das nur noch nicht energisch betrieben, nach jeder schlechten Erfahrung, die doch erst gemacht werden muß, geben sie den Versuch immer gleich wieder auf. Die Engländer haben in Australien das nützliche Kameel schon vollkommen eingeführt
Ein Mensch war nicht zu sehen.
»Das ist ein Reitelefant,« sagte August, »ich weiß, wie man so einen reitet. Du, Oskar, wollen wir mal einen Spazierritt machen?«
Na und ob Oskar wollte!
Also dem Elefanten, der sich alles willig gefallen ließ, die nur mit einem Karabinerhaken befestigte Kette abgenommen und ihn hinausgeführt, und an seiner Stelle das war eigentlich der beste Witz dabei — wurde vor der Krippe das kranke Klavier hingestellt, die Kette um einen Fuß geschlungen.
Willig hob der Elefant das Bein, um die Reiter aufsteigen zu lassen, August, der auch einen regelrechten Hakenstock gefunden hatte, als erster hinauf, der übernahm die Leitung, hinter ihm saß Oskar, und hinaus ging es.
Als zehn Minuten später der neue Tag aufflammte, befanden sich die Elefantenreiter schon auf der Landstraße nach Tahira, mitten im Urwald.
Aber die beiden, die dem Alkohol ja tüchtig zugesprochen hatten, zuletzt auch dem höllischen Absinth, waren auf dem Rücken des Elefanten bereits eingeschlafen.
Mit einem Male bekam August einen Stoß gegen den Bauch, er klammerte sich an etwas fest, ebenso aber klammerte sich auch etwas auf seinem Rücken fest.
Wie die beiden wieder zur Besinnung kamen, sahen sie dort schon in einiger Entfernung den Elefanten traben, August klebte an einem Baumast, der sich über den Weg reckte, er war von dem Elefanten abgestrichen worden, und auf seinem Rücken klammerte sich Oskar fest, drei Meter über dem Erdboden.
So klebten die beiden dort oben noch wie die Laubfrösche im Wonnemonat zusammen, als sie hinter sich Menschen schreien hörten. Polizisten und andere Männer kamen angerannt.
Die einen fingen den Elefanten wieder ein, die anderen hatten es auf die beiden dort oben abgesehen, die sich jetzt auf dem Aste häuslich einrichteten.
»Herunter da mit Euch!«
»Nee. Weshalb denn? Uns gefällt es hier oben ganz gut.«
»Ihr habt den Elefanten gestohlen!«
»Paß, up, wenn Du das noch einmal sagst, fall ich Dir auf den Kopf, und Du bist eine tote Leiche! Wir den Elefanten gestohlen? Wir haben doch unser kostbares Klavier dafür angebunden.«
Aber der Humor hielt nicht lange an. Der höllische Absinth machte sich erst jetzt richtig bemerkbar. Oskar wollte nur schlafen, nichts weiter, und August bekam einen moralischen Jammer.
»Wenn ich mich gegen das Gesetz vergangen habe, so will ich auch dafür sühnen, ich verlange die volle Strenge der Gerechtigkeit.«
So deklamierte er, nachdem er sich schon ebenso wie Oskar hatte herabfallen lassen. Sie wurden nach der Stadt zurückgeführt, auf beiden Seiten Polizisten.
Viel anhaben konnte man ihnen ja nicht — jetzt nicht! Das heißt, so ohne weiteres durften diese Matrosen, deren Schiff unter einer fremden Flagge im Hafen lag, nicht eingesperrt werden. Dazu mußte erst ein Verhaftungsbefehl vorliegen, oder sie hätten sinnlos betrunken oder sich obstinat benehmen müssen; sonst, wenn sie sich legitimierten, konnten sie nur an Bord des Schiffes gebracht werden, das Weitere erfolgte dann später. Und wenn das Schiff den Hafen verließ konnte nur der Staatsanwalt sie zurückbehalten.
Die Sache aber war eben die, daß Oskar bereits im Gehen schlief, und daß August in seinem moralischen Jammer, überhaupt gar nicht richtig bei Besinnung, durchaus ins Gefängnis wollte, um »seine Schuld zu sühnen«.
Gut, seinen Willen konnte er haben. Die beiden kamen in das alte Gefängnis von Legut, eine elende, einstöckige Baracke, als Arresthaus dienend. Es ist übrigens gar nicht weit vom eigentlichen Hafen von Para entfernt, wir konnten die Baracke von unserem Schiffe aus sehen.
Die beiden wurden isoliert, jeder kam in eine Zelle im unteren Stockwerk, auch August fiel auf der Pritsche jetzt sofort in tiefen Schlaf. Daß die beiden jetzt nicht vernommen werden konnten, das hatte man ihnen doch gleich angemerkt, und überhaupt wußte man ja auf der Polizei schon alles, was die beiden Kerls während der ganzen Nacht für Unfug getrieben hatten, aber schließlich doch ganz, harmlos, die Polizei hatte nicht einzuschreiten brauchen. Schon ging nach unserem Schiffe eine Meldung ab.
Man kann nicht eben sagen, daß sich unser zweiter Bootsmann am Schlusse besonders heldenhaft benommen hatte. Das sollte aber anders werden, sobald er aus seinem todesähnlichen Schlafe erwachte.
Das geschah bereits nach einer Stunde, als wir eben erst die Meldung bekommen hatten.
Erstaunt blickte er sich in der Zelle um. Wo er sich befand, das mußte er doch gleich erkennen.
»Wuoat?! Eingesperrt hat man mich? Ohne meine Erlaubnis?! Mich, August den Starken, Bootsmann von der »Argos«?! I drrr Deiwel noch einmal —«
Und August nahm einen Anlauf gegen die Tür, brach durch die Tür, brach mit demselben Anlauf gleich noch durch eine zweite Tür — und da befand er sich auch schon im Freien. Allerdings erst in einem ummauerten Hofe. Aber gerade war das Tor geöffnet, um einen Wagen durchzulassen, und August sah unser, sah sein Schiff liegen.
Aber da spazierte im Hofe auch eine Schildwache herum, ein Soldat mit Gewehr, der wußte doch gleich, was passiert war, es wurde doch auch schon geschrien — also der sprang mit gefälltem Gewehr, Bajonett aufgepflanzt, an den Flüchtling zu.
Aber bei unserem August kam er da gerade an den Unrechten. Der nahm den brasilianischen Soldaten samt Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett ganz einfach unterm Arm und setzte seinen Weg fort, freilich im Laufschritt, rannte durch das Tor und nach dem Hafen, auf sein Schiff zu.
Wir hatten den polizeilichen Bericht unterdessen schon bekommen, ich wollte mich gerade auf den Weg machen, um die beiden Vagabunden erst, einmal wieder auf freien Fuß zu bringen — kommt da unser August angerannt, die brasilianische Schildwache in voller Waffenausrüstung unterm Arm!
Nun war die Sache ja erst gut!
Na‚ vor allen Dingen bekam der Soldat, der noch gar nicht recht wußte, was mit ihm eigentlich los war, ein opulentes Frühstück vorgesetzt, dann ließ, ich mir von August berichten, er konnte die Polizeimeldung nur bestätigen, daß bis auf die Entführung des Elefanten sonst gar nichts weiter vorgekommen war, und ich machte mich sofort auf den Weg nach der Polizeizentrale, um dort erst einmal den höchsten Polizeigewaltigen zu sprechen, um dort auch die Adresse des Elefantenbesitzers zu erfahren, damit dieser womöglich keine Meldung machte.
Der Polizeihauptmann, der gerade Dienst hatte, war ein höchst netter Mensch, und ein ebenso netter Mensch, konnte er mir versichern, sei der Elefantenbesitzer, ein Inder, ein reicher Kaufmann, der sich in Para als Kautschukhändler niedergelassen hatte.
»Sie werden sich mit diesem Herrn schon auseinandersetzen können, und dann ist alles in Ordnung. Der Bootsmann hat die Tat ganz einfach im Traumzustrand begangen. Wenn der Inder nur keine Meldung macht. Fragen Sie doch gleich telephonisch an, ob er schon zu sprechen ist.«
Ich wurde mit ihm verbunden, der Inder selbst kam ans Telephon, ich stellte mich als Kargo—Kapitän der »Argos« vor, ob ich ihm meine Aufwartung machen dürfe.
In welcher Angelegenheit, wenn ich fragen darf?«
»Ihnen ist heute früh von zweien unserer Leute ein Reitelefant entführt worden —«
Ich brauchte nicht weiter zu sprechen, er wußte schon alles. Und dann kam der echte buddhistische Inder zum Vorschein, dem Toleranz und immergewährte Verzeihung die höchste Tugend ist, durch welche Sanftmut diese jetzt scheinbar so geknechteten Inder schließlich doch noch einmal das ganze Erdreich besitzen werden.
»O nein, ich habe noch keine Meldung gemacht und werde es auch nicht tun. Es ist ja überhaupt ganz meine Schuld, weil ich Wächter angestellt hatte, von deren Zuverlässigkeit ich mich vorher nicht genügend überzeugt habe. Es ist alles in Ordnung. Bitte sehr!«
Mehr konnte man wahrhaftig nicht verlangen! Ich will gleich im voraus erwähnen, daß auch der Fall mit der entführten Schildwache einfach mit dem Mantel der christlichen Liebe zugedeckt wurde. Wir waren ja auch in Brasilien, wo noch eine ganz andere als eine portugiesische Wirtschaft herrscht, und diese Beamten wußten doch, wen sie vor sich hatten, und unsere Patronin ließ sich da doch nicht lumpen, die griff dann noch tief in den Beutel, um der ganzen Polizei von Para und einer Abteilung Soldaten einen Festtag zu machen.
So waren die beiden Vagabunden noch mit einem blauen Auge oder sogar gänzlich unbeschädigt aus dieser Affäre herausgekommen.
Eine Stunde später erschien auch Oskar an Bord, so lange hatte man gebraucht, um ihn wach zu bekommen, und er legte sich gleich wieder schlafen, mit dem besten Gewissen der Welt.
Nicht so einfach faßte August die Sache auf, auch nicht, als wir schon im Vertrauen den Bescheid erhalten hatten, daß absolut nichts nachkommen würde.
Während er mit verdoppeltem Eifer seiner Arbeit nachging, machte er nicht gerade ein niedergeschlagenes Gesicht — das hätte einem Bootsmanne doch gar nicht gestanden — aber doch ein recht finsteres, und es war auch schon auffallend, wie furchtbar er beim Deckwaschen mit dem Schlauche herumwürgte — und dann beobachtete ich ihn zufällig durch die offene Tür, wie er sich in seiner Kammer rasierte.
Er stand vor dem Spiegel, betrachtete sein Gesicht, das ihm grimmig entgegenblickte, und dann erscholl in seiner Kehle ein unbeschreiblicher Ton, kräftig spuckte er in den Spiegel, also in sein eigenes Antlitz.
»Sauhacksch!!«
Mehr sah und hörte ich nicht, ich machte schnell, daß ich weiter kam.
Ebenso dachte auch Klothilde über die beiden Übeltäter, sagte es ihnen dann auch — freilich mit einem Nachsatze.
»Kinders, Kinders,« sagte sie kopfschüttelnd, »geniert Ihr Euch denn nur gar nicht, Euch so in einem fremden Hafen zu betragen?! Das ist doch skandalös! Ich wollte ja gar nichts dagegen sagen, wenn Ihr mich wenigstens mitgenommen hättet, da hätte ich Euch noch etwas ganz anderes vorgemacht —«
Na‚ Klothilde sollte uns auch noch genug vormachen. — 740 Hinzufügen will ich noch, daß der Inder uns dann auch noch das bandagierte Klavier zuschickte. Wir machten einen Karnickelstall daraus, wegen der Anakonda, die doch immer ab und zu einiger lebendigen Nahrung bedurfte.
Am anderen Morgen stellte uns Kapitän Martin einen ihm gutbekannten Diamantenhändler vor.
Man muß in Brasilien einfach deshalb sehr vorsichtig mit Diamanten sein, weil die ganze Diamantensucherei, und was damit zusammenhängt, ein Regal der Regierung ist, man hat eigentlich gar nicht das Recht, einen besitzlosen Diamanten, den man findet, aufzuheben, man muß den Fund anzeigen, erhält nur eine Prämie. Man muß sich eigentlich über den rechtmäßigen Erwerb auch des kleinsten Diamanten am Fingerringe ausweisen können, und so kann man sich denken, in was für Verlegenheiten man wegen solch eines Monstrums kommen kann.
Auf die Verschwiegenheit des Mynherrn van Hoolen durften wir uns verlassen, so hatte uns Kapitän Martin versichert, ehe er ihn an Bord brachte und die Patronin ihren Schatz aus dem Panzerschranke hervorholte.
Der alte Holländer verzog keine Miene in seinem gelben Ledergesicht, als er das funkelnde Taubenei mit dem breiten Goldring nahm und es von allen Seiten betrachtete. Auch er hielt den Diamanten an die Zunge, dann aufmerksam die befeuchtete Stelle besehend.
»Ja,« sagte er dann, »ein phönizischer Diamant, wie ich ihn von solcher Größe und solcher Schönheit noch nie gesehen habe.«
Wir atmeten erleichtert auf. Wenn so etwas dieser alte, gewiefte Diamantenhändler sagte, dann war es ja gut!
»Ein phönizischer Diamant?« wiederholten wir dann natürlich erst.
»Ein phönizischer Diamant!« bestätigte jener. »Ist er Ihnen feil, Frau Patronin?«
»Was ist er wohl wert?« flüsterte die ganz erregt.
»Nun, fünfhundert Dollars würde ich Ihnen sofort zahlen.«
Natürlich glaubten wir nicht recht gehört zu haben.
»Fünf — — hundert — — Dollars?!«
»Fünfhundert Dollars. Das ist aber schon ein Liebhaberpreis. Mehr zahlt Ihnen kein anderer Mensch für das Ding. Ich kenne einen Herrn, der phönizische Diamanten aus Liebhaberei sammelt. Ich glaube, daß ich bei dem noch ein kleines Geschäft damit machen werde, sonst zahlt Ihnen niemand fünfhundert Dollars dafür.«
Jetzt mußten wir wohl unseren Ohren trauen, aber man kann sich denken, wie wir aus allen Wolken gefallen waren.
»Ja — um Gottes willen — ein phönizischer Diamant was ist denn das nur?!«
»Das wissen Sie nicht? Ja, sie sind selten, das stimmt, können wohl gar nicht mehr gemacht werden, das Geheimnis der Herstellung scheint auch in Indien verloren gegangen zu sein, aber es ist und bleibt doch nichts weiter als wertloses Glas —«
»Glas?! Dieser Diamant schneidet aber doch selbst das stärkste Glas wie Butter?!«
»Stimmt. Das ist eben das Geheimnis der Herstellung dieses Glases. In Indien weiß man oder wußte man dem Glasflusse einen besonderen Zusatz zu geben, der das Glas dann so diamanthart machte. Weil die Phönizier doch das Glas erfunden haben sollen, hat man diese Imitationen phönizische Diamanten genannt. Es ist noch nicht gelungen, das Geheimnis zu ergründen. Wertvoll sind ja diese Dinger, das stimmt. Fünfhundert Dollars sind aber auch ein recht hoher Preis für so eine Glasimitation. Sie haben dieses Ding für einen echten Diamanten gehalten? Haben Sie denn nicht gleich die Wasserprobe gemacht?«
»Wasserprobe?«
Der Holländer verlangte eine Schüssel mit Wasser, nahm aus einem Lederbeutelchen einen erbsengroßen Diamanten und warf ihn hinein.
»Das ist ein Diamant. Der bleibt auch unter Wasser ein Diamant, wenn er natürlich auch nicht dasselbe Feuer hat. Ich nehme ihn heraus — sofort brilliert er wieder, ich brauche ihn nicht erst abzutrocknen. Jetzt lege ich den Phönizier ins Wasser —«
Da war er eine glanzlose Glaskugel mit abgeschliffenen Flächen! Und diese Glanzlosigkeit blieb auch nach dem Herausnehmen, die Flächen mußten sorgfältig abgerieben werden, ehe das Funkeln wieder begann.
Wie uns zumute war, läßt sich denken, nicht beschreiben.
»Ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, daß fünfhundert Dollars der höchste Preis ist, den ich zahlen kann. Überhaupt ist mir gar nicht so viel daran gelegen, das Ding zu kaufen, es ist ein großes Risiko, vielleicht werde ich es nicht für denselben Preis wieder los.«
»Aber erlauben Sie,« nahm ich das Wort, »da ist doch schon der breite, dicke Goldreif, eine ganze Platte, dieses Gold muß doch schon allein —«
»Gold? Das ist kein Gold.«
»Was?!«
»Das merke ich sofort an der Schwere. Das habe ich überhaupt gleich in den Fingerspitzen. Das ist — erlauben Sie einmal, daß ich etwas mit dem Federmesser ritze?«
Er tat es.
»Natürlich — das ist nur eine Bleischeibe — ganz schwach vergoldet. Jawohl, das Vergolden des Bleis, das ist auch so etwas Indisches.«
Mynherr van Hoolen war gegangen, ohne sein Angebot erneuert zu haben.
Wir drei blickten uns noch immer an.
»Nun schlägt's aber dreizehn,« sagte Kapitän Martin endlich, »so ein spanischer Schuft!«
Da Kapitän Martin dies gesagt hatte, brauchten wir beiden anderen, die Patronin und ich, kein Wort mehr hinzuzufügen; wenn wir klug waren.
Ja, was sollten wir denn tun? Diesen Spaniolen nun etwa suchen? Unsere Ansprüche auf die Chinarinde jetzt noch geltend machen?
Bah, es hatte gar keinen Zweck, über so etwas noch zu sprechen. Wir hatten sieben herrliche Wochen auf der Sandbank im brasilianischen Urwald verlebt, hiermit konnten wir zufrieden sein, diese Fahrt war also doch nicht so ganz zwecklos gewesen.
Helene tat das Klügste, was jemand jetzt tun konnte indem sie nämlich in ein herzliches Lachen ausbrach, an dem auch nicht etwa was Erkünsteltes war.
»Hahahaha, das ist ja köstlich, hat uns dieser spanische Prospektador mit einem Glasdiamanten angeschmiert! Nein, den verkaufe ich jetzt auch nicht mehr für tausend oder zehntausend Dollars, der soll mir eine liebe Erinnerung sein!«
28. KAPITEL. WIR LASSEN UNS CHARTERN!
So lachte Helene noch, und wir anderen beiden lachten jetzt auch mit, als der als Ordonnanz gehende Matrose eintrat und ein Briefchen für die Patronin brachte.
»Es ist ein Herr, der Sie durchaus sprechen will, wie noch viele andere, und als wir ihn nicht über das Laufbrett ließen, hat er schnell eine Karte geschrieben.«
Die Patronin erbrach das Kuvert und nahm eine Visitenkarte heraus.
Reginald J. Carlistle, St. Louis. Möchte Ihr Schiff chartern. Zu den annehmbarsten Bedingungen. Stelle volle Sicherheit. Bitte um Empfang.
So hatte Helene vorgelesen. Die Worte waren mit Bleistift gekritzelt.
»Unser Schiff chartern? Das ist wieder so ein Unternehmer, der mit uns Geschäfte machen will. Wie sieht er aus, Franz?«
»Nee, der sieht gar nicht wie so'n Manager aus!« entgegnete der Matrose.
»Sondern?«
»Gerade wie'n Geisterkieker.«
»Geisterkieker?!« lachte die Patronin
»Ja, gerade wie'n Geisterkieker.«
»Na da wollen wir mal den Geisterkieker empfangen. Ich bin gerade in der Stimmung. Vielleicht bringt er uns als Sicherheit gleich ein paar phönizische Diamanten aus dem Geisterreiche mit.«
Zwei Minuten später trat der »Geisterkieker« ein. Ja, Franz hatte ganz recht gehabt, so sah er auch aus. »Abgezehrte, blasse Mienen, die den Tod zu rufen schienen!« wie Wilhelm Busch singt.
Doch ich will ihn anders und näher beschreiben, den Mann, der einer der Unsrigen werden sollte, wenigstens so halb und halb.
Es war ein noch junger, schlanker, wohlgebauter Mann, das blasse, bartlose Gesicht durch und durch vergeistigt, etwas Schwermütiges darin — »wie das Leiden Christi!l« sagte einmal sehr richtig ein Matrose — blaue, ganz verträumte Augen, noch viel, viel Verträumter als die unseres Hämmerlein, und nun noch dazu die blonden Haare bis auf die Schultern fallend.
Bekleidet war er mit einem weißen Tropenanzug, statt der Uhrkette trug er um den Hals eine einfache schwarze Schnur, die im schwarzen Schärpengürtel endete, ganz einfache schwarze Lederstiefeln, das heißt ohne Kappen und dergleichen, aber dennoch das feinste Schuhzeug, und da er doch sicher ein Nordamerikaner, ein Yankee war, so war sehr bemerkenswert, daß er keinen Diamantring trug; denn in Nordamerika muß jedes Dienstmädchen ihren Diamantring haben, in Amerika, fängt der Mensch überhaupt erst mit dem Diamantring an, ein wirklicher Mensch zu sein. Der hier trug gar keinen Ring, hatte dafür wunderbar schöne Hände, wirklich auffallend schöne Hände, die Fingernägel peinlich gepflegt. Es fiel auf.
Ein einfacher Mann! Nicht nur ein einfacher Gentleman. Machte einen ungemein sympathischen Eindruck. Den hätten wir sofort empfangen, wir brauchten ihn nur zu sehen.
»Carlistle!« stellte er sich vor, in der Hand den waschlappigen Panama, den ich für so einen für tausend Dollars hielt. Wenn ich auch sonst nichts von Panamahüten verstand. Wenn aber der einen trug, dann hatte der auch einen wirklichen Panama, aus einem einzigen Palmenblatte, das an sich schon eine Kostbarkeit ist, innerhalb von vier Wochen nur des Nachts im Keller geflochten, der Boden unter Wasser stehend.
Die Patronin stellte uns vor.
»Bitte nehmen Sie Platz. Herr Kapitän Martin spricht für mich.«
Wir hatten uns gesetzt, der Herr steckte seinen Hut in die Rocktasche.
»Sie wollen uns mennidschen?« begann der Wortführer sofort.
Der uns managen? Als Theaterdirektor? Als Impresario? Nee, da bewies Kapitän Martin keine besondere Menschenkenntnis, wenn er dem so was zutraute. Ebensogut hätte ich mich als Lucinde von der Heilsarmee geeignet.
»Ich möchte dieses Schiff chartern.«
Chartern ist in der Seemannssprache ganz einfach mieten. Aber ein Schiff mieten oder pachten, das könnte ich niemals aussprechen.
»Chartern. So. Hm. Well. Wozu?«
»Gestatten Sie, daß ich Ihnen erst mitteile, wie ich hierher komme.«
»Well, bitte.«
»Schon vor einem Vierteljahre hörte ich in Neuyork von Ihren Triumphen in Kapstadt. Ich las die Berichte wohl mit großem Interesse, dachte mir aber nichts weiter dabei. Dann hörte ich von Ihren Vorstellungen und Ihrem Siege im Wettrudern in Rio. Und da hatte ich plötzlich plötzlich — eine — eine — Offenbarung.«
Das heißt, ohne jede Verlegenheit hatte er es gesagt. Er hatte nur den richtigen Ausdruck nicht gleich finden können. Von Schüchternheit war bei dem nichts zu merken. Ein vollendeter Weltmann, trotz der durchgeistigten Züge und der verträumten Augen.
»Was für eine Offenbarung?«
»Daß ich mich an Bord dieses Schiffes begeben soll. Sofort führte ich meinen Entschluß aus. Ich erfuhr, daß Sie von Rio nach Para gegangen waren. Ich sofort nach Para. Die »Argos« war schon den Amazonenstrom hinaufgefahren. Ich trat mit Manaos in telegraphische Verbindung. Nach Manaos kamen Sie nicht. So habe ich Sie hier in Para zurückerwartet. Fast sieht es aus, als ob ich Sie leicht hätte verpassen können; denn ich hatte einen Abstecher ins Innere gemacht. Aber ich war meiner Sache sicher, und — ich habe Sie ja nun auch noch angetroffen.«
Es war etwas undeutlich, was der da berichtete.
»Well, und Sie wollen unser Schiff chartern?!« blieb Kapitän Martin bei der Sache.
»Ja.«
»Wozu?«
»Um — das läßt sich nun freilich schwer erklären —«
»Zu kriegerischen Unternehmungen?«
War denn unser Kapitän heute ganz verrückt geworden? Der und kriegerische Unternehmungen! Na ja — ich mußte wieder einmal an die Heilsarmee denken.
Aber im Grunde genommen fragte Kapitän Martin ganz sachlich.
»Ich möchte an Bord dieses Schiffes leben — nichts weiter.«
»So, nichts weiter. Hm. Wozu, muß ich aber da immer wieder fragen?«
»Weil — es ist schwer zu definieren — doch ich glaube, ich bin Personen gegenüber, die mich sofort verstehen werden — weil — wissen Sie, was jeder Mensch im Leben sucht? Jeder Mensch! Weshalb er lebt, weshalb er arbeitet, weshalb er strebt, weshalb er atmet?«
»Um sein Glück zu finden!« sagte diesmal die Patronin.
»Um sein Glück zu finden!« wiederholte Mister Carlistle bedachtsam. »Sie sagen es. Deshalb möchte ich an Bord dieses Schiffes leben.«
Es war bereits eine bedeutsame Unterhaltung geworden, mir auch nicht so ganz unverständlich.
»Kennen Sie uns denn schon näher?« fragte jetzt die Patronin auch weiter.
»Näher? Nein.«
»Haben Sie von uns sonst noch nichts weiter gehört?«
»Nein; nur daß Sie alles, was Sie durch Ihre Vorstellungen einnehmen, den Armen überweisen.«
»Daraus schließen Sie auch sonst auf unseren Charakter?«
»Gewiß. Darf ich das nicht?«
Da hatte er ja auch ganz recht oder auch nicht. Die Patronin war einfach eine sehr reiche Dame, die sich so etwas leisten konnte, wie es ja auch in Wirklichkeit war.
»Sie sprachen doch vorhin von einer Offenbarung!« fuhr sie fort.
»Ja.«
»Gestatten Sie mir eine offene Frage, Mister Carlistle?«
»Bitte, fragen Sie ganz offen, ich werde ebenso offen antworten.«
»Sie sind wohl Okkultist?«
»Ja.«
»Theosoph?«
»Ja.«
Na‚ so sah er ja auch aus. Was ein Okkultist und ein Teosoph ist, weiß, wohl jeder. So nennen sich die Anhänger einer christlich—buddhistischen Geheimwissenschaft, von der aber die andere Wissenschaft nichts wissen will. Mehr weiß ich davon selber nicht. In Amerika zählen diese Theosophen nach vielen Millionen, und die schlechtesten Menschen sind es nicht, das weiß ich auch. Vielleicht sind es kuriose Käuze, anderseits aber sind unter ihnen die reichsten und praktischsten Geschäftsleute. Dann weiß ich auch noch, daß alle diese Theosophen wohl an den Spiritismus als an eine Tatsache glauben, aber mit solchen Geistererscheinungen absolut nichts zu tun haben wollen! Das ist höchst bemerkenswert!
»Well,« fing da wieder Kapitän Martin an, der sich verdammt wenig um Geister und Theosophen kümmerte, »also Sie wollen unser Schiff chartern, um darauf zu leben. Well, was zahlen Sie?«
So schnell ging es aber doch nicht mit dem Geschäft, da mischte sich erst noch einmal die Patronin ein, und sie hatte auch ganz recht.
»Dazu brauchen Sie doch nicht gleich das ganze Schiff zu chartern!« sagte sie. »Wenn ich Sie nun als meinen Gast einlade?«
Der junge Mann verneigte sich.
»Ich danke Ihnen herzlichst, Frau Patronin. Aber — ich möchte mit dieser Charterung des ganzen Schiffes gleich noch einen anderen Zweck verbinden.«
»Was für einen Zweck, wenn ich fragen darf?«
Das hatte natürlich die Patronin gesagt. Kapitän Martin hätte da nicht erst gefragt, ob er so etwas auch fragen dürfe.
»Ich möchte — etwas ergründen.«
»Was denn ergründen, wenn ich fragen darf?«
»Die Richtigkeit einer Theorie.«
»Wohl einer okkulten Theorie?«
»So ist es.«
»Well, was zahlen Sie dafür?« fing Kapitän Martin wieder an, und daß er sich erst ein frisches Stück Kautabak abgebissen hatte, war ein gutes Zeichen.
»Ja, was kostet dieses Schiff pro Tag?«
»Well, da müssen wir erst wissen, was Sie eigentlich vorhaben. Eine okkulte Theorie ist für uns für mich eine Seifenblase, mit der ich verdammt wenig anzufangen weiß. Well, Mister Carlistle, nun sagen Sie mir, was Sie beabsichtigen. Dann sage ich Ihnen den Charterungspreis pro Tag, pro Woche und pro Monat — oder von Hafen zu Hafen; ohne Verbindlichkeit, daß wir darauf eingehen.«
»Gut, ich fasse mich kurz. Ich werde Ihnen sagen: fahren Sie dahin, fahren Sie dorthin — dann fahren Sie hin —«
»Nach dem Nordpol — nach dem Südpol. Nee, das ist gar zu kurz und bündig ausgedrückt. Da machen wir nicht mit.«
Der Spott hatte nicht im Tone, aber doch schon in den Worten gelegen. Der junge Mann blieb ungerührt.
»Und doch können Sie auf diese Bedingung eingehen. Indem ich diese Bestimmung immer nur für 24 Stunden gebe. Sie sollen das Recht haben, mir den Kontrakt jeden Tag kündigen zu können. Jeden Mittag, wollen wir sagen. Dann ist der Kontrakt sofort erloschen. Ich aber bin Ihnen auf 14 Tage verpflichtet. Auf 14 Tage sage ich, weil man doch in dieser Zeit mit einem Dampfer von überall aus einen Hafen erreicht. Ich verpflichte mich aber auch gern auf noch viel längere Zeit. Auf einen Monat, auf einige Monate. Ganz wie Sie bestimmen. Sie dagegen sollen ganz frei sein. Sobald Sie mir kündigen, ist der Kontrakt erloschen. Sie brauchen auch nicht einmal innerhalb der 24 Stunden dorthin zu segeln oder zu dampfen, wohin ich angebe. Nicht dort still zu liegen, wie ich gern möchte, wenn es Ihnen irgendwie nicht paßt. Kann ich Ihnen annehmbarere Bedingungen stellen?«
Nein, das konnte er wirklich nicht!
Gut aber war es, daß sich jetzt die Patronin nicht weiter einmischte, sondern den Kapitän das Wort führen ließ.
»Well, hiermit wäre ich einverstanden. Und was zahlen Sie?«
»Bitte machen Sie die Berechnung.«
Solch eine Berechnung kann jeder machen, der ungefähr den Frachtpreis pro Tonne kennt. Der beträgt zum Beispiel von Liverpool nach Neuyork pro Tonne ein Pfund Sterling. Ich nehme normale Verhältnisse an. Solch ein mittlerer Frachtdampfer braucht zur Reise zehn Tage, wollen wir annehmen. Also würde der Charterpreis pro Tag und pro Tonne zwei Mark betragen. Das würde bei unserem Schiffe von 5000 Tonnen Ladefähigkeit also pro Tag 10 000 Mark ausmachen.
So muß man rechnen, um sich wenigstens ein ungefähres Bild machen zu können.
Freilich ist da ja die Versicherung des Schiffes mit einbegriffen! Das ist es ja eben, was die Geschichte so teuer macht — scheinbar so teuer!
»Unser Schiff ist unversichert.«
»Das weiß ich, und darauf eben kommt es mir an.«
»Worauf kommt es Ihnen an?«
»Daß Ihr Schiff auch unter meiner Charterung unversichert bleibt.«
»Well, wie Sie wollen!« ging Martin ohne weiteres hierauf ein. »Dann würde der Preis also pro Tag 2500 Dollars betragen. Dann aber mache ich Sie darauf aufmerksam, daß wir uns nicht auf große Risikos einlassen können.«
»Auf was für Risikos?«
»Daß wir etwa unbekannte Küsten aufsuchen oder unser Schiff sonstwie in irgendwelche Gefahr bringen. Das ist bei einem unversicherten Schiffe natürlich nicht möglich.«
»Das wäre zu umgehen.«
»Inwiefern?«
»Ich selbst versichere Ihr Schiff.«
»Ich denke, Sie wollen ein unversichertes Schiff haben?«
»Ich versichere es nicht bei einer Gesellschaft.«
»Sondern?«
»Wie hoch ist der Wert dieses Schiffes?«
»Frau Patronin?«
»Fünfmalhunderttausend Dollars!« entgegnete diese ohne Zögern.
»Für diesen Preis könnte ich es kaufen?«
»Ja, wenn es verkäuflich wäre.«
»Mit allem, was sich darin befindet?«
»Wie es steht und liegt!« drückte sich die Patronin nicht gerade seemännisch aus.
»So deponiere ich fünfmalhunderttausend Dollars für den Fall, daß das Schiff ganz verloren geht. Alle Reparaturkosten durch Havarie oder Bergungskosten oder sonstige Unkosten werden von dieser deponierten Summe abgezogen. Ist das nicht ganz einfach?«
»Well, das wäre ganz einfach!« bestätigte wieder Kapitän Martin. »In diesem Falle würde der Charterungspreis natürlich viel geringer.«
»Wie hoch ist er dann?«
Nur wenige Augenblicke bedurfte der Kapitän der Überlegung.
Pro Tag 300 Dollars. Frau Patronin,« wären Sie hiermit einverstanden?«
Ei gewiß! Das konnte die sich auch schnell berechnen.
Unser Schiff erforderte nach der Durchschnittsberechnung also 26 000 Mark monatliche Unterhaltungskosten. 9000 Dollars sollten wir monatlich erhalten, das sind rund — da der Dollar doch etwas mehr als 4 Mark hat — 38000 Mark. Blieben 13 000 Mark Überschuß. Da nun Millionen zu verzinsen waren, so war das ein Zinsfuß von 7,5 Prozent. Das ist im Seehandel eine nicht übermäßige Verzinsung des Kapitals, allerdings sehr reichlich, wenn es sich um ein so sicheres, risikoloses Geschäft handelt wie hier.
Kapitän Martin hatte also sofort das Richtige getroffen. Er hatte durchaus keine unverschämte Forderung gestellt, hatte aber auch das Interesse seiner Reederei, der Patronin, sehr gut gewahrt.
»Ja, damit bin ich einverstanden!« entgegnete also Helene sofort, wenn die sich das wohl auch nicht so schnell berechnet hatte.
»Well, also 300 Dollars pro Tag, dann steht das ganze Schiff zu Ihrer Verfügung, wenn Sie als Sicherheit für Verlust, und Unfall 500 000 Dollars deponieren.«
»Einverstanden!«
»Ja, Sie, aber wir noch nicht. Ich sagte Ihnen doch, daß das erst Vorschläge sind ohne jede Verbindlichkeit. Die Entscheidung bleibt natürlich der Patronin überlassen.«
»Ich bin damit einverstanden!« rief diese sofort.
»Sie wollen doch Bedenkzeit haben —«
»Ich brauche keine Bedenkzeit.«
»Well, dann wollen wir den Charterkontrakt gleich schriftlich formulieren.«
Und Kapitän Martin ging an den Schreibtisch, nahm einen großen Bogen mit dem Schiffsnamen her und begann flüchtig zu schreiben, die Worte dabei laut sprechend.
Es war wirklich ganz wunderbar, wie dieser Mann den Kontrakt aufsetzte, gleich in der Reinschrift, kurz und bündig, und dabei dennoch auch nicht das geringste vergessend. In zehn Minuten war es geschehen.
Ich gebe nur nochmals die Hauptsache wieder.
Also Mister Reginald J. Carlistle charterte die Hamburger »Argos« für täglich 300 Dollars, versicherte das Schiff gegen Verlust und Unfall mit 500 000 Dollars, die er an einer von der Reederei gewünschten Stelle bar zu deponieren hatte. Der Zinsgenuß gehörte natürlich ihm, sonst aber war das Geld bis zur Aufhebung des Kontaktes gesperrt. Der Charterer hatte über das Schiff gänzlich frei zu verfügen, sein Ziel zu bestimmen. Aber immer nur von Mittag zu Mittag. »Nach Greenwicher Zeit gerechnet, nicht wahr? Well, nach Greenwicher Mittag.« — Das galt für 14 Tage. Den Charterpreis für diese 14 Tage, also 4200 Dollars, hatte der Charterer im voraus zu zahlen. Der Reeder oder sein Stellvertreter hingegen konnte den Kontrakt jeden Mittag kündigen, war dann nur noch an 24 Stunden verpflichtet. Aber wenn dem Reeder eine Bestimmung in Bezug auf das Schiff nicht gefiel, so brauchte sie überhaupt gar nicht ausgeführt zu werden.
»Stimmt alles?«
»Ich bin mit allem einverstanden!« entgegnete der junge Mann.
»Well, dann fehlt nur noch die Unterschrift, die auf dem Seemannsamt zu erfolgen hat.«
Ich merkte, wie verlegen die Patronin wurde, und ich wußte den Grund.
Es war ein höchst einseitiger Kontrakt. Alles zum Vorteil für den Reeder, für den Charterer gar nichts.
Aber es war sehr gut, daß die Patronin nicht mehr einsprach, alles ihrem Kapitän überließ, und das war ein tadelloser Ehrenmann.
Nicht etwa, daß er diesen jungen Mann mit den verträumten Augen übers Ohr gehauen hätte. Der Kapitän mußte die Interessen seiner Reederei nach allen Kräften wahren, und solch eine Charterung ist doch überhaupt eine höchst eigentümliche Sache. Ein Schiff ist eben ein Schiff und kein Haus auf festem Boden. Und man kann sein Schiff doch nicht irgend einem wildfremden Menschen bedingungslos in die Hände geben. Wenn der nun Dynamit und Streichhölzer laden wollte! Oder ein Pilgerschiff daraus machen oder den Nordpol entdecken!
Nein, Kapitän Martin war ganz im Recht. Und der junge Mann mußte uns eben vertrauen.
Noch will ich darauf aufmerksam machen, daß zu dieser Sache, wenn sie auf die Dauer durchgeführt werden sollte, wenn es sich nicht nur um eine Spekulation handelte, ein zehnfacher Mark—Millionär gehörte, der sein Geld mit vier Prozent angelegt hat. Solche gibt es in Amerika genug, die gehören noch lange nicht zur exklusiven Gesellschaft, da fängt der richtige Mensch erst mit hundert Millionen an.
Also, meine ich, etwas so Großartiges war es nicht etwa, was wir da arrangieren wollten, da kommen im Schiffswesen noch ganz andere Geldgeschäfte vor. Auf der See erblaßt überhaupt alles, was man an Land großartig finden mag. Man denke nur daran, daß zum Beispiel auf einem großen Luxusdampfer zwischen Hamburg und Neuyork eine einzige Staatskabine, allerdings aus mehreren Räumen bestehend, 16 000 Mark kostet! Wenn der Mieter sie erst in Southampton bezieht, was keine Preisverringerung mit sich bringt, so hat er nur noch fünf Tage Seefahrt, bezahlt also pro Tag 3000 Mark. Zwar kann er noch eine Person für diesen Preis mitnehmen, aber tut er es nicht, so verringert sich der Preis auch nicht, und er muß sich verpflichten, die zweite Person nicht gegen Bezahlung mitzunehmen. Und einen Diener hat er nicht einmal frei, nicht einen einzigen.
Also das sind Preise, die im Hotelleben an Land überhaupt ganz unmöglich sind; denn an Bord sind nicht einmal Getränke dabei.
»Ja, wenn Sie und die Frau Patronin damit einverstanden sind, so wollen wir zur Unterschrift aufs Seemannsamt gehen!« sagte Mister Carlistle, schon wieder seinen zusammengewurstelten Panama aus der Rocktasche ziehend.
»Nein, so schnell geht das nicht!« entgegnete Kapitän Martin, ein Bein übers andere schlagend. »Ich sagte nur, daß dieser Kontrakt nur noch unterschrieben zu werden brauchst, um gültig zu werden, was auf dem Seemannsamte zu erfolgen hat, mit notarieller Beglaubigung. Da — 759 ist vorher doch noch verschiedenes andere zu bedenken, was nur nicht in diesen formellen Kontrakt aufgenommen zu werden braucht, weil es mehr privater Natur ist, obgleich für uns wichtig genug, alles noch in Frage stellen könnend.«
»Bitte, sprechen Sie.«
»Bringen Sie Begleitung mit?«
»Nein.«
»Sie sind ganz allein?«
»Ganz allein.«
»Also auch keinen Diener?«
»Nein.«
»So müssen die Bedienung wir Ihnen stellen?«
»Ich bitte nur um eine Aufwartung, die täglich meine Kleider sauber hält.«
»Nichts weiter?«
»Nichts weiter. Rasieren tue ich mich selbst.«
»Wie isst es mit der Beköstigung? Die ist im Charterpreis eigentlich nicht mit eingeschlossen; wenigstens nicht, wenn sie ganz besonders sein muß zumal wenn es sich um kostspielige Getränke handelt.«
»Ich trinke nur Wasser; höchstens einmal Limonade.«
»Und die Speisen?«
Ich dachte schon, jetzt würde kommen: ich lebe nur von Brot und Zwiebeln. Dann hätten wir ja unseren Prospektador wiedergehabt, nur in etwas verbesserter Auflage, gut gebunden mit Goldschnitt. Oder nein, ohne Goldschnitt, aber sauber und solid eingebunden.
»Ich bin Vegetiarier, esse nur Gemüse und Brot, mache überhaupt gar keine Ansprüche.«
Na‚ etwas mehr als Zwiebeln war es doch geworden. Aber so ganz unrecht hatte ich doch nicht gehabt. Wie ein Vegetarier sah der ja auch ganz aus. Den konnte ich mir mit einem englisch gebratenen Beefsteak gar nicht vorstellen.
»Also Konservengemüse?
»Ja.«
»Mit diesen können wir Ihnen aufwarten, das darf ich hier im Namen der Patronin gleich sagen, mit solchen Kleinigkeiten wollen wir uns nicht weiter aufhalten. Hingegen wegen Ihrer Kabinen.«
»Ich bedarf nur einer einzigen, ich bin ganz anspruchlos.«
»O,« schaltete die Patronin ein, »wir haben Kabinen massenhaft zur Verfügung!«
»Dann ist es ja etwas anderes. Ich meine nur, daß Sie meinetwegen nicht etwa Umstände machen, und vor allen Dingen nicht etwa sich selbst beschränken. Das muß ich ernstlich bitten, sonst würde ich mich wirklich beschränkt fühlen.«
»Well,« nahm Kapitän Martin wieder das Wort, »die Kabinenfrage ist erledigt. Wen Sie vor sich haben, das wissen Sie doch, sonst wären Sie doch nicht erst zu uns gekommen, um — Ihr Glück zu finden.«
»Sehr richtig gesprochen!«
»Wollen Sie von hier Fracht mitnehmen?«
»Nein.«
»Gepäck?«
»Natürlich.«
»Sehr umfangreich?«
Ich mußte lächeln. Hatte aber unrecht. Der Kapitän dachte an alles. Es konnte sich ja um Schmuggelwaren handeln, die der als Gepäck deklarierte, das ganze Schiff voll.
»Normal.«
»Well. Doch keine Explosivstoffe?«
»Nein.«
»Säuren?«
»Nur Wäsche und Kleider und was man sonst für eine Seereise braucht.«
»Well. Sie erkennen doch die Berechtigung dieser Fragen an?«
»Sehr wohl, Herr Kapitän.«
»Danke. Haben Sie sonst noch spezielle Wünsche?«
»Ja.«
»Bitte sprechen Sie.«
»Ich bin gewohnt, täglich drei Wannenbäder zu nehmen; früh, mittags und abends.«
Da hatte sich der Prospektador in germanischer Auflage allerdings ganz bedeutend verbessert. Doch das ist für Nordamerika nichts Neues. Die Neuyorker Damen, die nicht wissen, wie sie Geld und Zeit totschlagen sollen, baden sich täglich bereits fünfmal vor jeder Mahlzeit.
»Das sind Nebensachen, die wir gar nicht — und doch! Frischwasser?« — 762 »Nein, Seewasser. Höchstens, daß es, wenn es sehr kalt ist, etwas gewärmt wird.«
»Well, Sie würden Ihre eigene Badeeinrichtung haben, heißes Seewasser immer zu Ihrer Verfügung stehen, das Sie nach Belieben mischen. Sonst noch spezielle Wünsche?«
»Ja, Herr Kapitän, Frau Patronin — ich kenne das Bordleben — ich darf doch ganz offen sprechen?«
»Ganz offen und ungeniert.«
»Ich bitte, mir die Mahlzeiten in meiner Kabine zu servieren.«
»Wie Sie wünschen.«
»Aber nicht zu regelmäßigen Zeiten, sondern nur, wenn ich sie bestelle. Dann warte ich, bis man sie mir bringt.«
»Wie Sie wünschen.«
»Nun aber etwas, was ich nicht so leicht aussprechen würde, wenn es nicht gerade an Bord dieses Schiffes wäre, auf dem ich mich glücklich fühlen möchte, und Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, ganz offen zu sein.«
»Bitte sprechen Sie.«
»So bitte ich, sich gar nicht um mich zu kümmern.«
»Well. Niemand.«
»Ich bitte, mich nicht anzusprechen.«
»Niemand.«
»Frau Patronin, Sie verzeihen doch, es handelt sich dabei um —«
»Sicher, sicher — selbstverständlich, selbstverständlich!«
»Wenn ich es vielleicht einmal vergesse, Ihnen guten Morgen zu wünschen —«
»Haben Sie gar nicht nötig, ich verbitte mir sogar Ihren Gutenmorgengruß!« lächelte die Patronin.
»Dagegen möchte ich die Erlaubnis haben, andere anzusprechen, um etwa Fragen zu stellen.«
»Dürfen Sie!« sagte diesmal wieder der Kapitän.
»In welchen Grenzen sich das zu bewegen hat, weiß ich.«
»Selbstverständlich.«
»Darf ich die Kommandobrücke betreten?«
Durch diese Frage verriet der junge Mann, daß er das Bordleben, und mehr noch, daß er die Bordroutine kannte!
Und ehe der Kapitän diese Frage beantwortete, überlegte er fast eine halbe Minute lang, was bei so etwas eine gar lange Zeit bedeutet. Und hierüber hatte auch er allein als Kapitän zu entscheiden, da hatte die Patronin gar nichts einzureden, er hätte auch ihr das Betreten der Kommandobrücke verbieten können, und wenn sie auch Königin und Kaiserin gewesen wäre, oder er hätte sofort oder an See im nächsten Hafen sein Kommando niedergelegt. Andernfalls wäre es von allen anderen Kapitänen, an deren Hochachtung ihm gelegen, fernerhin als verächtlicher Mensch gemieden worden.
»Ja, Sie dürfen die Kommandobrücke betreten,« entgegnete nach dieser halben Minute Kapitän Martin, »aber mit Ausnahmen. Sie dürfen die Brücke betreten und sich darauf aufhalten, wenn ich nicht auf der Brücke bin oder wenn ich eine gewöhnliche Mütze trage. Sie dürfen die Brücke nicht betreten oder müssen sie sofort verlassen, sobald ich die Kapitänsmütze mit einem Goldstreifen aufhabe oder aufsetze. Verstehen Sie, Mister Carlistle?«
»Sehr wohl, Herr Kapitän.«
»Und da gibt es in diesem Falle nicht ein Sichbeleidigtfühlen?«
»O nein, Herr Kapitän.«
»Denn ich will nicht etwa einen Menschen kränken. Ich mag keinen Hund kränken. Wenn ich einmal eine gewöhnliche Kopfbedeckung mit der Schiffermütze vertausche, Sie dadurch also von der Kommandobrücke fortweise, so hat das schon einen bestimmten Grund.«
»Ganz sicher, Herr Kapitän. Ich danke Ihnen.«
»Sonst noch etwas, Sir?«
»Haben Sie Taucher an Bord?«
»Zwei Taucherapparate.«
»Vollständig funktionierend?«
»Selbstverständlich, sonst gehörten sie doch ins alte Eisen.«
»Auch Leute, welche tauchen können?«
»Ich glaube, es sind vier vorhanden, in deren Militärpaß steht, daß sie als Taucher ausgebildet sind. Nicht wahr, Frau Patronin?«
»Sogar fünf. Sie wollen tauchen lassen, Sir?«
Der Kapitän hätte diese Frage sicher niemals gestellt, bei der Patronin war das etwas anderes.
»Ja — vielleicht —« erklang es einmal etwas zögernd.
Helene wollte wohl noch weiter fragen, verschluckte es aber.
»Die Gebühren für das Tauchen haben nach internationalem Reglement natürlich Sie zu zahlen!« sagte der Kapitän nur noch, und dazu war er allerdings berechtigt.
»Selbstverständlich.«
»Sonst noch etwas, Sir?«
»Nicht daß ich jetzt wüßte.«
»Well, dann handelte es sich, ehe wir den Kontrakt unterschreiben, wenn wir es überhaupt tun, nur noch um die 500 000 Dollars, die Sie zu deponieren haben, und um die 4200 Dollars, die sofort für die ersten 14 Tage zu zahlen sind.«
»Ich bin sofort bereit dazu. Wollen wir gleich nach der Bank gehen?«
»Nach welcher Bank?«
»Nach der brasilianischen Zentralbank.«
»Hm. Dort möchte ich das Geld eigentlich nicht deponiert haben.«
»Ganz wie Sie bestimmen.«
»Sie können es von dort aus überweisen?«
»Jawohl. Sofort, telegraphisch.«
»Frau Patronin! Wollen Sie die halbe Million nach Ihrer Bank haben?«
»Es wäre mir das Liebste.«
»Also nach der Neuyorker Bodenkredit—Bank.«
»Ganz wie Sie wünschen.«
»Hm. Mister Carlistle — jetzt gestatten Sie mir eine Frage — ich bin doch nicht etwa neugierig — aber man möchte doch ungefähr wissen, wer so ein Schiff chartert —«
»Kennen oder kannten Sie den amerikanischen Zeitungsverleger Josua Carlistle?« fiel ihm der junge Mann ins Wort, und es war nur Höflichkeit.
Unser Kapitän bekam etwas große Augen.
»Der Gründer und Besitzer von fünf der größten amerikanischen Zeitungen?«
»Ja.«
»Der vor einem Jahre gestorben ist?«
»Leider.«
»Mit Hinterlassung von hundert Millionen Dollars?«
»So ungefähr.«
»Sie sind sein Sohn, als einziges Kind Universalerbe?«
»Bin ich. Reginald Carlistle.«
Also wir hatten einen hundertfachen Millionär vor uns, in Dollars, was man bei uns auch einen halben Milliardär nennt. Denn vergeudet hatte der von seiner Erbschaft noch nichts, wir sollten es später erfahren, es war sogar noch etwas mehr als eine halbe Milliarde, über welche der grasessende Jüngling verfügte.
»Well — Frau Patronin — nun haben Sie die letzte Entscheidung zu treffen, ob Sie zustimmen oder nicht.«
»Ja, ich stimme zu.«
Ich hatte schon ein »Halt!« rufen wollen, um die Patronin erst noch einmal unter vier Augen vorzunehmen, tat es aber nicht, besann mich noch im letzten Augenblick. — 767 Wir riskierten ja absolut nichts. Innerhalb von 24 Stunden konnten wir das Männchen, wenn uns irgend etwas nicht gefiel, ja gleich wieder fortschicken, und wenn er jetzt auch wie als Besitzer über das ganze Schiff verfügen und bestimmen konnte, so brauchten wir seinen Befehlen oder Wünschen ja nicht einmal nachzukommen. Das stand ja alles im Kontrakt.
Ich wäre als Charterer auf solche Bedingungen nun freilich nicht eingegangen. Aber wenn der damit zufrieden war — des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
29. KAPITEL. DER STERNKIEKER.
Jetzt begaben wir uns sofort an Land, als Kargo-Kapitän hatte auch ich den Charterkontrakt zu unterschreiben, in einer Stunde war alles abgemacht, auf dem Seemannsamt sowohl, wie auf der Bank. Wir drei gingen gleich wieder an Bord zurück, Mister Carlistle in sein Hotel, um mit seinem Gepäck nachzukommen.
Ich nahm die Leute vor, instruierte sie hauptsächlich darüber, daß sie sich um den Herrn gar nicht kümmern sollten, womöglich gar nicht nach ihm hinsehen. Die darüber verdutzten oder sogar schon finsteren Gesichter, daß wir uns von einem fremden Menschen hatten chartern lassen, klärten sich schnell wieder auf, als ich ihnen sagte, daß dieses neue Verhältnis an unserer bisherigen Lebensweise nicht das geringste ändere.
Eine halbe Stunde später kam Mister Carlistle in Begleitung dreier Dienstmänner, die sein ziemlich umfangreiches Gepäck trugen. Mit dem ersten Schritt an Deck war er Herr dieses Schiffes. Gerade deshalb aber kümmerte sich niemand weiter um ihn als Siddy, der als Chefsteward ihm seine Kabinen anwies, möglichst einsam gelegen, Salon, Schlafkabine und angrenzende Toilette mit eigener Badeeinrichtung, dann konnte er aber noch, wenn er wollte, alle angrenzenden Kabinen benutzen.
Wir drei Hauptpersonen saßen auf der Kommandobrücke, ohne uns weiter über das neue Verhältnis zu unterhalten, als Mister Carlistle wieder an Deck erschien und sofort zu uns heraufkam, was er durfte, da der Kapitän eine gewöhnliche Mütze trug, einen sogenannten Wolkenschieber, wie ich diese Kopfbedeckung zum Unterschiede zur Kapitänsmütze fernerhin nennen werde.
Der neue Herr trat gleich so auf, wie er es uns gesagt, indem er sich um uns beiden anderen gar nicht kümmerte, sich nur an den Kapitän wendete.
»Herr Kapitän?«
»Sir?«
Der halbe Milliardär zog an der schwarzen Schnur eine silberne Uhr aus dem Gürtel.
»Es ist jetzt zehn Minuten vor zwölf.«
»Der Kapitän warf einen Blick nach der Wanduhr im Kartenhaus, die immer nach der Ortszeit reguliert wurde.
»Well, nach amerikanischer Zonenzeit für Para.«
»Können Sie 12 Uhr 47 Minuten den Hafen verlassen?«
Das klang schon ganz, ganz merkwürdig!
»Nein, das kann ich nicht.«
»Bitte weshalb nicht?«
»Erstens kann man innerhalb einer Minute keinen Hafen verlassen —«
»Bitte, ich meine, ob Sie 12 Uhr 47 Minuten den ersten Befehl, das erste Kommando dazu geben können, das vertaute Schiff freizumachen?«
»Ja, das könnte ich wohl. Sie wollen in See?«
»Ja,
»Die Ebbe setzt erst halb drei ein, gegen Mittag ist die stärkste Flut mit Pororoca.«
»Können Sie gegen die Pororoca nicht angehen?«
»Bah, das werde ich mit diesem Schiffe wohl können.«
»Haben Sie noch etwas einzunehmen?«
»Nichts. Wir sind klar.«
»Wollen Sie also 12 Uhr 47 Minuten das erste Kommando dazu geben, das Schiff abzusetzen und dann in See zu stechen?«
»Well, wenn Sie es wollen.«
»Was wäre dieses erste Kommando, das Sie für dieses Manöver geben?«
»Klar bei den Trossen.«
»Wollen Sie also 12 Uhr 47 Minuten, möglichst pünktlich bis zur Sekunde, das Kommando geben: klar bei den Trossen?«
»Well, kann geschehen. Und wohin dann?«
»Das teile ich Ihnen erst mit, sobald wir den Äquator passieren, an den Sie also zuhalten wollen, in kürzester Linie, und dessen Passieren Sie mir rechtzeitig mitteilen wollen.«
»Well, Sir.«
»Danke, Herr Kapitän.«
Mister Carlistle verließ die Kommandobrücke, verschwand wieder im Kajüteneingang.
Wir blickten uns an.
»Was sollte das?« meinte die Patronin.
Ja, da war gar nichts dazu zu meinen.
»Das ist eben so ein Okkultist,« sagte Kapitän Martin, »von dem ist nichts anderes zu erwarten. Durch und durch von Aberglauben verseucht.«
Der Kapitän hatte wohl das Richtige getroffen. Der Geisterseher, wie ich ihn gleich jetzt nennen will, hatte vielleicht so ein prophetisches Punktierbuch befragt, wann er den Anker lichten oder überhaupt aufbrechen solle — 12 Uhr 47 Minuten, hatte er herauspunktiert — und nun mußte diese Zeit eingehalten werden, sonst konnte er sein Glück nicht finden, sonst ging's verkehrt.«
»Na‚ mag der kuriose Kauz seinen Willen haben!« sagten wir alle drei, wenn auch jeder mit anderen Worten.
Es wurde Dampf aufgemacht, Feuer war unter den Kesseln immer gewesen, und bemerke ich noch, daß wir schon gestern noch 800 Tonnen Kohlen eingenommen hatten. Die Mannschaft aß schon eher zu Mittag, da es dann viel zu tun gab. Die Abmeldung bei der Hafenbehörde war bereits geschehen.
»Klar bei den Trossen!« erscholl des Kapitäns Kommando, sobald der große Zeiger der Ortsuhr die 47. Minute nach 12 vollgemacht hatte.
Das Schiff wurde abgesetzt, mit Volldampf ging es zum Hafen und zur Bucht hinaus, der donnernden Pororoca direkt entgegen, die aber solch einem großen Kielschiffe wie dem unseren, nicht viel anhaben konnte, und Kapitän Martin wußte auch ohne Lotsen die gefährlichsten Stellen zu vermeiden, er brauchte sich auch nur nach den kleineren auf Reede verankerten Fahrzeugen zu richten.
Mister Carlistle ließ sich nicht an Deck blicken. Gegen vier Uhr beorderte er eine Mahlzeit, nahm ein kaltes Bad und sprach dann sehr mäßig den vorgesetzten vegetarischen Delikatessen zu. So ließ, sich die Patronin in meiner Gegenwart von Siddy dann berichten, fragte den indischen Steward direkt darüber aus.
»Da wir ihn nicht über so etwas fragen dürfen,« sagte sie zu mir, »wie es ihm schmeckt, ob er nach etwas Besonderem Appetit hat, ob er sich wohl befindet, ob er etwas wünscht, so müssen wir ihn beobachten, um seinen Wünschen entgegenzukommen.«
Als um sechs Uhr die Nacht anbrach, erschien Mister Carlistle an Deck, hatte einen schwarzen, flachen Kasten unterm Arm, man vermutete einen Photographenapparat.
Wir hatten unterdessen, da wir nach Nordosten gehalten, die Strömung des Amazonas schon hinter uns, die See war glatt wie ein Spiegel, und auch sonst eine windstille, herrliche Nacht mit vollem Sternenglanze.
Siddy brachte Mister Carlistle ein Tischchen und einen Stuhl nach.
»Wohin soll ich den Tisch setzen, Sir?«
»Irgend wohin, wo ich nicht im Wege bin.«
Das Tischchen kam vor dem Mittelmast zu stehen, so daß wir es von der Kommandobrücke aus sehen konnten.
Mister Carlistle zog aus der Brusttasche ein zusammengebrochenes, umfangreiches Schreibheft, und dem Kasten entnahm er einen Gegenstand, der einem Spiegel glich. Ich will überhaupt gleich sagen, daß es ein Hohlspiegel war von etwa 30 Zentimeter Durchmesser, wie man ihm zum Rasieren benutzte.
Aber der junge Mann wollte sich nicht rasieren, sondern der »Geisterkieker« verwandelte sich in einen »Sternkieker«. Er beobachtete darin die etwas vergrößert wiedergegebenen Sterne, über sich und an den verschiedensten Stellen des Horizontes, maß mit einem Zirkel ihre Abstände, und dann begann er in dem Hefte mit langen Zahlenreihen zu rechnen, wobei er auch wunderliche Figuren zog, die Felder mit Zahlen ausfüllend.
Also einfach ein Astrolog, der von den Sternen etwas erfahren wollte, aus der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft. Nachdem er sich schon als Okkultist und Theosoph zu erkennen gegeben hatte, war da auch gar nichts mehr Wunderliches dabei.
Die Astrologie, die Sterndeutekunst zu abergläubischen Zwecken, ist die Mutter unserer heutigen wissenschaftlichen Astronomie. Die heutigen Astronomen wären noch nicht so weit, wenn es nicht einst Astrologen gegeben hätte. Und die Entwicklung der Menschheit scheint sich in einem ewigen Kreislaufe zu drehen. Nachdem man die Astrologie einige Jahrhunderte als Aberglaube verlacht hat, beginnt man sie jetzt wieder ernst zu behandeln. Man soll in den Sternen wirklich das Geschick des Menschen und alle zukünftigen Ereignisse der ganzen Weltgeschichte lesen können, wenn man eben darin zu lesen versteht. So behaupten alle die, welche eben daran glauben. Solcher müssen schon gar viele sein, denn in England erscheinen bereits zwei astrologische Wochenblätter, von tüchtigen, sogar berühmten Astronomen, also Männern der wissenschaftlichen Himmelskunde, herausgegeben, und in Amerika zählen solche astronomische Blätter nach Tugenden, auch eine ganz neue astrologische Bibliothek ist schon wieder entstanden, und wie die Astrologie auch in anderen Ländern schon wieder Fuß faßt, das zeigen die Zeitungsannoncen, worin sich Astrologen empfehlen, sie wollen den Menschen aus den Sternen ihr Geschick offenbaren, Vergangenheit und noch mehr Zukunft, und das würden sie doch nicht tun, in immer größerem Maßstabe annoncieren, wenn sie nicht großen Zuspruch hätten.
Hiermit ist das Kapitel über Astrologie schon abgeschlossen. Der Leser wird davon nichts mehr zu hören bekommen. Ich selbst glaube nicht daran, hüte mich aber auch, darüber zu spotten. Ich habe kein Interesse daran, es kümmert mich nicht.
Nun will ich hier auch gleich erledigen, was es mit der Astrologie unseres Chartermeisters, des Mister Reginald Carlistle, für eine Bewandtnis hatte. Es ist auch nur Negatives was ich darüber zu berichten habe.
Der junge Mann ist gar lange Zeit bei uns an Bord gewesen, wenn auch mit Zwischenpausen. Die Argonauten durften ihn als einen der Ihrigen bezeichnen. Aber vertraut wurde er niemals mit uns. Am nahesten kam ich ihm. Die Sterne beobachtete er in seinem ganz primitiven Rasierspiegel jede Nacht, wenn es Sterne zu sehen gab, später schaffte er sich eine Gelegenheit, daß er sie bei schlechtem Wetter auch unter Deck beobachten konnte, durch ein Oberlicht. Er maß also mit einem Zirkel die Abstände verschiedener Sterne, trug Zahlen in die Felder von Figuren ein, rechnete Exempel aus. Er war kein besonderer Mathematiker, konnte nicht einmal mit Logarithmen rechnen, wollte es nicht lernen. Ich habe ihn bei seinen Rechnereien, die sich nur auf die vier Grundspezies erstreckten, vielfach unterstützt, dann später bat er um meine Hilfe. Eingeweiht hat er mich niemals in seine Geheimniskrämerei, und ich habe ihn auch niemals darüber befragt. Mit dem, was er da ausdiftelte, hatte er ja allerdings manchmal ganz wunderbare Erfolge, die an Zauberei zu grenzen schienen. Dann aber hatte er manchmal und ebenso oft gänzliche Mißerfolge, so daß es also doch wohl nur auf einen Zufall hinauslief.
Ich habe am Spieltisch zu Monte Carlo einen Mann gesehen, der ein untrügliches System erfunden haben wollte, wie man unbedingt immer gewinnen mußt. Ich habe gesehen, wie achtundzwanzigmal hintereinander die betreffende Farbe, die er gesetzt hatte, herauskam. Dann setzte er die Null und sie gewann. Dann nach einer längeren Pause besetzte er die Siebzehn, und die Siebzehn kam heraus. Dann setzte er sofort die Sechsunddreißig und sie gewann. Dieser Mann hatte unbedingt das untrügliche System entdeckt!
Alles staunte, war außer sich!
Nur die Spielbankbeamten lächelten.
Und sie lächelten mit Recht.
Am Abend desselben Tages noch hatte der Herr alles verspielt!
Das Glück hatte ihn verlassen. Es war eben nur einmal ein ganz besonderes Glück gewesen. Zufall, weiter nichts!
Seitdem lasse ich mir nicht mehr durch so etwas imponieren. Und wenn hundert Prophezeiungen hintereinander eintreffen — es ist ein Zufall, nichts weiter! Ich wenigstens denke nicht anders, grübele überhaupt nicht weiter darüber nach.
Seit dieser Zeit, gleich vom ersten Abend an, hieß der junge Herr, und das konnte gar nicht anders sein, bei der plattdeutschen Mannschaft natürlich nur noch der Sternkieker, die anderen nannten ihn hochdeutsch den Sternseher, und werde auch ich mich dieser Bezeichnung fernerhin bedienen.
Acht geschlagene Stunden, nämlich von sechs bis zwei Uhr nachts, kiekte der Sternseher in seinen Rasierspiegel, maß mit dem Zirkel und rechnete. Wir waren uns sofort darüber klar, daß wir einen Astrologen vor uns hatten, und, wie die Damen nun einmal sind, besonders die Patronin war natürlich gleich ganz weg, wollte sich mit mir durchaus in ein Gespräch über Astrologie einlassen, ob oder ob nicht. Aber ich war dafür absolut nicht zu haben. Mochte sie auch deswegen etwas mit mir schmollen, das war mir in diesem Fall ganz egal. Was ich nicht weiß macht mich nicht heiß. Bei Kapitän Martin hatte sie natürlich ebenfalls kein Glück. An Doktor Isidor fand sie einen Unterhalter, aber nicht lange, denn dieser Astronom hatte für eine derartige Sternenkunde nur blutige Witze. Dagegen kam sie dann bei Meister Hämmerlein an den Richtigen, der glaubte auch etwas daran. So unterhielten sich die beiden lang und breit über diese Geschichte, ich hörte es mit an, gebe aber davon kein Wörtchen wieder, kann es auch gar nicht, es ging bei mir zu einem Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus, ohne daß ein Wörtchen davon bei mir im Gehirn verblieb.
»Bitte, Herr Kapitän, wie weit sind wir noch vom Äquator entfernt?« rief der Sternenseher punkt Mitternacht zur Kommandobrücke hinauf.
Aller vollen Stunde wurde eine geographische Ortsbestimmung bis zur Sekunde gemacht. Ich bemerke hierzu kurz für diejenigen Leser, denen so etwas außerhalb ihrer Interessensphäre liegt oder die es von der Schule her vergessen haben, daß ein Breitengrad vom anderen 15 geographische Meilen oder rund 111300 Meter entfernt liegt. Der Grad wird in 60 Minuten, die Minute in 60 Sekunden geteilt. Dasselbe gilt für die Längengrade oder Meridiane, nur daß die nach den Polen hin natürlich immer enger zusammenrücken. Nur direkt auf dem Äquator beträgt sein Ortsgrad 1,3 Quadratmeilen, eine Ortssekunde, indem man durchs 3600 dividiert, würde also ein Quadrat von 31 Meter Seitenlänge oder Durchmesser sein. Nach den Polen zu wird natürlich ein immer schmäleres Rechteck daraus, nur die Breite von 31 Meter bleibt immer.
Die geographische Ortsbestimmung nach der Sonne oder noch besser nach verschiedenen Sternbildern unter gleichzeitiger Zuhilfenahme des Mondes bietet auf dem Schiffe bei ruhiger See keine besondere Schwierigkeit, vorausgesetzt freilich, daß die vorzüglichsten astronomischen oder doch nautischen Instrumente in den Händen solcher geschulten Seeoffiziere sind, wie es bei uns der Fall war. Großes Übung gehört dazu. Besonders mein Freund Ernst hatte darin etwas los.
Man kann diese Bestimmung auch bis zur zehntel Sekunde machen, so daß also ein Quadrat oder doch Rechteck von drei Meter größter Breite herauskommt. Das ist aber nur an Land möglich, oder bei ganz, ganz still liegendem Schiffe, und das vermag überhaupt nur der wirkliche Astronom auszuführen.
Denn die Hauptsache bei diesen Ortsbestimmungen ist ja der Chronometer, der dann auch bis zur zehntel Sekunde genau mit der Greenwicher Sternwartenuhr übereinstimmen muß, die täglich bis zur hundertstel Sekunde justiert wird. So genau geht aber kein Schiffschronometer und keine andere durch Feder oder Gewicht getriebene Uhr. Aber der wirkliche Astronom brauchst gar keine Uhr. Unser Doktor Isidor bestimmte die Zeit bis zur zehntel Sekunde ganz genau nach dem Stande der Sterne durch das sogenannte Meridianfernrohr.
Mehr brauche ich hierüber nicht zu sagen, will nur noch erwähnen, daß ich mich in der Astronomie bedeutend weiter ausgebildet hatte, als es für einen Seeoffizier nötig ist, daß ich aber den Beobachtungen und Berechnungen, die Doktor Isidor mit seinem Meridianfernrohr ausführte, wie ein unwissendes Kind gegenüberstand. Sie sind schauerlich, diese Formeln, welche solche exakte Astronomen aufstellen und berechnen.
»Wir haben bei 12 Knoten noch zwei Stunden zu dampfen,« entgegnete Kapitän Martin zurück, »ich werde Sie rechtzeitig darauf aufmerksam machen, wenn wir uns der Linie nähern.«
»Ich werde sie Ihnen bis zu ein fünftel Sekunde oder bis zu sechs Meter genau mit Kreide über Deck ziehen!« setzte Doktor Isidor noch hinzu, und nicht etwa spöttisch.
Halb zwei waren wir noch drei Seemeilen vom Äquator entfernt, die in einer Viertelstunde gemacht werden konnten.
»Der Längengrad spielt keine Rolle?« fragte Kapitän Martin, nachdem er dies dem Sternseher, der nur zehn Schritt von der Kommandobrücke entfernt saß, zugerufen hatte.
»Nein, auf den Längengrad kommt es gar nicht an.«
Die Minuten vergingen, das Schiff fuhr langsamer und langsamer, bis die Schraube ganz stoppte, bis sich das Schiff ganz ausgelaufen hatte, auch noch einen kleinen Schlag rückwärts ging.
Auf der Brücke wurden ununterbrochen Ortsbestimmungen gemacht, Doktor Isidor bewies sich wieder einmal als unübertrefflicher Meister — mußte freilich auch ab und zu seinen Kognak hinter die Binde gießen.
»Jetzt — jetzt —« rief er da, »in diesem Augenblick geht die Äquatorlinie in einer Breite von sechs Metern über Ihren Tisch!«
Der Sterngucker rechnete eifrig noch eine Minute, dann erhob er sich.
»24 Grad 8 Minuten 35 Sekunden nördlicher Breite, 17 Grad 29 Minuten 11 Sekunden östlicher Länge!« sagte er, während er die Treppe zur Kommandobrücke erstieg.
»Dort werden Sie etwas finden?« fing die Patronin gleich an, obgleich ihr das Fragen verboten worden war.
»Ja, ein Wrack in einer von Tauchern leicht erreichbaren Tiefe!« wurde aber Mister Carlistle jetzt gleich mitteilsam.
»Ah! Und was birgt dieses Wrack?«
»Das allerdings weiß ich noch nicht. Aber jedenfalls soll ich in dem Wrack etwas höchst Interessantes, etwas höchst Überraschendes finden.«
»Und das haben Sie in den Sternen gelesen?« wurde die Patronin als Weib natürlich immer gespannter, ganz atemlos.
»Ja und nein. Ursprünglich habe ich es von einem Medium.«
»Von einem spiritistischen Medium?«
»Jawohl, von einem hellsehenden Mädchen, mit dem ich jahrelang experimentiert habe, von dessen Zuverlässigkeit betreffs des Hellsehens ich zahllose Beweise erhalten habe. Leider ist die junge Dame vor einem halben Jahre gestorben.«
»Ah, wie interessant!« begann Helene immer mehr zu himmeln.
»Ja, und daß ich dieses Schiff chartern werde, daß auf diesem Schiffe meine zweite Lebensperiode beginnt, in der ich Wunderbares erleben soll, das hat dieses Medium ebenfalls vorausgesagt, und zwar schon vor zwei Jahren.«
»Ist nicht möglich! Aber da hat die »Argos« doch noch gar nicht existiert!«
So rief die Patronin, aber in einem Tone, der sagte, daß sie gar nicht daran zweifelte, es also für recht wohl möglich hielte.
»So präzis bis zum Schiffsnamen hat sich das Medium allerdings nicht ausgedrückt, immer nur in Andeutungen, in Symbolen, Sie verstehen doch?«
»Jawohl, in Symbolen!« wiederholte Doktor Isidor, wackelte mit den Ohren und schenkte sich ein Glas von der Pfirsichbowile ein, die wir uns hatten bereiten lassen. »Prosit, meine Herrschaften, es leben Sym, Pfirsich- und alle anderen Bowlen.«
»Jedenfalls,« fuhr der Sternseher unbeirrt und ungerührt fort, habe ich mit diesem Schiffe das Richtige gefunden; heute ist der 15. August, an diesem Tage sollte ich direkt auf dem Äquator die astrologische Berechnung machen, selbst das deutete das Medium stark an, daß diese Berechnung in der zweiten Nachtstunde des 15. August stattfinden würde, das ist denn auch geschehen, doch eigentlich ganz ohne mein Zutun, und nun bin ich fest überzeugt, daß ich am 10. September in der zweiten Nachmittagsstunde an der bezeichneten Stelle ein Schiffswrack mit geheimnisvollem Inhalte finden werde.«
»No, Sir,« ließ sich da Kapitän Martin vernehmen, der sich während dieser Zeit mit dem Federmesser ein Stück Kautabak abgeschnitten hatte und es jetzt behaglich in den Mund schob, »Sie werden am 10. September dieses Jahres dort kein Schiffswrack finden.
»Weshalb denn nicht?!« wandte sich Mister Carlistle erstaunt an den Kapitän, und wir anderen staunten ob dieser sicheren Verneinung nicht minder.
»Mit diesem Schiffe wenigstens werden Sie bis zum 10. nächsten Monats nicht hinkommen.«
»Ja warum denn nur nicht?!« sprachen auch wir anderen es jetzt erstaunt aus.
Wir befanden uns jetzt ungefähr auf dem 50. Grad westlicher Länge, auf dem 17. Grad östlicher Länge sollte jener Punkt liegen, das waren etwa tausend geographische Meilen, die kleine Abweichung nach Norden kam dabei gar nicht in Betracht — na‚ und die machten wir doch in den drei Wochen, selbst wenn unser Schiff als Dampfer wie eine Schnecke kroch.
»Sie rechnen doch nach Greenwich?«
»Selbstverständlich, nach Greenwicher Länge.«
»Und auf welchem Längengrade soll der Punkt liegen?«
»Auf dem 17. Grade östlicher Länge.«
»Na‚ dann kommen Sie ganz einfach deshalb nicht bis zum 10. September und auch nicht in vier Wochen hin, weil der 17. Grad östlicher Länge mitten durch Afrika geht, beim 24. Grad nördlicher Breite dürfte das Zentrum der Sahara in Betracht kommen. Wir können ja gleich einmal nachsehen.«
Ich schlug mich gleich direkt vor die Stirn, und Doktor Isidor wackelte diesmal wirklich wie ein Esel mit seinen großen Ohren.
Unsereiner hat doch so viel mit Längen— und Breitengraden zu tun, hat daher das ganze über die Erde gespannte Liniennetz im Kopfe, immer vor Augen. Aber so geht's! Mußte uns das passieren!
Ja selbstverständlich der 17. Grad östlicher Länge tritt bei Tripolis ein und kommt bei Kapstadt wieder heraus, wenigstens so ungefähr, halbiert jedenfalls ganz Afrika der Länge nach in zwei Teile!
Nur Kapitän Martin hatte es sofort erfaßt, wir anderen »Klugen« waren wieder mal hineingefallen.
Der Kapitän war ins Kartenhaus gegangen, wir folgten ihm nach, er beugte sich schon über eine große Karte von Afrika.
»Hier ist der in Frage kommende Punkt!« deutete er mit der Fingerspitze. »Gar so tief liegt er doch nicht, wie ich erst annahm. Der 24. Breitengrad geht noch durch das Reich Tripolis, durch Fessan. Aber immerhin, bis — 783 zum 10. September kommen Sie nicht hin. In 14 Tagen schnellster Fahrt will ich Sie bis nach Tripolis bringen, bis zum Hafen Tripolis. Dann aber müssen Sie sich einer Karawane anschließen, oder wenn Sie selbst auch noch so eilen, in weiteren 14 Tagen machen Sie diese Landtour nicht oder Sie müssen sich eines Luftschiffes oder einer Flugmaschine bedienen.«
Der Herr Sternkieker war natürlich ganz fassungslos, wie er auf die Karte blickte.
»Aber — aber — das Medium sprach doch ganz bestimmt von einem Schiffswrack, das ich dort finden soll?!« brachte er mühsam hervor.
»Well, es ist gerade ein Gebirge, das in Betracht kommt, das Dschofragebirge — da mag es ja einen Gebirgssee geben, der mit Schiffen befahren wird, da mag also auch ein Wrack drinliegen.«
Der Kapitän hatte es ohne jeden Spott gesagt, solcher hatte aber doch in den Worten gelegen.
»Nur bis zum 10. September sind Sie nicht dort,« setzte er noch hinzu, »dafür könnte ich garantieren; denn ich glaube auch nicht, daß Sie mit einem Luftschiff oder einem Aeroplane dorthin gelangen.«
Der Sternkieker blickte auf sein Heft mit den Rechnereien.
»Halt, ich hab's!« jubelte er da plötzlich auf, wie er noch nie gejubelt hatte. »Aaah, da ist mir ein Irrtum untergelaufen — ich habe die Venus als gerade Zahl behandelt — natürlich, natürlich, hier in dieses linke Feld muß sie gesetzt werden — also handelt es sich auch um den 17. Längengrad westlich von Greenwich.«
»Westlich von Greenwich?« wiederholte der Kapitän. »Ja, Herr, das ist allerdings etwas anderes. Aber — warten Sie mal — ja, dort könnte allerdings eher das Wrack eines Seeschiffes liegen — aber tauchen können Sie auch nicht hinab.«
»Weshalb nicht?«
»Na sehen Sie doch her. Der bezeichnete Punkt liegt direkt hinter Kap Bojador. Also immer noch auf dem Lande, aber dort ist schon Düne, die mächtigste Düne der Erde. In diesem Dünensande kann ein altes Wrack vergraben liegen, das stimmt allerdings, und dort können Sie auch am 10. September sein.«
Der Irrtum war also beseitigt, und es kam auch kein anderer vor.
Hierbei sieht man aber auch, wie es mit solchen astrologischen Berechnungen beschaffen ist. Der junge Mann hatte einen Stern in ein verkehrtes Figurenfeld eingetragen, das brachte gleich einen Unterschied von zirka 600 geographischen Meilen hervor.
Freilich sollte man darüber nicht spotten. Einem wissenschaftlichen Astronomen kann doch dasselbe durch die falsche Stellung eines Kommas passieren.
»Frau Patronin,« wandte sich der Sternseher wieder an diese, »werden Sie mich auf Ihrem Schiffe nach Kap Bojador bringen?«
Na und ob Helene wollte!
»Es kann ja nicht weit von dort nach dem betreffenden Punkte sein, vielleicht nur ein Tagesmarsch — werden Sie Ihre Leute an der Ausgrabung des Wracks aus dem Sande teilnehmen lassen?«
Na und ob Helene wollte!
Allerdings hatte sie da nicht allein zu bestimmen, nichts zu befehlen.
Matrosen und Heizer sind durchaus nicht verpflichtet, einen Tagesmarsch von der Küste entfernt im Sande zu paddeln.
Aber selbstverständlich machten wir da alle mit. Und das Sandschaufeln hatten wir ja nun schon gelernt, hatten auch genug Schaufeln an Bord, im brasilianischen Urwald selbst gefertigt.
»Ja, wie ist es nur möglich, daß ein Medium so etwas bestimmen kann?!«
Der Sternkieker war bereit, nähere Auskunft zu geben, und jetzt fing zwischen dem und der Patronin die Geisterseherei erst richtig an, während ich es vorzog, mich in meine Klappe zu legen, an Bord Koje genannt.
30. KAPITEL. DAS ERSTE MENSCHENLEBEN, DAS ICH MIT ABSICHT VERNICHTE.
Am 28. August sichteten wir die Küste Afrikas.
Dreizehn Tage hatten wir gebraucht, weil wir meistenteils gesegelt waren.
Während dieser Zeit hatten wir einen viertägigen, sehr schweren Sturm durchgemacht den jeder brave Kapitän eines Passagierdampfers ganz sicher seinen Kajütsgästen als den »fürchterlichsten Sturm, den ich je erlebt habe«, bezeichnet hätte. Denn zu dieser Behauptung ist jeder Passagierkapitän geradezu verpflichtet.
Aber tatsächlich, es war ein sehr schwerer Sturm gewesen, den wir überstanden hatten. Der erste in den nunmehr acht Monaten war es freilich nicht gewesen. Wir hatten doch nicht etwa immer schönes Wetter gehabt. Aber ich habe von solch einem Sturme noch nie gesprochen, werde es auch nie tun, es sei denn, es passiere etwas Besonderes dabei. Solch einen Sturm auf dem Meere kann man überhaupt gar nicht beschreiben, ich wenigstens verzichte darauf. Häuserhohe Wellen, von denen immer gefabelt wird, gibt es gar nicht — oder es sind dabei einstöckige Häuserchen gemeint — hingegen kann man sich von der furchtbaren Gewalt der Wogen gar keine Vorstellung machen, nicht, wie furchtbar so ein Schiff bockt — das kann man alles nur erleben.
Der Sternkieker war uns während dieser dreizehn Tage durchaus nicht näher gekommen.
Als ein wahres Glück empfand ich, daß die Patronin gleich am zweiten Tage von seinen theosophischen und spiritistischen Theorien die Nase voll bekommen hatte.
»Mir tut der Kopf weh, ich mag gar nichts mehr davon hören!« sagte sie im Vertrauen zu mir. »Und wenn er dort auch im Sande das Wrack findet, und wenn er noch ein Dutzend solcher Bestimmungen macht, die sich als Prophezeiungen bewahrheiten — ich will es höchst interessant finden, ich will immer mitmachen, so lange es mir gefällt — aber an solches Geisterzeug glaube ich nicht, meinen Kopf lasse ich mir nicht verwirren, daß ich so schrecklich davon träume, wie es vorige Nacht der Fall war.«
Na Gott sei Dank! Helene hatte eben eine viel zu gesunde Natur, als daß sie sich auf so etwas einließ. Sie hatte andere Ideale. Aber ich atmete doch erleichtert auf.
Hingegen mußte man dem Stern— und Geisterkieker auch die Ehre geben, daß er seine Theorien durchaus niemandem aufdrängte, was ja sonst bei solchen Geistern, wozu auch die Vegetarier und Temperenzler gehören, gewöhnlich der Fall ist. Wenn er nicht gefragt wurde, fing er von allein auch nicht davon an, und gefragt durfte er ja auch eigentlich gar nicht werden.
Dagegen durfte er selbst fragen, und das tat er denn auch reichlich, hatte dazu besonders mich ausersehen. Aber das waren nur Fragen betreffs unseres Schiffes und der Mannschaft.
Ich gab ihm willig über alles Auskunft, ließ ihn unseren Übungen zuschauen, auch wenn diese mit Bleigewichten ausgeführt wurden, ohne ihm sein Ehrenwort abzunehmen, nichts davon zu verraten, wenn ich ihm auch sagte, daß dies unser Geheimnis sei, und vorläufig bleiben möchte. Genau so hatte ich es auch mit dem Prospektador gehalten. Ich gebe in solchen Sachen nicht viel auf Schwüre und Ehrenworte. Wer da etwas verraten will, der tut es doch — und weiß sich hinterher auszureden, den Unschuldigen zu spielen.
Es kamen einige Zwischenfälle vor, die ich erwähnen muß.
Ganz außer sich wurde Mister Carlistle, als er zum ersten Male auf hoher See die Orgel spielen hörte. Er hatte sich doch schon vorher genug um unser Schiff gekümmert, hatte aber gar keine Ahnung von dieser Orgel gehabt. Und vollends überwältigt wurde er dann von unserem Oratorium zu.
Die nächste Folge war, daß er zur Patronin ging und ihr das ganze Schiff gleich abkaufen wollte.
»Fordern Sie dafür, was Sie wollen! Dieses Schiff muß unbedingt mir gehören!«
Helene wußte ihm eine sehr hübsche, originelle Antwort zu geben.
Sie fragte telephonisch die Kommandobrücke an, auf welchem Längengrade sich das Schiff gegenwärtig befände.
Ungefähr auf dem 40.
»Wohl, und jetzt ist es nach Ortszeit zwei Uhr nachmittags. In Greenwich ist es aber erst 40 Minuten vor 12 Uhr mittags. Mister Carlistle — zwei Uhr 40 Minuten, sobald es in Greenwich Mittag ist, kündige ich Ihnen den Charterkontrakt — wenn Sie noch ein einziges Mal mir solch einen Vorschlag machen!«
Da war er stumm.
»Nein, das Schiff ist mir unverkäuflich,« fuhr Helene dann sanfter fort, »unverkäuflich, auch für hundert Millionen Dollars. Und was wollen Sie denn überhaupt? Kann ich Ihnen denn etwa auch die Mannschaft mitverkaufen? Sind denn das etwa meine Sklaven, selbst der Seele nach? Sie würden doch nur ein totes Schiff kaufen, doch niemals die »Argos« mit den Argonauten.«
Er stellte niemals wieder solch einen Antrag.
Bald daran kam Ernst zu mir, suchte mich als Freund auf.
»Sieh mal, Georg, hier hat mir der Geisterkieker einen Scheck ausgeschrieben, nur die Summe nicht ausgefüllt, das soll ich selber tun, und dann das Geld unter die Leute verteilen. Wenn wir nun jetzt ein paar Millionen hineinschreiben?«
Ich nahm den Scheck und ließ sofort alle Mann antreten.
»So und so. Nehmt Ihr das an? Haltet eine Beratung ab, der ich nicht beiwohnen will.«
Schon nach fünf Minuten wurde ich wieder gerufen.
»Nein, wir lassen uns nicht kaufen, wollen von dem und von keinem anderen etwas geschenkt haben, keinen Cent.«
Diesen Bescheid brachte ich ihm mit dem Scheck.
»Machen Sie so etwas nicht wieder, bitte.«
»Verzeihen Sie, es war nicht böse gemeint!« murmelte er gedrückt. Am 28. August also sichteten wir die Küste von Afrika, und zwar die Strecke zwischen Kap Bojador und Kap Blanco, die allerdings 700 Kilometer lang ist.
Diese ganze Küstenstrecke zeigt die gewaltigste Dünenbildung der Erde. Hier tobt sich die Kraft des Atlantischen Ozeans am stärksten aus, bei Ebbe tritt das Meer auf dem ganz ebenen Strande meilenweit zurück, der feine Sand trocknet schnell, der meist herrschende Westwind, oft genug zum Sturm ausartend, treibt den Sand vor sich her, häuft ihn zur Düne an, bis zu einer Höhe von 200 Metern!
Freilich ist davon vom Meere aus nichts zu bemerken. Man sieht nur eine ebene Sandfläche, bei Ebbe also meilenlang, bei Flut immer noch kilometerbreit, die Küste erscheint immer noch ganz niedrig, weil das Aufsteigen eben ganz, ganz sanft erfolgt. Die Dünenbildung bemerkt man erst von der Landseite aus. Da erhebt sich die Sandkette plötzlich 200 Meter hoch und noch höher, indem dort hinten der Boden zum Teil noch tiefer liegt als das Meeresniveau.
O, was mögen in diesem Sande, ob er nun noch von Wasser bedeckt ist oder zeitweilig wird oder nicht, für Wracks vergraben liegen!
Denn jedes Schiff, das zwischen dem 2. und 20. nördlichen Breitengrade bei dem meist herrschenden Westwinde ruderlos wird, muß hier antreiben, und wie viele Segelschiffe mögen bei voller Manöverierfähigkeit nicht gegen den Weststurm ankommen können! Sie geraten auf Sand, an ein Wiederfreikommen ist gar nicht zu denken und wenige Tage später ist von dem ganzen Schiffe keine Spur mehr zu sehen. Nur ein kleiner Leichenhügel wölbt sich darüber.
Denn nicht etwa daß das Wrack einsinkt, sondern der trockene Flugsand deckt es zu, das Hindernis gibt Veranlassung zur Bildung einer neuen Düne, deren Höhe aber auf der unendlichen Fläche gar nicht ins Auge fällt.
Nun läßt sich denken, wie diese Küste von den Schiffern gemieden wird. Es ist ja dort auch absolut nichts zu holen.
Das Gebiet zwischen Kap Bojador und Blanco, sich noch 500 Kilometer ins Innere erstreckend, bildet die spanische Kolonie Rio de Oro. Das heißt Goldfluß. Aber weder von einem Flusse, noch von Gold ist etwas zu bemerken. Dieser Name kommt auch von so einer Sage, wie das Dorado in Südamerika.
Spanien machte früher Ansprüche auf die ganze Sahara. Im Jahre 1887 trat es seine vermeintlichen Rechte gegen ein Butterbrot an Frankreich ab, wollte aber doch noch ein Stück Land als Eigentum wahren.
Es erhielt das Gebiet von Rio de Oro, 185 000 Quadratkilometer, mit dem einzigen Hafen an dieser Küste.
Das arme Spanien muß ganz und gar von Gott verlassen gewesen sein, daß es sich von Frankreich so schmählich übers Ohr hat hauen lassen!
Die dahinter liegenden Gebiete von Adrar, Tmarr und Igidi sind gar nicht so schlecht. Wohl ist auch dort alles Wüste, aber mit großen, herrlichen Oasen darin! Mit blühenden Städten von mehr als 10 000 Einwohnern Fleisch, Getreide und Früchte in Hülle und Fülle. Während im ganzen Gebiete von Rio de Oro vielleicht nicht ein einziger Grashalm gedeiht.
Nur daß es an der Küste einen Hafen hat. Das heißt eine Bucht, die einzige an der ganzen Küste, in die auch größere Schiffe ohne besondere Gefahr einlaufen können.
So legten die Spanier hier eine Kolonie an, bauten ein Fort, steckten 80 Soldaten hinein, wozu noch 50 eingeborene Arbeiter und Diener kamen. Also zusammen 130 Mann. Wir zählten genau 132. Nur Männer.
Diese »Stadt« heißt ebenfalls Rio de Oro. Ich werde sie fernerhin zum Unterschied zum ganzen Lande nur Oro nennen.
Nun liegen die 130 Mann hier im Sonnenbrande, brauchen Kohlen wie das tägliche Brot, um aus Seewasser trinkbares zu destillieren, und spinnen Trübsal. Ihr einziger Dienst besteht darin, daß sie das Feuer eines Leuchtturms unterhalten, welche Verpflichtung die Franzosen ihnen auch noch aufgehalst haben.
Wahrscheinlich oder sogar ganz sicher, haben die Spanier gehofft, den Handel aus den benachbarten Oasen über diesen Hafen zu leiten. Die Franzosen haben ihnen natürlich ein Schinippchen geschlagen. Die Waren gehen nach wie vor auf den alten Karawanenwegen durch französisches Gebiet nach Algier, jetzt wird bereits eine Eisenbahn durch die Wüste gebaut.
Wir hatten direkt auf Oro zugehalten. Schon befanden wir uns in einer weiten Bucht, ringsum von Sandwällen umgeben, vor uns erstreckte sich, obgleich Hochflut war, noch eine Sandstrecke von vier Kilometer Breite, dann sahen wir an der eigentlichen Küste einen Häuserbau, und bis dorthin war die Sandfläche kreuz und quer mit Wasserkanälen durchzogen.
Jedenfalls — oder es kann überhaupt gar nicht anders sein — ist der ursprünglich felsige Meeresgrund hier mit tiefen Spalten durchzogen, in die der Sand hineinpurzelt, so daß also immer freies Wasser bleibt. Bis sich auch diese unterseeischen Gebirgsschluchten und —Spalten einmal mit Sand ausgefüllt haben. Vielleicht aber gibt es dann schon keine Menschen mehr auf diesem Planeten.
An ein selbständiges Befahren dieser Wasserpassagen war nicht zu denken. Es war früh gegen neun Uhr, als wir die Lotsenflagge hißten. Sofort löste sich dort von dem Häusergerümpel ein kleines Dampfboot ab, näherte sich uns im Zickzack, manchmal auch die weitesten Bogen beschreibend, hatte uns erst in einer Stunde erreicht.
Es war ein arabischer Lotse mit arabischer Mannschaft zur Bedienung des kleinen Dampfers, die vier spanischen Offiziere gingen nur als Passagiere mit.
Der Hafen von Oro ist frei, also jedes Schiff kann ihn anlaufen, ohne besondere Erlaubnis, die Herren durften höchstens im Vertrauen fragen, was wir hier wollten. Nun eben eine Privatjacht, die einmal dieses weltverlassene Nest an der Westküste Afrikas besuchen wollte.
Also die vier Offiziere waren nur mitgekommen, um wieder einmal andere Menschen zu sehen; denn es war ja noch gar nicht gesagt, daß wir auch wirklich in den Hafen einlaufen wollten. Ach, wie die sich freuten, daß es Tatsache sein sollte! Aller zwei Monate kam ein spanisches Kriegsschiff an, so elend als möglich, das der Garnison Lebensmittel und Kohlen brachte — letztere also zur Destillation des Trinkwassers — und was sie sonst noch in ihrer Einsamkeit brauchten. Andere Schiffe waren hier ganz unbekannt. Und das Kriegsschiff war vor einem Monat hier gewesen, so daß man sich jetzt gerade in der Mitte dieser Periode befand.
Die Garnison bestand aus dem Kommandanten, sechs Offizieren, 14 Unteroffizieren und 59 Soldaten, von denen einer eine Fahne zu tragen hatte, sieben andere Flöten, Trompeten und Trommeln spielen mußten. Am liebsten wäre ja auch der Kommandant gleich mitgekommem aber das verbot ihm doch seine Ehre, seine Würde, seine Verantwortung, und die zwei anderen Offiziere waren durch Dienst gebunden, wenn der auch nur im Reglement stand. Die vier freien Offiziere hatten also das Lotsenboot benutzt, nur um einmal andere Menschen zu sehen, falls wir doch nicht den Hafen angelaufen hätten. Zur Feier dieses Besuchs und Empfangs hatten sie sämtliche Orden und Ehrenzeichen angelegt, und nicht zu knapp, selbst der jüngste Leutnant, den ich stark im Verdacht hatte, daß er seinen Degen nicht mehr aus der Scheide ziehen konnte, weil er eingerostet war, denn es starrte alles vor Rost, hatte seine Heldenbrust mit wenigstens zwei Dutzend Orden gepanzert, und obgleich sie weiße, aber sehr schmutzige Tropenuniformen trugen, hatten sie doch vorn und hinten goldene oder vergoldete oder blankgeputzte Messingknöpfe reichlich daraufgenäht.
Das ist nun einmal spanisch. Der Gehalt, den sie bekommen, ist ja furchtbar kläglich — so werden sie mit Titeln und Orden entschädigt. Es braucht ja nicht alles Gold zu sein, was glänzt, und geschliffenes Glas funkelt auch.
Bei dieser Gelegenheit, bei der ersten Begrüßung, ereignete sich ein sehr trauriger Fall, der aber an Bord unseres Schiffes schon eine längere Einleitung gehabt hatte, jetzt machte er sich in seiner ganzen Schwere fühlbar, und ich bedaure fast, daß er trotzdem einer guten Portion Humors nicht entbehrte.
Der Matrose Albrecht — nicht zu verwechseln mit dem sangeskundigen Albert — hatte schon während dieser ganzen Reise Spuren von Geistesstörung gezeigt. Vielleicht hatte es auch schon auf der Sandbank im brasilianischen Urwald angefangen, wir hatten nur nicht darauf geachtet, uns damals nichts weiter dabei gedacht.
Daß Matrosen, besonders auf Kriegsschiffen, immer ein Stück Putzwolle in der Tasche haben und mit diesem bei jeder Gelegenheit über das Messing auf ihrer Putzstation fahren, habe ich ja schon erwähnt. Das kann leicht zur Leidenschaft werden, besonders in den Tropen. Es hängt mit dem bekannten und doch so rätselhaften Tropenkoller zusammen. Wenn in diesen heißen Gegenden besonders infolge von Überanstrengung im Gehirn solch eines Matrosen eine Schraube locker wird, so kann man sicher sein, daß er zuerst von der Putzmanie befallen wird. Er will immer putzen, putzen, putzen. In den gemäßigten Breiten, wenn es wieder kühler wird, verschwindet das fast immer wieder von selbst.
So war es auch mit unserem Albrecht. Der fing mit einem Male zu putzen an, auch was er nicht nötig hatte, konnte sich von dem Messing gar nicht wieder trennen, mußte zehnmal zum Essen gerufen werden, von den gemeinschaftlichen Sportübungen schlich er sich fort, um sein geliebtes Messing mit Putzpomade einzusalben und darauf herumzureiben.
Na‚ schlimm war es nicht. Sonst ging er seiner Arbeit nach, stand ganz vernünftig Rede und Antwort. Er durfte sich an keinen anstrengenden Arbeiten und Übungen mehr beteiligen, mußte vor allen Dingen der heißen Sonne aus dem Wege gehen, bekam eine besondere, leichte Diät. Dem allen fügte er sich ganz willig, wenn er nur sonst nach Herzenslust Messing putzen durfte.
Aber Doktor Isidor hatte sicher ganz recht, wenn er gerade diese Willigkeit, mit der er sich den ärztlichen Vorschriften fügte, für ein sehr böses Zeichen hielt. Der Mann war sich eben bewußt, daß bei ihm etwas im Kopfe nicht in Ordnung war, wollte geheilt sein, und er putzte dennoch weiter. Infolgedessen wurde er immer melancholischer.
Als nun die vier spanischen Offiziere noch an Deck standen, die erste zeremonielle Begrüßung erfolgte, putzte Albrecht gerade wieder das Messinggeländer der Kommandotreppe.
Mit einem Male kommt er herangeschlichen — schleicht wirklich auf den Zehenspitzen — in der linken Hand die offene Schachtel mit Putzpomade, in der rechten Hand den Lederlappen, taucht ihn in die Pomade und — — fängt der Kerl an, dem einen Offizier hinten am Rocke die goldenen Knöpfe zu putzen! Ganz heimlich, ganz vorsichtig, und dabei mit einem überaus zufriedenen und doch so pfiffigen Gesicht!
Noch stehe und starre ich — denn jetzt sehe ich doch den hellen Wahnsinn hervorbrechen — der Offizier merkt natürlich die Putzerei hinten an seinem Waffenrocke, er dreht sich schnell um — recht so, das kommt meinem Albrecht gerade gelegen, er spuckt kräftig auf einen der blitzenden Orden an der Heldenbrust, schmiert einen tüchtigen Flatschen Pomade nach und fängt an zu putzen.
Da merkten auch alle anderen, was mit dem armen Kerl los war.
»Albrecht ist toll geworden!«
Einige Matrosen sprangen herbei und wollten ihn fortziehen.
Da aber brach der Wahnsinn völlig los.
»Laßt mich, ich muß doch die Orden putzen —«
Mit diesen Worten riß er sich los, stürzte auf einen andern Offizier zu, klatschte dem gleich die ganze Pomadenschachtel gegen die Heldenbrust und begann sämtliche Orden gleichzeitig abzureiben.
Vier starke Matrosen gehörten dazu, um ihn zu überwältigen. So wurde er fortgeschleppt, unter Deck.
Und nun dieses schreckliche, jammernde Zetergeschrei!
»Laßt mich doch putzen, laßt mich doch putzen!«
Er wurde in eine leere Kammer gesperrt, sollte erst festgebunden werden, da er doch offenbar einen Tobsuchtsanfall hatte, aber es war nicht nötig, er brauchte nur eine blinde Messingstange zu bekommen, so putzte er leidenschaftlich mit zufriedenem Gesicht.
Ich will gleich erledigen, was noch daraus geworden ist. Unheilbar geistesgestört, die Putzmanie blieb für immer, auch wenn wir später die Polargegenden aufsuchten. Zweimal versuchten wir, ihn in einer Irrenanstalt und in einer Privatklinik unterzubringen, das waren wir unserem Gewissen schuldig, aber sobald er von Bord kam oder nur merkte, daß er das Schiff verlassen sollte, fing er wie ein Kind zu weinen an.
Nun gut, so blieb er eben an Bord. Da konnte er Putzen nach Herzenslust. Und er tat nichts weiter mehr als Messing und Kupfer putzen. Das war sein Lebensglück, und was kann denn der Mensch mehr verlangen, als sein Glück zu finden. Und den anderen konnte es nur recht sein. Die brauchten an und unter Deck nichts mehr zu putzen. Und trotzdem glänzte und gleißte auf unserem Schiffe immer alles, was nur irgendwie blank zu putzen war. -
Die Offiziere wurden aufgeklärt und um Entschuldigung gebeten. Der eine freilich sah ja schön aus, die ganze Brust voll brauner Putzpomade. Es hatte nicht viel zu sagen. Er mußte seinen Waffenrock ausziehen, meine Jungen nahmen ihn in Arbeit, trennten die Knöpfe und Litzen ab, wuschen ihn, und als wir nach einer Stunde in dem kleinen, aber vortrefflichen Hafen einliefen, stolzierte der Offizier wieder in einem schneeweißen Kittel herum, der sogar von den schmutziggrauen Hosen recht seltsam abstach, und seine Orden funkelten und strahlten großartiger denn zuvor, was auch seinen besonderen Grund hatte.
»Albrecht hädd sie doch noch putzt!« flüsterte mir ein Matrose im Vorbeigehen listig zu.
Ich schildere das Fort nicht weiter, und wie wir darin empfangen wurden. Jedenfalls mit spanischer Gastfreiheit und überhaupt wie von Leuten, die in ihrer Einsamkeit glücklich sind, einmal andere Menschen bewirten zu können.
Über das kärgliche Mittagsessen will ich nicht spotten, sie setzten uns das Beste vor, was sie hatten. Wir würden uns mit einer Abendmahlzeit an Bord revanchieren, die ganze Besatzung und Einwohnerschaft sollte von unserer Hülle und Fülle genießen, so lange wir hier lagen.
Auch in diese verlassene Station hatte sich schon die Kunde von dem Argonautenschiffe verirrt — es kamen doch Zeitungen her, wenn auch nur aller zwei Monate das gab ja Stoff zur Unterhaltung genug, aber wegen des Zweckes unseres Hierseins wurden wir weder von dem liebenswürdigen Kommandanten, noch von den Offizieren mit einem Wörtchen befragt, das verbot der spanische Anstand.
Leider ließ ich mich nach dem Mittagsessen verleiten, das freundliche Angebot des Kommandanten anzunehmen, meine Siesta in einem seiner Zimmer auf dem Sofa abzuhalten.
Legionen von heißhungrigen Flöhen stürzten sich über mich her.
Und da hatte dieser Kerl, dieser liebenswürdige spanische Festungskommandant, auch noch die Unverschämtheit gehabt, mich einmal im Vertrauen zu fragen, ob wir denn bei den vielen Tieren an Bord nicht recht unter Flöhen zu leiden hätten!
Nein, das hatten wir ganz und gar nicht. Unser Schiff war immer gänzlich flohrein.
Das ist ja auch so ein Ideal, was überhaupt nur an Bord eines Schiffes zu erreichen ist.
Säugetiere sind doch an Land niemals ganz flohrein zu halten, nicht der ästhetische Mops im Damenboudoir, einmal muß er doch auf die Straße, da erwischt er schon seinen Floh, auch im Garten, da sorgen wieder die Vögel dafür, bei Nacht die Fledermäuse, und auch auf der einsamsten Insel würde das Hausgeflügel das Ungeziefer wieder von anderen Vögeln bekommen.
Nur auf einem Schiffe ist solch eine Reinhaltung möglich. Das muß einmal erwähnt werden, und ich tu es mit Vorliebe, weil das Schiff eben mein Ideal ist, das ich verherrlichen möchte.
Wenn wir einen Hafen verließen, die Tiere brauchten gar nicht an Land gewesen zu sein, die Tauben waren eingesperrt gehalten worden, so zeigten sich ja stets einige Flöhe. Alle diese Hunde und Katzen und sonstigen Kreaturen waren dafür schon so empfindlich geworden, daß man es durch ihr Kratzen sofort merkte. Dann ging sofort die allgemeine Jagd los, unter der Leitung des jagdkundigen Juba Riata, der als ehemaliger Tierbändiger darin doch schon große Erfahrung hatte, und Doktor Isidor hatte diese Sache von jeher schon wissenschaftlich studiert und praktisch betrieben. Nach 24 Stunden war an Bord unseres Schiffes kein Floh mehr vorhanden, und kein fremder konnte mehr herankommen.
Hier aber durfte unsere Menagerie nicht an Land, so große Sehnsucht alle Tiere auch hatten. Das hätte ja sonst einen schönen Kampf gegeben. Ganz frei blieben sie ja doch nicht, dafür sorgten schon wir Menschen als Zwischenträger.
Ich mußte dies einmal erwähnen. Wer nicht in den Tropen gewesen ist, der hat ja gar keine Ahnung von dieser schrecklichen Schmarotzerplage. In den besseren Hotels jener Gegenden bezahlt man nicht umsonst solche enorme Zimmerpreis. Die Konkurrenz würde bald billigere Preise schaffen; aber es ist gar nicht möglich, nur wegen der Flöhe und Wanzen nicht. Alle Polstermöbel müssen ständig mit scharfen Pulvern und Laugen behandelt werden, Teppiche werden gleich ausgekocht, da hält das Zeug natürlich nicht lange, es muß immer wieder durch neue Sachen ersetzt werden, und das ist es, was diese Hotelzimmer so furchtbar teuer macht! Das wissen nämlich die wenigsten der Hotelgäste. Sie sollen aber nur einmal etwa in Kairo in einem Zimmer schlafen, dessen Einrichtung seit drei Tagen nicht mit scharfer Lauge behandelt worden ist. Es ist im Bett gar nicht auszuhalten.
Es war gegen vier Uhr, als ich mich von dem beißenden Sofa verabschiedete. Ich befand mich in der zweiten Etage, und wie ich zum Fenster hinabblickte, sah ich unten im Forthof die Patronin mit Doktor Isidor im Gespräch mit einem Offizier stehen.
Die beiden waren klüger gewesen als ich, sie hatten wie der Kapitän ihre Siesta an Bord abgehalten; nur ich hatte mich von dem Kommandanten verleiten lassen, im Fort zu bleiben.
So war die Patronin also schon wieder zurück. Ich verließ mein Zimmer, fand auf dem Korridor nicht gleich die Treppe. Eine Tür führte mich auf einen Balkon, einen Altan mit hoher Brustwehr.
Auch hier war ein kleiner Hof, nur ein Winkel die Mauern hatten hier heraus keine Fenster, wohl nur dieser Altan war vorhanden.
»Tante, Tante!l« erklang es da im jammerndsten Tone.
Unsere Ilse!
Ich beuge mich erschrocken über die Brüstung, da sehe ich dort unten unsere Ilse, die sich gegen einen Mann in arabischer Kleidung wehrt, aber sich natürlich nicht viel wehren kann.
Das Kind hatte auf eigene Faust eine Entdeckungsexkursion in der Umgebung des Forts gemacht, war von einem arabischen Diener oder Arbeiter — einem noch jungen Burschen — hier in diesen Winkel gelockt worden.
Im nächsten Moment stand ich auf der Brustwehr und jumpte hinab, ohne mir erst Rechenschaft darüber zu geben, ob ich mich parterre oder in der dritten Etage befand.
Es war also das zweite Stockwerk, ein höheres gab es überhaupt gar nicht, die Höhe von der Brustwehr bis zum Boden betrug — wie dann später gemessen wurde — genau neun Meter.
Glücklicherweise war es feiner, tiefer Sand, in den sich meine Füße gruben, sonst hätte mir ja etwas anderes passieren können.
Freilich sackte ich tüchtig zusammen, sonst aber auch weiter nichts.
In solchen Momenten funktioniert das Gehirn ganz anders, als bei normalen Verhältnissen, vor allen Dingen scheint sich die Zeit viel länger auszudehnen.
Vielleicht drei Sekunden nur mag ich zusammengebrochen am Boden gelegen haben, aber in diesen drei Sekunden sah ich ganz deutlich, wie Helene aus einer kleinen Tür trat, verwundert, das Kind hier zu finden, und mich daneben am Boden liegend. Gleichzeitig aber, und das war mir die Hauptsache, sah ich auch den Araber auf der anderen Seite durch einen Durchgang schlüpfen.
Und da war ich auch schon hinter ihm her.
Jenseits des Durchgangstunnels war die Fortmauer, umgeben vom Wüstensand.
Erst wollte er um die Mauer herum, besann sich, schlug einen Haken, setzte seine Flucht nach Osten fort, ich ihm nach, etwa fünfzig Meter hinter ihm.
Er trug kurze weiße Jacke und Pumphose und war barfuß. Ich trug Tropenanzug und Segeltuchschuhe. Den weißen Helm hatte ich verloren. Als einzige Waffe hatte ich einen schweren Nickfänger mit fünfzölliger Klinge bei mir.
Er blickte sich zum zweiten Male um und verdoppelte dann seinen Lauf.
Und da bemerkte ich, daß mir alles Training mit Bleigewichten nichts genützt hatte, nicht für diesen Fall. Der Araber war schneller als ich, die Entfernung zwischen uns vergrößerte sich, obgleich ich in dieser ersten Minute meine ganze Schnelligkeit aufgeboten hatte.
Da aber überkam mich etwas.
»Dich muß ich haben!«
Nur mit diesen vier Worten kann ich ausdrücken, was mich überkam. Ich bin nicht sehr für Rache.
Ich kann einem Feinde verzeihen. Lieben kann ich ihn nicht, aber verzeihen kann ich ihm.
Wenn ich bei passender Gelegenheit jemanden, der mich anrempelt oder anrüpelt, eine hineinhaue, so ist das etwas ganz anderes.
Aber das Gefühl des Hasses, der Rachsucht ist mir fremd.
Mich hat einmal ein Mann sehr beleidigt, fürchterlich beleidigt, gekränkt, mir das bitterste Weh zugefügt, mit dem ich jahrelang ringen mußte. Ich hätte den Mann vernichten können, durch richterlichen Spruch, aber ich tat es nicht, weil mir seine Familie leid tat. Als dieser Mann dann ins Elend kam, da habe ich seiner Familie geholfen, obgleich ich sonst gar keinen Grund dazu hatte. Ich tat's, eben weil es mein Feind gewesen war, der mir unschuldig das bitterste Weh zugefügt hatte!
Das darf ich hier berichten; denn von einem besonderen Edelmut ist da gar keine Rede. Wäre das der Fall, dann allerdings dürfte ich's nicht erzählen oder ich wäre ein heuchlerischer Lump. Ich tat's, weil ich nicht anders konnte; ich bin eben ein guter Kerl. Das darf ich ungeniert sagen: aber von einer besonderen Tugend ist da gar keine Rede, ebensowenig aber darf man auch an eine Schwäche glauben.
Nein, Rache kenne ich nicht.
Aber hier lag etwas ganz anderes vor.
»Warte nur, mein Junge, Dich kriege ich — Dich Buben soll die Sonne nicht lange mehr bescheinen!«
Es brauchte kein Ausrufungszeichen dahinter.
Ganz gelassen sprach ich es zu mir, und sprach es fort und fort.
Und so ballte ich die Fäuste, stemmte die Ellenbogen in die Hüften und fiel aus dem schnellsten Rennen in einen gemäßigten, aber immer noch schnell fördernden Dauerlauf.
Schnell vergrößerte sich die Entfernung zwischen uns. Zum vierten Male blickte der vor mir dahinrasende Araber, dem ich nicht folgen konnte, und fiel ebenfalls in einen Hundetrab.
Ha, ich ihm nicht folgen können!
Aber immer, glaube es nur.
Du oder ich!
Doch nein, gar kein oder.
Nur Du, nur Du!!
Ich will ihn kurz schildern, diesen Dauerlauf um Leben und Tod durch die Wüste, welcher — vier Stunden währte!
Vier ganze Stunden und vielleicht noch zehn Minuten dazu!
Ziemlich genau um vier Uhr muß es gewesen sein, als ich von der Brüstung herabsprang.
Als die Sonne unter dem Horizont verschwand, nach kurzer Dämmerung sternfunkelnd die Nacht anbrach, hatten wir einen kleinen See erreicht.
Die Sonne sank in dieser Gegend am heutigen Datum nach Ortszeit 6 Uhr 42 Minuten unter den Horizont, bis zur letzten Scheibe.
Dieser Wüstensand war vom Fort Rio de Oro aus, wie später berechnet wurde, genau 62,57 Kilometer entfernt, in der Luftlinie.
Der Weltrekord des sogenannten Marathon betrug 40 Kilometer, steht heute auf 2 Stunden 36 Sekunden, aufgestellt in Stockholm von dem englischen Südafrikaner Mac Arthur.
Ich habe damals an der Westküste der Sahara diesen Weltrekord noch weit, weit übertroffen; denn wir werden doch nicht immer die direkte Luftlinie gerannt sein.
Und jenem arabischen Jüngling gebührt ebenfalls die Ehre, diesen Weltrekord schon früher übertroffen zu haben.
Aber wir haben damals keine Zeugen und keine Schiedsrichter mit Stechuhren gehabt, unser MarathonLauf ist in keinem Sportkalender registriert worden.
Nur die Sonne und die Sterne haben uns kontrolliert!
O, was waren das für vier Stunden!
Was habe ich in diesen vier Stunden alles gedacht und gedacht und gedacht!
Und in welch seltsamer Verfassung ich mich überhaupt befand.
Schon die ersten beiden Stunden, als die afrikanische Wüstensonne noch mit versengenden Strahlen brannte.
Mein Gaumen war Feuer und mein Hirn war Glut, und in meinen Adern rollte siedendes Blei — — aber mein Herz war kalt wie Eis.
Und mein glühendes Hirn fing zu phantasieren an: Ich bin der rächende Todesengel, und ich will Dein Blut schlürfen, schlürfen, schlürfen!! Und mag es auch glühendes Blei, wie das meine sein, es soll mir dennoch ein kühlender Labetrunk dünken.
So sprach mein glühendes Hirn. Aber gleichzeitig auch sprach mein eiskaltes Herz: Bube, Ruhe, Georg, nur immer Ruhe — laß Dich nicht aus diesem Hundetrab bringen — auf diese Weise entgeht er Dir nimmer.
So führten Hirn und Herz ein Wechselgespräch, fort und fort.
Und was ich in dieser Zeit nun sonst noch alles erlebt habe!
O, wie wir beide zusammen gespielt haben!
Oder ich nur mit ihm.
Ein amüsantes Spiel.
Das Spiel der Katze mit der Maus?
Nein, das wäre noch lange kein Vergleich.
Ich habe einmal eine Schlange beobachtet, eine ägyptische Aeskulapviper, die im geschlossenen Raume auf glattem Boden eine Maus verfolgte, nicht hungrig, aber noch beutelustig. Wie die mit der Maus spielte! Wenn sich das arme Mäuslein ergebungsvoll in sein Schicksal ergab, sich duckte, dann blieb auch die Schlange ruhig liegen, und schoß das Mäuslein wieder davon, dann war auch die Schlange wieder hinter ihm her, immer im Kreise herum, und kürzer und kürzer ward die Entfernung zwischen den beiden.
So war es auch hier. Kürzer und kürzer wurde die Entfernung zwischen uns. Aber nicht nach und nach, immer ruckweise. Meiner Maus begann nicht der Atem, sondern nur die Kraft langsam zu versagen. Manchmal raffte sie diese Kraft wieder zusammen, schoß davon. Ich blieb in meinem gleichmäßigen Laufschritt. Und wenn der Maus die Kraft wieder ausging, dann war ihr die Schlange wieder einige Meter näher. So waren aus dem ursprünglichen Abstand von 50 Metern jetzt nur noch 30 geworden.
Da also, als die Sonne sank, die Nacht anbrach erreichten wir den kleinen See.
Was sage ich? Ein kleiner See? Nur eine Wasserlache im Sande war es. Ihr Umfang oder der Weg, den wir dann immer um sie herum machten, betrug genau, wie später gemessen wurde, 64 Meter. Nur die perspektivische Täuschung der Wüste, die untergehende Sonne hinter mir, hatte die Wasserlache erst so groß erscheinen lassen.
Die Maus rannte um das Wasser herum. Also hatten wir es genau zwischen uns. Die Maus auf der einen Seite, die Schlange auf der anderen Seite. Und so rannte der Araber immer wieder um den kleinen Teich herum.
Wohl, mir war es recht! Als ich zum dritten Male den Teich umrannt hatte, begann ich zu zählen.
Es war eine fürchterliche Höllenpein für mein glühendes Hirn, dieses Zählen, aber eine wahre Himmelsfreude für mein kaltes Herz.
Bis 337 habe ich gezählt.
Dreihundertundsiebenunddreißig Mal habe ich den Jüngling um den Teich gejagt, innerhalb von anderthalb Stunden!
Da aber hatten wir längst nicht mehr das Wasser direkt zwischen uns, da war ich keine zehn Meter von ihm entfernt!
Immer wieder raffte er noch einmal seine letzte Kraft zusammen, schoß schnell vorwärts — ich im gleichmäßigen Laufschritt, die Ellenbogen in die Hüften gestemmt, hinter ihm her — und in der nächsten Minute, wenn er seine Kraft erschöpft, war ich ihm wiederum einen Meter näher gerückt!
So ging es fort und fort um den Teich herum, und über uns funkelten die Sterne.
»Ruhe, Georg, nur immer Ruhe — falle nicht in schnelleren Lauf — auf diese Weise entgeht er Dir nimmer!«
Da wendete er wieder einmal den Kopf, um mir sein verzweifeltes Gesicht zu zeigen.
Jawohl, ich wußte schon.
Der probierte es nicht erst, stehen zu bleiben, sich auf die Knie zu werfen und um Erbarmen zu flehen.
Der wußte, wie zwecklos das gewesen wäre.
Wenn er zurück blickte, mußte er doch auch mein Gesicht sehen, mußte darin lesen können, so schwach der Sternenschein auch sein mochte.
Dort war es die furchtbare Todesangst, die solch eine Leistung der Kraft und Ausdauer entwickelte — und hinter der Todesangst her die gebändigte Wut!
Da plötzlich, wie ich ihn zum dreihundertundsiebenunddreißigsten Male um den Teich jagte, vielleicht noch sechs Meter von ihm entfernt, stieß er einen Schrei aus, den ersten, den er hören ließ und stürzte sich kopfüber ins Wasser.
Er wollte schwimmend das andere Ufer gewinnen, um so womöglich den ganzen Teich wieder zwischen uns zu bringen.
So dachte er.
Gut so, daß er so gedacht und es probiert hatte!
Nun war er mein! Ich wußte es sofort!
Ich mit einem flachen Hechtsprung ihm nach, und in der Mitte des Teiches hatte ich ihn, warf mich über ihn! Umklammerte von hinten seine Kehle und drückte ihn unter Wasser.
Da zeigte es sich, daß das Wasser uns nur bis an den Leib ging, wir beide kamen zu stehen
Aber da hatte ich doch schon seinen Kopf unter Wasser, und ich hielt ihn fest unter Wasser!
Er kämpfte, wie eben ein Ertrinkender um sein Leben kämpft, krallte seine Hände in meine Beine — fürchterlich.
Und wie ich noch so gebückt stehe und den Mann ersäufe, da spritzt Wasser an meine Lippen, und da merke ich, daß es süßes Wasser ist, trinkbares Wasser!
Und wie der dort unten zwischen meinen Knien mit dem Tode kämpft, da schlürfe ich über ihm das köstliche Wasser mit vollen Zügen, ich trinke und trinke und trinke!
Ich trinke und schlürfe und schlucke noch, wie jener zwischen meinen Knien, die Kehle von meinen Fäusten umspannt, plötzlich ganz still wird.
Ich trinke weiter.
Und es war gut so.
Denn plötzlich wurde der noch einmal furchtbar lebendig, furchtbar krallten sich seine Finger noch einmal in meine Schenkel ein.
Das aber war auch der letzte Todeskampf gewesen. Eine große Blase quoll empor, ich schlürfte seine Seele mit dem köstlichen Wasser ein.
Dann war er tot — und ich war gesättigt.
Ich ließ die Leiche im Wasser, watete ans Ufer.
Als Mörder?
O nein.
Ich fühlte mich nicht als Mörder, habe mich deswegen nie als solcher gefühlt.
Ich fühlte mich tief befriedigt.
Ich hatte die Welt von einem Scheusal befreit.
31. KAPITEL. HUNDEGEBELL UND MONDESZAUBER.
Ich watete ans Ufer, blickte zum ersten Male nach meiner Uhr, einer Schlüsseluhr, der kein Wasser etwas anhaben kann. Remontoiruhren können wir Seeleute nicht gebrauchen.
Zehn Minuten nach acht.
Dann stimmte es auch, daß jetzt gerade der Vollmond sich über den Horizont erhob.
Also vier Stunden und einige Minuten waren wir gerannt. Die zurückgelegte Strecke wagte ich nicht abzuschätzen. Zumal ich glaubte — obgleich es gar nicht der Fall war — daß der Verfolgte oftmals große Bogen beschrieben habe.
Na‚ vielleicht 20 Kilometer war ich vom Fort entfernt. Man sieht, wie total ich mich irrte. Es waren ziemlich genau 62 Kilometer. Aber mit einer Schätzung hielt ich mich überhaupt gar nicht auf, sagte nur so leichthin: vielleicht 20 Kilometer.
Mehr dachte ich im Augenblick an die Beantwortung der Frage, wie denn hier mitten in der Wüste ein Süßwasserteich sein könne.
Nun, es war eben ein Brunnen oder eine Quelle, die nicht hervorsprudeln konnte, weil der darüberliegende Wasserdruck ihrer Austriebskraft die Balance hielt.
Wäre die Umgegend mit grüner Vegetation bedeckt gewesen, so hätte man das eine Oase genannt. Mußte denn das nicht eigentlich der Fall sein? Mußte das Frischwasser das Salz des Sandes, dem ehemaligen Meeresboden entstammend, nicht nach und nach ausgelaugt und ihn vegetationsfähig gemacht haben?
Nein, kein Grashälmchen gedieh.
Weshalb nicht, das wußte ich nicht, hielt mich auch nicht länger mit der Beantwortung dieser Frage auf. Ich bemerke nur, daß man auch in der lybischen Wüste viele Süßwasserteiche findet, die an den Rändern keine Spur von Vegetation zeigen. Woher das kommt, kann erklärt werden, ist hier aber nicht am Platze.
Ich war nicht besonders müde; eigentlich überhaupt gar nicht. Nach dem Bade und nach Löschung meines furchtbaren Durstes fühlte ich mich wie neugeboren, hätte sofort den Rückweg wieder im Dauerlauf antreten können.
Aber so vernünftig war ich auch, um mir zu sagen, daß dies eine Täuschung sein müsse. Es war auf jeden Fall eine Überanstrengung gewesen, dieser vierstündige, sehr schnelle Dauerlauf, bei fortwährend fürchterlichem Durst, die Reaktion würde schon noch kommen.
Übrigens hatte ich plötzlich wieder das größte Bedürfnis nach Wasser, dem ich natürlich nachgab, und ich wußte, daß dies noch öfters kommen würde.
Also mein Entschluß war gefaßt. Ich blieb einige Stunden hier, versuchte zu schlafen, und wenn mir das nicht gelang, so löschte ich doch meinen sicher immer wieder hervorbrechenden Durst, bis die reichlich verbrauchte Feuchtigkeit im Körper wieder ersetzt war; denn darauf beruht ja nur das Gefühl des Durstes und seine Stillung. Aber das ist nicht mit einem Male zu erreichen.
Dann, als mein Durst zum zweiten Male gelöscht war, dachte ich daran, daß in diesem Wasser ja noch die Leiche läge, dachte ohne besonderen Ekel daran, von diesem Wasser getrunken zu haben. Aber länger sollte der Tote auch nicht drin liegen bleiben. So watete ich noch einmal durch die Mitte, der Zufall ließ mich auch gleich auf die am Grunde liegende Leiche stoßen, ich zog sie ans Ufer und vergrub sie in einiger Entfernung im Lande, was schnell geschehen war. Ein Grausen empfand ich nicht dabei, ich bin an das Hantieren mit Leichen gewöhnt worden, auf einer Fahrt von Kalkutta nach Schanghai, wo innerhalb von acht Tagen von 400 eingeborenen Deckpassagieren fast die Hälfte an der Cholera starb, und mein Gewissen war also durchaus nicht belastet worden. — 815 Viel angesehen habe ich den Toten allerdings auch nicht, ihm nicht erst die Taschen visitiert, wenn er überhaupt Taschen hatte.
Dann legte ich mich auf der anderen Seite des Teiches hin, mir aus Sand ein erhöhtes Kopfkissen machend, um einige Stunden zu schlafen oder zu ruhen.
Nein, müde war ich absolut nicht, weder schläfrig, noch fühlte ich Gliedererschöpfung, und gerade deshalb sagte mir ein dunkles Bewußtsein, daß mit mir irgend etwas nicht in Ordnung sein könne, daß noch irgend etwas nachfolgen müsse, nach diesem vierstündigen Dauerlaufe; denn ganz ungestraft macht man so etwas nicht, zumal unter solch seelischer Erregung.
Ich hatte schon früher einmal die Folgen einer Überanstrengung kennen gelernt. Hatte bei einer Schiffshavarie, die dann noch ganz gut abgegangen war, etwas länger als 36 Stunden ununterbrochen das Schwungrad der Pumpe gedreht, also ohne Schlaf. Als ich dann abgelöst wurde, wir überhaupt schon im sicheren Hafen lagen, legte ich mich todmüde in meine Koje. Ach, war das ein herrliches Gefühl, wie ich mich so im Bewußtsein der Sicherheit ausstrecken konnte, um nun einen tiefen, tiefen Schlaf zu tun! Und diese köstliche Todmüdigkeit!
Jawohl, nichts war es mit dem Schlafen! Mit einem Male merke ich, daß ich deswegen nicht gleich einschlafen konnte, weil ich nicht ruhig liegen konnte. Ich mußte mich fortwährend bewegen. Keine drei Sekunden konnte ich ein Glied ruhig liegen lassen. Und dann merkte ich, wie sämtliche Glieder zu zucken anfingen.
Na‚ ich ging zum Schiffsarzt, der gab mir eine Morphiumeinspritzung und ich mußte sie noch an zwei Tagen bekommen, dann war die Sache wieder in Ordnung. Da erkennt man erst, was solch ein Höllenstoff wie Morphium, von dem man sonst nur den entsetzlichsten Mißrauch und seine Folgen hört, in ärztlicher Hand für ein Segen sein kann.
Aber die Viertelstunde, wo ich so todmüde in meiner Koje lag, ohne einen Augenblick einen Finger ruhig halten zu können, immer hin und her zuckend, die werde ich ja nicht vergessen!
Mit einiger Angst dachte ich daran, daß dieses Muskel- oder Nervenzucken auch jetzt wieder eintreten könnte, wo ich hier hilflos an der Küste lag.
Aber so ein seelischer Schwächling bin ich denn doch nicht. Ich merkte nichts von solch einem Zustand, ich sagte mir, daß ich dann auch nicht so an etwas denken dürfe, und hätte es dennoch angefangen — na‚ dann trat ich einfach sofort den Rückweg an, marschieren kann man dann immer noch, nur nicht still liegen.
Aber ich hatte nicht nötig, wieder aufzustehen, ich fühlte mich ganz wohl, und meiner Energie gelang es, jeglichen Gedanken an solch eine Möglichkeit, von einer Nervenschwäche befallen zu werden, zu unterdrücken.
Da aber trat etwas anderes ein, die Folgen der Überanstrengung sollten doch nicht ausbleiben.
Freilich ist es sehr schwer zu schildern, was mit mir vorging.
Wie ich so daliege, noch mit offenen Augen, der prachtvollen Sternenhimmel betrachte, überkommt mich plötzlich ein Gefühl der grenzenlosen Verlassenheit.
Ich muß an meinen alten Vater denken — ich werde vom Heimweh erfaßt.
Wer das Heimweh nicht kennt, nicht disponiert dazu ist, der hat ja gar keine Ahnung, was Heimweh überhaupt ist. Der wird nie begreifen, wie Menschen an Heimweh sterben können, und zwar gerade sonst sehr kräftige, robuste Männer. Es ist ja bekannt, daß besonders Schweizer so furchtbar vom Heimweh gepackt werden können. Ich habe später an Bord einen Schweizer gehabt, der in Amerika vor Heimweh irrsinnig geworden war, d. h. geisteskrank, der ganz im Banne der Sehnsucht nach seinen Bergen lag. Es war schrecklich anzuhören, wie der junge, starke Mann Tag und Nacht winselte. So etwas begreift man ja aber gar nicht, wenn man es nicht selbst einmal durchgemacht hat. So wenig wie man einem eisernen Kerl mit Nerven von Klavierdrähten begreiflich machen kann, was Hysterie ist.
Ich hatte Zeit meines Lebens noch kein Heimweh gehabt, konnte mir gar nicht vorstellen, was so etwas ist, und jetzt kriege ich großer Bengel plötzlich das Heimweh!
Das heißt, ohne mir Rechenschaft geben zu, können, daß es Heimweh ist.
Ein allgemeiner Weltschmerz erfaßt mich.
Jawohl, der Menschheit ganzer Jammer packt mich an.
Ich fange plötzlich wie ein Kind zu weinen an.
Ohne zu wissen warum.
Ich will es gleich sagen: es war eben die Reaktion auf die Überanstrengung, wobei weniger der vierstündige Dauerlauf, als vielmehr die vierstündige Seelenverfassung in Betracht kam, die furchtbare Wut, die ich immer hinuntergefressen hatte.
Für mich wäre damals eine furchtbare Krisis eingetreten, ich wäre seelisch sehr erkrankt, wahrscheinlich von unheilbarer Melancholie befallen worden — wenn ich eben nicht gerettet worden wäre.
Also ich liege da im Wüstensande. Und weine und jammere und winsele und weiß nicht warum.
»Ich wollte, ich wäre tot.«
Und wie ich das noch so sehnsuchtsvoll denke, da höre ich plötzlich in weiter Ferne einen Ton.
Hundegeläut!
Und da gibt es einen Ruck in mir, wie ein Feuerstrom schießt es mir plötzlich durch Kopf und Herz und durch alle Adern, und ich schnelle empor.
»Pluto!« jauchze ich auf.
Und noch einmal erschallt das eigentümliche, hohe Bellen, das der Jagdhund — aber zum Beispiel auch der Spitz — ausstößt, wenn er das Wild, auf dessen Fährte er liegt, erblickt oder seine Nähe nun richtig wittert. Läuten nennt der Jäger diese Art Bellen, und es ist auch ein wirkliches Läuten.
Und dieses Lauten hier kannte ich, das konnte nur unser Pluto sein.
Ich habe noch nicht von diesem Hunde gesprochen. Ich kann nicht jeden Hund und jedes Mitglied unserer Menagerie dem Leser einzeln vorstellen, sondern das muß geschehen, wenn es eben die Gelegenheit mit sich bringt.
Die Schwimmtour damals in der Magalhaesstraße hinter unserem Boote her hatte Plato nicht mitgemacht, obgleich er der erste aller Hunde war, der vierbeinige Hundehauptmann, oder eben deshalb, weil er der erste war, war er dem Boote der Herrin nicht gefolgt. Dazu war er zu gut erzogen, viel zu vernünftig, da hätte er erst den Befehl dazu bekommen müssen. Das war doch die größte Undisziplin gewesen, was die anderen großen Hunde da begangen hatten, und über so etwas war Pluto erhaben.
Es war ein englischer Bluthund reinster Rasse, also ein großer, starker, kurzhaariger Jagdhund, als Bluthund, wie er früher in Amerika zur Verfolgung der entflohenen Sklaven benutzt wurde, vor allen Dingen durch die äuBerst langen Schlappohren gekennzeichnet, die auch bei gesenktem Kopfe noch weit über die Schnauze herabhängen, und dann die Stirn mit tiefen Runzeln durchzogen, überhaupt ein furchtbar sorgenvolles Gesicht.
Zwischen den Mitgliedern unserer Menagerie ging es ja manchmal hahnebüchen zu! Ach, da flogen ja manchmal die Haare, und da gab es hinterher hinkende Beine! Zumal noch so viele kleinere und auch immer junge Hunde vorhanden waren. Ich habe solche Szenen noch nie erwähnt. Das war manchmal ein einziger Hundeknäuel, alles zusammen verbissen; denn gegen Futterneid ist noch keine Peitsche geflochten worden.
Besser als Juba Riatas Peitsche bewährte sich dieser Bluthund; denn Pluto war als der intelligenteste und zuverlässigste Hund von Peitschenmüller zum vierbeinigen König des ganzen Tierreiches eingesetzt worden. Und Pluto wußte die ihm anvertraute Würde zu schätzen und wußte Ordnung zu halten, so weit es irgend möglich war. Es war ein edler Charakter, er sah vieles nach, drückte manchmal beide Augen zu, denn als Hundephilosoph wußte er eben, was ein saftiger Knochen zu bedeuten hat, obgleich er selbst ganz frei von Egoismus war, eben deshalb sah er vieles nach — aber wehe, wenn es ihm einmal zu viel wurde und er fuhr dazwischen! Es war nicht der stärkste Hund. Die großen Doggen und die Bernhardiner und Neufundländer waren ihm ja an Körperkraft weit überlegen, und nun gar die beiden Dioskuren Kastor und Pollux, die beiden Bullenbeißer, die waren herkulische Riesen gegen diesen Bluthund. Aber Pluto war eben der bessere Kämpe. Der hatte im Nu so einen Hundeherkules beim Genick gepackt und schüttelte ihn ab, daß dem Bullenbeißer Hören und Sehen verging und er sich winselnd in einer Ecke verkroch.
So hatte Peitschenmüller diesen Bluthund, der nach einem deutschen Vorsteher überhaupt die beste Nase besaß, auch als Stöberer ausgebildet, als Führer der Meute — 821 auf der Jagd. Schon damals in der ägyptischen Oase. Ich hatte solche Übungen in der Argonautenbucht auf dem Feuerlande gesehen, praktisch auf der Jagd auf den brasilianischen Campos.
Da war Pluto also der Stöberer, der Fährtensucher. Es gab ja weit schnellere Hunde, aber mit der Schnelligkeit ist es da allein nicht getan, unbesonnene Schnelligkeit kann da sogar alles zu schanden machen. Solche eilfertige Hunde nehmen eine kreuzende Spur auf, locken die ganze Meute in der Hitze des Gefechtes hinter sich her, die Jagd ist verdorben. Die Meute hat dem Stöberer, der prüfend die Fährte untersucht, unbedingt zu folgen, keiner darf ihn überholen, und wenn er sich auch minutenlang bei einer Kreuzung aufhält. Und Pluto wußte die Meute in Ordnung zu halten. Wehe, wenn ihn ein anderer Hund überholen wollte. Der war im Nu lahmgebissen, bei seiner Gegenwehr auch kaput gebissen. So war es wenigstens früher gewesen, jetzt kam so etwas gar nicht mehr vor. Die anderen Hunde und selbst die größeren Raubtiere hatten einen maßlosen Respekt vor ihm. Und trotzdem war Plato eines Seele von einem Hunde! Er ließ sich von einem anderen Hunde, ob größer oder kleiner als er, aus seinem eigenen Freßnapfe den größten Leckerbissen, den saftigsten Knochen wegnehmen, duldete es ruhig, er war eben sehr gutmütig. Mit diesen Bluthunden ist es ja überhaupt eine eigene Sache. Sie scheinen ihren Namen gänzlich mit Unrecht zu führen, und dennoch sind es die furchtbarsten Menschenjäger. Die Sache ist nämlich die, daß diese künstlich gezüchtete Hunderasse, eine Kreuzung der besten Jagdhunde mit Pariser Fleischerhunden, die treueste Anhänglichkeit gegen ihren Herrn besitzen, die so weit geht, daß sie die Autorität eines anderen Menschen gar nicht anerkennen. Sobald ihnen ihr Herr befiehlt, ist jeder andere Mensch für sie auch nur ein Stück Wild. Gerade den entgegengesetzten Charakter hat der Pudel. Der begrüßt, wenn er zu Hause eingesperrt ist, mit freudigem Schwanzwedeln den durchs Fenster steigenden Einbrecher, sobald der nur freundlich zu ihm spricht.
Ich war bisher kein besonderer Tierliebhaber gewesen, bin es erst an Bord dieses Schiffes geworden.
Und daß ich jetzt so ausführlich über diesen Bluthund berichtet habe, das hat einen besonderen Grund.
Ich will es sagen: durch diesen Hund bin ich vor einer schweren seelischen oder geistigen Krankheit bewahrt worden, die mich natürlich auch körperlich ruiniert hätte. Ich weiß es ganz bestimmt.
Also wie ein Feuerstrom schoß es mir plötzlich durch Kopf und Herz und durch alle Adern, als ich dieses mir wohlbekannte Hundegeläut vernahm.
»Pluto!!« jauchzte ich auf.
Noch konnte ich im Mondlicht in der weißgelben Wüste nichts unterscheiden. Da aber verwandelte sich das eigentümliche Läuten in ein dröhnendes und dennoch jauchzendes Bellen, und da plötzlich stimmten auch noch viele andere Hundestimmen mit ein.
Und da plötzlich gingen mir die Augen auf, da plötzlich sah ich sie in langgestrecktem Galopp angejagt kommen, an der Spitze Pluto, die Nase am Boden, daß die langen Ohren noch im Sande schleiften, dann wieder mit einem jauchzenden Bellen den Kopf hoch werfend, daß die Ohren wie die Fahnen flogen, und hinter ihm die ganze Meute unserer größten Hunde, Max und Moritz, die beiden Bernhardiner, Kastor und Pollux, die beiden Boxerdoggen, Thor und Odin, die beiden Neufundländer. Nur Frau Holle fehlte, die Neufundländerin, weil die jetzt auBer zwei eigenen Kinderchen, auch die zwei kleinen Unzen, die schwarzen Jaguare, säugen mußte, welche Peitschenmüller damals richtig aus dem Neste genommen hatte.
Sie hatten mich erreicht, begrüßten mich jauchzend, wenn auch nicht gar zu stürmisch, weil ihr vierbeiniger Meister dabei war, der immer auf Ordnung hielt.
Ach, wie soll ich es schildern!
Wie ich niederkniete, Plutos durchrunzeltes sorgenschweres Haput hernahm und meine brennenden Lippen auf seine kalte Hundeschnauze drückte.
Wie ich einen Hund nach dem andern abküßte, obgleich ich sonst nicht etwa für Hundeküsserei bin.
Aber damals — damals!
Diese selbe Hundemeute sollte mir später noch einmal zu Hilfe kommen, wie ich es schildern werde, in einer viel, viel gefährlicheren Situation, sollten mein Leben retten, als ich schon Abschied davon genommen hatte — das war grandios, wie sie über meine Peiniger herfielen, — aber viel, viel schöner war es gewesen, als ich hier in meinem undefinierbaren, unsagbaren Seelenschmerze ihr Bellen in weiter Ferne gehört hatte!
Ja, diese Hunde hatten mich vor etwas Furchtbarem bewahrt, gegen welches der leibliche Tod noch nichts war.
Das wußte ich ganz bestimmt, noch ehe ich merkte, wie mich plötzlich eine Müdigkeit befiel, daß ich mich kaum noch aufrecht halten konnte. Jetzt war eben die Reaktion eingetreten, eine gesunde Krisis, die Gefährdung der Seele oder des Geistes war durch die hervorbrechende Körpererschöpfung plötzlich aufgehoben.
Erst als ich einen nach dem andern abgeküßt hatte, bemerkte ich, daß jeder von ihnen auf dem Rücken, kurz hinter dem Nacken, ein Paket trug, auf dem des Bluthundes, ebenso wie die Pakete der anderen mit schwarzem Segeltuch umwickelt, war noch ein kleineres von weißem Tuch befestigt, dieses löste ich zuerst ab, dabei gleich an dem besonderen Knoten und überhaupt an der kunstreichen Verstrickung, Klothildens Hand erkennend, denn in der Schürzung von Knoten war dieses seegeborene Weib unerreichbar, beschämte den besten Matrosen.
Noch eine Gummiumhüllung, eine kleine Blechbüchse und ich entnahm dieser einen Brief.
Wo bist Du? Lebst Du noch? Wenn ja, so gib Pluto zu fressen und zu saufen und schicke ihn sofort mit Deiner Botschaft wieder zurück. 16 der besten Geher sind bereits unter Wassermanns Führung unterwegs. In tausend Ängsten um Dich Deine Helene.
Dann folgten noch einige Postskripten, welche verrieten, in welcher Hast und Angst diese Zeilen geschrieben worden waren.
Schreibe auf, wann Du Pluto abschickst, die Nachkommenden fangen ihn ab und können daraus vielleicht bestimmen, wo Du bist, wie weit entfernt, wenn Du es nicht selbst angeben kannst.
Der Inhalt von Plutos Paket ist nur für Dich bestimmt.
Über Ilse hat ihr Schutzengel gewacht.
Georg, befreie Deine Helene von tausend Ängsten, ich kann unterdessen nur beten.
Dann folgte nichts mehr.
Zunächst mußte ich einmal über das »wenn ja« herzlich auslachen. So glaubte ich, daß dies der Grund meines Heiterkeitsausbruchs sei. Es war natürlich ein ganz anderer Grund — die Hunde nun bei mir zu haben, mit meinen Freunden in Verbindung zu stehen.
Weiter enthielt die Blechbüchse ein unbeschriebenes Stück Papier und einen Bleistift, ehe ich aber schrieb, löste ich sämtliche Pakete ab, und erst jetzt dachten die Tiere daran, ihren Durst zu löschen, auch gleich ein Bad zu nehmen.
Ich will bei dieser Gelegenheit gleich erwähnen, was in Fort Oro vor sich gegangen war, wie ich es später erfuhr.
Man hatte mich hinter dem Flüchtling her durch die Wüste rennen sehen, bis wir am Horizont verschwunden waren.
Noch eine Viertelstunde hatte man gewartet.
Dann, als die Sorge wuchs, war Juba Riata mit einigen unserer besten Geher und Läufer unseren Spuren gefolgt, der Kommandant hatte auch eine Abteilung Soldaten mitgegeben, die aber gleich in den ersten zehn Minuten weit zurückgeblieben waren.
Fast eine halbe Stunde war Juba Riata den Spuren gefolgt, der anfängliche Eilmarsch hatte sich schon längst in Laufschritt verwandelt, bis auf einem steinigen Plateau, von dessen Passieren ich aber gar nichts wußte, die Spuren aufhörten und auch von dem vorzüglichen Fährtensucher, der dieser ehemalige Cowboy war, nicht wieder gefunden werden konnten.
Nun zurück, schnellstens zurück, um den Fehler gutzumachen, den Juba Riata zu spät einsah! Nämlich, daß er nicht gleich die Hunde mitgenommen hatte. Aber wer hatte auch gedacht, daß ich mich so weit entfernen würde, daß die Spuren plötzlich aufhörten. — 827 Und die Zurückbleibenden dachten jetzt auch nicht an die Hunde oder sie erwarteten eben wieder erst die Hilfsexpedition zurück.
Erst gegen halb sieben traf Peitschenmüller wieder ein, den anderen weit, weit voraus, dieser Wildwestmann war überhaupt unser bester Läufer, mochte er auch mit dem Matrosen Knut nicht auf der Rennbahn konkurrieren können. Wenn es aber einmal in Gottes freier Natur darauf ankam, dann machte dieser ganz aus Eisen bestehende ehemalige Vaquero doch alle aufgestellten Sportrekords zu schanden.
Jetzt also schnell die Hunde vorbereitet, die man für diesen Fall am zweckdienlichsten hielt. Man durfte ja den Versicherungen des Kommandanten und aller anderen glauben, daß es in ganz Rio de Oro keine räuberische Beduinen, keinen einzigen Menschen gebe, ebenso aber mußte man auch glauben, daß in dem ganzen Gebiet von fast 200 000 Quadratkilometer, wobei auch nur der spanische Besitz in Betracht kommt, kein Tropfen Wasser zu finden sei.
Das mag merkwürdig klingen, aber die hatten von diesem Wüstenbrunnen, der sich als ein ansehnlicher Teich ausbreitete, eben gar keine Ahnung! Übrigens kam er für das Fort auch nicht in Betracht, die Entfernung war viel zu weit, auch ein Röhrensystem war unmäöglich, der Brunnen lag 60 Meter tiefer als das Fort oder vielmehr als der Meeresspiegel.
Also jeder der Hunde erhielt in dichtem Lederschlauch drei Liter Wasser und zwei Pfund gepreßten Fleischkuchen für sich selbst aufgepackt, daß ich sie dann füttern und tränken konnte, Plato für mich statt des Hundekuchens ein Pfund Zwieback, ein Pfund Cornedbeef, eine Dose Fleischextrakt, ein Fläschchen Kognak und einen Revolver mit 24 Patronen, dafür weniger Wasser, und die Hunde wurden unter Plutos Führung laufen gelassen. Diese Last von 10 Pfund inklusive Verpackung hatte für die starken Tiere nicht viel zu bedeuten.
Kurz nach sieben waren sie abgelassen worden, gegen neun Uhr hatten sie mich erreicht. So hatten sie zu den 42 Kilometern zwei Stunden gebraucht.
Das war keine besondere Leistung für einen Hund. Ganz abgesehen davon, daß ich selbst ja diese Strecke in zwei Stunden 42 Minuten durchrannt habe, und ein Hund kann denn doch noch etwas anders rennen als ein Mensch, und sei es Achilles selbst.
Wir wissen noch gar nicht, was ein Hund im Laufen leisten kann. Die Wettrennen auf der Sportbahn sagen gar nichts. Nur ab und zu durch einen besonderen Fall gewinnt man ein Urteil, und da kann man immer nur staunen.
Es ist noch gar nicht so lange her, da fährt eine bekannte Schauspielerin von Leipzig nach Chemnitz, an einem heißen Junitag, in der heißesten Mittagszeit. Sie benutzt einen gewöhnlichen Personenzug, einen Bummelzug, der 11 Uhr 35 Leipzig verläßt, 1 Uhr 58 in Chemnitz ankommt, unterwegs fünfzehn mal haltend. Die Strecke beträgt 82 Kilometer.
Sie läßt sich von ihrer Zofe zur Bahn bringen, die ihren Bernhardiner an der Leine hat, ein sehr großes, schweres, langzottiges sechsjähriges Tier, stark überfüttert.
Die Dame streichelt den Hund noch einmal, steigt ein, fährt ab. Wie sie in Chemnitz aussteigt, springt Tyras ihr freudestrahlend entgegen, freilich auch die Zunge eine halbe Elle aus dem Maule heraushängend.
Der Hund hat sich von seiner Führerin losgerissen, ist zwischen den Schienen dem Eisenbahnzuge nachgerannt, zwar nicht mitkommend, ihn aber auf jeder Zwischenstation wieder einholend — kurz und gut, er war gleichzeitig in Chemnitz, hat die 82 Kilometer in zwei Stunden 23 Minuten zurückgelegt. Nicht etwa ein Windspiel, sondern ein mächtiger, schwerer, fettgefütterter Bernhardiner!
Und es hat dem Tiere absolut nichts geschadet, es war nur eine gute Entfettungskur.
Wir wissen, wie gesagt noch nicht, was ein Hund leisten kann. Vom Pferde wissen wir es so ziemlich, aber vom Hunde haben wir da noch gar keine Ahnung. Und das gereicht der Menschheit nicht zur Ehre; denn der Hund ist schon viele tausend Jahre früher ein treuer Freund und Gehilfe des Menschen gewesen. Und noch weniger gereicht es uns superklugen Menschen, die wir auf unseren Scharfsinn, auf unsere Erfindungen so stolz sind, zur Ehre, daß wir erst jetzt im 20. Jahrhundert anfangen, den wunderbaren Geruchssinn des Hundes im — 830 Dienste der Polizei und des Kriminalwesens zu benutzen. Ha, ist das großartig, wovon die Zeitungen jetzt immer berichten, von den Erfolgen dieser Polizeihunde! Viel tausend Jahre hat der Hund auf diesen genialen Einfall der scharfsinnigen Menschen warten müssen! Und anstatt die Sache nun, da sie einmal angefangen hat, wenigstens gleich mit Energie zu betreiben, jedem nächtlichen Schutzmann und jedem Feldgendarmen einen guten Hund auf Staatsunkosten zu geben, begnügt man sich noch immer mit kleinlichen Versuchen, verplempert das Geld lieber mit anderen Experimenten, um dem Diebes- und Verbrecherwesen Einhalt zu tun. Während der Hund doch schon seit Jahrtausenden der treue Hüter des Hauses und Hofes gewesen ist und nur darauf wartet, daß ihn der Mensch auch endlich in der Öffentlichkeit beschäftigt, was ja eben seine Lust ist. Nicht an der Kette zu liegen, nicht eingesperrt zu werden, nicht spazieren geführt zu werden, sondern stöbernd, ganz auf die eigene Intelligenz angewiesen, durch Feld und Busch und durch die nächtlichen Straßen zu laufen. -
Also das mitgeschickte Wasser wäre nicht nötig gewesen.
Die Hunde hatten gar keine Lust zu fressen, wenigstens Pluto nicht, dem ich den Fleischkuchen zerbrach. Nun, so konnte er gleich wieder abgehen. Ich schrieb:
Bin wohlauf. Liege an einem Brunnen mit trinkbarem Wasser. Schicke Pluto punkt 9 — 831 Uhr ab. Um Mitternacht trete ich Rückmarsch an.
Waffenmeister.
So, das genügte vollkommen. Das Schreiben war ja nicht für Helene bestimmt, es wurde von der Hilfsexpedition abgefangen.
Ich schickte Pluto auf die Heimreise, fütterte die anderen Hunde, die mehr Appetit hatten, als ihr verantwortlicher Führer, aß selbst nur einen kleinen Zwieback mit etwas Fleischextrakt bestrichen, mehr konnte ich nicht hinunterbringen, desto besser schmeckten mir einige Schluck Kognak, dann streckte ich mich wieder in dem Sand aus.
Ach, war mir jetzt wohl, selig zu Mute, wie ich so dalag, von den sechs Hunden umlagert! Jetzt fühlte ich die Müdigkeit in meinen Gliedern, ich war wie zerschlagen, im Nu würde ich einschlafen.
Ich nahm mir vor, um zwölf Uhr aufzuwachen, und ich würde unfehlbar aufwachen, das wußte ich beistimmt. Das kann jeder Mensch bestimmen, wenn er sich darin nur etwas übt, nur ein einziges Mal ernstlich will. Wie es möglich ist, daß der Mensch während des Schlafes die Uhr im Kopfe hat, zur bestimmten Stunde und Minute aufwachen kann, das freilich kann kein Mensch erklären; wenigstens nicht mit den Erklärungen unserer modernen — 832 Wissenschaften. Doktor Karl de Prel [Carl Freiherr du Prel, auch Karl Freiherr du Prel oder Baron Carl du Prel, 1839 - 1899, war ein deutscher Philosoph, Schriftsteller und Okkultist. Anm. H.P.] hat ein ganzes Buch über dieses Phänomen geschrieben.
Als ich wie mit einem Ruck aufwachte, mir von einer fremden, geheimnisvollen Macht gegeben, war mein erster Griff nach der Uhr, und deren beide Zeiger standen direkt an der zwölf.
Wie neugeboren sprang ich empor.
Autsch! Nein, so ganz neugeboren war ich nicht. Oder ich hoffe doch nicht, daß jedem neugeborenen Kindlein die Dickbeine und die Waden so weh tun, wie mir die meinen!
Mir war in den Beinen und besonders in den Waden gerade so zu Mute wie damals, das heißt am anderen Tage, nachdem ich am Tage zuvor in Hamburg für die freiwillige Seemannsmission Traktätchen verteilt hatte, in die Briefkasten der Wohnungen gesteckt, und ich hatte so gegen hundert Häuser abgekleppert, immer bis hinauf unters Dach, vier Etagen hoch. Na‚ dieses anderen Tages werde ich ja gedenken! Meine Waden, meine sonstigen Beine! So etwas mache ich ja nicht wieder, wenn ich nicht berufsmäßiger Briefträger werden will. Ich danke für solche freiwillige Seemannsmissionstätigkeit. Da klebe ich doch lieber auf jedes Traktätchen eine Dreiermarke und bleibe hübsch in der Kneipe sitzen. Aber es war ein so verflixt hübsches Dämchen gewesen, das mich zu dieser Kolportiererei verleitet hatte. Na‚ da habe ich ja am anderen, Morgen nicht schlecht geflucht!
Also genau so war mir's auch jetzt in den Beinen und zumal in den Waden zu Mute.
Nun, deshalb wurde dennoch aufgebrochen, diese lahmen Glieder wollten wir schon wieder schmieren. Zunächst einmal innerlich mit einem Schluck Kognak Dazu muß man bekanntlich die Flasche heben und den Kopf etwas zurückneigen, sonst geht's nicht oder bereitet doch Schwierigkeiten, also ich neigte den Kopf zurück, dabei guckte ich in den Vollmond, der regelrecht jetzt den höchsten Punkt seiner Laufbahn am Horizont erreicht hatte.
Und da ließ, ich die Flasche wieder sinken, ohne ein Schlückchen genehmigt zu haben.
Na‚ Himmelbombenelement noch einmal, Klüverbaum und Katzenschwänze, bin ich denn wahnsinnig oder kratzt mich der Affe?!
Wolle der geneigte Leser mir solche Ausdrücke verzeihen. Ich lasse in der Wiedergabe die Menschen immer so sprechen, wie sie im Leben wirklich sprechen, und so sprach ich oder dachte ich, als ich, ein Seemann, der weit mehr Decksplanken als Salonparkett unter den Füßen gehabt, damals in der Wüste plötzlich eine große Burg erblickte, eine ganze Festung mit Mauern, Türmen und Zinnen!
Ich reibe mir mit der einen Hand die Augen — nein, die sind ganz regelrecht offen — mit der andern Hand führe ich die unterbrochene Bewegung aus, nehme aus der Flasche ein gutes Schlückchen — nein, so wohltuend rinnt einem im Traume kein Kognak durch den Hals und daß diese Festung schon gestern abend hier gewesen wäre und ich sie nicht gesehen hätte, das ist ebenfalls ganz ausgeschlossen.
Nun, die Erklärung blieb nicht lange aus.
Eine Fata Morgana.
Was das ist, weiß doch jeder. Eine Luftspiegelung Wenn zwei Luftschichten von sehr verschiedenen Temperaturen die sich nicht so schnell vermischen, zusammenstoßen so kann diese scharfbegrenzte Luftfläche als Spiegel wirken, durch das Licht der Sonne oder des Mondes wird das Bild eines Gegenstandes nach einem anderen Punkte zurückgeworfen.
Mehr brauche ich darüber hier nicht zu sagen. Durch einfache oder doppelte Spiegelung entsteht ein umgekehrtes oder aufrechtes Bild des betreffenden Gegenstandes — ich hatte hier eine aufrechte Spiegelung. Durch die Sonne werden Fata Morganas häufiger erzeugt, als durch den Mond, weil deren Leuchtkraft eben viel stärker ist, obgleich solche Luftspiegelungen in der Nacht viel öfters vorkommen müßten, weil durch die Ausstrahlung des heißen Wüstensandes in die kalte Nacht solche Luftzonen eher entstehen als bei Nacht; aber das Mondlicht ist eben gewöhnlich zu schwach. Hat man aber einmal eine nächtliche Fata Morgana, dann ist sie auch von vollendeter Klarheit, so wie es hier bei mir der Fall war.
Absolut nichts ließ die Wirklichkeit vermissen. Mit greifbarer Deutlichkeit stiegen die Mauern direkt aus der flachen Wüste empor, jedes Türmchen hob sich scharf vom sternenbesäten Horizont ab. Nur über die Entfernung durfte ich kein Urteil abgeben; da kann man sich in der Wüste überhaupt sehr täuschen, zumal in solch einer Vollmondnacht. Manchmal glaubte ich, die Burg sei viele Kilometer oder gar Meilen entfernt, dann dachte ich wieder, mit hundert Schritten müßte ich sie erreichen können,
Erwähnen muß ich noch, daß die Erscheinung, die aber für das Auge doch vollkommene Wirklichkeit war, auf die Hunde so gar keinen Eindruck machte. Sehen taten sie sie auch, das bemerkte ich sofort, aber sie kümmerten sich gar nicht darum. Diese Hunde wußten eben sofort, daß es nur eine wesenlose Erscheinung war, nichts Reelles dahinter. Nur der Affe wird vom Spiegelbild getäuscht, will das Spiegelbild untersuchen, greift dahinter, eben weil der Affe das menschenähnlichste Tier ist. Die Katze springt höchstens in ihren ersten Kindertagen einmal in den Spiegel, dann fällt sie nicht mehr darauf herein. Noch viel ausgeprägter ist dieser Unterscheidungssinn für Wirklichkeit und Spiegelung oder Nachahmung beim Hunde. Da hat man ja schon gar viel experimentiert. Da gibt auch nicht die Witterung den Ausschlag, das ist ein ganz besonderer Instinkt. Man mag eine Hundefigur noch so getreu malen oder modellieren und sie mit natürlichem Hundegeruch imprägnieren, der lebendige Hund mag einmal stutzen — dann hat er das Nachgemachte sofort erkannt, kümmert sich nicht mehr darum.
Ich hatte also einmal das Glück, eine nächtliche Fata Morgana in herrlichster Vollkommenheit zu beobachten.
Das mußte aber doch die Spiegelung von einer Wirklichkeit sein; in der Richtung, in die ich blickte, mußte auch eine wirkliche Burg oder ganze Festung liegen!
Solch eine Festung mit Türmen und Zinnen hier mitten in der Wüste?
Nun, das konnte möglich sein, die Welt brauchte davon nichts zu wissen. Ich hatte mich ja schon zur Genüge aus Büchern über diese spanische Kolonie Rio de Oro orientiert, ehe ich das Land betreten hatte. Da hatte nichts von solch einer ummauerten Stadt, die man keine Ruine nennen durfte, dringestanden. Außer über politische Verhältnisse war da überhaupt sehr wenig zu lesen gewesen. Eine menschenleere Wüste, in der sich jedenfalls auch keine Maus ernähren konnte — terra inkognita — gänzlich unbekanntes Land.
Da konnte es also auch recht wohl solch eine alte Festungsstadt drin geben. Überhaupt mußte es ja unbedingt das Spiegelbild einer wirklich vorhandenen Festung sein.
So überlegte ich noch, als in der Ferne wiederum ein Hundeläuten erklang, mit jauchzendem Bellen beantworteten es meine sechs Tiere, ich gab ihnen die Erlaubnis, den Ankommenden entgegenzulaufen, und bald sah ich sie selbst.
Es waren also sechzehn Mann, unsere besten Geher, geführt von Wassermann, einem deutschen Vorstehhund, der früher Waldmann geheißen hatte, aber tatsächlich mehr ein Wasserjagdhund war, ein vorzüglicher Taucher.
Feldmarschmäßige Ausrüstung, aber nicht zum Sportzweck, der Ballast auf dem Rücken bestand hauptsächlich in Wasser, und die Bewaffung nur in Revolvern obwohl sie mit »Gewehr über« anmarschiert kamen. Aber das war kein Schießgewehr, sondern jeder trug über der Schulter eine hohle Bambusstange, wie unser Zimmermann auf der brasilianischen Sandbank hundert Stück gefertigt hatte, auf beiden Seiten mit gutem Verschluß eben für solche Zwecke, für Expeditionen, wobei kein Gewehr nötig war, aber unsere Leute waren nun einmal gewöhnt, mit Gewehr zu marschieren, der Hohlraum diente zur Aufnahme von Proviant, zum Beispiel von Hülsenfrüchten, jeder Mann konnte sich mit diesem Inhalte vier bis fünf Tage lang beköstigen und außerdem konnte auf diese Bambusstange das kurze englische Bajonett, das zu dem Infanteriegewehr gehörte, aufgepflanzt werden, eine furchtbare Waffe im Nahkampfe abgebend.
Wenn ich sage, daß dies meine Erfindung war, so rühme ich mich nicht etwa, sondern so etwas zu erfinden, das war eben meine Sache, als die des Waffenmeisters, dazu hatte ich meinen Kopf anzustrengen, dafür wurde ich bezahlt.
Unter diesen sechzehn besten Gehern befand sich August der Starke, in dessen Fettleibigkeit man sich eben vollständig irrte. Dieser Koloß bestand nur aus Kautschuk, durchsetzt mit Knochen und Muskeln.
Die Führung hatte ja wohl Ernst als Offizier oder vielleicht Juba Riata — aber wie sie jetzt ankamen, da mußte unbedingt August der Starke das Kommando übernehmen.
»Abteilung —« fing er mit total heiserer Stimme zu brüllen an, obgleich er gar nicht heiser war, er ahmte eben die bierheisere Stimme eines Unteroffiziers nach, und die vier Sektionen nahmen Tritt, auf Verabredung gleich Paradeschritt an, »halt!! Sektiooon — schwenkt ein!! Geweeehr — ab!! Richt Euch! Vorletzter Mann etwas weiter raus! Wilhelm zieh den Bauch ein! Augen geraaade — aus!!«
Und dann trat er vor und machte mir Meldung.
Es war nur eine Spielerei, aber — dennoch von großer Bedeutung, ich wußte es voll und ganz zu würdigen, obgleich die Zeit damals bei mir noch nicht vorbei war, da ich den deutschen Parademarsch und den ganzen sonstigen Gamaschendrill lächerlich fand.
Heute denke ich darüber anders, und damals wußte ich diese Spielerei ebenfalls zu würdigen.
Diese sechzehn Mann hatten zu den 42 Kilometern fünf Stunden gebraucht. Man mache es nur einmal nach! Die erste Hälfte des Weges hatten sie meist im Dauerlauf zurückgelegt, dann allerdings, als ihnen Pluto mit der beruhigenden Meldung begegnet war, hatten sie sich bedeutend mehr Zeit genommen, aber des schweren Wassergewichts hatten sie sich zur Vorsicht doch noch nicht entledigt, und immerhin, nach fünf Stunden kamen sie hier an, in Paradeschritt, bei vollem Humor! Da mußte man Hochachtung bekommen!
Die erste wirkliche Meldung hatte mir Ernst zu machen, eine ihn sehr beschämende, es war ihm etwas ganz Fatales passiert.
Er hatte alles mitgenommen, was man zu einer geographischen Ortsbestimmung braucht, Tabellen und Quecksilberdose, hatte sich von der Patronin den Taschenchronometer geben lassen, eine gewöhnliche Uhr, welche aber die Kleinigkeit von 4000 Mark gekostet hatte — nur den Sextanten nicht. Statt dessen Etui hatte er in seiner dunklen Kabine eine Schachtel mit Patronenhülsen eingesteckt. Hatte es erst gemerkt, als ihnen Pluto begegnete, als er diesen Punkt bestimmen wollte; hatte es aber nun auch gleich durch Pluto nach dem Schiffe gemeldet, daß man ihm seinen Sextanten durch Hundepost nachschickte.
Na‚ Ernst brauchte nicht so niedergeschlagen zu sein, ich machte ihm keine Vorwürfe, und jetzt gab es anderes zu besprechen. Dort stand die Burg. Die Ankommenden hatten sie schon vor einer halben Stunde vor sich gesehen, aber nicht so wie ich, mit einem Male fix und fertig dastehend, für sie war sie nach und nach aus dem Boden gewachsen, und nicht etwa so, daß sie sich durch Näherkommen vergrößert hätte. Dazu wuchs sie viel zu schnell. Die meisten dieser Männer hatten gleich gewußt, daß es nur eine nächtliche Fata Morgana sein könne.
»Die Wirklichkeit dieser Spiegelung müssen wir natürlich untersuchen. Ihr seid aber wohl nicht mehr fähig, jetzt noch dorthin zu marschieren?«
Fähig, Kunststück! Es wurde mir sehr übel genommen, was ich da gesagt hatte.
Nur erst einmal sich den Magen voll Wasser pumpen und ein paar Bissen essen, dabei sich lieber gar nicht erst hinsetzen, dann gleich weiter. Oder ein Bad genommen, das war auch ein Gedanke, das erfrischte die Glieder und brachte sie nicht in hinterher ermüdende Ruhe.
»Wo ist denn nun der Araber geblieben?« fragte Peitschenmüller, als sich alle schon auszogen.
Ich erzählte ihm alles. Nur was ich sonst dabei durchgemacht hatte, das konnte ich ihm nicht schildern.
»Dort habe ich ihn verpaddelt. Was wird es für Folgen haben?«
»Gar keine. Nur ein Protokoll, nichts weiter. Es war ein Diener, nicht eigentlich zur Garnison gehörend, aber mit unter dem Standrecht stehend, das über dieses einsame Fort immer verhängt ist, und der Kommandant sagte bereits, daß der Kerl, wenn er zurück käme, sofort kriegsgerichtlich gehängt würde. Sie haben ihn der ehrlosen Todesstrafe nur entzogen.«
Na‚ dann war es ja gut. Übrigens hätte ich mir verdammt wenig aus sonstigen Folgen gemacht. Wir paddelten ihn noch einmal aus, untersuchten ihn näher, fanden nichts weiter als im Gürtel einen ziemlich langen Dolch, an dessen Benutzung er gar nicht gedacht hatte. Ich nahm den Dolch an mich und wir scharrten den Toten tiefer wieder ein.
Während sich die anderen im Wasser tummelten, schrieb ich einen ausführlichen Bericht, teilte auch von der Fata Morgana mit, deren Ursache wir sofort untersuchen wollten, schickte mit dem Paketchen Thor auf die Reise, ihm aber auch den anderen Neufundländer mitgebend. Die beiden hatten sich ja unterdessen genügend ausgeruht.
Als wir wieder marschbereit dastanden, nach einer halben Stunde, war die turmgekrönte Festung unterdessen ganz bedeutend zusammengeschrumpft. Daß wir nicht solch ein hohes Gebäude in der Wüste finden würden, dessen waren wir uns überhaupt bewußt. Schon mancher von uns hatte eine Fata Morgana gesehen, die es ja auch zur See gibt, ich eine an der portugiesischen Küste, allerdings eine umgekehrte Luftspiegelung, wie es überhaupt meistens der Fall ist. Da hatte in der Luft ein ungeheures Haus mit einem Fabrikschornstein gehangen, alles also umgekehrt, der Schornstein nach unten, und darüber noch ein Schiff mit himmelhohen Masten. Als wir näher kamen, war es ein kleines Häuschen mit einem Rauchfang gewesen, davor hatte im Hafen ein kleiner Segelkutter gelegen. Die Spiegelung zieht sich eben immer in die Länge.
Wie weit die reelle Festung sich von uns befand, mochte sie sich auch noch so wenig über den Sand erheben, das vermochte von uns niemand zu sagen, wir kannten diese Berechnung nicht. Später habe ich überhaupt gehört, daß solch eine Berechnung bei der Fata Morgana gar nicht möglich ist. Theoretisch wohl, aber nicht praktisch. Man weiß ja niemals, wo sich der aus verdichteter Luft bestehende Spiegel befindet.
Wir nahmen genauen Kurs nach dem Kompaß und marschierten los, Ostsüdost dreiviertel Ost.
Jetzt schrumpften die hohen Mauern ganz rapid zusammen.
Und als wir genau 35 Minuten im Geschwindschritt marschiert waren, da erkannten wir, daß die niedrigen Mauern, die wir jetzt vor uns hatten, Wirklichkeiten waren, und in einer weiteren Viertelstunde hatten wir sie erreicht.
Es war ein ziemlich umfangreiches Gebiet, vielleicht zwei Quadratkilometer, aus dessen Sand zerbröckelte Mauern aus Quadersteinen hervorsahen, nirgends höher als einen halben Meter, nur daß ab und zu noch ein Stein darauf lag.
Das hatte uns eine Festung mit Zinnen und Türmen vorgetäuscht.
Natürlich auch wirklich ein höchst interessanter Fund!
Wir hatten eine alte Ruinenstadt entdeckt, im Sande vergraben. Aber wir durften dieser Entdeckung auch nicht gar zu große Wichtigkeit beimessen.
Besonders in den Wüsten Kleinasiens und Nordafrikas sind die Ruinenstädte einfach zahllos. Wo man eine gröBere Sanderhöhung sieht, und man gräbt nach, da kann man fast sicher sein, auf eine alte Ruinenstadt zu stoßen, deren einstigen Namen man nicht mehr erforschen kann.
Niemand nimmt sich die Mühe, solche Ruinen auszugraben, auch kein Forscher.
Man findet doch nichts weiter als zusammengestürztes Mauerwerk.
Denn diese alten Städte, einst in blühenden Gegenden liegend, sind doch nicht so plötzlich durch eine Katastrophe verschüttet worden, wie etwa Herculanum und Pompeji, sondern sie sind ganz nach und nach, im Laufe von Jahrhunderten, vom Flugsande der nahen Wüste zugedeckt worden, die Einwohner wanderten ganz nach und nach aus, wie die Brunnen versiegten, der Sand eben ein Bewohnen unmöglich machte, und da nahmen sie doch natürlich alles mit, was irgendwie des Mitnehmens wert war. Und als die Stadt ganz verlassen war, dann kamen schließlich immer noch einmal beutelustige Wüstenbewohner und suchten noch einmal nach.
Ja, man kann ja noch etwas finden, unbrauchbare Hausgerätschaften und dergleichen. Aber das findet man doch auch in denjenigen Ruinenstädten, deren Namen wir noch kennen, die für uns ein historisches Interesse haben. Deshalb also gräbt man nicht in solchen unbekannten Ruinen nach. Das ist eine heillose Arbeit, wie wir noch erfahren sollten, die sich absolut nicht lohnt.
Dies alles war mir schon damals so ziemlich bekannt, wir hatten einmal eine deutsche Ruinenforschungsexpedition nach Smyrna befördert, da war ich etwas in die Verhältnisse eingeweiht worden, und ich erzählte jetzt davon.
Nun, etwas nachgraben taten wir morgen natürlich doch, wenn auch nur mit den Händen, eine Mauer mußte doch einmal bis zum Grunde verfolgt, ganz freigelegt werden, interessant war es ja doch, so eine Paddelei in einer Wüstenruine, die wahrscheinlich ein vieltausendjähriges Alter hatte, wenn man auch sonst nichts weiter dabei fand.
Vor allen Dingen legten wir uns jetzt zwischen den niedrigen Mauern schlafen, auch ich fiel noch einmal gleich wieder in Schlummer.
32. KAPITEL. EIN WRACK BESONDERER ART.
Als unsere Hunde, die beiden Bulldoggen und die beiden Bernhardiner, anschlugen, zeigte meine Uhr ein Viertel sechs; bald mußte die Sonne aufgehen.
Sie hatten ein Gebell in weiter Ferne beantwortet; das auch wir jetzt vernahmen, begrüßten den ankommenden Kameraden.
»Das ist Chloe!« sagte Juba Riata nach kurzem Lauschen.
Sie kam, die Heldin aus dem berühmten Schäferspiele »Daphnis und Chloe«, nämlich unsere Schäferhündin. Ich werde sie aber fernerhin als Hund bezeichnen. Mit Unrecht, mir sind die Hündinnen lieber geworden als Hunde, sie sind weit zuverlässiger, was ja auch jeder Jäger weiß.
Wer etwas Näheres über den Charakter des Schäferhundes erfahren will, der lese in Brehms »Tierleben« nach. Dort stehen viele Seiten über ihn, geschrieben zu einer Zeit, da man diesen Hund nur dazu für brauchbar fand, um einen halb blödsinnigen Schäfer beim Hüten zu unterstützen. Wieder so etwas, was nicht sehr für den Scharfsinn und die Beobachtungsgabe des Menschen spricht. Von seiner Dankbarkeit ist überhaupt nicht zu sprechen.
Der Schäferhund ist der Zigeuner unter den Hunden. Das stimmt allerdings. Heute evangelisch, morgen katholisch, übermorgen ist er Jude — ganz wies verlangt wird, wies Geschäft erfordert.
Was aber beim Menschen Charakterlosigkeit ist, das gereicht diesem Hunde zur höchsten Ehre.
»Ist sein Herr ein Stutzer — er findet keinen stolzeren Renommierhund. Muß sein Herr zu Hause die Kinder warten — er kann sie ruhig ganz seinem Schäferhund überlassen. Ist sein Herr ein Wilddieb — sein Schäferhund verwandelt sich in einen unübertrefflichen Stöber und Vorsteher, der nichts mehr haßt als Förster und Waldhüter, seinen Haß aber listig verdeckend.«
Nein, ein größeres Lob kann man dem einst so verachteten Schäferhunde nicht aussprechen, und jetzt endlich fängt man ja auch an, ihn als Polizeihund zu verwenden.
Und daß ich hier überhaupt so viel von Hunden spreche, dafür rechtfertige ich mich durch Arthur Schopenhauers Worte: »Die größte Errungenschaft, die der Mensch gemacht hat, ist die Zähmung des Wolfs zum Hunde!«
Chloe kam angestürmt, auf dem Nacken wohleingewickelt den Sextanten und ein Schreiben der Patronin an mich, ohne weiteren Belang. Nur Antwort sollte sie gleich haben. Arme Hunde! Ihr mußtet hier ja noch etwas hin und her rennen! Aber sie taten es ja auch so gern, es war ihnen ja die reine Lust. Die Sonne erhob sich über den Horizont, wir machten die Bestimmung.
24 Grad 8 Minuten 36 Sekunden nördliche Breite.
17 Grad 29 Minuten 11 Grad westliche Länge.
Hallo!! Überrascht sahen wir uns an.
Die astrologische Bestimmung unseres Sternkiekers!
Nur um 30 Meter waren wir nördlicher gerutscht, die Längenbestimmung war sogar ganz genau.
Zufall oder — irgend etwas, wovon unsere Schulweisheit nichts träumt?
Nevermind, da wollten wir uns den Kopf darüber nicht zerbrechen, ich wenigstens tat es nicht, gab auf solche Fragen keine Antwort, hörte auf solche Gespräche gar nicht hin.
Also wir befanden uns da, wo Mister Carlistle nach einem Schiffe tauchen wollte, brauchten nur 30 Meter südlicher zu rutschen. Eine nochmalige Berechnung ergab, daß wir uns nicht geirrt hatten, der Chronometer war durchaus zuverlässig.
Tauchen? Nun, warum soll man denn nicht auch in Sand untertauchen können. Auf die Beschaffenheit der Substanz kommt es doch nicht an. Man taucht in einer Versenkung oder im Meere der Vergessenheit unter.
Ein Schiff sollte hier gefunden werden?
Nun, warum denn nicht?
Daß diese Stadt hier einst dicht an der Meeresküste gestanden hatte, das war ganz zweifellos. Die Düne von Kap Bojador rückt jährlich acht Meter weiter nach Westen vor, ins Meer hinein. So hat man berechnet.
Wir befanden uns, wie wir nun bestimmen konnten, 47 Kilometer von der Küste entfernt. Durch den letzten Marsch waren noch fünf Kilometer dazu gekommen, von dem Brunnen an, ziemlich direkt nach Osten.
Also hatte diese Stadt vor 6000 Jahren am Ufer des Meeres stehen müssen.
So ergibt die Berechnung. Aber ich traue solchen Berechnungen nicht, besonders auch nicht denen der Geologen, wenn sie etwa Zeiträume nach dem Heben und Senken des Festlandes bestimmen wollen.
Wir begehen immer den Fehler, das heutige Maß als unabänderlich feststehendes zu betrachten. Die Dünen an der Westküste Nordafrikas können ja früher viel schneller oder viel langsamer gewandert sein. Wie kommen wir denn dazu, immer gerade mit acht Metern zu rechnen! Und so ist es mit allen solchen Berechnungen!
Immerhin — wie dem auch sein mochte — einmal hatte hier diese Stadt unbedingt an der Meeresküste gelegen, ob nun vor 1000 oder vor 10 000 Jahren, das war dabei ganz gleichgültig.
Also konnte man hier auch recht wohl das Wrack eines hölzernen Schiffes finden. Holz ist in trockenem Sande unverwüstlich.
Also die Jacken ausgezogen und losgepaddelt. Zum Schaufeln konnten uns nur die kleinen Kochtöpfe dienen. Aber mit den bloßen Händen ging es doch noch schneller. — 848 Dabei stand das Mundwerk nicht still. Hier war das auch nicht nötig, hier brauchte nicht in fünf Tagen eine ganze Prinzessinnenausstattung gefertigt zu werden.
Ich bereicherte die Leute mit meinen eigenen Kenntnissen, die ich aber nicht etwa über diese Sache schon immer gehabt, sondern ich hatte mich eben, ehe ich nach Rio de Oro kam, gut in Büchern orientiert, mehr als die anderen.
Den alten Griechen und Römern galt Kap Bojador als die letzte Grenze, wie weit man bei der Fahrt längst der Westküste Afrikas gelangen konnte. Nämlich weils dort eine außerordentlich starke Strömung nach Norden herrscht, welche die Rudergaleeren nicht überwinden konnten. Hätten sich die Galeeren weiter in die offene See gewagt, so hätte man gefunden, daß sich diese Strömung leicht vermeiden läßt. Das geschah aber nicht.
Trotzdem, die Phönizier müssen schon viel früher viel weiter nach Süden gedrungen sein. Herodot versichert, daß verwegene Phönizier zu Zeiten des Königs Necho von Ägypten, 600 vor Christi, vom roten Meere aus ganz Afrika umschifft haben und auch an der Westküste Afrikas sehr viele phönizische Kolonien besucht haben.
Hierüber sollten auch Urkunden bestehen, Herodot hat sie selbst gelesen, die man aber bisher noch nicht gefunden hat.
Gleichgültig — hier war eine alte Stadt, die einst am Meere gelegen, und wenn ihre Einwohner nicht einem jetzt unbekannten Volke angehört hatten, so waren es wohl Phönizier gewesen.
So erzählte ich den paddelnden Matrosen; auch die Karthager nicht vergessend, die ja ebenfalls zur Erforschung der westafrikanischen Küste mit beigetragen haben, vor allen Dingen der Admiral Hanno, aber doch später als die Phönizier.
Das Wort »Phönizier« genügte schon, das mußte bei meinen Jungen gleich Erinnerungen wecken.
»Hier ist allwedder en phönizischer Diamant!!« schrie als erster Moritz, einen etwas glänzenden Kieselstein von Kopfesgröße in die Höhe hebend.
»Hurra, und hier ist ein phönizischer Hosenknopf! jauchzte bald darnach ein anderer, den Hosenknopf präsentierend, der aber erst seinem Nachbar abgeplatzt war.
Und so ging es bei der Ausgrabung der viel tausendjährigen Stadt weiter, an Witz fehlt es den Matrosen ja nicht, die merkwürdigsten Gegenstände wurden ausgegraben.
Unterdessen hatte ich schon wieder Wassermann nach Hause geschickt, mit dem Bericht, als was sich die Fata Morgana entpuppt hatte, auf welcher Breite und Länge gefunden, und wenn vielleicht noch Leute nachkämen, so sollten sie möglichst viele Blecheimer und ein Bassin aus wasserdichtem Segeltuch mitbringen. Mit der Erklärung wozu. Unbedingt nötig war es ja nicht, aber doch bequemer, falls wir hier länger blieben. Dann hatte jeder von uns, eine Bambusstange mit zwei Eimern auf dem Nacken, täglich nur einmal die fünf Kilometer nach dem Süßwasserteich hin und zurück zu machen, was in zwei Stunden geschehen war, und wir hatten Wasser in Hülle und Fülle. Außerdem natürlich noch Holzschaufeln, wie wir sie auf der brasilianischen Sandbank verwendet hatten. Aber, wie gesagt, unbedingt notwendig war dies alles nicht.
Wir paddelten den ganzen Tag an einer Mauer hinab in einer Breite von etwa zehn Metern, und zwar auf beiden Seiten, damit nicht etwa der enorme Sanddruck von der einen Seite her die Mauer umwarf, und am Abend hatten wir sie bis zu einer Tiefe von sechs Metern freigelegt. Eine recht ansehnliche Arbeit, die wir da geleistet hatten; denn es ist dabei doch das starke Gefälle des losen, feinen Sandes in Betracht zu ziehen.
Die Mauersohle hatten wir noch nicht erreicht, dagegen schon große Blöcke zu Tage gefördert, die offenbar von eingestürzten Decken herrührten. Auf unterirdische Kammern zu stoßen, die aber früher noch über der Erde gelegen hatten, damit durften wir überhaupt nicht rechnen. Die Last des sich aufhäufenden Flugsandes mußte doch alle Mauerung eingedrückt haben, nur senkrechte Mauern waren stehen geblieben, oder vielleicht, daß massive Platten diese Last ausgehalten hatten. Auf eine solche aber waren wir hier nicht gestoßen.
Für heute abend langte das mitgebrachte Wasser noch, morgen früh mußten wir uns aber auf den Weg nach dem Brunnen machen, womöglich noch vor Sonnenaufgang, am besten gleich alle zusammen, um uns satt zu trinken und die Wasserschläuche wieder zu füllen.
Es war ein ganz fideles Tagewerk gewesen, und die humoristische Unterhaltung währte noch lange in die Nacht hinein.
»Wir werden ein phönizisches Wrack finden, aber erst am 10. September, nachmittags punkt zwei.«
So hieß es allgemein, denn ich hatte ja von Mister Carlistles Behauptung erzählt, das war ich den brav schippenden Leuten geradezu schuldig gewesen, und so wurde nicht nur ironisch gesprochen, denn mehr oder wenig abergläubisch sind doch alle Teerjacken, wohl überhaupt alle Menschen — ich nicht ausgeschlossen — wenn ich's auch nicht gestehen mag.
Gut, dann hatten wir noch zwölf Tage Zeit, denn heute war erst der 29. August. Bis dahin aber wurde trotzdem brav weiter geschippt oder mit den Händen gepaddelt, bis dahin wurde so viel Mauerwerk als möglich freigelegt, mochten wir auch absolut nichts finden.
Am nächsten Morgen um vier Uhr wurden wir wieder durch Hundegebell geweckt, eine neue Expedition kam anmarschiert, aus nicht weniger als 35 Köpfen bestehend, darunter die Patronin, Mister Carlistle, Doktor Isidor und von Fremden zwei spanische Offiziere und drei Soldaten vom Fort.
Sie waren bei Sonnenuntergang aufgebrochen, waren mäßig marschiert, hatten über Mitternacht drei Stunden gemacht. Die Leute waren schwer mit Proviant bepackt, statt der Bambusstange mit zwei Holzschaufeln oder Hacken, außerdem trug jeder drei zusammengesteckte Blecheimer, von denen jeder zwei zuletzt am Teiche gefüllt hatte, uns sogleich Wasser bringend.
Die beiden Offiziere waren mit den drei Soldaten als Gepäckträger aus Neugierde mitgekommen, ich erfuhr gleich, daß sie nicht etwa was mit Beschlag belegen könnten für das Fort oder für die spanische Regierung, und wenn wir hier auch goldene Berge und Kisten voll Diamanten ausgraben sollten. Da kommt ein spanisches Gesetz über das Schatzfinden in Betracht, so weit es nicht auf privatem Boden ist, sonst ist alles freies Eigentum des Finders.
Mister Carlistles Aufregung, so sehr er sie auch zu bemeistern suchte, war begreiflich. Erst hier an Ort und Stelle befiel sie ihn richtig.
Ich mache es kurz. Zwölf Tage lang haben wir geschaufelt, der 10. September war angebrochen.
»Heute nachmittag um zwei Uhr werden wir das Wrack finden!« versicherte unser Sternkieker zum hundertsten Male.
»Nach hiesiger Ortszeit?«
»Ja. Zwei Stunden, nachdem die Sonne den Zenith überschritten hat, werden wir das Wrack erblicken. So hat mir das Medium versichert, und es hat sich nie, nie getäuscht.«
Es war verdammt wenig Aussicht dazu vorhanden, daß die Prophezeiung auch diesmal in Erfüllung gehen würde.
Wir hatten in den zwölf Tagen das in Betracht kommende Geviert von ungefähr 1000 Quadratmetern vollständig ausgegraben. Ein Irrtum wegen der Lage war ausgeschlossen, Doktor Isidor hatte mit dem Meridianfernrohr zwei Zeitbestimmungen gemacht, die Kontrolle dazu — alles stimmte bis aufs Pünktchen oder die Erdachse — 853 hatte sich unterdessen anders geneigt. Aber dieser Astronom konnte sogar berechnen, daß auch dies nicht der Fall war. Mister Carlistle hätte die geographische Bestimmung bis zur zehntel Sekunde geben können, wir hatten ein Loch genau an diesem Punkte von drei Metern Durchmesser aufgeworfen. Aber er konnte die Bestimmung nur bis zur einfachen Gradsekunde geben.
Dann war aber auch gar keine Aussicht vorhanden, hier ein Schiffswrack zu finden; denn hier befanden wir uns so ziemlich im Zentrum der uralten Stadt. Nackt reckten sich die dicken Mauern empor, zehn Meter hoch und noch höher, die Straßen waren gepflastert gewesen, mit Steinplatten belegt, wir hatten sie aufgerissen, wir hatten Keller gefunden, aber kein Schiff, überhaupt absolut nichts.
Wie sollte denn auch mitten in die Stadt ein Schiff hereinkommen?
Wir hatten anderswo graben wollen, außerhalb der Stadt, wo eher der ehemalige Hafen zu vermuten war — Mister Carlistle hatte es nicht für nötig, als zwecklos befunden.
Er war von der Richtigkeit der astronomischen Berechnungen des Doktors überzeugt, er zweifelte nicht an seinem spiritischen Medium — also mußte das Wrack mit seinem geheimnisvollem höchst kostbaren Inhalt hier, gerade hier in diesem Geviert gefunden werden.
Aber erst am 10. September, nachmittags um zwei. Also hatte es eigentlich überhaupt gar keinen Zweck gehabt, schon immer hier zu paddeln.
Nun, wir hatten getan, was wir hatten tun können, nur um unseren Charterpatron unseren guten Willen zu zeigen — ob es Zweck hatte oder nicht, ob er es anerkannte oder nicht.
So war der 10. September gekommen. Heute mittag wurde keine Siesta gehalten. Nur etwas kaltes Cornedbeef mit Reis, auf Petroleum gekocht; alles auf Menschenrücken nachgebracht, und es wurde weiter geschaufelt und gehackt.
»Punkt zwei finden wir das Wrack!« sagte Mister Carlistle, die Uhr in der Hand, die wenige Minuten vor zwei wies.
Solch eine Vertrauensseligkeit hatte ich noch nicht gesehen. Ich war eben mit solchen Okkultisten und ähnlichen irdischen Geistern noch gar nicht zusammen gekommen.
Es wurde um zwei, der große Zeiger lief ruhig weiter, und von einem Wrack oder so etwas Ähnlichem gar keine Spur.
Mister Carlistle war furchtbar niedergeschlagen, murmelte immer etwas vor sich hin, wich jedem aus, kroch allein zwischen den Mauern und Trümmern herum.
Und mit uns allen trat nun auch ein gewaltiger Umschlag ein.
Die ganzen zwölf Tage hatten wir kein Wörtchen gesagt. Nun aber hatten wir diese Paddelei und Schlepperei satt! Mir taten schon die armen Hunde leid, die fortwährend zwischen unserem Schiffe und hier unterwegs gewesen waren.
»Ich dächte, Frau Patronin, wir rückten sofort ab. Nun ist's genug des grausamen Spieles.«
»Bis heute abend noch.«
Gut, so lange wollten wir noch schaufeln und hacken. Von Sonnenuntergang bis Mitternacht sollte geruht werden, dann wurde abgerückt; morgen früh waren wir wieder an Bord unseres Schiffes. Ach, was wir uns darauf freuten!
Also wir arbeiteten weiter, legten noch einige Keller frei, ohne auch nur ein Spähnchen versteinertes Holz zu finden. Dabei gefiel es mir gar nicht, daß die meisten der Matrosen und einige Heizer jetzt über den »Sternkieker« blutige Witze rissen. Gerade die waren zuerst ganz Vertrauensseligkeit gewesen; aber so ist eben der Mensch.
Außerdem war es eine ganz gefährliche Arbeit, die immer gefährlicher wurde. Es waren schon mehrere Mauern eingestürzt, nur unserer Vorsicht war es zu danken, daß noch kein Unglück geschehen war.
Es waren lauter mächtige Mauern, aus meterdicken Quadern, aus dem Steinboden gebrochen und bearbeitet, aufgetürmt, mit einer Art Mörtel miteinander verbunden. Mochte dieser Mörtel auch schon verwittert sein, die Quader lagen noch fest. Nun aber hatten sämtliche Mauern noch eine Verkleidung auf beiden Seiten, das waren aber auch schon wieder dicke Mauern, und diese lösten sich oft ab, krachten zusammen. Wie gesagt, wir mußten äußerst vorsichtig sein, zumal jetzt bei den Kellerarbeiten.
Die Nacht brach an, wir bereiteten unser spärliches, wenn auch sehr nahrhaftes Abendessen, außerhalb dieses gefährlichen Sandloches lagernd. Nur Mister Carlistle war nicht bei uns, der kroch noch mit seiner Petroleumlaterne in den Ruinen herum.
Es wurde um acht, die meisten Leute schwatzten noch zusammen, Carlistle war noch nicht zurück.
»Na nun haltet endlich die Luft an!« wurde ich einmal grob, als einige noch immer über den Geister— und Sternkieker spotteten oder auch über ihn schimpften. »Ihr seid ja selbst die reinen Kinder gewesen, die sich vor Gespenster fürchten. Macht's Maul zu und schlaft, damit ihr nachher unterwegs nicht liegen bleibt.«
Da krachte und donnerte es dort unten in dem ausgepaddelten Tale, von aufgeworfenen Sandbergen eingeschlossen
Wieder war die Verkleidung solch einer Mauer abgefallen, was aber immer ebensogut war, als wenn eine ganze Mauer, ein ganzes Haus einstürzte.
»Ssst — ruft da der Yankee nicht um Hilfe?!«
Wahrhaftig — »To help! To help!« erklang es dort unten in ziemlicher Entfernung.
Na‚ nun war's ja gut, jetzt verunglückte der auch noch!
Wir noch mehr Lampen angebrannt und hinab, natürlich blieb keiner zurück.
Carlistle rief noch immer, aber nicht mehr um Hilfe, sondern nur um uns die Richtung anzugeben, was uns freilich nicht über seinen Zustand beruhigen konnte.
Bald sahen wir ihm liegen. Es war richtig wieder so eine Wandverkleidung eingestürzt, der Yankee lag unter den Trümmern, und zwar ganz gewaltige Steinplatten, war wenigstens mit den Beinen eingequetscht!
Zuerst aber, wie er uns erblickte, streckte er den Arm aus.
»Das Schiff — da ist das Schiff!«
Alle Wetter ja!
Das Schiff war doch noch gefunden worden!
Allerdings nicht solch ein Schiff‚ an das wir immer gedacht hatten.
Die abgestürzte Wandverkleidung hatte in der eigentlichen Mauer in Brusthöhe eine Nische freigelegt, in dieser stand ein Schiffsmodell, ungefähr einen halben Meter lang.
Ehe wir es näher betrachteten, mußte natürlich dem Verunglückten zu Hilfe gekommen werden, eher wagte gar niemand hinzusehen, so anständig war jeder. Aber er war gar nicht verunglückt, war nur mit den Beinen eingeklemmt gewesen, nicht ein einziger Hautriß.
Nun erst wurde das Modell untersucht. Es war das Modell einer Rudergaleere, aus Bronze getrieben oder gegossen, vorn als Gallionsfigur der Kopf eines menschlichen Ungeheuers, jedenfalls der Kinderopfer liebende Moloch oder Malik oder Melkart, und dieses gefundene Schiffsmodell konnte insofern als Wrack gelten, als die einst vorhanden gewesenen Ruderstangen abgebrochen waren, desgleichen der Mast, und auch sonst war das Ding ziemlich verbeult.
Es mochte fünf Pfund wiegen, beim Schütteln klapperte es darin.
»Vorsicht, Vorsicht!«
Wir waren schon vorsichtig genug. Gleich hier an Ort und Stelle wurde untersucht und die Planke bald gefunden, die sich aufschieben ließ. Aus dem Hohlraum kam eine Rolle zum Vorschein, offenbar eine Papyrusrolle.
Wir waren mit ihr noch vorsichtiger, solche uralte Dinger zerbrechen doch sehr leicht, diese hier aber tat es nicht, ließ sich ganz leicht aufrollen — auf grauem Grunde waren mit tiefschwarzer Schrift, die sich wunderbar erhalten hatte — als Farbe, meine ich — Hieroglyphen gemalt. Es war ein ganz beträchtliches Schriftstück, einen Meter lang und ein Drittel Meter breit, sehr eng geschrieben.
Hierbei erwähne ich noch, was ich bisher vergessen hatte, daß wir in den Ruinen sonst keine Schrift gefunden hatten, etwa eingemeißelte, keine Figur, gar nichts.
»Doktor, was ist das für eine Schrift?«
»Nicht assyrisch, nicht phönizisch, nicht die der Karthager — ich kenne sie nicht.«
Mit diesem Funde begnügten wir uns, brachen aber nun schon um neun auf, denn mit der Ruhe war es jetzt doch vorbei.
»Georg, was sagst Du zu alledem?!« fing Helene bei der ersten Gelegenheit mit ganz entgeisterten Augen zu mir an.
»Gar nischt!« war meine Antwort, und hätte sie mich als Waffenmeister behandelt, so wäre ich nicht höflicher gewesen.
Nein, ich wollte von alledem nichts wissen, das heißt, mich nicht in Spekulationen ergehen, und wer das nicht merkte, daß ich dies nicht wollte, dem konnte ich auf Wunsch auch noch gröber kommen.
So gerecht war ich aber nun auch wieder, den Betreffenden nicht daran aufmerksam zu machen, daß der Sternkieker das Schiffsmodell ja nicht nachmittags punkt zwei gefunden habe, wie ihm das Medium prophezeit. Das wäre dann auch nur eine Wortklauberei gewesen, so bin ich nicht. Ich pfiff überhaupt auf die ganze Sache, freute mich nur, nun nach dieser verdammten Paddelei wieder an Bord zu kommen.
Früh um acht trafen wir in Oro wieder ein, nach einem mäßigen Marsche mit zweistündiger Nachtruhe.
Doktor Isidor nahm die Papyrusrolle sofort in Angriff, Mister Carlistle war immer nur ein untätiger Zuschauer, wenn er einmal mit dabei war, aber es sollte gar lange dauern, ehe die Schrift enträtselt werden konnte.
33. KAPITEL. KAPITÄN SATAN VOM »SEETEUFEL«
»Wohin nun, Mister Carlistle?« fragte noch an demselben Tage die Patronin den Chartermeister in meiner Gegenwart.
»Haben Sie nicht ein Ziel vor?« war die Gegenfrage.
»Nein.«
»Bitte, Sie können es ruhig sagen.«
»Nein, ich habe nichts vor.«
»Dann bitte ich Sie, Ihr Schiff nach China zu dirigieren.«
»Wie Sie wünschen. Durch den Suez—Kanal? Das ist der nächste Weg von hier aus.«
»Die Route überlasse ich ganz Ihnen.«
»Sie wissen aber, wohl, daß die Passage durch den Suez—Kanal pro Tonne fünf Franken kostet, das machte bei meinem Schiffe 25 000 Franken, wozu noch Lotsengebühren und andere, allerdings keine beträchtlichen mehr, kommen.«
»O, diese 25 000 Franken hätten ja gar nichts zu bedeuten!« konnte der halbe Milliardär, wenn er nicht geizig war, mit Recht entgegnen. »Aber es ist sogar Bestimmung — ich will es Ihnen offenbaren — daß ich mich unbedingt ganz Ihnen fügen muß, auf welchem Wege Sie mich nach China bringen werden.«
»Also wieder eine Bestimmung, natürlich wieder so eine spiritistische oder astrologische, und nun konnte sich die Patronin nicht enthalten, noch weiter zu fragen, leider ohne mich vorher hinauszuschicken, und ich war doch zu schwach, um gleich von selbst zu gehen.
»Ihnen auch wieder von jenem Medium gegeben?«
»Nein, diese Bestimmung habe ich mir selbst aus den Sternen berechnet.«
»Daß Sie sich nach China begeben sollen?«
»Ja, es ist unbedingt für mein Schicksal notwendig, dort wird etwas tief, tief in mein Leben eingreifen.«
»Hoffentlich ist es etwas Gutes.«
»Ja, es ist etwas Günstiges für mich.«
»China ist groß, die chinesische Küste lang.«
»Zunächst ist mir im allgemeinen China offenbart worden, die nähere Bestimmung des Ortes findet später statt, wenn sich die Zeit erfüllt hat. Nur ist es unbedingt nötig, daß ich an Bord dieses Schiffes nach China komme.«
»Wann, bleibt gleichgültig?«
»Gänzlich.«
»Ich könnte mich unterwegs auch einmal längere Zeit aufhalten?«
»Ganz wie Sie wollen. Wenn Ihr im Auge behaltenes Ziel nur China ist.«
»Herr Waffenmeister,« wandte sich die Patronin jetzt an mich, »ob von hier aus um Afrika oder um Amerika herum nach China, dabei ist in der Entfernung kein großer Unterschied, das weiß ich gleich aus dem Kopfe, ohne erst auf eine Karte sehen zu müssen. Aber sind jetzt auch die Wind- und Wetterverhältnisse günstig, um durchs die Magalhaesstraße zu fahren?«
»Wind- und Wetterverhältnisse dürfen bei einem Schiffe wie dem unsrigen, einem ursprünglichen Kriegsschiffe, überhaupt gar nicht in Frage kommen!« entgegnete ich.
»Gut. So segeln oder dampfen wir durch die Magalhaesstraße, statten noch einmal unserer Argonautenbucht einen Besuch ab. Nur noch eins, Mister Carlistle. Doktor Cohn sagte mir vorhin, daß er vor der Papyrosrolle als vor einem ihm vorläufig unlösbaren Rätsel stände. Es sei offenbar eine Geheimschrift, also eine ganz künstlich gemachte Schrift, und auf die Enträtselung solch einer Geheimschrift sei er nicht geeicht — so drückte er sich aus — da müsse er sich erst einrichten, was erst ein langes Studium erfordere. Weiter sagte er mir, daß es da Kapazitäten gebe, die sich die Enträtselung solcher Geheimschriften zur Spezialität gemacht haben, das sei vor allen Dingen in Buenos Ayres der Professor Salvatore, für so etwas weltberühmt, und Doktor Cohn kennt ihn, er hat wenigstens viel mit ihm über Schachprobleme korrespondiert — wollen wir da nicht erst einmal nach Buenos Ayres?«
»Nein, gnädige Frau Patrona. Es steht in den Sternen geschrieben, daß die Entzifferung dieser Papyrosrolle unbedingt an Bord dieses Schiffes durch unsere eigene Bemühungen zu erfolgen hat, sonst würde der Inhalt dieser Schrift für mich ganz bedeutungslos werden. Das habe ich heute nacht schon, als wir in der Wüste Rast auf dem Marsche hielten, mit absoluter Zuverlässigkeit aus den Sternen mit dem Zirkel gestochen.«
So sprach der junge Mann.
Und ich mußte mir schnell auf die Lippen beißen.
Na da! Arme Sterne, wenn Ihr wüßtet, wozu Ihr für eine gewisse Art von Mikroben, die auf diesem Planeten schmarotzen, vorhanden seid, wie die Euch mit spitzen Zirkeln im Leibe herumstochern!
Und, Gott, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie dieser da! Daß Du meinen Schädelinhalt für solchen Aberglauben unempfänglich gemacht hast!
Die Unterredung war beendet, die Leute erfuhren gleich unser nächstes Ziel, und sie alle freuten sich, wieder die Argonautenbucht zu besuchen, wo wir doch alle erst richtig zusammengeschweißt worden waren, so wie auch ich mich darauf freute.
Am Abend gaben wir der ganzen Garnison eine Vorstellung, natürlich ohne Entree, das waren wir ihnen schuldig, wenn sie auch wenig Gelegenheit gehabt hatten, uns ihre Gastfreundschaft zu beweisen, diese armen hier in die Wüsteneinsamkeit verbannten Leute würden ein ganzes Jahr an »Kling—Klang—Klung« und an Klothildes und Augusts Schuhplattler und allen den anderen Krimskrams zu zehren haben, und am nächsten Morgen brachte uns der Lotse durch die Sandkanäle ins offene Meer.
Die Fahrt über den ganzen Atlantik von Nordost nach Südwest erfolgte in 26 Tagen so abwechlungsreich wie immer. Das heißt, an Bord wohl jedes anderen Schiffes, auch des mit allen Spielvorrichtungen und Schwimmbad und Musikkapellen ausgestatteten Luxusdampfers wäre es wohl eine überaus langweilige Seereise gewesen. Denn die schreckliche Langeweile bleibt auf einer so langen Reise durch die Wasserwüste nie aus. Nur an Bord unserer »Argos« konnte so etwas wie Langeweile gar nicht aufkommen. Weil wir eben die waren, die wir waren. Anders kann ich mich nicht ausdrücken. Jedenfalls aber: wenn ich erzählen wollte, was sich allein in diesen 26 Tagen an Bord unseres Schiffes ereignete, was jede Tag— und Nachtstunde für einen neuen tollen Witz oder eine humoristische Szene brachte — es würde allein schon ein dickes Werk entstehen wie dieses hier, das ich über die ganze Argonautenzeit schreiben will.
Deshalb will ich über diese 26 Tage lieber überhaupt gar nichts erwähnen.
Nur das will ich sagen, daß der Sternkieker noch immer jede Nacht, wenn der Himmel klar war, in seinem Rasierspiegel brav mit dem Zirkel maß, glücklicherweise aber ohne etwas zu äußern, was er da aus den Sternen herausgestochert hatte. Er verschonte uns mit seinem Aberglauben gänzlich.
Anders aber wurde es, als wir in der MagalhaesstraBe wieder vor unserer Bucht lagen und berieten, ob wir die Fahrt durch den schmalen Kanal wagen sollten oder nicht. Da trat der Sternkieker einmal aus seiner Reserve heraus.
Es war am 9. Oktober in der Mittagsstunde, als wir in der Magalhaesstraße an derselben Stelle lagen, wo damals Doktor Isidor seine astronomischen Berechnungen beendet und wir mit dem schwimmenden Hundegefolge die Bootsfahrt in die Bucht angetreten hatten.
Vor Einfahrt in die Magalhaesstraße, noch im Atlantik selbst, hatten wir ziemlich ruhige See gehabt, dann war der Wind umgesprungen, jetzt brandete es dort an der Küste ganz mächtig, wenn auch noch nicht so schlimm wie es hier manchmal toben kann, überhaupt die meiste Zeit tobt. Auf den Bergen bis herab in die Ebenen lag noch dicker Schnee, hier setzte ja erst der Frühling ein.
Sollten wir die Einfahrt riskieren oder nicht?
Zunächst mußte da ja Mister Carlistle als Charterpatron befragt werden, der hatte doch das Schiff mit eigenem Gelde versichert.
»Machen Sie es ganz, wie Sie es für gut befinden, Herr Kapitän. Halten Sie die Einfahrt für möglich, so bleibt meine Versicherung bestehen, daran ist nicht zu rütteln.«
Das war eine äußerst nette Antwort gewesen. Aber dann kam ein böser, böser Nachsatz.
Übrigens werde ich mein ägyptisches Punktierbuch befragen, da werden wir ja gleich sehen, ob wir die Durch- und Einfahrt wagen dürfen oder nicht.
Und Meister Carlistle begab sich in seine Kabine, um zu »punktieren«. Wer da weiß, was das ist, dem schadet es ja nichts weiter — und wohl dem, der es nicht weiß. Ich kannte es von einem Dienstmädchen, das wir einmal hatten, die punktierte immer hieraus, was es zu bedeuten habe, wenn sie einmal von Läusen geträumt hatte, ob ihr Bräutigam ihr treu bleibe oder nicht. Ja, er war und blieb ihr treu — und dabei wurde der Schneidergeselle jede Woche gepfändet, obgleich er hohen Lohn bekam, so viel Alimente hatte der Kerl zu zahlen.
Na‚ das war ein Dienstmädchen gewesen, aus Memel, noch weiter von dort hier, wo sich die Füchse gute Nacht sagen.
Aber nun hier dieser junge, gebildete halbe Milliardär. Zum Teufel noch einmal, wenn man so einen Haufen Geld hat, muß man doch auch einen ganzen Haufen Bildung haben! Was man so Bildung nennt. Oder nicht?
Und geht der jetzt, um das ägyptische Punktierbuch zu befragen, ob wir mit unserem Kriegsschiffe dort durch die Brandung in die Bucht einfahren sollen oder nicht!
Heiliges Bombenelement noch einmal, das war eigentlich der beste Witz gewesen, den wir während dieser ganzen Fahrt erlebt hatten!
Gleichzeitig aber erfaßte mich etwas wie eine grenzenlose Scham — über die ganze Menschheit, zu der ich doch auch gehöre.
Ein unbeschreiblicher Blick war es denn auch, den Kapitän Martin dem Davongehenden nachschickte, und dann beorderte er sämtliche Offiziere, auch die Maschinisten, ferner die beiden Bootsleute und vier Matrosen, an deren Erfahrung er etwas gab, auf die Kommandobrücke.
»Haltet Ihr die Einfahrt in die Bucht ohne Gefährdung des Schiffes für möglich? Wägt ab, und dann offenes Urteil! Auch Ihr, Matrosen!«
Sie blickten lange nach dem Kanal, in dem es furchtbar schäumte, und niemand wollte sprechen, sein Urteil abgeben. Und ich konnte es ihnen auch nicht verdenken.
Nur ein einziger hatte den Mut dazu, der alte Larsen, der erste Bootsmann, der Finne mit den entsetzlich krummen Beinen und den herabhängenden Schultern, genannt Napoleon.
Die haarigen Affenarme über der geöffneten, zottigen Brust verschränkt, sah er mit seinen Napoleonsaugen scharf nach der brandenden Küste.
»Nee, Käpten, 's ist, too riskant!« sagte er dann.
»Well. Und Ihr anderen? Stimmt Ihr dem Bootsmann bei oder dagegen? Offen hieraus!«
»Wir stimmen ihm bei — 's ist zu riskant!«
»Well, es ist entschieden. Wir fahren nicht ein.«
»Und Ihre eigene Meinung, Herr Kapitän?« fragte die Patronin.
»Käme nicht in Betracht, wäre überstochen.«
»Und wenn Mister Carlistle nun nach seinem Buche versichert, daß wir glücklich durchkämen?«
»Er soll mit seinem ägyptischen Traumbuche zur Hölle gehen und dies Teufels Großmutter punktieren!« konnte Kapitän Martin auch seiner Reederin gegenüber einmal reichlich grob werden.
»Wenn er aber nun darauf besteht, nun gerade, wegen seiner prophetischen Überzeugung, und er hat für das ganze Schiff doch vollen Einsatz gegeben?«
»Dann, Frau Patronin, wenn auch Sie dem beistimmen, was ich nicht verhindern kann — dann übergeben Sie das Kommando über dieses Schiff einem anderen, ich lege es sofort nieder.«
Alle Wetter noch einmal. Aber recht so, recht so!
Aber es sollte immer noch ganz, ganz anders kommen. Eine großartige Szene sollte noch folgen. Wenn der Leser diese Großartigkeit nicht richtig erfaßt, so ist das meine Schuld, dann habe ich die ganze Szene nicht richtig geschildert, habe die richtige Pointe verpaßt. Für mich war es eine der großartigsten Szenen, die ich jemals erlebt habe. Wenn es dabei auch ohne jeden großartigen Kampf abging.
Mister Carlistle kam wieder aus der Kajüte, erstieg die Kommandobrücke.
»Nein, das Schiff würde unfehlbar scheitern, wenn wir in die Bucht fahren wollten, ich habe es mit untrüglicher Gewißheit aus den Sternen punktiert.«
So sprach Mister Carlistle. Und da plötzlich sah ich, wie sich das verwetterte, an sich schon rote Gesicht des Kapitäns noch dunkler färbte, wie aus seinen blauen Augen ein wahres Wetterleuchten schoß, und er reckte seine hohe Gestalt noch höher empor.
»Alle Mann auf die Stationen!« donnerte sein Baß. »Voller Dampf auf! Klar zum Ramm!«
Da gab es nichts mißzuverstehen, die Leute rannten, machten hauptsächlich die Korkfänder klar, die Maschinisten eilten unter Deck.
»Sie wollen es dennoch wagen?« sagte Mister Carlistle. »Und ich versichere Ihnen, ich garantiere Ihnen, daß dieses Schiff unfehlbar . . . «
Er sprach nicht weiter. Mit einer schnellen Bewegung hatte der Kapitän seine Tuchkappe vom Kopfe genommen, griff mit seinem langen Arm ins Kartenhaus hinein, nahm dort die Kapitänsmütze vom Tische, setzte sie auf, blickte den Amerikaner an . . .
Dieser verstand sofort, neigte den Kopf, verließ die Kommandobrücke, ohne noch ein Wort gesagt zu haben.
»Frau Patronin,« wandte sich Martin jetzt ganz gelassen an diese, »ich weiß, was ich tue. Ich halte die Einfahrt für möglich, mag es auch ein gefährliches Wagnis sein. Aber ich halte es für möglich. Ich wollte dem Urteil jener erfahrenen Männer nur nicht widersprechen, diesem Gesamturteil hätte ich mich gefügt — aber wie die Sache nun gekommen ist . . . verdammt, nein, solch einem Schicksalsspruche füge ich mich nimmermehr! Jetzt wirds gewagt! Und wenn dem Schiffe doch etwas passiert — ich, Kapitän Gustav Martin, bin gut für die zwei Millionen!«
Mehr brauchte nicht gesprochen zu werden. Schon qualmte der Schornstein mächtig, nach drei Minuten meldete der klingelnde Signalapparat aus dem Maschinenraum volle Dampfspannung und Kapitän Martin griff selbst in die Speichen des Steuerrades.
Ich will das Resultat dieser Auflehnung gegen einen menschlichen Schicksalsspruch gleich im voraus verkünden.
Wir kamen unversehrt hinein, wir kamen auch unversehrt wieder heraus.
Seit dieser Zeit verschonte uns Mister Carlistle mit seiner Sternseherei und Punktiererei. Wohl trieb er noch für sich seinen Hokuspokus — was dieses negative Resultat seiner Prophezeiung auf ihn für einen Eindruck machte, wie er es für sich zu rechtfertigen wußte, das weiß ich zwar nicht — danach bestimmte er noch seine Ziele und Termine, wir taten ihm seinen Willen, wenn es nicht gegen unsere direkte Überzeugung war — aber mit seiner eigentlichen mystischen Praxis verschonte er uns von jetzt an gänzlich.
Also wir fuhren auf den Kanal zu. Das heißt, das Schiff tanzte wie ein toller Ziegenbock, und tanzte umso mehr, je mehr wir uns der Küste näherten. Ich selbst hätte die Durchfahrt nicht gewagt, hätte ein glückliches Durchkommen eigentlich auch nicht für möglich gehalten.
Wie wir durchkamen, das kann ich unmöglich schildern. Kurz und gut, wir kamen durch, ohne irgendwie einmal angeeckt zu sein.
Dann waren wir in der Bucht, glatt wie ein Spiegel. Und wenn ich sagte, daß Kapitän Martin, als er jetzt die Speichen losließ, sie dem Matrosen wieder übergebend, sich den Schweiß vom Gesicht wischte, der urplötzlich ihm aus allen Poren perlte, so kann der Leser vielleicht begreifen, was das für fünf Minuten gewesen waren, die wir durchgemacht hatten — nur fünf Minuten, aber eben was für welche!
Und da überkam mich etwas, da beging ich einmal einen schweren Verstoß gegen die Bordroutine.
Ich schwenkte meine Mütze.
»Ein hip hip hurra für unseren Käpten. Hip hip hip . . . «
»Hurra!l« donnerte es nach.
Es hätte aber nicht viel gefehlt, so wäre uns allen dieses Hurra in der Kehle stecken geblieben. Ich habe die Bucht schon früher beschrieben. Also wenn die Küste auch im allgemeinen flach war, so gab es doch auch viele Felsmassen, auch schon vorgelagerte. Über diese konnten wir von Deck aus nicht blicken, nur wenn man erst ein gut Stück die Wante hinauf geklettert war, aber daran hatte diesmal niemand gedacht.
Und wie wir nun das ruhige Wasser der Bucht erreicht haben, da sehen wir dort an dem niedrigen Felsenrand, gar nicht weit von unserer ehemaligen, bedeutend höheren Anlegestelle ein langgestrecktes Fahrzeug liegen, welches das kundige Auge sofort als ein großes Torpedoboot oder gleich als einen Torpedojäger von etwa tausend Tonnen erkennen muß.
Aber ein Kriegsschiff kann es nicht sein, denn am Heck weht eine Handelsflagge die Novascotia—Flagge, rot mit blauen Querstreifen.
Ich will hier gleich erledigen, was über Novascotia in Bezug auf die Schiffahrt zu sagen ist — über die Novoascotiamen, also Neuschottland, die Küstenprovinz Kanadas, von der die Hauptstadt Halifax ist. Aber das ist eine deutsche Übersetzung, die in Wirklichkeit niemand gebraucht; es heißt Novascotia.
Halifax und die anderen Häfen dieser kanadischen Provinz haben eine ganz bedeutende Schiffahrt, lassen prozentual von allen Seestaaten noch die meisten Segelschiffe gehen, hauptsächlich nach China und anderen teebauenden Ländern, versorgen das ganze östliche Amerika mit Tee. Dazu müssen die Schiffe um Kap Horn gehen, bei dieser langen Reise kann kein Dampfer mit einem Segler konkurrieren, wegen der Kohlenunkosten, daran wird auch der Panamakanal nichts ändern, von einer Bahnbeförderung des Tees über San Franzisko nach dem Osten erst gar nicht zu sprechen.
Die »Novascotiamen«, wie schon diese Schiffe allgemein genannt werden, zahlen die höchsten Heuern. Der Matrose bekommt monatlich 120 Mark. Während Nordamerika sonst nur 100 Mark zahlt. England 80, Deutschland 60. Am wenigsten Heuer zahlt Griechenland, 20 Mark. Die griechischen Matrosen sind eben auch danach, obgleich die Höhe der Heuer eigentlich nicht die seemännische Tüchtigkeit ausdrückt.
Die Novascotiamen sind in der ganzen seefahrenden Welt ohne Konkurrenz wegen ihrer Verwegenheit, wegen ihrer Tollheit. Es gibt wohl ein Reffen, aber kein Festmachen der Segel wegen eines Sturmes. Lieber läßt der Kapitän alle Masten abknacken, ehe er deswegen ein Segel birgt. Oder sonst wäre er eben kein Novascotiaman. Und kein Novascotiaman läßt sich von einem anderen Segelschiffe überholen, lieber wirft er die halbe Ladung über Bord, und sie haben nur hölzerne Masten, weil man diese schwippend machen kann, was bei eisernen nicht möglich ist, wiederum auf die Gefahr hin, daß sie abknacken. Aber nur nicht sich von einem anderen Handelssegler überholen lassen!
Ferner sind die Novascotiamen konkurrenzlos in ihrer Roheit. Es ist die roheste Bande, die auf Gottes Erde existiert. Was früher die Steinetreiber zu Lande gewesen sind, zum Teil auch jetzt noch, das sind die Novascotiamen zur See, nur daß sie die Steinetreiber noch weit, weit hinter sich lassen.
Und diese Novascotiamen, jetzt als Matrosen, als Seeleute so genannt, sind fast ausschließlich Deutsche. Wenn sie natürlich auch keine deutsche Heimat mehr kennen — es sind doch Deutsche! Nur Norweger kommen noch in Betracht. Schweden schon nicht mehr. Engländer und Amerikaner sind ganz selten.
Daß es hauptsächlich Deutsche sind, das hat einen tiefen psychologisch—historischen Grund. Das hängt noch mit der deutschen Landsknechtschaft des Mittelalters zusammen, sogar noch mit den germanischen Völkerwanderungen, die doch am meisten der Eroberungslust, der Kriegslust entsprangen. Die deutscher Landsknechte, die sich und ihre Waffen dem Feldherrn verkauften, der sie am höchsten bezahlte, gleichgültig, ob es ein Deutschen oder ein Italiener oder ein Spanier war, mit dem sie dann durch Dick und Dünn gingen, dem sie dann auch treu wie Gold waren — vorausgesetzt allerdings, daß er sie immer regelmäßig bezahlte — diese deutschen Landsknechte sind ausgestorben — zur See leben sie noch heute, als Seeknechte, als amerikanische Novascotiamen.
Und Krieger sind diese deutschen Seeknechte, wohl in amerikanischen Diensten stehend, aber regelmäßig unter dem direkten Befehl eines deutschen Kapitäns, ja auch noch Heute. Der Teehandel ist nur seine Beschäftigung für die Friedenszeit, wenn sie nichts anderes zu tun haben. Sie warten nur daraus, daß irgendwo Krieg ausbricht, zwischen Seemächten, was ja auch fortwährend der Fall ist. Dann verwandeln sich alle diese Novascotiaschiffe in Kaper, oder sie stellen sich als Blokadebrecher zur Verfügung, oder schmuggeln Waffen und Proviant. Schmuggelei betreiben sie überhaupt immer, auch bei der friedlichen Kauffahrtei. —
Solch einen Novascotiaman hatten wir hier vor uns, unter denen es natürlich auch genug Dampfer gibt, sicher aber keinen gewöhnlichen Frachtdampfer mit 10 bis 16 Knoten, das läßt der Novascotiastolz nicht zu, dann würde er wenigstens nicht unter der roten Flagge mit blauem Strich fahren, und dieser hier war denn gleich ein Torpedojäger, der in der Stunde vielleicht seine 30 Knoten machte.
Den Namen konnten wir am Heck nicht sehen, aber an dem kurzen Signalmast, nur ein Stumpf, flatterte im leichten Winde noch eine zweite Flagge, die sogenannte Comptoirflagge, im weißen Felde blaue Wogen, in diesen ein rotes Ungetüm schwimmend halb Delphin, halb phantastischer Drache, und auf diesem reitend ein schwarzer Teufel mit Dreizack, die Zunge heraussteckend und gegen den Beschauer noch extra eine höchst unanständige Bewegung machend, ihm sein Wappen zeigend, den Körperteil, den zwar jeder Mensch hat, auf dem er sitzt, der aber speziell als das Wappen des Teufels gilt.
»Alle Heiligen! Das ist ja die Flagge des Kapitäns Satan!« war die untenstehende Klothilde die erste, die das rief.
»Wahrhaftig, Kapitän Satan!« bestätigten einige Matrosen ebenso staunend. »Hat sich einen Torpedojäger zugelegt, den er nun natürlich auch wieder den Seeteufel getauft hat!«
»Kchchchchch!« erklang es da neben mir.
Dieser schriftlich nicht wiederzugebende Laut kam aus der Kehle des Kapitän Martin, und ich bemerkte, wie seine blauen, für gewöhnlich so gutmütigen Augen einen ganz finsteren drohenden Ausdruck angenommen hatten, wie sie nach dem schwarzen Schiffe blickten.
»Kennen Sie den Kapitän Satin vom Seeteufel?« wandte er sich dann an mich und die Patronin. »Satin, heißt er, Jonas Satin, nicht Satan. Er wird aber allgemein Satan genannt, er selbst nennt sich sogar mit Stolz so.«
Nein, weder die Patronin noch ich kannten diese Seeberühmtheit, wenn es eine solche war. Die Welt ist groß, und der Schiffe und Kapitäne gibt es gar zut viele, und in dem dickleibigen Schiffsregister fällt einem so ein Name wie »Seeteufel« gar nicht auf, da gibt es nach ganz andere wunderliche Namen. Es waren von den 75 Mann unserer Besatzung auch nur Klothilde, drei Matrosen und ein Heizer, die diesen Kapitän Satan kannten oder doch schon von ihm gehört hatten.
Kapitän Martin winkte uns ins Kartenhaus, wir, die Patronin und ich, folgten ihm, er schloß die Tür.
Nach dem Passieren des Kanals hätte die Schraube sofort gestoppt, jetzt lief sich das Schiff aus, Raum genug hatte es dazu in der weiten Bucht.
»Frau Patronin, Herr Kollege!« begann Kapitän Martin.
»Der Mann am Ruder braucht nicht zu hören, was ich Ihnen jetzt sagen will, obgleich ich dies alles jenem Kapitän auch direkt ins Gesicht sage, oder ich würde es überhaupt gar nicht zu einem dritten aussprechen, darauf dürfen Sie sich bei mir wohl verlassen.
Auch dieser Kapitän Jonas Satin ist ein Gaukler zur See — aber ein Gaukler, gegen den jene anderen, die diese Bezeichnung führen, harmlose Kinder sind.
Dieser Kapitän Satin ist das niederträchtigste Scheusal, das ich in Menschengestalt kenne — ist wahrscheinlich der allergrößte Schurke, über den Gott seine Sonne in mir unbegreiflicher Langmut noch scheinen läßt.
Dieser Teufel in Menschengestalt ist zu jedem Verbrechen fähig, zu jedem!
Nur eines will ich Ihnen offenbaren, was ich von diesem Scheusale weiß.
Ich weiß bestimmt, daß dieser Kapitän Satin einmal einem Konkurrenzschiffe mit mehr als 40 Mann Besatzung und drei Dutzend Passagieren eine Seemine gelegt hat, um es in die Luft zu sprengen, nur um einen Auftrag von kaum 2000 Dollars eher zu erhalten, als jener andere Kapitän, deshalb hat er jenem anderen ihm folgenden Schiffe eine unterseeische Mine gelegt, in einer engen Hafeneinfahrt, auf die Gefahr hin, daß auch andere Schiffe in die Luft fliegen konnten . . . «
»Allmächtiger Gott‚« flüsterte Helene erschrocken, »ist denn so etwas möglich?«
»Bei Gott ist kein Ding unmöglich — und beim Teufel keine Niederträchtigkeit — und dieser von einem irdischen Weibe geborene Mensch verdreht selbst seinen Namen Satin in Satan, stellt sich selbst hohnlächelnd so vor, selbst seine Unterschrift ist so zu lesen. Daß er sein Schiff, das er ab und zu verliert, natürlich nur, wenn es mit Ladung hoch versichert ist, immer den Seeteufel nennt, sagt ja auch schon genug.
Ja, er hat die unterseeische Mine wirklich gelegt, um ein großes Schiff mit sieben Dutzend Menschenleben zu vernichten, wegen eines Geschäftes von 2000 Dollars! Ich weiß es bestimmt! Ich habe es damals sofort aus bester Quelle erfahren! Aber zu beweisen war ihm nichts. Mit jenem Schiffe war Gott, ließ vorher die Schraube brechen, und dann hat Kapitän Satin die Seemine rechtzeitig wieder aufgefischt, und jener Zeuge, von dem ich es erfuhr, schwerverwundet, starb zu früh. Es wäre dem verfluchten Hunde absolut nichts zu beweisen gewesen, so habe ich die Anklage gar nicht erst erhoben.
Herr Kollege, Frau Patronin!
Ich kann es nicht beweisen, aber es ist meine feste, ehrliche Überzeugung was ich Ihnen jetzt sage.
Auch dieser Kapitän Satin ist ein Gaukler, der es besonders auf Wracks abgesehen hat, die er aufsucht, um sie auszunehmen, und er hat im Auffinden solcher gestrandeten oder treibenden Wracks ein fabelhaftes Glück, er hat schon Dutzende eingebracht oder ausgenommen.
Und ich bin der festen Überzeugung, daß dieses Scheusal solche unglückliche Schiffe erst durchs falsche Leuchtfeuer oder sonstige Listen auf den Strand und zwischen Klippen lockt — daß er sie auf hohler See mandvrierunfähig machst, die ganze Besatzung aus der Welt schafft, ermordet — und die Schiffe dann entweder als verlassene Wracks einbringt oder sie erst ausnimmt, wenigstens alles, was unauffällig mitgenommen werden kann, und die Schiffe dann einfach auf den Meeresgrund versenkt!«
Die Arme bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen vergraben, hatte der Kapitän mit hochgezogenen Augenbrauen zu uns gesprochen, mit leiser Stimme.
Helene war entsetzt — ich faßte es kaltblütiger auf.
»Haben Sie denn Beweise für solche ungeheuerlichen Anschuldigungen?«
»Nein. Nicht den geringsten. Und dennoch: ich weiß es!«
Ich zweifelte nicht daran, daß dieser Mann aus ehrlichster Überzeugung sprach.
»Ich weiß es so bestimmt, wie ich ganz bestimmt weiß, daß er damals jenem Schiffe eine Seemine gelegt hat. Obgleich ich das ebenfalls nicht beweisen kann!« setzte er noch hinzu.
»Bringt er denn wirklich sehr viele Wracks ein?« fragte ich.
»In den letzten zwei Jahren sind es sieben gewesen.«
»Fällt das denn nicht auf?«
»Er betreibt das Aufsuchen von Wracks als Spezialität, er will darin etwas los haben, er rühmt sich seines Glückes. Nein, bewiesen konnte ihm bisher noch niemals etwas werden. Und solch eine furchtbare Anklage kann doch nicht ohne triftigen Grund erhoben werden. Und dieser Mensch ist mit allen Hunden gehetzt, ist mit dem Teufel im Bunde, er rühmt sich ja direkt, blasphemiert damit, daß er selbst ein Teufel sei. Nicht nur, daß er seinen Namen Satin in Satan verkehrt, sondern er treibt es — 879 zum Beispiel so weit, daß er sich auch hinkend stellt. Er schleift sein rechtes Bein nach. Und das ist nur Verstellung denn bei anderer Gelegenheit habe ich ihn ganz schnell laufen sehen. Und trotzdem wiederum spielt er sich als unantastbaren Ehrenmann auf!«
»Hat er immer dieselbe Mannschaft an Bord?«
»Immer. So gegen fünfzig Mann. Viel zu viel für sein Schiff. Aber das kann ja jeder halten wie er will. Und der kann es sich leisten. Bei wiederholten Gelegenheiten hat er gezeigt, daß er über Millionen verfügt. Obgleich man nicht weiß, wo er sie hat. Angelegt hat er sie nicht.«
»Kann denn da nicht einmal einer von der Mannschaft zum Verräter werden?«
»O, diese Höllenbande ist ja mit Pech und Schwefel zusammengeschweißt. Er füttert die Bestien mit rohen Beefsteaks, da sind sie ihm treu. Wenn er einmal einen Abgang hat, was oft genug vorkommt, — es wird Schreckliches geflüstert, wie es an Bord seines jeweiligen Schiffes zugehen soll, der mordet seine Leute mit eigener Hand so ergänzt er die Mannschaft mit Vorliebe aus Zuchthäusern, nimmt entlassene Verbrecher als Matrosen und Heizer an. Aber kann man ihm etwa einen Vorwurf daraus machen? Dieser Teufel ist so gerissen, daß er mit dieser seiner Menschenfreundlichkeit auch noch ganz offen renommiert. Er nimmt sich eben solcher entlassenen Sträflinge, die sonst wieder auf Abwege geraten, an, will sie wieder zu ehrlichen Menschen erziehen. Damit protzt er auch noch. Verstehen Sie, was da Ungeheuerliches dabei ist?«
O ja, ich verstand recht wohl.
»Hat er denn da aber nicht zu fürchten, daß solch ein Mann einmal in der Trunkenheit etwas ausplaudert?«
»In der Trunkenheit? Seine Leute müssen alle Temperenzler sein. Das ist auch wieder so etwas, womit er sich als heiliger Engel brüstete. Natürlich gilt das nur an Land. Was die an Bord für Orgien feiern, das weiß doch niemand.«
»Ist noch niemals eine Anklage gegen ihn erhoben worden?«
»Ich kenne zwei Fälle. Das ganze Schiff wurde sorgfältig untersucht. Und das Resultat? Die Ankläger sind als verleumderische Denunzianten durch Gegenanklage schwer bestraft worden.«
Au! Dann war es freilich faul, mit diesem Kerl anzubinden.
»Ja, Herr Kapitän Martin, und warum teilen Sie uns das alles jetzt mit?« fragte ich dann ganz offen.
»Damit Sie wissen, wen Sie vor sich haben, wen Sie hier finden, falls Sie sich länger in der Bucht aufhalten wollen. Ich hielte es gerade für meine Pflicht, Sie vor diesem Menschen zu warnen, habe auch noch einen ganz besonderen Grund dazu.
Auch ich habe nämlich einmal mit Kapitän Satin einen geschäftlichen Konkurrenzkampf ausgefochten, in dem ich Sieger blieb. Ich kam ihm zuvor, erhielt einen Jahresauftrag, der mir rund eine halbe Million Reinverdienst einbrachte. Natürlich ein total ehrliches Geschäft, ich war eben der Schnellere gewesen und . . . ich wurde eben bevorzugt. Kapitän Satin selbst gratulierte mir, ganz unnötigerweise, darin hat er eben was los, mit feinem gewöhnlichen hämischen Grinsen. Dabei aber vernahm ich auch ein heimliches Zähneknirschen, — und einen Blick fing ich dabei auf — einen so furchtbar gehässigen Blick, sage ich Ihnen . . . ich habe von diesem Menschen alles zu erwarten. Es ist der einzige Feind, den ich, so viel ich weiß, auf der Erde habe. Aber auch mein Todfeind. Schon zweimal hat er mir etwas am Zeuge zu flicken gesucht, es ist ihm aber nicht gelungen, ich habe es auch nur unter der Hand erfahren, sonst hätte ich ihn doch zur Rechenschaft gezogen. Wenn der aber eine Gelegenheit hat, mir zu schaden — der läßt sie sich sicher nicht entgehen. Das ist es, was ich Ihnen sagen mußte. Und dieser Teufel in Menschengestalt ist zu allem fähig, zu allem!«
»Sie fürchten ihn?« war es die Patronin, die das fragte, denn ich hätte es nicht getan.
»Fürchten!« wiederholte denn auch Martin mit geringschätzendem Achselzucken. »Ich fürchte Gott und sonst nichts auf der Welt.« Diesen von Bismarck für das ganze deutsche Volk geprägten Wahlspruch darf ich mit vollem Rechte für meine Person in Anspruch nehmen. Nein, ich fürchte keinen Teufel, weder einen wirklichen aus der Hölle, noch solch einen irdischen. Ich hielt es nur für meine Pflicht, Ihnen meine offene Meinung über diesen Kapitän Satin mitzuteilen, falls die Frau Patronin hier länger liegen bleiben will, und ich bitte Sie, Herr Kollege, unsere Leute etwas zu instruieren, damit sie auf der Hut sind. Das ist Ihr Amt als Kargo—Kapitän, derartig für die Sicherheit des Schiffes zu sorgen, während ich nur die nautische Leitung habe, und als Waffenmeister wohl obendrein.«
»Ich werde die Leute instruieren, Herr Kapitän!« entgegnete ich.
»Natürlich daß Sie ihnen nicht alles das erzählen, was ich Ihnen jetzt über diesen Mann mitgeteilt habe. Das war nur im Vertrauen unter vier oder sechs Augen gesagt.«
»O nein, ich verstehe vollkommen.«
»Ja, was will der eigentlich hier?« fragte jetzt die Patronin mit begreiflicher Unruhe.
Begreiflich für mich. Wenn sich schon immer beim Anblick dieses Schiffes, das ebenfalls ein auf wagehalsige Spekulationen ausgehendes Gauklerschiff war, an die Flibustierschätze der »Desolation« des van Horn gedacht hatte, so die Patronin natürlich erst recht. Wenn wir auch gar keinen Grund dazu hatten.
Wir lagen jetzt still in der Mitte der Bucht, ja immer noch weit ab von der Küste, konnten aber schon jeden Mann mit bloßen Augen deutlich unterscheiden, jede Bewegung erkennen.
Einige Dutzend Männer waren damit beschäftigt, auf dem Lande nicht weit von dem Schiffe einen Bau zu errichten, der etwa einen halben Meter Höhe erreicht hatte und sich jetzt mehr in die Länge erstrecken sollte, danach sah es wenigstens ganz aus, wozu die Leute aus der angrenzenden Hummerbucht die dort liegenden Steine herbeischleppten.
Seitdem wir in der Bucht erschienen waren, hatte die Arbeitsfreudigkeit natürlich bedeutend nachgelassen, das fremde Schiff, das noch keine Flaggen zeigte, wurde angegafft und besprochen.
»Mir scheint,« sagte Kapitän Martin, »die sind wegen der Hummern hierher gekommen, die haben auch so einen Gedanken wie wir gehabt, die errichten bereits einen Kochofen.«
Natürlich, so war es! Wie hatten wir denn auch, oder ich wenigstens, die Anwesenheit dieses Gauklerschiffes gleich mit dem Schatze des Flibustiers in Verbindung bringen können.
»Woher mag er von den Hummern wissen?«
»Da fragen Sie mich zu viel, Frau Patronin. Er wird es uns schon selbst erzählen. Glauben dürfen wir es ihm freilich nicht, was er da sagen wird! Der Kerl lügt aus Prinzip. So wie er als ein echter Teufel auch aus Prinzip alle Ehrlichkeit haßt, überhaupt alles, was gut ist und recht und schön.«
»Sie meinen, wenn wir beilegen, er wird zu uns an Bord kommen?«
»Ganz sicher wird er seine Visite abstatten. Schon deshalb, weil er weiß, daß er mich dadurch ärgert.«
»Und Sie werden ihn empfangen?«
»Das muß ich, den Kapitän eines anderen Schiffes nach allen Regeln der Höflichkeit empfangen, das schreibt die Bordroutine vor, auch wenn sie ungeschrieben ist. Er kann mir ja aber auch eine wichtige dienstliche Meldung zu machen haben! Und wenn das auch nicht der Fall ist, so muß ich doch seinen Besuch unbedingt erwidern. Ja, wollen Sie denn nun anlegen?«
»Meinen Sie denn, daß es gefährlich ist, daß er uns etwas anhaben kann?«
»Ah bah, gefährlich, uns etwas anhaben können!« erklang es verächtlich zurück, wodurch sich aber die Patronin unmöglich beleidigt fühlen konnte, so war es gegeben. »Daß wir die Augen offen halten müssen, weil von diesem Kapitän jeder böse Streich zu erwarten ist — das habe ich mit der Schilderung seines Charakters nur sagen wollen. Zurückgewichen wird natürlich keinen Zoll, und wenn es auch eine Legion von wirklichen Teufeln aus der Hölle wäre.«
»Die Anwesenheit dieses Menschen und überhaupt eines fremden Schiffes verleidet mir ja überhaupt hier den Aufenthalt, aber ich wollte wenigstens die Tiere gern wieder einmal an Land lassen. In Rio de Janeiro war es doch nicht das Richtige für sie.«
»Well, legen wir an.«
Wir verließen das Kartenhaus, die Kommandos zum Manöver wurden gegeben.
»Hat er denn schon immer solch einen Torpedojäger gehabt?« fragte ich inzwischen noch einmal.
»Nein, noch vor einem halben Jahre fuhr er einen Segler, er hat aber auch schon oft Dampfer gehabt. Schon in Rio de Janeiro las ich in der Zeitung, daß er auch seinen letzten Segler wieder verloren und sich einen Torpedojäger angeschafft hat, der in Neuyork für die Kriegsmarine gebaut worden war und von der Regierung nicht abgenommen wurde, weil er statt der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 34 Knoten in der Stunde bei der Probefahrt nur 32 entwickelt hatte. Da hat er als Privatmann das Kriegsschiff natürlich für ein Spottgeld bekommen.«
»Was will denn der mit so einem Torpedojäger machen?«
»Na, gaukeln will er damit!« konnte Kapitän Martin schon wieder sorglos lachen. »Doch Spaß beiseite — der weiß schon, weshalb er einen gepanzerten Torpedojäger mit voller Armierung, sogar mit Lanzierrohren für Torpedos kauft — wer weiß, was der damit wieder für eine Teufelei vorhat, von der aber die Welt wohl niemals etwas erfahren wird.«
Wir hatten an unserem alten Platze vertaut, der Bugspriet lag kaum dreißig Meter von dem Achtersteeven des schwarzen Fahrzeuges entfernt.
Die Leute standen noch immer da und begafften uns, steckten die Köpfe zusammen, und das war begreiflich. Auch unsere »Argos« war ein Kriegsschiff, das erkannten die doch sofort, außerdem hatten auch wir jetzt schon anstandshalber unsere Flaggen zeigen müssen, und wenn der »Seeteufel«, welchen Namen wir jetzt neben dem Heimatshafen »Halifax« wirklich hinten am Heck lasen, nicht seit einem Jahre oder dreiviertel unterwegs war, irgend einen Hafen angelaufen hatte, wo es eine Zeitung gab, so mußten sie sicher schon von der Argos und den Argonauten gehört haben, und da war es eben begreiflich, daß sie die Köpfe zusammensteckten.
Wir nahmen absolut keine Noitiz von ihnen, und das war nicht etwa auffällig oder eine Mißachtung. In bekannteren, weil leichter zugänglichen Buchten des Feuerlandes oder sonstwo in der Welt kommen oft genug Schiffe zusammen, besonders Walfischjäger und Robbenschläger, um am Lande Tran auszukochen und Felle zu präparieren, sie bleiben unter Umständen viele Wochen lang dicht nebeneinander liegen, und zwischen Kapitänen und Mannschaft wird nicht ein einziges Wort gewechselt. Es ist sogar ganz gut so — da können keine Streitigkeiten entstehen.
Mustern taten wir die Novascotsmen natürlich dennoch. Himmel, waren das lauter ausgesuchte Exemplare der christlichen Seefahrt — nämlich was die Galgenphysiognomien anbetraf! Soviel zerfetzte Galgengesichter hatte ich wirklich noch nie beisammen gesehen! Übrigens waren auch recht viele Neger und Mulatten unter ihnen vertreten, was man sonst eigentlich auf Novascotiaschiffen nicht findet.
Wir ließen die Tiere an Land, und wieder begann das tolle Treiben der ganzen Menagerie. Lulu, immer noch ein Baby, für einen Elefanten haben ja so ein paar Monate nicht viel zu sagen, fiel sofort wieder in seine alten Löcher, mußte immerwährend herausgeholt werden, sonst — 887 quäkte er sich tot — und jene Rüpels dort wollten sich bereits totlachen. Gefährlich konnten die Hunde und Raubtiere ihnen nicht werden, das wußten wir natürlich und das merkten jene auch sofort.
»Da kommt er schon, der Kapitän Satan!« sagte Klothilde zu mir, der ich noch an Deck geblieben war.
Ich will den Mann, der noch so tief und fürchterlich in unser Schicksal eingreifen sollte, bis wir dieses Scheusal endlich zur Strecke gebracht hatten, gleich ausführlich beschreiben.
Eine kleine, untersetzte Gestalt, vierschrötig mit mächtigen Schultern, eine Bärenkraft verratend, auf dem Stiernacken ein gewaltiger Kopf mit schwarzen Borstenhaaren. Den Knebelbart trug er offenbar deshalb, um sich noch extra etwas Teuflisches zu geben, was ihm aber nicht gelang, wenigstens wenn man an so einen schönen Mephistopheles denkt, denn das Gesicht war von Pockennarben und Messerhieben entstellt, außerdem schielte er auf beiden Augen, so daß man nie wußte, wohin er blickte. Den rechten Fuß zog er ziemlich stark nach, was mir aber keine Verstellung schien, wohl eine Schwäche des ganzen Beines, und es war recht wohl möglich, daß diese Schwäche bei großer Erregung schwand.
Gekleidet war er mit auffallender Sorgfalt, wenn er sich natürlich auch erst für diesen Besuch so herausstaffiert hatte. Der blaue Anzug war von feinstem, seidenartig glänzendem Tuche, natürlich auch Seemannsschnitt, die trichterförmigen Hosen sich sogar ganz unmäßig erweiternd, schneeweißer Stehkragen und Manschetten, roter Schlips, Kapitänsmütze mit goldenen Streifen, Lackschuhe, die kulbigen Finger der Bärentatzen mit blitzenden, äußerst kostbaren Ringen gepanzert — ein Seemannsgigerl in fratzenhafter Ausgabe. Sein Alter war bei diesem verwetterten, zerfetzten Gesicht gar nicht zu taxieren. Jedenfalls aber zwischen vierzig und fünfzig.
So kam er angehinkt.
»Na‚ da laßt nur unter uns das Los ziehen, Waffenmeister!« setzte Klothilde noch hinzu
»Ein Los ziehen? Wozu denn?«
»Wer von uns geschlachtet werden soll.«
»Geschlachtet werden soll? Was faseln Sie da, Klothilde?«
»Ich fasele gar nicht. Der will doch ein gutes Stück Menschenfleisch vorgesetzt haben, gehackt, roh, a la tartar, mit Zwiebeln und Essig und Öl und ein Ei drauf — Menschenfleisch ist dem doch die größte Delikatesse, überhaupt dieser ganzen Teufelsbande — das ist ja bekannt genug — die haben auch immer lebendiges Schlachtvieh mit zwei Beinen und einer Nase im Gesicht mit sich an Bord — das ist doch auch das gemeinsame Geheimnis, das diese ganze Teufelsbande wie Pech und Schwefel zusammenkittet. Wer auf diesem Höllenschiff angemustert wird, der muß erst eine Portion Menschenfleisch verzehren, dann gehört er erst richtig mit zum Bunde, dann haben sie ihn natürlich feste, da ist seine Zunge doch versiegelt.«
So sprach Klothilde, gar nicht so leise, wenn auch niemand in der Nähe war, der uns hören konnte.
Ich war starr.
Das war denn doch ein starkes Stückchen!
Klothilde konnte schreckliche Mordgeschichten erzählen. Auch in Gespenstergeschichten war sie groß, mit dem Klabautermann und dem fliegenden Holländer stand sie auf Du und Du, mit dem letzteren war sie schon einmal verheiratet gewesen, wußte ganz genau, wie es an Bord dieses Geisterschiffes zuging. Das heißt, sie selbst glaubte nicht etwa an Gespenster. Sie veralberte nur ihre Zuhörer.
Was sie aber jetzt da aus dem Stegreif über diesen Kapitän und seine Mannschaft berichtete, das war ja unerhört!
»Klothilde, wie kommen Sie dazu, etwas zu behaupten, was Sie gar nicht verantworten können, etwas so Ungeheuerliches . . . «
»Ungeheuerlich ist es wohl, aber unglaublich gar nicht. Das ist bei uns, die wir den Kapitän Satan näher kennen, allgemein bekannt, daß der und seine Leute sich bei jeder Gelegenheit Menschen verschaffen, die sie mästen und dann auffressen. Wenn die Schiffbrüchige auffischen, die verschwinden an Bord des Seeteufels für immer die werden . . . ay? Jawohl, ich komme.«
Sie war von der Patronin in die Kajüte gerufen worden.
Ich starrte ihr nach, ich starrte dem Kommenden entgegen — und dann schlug ich mir alle Gedanken über das soeben Gehörte aus dem Kopfe.
»Eh, die Bestien tun mir doch nichts?« rief jetzt Kapitän Satin noch in beträchtlicher Entfernung, mit merkwürdig hoher Stimme.
Er wurde von einigen Matrosen beruhigt, die einen ihn besonders beschnobernden Bären zurücktrieben.
»Dann ist gut, ich bin nämlich ein bißchen ängstlich, hähähähä!! lachte er schrill, wie seine unangenehme Stimme war. »Hallo, was hat denn das Vieh?«
Ja, da passierte etwas ganz ganz Seltsames, etwas ganz Schauerliches, das man mit der Feder nur nicht so beschreiben kann.
Die Hunde hatten sich um den Fremden also wenig oder überhaupt gar nicht gekümmert, nur Willy der braune Bär hatte ihn näher in Augenschein genommen, mit der Nase, und dann war auch Harras angeschlichen gekommen, um von dem Ankommenden einmal Witterung zu nehmen, zumal ihm das Augenlicht fast schon fehlte.
Harras war ein Wolfshund, dem Wolfe näher als dem Hunde, nur daß er schon bellte, was der Wolf ja nicht kann — es war das einzige Tier an Bord, das nicht der Patronin gehörte. Juba Riata hatte ihn mitgebracht, Harras war schon sein treuer Begleiter gewesen, als jener noch Cowboy gewesen, hatte sein ganzes Artistenleben mitgemacht, ungefähr zehn Jahre lang, und als ihn Peitschenmüller damals in der Prärie halbverschmachtet auf der Leiche eines Reiters, seines früheren Herrn gefunden hatte, da mußte er auch schon einige Jahre alt gewesen sein.
Also ein schon sehr alter Hund, räudig aussehend, wenn er auch noch gesund war, aber fast erblindet, pfiff auf dem letzten Loche. Peitschenmüller hielt natürlich die größten Stücke auf seinen vierbeinigen treuen Freund, erzählte Wunder von der wahren Menschenklugheit des Tieres, und die sollte Harras jetzt noch besitzen. Ich hatte aber absolut noch nichts von dieser Menschenklugheit bemerkt. Harras war überhaupt nie zu bemerken. Wenn er sich in die Sonne legte, dann dahin, wo ihn niemand trat, ihn gar niemand sah, das schien wohl noch seine einzige Klugheit zu sein.
Also auch Harras hatte sich an Land begeben, torkelte unsicher herum, sich nur mit der Nase orientieren könnend, und so hatte er auch den Fremden gewittert.
Und plötzlich kneift der alte Wolfshund seinen räudigen, spärlich beharrten Schwanz zwischen die Beine und fängt zu heulen an, so entsetzlich wie ich es nie wieder von einem Hunde gehört habe, und da mit einem Male stimmen auch alle anderen Hunde mit in dieses schreckliche Geheul ein.
Bei dieser Gelegenheit bemerke ich, daß Peitschenmüller schon in jener ägyptischen Oase alle diese Hunde »leichenfest« gemacht hatte. Das heißt, sie heulten nicht mehr, wenn sie eine menschliche Leiche witterten, was ja sonst der Hund mit Vorliebe tut. Ein guter, kluger Hund. Der kennt den Herrn der Schöpfung eben nur lebendig, ein toter Mensch ist ihm etwas Rätselhaftes, vielleicht auch etwas Grausiges, da fängt er zu heulen und zu winseln an. Das hatte ihnen Peitschenmüller also abgewöhnt. Als ich damals an dem Wüstenteiche die Leiche vergraben hatte, und die Hunde kamen, so hatten sie diese Leiche wohl sofort gewittert, sie hatten es mir angezeigt, daß sie es wußten, das hatte ich sofort gemerkt — und dann hatten sie sich scheu um den Grabhügel herumgedrückt. Ein Heulen gab es nicht mehr.
Und jetzt fangen alle diese Hunde, von Harras dazu angestimmt, auf solch eine schauderhafte, unbeschreibliche Weise zu heulen an!
»Was — ist — das?« höre ich da sagen, und neben mir steht Juba Riata, hat es in ganz seltsamem Tone gesagt, und sein Gesicht mit den weitgeöffneten Augen drückt das grenzenloseste Staunen aus, aber auch noch etwas ganz anderes, etwas wie furchtbarer Schreck, was mir bei diesem eisernen Manne ganz fremd ist.
Er brauchte nur mit seiner Peitsche, die er nie aus den Fingern ließ, wie mit einer Pistole zu knallen, und das entsetzliche Heulen verstummte mit einem Schlage. Aber das alte Spielen wollte nicht wieder beginnen. Alle die Hunde waren und blieben gedrückt, schlichen herum, wenigstens lange Zeit noch.
»Hallo, das war wohl die Ouvertüre zu dem berühmten Argonautenkonzert, hähähä? lachte wieder die schrille Stimme des immer Näherkommenden, und jetzt hörte ich, daß diese Stimme neben der Höhe auch einen eigentümlich fetten Klang hatte, was gar nicht zusammen passen wollte, so wenig wie zu der ganzen Gestalt.
Er hatte das Laufbrett erreicht, dort empfing ihn der erste Steuermann. — »Kapitän Satan vom Seeteufel, Halifax, ist Kapitän Martin zu sprechen?« — Der erste Offizier salutierte, und Kapitän Satan, wie er sich selbst genannt hatte, nicht Satin, wurde von Kurt, des Kapitäns speziellem Steward, über den ich bisher noch nichts weiter zu berichten hatte, in die Kapitänskajüte bugsiert, wo bereits neben einigen Delikatessen der obligate Champagner und Portwein auf dem Tische stand. Denn ohne Champagner und Portwein geht es nicht ab, wenn sich gegenseitig zwei Kapitäne an Bord besuchen, die einesteils, wenn sie nicht ihr eigenes Schiff fahren, auch nichts weiter als geknechtete Dividendensklaven sind, anderseits aber Fürsten des Meeres mit einer unumschränkten Gewalt, über die kein absoluter Monarch verfügt. Denn einen Menschen, sogar seinen ersten Offizier, der nur einen Finger gegen ihn hebt, auf der Stelle niederschießen, das kann auch der russische Zar sich nicht leisten, darf es wenigstens nicht zum zweiten Male tun, sonst dürfte er wohl eingesperrt werden. So ein struppiger Kapitän mit Volksschulbildung, wenn er überhaupt eine regelrechte Schule besucht hat, trägt ins Logbuch ein, weshalb er den Mann niedergeschossen hat, das Seegericht spricht ihn nach kurzem Verhör frei, wenn auch die ganze Mannschaft anders aussagt. Gegen den Diensteid des Kapitäns ist gar nicht aufzukommen. Oder da muß es schon ganz anders kommen. Und er erhält von der Reederei für diesen Zweck, um einen anderen Kapitän bewirten zu können, extra eine Kiste besten Champagner und Portwein mit, als wäre es ein ehernes Gesetz, obgleich es gar keine solche Vorschrift gibt, und wenn die Reederei auch sonst die Mannschaft ihres Schiffes verhungern läßt.
Der hinkende Teufel im stutzerhaften Seemannskostüm war in der Kajüte verschwunden. Wir hatten über diese Begrüßung vorhin gar nicht gesprochen. In diesem Augenblick sah ich im Geiste die beiden Kapitäne in der Kajüte zusammen kommen. Und ich warf die Frage auf, ob Kapitän Satan wohl dem bestgehaßten Kollegen die Hand zum Gruß hinhalten und ob Kapitän Martin wohl seine Hand aus der Hosentasche nehmen würde, um jene zu schütteln. Oder wie der diese Sache sonst umging. Und ferner schossen mir im Augenblick allerlei Mord— und Verbrechergeschichten durch den Kopf. Ich dachte daran, ob diese schielenden Augen den Kapitän Martin wohl hypnotisieren könnten. Ich sah im Geiste, wie sich die beiden Männer gegenübersaßen, wie Martin einmal wegsah und wie der hinkende Teufel ihm schnell ein Tränklein in den Portwein goß, das unseren Kapitän besinnungslos machte, eine willenlose Maschine in der Hand dieses Teufels.
Und wie ich das noch so dachte, alles in einem Augenblick, da mußte ich plötzlich herzlich lachen. Nämlich wie ich mir vorstellte, wie sich Kapitän Martin hypnotisieren ließ. Wie der andere das wohl anfangen wollte. Oder wenn der unseren Käpten, immer die Hände bis an den Ellenbogen in den Hosentaschen, mit einem Tränklein besoffen machen wollte . . .
Kurz und gut, ich mußte plötzlich laut auflachen.
»Was lachen Sie denn?« fragte Peitschenmüller, noch neben mir stehend, immer noch mit dem halb erstaunten, halb bestürzten Gesicht.
»Ach, ich dachte gerade etwas!«
»Mir ist durchaus nicht lächerlich zumute.«
»Ja, so sehen Sie auch aus. Was haben Sie denn? Was hatten denn nur vorhin die Hunde, daß sie so schrecklich heulten?«
Peitschenmüller blickte sich erst vorsichtig um, sogar scheu, was diesem Manne gar nicht stand.
»Waffenmeister — Sie könnens mir glauben, ich habe schon viel in meinem Leben durchgemacht — manchmal Schauderhaftes — aber Sie wissen doch ich erzähle nicht gern davon . . . «
Ja, das wußte ich. Er war selten einmal über seine Erlebnisse zum Sprechen zu bringen, und dann erzählte er immer nur ganz harmlose Geschichten.
»Na und?«
»Ich habe den kubanischen Krieg mitgemacht, auf Seiten der Yankees — immer begleitet von meinem Harras da bin ich mit einer Abteilung Soldaten einmal im Boote auf See, bei einer Landung, abgetrieben, wir wurden verschlagen, nach den karibischen Inseln, landeten auf einer — und Sie wissen wohl, die Kariben huldigen noch heute dem Kannibalismus, der Menschenfresserei, wenn sie nur können — und wir wurden gefangen, vier meiner Kameraden sind gebraten worden . . . «
»Was Sie nicht sagen!«
»Jawohl. Sie könnens mir glauben, daß ich nicht gern davon erzähle. Wenn nicht rechtzeitig ein Kanonenboot erschienen wäre, alle, wir achtzehn Mann, wären aufgefressen worden!
Auch mein Harras war gebunden worden. Als zukünftiger Braten. Wie nun der erste Soldat über dem Feuer schmorte, da fängt doch der Hund auf eine schreckliche Weise an zu heulen, wie er noch nie geheult hatte. Auch nicht bei einer Leiche. So wie er vorhin heulte. Und so heult er weiter, wie ein Soldat nach dem anderen geschlachtet und gebraten wird. Bis er einen Schlag auf die Schnauze bekam, der ihn betäubte.
Zwei Jahre später bin ich wieder in Mexiko. Apachen haben ein Blockhaus überfallen, wir kommen zu spät, können aus der brennenden Hütte nur noch die Leichen der Farmer ziehen, schon angesengt.
Wie das mein Harras wittert, das verbrannte Menschenfleisch, da fängt er wieder so gräßlich zu heulen an.
Und das dritte und letzte Mal passierte es erst vor anderthalb Jahren, kurz bevor ich die Patronin kennen lernte. Da fängt auf freiem Gelände mein Harras auch wieder so schrecklich zu heulen an. Wir graben nach, wo er anzeigt, finden eine frische Leiche, furchtbar verbrannt. Ein Mord, der Leichnam sollte verbrannt werden, wurde aber dann doch vergraben.
Wissen Sie, was ich damit sagen will?«
Starr blickte ich den Sprecher an.
»Daß der Kapitän nach verbranntem Menschenfleisch gerochen hat?«
»Ja, bei Gott, ich kann auf keinen anderen Gedanken kommen. Harras hat noch ein sehr gutes Gedächtnis, eine äußerst feine Nase. Alles andere gebratene Fleisch macht ihm nur Appetit. Eine menschliche Leiche zeigt er an, sonst aber läßt sie ihn kalt. Nur den Geruch von angebranntemn Menschenfleisch kann er nicht vertragen. Da heult er so entsetzlich. Selbst die anderen Hunde finden es schrecklich. Die heulen dann zur Gesellschaft mit, ohne zu wissen warum. Aber Harras weiß warum, und der irrt sich nicht.«
»Und Sie meinen,« flüsterte ich, »daß dieser Kapitän Satan . . . «
»Nach gebratenem oder angebranntem Menschenfleisch riecht, mehr meine ich nicht. Bitte, sprechen Sie nicht weiter darüber, vorläufig nicht. Ich mußte Ihnen nur den Grund mitteilen, warum Sie mich so erstaunt und bestürzt gesehen haben.«
Juba Riata ging einfach davon, wie es seine Weise war.
Dafür trat wieder Klothilde zu mir.
»Sie, Waffenmeister — was ich vorhin zu Ihnen sagte sprechen Sie nicht darüber. Nicht wahr?«
»Klothilde, wie kommen Sie denn nur auf solch einen entsetzlichen Verdacht?«
»Ja, dieser schreckliche Verdacht besteht bei allen denen, die diesen Kapitän und seine Mannschaft näher kennen und etwas mehr davon wissen. Wissen Sie, was ich meine?«
»Nein.«
»Haben Sie noch nicht gehört, daß alle die‚ welche Menschenfleisch essen, dauernd essen, mit der Zeit eine ganz hohe, fettige Stimme bekommen?«
Nein, das war mir etwas ganz Neues, was ich da zu hören bekam.
Ich will diese Sache gleich hier erledigen, in anderer Weise, als damals mein Gedankengang war.
Seeleute sind doch zuerst mit fremden, der anderen Welt früher unbekannten Völkern zusammengekommen, auch mit Kannibalen, haben manche böse Erfahrung mit ihnen gemacht.
Im Mannschaftslogis wird mancherlei »Garn gesponnen«, werden schauerliche Geschichten erzählt. Wenn man sie nicht selbst erlebt haben will, dann der Großvater, der Urgroßvater.
Da wird manchmal nicht nur von wilden Kanibalen berichtet, sondern auch von weißen Matrosen, von Schiffbrüchigen, die im offenen Boot oder auf eine Klippe verschlagen sich gegenseitig aufgefressen haben.
Und wer einmal Menschenfleisch gekostet hat, der soll dann nicht wieder davon lassen können, mindestens öfters eine unheimliche Sehnsucht danach bekommen. Und wer Gelegenheit hat, dieser unnatürlichen Lust zu frönen, der soll mit der Zeit eine ganz hohe Fistelstimme mit fettigem Klang bekommen. Nicht der wilde Insulaner, dem der Kannibalismus etwas ganz Natürliches, etwas Erlaubtes ist, sondern der Europäer, der diese furchtbare Sünde begeht. Am Klange seiner Stimme soll er seinen Frevel verraten.
So wird im Mannschaftslogis erzählt. Bisher hatte ich noch nicht gehört. Das ist doch kein Alltagsgespräch. Später habe ich gefunden, daß unter den Seeleuten wirklich so erzählt wird.
Ich habe Anthropologen und andere Gelehrte darüber gesprochen. Die wußten von so etwas nichts, fanden es auch ganz unglaubwürdig. Weshalb soll sich denn die Stimme durch den Genuß von Menschenfleisch so verändern?
Nun, da will ich einmal den Herren Gelehrten ein anderes Rätsel aufgeben.
Es ist eine Tatsache, die ich berichte.
Ich habe einmal in einem Buche — ich weiß nicht mehr in welchem — die Behauptung gelesen, daß alle Menschen, die fortwährend Fische essen, mit der Zeit abstehende Ohren bekommen. Als Beweis wurden ganze Völker angeführt, die fast nur von Fischen leben, wie die Eskimos, die japanischen Küstenbewohner und andere. Die haben ja nun allerdings abstehende Ohren, aber es ist doch ein schwacher Beweis, von ganzen Völkerschaften darauf zu schließen, daß alle Menschen, die dauernd Fisch essen, mit der Zeit abstehende Ohren bekommen.
Da sollte ich einmal eine eigentümliche Beobachtung machen.
Ich habe einmal in Frankreich ein Kartäuserkloster besucht, bei Bruxvill. Die Kartäuser sind diejenigen, die den famosen Schnaps machen, den Chartreuse. Jetzt allerdings nur noch in Spanien, in Frankreich sind sie neuerdings ausgewiesen. Früher war die Ordensregel der Kartäuser sehr streng, nur Brot und einfachstes Gemüse, Fleisch und Fisch gar nicht. Jetzt fehlt nur noch Fleisch, Fisch gilt desto mehr. In der Nähe des Klosters waren viele große Teiche, in denen Karpfen und Barsche und ähnliche Arten gezüchtet wurden, dazu noch großer Import. Die Brüder aßen tagtäglich zu jeder Mahlzeit sechserlei verschieden zubereitete Fischgerichte, als Gemüse Spargel und Artischoken und tranken den Wein aus Literhumpen.
Da fiel mir auf, daß die meisten dieser Brüder, die älteren sämtlich, so weit abstehende Ohren hatten.
Und auf meine bei Gelegenheit angebrachte Frage sagte mir der Prior, der sich durch ganz besondere Horchlöffel auszeichnete, ohne weiteres direkt, daß dies von dem dauernden Fischgenuß herkäme. Der Mönch, möchte er auch als Novize noch so kleine, enganliegende Ohren haben, bekäme mit der Zeit durch die fortgesetzte Fischfresserei abstehende Löffel.
Das ist eine Tatsache!
Nun löse dieses Rätsel, wer da kann.
Deshalb aber braucht man nicht etwa auf Fischgerichte zu verzichten. — »Haben denn alle Mann an Bord dieses Schiffes solch eine Fistelstimme?«
»Na,‚ nicht gerade alle, bei allen schlägt das eben nicht an, aber doch die meisten.«
»Das haben Sie selbst gehört?«
»Habe ich selbst gehört.«
»Wo hatten Sie denn Gelegenheit hierzu?«
»In Kingstown, wo die ganze Mannschaft des Seeteufels wegen Einbringung eines Wracks einmal protokollarisch vernommen wurde.«
Unsere Unterhaltung wurde durch Siddy unterbrochen, die Patronin ließ mich zu sich bitten.
Der Kapitän hatte ihr soeben durch seinen Steward ein Billett zugeschickt. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn wir vorher mündlich alles ausgemacht hätten. Aber der Teufel war uns eben gar zu schnell mit seinem Besuche über den Hals gekommen.
Das Billett lautete:
»Kapitän Satin bittet Sie durch mich, als Patron seines Schiffes Ihnen als der Patronin dieses Schiffes seine Aufwartung machen zu dürfen. Sie als Patronin haben nicht nötig, ihn zu empfangen, können ihm durch den Steward eine einfache Absage zugehen lassen. Wollen Sie ihn aber empfangen, so haben Sie Zeugen bei sich! Er wird Sie bitten, ihm und seinen Leuten eine Vorstellung zu geben, wird die höchsten Preise bieten. Darauf gehen Sie doch auf keinen Fall ein. Diese Bande verpestet doch unser ganzes Schiff. G. Martin.«
Das hatte mir Helene zu lesen gegeben.
»Ich wollte nur Dich noch fragen, Georg, ob Du es wünschest, daß ich ihn empfangen soll.«
»Du willst es nicht?«
»Ich habe kein Verlangen danach, diesen Menschen kennen zu lernen, und von einer Vorstellung ist natürlich gar keine Rede, nicht um Millionen, nicht für alle Schätze der Welt.«
»Dann fort mit ihm!«
Siddy wurde instruiert, bekam ganz höfliche Worte herzusagen.
Fünf Minuten später überschritt Kapitän Satin wieder das Laufbrett.
Die Patronin befand sich schon wieder an Deck, dazu hatte sie das Recht, es war ganz unmöglich, daß sie jetzt noch von ihm angeredet wurde, es war auch durchaus kein Anstandsverstoß.
Auch Kapitän Martin kam gleich wieder heraus.
»Nun, was wollte er?« empfing ihn die Patronin, als jener an Land kaum außer Hörweite war. »Hat er gesagt, weshalb er hierher gekommen ist?«
»Richtig wegen der Hummern. Er hat mir ganz umständlich erzählt, von wem er erfahren hat, daß hier so viel Hummern sind, will nun hier eine Konservenfabrik anlegen. Aber die Büchsen hat er noch nicht dazu. Jetzt baut er zur Probe erst einen Ofen, dann will er Arbeiter holen, wahrscheinlich deutsche oder russische Auswanderer, die er in Neuyork abfängt. Dann macht der hier eine Konservenfabrik mit Sklavenbetrieb auf. Wollte Sie fragen, ob Sie daran partizipieren wollten.«
»Davon kann doch gar keine Rede sein!«
»Na‚ dann brauchen wir ja auch nicht weiter darüber zu sprechen. Was war denn das, was Ihnen da entflog?«
Die Patronin hatte in der Hand noch des Kapitäns Billett gehabt, nur ein dünnes Papierchen, ein von See her kommender Windstoß hatte es ihr entführt, es aufs Land geweht, wehte es weiter.
»Ihr Billett!« flüsterte Helene, das Weitere wohl ahnungsvoll schon kommen sehend.
Und es kam wirklich!
Das Papier flatterte weiter, dem davongehendem Kapitän rasch, überholte ihn, blieb an einem Steine hängen, er hob es auf, las es im Weitergehen, steckte es ein.
Und Kapitän Martin machte mit dem Leibe eine krümmende Bewegung, als wolle er ein Lachen ersticken.
»Na, nun wirds gut! Na‚ nun weiß der ja, wie ich über ihn denke. Wirklich ein Glück aber, daß ich nicht, wie mir erst die Feder fließen wollte, Verbrecherbande geschrieben habe, die unser ganzes Schiff verpesten würde. Der würde mir sofort einen Prozeß anhängen. Aber daß er dies gelesen hat, das schadet nix. Ja, nun muß ich ihm aber unbedingt einen Gegenbesuch abstatten, zwischen Kapitänen ist das nicht anders möglich, wenn sie nicht gerade ihre Feindschaft gegenseitig ausgesprochen haben.«
»Sie sind dazu verpflichtet?« fragte die Patronin.
»Wie ich sage.«
»Wenn ich aber nun jetzt sofort die Bucht wieder verlassen will?«
»Das ist etwas anderes. Dann kann ich eben nicht. Diese Dienstpflicht geht über jede Höflichkeitspflicht. Dann muß ich mich durch ein Schreiben entschuldigen, eventuell auch nur durch Flaggensignale.«
»Vorwärts, abgetaut, wieder auf die See hinaus!«
In zehn Minuten war die ganze Menagerie wieder an Bord, nur die Tauben, die den Wald aufgesucht hatten, fehlten noch, die aber alsbald, als sie das Schiff sich entfernen sahen, vollzählig nachgeflogen kamen, und in weiteren zehn Minuten hatten wir den Kanal wieder hinter uns.
Daß die Ausfahrt selbst bei stürmischster See keine beträchtliche Schwierigkeit bot‚ indem man in der geschützten, immer ruhigen Bucht einen tüchtigen Anlauf nehmen konnte, habe ich schon früher erwähnt, und auch sonst passierte nichts, obgleich Mister Carlistle nur darauf zu warten schien.
Vorher hatte Kapitän Martin einen Matrosen mit einem Entschuldigungsschreiben nach dem »Seeteufel« geschickt, weshalb er den Besuch nicht erwidern könne. Befehl seiner Patronin, die Bucht sofort wieder zu verlassen. Kapitän Satan hatte das Schreiben mit einem hämischen Grinsen gelesen, das eingesteckte Billett nicht zurückgeschickt.
Ich suchte diese ganze Angelegenheit mit der Menschenfresserei zu vergessen, was mir auch gelang.
Aber dieser Kapitän Satan sollte sich uns noch einmal selbst in böse Erinnerung bringen.
34. KAPITEL. IM KAMPFE MIT PIRATEN.
Vier Wochen später.
Die Morgendämmerung vertrieb die finstere Nacht, die aufgehende Novembersonne beleuchtete ein stilles Meer, im Nordwesten eine wildzerklüftete Küste mit zahllosen vorgelagerten Felseninselchen und eine zweimastige chinesische Dschunke, die mit niedergelassenen Bastsegeln in einer Entfernung von einem halben Kilometer vor den äußersten dieser Inselchen mit einer geringen Strömung die Küste entlang nach Südwesten trieb.
An Deck der Dschunke befanden sich anderthalb Dutzend Chinesen, die alle schnatternd und eifrig gestikulierend nach der nahen Küste blickten, und der Kapitän der Dschunke, der über einen ganz besonders schönen Hängebart und Zopf verfügte, hieß Georg Stevenbrock, wie überhaupt die sämtlichen Chinesen germanische Argonauten waren, mit Ausnahme von Kien Chen, genannt Mister Kännchen, unserm Schiffskoch.
Daß ich mit meinen Argonauten auch kriegerische Unternehmungen vorhatte, habe ich ja schon früher einmal erwähnt, angedeutet, und jetzt, da uns unser Sternkieker nach China dirigiert hatte, noch immer ohne ein bestimmtes Ziel anzugeben, war die erste Gelegenheit dazu gekommen.
Die Seeräuberei steht an der ganzen chinesischen Küste wie im ganzen malaischen Archipel noch heute in vollster Blüte. Wir bleiben bei China.
Die Zeiten, da jedes europäische oder amerikanische Segelschiff, das sich bei Windstille in der Nähe der Küste befand, ganz sicher sein durfte, von chinesischen Piraten in ihren Ruderprauen angegriffen zu werden, sind allerdings vorbei. Das hat die Erfindung der Dampfmaschine mit sich gebracht. Die bezopften Piraten sind sich niemals sicher, ob solch ein Segelschiff nicht doch eine Hilfsmaschine im Bauche hat, plötzlich Dampf aufmacht und wie ein Würgengel zwischen die Ruderprauen fährt. Es genügt auch schon der Donkey, der die Winden treibt, oder vielmehr nur dessen Kessel, oder überhaupt irgend ein großer Wasserkessel, unter dem Feuer gehalten wird, um den Angriff der Langzöpfe abzuschlagen, dem kochenden Wasser, in weitem Bogen ausgespritzt, hält niemand stand, und dann unsere modernen Magazingewehre, die selbst in unkundigster Hand zur furchtbaren Waffe werden. Mag die Besatzung eines kleinen Schoners auch nur aus zehn Mann bestehen, ehe zehn Prauen mit je 40 Mann herangekommen sind, haben die Matrosen, mögen sie auch noch so schlechte Schützen sein, unter den Piraten doch schon schrecklich aufgeräumt.
Anders bei der Dschunke, dem einheimischen Fahrzeug.
Nach einem uralten chinesischen Gesetz durfte der Seehandel nur mit nach Vorschrift gebauten Schiffen betrieben werden, nur aus Brettern zusammengenagelten Kräften, mit Teerwasser dicht gemacht, die von jeder hohen See sofort kaput geschlagen werden, so daß sie nur an der Küste entlang fahren können, bei jedem Sturme oder nur höher gehenden See in der nächsten Bucht Schutz suchend.
Der Grund dieses Gesetzes war der, um den Einwohnern des Landes ein Verlassen ihrer Heimat unmöglich zu machen, so daß sich nur eine Küstenschiffahrt entwickeln konnte. Es war die chinesische Mauer übertragen auf das Meer.
Dieses Gesetz ist schon längst abgeschafft worden. Heute könnte sich jeder chinesische Handelsherr die modernsten Schiffe bauen lassen. Aber niemand denkt daran. Jenes Gesetz hat Jahrtausende lang bestanden und ist strikte befolgt worden, und solch ein alter Zopf ist nicht so bald abgeschnitten. Vorläufig gibt es noch keine einzige Werft in dem ungeheuren Reiche die selbstständig ein modernes Schiff bauen kann, nicht den kleinsten hölzernen Segler moderner Konstruktion. Man müßte ihn auf einer ausländischen Werft bauen lassen. Dann fehlen aber chrinesische Matrosen. Der Chinese eignet sich nicht zum wirklichen Seemann, diese Fähigkeit ist in den vielen tausend Jahren gar nicht entwickelt worden. Den Schiffskessel heizen kann er vorzüglich, aber zur Bedienung der Segel und überhaupt zur Arbeit an Deck fehlt ihm alles und jedes. Japanische Matrosen fahren auf europäischen Schiffen in Hülle und Fülle, es sind die tüchtigsten Seeleute, aber wer hat schon einen chinesischen Matrosen gesehen? Zwar gibt es jetzt schon chinesische Kriegsschiffe, bemannt mit Chinesen, aber von deren Jämmerlichkeit will ich gar nicht erst beginnen, ich bleibe bei der Kauffahrtei.
Also müßten die auf fremden Werften erbauten Handelsschiffe auch mit fremden Matrosen bemannt werden. Nun, da kann man den ganzen Seehandel nach auswärts doch lieber gleich ganz den fremden Nationen überlassen, man begnügt sich mit dem Zwischenhandel, der ist viel sicherer, hat nicht so viel Risiko.
Bleibt nur noch die Küstenfahrt, die in China um so bedeutsamer ist, weil im Lande gute Kommunikationswege fehlen. Da kommen als Hauptsache nur die großen Flüsse in Betracht. Also die Waren werden von Flußmündung zu Mündung gebracht, die Flüsse hinauf oder hinab gefahren und dann erst auf schlechten Landstraßen in dem ungeheuren Reiche verteilt.
Bei dieser ausgedehnten Küstenschiffahrt nun ist man bei den alten Dschunken geblieben, und wie die Sache nun einmal liegt, ist es auch ganz richtig so. Die Hauptsache ist nämlich, daß mit der Billigkeit dieser elenden Bretterkisten und ihrer Arbeit kein anderes Schiff konkurrieren kann. Wäre das möglich, so hätte ja schon längst England diesen enormen Küstenhandel Chinas an sich gerissen, so wie es zum Beispiel an den levantinischen Küsten getan hat; hier würde sich wahrscheinlich auch Frankreich daran beteiligen. Aber mit dem Frachtsatze, den diese chinesischen Dschunken nehmen, kann nicht einmal ein verhungerter Grieche konkurrieren.
Diese zahllosen Dschunken — sie sind wirklich noch nicht gezählt — welche den ganzen, immensen Küstenhandel betreiben, bedingen die Existenz der nicht minder zahllosen Küstenpiratenbanden. Die Dschunke, die angesichts der chinesischen Küste außerhalb eines Hafengebietes in Windstille kommt oder nur nicht schneller segeln kann, als solch eine Prau rudert, die ist unrettbar verloren. Mit absoluter Sicherheit tauchen Piratenboote auf, und wenn die Mannschaft der Dschunke sieht, daß sie nicht entkommen kann, kein europäisches Schiff in der Nähe ist, das noch zu Hilfe eilen kann, so denkt sie an gar keinen Widerstand, die Zopfträger kauern sich hin und lassen sich einfach abschlachten. Denn jeder Widerstand gegen die Übermacht ist nutzlos, Gnade gibt es nicht, auch Gefangene werden nicht gemacht, die etwa selbst Seeräuber werden sollen. Diese Piraten bilden auch wieder eine Kaste, die keine Fremden aufnimmt.
Auf diese Weise gehen dem chinesischen Handel — das läßt sich berechnen — noch heute jährlich mindestens 60 Millionen Mark verloren. Andere, welche die Sache genau kennen wollen, haben auch schon 200 Millionen Mark ausgerechnet. Aber die chinesischen Kaufleute fassen diesen Verlust ganz kaltblütig auf. Der chinesische Küstenhandel ist so außerordentlich, daß dieser Verlust gar nicht weiter in Betracht kommt. Die Piraten sind die Raubvögel, Füchse und Marder für den Hühnerstall, der muß nur gut beaufsichtigt und in der Nacht verschlossen werden, dann lohnt sich die Hühnerzucht immer noch. Die Dschunken dürfen bei eintretender Windstille oder bei mäßigem Winde eben nicht so nahe an der Küste sein, daß sie von den Piraten gesichtet werden können, nur darauf kommt es an. Und die chinesischen Händler und Schiffsbesitzer haben sich gegenseitig für den Verlust durch Piraterei versichert, das ist eine hochentwickelte Organisation.
Wo bleibt denn nun die Beute?
Da muß zunächst gesagt werden, daß den Piraten in ihren Schlupfwinkeln gar nicht beizukommen ist. Diese liegen stets auf Inseln, von denen es ja an der ganzen chinesischen Küste wimmelt, wenn sie auch so klein sind, daß sie selbst auf der größten Spezialkarte nicht einmal durch Punkte angegeben sind, weil man sie eben überhaupt noch gar nicht kennt. Die zerrissene Küste, die man allüberall sieht, das sind lauter Inselchen.
Also auch vom Lande her sind diese Schlupfwinkel nur auf Wasserwegen zu erreichen, diese kennen nur die Mitglieder der Bande, kein fremdes Boot findet sich in den Kanälen zurecht, und wenn diese auch vielleicht früher passierbar waren, so haben die Piraten in den Jahrhunderten oder vielleicht auch Jahrtausenden Zeit genug gehabt, alle anderen durch Steinmassen zu verbarrikadieren, nur eine einzige im Zickzack laufende Labyrinthstraße offen haltend, die schon von einem Kinde mit seinem Gewehr oder mit Fitschepfeilen beherrscht werden kann.
In diesen unangreifbaren und überhaupt unauffindbaren Schlupfwinkeln wird die Beute aufgehäuft, bis der Hehler sie abholt. Aber der ist von der Regierung konzessioniert. An der Küste ziehen zu gewissen Zeiten Handelskarawanen entlang, an den bestimmten Stationen werden Signale gegeben, die Piraten hören sie, ein Boot kommt gerudert, bringt den Kaufmann mit verbundenen Augen nach dem Schlupfwinkel, wo er die ihm angebotenen Waren besichtigt, es wird gefeilscht, und dann muß er den Preis sofort in bar bezahlen. Dafür aber wird er auch mit einer den Chinesen sonst ganz unbekannten Ehrlichkeit bedient. Der Kaufmann wird mit verbundenen Augen wieder zurückgebracht, vorläufig ist er sein Geld los. Nun bringen die Piraten die Ware nach einer einsamen Insel, die von Land aus nicht beschossen werden kann, von dort holt der Kaufmann sie ab. Dafür hat der konzessionierte Diebeshehler 20 Prozent vom gezahlten Preise an die Regierung abzugeben, also macht die Regierung durch diese Seeräuber noch ein ausgezeichnetes Geschäft, es kann ihr gar nicht so viel daran gelegen sein, diesem Unfug zu steuern.
Die chinesische Regierung hat gegen die Piraten überhaupt niemals etwas unternommen, wohl eben aus diesem Grunde. Engländer waren es, die zuerst gegen sie energisch vorgingen, weil sie so viel Segelschiffe durch die Piraten verloren. In den vierziger Jahren, als die Dampfmaschine das Seewesen zu beherrschen begann, kamen Engländer auf den schon erwähnten Gedanken. Segelschiffe wurden mit einer Hülfsmaschine ausgestattet, sie blieben mit Ansicht bei Windstille an den verrufensten Stellen der Küste liegen, die Piraten wurden angelockt und von einer militärisch geschulten Mannschaft nach Gebühr empfangen.
Auf diese Weise sollen innerhalb von drei Jahren mindestens 20 000 Piraten ihr Leben haben lassen müssen. Dann gingen sie nicht mehr in die Falle, seitdem bleiben europäische Segelschiffe von ihnen unbelästigt.
Das ist das einzige, was dadurch erreicht wurde. Sonst war eine Abnahme der Piraten gar nicht zu merken, und ihren Hauptzweck hatten die Engländer doch nicht erreicht.
Es waren abenteuerliche Unternehmer gewesen, Ritter zur See, die diesen Plan ausgeheckt hatten. Aber denen war dabei doch nicht so viel daran gelegen, die Menschheit und speziell China von den bezopften Bluthunden zu befreien. Sondern vor allen Dingen hatten es diese englischen Abenteurer auf die aufgestapelte Piratenbeute abgesehen. Hierbei brauchten sie erst die Mitwirkung ihrer Regierung, der englischen. Bisher hatte die Piratenbeute, wenn doch einmal ein Nest ausgehoben wurde, der chinesischen Regierung gehört, oder dem Kaiser, so lautete wenigstens das Gesetz. Damals konnte England auf China gerade einen großen Druck ausüben, und jene Abenteurer regten an und die englische Regierung setzte durch, daß dieses Gesetz abgeschafft wurde. Fernerhin gehörte, wie es noch heute ist, die den Piraten abgenommene Beute voll und ganz demjenigen, der ihnen diese Beute eben abnimmt.
Hierin aber hatten sich jene englischen Seeritter total verspekuliert. Sie hätten es wissen können, das hatte ihnen in China doch jedes Kind erzählt. Aber sie hatten es nicht geglaubt. Sie hatten gehofft, Piraten lebendig zu fangen und sie zu zwingen, daß sie ihnen den Weg nach dem Schlupfwinkel zeigten, unter Anwendung der Tortur.
Hiermit also war es nichts. Man kann keinen chinesischen Piraten zu einem Geständnis zwingen, ihn nicht einmal lebendig fangen. Sobald sich solch ein Pirat gefangen sieht, begeht er Selbstmord. Daran ist er durch nichts zu hindern, er verschluckt seine Zunge, erstickt.
Und hierin gibt es keine Ausnahme. Das ist eben das furchtbare Kastenwesen. Das ist auch der Grund, weshalb die Piraten keine anderen unter sich aufnehmen. Das Geheimnis ihres Schlupfwinkels ist wohl gehütet. Schon die kleinsten Kinder werden dazu erzogen, sie kennen es nicht anders, das ist ihnen während Jahrtausenden in Fleisch und Blut übergegangen: der Pirat, der gefangen wird, begeht sofort Selbstmord. —
Ich hatte, wie schon wiederholt erwähnt, schon als Kind Seeräuberuniversalweltgeschichte studiert. Was gar nicht so humoristisch aufzufassen ist. Mir waren alle diese Verhältnisse durchaus bekannt. Und ich war zur See gegangen, um entweder Seeräuber zu werden oder Anti-Seeräuber. Mein guter Engel hatte mich veranlaßt, den letzteren Beruf zu ergreifen. Was ebenfalls nicht so ganz humoristisch zu nehmen ist.
Ja, ich hatte schon als zehnjähriger Junge ernsthaft darüber nachgegrübelt, wie man den Piraten, speziell diesen chinesischen, zu Leibe rücken könne. Nicht nur um sie zu vernichten, sondern um ihnen ihre blutige Beute abzunehmen. Im Geiste sah ich immer in ihren Felsverstecken die aufgestapelten Fässer und Ballen, darunter kostbare Seidengewebe und noch kostbareres Opium und das im Orient unentbehrliche Ambra, viermal so teuer als Gold, die Moschusbeutelchen nicht zu vergessen, und alle diese aufgehäuften Schätze gehörten dem, der den Mut dazu hatte und die List dazu erfand, wie sie den chinesischen Piraten abzunehmen waren, wie man den Weg in ihren Schlupfwinkel erfuhr.
Ich erfand das Mittel dazu nicht. Der bezopfte Pirat verrät den geheimen Wasserweg nicht, er kann es nicht, denn gefangen begeht er Selbstmord.
Bis ich eines Abends mit meinem Vater in einem Varieteetheater saß.
Da sah ich etwas, da kam mir plötzlich die grandiose Idee.
Und es war tatsächlich eine großartige Idee.
Zwanzig Jahre lang habe ich diese Idee mit mir herumgetragen, keinem Menschen etwas davon erzählt, sie eifersüchtig als meine Erfindung gehütet, die sich nicht patentieren läßt.
Ich wollte sie dereinst selbst ausführen, den chinesischen Piraten ihre Schätze abzunehmen, um dadurch ein reicher Mann zu werden. Aber zur Ausführung gehörte Geld, Betriebskapital. Mit anderen wollte ich nicht teilen. So wartete ich ruhig, bis schon einmal die Gelegenheit kommen würde.
Da führte mich mein Schicksal an Bord der »Argos«. Hier fand ich alles zusammen, was ich für mein Vorhaben brauchte. Ein ganz freies Schiff, unter dem Befehl einer Person stehend, die für meinen abenteuerlichen Vorschlag Verständnis hatte, eine tüchtige Mannschaft, die ich immer tüchtiger machen konnte, in treuer Kameradschaft zusammenhaltend frei von Beutegier — und hier vor allen Dingen fand ich Juba Riata.
Mit Juba Riata hauptsächlich habe ich meinen Plan besprochen, mit ihm habe ich länger als sechs Monate die Vorbereitungen dazu getroffen.
Länger als sechs Monate!
Und ich habe dem Leser kein Sterbenswörtchen davon mitgeteilt!
Dafür soll der Leser dann aber auch höchst überrascht sein, was dabei herausgekommen ist. —
In den letzten vier Wochen, als es nun wirklich nach China ging, waren die letzten Vorbereitungen zu dem abenteuerlichen Unternehmen getroffen worden.
Eine Dschunke wurde gebaut. Alles, was dazu nötig, war vorhanden, in der Hauptsache Bretter. Kien Chien, wenn auch Zahnkünstler, war doch immerhin Sachverständiger, aber dem seine theoretischen Anleitungen brauchte ich nicht, ich hatte zwanzig Jahre lang auf Dschunkenbau studiert.
An Deck unseres Schiffes erstand eine ganz regelrechte Dschunke von 18 Meter Länge und ziemlich 5 Metern Breite, an der auch nicht das geringste fehlte. Ich erwähne nur die beiden großen, menschlichen Augen, die ich vorn an den Bug malte, auf jede Seite eines, ohne welche Menschenaugen nach Ansicht der Chinesen keine Dschunke ihren Weg über das Meer finden kann. Hätten diese Augen gefehlt, oder wären sie nicht genau gemalt worden, wie ich sie mit kunstfertiger Hand malte, im Winkel gelbe Streifen und auch unten bewimpert — kein chinesischer Pirat wäre doch auf diese imitierte Dschunke gehuppt!
Ja, imitiert war sie. Überhaupt gar keine regelrechte Dschunke. Nur ein Aufbau, der dann auf unsere Dampfbarkasse gesetzt wurde.
Nun will ich aber gleich bemerken, daß dies nicht etwa die geniale Idee war, die ich als zwölfjähriger Junge im Varieteetheater gefaßt, nachdem ich schon zwei Jahre lang über dieses Problem vergebens gebrütet hatte. Das mit der imitierten Dschunke, das war nichts Neues. Als es mit den großen Segelschiffen nicht mehr ging, lockte man die Piraten mit chinesischen Dschunken an, teils mit, teils ohne Maschine ausgestattet, innen gepanzert oder ungepanzert — auf alle Fälle aber mit einer europäischen Mannschaft besetzt, die das Schnellfeuergewehr zu gebrauchen verstand.
Doch weiter, als daß man einigen Dutzend oder hundert Piraten den Garaus machte, erreichte man dadurch ja nichts. Der Weg nach dem Schlupfwinkel wurde dadurch nicht gefunden. Das war nur eine Art Sport, eine Menschenjägerei, der besonders reiche Engländer und Amerikaner huldigten. Nützlich insofern, als sie dadurch ja die Welt von menschlichen Bestien befreiten. Übrigens hörte man sehr wenig von derartigen Piratenjägern, die Küste Chinas ist gar zu groß, da verteilen sich solche Dschunken, und es ist auch eine überaus kostspielige Jagd, da sie gar nichts einbringt, und sehr bemerkenswert ist, daß die chinesische Regierung diese Vertilgung der Piraten nicht unterstützt, weder durch Geldzuschuß oder Prämien oder auf sonst eine Weise, wie man zu diesen Unternehmungen auch keine Chinesen werben — 917 kann. Mir war damals nur der Engländer Robert Russell bekannt, der in einer mit Dampfkraft ausgestatteten Dschunke, die er immer wieder anders ausstaffierte, die Südwestküste Chinas abfuhr, die der Provinz Fukuan, so die Piraten anlockte und die Insassen der Prauen zusammenknatterte, und der Leser weiß, wie gut ich in diesen Verhältnissen beschlagen war. Dieser Russell hat über seine Abenteuer auch ein Buch geschrieben, das damals aber noch nicht veröffentlicht war.
Nein, meine Idee ruhte der Hauptsache nach auf einer ganz anderen Grundlage. Ich glaubte das Mittel gefunden zu haben, den Piraten auch in ihre Schlupfwinkel folgen zu können, dazu die mehr als halbjährlichen Vorbereitungen, die hier mit der imitierten Dschunke war davon nur die letzte gewesen.
Am Abend des 6. November sichteten wir die Küste. Ich hatte als Ziel die des gelben Meeres gewählt, die der Provinz Schantung, an welcher Küste ein lebhafter Handel zu Wasser zwischen Nanking und Yengtschen stattfindet, von wo er weiter nach Korea hinübergeht, hauptsächlich Seidenzeuge, Cocons und Opium, so daß dort also auch stark die Piraterie blüht.
Wo wir an der Küste direkt unser Unternehmen begannen, das war ziemlich gleichgültig, wenn es nur nicht in der Nähe eines größeren Hafens war. Dem halten sich die Piraten natürlich fern, ein kleinerer Hafen geniert sie weniger, wenn sie nicht gar mit dessen Bevölkerung unter einer Decke stecken.
Als wir die geographische Lage bestimmten, ergab es sich, daß wir uns etwas südwestlich des Flusses Tschao befanden, total versandet, daß dort kein Hafen in Betracht kommen kann, und auch sonst war auf der besten Spezialkarte für dort meilenweit keine Ortschaft eingetragen.
Freilich hat es mit solchen »Spezialkarten« seine eigene Bewandtnis. So erblickten wir dort zwei hohe, isolierte Berge, ohne weiteres Gebirge, eingetragen als Kutunselt und Taolotsi. Aber Punkte auf der Karte gaben ehrlich an, daß man noch nicht einmal wisse, ob diese beiden ganz mächtigen Berge auf dem Festlande oder noch auf vorgelagerten Inseln lägen. Da, muß man meinen, braucht man doch nur die umwohnenden Eingeborenen zu fragen. Ja, wenn aber nun die einen sagen, sie lägen aus dem Festlande, und die anderen behaupten, es wären noch Inseln, dann weiß man doch gerade so viel wie zuvor.
Nun, jedenfalls hatten wir eine ganz gute Küstengegend getroffen, und auch sonst war uns das Glück günstig. Eine finstere, windstille Nacht, und aller Wahrscheinlichkeit nach würde es auch morgen schön und windstill sein.
So geschah es denn auch. Und als der Morgen anbrach, lag unsere Dampf- oder vielmehr Petroleumbarkasse, über sich das Gerüst einer regelrechten Dschunke mit zwei Masten, nur noch 200 Meter von den ersten Inseln, einfach als Küste bezeichnet, entfernt, so weit hatten wir uns ihr im Schatten der Nacht mit Schraubenkraft genähert, und die »Argos« war unterdessen wieder außer Gesichtsweite der Küste seewärts zurückgegangen!
Wie der hölzerne Dschunkenaufbau über der eisernen Barkasse angebracht war, das kann ich unmöglich auseinandersetzen. Jedenfalls als mit wunderbarer Genialität ausgedacht. Das darf ich sagen, weil da jeder seinen Senf dazu gegeben hatte, da war an alledem, was ich mir schon in zwanzig Jahren ausgegrübelt hatte, noch vielerlei geändert worden, nicht zum wenigsten von Kapitän Martin, der dabei seinen Gehirnkasten ganz gehörig angestrengt hatte. Erwähnen will ich nur, daß die Barkasse nicht den ganzen Bau zu tragen hatte, das wäre, wenn wir uns aus Deck aufhielten, zu viel gewesen, die unteren Kanten schwammen auf großen Korkstücken und besonders auch auf aufgeblasenen Luftschläuchen, und das war nun allerdings meine ursprüngliche Erfindung, wozu aber auch nicht viel gehörte.
Die Besatzung bestand aus 26 Köpfen, und bei deren Zusammensetzung hatte es nun allerdings an Bord des Argonautenschiffes einmal Uneinigkeit gegeben. Meine Jungen waren doch, als sie endlich erfuhren, um was es sich handelte, ganz Feuer und Flamme, da hatte doch jeder mitmachen wollen. Aber das war doch nicht angängig gewesen, und da hatte ich auch nicht das Los entscheiden lassen, sondern da hatte ganz einfach die beste Schießkunst mit Gewehr und Revolver den Ausschlag gegeben.
Also die besten Schützen wurden unter den Matrosen und Heizern ausgesucht. Zu diesen gehörten auch Ernst und Oskar. Ferner auch Fritz der Mondgucker. Das Kerlchen schoß wie ein Kunstschütze. Aber es war ein Schiffsjunge, bei dem das Mitkommen einen Haken hatte. Doch er hatte mich gar nicht lange zu betteln brauchten, und auch Kapitän Martin hatte gleich seine Zustimmung gegeben, selbst auf die Gefahr hin, sich dereinst vor dem Hamburger Seegericht oder in einem fremden Hafen vor dem deutschen Konsulat verantworten zu müssen, daß er den unmündigen Jungen in unnötiger Weise in den Tod geschickt hatte. Na‚ wir wollten uns schon verantworten.
Ja, daß einer und der andere von uns eine Kugel abbekam, daß die »Argos« vielleicht gerade den besten Springer oder Läufer oder sonst eine Kraft verlor, für immer, durch den Tod, damit mußte ja gerechnet werden. Aber wer nichts wagt, hat auch keine Aussicht, etwas zu gewinnen. Und . . .
Und außerdem will ich hierüber gar nicht weiter sprechen, denn von uns dachte kein einziger mit einem Gedanken an so etwas.
Beten taten wir allerdings alle. Wir waren mit einem Male alle fromm geworden. Nämlich wir flehten zum Himmel empor, daß jetzt nicht etwa noch ein größeres Schiff auftauchte, das die Piraten, wenn sie uns schon erblickt, von einem Angriff auf uns abgehalten hätte. Bisher hatte alles so famos geklappt, weit und breit war kein Segel und kein Rauchwölkchen zu sehen und so ein Schiff als Retter in der Not hätte uns doch den ganzen Spaß verdorben. Daß dies nicht geschah, deshalb also stiegen unsere frommen Gebete zum Himmel empor.
Von der Kriegsmannschaft der Dschunke muß ich doch noch etwas mehr sagen. Auch die Patronin war mitgekommen. Natürlich, die wollte das Abenteuerchen doch persönlich miterleben, und ich hatte sie nicht etwa gewarnt.
Klothilde hätte nur den Wunsch zu äußern brauchen, und wir hätten doch unsere Klothilde mitgenommen. Aber sie hatte es nicht getan. Weshalb nicht? Ich ahnte es. Die Patronin schien es nicht zu ahnen. Das brave Mädel wollte die kleine Ilse nicht allein lassen, falls doch etwas passierte.
Dagegen hatte August der Starke mitkommen müssen, ob er wollte oder nicht. Nicht etwa, weil er so trefflich schoß. Im Gegenteil, er schien prinzipiell immer daneben zu schießen. Obgleich er behauptete ein wahrer Kunstschütze zu sein. Aber nur mit der Fünfunddreißigzentimeterkanone, an der er in der Matrosenartillerie ausgebildet war. Mit solch einer sechszentrigen Granate, behauptete er, hole er jede Schwalbe aus der Luft herab. Aber so ein Riesending besaßen wir nicht. Nur einige Revolvergeschütze, von denen zwei überhaupt zur Armierung der Barkasse gehörten. Das eine wurde, wenn es so weit war, von unserem Hahn bedient — es heißt niemals »der« Hahn, sondern immer »unser« Hahn, weil dieser Matrose eben ein richtiger Hahn war — das andere von Oskar.
Also August der Starke war dennoch mitgenommen worden. Nämlich wegen seiner Dicke. Der mußte den chinesischen Handelsherrn markieren, der seine Fracht selbst begleitete. Bei den Chinesen gilt bekanntlich weibliche Dicke als Schönheit und männliche Dicke als Vornehmheit und nicht ohne Grund als Zeichen des Reichtums, und wenn sich die Piraten nicht durch solch einen Fettkoloß anlocken ließen, dann gab es überhaupt kein Mittel mehr.
Meister Kännchen war der Sachverständige und mehr noch Sprachkundige, falls es doch vielleicht zu einer Unterhaltung kam, als zweiter Dolmetscher war Doktor Isidor mitgekommen, der sogar noch mehr Dialekte konnte als der echte Chinese.
Neben Juba Riata ist Mister Tabak nicht zu vergessen. Mister Carlistle hatte meine Einladung abgelehnt, dem mochten die Sterne und sein ägyptisches Punktierbuch nichts Günstiges für seine Person bei dieser Expedition prophezeit haben.
Dann hatten wir noch verschiedene Mitglieder unserer Menagerie an Bord, von denen ich später sprechen werde, wenn sie in Funktion treten müssen.
»Da kommen sie!«
Na‚ Gott sei Dank, unsere Gebete waren erhört worden, kein anderes Schiff hatte sich dazwischen gemengt.
Zwischen den Felseninselchen tauchte eine Prau auf, eine zweite folgte, eine dritte . . . bis wir elf zählten, die auf uns zustrebten, jede mit 15 bis 20 und noch mehr Mann besetzt, alle bis auf den Steuermann rudernd.
Ich hatte also schon viele Geschichten gelesen, Abenteuer mit chinesischen Piraten behandelnd, mit Bildern geschmückt, und da war regelmäßig zu sehen, wie die bezopften oder unbezopften Seeräuber in chinesischen Kostümen auf den Duchten sitzen und sich mächtig in die Riemen legen, wie es nur die eingepulte Bootsmannschaft eines Kriegsschiffes kann.
Sehr schön, diese Bilder, aber so etwas gibts in Wirklichkeit gar nicht. Alle diese chinesischen Piraten rudern im Stehen nach vorwärts.
Ihre Prauen sind Klinkerboote, die Planken also übereinandergelegt, sehr geschickt selbstgefertigt aus den Planken der erbeuteten Dschunken, so daß ein Verlust einiger Prauen nicht viel für sie zu bedeuten hat.
Es kommen stets sämtliche Prauen mit allen waffenfähigen Männern — so darf man wenigstens vermuten, die internen Angelegenheiten sind ja gänzlich unbekannt — einmal um durch die erdrückende Übermacht gar keinen Widerstand aufkommen zu lassen, und dann um die Fracht der Dschunke sofort in die Boote laden zu können, falls ein größeres Schiff dazwischen kommt. Eine beladene Dschunke wird wohl in die schmalen, flachen Wasserstraßen nicht einfahren können, sie muß erst geleichtert werden, wenn sie wegen der wertvollen Planken zum Bootsbau oder als Feuerholz nicht gleich zusammengeschlagen und so mitgenommen wird.
Es waren die wildesten Gestalten, die wir hastig und höchst unregelmäßig die plumpen Ruder bewegen sahen, meist in braune Kittel gehüllt, häßliche Mongolengesichter. Daß sie bei jahrtausendelanger Übung immer noch nicht imstande waren, die Riemen taktmäßig zu bewegen, mochte daher kommen, weil es noch nicht gelungen war, ihnen dabei das Schwatzen abzugewöhnen. Ein unaufhörliches Geschnatter, es klang wirklich gerade, als wenn sich eine große Gänseherde nähere, und dabei wurden auch einmal die Riemen losgelassen, um gleich mit beiden Händen nach unserer Dschunke zu deuten.
Nun, da wir Chinesen waren, mußten auch wir schnattern und mit den Fingern deuten. Aber nicht lange, dann verschwanden wir hinter der Bordwand. Die tapferen Chinesen hatten sich eben an Deck hingeworfen, um geduldig das unerbittliche Schicksal zu erwarten. Natürlich nicht ohne einige Verzweiflungsausbrüche, da hatte ich mit meinen seemännischen Schauspielern vorher doch erst einige Proben abgehalten.
Aber wir achtzehn imitierten Chinesen, die wir uns an Deck befunden hatten, blieben nicht ruhig liegen. Wir krochen im Schutze der Bordwand in den Raum hinab, in die eigentliche Barkasse, durch die Schießlöcher, noch mit Eisenplatten umgeben, betrachteten wir erst richtig die ankommenden Prauen, jeder schon sein Gewehr zur Hand, und hier erst gab ich meine Instruktionen, die noch nötig waren.
»Das letzte Boot, in dem der Steuermann den roten Turban trägt!«
»Ay‚ ay, Waffenmeister!«
»Es wird geschont!«
»Ay, ay, Waffenmeister!«
»Feuer!«
Und die Salve krachte und krachte noch einmal.
Den Erfolg kann ich nicht beschreiben. Jedenfalls war es mit dem Rudern sofort vorbei.
Gleichzeitig hatten auch die beiden Revolverkanonen gekracht, von Oskar und Hahn bedient, in vier Sekunden elf Mal, meist gleichzeitig.
Alle die Matrosen und Unteroffiziere, die früher in der Marine an der Hotchkiß-Revolverkanone, 37 Millimeter, ausgebildet worden sind, bedauern ungemein, können es gar nicht begreifen, daß diese kleine Revolverkanone in der deutschen Marine von dem Schnellfeuergeschütz verdrängt worden, überhaupt ganz abgeschafft worden ist.«
Gegen gepanzerte Torpedoboote kann die Revolverkanone freilich nicht dasselbe leisten wie das Schnellfeuergeschütz mit seiner furchtbaren Durchschlagskraft, das stimmt. Aber kann denn im Seekriege ein Geschütz nicht auch einmal gegen hölzerne Boote oder gegen ein Schiff mit dünnen Eisenplatten gerichtet werden? Und für diesen Zweck waren die kleinen Revolverkanonen ganz unvergleichlich. Den Bügel an die Schulter gestemmt, die Hand an der Kurbel, das Auge über das Korn visierend, hatte die doch immerhin große Kanone für den hierin ausgebildeten Mann, wozu freilich auch seine besondere Art von Genie gehört, dasselbe zu bedeuten wie der Revolver in der Hand des Cowboys, der sich niemals an die Browningpistole gewöhnen wird, weil er bei der das Handgelenk nicht drehen kann. Es ist fabelhaft gewesen, was die Matrosen mit der Revolverkanone, bei der die Patronen mit Hartguß oder Granaten durch einen Trichter selbsttätig nachfallen, geleistet haben! Sie haben auf — 926 500 Meter Figuren in die Scheibe geschossen, so schnell, wie man solch eine Figur anmalen kann. Was mit dem Schnellfeuergeschütz nicht etwa mehr möglich ist. Aber diese einfachen Männer haben da ja nichts mitzusagen, obgleich sie gerade als Männer der Praxis darüber gefragt werden sollten.
Mit elf Schüssen hatten die beiden innerhalb von vier Sekunden zehn Boote zum Sinken gebracht. Sie hatten sich, nebeneinander stehend, in die Boote geteilt, wozu weiter keine Unterhaltung nötig gewesen war. Fünfmal hatte jeder geschossen, mit Hartgußkugeln, und nur Unterwasserschüsse sollten es sein. Nur Oskar hatte einmal gefehlt, das heißt das eine Boot oberhalb dies Wassers getroffen. Da hatte Hahn schnell noch seinen sechsten Schuß drauf gesetzt, auch diesem Boote ein Loch unterhalb der Wasserlinie beigebracht. Auch noch in diesen vier Sekunden. Richard Hahn aus Chemnitz, eines Strumpfwirkers Sohn, der schon längst Feuerwerksoffizier hätte sein können, wenn er eben nicht . . . ein Hahn gewesen wäre. Eben ein verlumptes Genie. Mindestens im Schießen ein Genie.
Sofort sanken die zehn Prauen ja nicht, aber durch die Löcher von 37 Millimeter Durchmesser strömte das Wasser doch mit Macht ein, und daß sie nicht verstopft werden konnten, dafür sorgten wir mit unseren Magazinengewehren.
Die Chinesen dachten überhaupt gar nicht an ein Verstopfen. Wie es zuging, kann ich überhaupt gar nicht beschreiben. Für uns war es nur ein Spielchen gewesen, für jene ein unerklärliches furchtbares Etwas.
Mit der ersten Gewehrsalve waren die Insassen eines jeden Bootes schon dezimiert, und da schaukelten ihnen auch schon die Planken unter den Füßen weg. Das sprangen sie lieber gleich über Bord ins Wasser.
Das letzte Boot sah die schreckliche Katastrophe, von dem es allein verschont geblieben war, und die Kerls drehten sich einfach um und ruderten zurück, ohne erst das Boot zu wenden, flohen mit dem nötigen Geschrei wieder der Küste zu.
Wir hatten jetzt keine Zeit, die im Wasser Schwimmenden und sich an die vollgesackten Boote Klammernden zu beobachten.
Jetzt — jetzt kam es darauf an, ob sich meine Erfindung, verwirklicht von Juba Riata, bewähren würde!
Jetzt erst soll der Leser erfahren, was wir während mehr als sechs Monaten schon vorbereitet hatten, ohne daß ich ein Wörtchen darüber gesagt habe.
Schon war oberhalb der Barkassenwand in der Dschunke eine Klappe aufgemacht worden.
»Vorwärts, Neptun, Kasper, Nauke — dem Boote nach!« kommandierte Peitschenmüller.
Und durch die Luke, die aber dem fliehenden Boote abgekehrt war, schlüpften zwei Seehunde und ein Walroß. Nur die Tante, ein weibliches Walroß, blieb zurück, um zu unserer weiteren Verfügung zu stehen.
Ich fasse mich so kurz als möglich.
Damals als zwölfjähriger Junge hatte ich in dem Varietee einige dressierte Seehunde und Walrosse gesehen. Die ersten, die in Europa vorgeführt wurden.
Sie hatten Harmonika geblasen, Pistolen abgefeuert, brennende Petroleumlampen auf der Nase balanciert, weggeworfene Gegenstände auf dem Teppich humpelnd apportiert.
Damals war mir zwölfjährigem Jungen der Gedanke gekommen, ob sich solch ein Seehund nicht noch zu etwas anderem abrichten ließe, als nur Petroleumlampen auf der Nase zu balancieren und einen Stock zu apportieren.
Da habe ich gleich an die Schlupfwinkel der chinesischen Piraten gedacht.
Fast zwanzig Jahre lang habe ich über diesen Plan gegrübelt, habe auch nähere Erkundigungen über Seeheunde und Walrosse eingezogen — allein zur praktischen Ausführung kam ich nicht, zu keinem einzigen Experiment. Es fehlte mir die Gelegenheit dazu. Außerdem füllte dieser Plan ja nicht etwa meine ganze Gedankenwelt aus. Es war nur nebenbei so ein Lieblingsgedanke, dessen Ausführung ich immer in die Zukunft hinausschob.
Ich kam an Bord der »Argos«, lernte Juba Riata als Herrn der ganzen Menagerie kennen. »Ich habe erzählt, wie uns damals in der Argonautenbucht am Feuerlande eine Herde Walrosse besuchte, als gerade unser Orchester übte, wie sie gleich wieder Reißaus nahmen, eben weil es so musikalische Tiere sind.
Aber ich habe nicht erzählt, daß wir damals drei Stück von diesen Walrossen lebendig gefangen haben.
Ich habe es nicht getan, um den Leser vollkommen zu überraschen.
Juba Riata, dem ich meinen Plan nun offenbarte, der von ihm gebilligt wurde, nahm die Tiere sofort in Dressur. Ein Walroß, das eine Wunde davon getragen, ging ein.
Dann, als wir in Marseille lagen, haben wir von der zoologischen Handlung der Gebrüder Levintoins, die auch Tiere abrichten und ausstellen, die französischen Hagenbecks, fünf schon dressierte Seehunde gekauft, für 12 000 Franken. Sie konnten auch nur solche Kunststückchen ausführen, ihr Witz aber war doch schon geschärft, jetzt nahm sie Peitschenmüller in eine ganz andere Dressur. Einer dieser Seehunde starb.
Von alledem habe ich nichts erwähnt. Sonst hätte ich auch von der Dressur anfangen müssen, und das wäre eine gar lange Geschichte geworden. Denn ich weiß schon, wenn ich von so etwas anfange, von Tieren, wozu man die alles abrichten kann, von ihrem Verstande und so weiter und so weiter, dann höre ich niemals wieder auf. Also lieber nicht.
Nur das eine will ich hier noch als Resultat unserer Erfahrungen sagen:
Heute ist der Mensch endlich, endlich auf den Gedanken gekommen, den vierfüßigen Hund im Dienste des Krieges und der Polizei zu verwenden. Es muß doch furchtbar schwer gewesen sein, die geniale Idee auszuhecken, einen Hund durch die Vorpostenkette der Feinde schleichen zu lassen, ihn Verwundete aufsuchen und Diebe und Verbrecher mit seiner feinen Nase verfolgen zu lassen!
Mit dem befloßten Hunde des Meeres ist der scharfsinnige Mensch heute so weit gekommen, daß er ihm eine brennende Petroleumlampe auf die Nase setzt, ihn einen Leierkasten drehen, eine Harmonika blasen und einen Spazierstock apportieren läßt, wozu dieses befloßte Säugetier des Meeres auf einem Teppich oder in der Zirkusloge humpeln muß.
Ich aber sehe schon die Zeit kommen, da man den Seehund dazu benutzen wird, daß er geschriebene Depeschen von Schiff zu Schiff und von Küste zu Küste befördert! Und leider wird er wohl auch Dynamitbomben an Schiffsrümpfe heften und zur Explosion bringen müssen, oder es wäre nicht der Mensch, der ihn abrichtet, derselbe Mensch, der kein Luftschiff und keine Flugmaschine erfinden kann, ohne gleich daran zu denken, wie man da so schön Bomben und Granaten auf seine Mitmenschen hinabwerfen kann . . .
Genug davon!
Wir bleiben bei dem, was unsere vier Seehunde und zwei Walrosse leisten konnten und geleistet haben.
Jetzt, da ich sie dem Leser nun einmal hergestellt habe, werde ich auch noch öfters von ihnen erzählen.
Bemerken will ich gleich noch, daß ich den sechs Tieren ursprünglich schöne, klassische Namen gegeben hatte. Aber es kam, wie es so oft geschieht, besonders wenn Matrosenwitz dabei im Spiele ist. Nur das männliche Walroß hatte meinen ihm gegebenen Namen Neptun behalten, das Weibchen hatte ich nach der Seenixe Dandea getauft, meine Jungens hatten alsbald Tante draus gemacht. Es war allgemein die Tante. So waren auch die französischen Namen der vier Seehunde geändert worden. Die hießen jetzt Kasper, Nauke, Pimberle und Knipperdolling. Wie diese Namen entstanden waren, das wußte jetzt niemand mehr.
Pimberle und Knipperdolling waren an Bord der »Argos« zurückgeblieben, falls uns von dort eine Depesche zugeschickt werden sollte — und daß uns etwa so ein Seehund nicht fand, weil wir außer Gesichtsweite waren, solch ein Gedanke konnte in unserem Kopfe gar nicht mehr entstehen, dazu mußte man aber eben die Leistungsfähigkeit dieser Seehunde in ihrem Elemente erst näher kennen gelernt haben! — Neptun, Nauke, Kasper und die Tante waren mit uns gekommen, und nur letztere, das weibliche Walroß, mit einem mächtigen Schnauzbarte, blieb auch jetzt noch bei uns.
»Vorwärts, Neptun, Kasper, Nauke — dem Boote nach!« kommandierte also Juba Riata.
Die vier befloßten Tiere hatten schon immer durch die Schießscharten nach den Prauen gespäht, die ganze Szene beobachtet — ach, was soll ich von der Klugheit dieser Seehunde und Walrosse erzählen, ich kann es nicht; von Menschenklugheit darf man da nicht viel sprechen, da gibt es viel, viel dümmere Menschen genug! — Jetzt rutschten die drei Genannten sofort nach der anderen Seite, wo schon die Luke geöffnet worden war, rutschten mit fabelhafter Gewandtheit, schoben sich mit unglaublicher Schnelligkeit durch das Loch, waren im Wasser verschwunden, ohne daß auch nur das leiseste Plätschern zu hören gewesen wäre.
So, das war besorgt, um das Weitere brauchten wir uns nun gar nicht mehr zu kümmern. Nun mußten wir nur ihre Rückkehr abwarten. Dann zeigten sie uns den Weg, den das Boot genommen hatte, bis zu dem Schlupfwinkel der Piraten hin. Oder doch bis dahin, wo diese das Boot verlassen hatten. Aber sie führten unsere Barkasse auch noch weiter durch fahrbare Wasserstraßen. Wir hätten vielleicht gar nicht nötig gehabt, erst die Prauen oder auch nur eine einzige herauszulocken. Diese Seehunde hätten den fahrbaren Weg auch so aufgespürt. Sie zeigten an, ob vor uns nur ein Meter oder fünf Meter Wassertiefe war, oder zehn oder zwanzig oder fünfzig. Die beiden Walrosse tauchten sogar bis achtzig Meter hinab und zeigten uns diese Tiefe dann durch ein gewisses Bellen bis zu einer Genauigkeit von fünf Metern an!
Wie gesagt, ich kann unmöglich schildern, wie Juba Riata den Tieren dies alles beigebracht hatte! Noch viel erstaunlicher eigentlich aber war die Klugheit dieser Tiere selbst, die man dabei beobachten konnte!
Die fliehenden Piraten würden die ihnen folgenden Seehunde nicht bemerken, keine Ahnung von ihnen haben und bekommen. Die Tiere schwammen immer unter Wasser. Und wenn sie aller drei bis fünf Minuten einmal Luft schöpfen mußten, so gehörte das Auge eines Eskimos oder sonstigen seehundkundigen Jägers dazu, um die auftauchende Nase mit einigen Schnauzhaaren über dem Wasser überhaupt zu bemerken. Diese chinesischen Piraten sahen sie sicher nicht.
Jetzt mußten wir also die Rückkehr der befloßten Wasserhunde abwarten.
Ganz untätig warteten wir natürlich nicht.
Die Piraten der mit Wasser gefüllten Prauen wendeten sich schwimmend der Küste zu, und daß sie diese erreichten, das warteten wir nicht ab.
Es ist nicht gerade etwas Schönes, was ich jetzt zu berichten habe.
Aber unsere Handlungsweise verdient keinen Tadel, war durchaus gerechtfertigt.
Wir waren ehrliche Seeleute, und das dort waren blutige Seeräuber.
Rasch internationalem Seegesetz kann man den Seeräuber, den man auf frischer Tat mit der Waffe in der Hand ertappt, auch wenn diese Waffe nicht direkt gegen den Beobachter selbst gerichtet ist, ohne weiteres niederschießen oder ihn, um der Handlung ein gerichtliches Gepräge zu geben, am Maste des eigenen Schiffes aufhängen.
Will man das nicht, so ist es die unbedingte Pflicht, den Piraten gefangen zu nehmen und ihn im nächsten Hafen der Behörde auszuliefern. Bei Piraterie, die ohne Anwendung irgendwelcher Waffengewalt ausgeübt worden ist, gibt es fünf bis fünfzehn Jahre Zuchthaus respektive die schwerste Strafe des betreffenden Landes; wenn dabei eine Waffe erhoben wurde, auch wenn kein Tropfen Blut floß, gibt es nur den Tod.
Diese hier hatten nach internationalem Gesetz den Tod verdient, in den vollgesackten Booten lagen noch Gewehre und andere Waffen — und überhaupt, es waren doch chinesische Piraten.
Sollten wir die fast 200 Mann etwa auffischen und sie gebunden der nächsten Hafenbehörde ausliefern, daß sie gehangen oder geköpft werden mußten, auf die Gefahr hin, daß man sie mit behördlicher Erlaubnis wieder entwischen ließ?
Fiel uns ja gar nicht ein!
Und überhaupt, das waren ja gar keine Menschen, das waren zweibeinige Bestien.
Wir haben die schwimmenden Köpfe als Zielscheiben benutzt.
Noch 187 Patronen haben wir verschossen, dann gab es keinen Schwimmer mehr, keine Leiche trieb. Der menschliche Körper sinkt zuerst unter.
Außerdem hatten sich gar schnell Haifische eingestellt, die uns behilflich waren.
Erwähnen will ich dabei, daß unsere Seehunde nicht etwa diese Haifische zu fürchten hatten. Die konnten, wenn sie wollten, mit diesen Bestien des Meeres, die sich beim Erfassen der Beute erst umdrehen müssen, Blindekuh spielen. Der Seehund hat überhaupt nur den Eisbären zu fürchten, und auch nur dann, wenn dieser ihm an seinem Luftloche im Eise auflauert. Und dann natürlich das größte Raubtier der Erde, den Menschen. Aber diese chinesischen Piraten also nicht.
Den Petroleummotor der Barkasse in Betrieb zu setzen hatten wir nicht nötig gehabt. Außer Schußweite kam kein Schwimmer, das heißt er erreichte nicht die erste Insel, die ja nur 200 Meter von uns entfernt war. Zwei von ihnen hatte Peitschenmüller mit seinem Lasso lebendig gefangen, aber wir brachten keinen lebendig an Deck. Der eine, ein Knabe fast noch, stieß sich, sobald er merkte, daß er aus dem Wasser gezogen wurde, einen Dolch ins Herz, der zweite, ein älterer Mann hatte ein so aufgedunsenes Gesicht und hervorquellende Augen, daß wir gleich wußten, welchen Todes er gestorben.
Er war erstickt, indem er seine eigene Zunge verschluckt hatte. Doktor Isidor brach ihm die fest zusammengepreßten Zähne aus, untersuchte mit dem Operationsmesser, wie das dann aussieht, wenn jemand seine Zunge verschluckt hat, was übrigens gar nicht so einfach ist. Das muß unter sachkundiger Leitung erst eingeübt werden. Ich habe dieser Untersuchung nicht beigewohnt, und einige Matrosen sagten mir dann, sie hättens lieber auch nicht mit ansehen sollen. Schauderhaft!
Ich selbst beteiligte mich anfangs nicht an der allgemeinen Kopfschießerei, dann später holte ich das Versäumte nach, nur deshalb, damit man mir später nichts nachsagen konnte, ich habe meine Hände rein halten wollen. Wie dies gemeint ist, wird der Leser noch später erfahren. Es ist dies überhaupt das dunkelste Kapitel in meiner ganzen Argonautenzeit. So einfach mit der Menschenschießerei war die Sache eben doch nicht.
Daß Helene sich an der Schießerei beteiligte, das hätte ich gar nicht zugelassen, aber sie war Weib genug, um lieber gar nicht hinzusehen.
Zuerst, als die drei Seehunde abgelassen worden waren, ließ ich weiter von den mitgenommenen Tauben zwei Stück aufsteigen, jede mit einer Mitteilung in einem Büchschen am Halse. Es waren zwar keine speziellen Brieftauben, sondern gewöhnliche Haustauben, aber das bleibt sich schließlich ganz gleich, und außerdem waren es auch keine Haustauben mehr, sondern Schiffstauben, eine neue Spezies, die wir gezüchtet hatten. Sie waren an Bord der »Argos« ausgebrütet worden, sie kannten keine andere Heimat mehr als dieses Schiff. Darüber hatten wir schon viele Versuche angestellt. In jedem Hafen wurden am Lande bleibende Personen ersucht, einige unserer Tauben erst nach mehreren Stunden fliegen zu lassen, wenn wir schon abgefahren waren, und immer fanden sie unser Schiff wieder. Ich habe von solchen Experimenten, die wir fortwährend anstellten, der allerverschiedensten Art, weiter gar nicht erzählt, werde es auch nicht tun, sondern immer nur das Resultat schildern, wenn es einmal die Gelegenheit mit sich bringt.
Die beiden Tauben stiegen hoch empor und schossen sofort dem Nordosten zu, wo sich die »Argos« aufhalten mußte. Dann also beteiligte auch ich mich an der Kopfschießerei.
Als der letzte Kopf verschwunden war, tauchten schon die Masten unseres Schiffes auf, und als es uns nach einer halben Stunde erreicht hatte, kehrten auch die drei Seehunde — zu denen ich fernerhin auch die Walrosse rechne, — zurück, sich durch ein Bellen anmeldend. Sie hatten also doch zu dem Hin- und Herweg fast dreiviertel Stunde gebraucht.
Jetzt brauchte die Barkasse nicht, wie es sonst geschehen wäre, wenn die Argos nicht so schnell gekommen, unter dem Dschunkenaufbau hervorzuschlüpfen, diesen bis zur Rückkehr auf den Luftschläuchen schwimmen lassend, sondern das Brettergerüst wurde gleich mit zwei Winden wieder an Deck gehoben und dort auseinandergenommen, und nun konnten auch die andern in Booten mit an der Expedition teilnehmen, so weit sie nicht zur notwendigsten Bedienung des Schiffes zurückbleiben mußten, was einfach dadurch entschieden wurde, wer jetzt gerade Wache hatte. Diese Boote hätten wir ja so wie so gebraucht, um die den Piraten abgenommene Beute an Bord zu schaffen, nur hätten wir sonst nicht erst die Argos erwartet.
Ich schildere dies umständlicher, als es in Wirklichkeit vor sich ging. Nur wenige Worte der Verständigung, und von den fünf Booten, welche das ursprüngliche Kriegsschiff besaß wozu aber noch die Dampfbarkasse kam, die ebenso wie die große Pinasse bequem 100 Mann fassen konnte, außerdem noch das kleine Dinghy und das lange Walfischboot, wurden vier ausgesetzt, noch 32 Mann nahmen darin Platz, und sie folgten der Barkasse nach, die wieder von den drei Seehunden geführt wurde.
Die Barkasse hatte sich bereits in kriegsbereitem Zustande befunden, das heißt ihre Bordwände waren schon vorher durch angeschraubte Stahlplatten erhöht gewesen, stark genug, um wenigstens jeder modernen Gewehrkugel zu trotzen, so hoch, daß man aufrecht hinter ihnen stehen konnte, mit kleinen Schießscharten versehen, für die beiden Revolverkanonen mit größeren Öffnungen, die aber auch sofort wieder geschlossen werden konnten.
Wir mußten ja noch immer auf einen warmen Empfang rechnen, fünfzehn Piraten hatten wir mit Absicht entkommen lassen, und in dem Schlupfwinkel würden sich doch wohl außer Frauen, Kindern und Greisen auch noch andere waffenfähige Männer aufhalten. Wenn sie ihren Schlupfwinkel bei unserer unerwarteten Annäherung verließen, so konnten sie sich doch zwischen den Klippen in den Hinterhalt legen und uns Kugeln zusenden.
Uns in der Barkasse hinter den Stahlplatten war da nichts anzuhaben. Höchstens von oben her hätten wir eine ganz besondere Art von Bomben zu fürchten gehabt.
Der in den chinesischen Piratenverhältnissen bewanderte Leser dürfte sich schon gewundert haben, daß ich noch nichts von den Stinktöpfen berichtete. Das sind irdene Gefäße, welche, wenn sie beim Aufschlagen zerbrechen, eine Jauche ausgießen, die einen entsetzlichen Gestank verbreitet. Wer nicht schleunigst aus dieser Atmosphäre flieht, so lange er noch den Atem anhalten kann, der erstickt, und da helfen auch keine Nasenquetschen. Diese Stinktöpfe waren es auch, die früher jedes europäische Segelschiff bei Windstille den chinesischen Piraten rettungslos auslieferten, wenn es nicht rechtzeitig gelang, sämtliche Töpfe noch zwischen den Händen der Piraten zu zerschießen, so daß diese selbst schleunigst über Bord springen mußten, um nicht selbst zu ersticken. Platzt solch eine Tonbombe innerhalb des Schiffes, durch eine Luke oder ein Bollauge hineingeworfen so ist ein Aufenthalt darin nicht mehr möglich, auch die siegreichen Piraten müssen bei guter Lüftung mehrere Stunden warten, bis sie sich hinabbegeben können, wenn ihnen dadurch nicht die ganze Beute entgeht.
Die Fabrikation dieser Stinktöpfe ist ein Geheimnis der Piraten. Auch in China weiß sonst niemand, wie die wirksame Flüssigkeit hergestellt wird. Unsere Chemiker wissen wohl, daß der wirksame Bestandteil Kakodyl ist, eine Verbindung des Arsens — jedoch nicht eigentlich giftig, nur so entsetzlich stinkend — aber ach! sie können nicht enträtseln, wie die chinesischen Piraten diese Substanz herstellen, was nämlich gar nicht so einfach ist, für uns im Laboratorium, während die Piraten diese Bomben massenhaft werfen.
Aber es ist von jeher auch nur das Geheimnis von einzelnen Piratenbanden gewesen. Stinktöpfe sind immer nur auf Schiffe geworfen worden, die zwischen den beiden Küstenprovinzen Kantung und Fukian und der Insel Formosa angegriffen wurden. In anderen Küstengegenden sind sie nie gebraucht worden, so auch nicht hier an der Küste des gelben Meeres.
Übrigens hört man jetzt gar nichts mehr von den Stinktöpfen, auch nicht in jenen früher von ihnen verpesteten Meeresgegenden. Auch jene Piraten haben sie eben gar nicht mehr nötig, weil sie europäische Schiffe überhaupt nicht mehr angreifen, chinesische Dschunken sich ihnen gleich ohne jeden Widerstand ergeben. Und durch Anwendung der Stinktöpfe entgeht ihnen selbst zu oft die schon gesicherte Beute, das heißt, sie können mit dem verpesteten Schiffe dann gar nichts mehr anfangen.
Also Stinktöpfe hatten wir hier nicht zu fürchten. Nur Gewehrkugeln und Pfeile. Nun, da mußte unsere gepanzerte Barkasse den ungeschützten Ruderbooten eben ein gutes Stück vorausfahren, wir mußten gut aufpassen, um einen Hinterhalt rechtzeitig zu entdecken, und im übrigen befanden wir uns eben im Kriege.
Aber es sollte leichter gehen, als wir uns gedacht hatten. Eine halbe Stunde sind wir zwischen Klippen und Riffen den drei Seehunden gefolgt, die mehr durch aufsteigende Luftblasen den Weg angaben, als daß sie ihre Köpfe über Wasser zeigten. Wenn sie zu dem Hin— und — 941 Rückweg nur dreiviertel Stunden gebraucht hatten, wir jetzt zur Hintour eine halbe Stunde, so waren sie eben auf dem Rückweg bedeutend schneller geschwommen, als da sie dem Piratenboote gefolgt waren.
Von diesem Wege kann ich nur sagen, daß es durch ein Wasser- und Klippenlabyrinth ging, und niemand hätte diesen Weg zurückgefunden, der ihn nicht von Jugend auf kannte. Merkmale hätte man da niemals ins Auge fassen können. Oftmals machten die Seehunde solche Bogen, gingen direkt zurück, daß wir glaubten, sie hätten sich verirrt, führten uns falsch. Doch da kannten wir unsere Tiere doch wieder zu gut. Jedenfalls hätten wir uns ohne diese Tiere, wenn sie uns etwa verloren gegangen wären, nicht wieder zurückgefunden, das heißt nicht in den Booten, wir hätten sie nur unter ungeheuren Anstrengungen über die Klippen tragen können, wobei wir mit Leichtigkeit alle abgeschossen worden wären. Was wir dann später auch noch zu hören bekommen sollten. Jedenfalls habe ich schon damals auf dem Hinweg von selbst eingesehen, wie es ganz unmöglich ist, solch ein wie dieses angelegtes Piratennest zu Wasser oder zu Lande zu erreichen. Wenn man eben nicht darauf abgerichtete Hunde der See zu seiner Verfügung hat.
35. KAPITEL. WAS WIR IN DEM SCHLUPFWINKEL FANDEN.
Also eine halbe Stunde war vergangen. Die Fahrt wurde besonders dadurch verzögert, daß die Ruderboote oftmals die Riemen nicht auslegen konnten, fortgestoßen werden mußten, so eng wurde die Wasserstraße, jedoch niemals so eng, daß unsere breitere Barkasse nicht hätte durchkommen können. Auch fand sie überall tiefes Wasser genug. Aber wir wollten die Ruderboote auch nicht zu weit hinter uns lassen. Beschossen waren wir noch nicht worden, kein Mensch war bisher zu sehen gewesen.
»Da laufen sie!« erklang da der Ruf.
Wir hatten uns einer mehr zusammenhängenden Klippenformation genähert, hinter der größere Felsen sich erhoben, festes Land verratend, und zwischen diesen Felsen, noch in Büchsenschußweite, sahen wir sie hastig laufen, Männer und Frauen und Kinder, manchmal verschwindend und wieder zum Vorschein kommend.
»Nicht schießen, laßt sie laufen!« kommandierte ich, als besonders die in den Booten schon die Gewehre anschlugen.
Ich hatte schon genug von der Menschenabschießerei im Wasser gehabt, und so ging es auch den meisten in meiner Barkasse. Wir eigneten uns alle nicht zur Menschenjagd, und wenn ich gewußt hätte, wie alles kommen würde, so hätte ich mich in dieses Abenteuer gar nicht eingelassen. Wovon ich später noch sprechen werde.
Die Chinesen waren gen Norden zwischen den Felsen verschwunden, und wir hatten zwischen den letzten Riffen das feste Land erreicht, eine felsige Küste, alles furchtbar zerrissen. In der kleinen Ausbuchtung lagen nur einige unbrauchbare Prauen, zertrümmert oder voll Wasser.
Zuerst schickten wir die drei vierbeinigen Hunde, die wir ebenfalls schon in der Barkasse gehabt hatten, voraus. Es war nicht eben heldenmütig von uns, daß wir die treuen Tiere erst einer Kugel aus dem Hinterhalte aussetzen wollten, aber schließlich war Vorsicht die Manier der Weisheit schon bei den alten Argonauten, und wenn die Piraten, sobald sie sich gefangen sahen, Selbstmord begingen, so war ihnen auch zuzutrauen, daß sie hier blieben, um noch möglichst viel Schüsse abzufeuern, ehe sie in den Tod gingen, und das Leben meiner Jungen war mir denn doch kostbarer als das der Hunde.
Aber es sollte von alledem nichts geschehen.
Die Hunde, die zwischen den Felsen verschwunden waren, schlugen an.
»Sie haben etwas gefunden, aber keinen Feind, keinen Menschen!« erklärte Juba Riata sofort, der doch die Stimme seiner Zöglinge kannte, falls wir es nicht schon gelernt hatten. Freilich waren wir ja auch noch gar nicht mit Feinden zusammengeraten.
»Sie werden den fliehenden Chinesen, wobei auch Frauen und Kinder sind, doch nicht folgen?« fragte ich.
»Nein, nicht eher, als bis ich ihnen den Befehl dazu gebe.«
»Ich denke, Sie geben ihnen den Befehl hierzu nicht.«
»Recht so, wollen wir die,‚ denen die Flucht gelungen ist, nun auch laufen lassen.«
Die Boote wurden unter der nötigen Bewachung zurückgelassen, wir anderen drangen in das Felsenlabyrinth ein. Unterwegs kam uns Chloe entgegen, der Schäferhund, um die weitere Führung zu übernehmen, er leitete uns in einen Felsenkessel, dessen Wände von Höhlen siebartig durchlöchert waren.
Wir waren am Ziele, im eigentlichen Schlupfwinkel der Piraten. Ich mache es kurz, was wir alles fanden — viel war es nicht, und das — weswegen wir hierhergekommem sollten wir überhaupt nicht finden.
Im Freien Feuerstellen, aufgestapeltes Holz, zerhackte Planken ehemaliger Dschunken, Kochkessel, zum Teil ganz primitive, zum Teil höchst kostbare Erzeugnisse der Kupfertreibarbeit, die verschiedensten Hausgerätschaften — in den Höhlen massenhaft Lumpen, wenn auch viele seidene, einige Säcke mit Reis und Bohnen — das war so ziemlich alles, was wir im Laufe einer Stunde fanden. Von alten Gewehren und sonstigen Waffen aus chinesischer Vorzeit will ich gar nicht erst sprechen.
»Die Piraten scheinen alles, was sie hier aufgestapelt hatten, erst vor kurzem an eine Handelskarawane verkauft zu haben!« meinte Meister Kännchen.
Ja, das schien uns allen so, dazu brauchten wir nicht erst das Urteil eines chinesischen Sachverständigen zu vernehmen. Denn daß hier noch vor kurzem große Mengen von Sachen, Kisten und Kasten aufgespeichert gewesen waren, die man fortgetragen hatte, das war an verschiedenen Spuren ganz deutlich zu erkennen.
Aber wir waren nicht etwa niedergeschlagen, daß wir um die erhoffte Beute gekommen waren.
Ich will mich kurz zu fassen versuchen: Ja, es war einmal mein Knaben— und Jünglingstraum gewesen, den chinesischen Piraten ihre Beute abzunehmen und dadurch ein reicher Mann zu werden, Schätze aufzuhäufen. Aber das war schon lange her. Jetzt war ich gar nicht mehr so lüstern nach Schätzen. Und überhaupt — wie alles gekommen war — was wir hier vorfanden — alle meine Jungen dachten genau so wie ich. Sie freuten sich, daß sie hier nichts mitzunehmen hatten.
Denn unbeschreiblich war der Gestank, der in diesen Höhlen und in der ganzen Umgebung herrschte. Von hier eng zusammenlebenden Menschen herrührend, denen die größtmöglichste Unreinlichkeit geradezu ein Bedürfnis war. Nur wenn wir dem Hungertode ins Auge gesehen, hätten wir von dem Reis und den Bohnen genießen können, die schon diesen Gestank angenommen hatten, wenigstens unserer Meinung nach, und wenn wir auch unter den Kleiderlumpen goldene und diamantene Schätze vermutet hatten, wir hätten sie sicher nicht angerührt. Es war einfach schrecklich, was unsere Augen erblickten und unsere Nasen rochen — obgleich die eigentlichen Stinktöpfe fehlten.
Und wenn wir hier wirklich Kisten voll Opium und Ambra und hunderte von Säcken voll kostbarster Seidenstoffe gefunden hatten, war es nicht Piratenbeute, mit der wir uns bereichern wollten, klebte nicht an allem unschuldig vergossenes Blut?
Ich will ja nicht etwa sagen, daß unter uns nicht genug waren, die sich um so etwas verdammt wenig gekümmert hatten. Aber . . . wir alle hatten so etwas gar nicht nötig, wir waren viel zu gut gestellt, uns gefiel das Leben an Bord dieses Schiffes viel zu sehr, als daß wir jetzt solche Gelüste nach Reichtümern gehabt hätten.
Kurz und gut, wir alle waren wirklich froh, daß wir keine Kisten und Säcke in die Boote zu laden hatten, die dann womöglich unser ganzes Schiff verpestet hatten, uns vielleicht wirklich die Pest an Bord gebracht hätte!
»Georg, das machen wir nicht wieder!« flüsterte Helene.
Nein, das machten wir nicht wieder. Ich hatte meine Idee mit den Seehunden verwirklicht, sie hatte sich bewährt, das wollte ich an passender Stelle veröffentlichen, aber damit auch genug! Mich gelüstete nicht nach den blutigen Waren, die wir dann erst verschachern mußten, allen uns Argonauten nicht, und ebenso wenig hielten wir uns verpflichtet, die Welt oder doch China von solchen menschlichen Bestien zu befreien. Bei diesem Experimente hatten wir mindestens 150 ins Jenseits befördert, darüber fühlten wir Kopfschützen nicht die geringsten Gewissensbisse, im Gegenteil, das war ein sehr gutes Werk gewesen — aber, wie gesagt, zu mehr hielten wir uns nun nicht verpflichtet. Mochte diese Jagd auf zweibeinige Raubtiere und Abahme ihrer Beute nach unserem Rezept nun betreiben wer da wollte, wir wünschen ihm viel Glück — wir tatens nicht mehr — ab!
»In die Boote!« kommandierte ich.
»Die Hunde suchen aber noch die Umgegend ab, sie können doch noch etwas finden!« sagte Juba Riata.
»Mögen sie noch etwas finden, wir nehmen es nicht mit — kein Gold und keine Edelsteine — ich wenigstens rühre sie nicht an, will auch nichts davon haben.«
»Da — da . . . jetzt haben sie einen Menschen aufgestöbert!«
In der Tat‚ die drei Hunde hatten in eigentümlicher Weise angeschlagen. Aber nur Peitschenmüller konnte diese verschiedenen Stimmen unterscheiden und deuten, wir anderen hatten noch nicht viel Gelegenheit zu solcher Unterscheidung gehabt.
»Und zwar einen lebendigen Menschen,« setzte der Hundemeister noch hinzu, »bei einem Toten würden sie wieder anders anschlagen.«
Ja, einen lebendigen Menschen mußten wir uns doch erst einmal ansehen, mehr noch als einen toten.
Da kam auch schon wieder Chloe, um uns dorthin zu führen, wo seine beiden Kameraden noch den aufgestöberten Chinesen ankläfften — oder den Menschen, es konnte ja auch eine zurückgelassene Frau oder ein Kind sein.
Wir kamen noch an vielen Höhlen vorüber, und es war ganz deutlich zu erkennen, daß die meisten noch vor kurzem mit Säcken und Kisten angefüllt gewesen waren. Ich will nur die Spuren in dem lockeren Boden erwähnen, wie die Kisten gewälzt und die Säcke geschleift worden waren. Jetzt waren sie alle leer bis auf abgesprungene Kistenbretter und aufgeplatzte Säcke und dergleichen.
In der Höhle, in die uns der Schäferhund geführt hatte, befand sich zwar kein lebendiger Mensch, das konnte man gleich sehen, es war hell genug und da konnte sich niemand verstecken — wohl aber sah die am Boden stehende Kiste ganz verdächtig aus, zumal durch ihre sargähnliche Länge, und diese wurde von den beiden Hunden so eigentümlich angebellt, wobei ihnen jetzt auch wieder Chloe half.
»Da steckt ein lebendiger Mensch drin, das sagen mir die Hunde ganz deutlich!« erklärte Juba Riata.
Es war eine einfache Bretterkiste der Deckel mit starken Drahtstiften zugenagelt.
»Wenn der nicht die Kunst versteht, sich selber in eine Kiste einzunageln, so müssen das wohl seine Kollegen getan haben!« sagte Oskar, der in der Hoffnung überhaupt auf zu öffnende Kisten gleich Stemmeisen und Hammer im Gürtel mitgenommen hatte, und er machte sich gleich an die Arbeit.
»Vorsicht, Vorsicht,« wurde von anderer Seite gewarnt, »wer weiß was die hier für ein Teufelszeug hinterlassen haben.«
»Etwas Stinkigeres als die stinkigen Lumpen kann es unmöglich sein!« lachte Oskar, den Hammer schwingend.
»Es ist unbedingt ein lebendiger Mensch, die Hunde irren sich nicht, sie zeigen einen lebendigen Menschen an!« erklärte Juba Riata nochmals.
»Ja, warum sollen die Piraten den denn nur hier eingenagelt und zurückgelassen haben?«
Oskar unterbrach einmal seine Arbeit, die Kiste wurde hin und hier bewegt, daran gepocht — keine Antwort erfolgte.
»Er soll es uns selber sagen.«
Der Deckel war entfernt.
Ein überraschender Anblick erwartete uns!
In der Kiste lag, auf Sägespähne und einer Decke, gebettet, ein braunes Weib, ein junges Mädchen, in bunte, baumwollene Gewänder gehüllt.
Ein Mädchen von wunderbarer Schönheit, mit den lieblichsten, sanftesten Zügen.
Es dauerte eine Weile, ehe wir Umstehenden uns von unserer Überraschung erholt hatten.
»Eine Indierin mit malaiischem Typus!« war Doktor Isidor dann der erste, der Worte fand, und dann griff er auch als Arzt zuerst zur Untersuchung zu.
»Tot.«
»Nein, sie ist nicht tot, sonst würden meine Hunde ganz anders bellen oder mit meiner Erlaubnis auch heulen,« sagte Juba Riata nochmals, »und der Geruch dieser Tiere läßt sich nicht von einem Scheintot täuschen.«
Wir untersuchten näher auf Leben und Tod. Wir hätten für Tod stimmen müssen. Von Atem und Puls keine Spur, ganz kalt, die Glieder steif. Allerdings nicht so ganz wie in der Todesstarre, die doch überhaupt bald wieder verschwindet. Es war, als ob in den Gliedern und in jedem der zierlichen Fingerchen eine Feder stecke. Die Finger waren halb zur Faust geschlossen, sie ließen sich strecken, schnellten aber sofort zurück.
»Ja, es mag ein Starrkrampf sein, in den gewisse Inder Menschen und Tiere ganz gewiß zu versetzen wissen, durch Hypnose oder innerlich angewandte Mittel!l« entschied Doktor Isidor, sagte aber nichts anderes, als wir alle dachten. Gerade Seeleute können doch viel von den Gaukeleien der indischen Fakire erzählen.
»Vorwärts, Juba Riata,« sagte ich, »jetzt müssen wir doch noch versuchen, einen der Piraten zu bekommen, oder eine Frau, die uns Auskunft geben kann, wer das ist.«
Ich selbst schloß mich nicht der abgehenden Expedition an. Nach einer halben Stunde kam Juba Riata zurück. Er hatte mit den Hunden die Spur der zuletzt geflüchteten Bande bis an eine andere Stelle der Küste verfolgt, wo eingerammte Pfähle und Stricke verrieten, daß hier noch mehr Prauen gelegen hatten — mehr konnte nicht konstatiert werden. Eine Spur durch das Wasser zu verfolgen, das war auch von den befloßten Hunden des Meeres zu viel verlangt.
Unterdessen hatte Doktor Isidor das braune Weib weiter untersucht, wenn auch mit schonendster Hand, hätte seine Prognose doch immer wieder auf Tod stellen müssen, wenn er nicht von vornherein anderer Ansicht gewesen wäre. Er glaubte eben dem Unterscheidungsvermögen der Hunde in solchen Sachen — mit dem man sich überhaupt bei Annahme eines Scheintodes viel mehr befassen sollte — er dachte wie wir alle von vornherein an — 951 indischen Hokuspokus. Die verschiedensten Wiederbelebungsversuche blieben erfolglos. Bei einem Schnitt in eine Ader des Armes floß kein Blut, wohl aber ließ sich solches herausdrücken, sah dunkel aus und war ganz dick. Kurz entschlossen sagte Doktor Isidor:
»Das muß ich mikroskopisch in meinem Laboratorium untersuchen, wir nehmen sie doch gleich mit.«
Selbstverständlich nahmen wir sie mit. Die gehörte doch nicht zu der Piratenbande, die hatte sich jedenfalls schon in dieser Kiste in diesem Zustande an Bord einer Dschunke befunden; war mit erbeutet worden, war aber nicht mit verschachert worden. Die Piraten wußten wohl selbst nicht, was sie damit anfangen sollten.
Auf ihren Stand konnte man aus nichts schließen. Weder aus ihren sehr feinen Händen und zierlichen Füßchen noch aus der sehr einfachen Kleidung. Schmuck war nicht zu bemerken, noch sonst etwas Außergewöhnliches. Allerdings hatte noch keine nähere Körperuntersuchung stattgefunden, das ließ vorläufig die Gegenwart der Patronin nicht zu.
Nach einer weiteren halben Stunde waren wir wieder an Bord, in der Kajüte wurde der leicht zugeschlagene Deckel wieder abgenommen. Und da ereignete sich die seltsame Szene.
Jetzt war natürlich auch Mister Carlistle dabei, und kaum erblickte der das braune Gesicht mit den bezaubernden Zügen, da stößt er einen Schrei aus, fällt auf die Knie und fängt weinend zu jauchzen an:
»O, Ihr wunderbaren Sterne, Ihr habt mich nicht vergebens mit diesem Schiffe nach Chinas unermeßlichen Küste geführt, ohne mir irgend ein bestimmtes Ziel anzugeben — meine Königin, mein Weib — hier habe ich Dich endlich gefunden!«
So jauchzte er unter Tränen, und dann warf er sich über die Todesstarre und bedecktes ihr Antlitz mit Küssen und küßte sie immer wieder.
Na‚ was sollte man denn nun dazu sagen?
Als er sich wieder etwas beruhigt hatte, war es Kapitän Martin, der das Verhör übernahm.
»Well, das ist Ihr Weib?«
»Mein Weib — meine Königin — mein Weibl!« stammelte jener noch ganz fassungslos, aber glückstrahlend.
»Well, Ihr ehelich angetrautes Weib?«
»Nicht so, wie Sie es sich prosaisch denken — meine Königin, die mich allnächtlich im Traume besucht.«
Oho!
Nun ahnten wir doch gleich etwas!
Und es war sehr gut, daß Kapitän Martin mit den Händen in den Hosentaschen das Examen gleich begonnen hatte und auch damit fortfuhr.
»Im Traume besucht?« ließ er nur seine Augenbrauen etwas höher rutschen.
»Ja, jede Nacht.«
»Well, wissen Sie denn sonst, wer das ist?«
»Nein.«
»Nee? Hat sie Ihnen denn das nicht im Traume gesagt, wer sie ist?«
»Nein, so etwas gibt es nicht, wenn man sich auf der Astralebene befindet.«
»Auf der Astralebene? Hm, well, weiß schon, wenn ich auch nicht an den Mumpitz glaube. Ja, da haben Sie also immer von der da geträumt?«
»Jede, jede Nacht. Und im Traume war sie mein Weib. Nein, wer sie im Leben ist, meine Königin der Nacht, das hat sie mir nicht gesagt. Aber das hast sie mir gesagt, daß ich sie an der Küste Chinas finden würde, an Bord dieses Schiffes, und an Bord dieses Schiffes würde sie für mich auch zum wirklichen Leben erwachen!«
»Ach, Mumpitz.«
Es war nicht gerade sehr höflich vom Kapitän, aber auch begreiflich, daß er an solche Träumerei nicht glaubte und auch nicht viel davon hören wollte.
Da aber richtete sich der junge Mann plötzlich mit flammenden Augen hoch empor.
»Sie glauben nicht meinen Worten?!«
»Well, das ist ja alles recht schön und gut, aber . . . «
»Soll ich Ihnen den Beweis erbringen, daß dies wirklich mein Weib ist, das mich jede Nacht im Traume besucht?«
»Well, bringen Sie den Beweis.«
»Glauben Sie meinem Ehrenwort, daß ich dieses Mädchen noch niemals im Leben, noch niemals im wachen Bewußtsein gesehen habe?«
»Ja, Mister Carlistle, Ihrem Ehrenworte glaube ich.«
»Daß ich auch sonst von diesem Mädchen noch niemals etwas gehört habe?«
»Ja, Mister Carlistle! darin glaube ich Ihnen.«
»Wohlan, so heben Sie ihren Kopf, wenden Sie sie um — und wenn dieses Mädchen nicht am Nacken, mehr nach dem linken Schulterblatt zu, ein Muttermal hat, weiß gefärbt auf der braunen Haut, in ungefährer Gestalt eines Eichenblattes, dann . . . will ich ein Narr sein, der auf dieses Mädchen kein Anrecht hat!«
Es geschah, die Todesstarre wurde umgewendet, ihr Nacken entblößt.
Uns allen war bei dieser einleitenden Prozedur schon ganz unheimlich zumute. Wenigstens mir, und ich glaube da doch, auch auf die Stimmung der anderen schließen zu dürfen.
Und wahrhaftig, da sehen wir auf dem braunen, sammetartig glänzenden Nacken von den edelsten Formen, mehr nach dem linken Schulterblatt zu, ein weißes Muttermal, das nicht nur ungefähr, sondern ganz genau die Form eines Blattes der Stieleiche hat, etwa vier Zentimeter lang und wenig schmäler.
»Nun?!«
Jetzt machten die anderen aus ihrer Bestürzung kein Hehl mehr, während ich nun wieder ganz eiskalt wurde, und Kapitän Martin blieb der alte, nur daß er seine Hände noch etwas tiefer in die Hosentaschen zwängte.
»Well, das ist sehr, sehr merkwürdig. Na‚ da kann ich Ihnen nur wünschen, daß sie recht bald erwacht, daß sie auch dann noch mit allem einverstanden ist, was sie mit Ihnen im Traume ausgemacht hat, daß dann die reelle Hochzeit stattfindet und daß sie Ihnen eine gute Mitgift — 955 einbringt. Aber die haben Sie ja wohl nicht nötig. Was sie sonst im Leben ist, das hat sie Ihnen nicht gesagt?«
»Nein.«
»Weil Sie immer von einer Königin sprachen.«
»So nenne ich sie nur immer — meine Königin — sie ist die Königin meines Lebens — meiner nächtlichen Träume — meines Herzens.«
»Na, da wünsche ich Ihnen, daß sie sich nicht etwa auch noch als richtige Königin entpuppt, von so einem indischen Reiche, damit Sie nicht etwa noch in politische Unannehmlichkeiten kommen. Und Sie wollen Ihre Fräulein Braut oder Frau Gemahlin nun hier an Bord behalten?«
»Das muß unbedingt geschehen.«
»Weshalb unbedingt?«
»Nur hier an Bord dieses Schiffes wird sie das Bewußtsein wieder erlangen, zum richtigen Leben wieder erwachen.«
»Sie hat Ihnen im Traume gesagt, daß Sie sie hier bewußtlos oder gar mehr ganz als halbtot finden werden?«
»Nein, nur, daß ich sie an Chinas Küste finden würde, wenn ich mich der »Argos« bediene, und daß wir an Bord dieses Schiffes vereint werden würden.«
»Sie hat direkt von der »Argos« gesprochen?«
»Ganz direkt.«
»So, so. Sehr merkwürdig, wirklich sehr merkwürdig. Was doch nicht alles in der Welt passiert, sogar im Traume, und unsereins weiß gar nichts davon. Well, sehr merkwürdig. Und Sie dürfen die Scheintote auch nicht — 956 von anderen untersuchen lassen, ob es gelingt, sie ins Leben zurückzurufen . . . «
»Auf keinen Fall! Nur hier muß ihr Wiedererwachen ruhig erwartet werden!«
»Well, well, dann geschiehts eben so, da brauchen Sie sich doch nicht gleich so aufzuregen.«
»Und nicht wahr, Frau Patronin,« wandte sich Mister Carlistle bittend an diese, »nun bleibt unser Charterverhältnis auch bestehen?«
»Dieses muß bestehen bleiben, wenn Sie . . .?«
»Ich muß der Herr des Schiffes sein, von dessen Mannschaft sie gefunden wird, so hat sie mir im Traume ganz direkt vorgeschrieben. Das heißt — der Herr dieses Schiffes, sage ich — Sie verstehen das doch richtig . . . «
»Selbstverständlich Mister Carlistle — selbstverständlich es ist alles in Ordnung, unser altes Verhältnis bleibt bestehen, so lange Sie wünschen!«
36. KAPITEL. AUF VANCOUVER.
Was sagst Du nun zu alledem, Georg?«
»Gar nischt.«
Helene hatte in ihrer Kajüte wieder einmal vergeblich bei mir angepocht.
Diesmal aber setzte ich freiwillig doch noch etwas hinzu.
»Ich kann nur eines sagen: daß es zwischen Himmel und Erde Dinge gibt, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Ja, an solche Dinge glaube ich. Nach diesem offenen Geständnis aber, Helene, bitte ich Dich, mich mit weiteren solchen Fragen verschonen zu wollen.«
Das tat sie denn auch. Aber über den Sternkieker wurde nun doch noch etwas weiter gesprochen, es war gerade einmal die Gelegenheit dazu.
Es war ja ein eigentümliches Verhältnis, das mit dieser ganzen Charterei. Ja, wir hatten uns durchaus nicht gebunden, waren eigentlich noch ganz frei, wir konnten ja den Kontrakt innerhalb von 24 Stunden kündigen und brauchten die Anweisungen des Charterers schon vorher nicht zu befolgen, wenn wir nicht wollten. Aber . . . es war keine richtige, würdige Sache für uns Argonauten, die wir absolut freie Herren der See sein wollten, oder nur unserer selbsterwählten Herrin dienend, der Freifrau von der See.
Hierüber hatten wir unter uns schon mehrmals gesprochen, daraufhin hatte ich dem Sternkieker auch den Vorschlag gemacht, den Kontrakt aufzugeben, er könne ja unser Gast bleiben, wir würden ihn noch immer dorthin bringen, wohin er beliebe.
»Bitte, nein, nein, ich muß dieses Schiff unbedingt für mein eigenes Geld gechartert haben — so steht es in den Sternen geschrieben — sonst finde ich mein Glück nicht!«
Na‚ wenn es so stand — ganz wie der kuriose Kauz wollte, seinem Glück wollten wir nicht hinderlich im Wege stehen.
Und nun war nochmals solch eine Gelegenheit gekommen, diesmal schnitt er die Sache selbst an.
»Gut, das alte Verhältnis soll bestehen bleiben, wir sind ja in unserer Freiheit durchaus nicht beschränkt, ich habe auch innerlich kein solches Gefühl, das mich etwa demütigen könnte!« sagte Helene noch, als wir uns einige Zeit hierüber unterhalten hatten, und die Sache war wiederum erledigt.
»Hat er schon wieder ein neues Ziel angegeben?« fragte ich.
»Nein, und er sagt, daß er dies auch nie wieder tun würde, denn nun hatte er sein Glück gefunden.«
»Desto besser für ihn, und daß er alle unsere Kosten trägt, wir dabei auch noch extra eine gute Summe jeden Monat einstecken, kann uns ja auch nur sehr angenehm sein. Und wohin gedenkst Du nun zu segeln, Helene?«
Sie blickte einige Zeit sinnend vor sich hin, wobei aber ihre Augen immer freudiger aufleuchteten.
»Weißt Du, Georg,« sagte sie dann, »ich habe schon seit vier Jahren keinen richtigen Winter mehr erlebt. Entweder ich bin zwischen Oktober und März auf der südlichen Hälfte der Erdkugel gewesen oder doch in einer nördlichen Breite, wo man Schnee und Eis nicht kennt. Ja, ich möchte wieder einmal Schnee und Eis sehen.«
»Ich auch!« frohlockte ich auf. »Ich möchte mich wieder einmal im Schnee wälzen, Schlittschuh fahren und dann mit richtigem Genusse dampfenden Punsch trinken!«
»Also fahren wir nach Norden!«
»Fahren wir!«
»Hast Du eine bestimmte Gegend im Auge?«
»Ich? Nee. Wenns nur kalt genug ist, daß man Schlittschuh fahren kann.«
»Kennst Du Vancouver?«
»Die große Insel an der Westküste Nordamerikas, zu Britisch—Columbien gehörend? Nicht viel mehr als dem Namen nach.«
Helene berichtete mir näher darüber, sie hatte sich schon mehr darüber orientiert, weil sie sich eben schon öfters mit dieser Insel beschäftigt hatte.
Also an der Westküste Kanadas gelegen, das hier aber Britisch—Columbia heißt, eine Provinz für sich, auf dem 50. Breitengrad, 33 100 Quadratkilometer umfassend, das ist — um immer ein Verhältnis zu haben — mehr als doppelt so groß als das Königreich Sachsen.
Nach Monte Baber hinüber, auf dem Festlande gelegen, wo gleich zwei Pacificbahnen enden, ist es nur ein Katzensprung — wenigstens auf der Karte.
Durchweg gebirgig, herrlich bewaldet, ungeheuer reich an Eisen, Kupfer, Nickel und Kohlen. Aber zum Abbau kommt nur der östliche Küstenstreifen in Betracht, also dem Festlande gegenüber, wo auch die Hauptstadt Viktoria liegt, mit 20 000 Einwohnern, darunter 3000 Chinesen.
Dort lohnt sich eben nur der Bergbau. Aus dem Inneren der Insel fehlen die Kommunikationswege, sie wären zu schwierig anzulegen, ihre Herstellung würde ein gröBeres Kapital beanspruchen, als der Bergbau an Zinsen einbringt, was immer den Ausschlag bei so etwas gibt, weshalb auch zum Beispiel in Schweden so viele Magnetberge, aus fast reinem Eisen bestehend, nicht ausgebeutet werden können. Die Gewinnung des Eisens würde immer noch zu teuer zu stehen kommen.
Deshalb kann auch an der Westküste der langgestreckten Insel kein Bergbau betrieben werden. Hier fehlen die Häfen, die Gelegenheit zum Abholen der Erze, sie kann also an Billigkeit der Erzeugnisse nicht mit der Ostküste konkurrieren.
So kommt es, daß diese große Insel bis auf einen schmalen Küstenstrich auf der Ostseite noch in gänzlicher Wildnis daliegt. Von den Laub— und Nadelhölzern wollen wir gar nicht erst sprechen, von deren Abholzung, meine ich. Es wird doch immer zuerst da Holz gefällt, wo man es am besten abholen kann, was hier eben nicht der Fall ist. Und da gibt es in Amerika noch andere Gelegenheit. Sobald der Klafter nur um einen Groschen teurer durch den Transport wird als die Konkurrenz, lohnt sich die Sache doch nicht, der Unternehmer kommt doch nicht auf seine Kosten.
Nun bliebe nur noch die Landwirtschaft übrig, von Leuten betrieben, die nicht gleich an den Verkauf ihrer Erzeugnisse denken, die sich und ihre Familien nur erst einmal selbst ernähren wollen, und in dem Gebirge gibt es ja auch genug Ebenen, mit äußerst fruchtbarem Boden, sonst würde doch nicht so viel Wald dort wachsen, besonders auch Laubwald, Eichenwald.
Aber da ist ebenfalls nichts zu machen. Alle uns bekannten Getreidearten gedeihen dort nicht, obgleich die Winter auf der ganzen Insel, weil dort der warme japanische Golfstrom auftrifft, viel wärmer sind, als man ihrer hohen Breitenlage nach erwarten müßte, und die Sommer sehr feucht.
Aber das ist es eben! Ob eine Getreideart in einer gewissen Gegend gedeiht oder nicht, dazu braucht man heutzutage nicht mehr erst Versuche anzustellen, das kann man heute nach dem Thermometer berechnen, den man ein ganzes Jahr lang beobachtet. Denn jede Getreideart braucht, um reif zu werden, jährlich so und so viele Stunden einer gewissen Wärme. Kommen diese nicht heraus, dann reift das Getreide nicht. Und so ist es auf ganz Vancouver. Alle uns bekannten Getreidearten und sonstigen Nahrungspflanzen wachsen im Winter unter dem Schnee zu schnell oder behalten zu viel Triebkraft und werden dann im kühlen, feuchten Sommer niemals reif.
So ist also fast die ganze Insel noch ein jungefräulicher Urwald. Dabei ein wahres Paradies für Jäger. Alles wimmelt von Wild, besonders von den verschiedensten Hirscharten.
Aber auch da, um der Jagdlust zu frönen, ist wieder ein böser Haken dabei. Die eingeborene Bevölkerung besteht aus Indianern, die man auf 10000 Köpfe schätzt sie lassen sich überhaupt ganz ruhig zählen — zum großen Wakale—Stamme gehörend, natürlich wieder in viele Unterabteilungen mit eigenen Häuptlingen zerfallend.
Es sind noch heute ganz echte Rothäute, ausschließlich von der Jagd lebend, dabei friedliebend, sogar unter sich, und wenn fremde Jäger kommen, Blaßgesichter, dann freuen sie sich, nehmen gern Geschenke an, sie aber stolz erwidernd, und führen die Blaßgesichter mit größtem Vergnügen auf die Jagd.
Aber schießen tut man dabei nichts, das ist die Sache! Diese schlauen Burschen führen den fremden Jäger nur dorthin, wo es kein Wild gibt, lassen ihn in einer trockenen Regenrinne übernachten, wo er am Morgen fortgeschwemmt wird, oder verekeln ihm sonst auf alle mögliche Weise den Jagdgenuß — aber immer in vollster Höflichkeit — und kommt man doch einmal in ein gutes Jagdrevier, dann »verbellen« sie das Wild. Man kommt nicht zum Schuß. Das ist in ganz Nordamerika in alten Jägerkreisen allgemein bekannt. Auf Vancouver ist mit der Weidmannslust nichts zu wollen.
Ja, wenn es dort wertvolle Pelztiere gäbe! Dann hätte der Yankee ja dort schon Fuß gefaßt, da wäre es mit den naturwüchsigen Rothäuten dort schon längst vorbei. Aber wegen der mäßigen Winterkälte gibt es dort eben keine Pelztiere, wenigstens keine mit einem wertvollen Pelz, wobei sich die anstrengende Jägerei lohnt.
Das alles ist noch heute so. Nur von der Natur selbst sind diese Rothäute auf den Aussterbeetat gesetzt worden. Das heißt: der Kindersegen ist sehr gering, es sterben mehr alte, als neue dazu geboren werden. Die Schöpfung scheint eben die Urbevölkerung Amerikas nicht mehr zu leiden. Sonst aber, wer in Amerika noch echten Urwald und echte Indianer kennen lernen will, der muß nach Vancouver gehen. Er selbst kann sich ja mit der Zeit zu einem Jägerleben einrichten, mit keiner anderen Gefahr, als daß er selbst von einem Grislybären gejagt und gefressen wird.
So hatte mir Helene berichtet, auch an der Hand der Karte.
»Hat Ihnen Juba Riata schon von seinem ehemaligen Freunde, dem weißen Biber erzählt?«
»Nein, mir noch nicht.«
So tat es jetzt zunächst die Patronin, für mich jetzt Helene.
Franz Naumann war mit den Eltern, schlesischen Bauern, schon als Junge nach Nordamerika gekommen, hatte das ganze Farmer— und noch mehr Hinterwälderleben durchgemacht, war immer weiter nach Westen gewandert, war immer mehr Jäger geworden, bis er nach Vancouver gekommen war, um sich hier gänzlich als Jäger niederzulassen. Hatte auch in ein Indianerwigwam hineingeheiratet. Weil er so gern tranige Biberschwänze saß — denn Biber gibt es dort massenhaft, nur ihre Pelze taugen nichts — und weil er auch sonst so ein Wassermensch war, wurde er von den Indianern der weiße Biber getauft.
So hatte er jahrelang als Jäger auf Vancouver gehaust. Wie viele Jahre, das wußte er wohl selber nicht, bis ihn wieder die Sehnsucht nach der Kultur gepacht hatte. Er war nach San Franzisko gegangen. Hier lernte er den Juba Riata kennen, der damals gerade im Artistenberuf tätig war, in einem Zirkus auftrat, und der weiße Biber wirkte einige Zeit mit in einer Indianerpantomime.
Lange hielt er es nicht aus, er wollte zurück in seinen einsamen Wald, und nun wußte er ganz bestimmt, daß er ihn nie wieder verlassen würde. Er wollte auch Juba Riata, mit dem er engere Freundschaft geschlossen bewegen, für immer mit ihm zu gehen.
Na‚ wenigstens begleiten tat ihn Peitschenmüller, der gerade ein neues Engagement suchte, sich einmal Urlaub nehmen wollte.
Die beiden gingen nach Vancouver, jagten einige Wochen zusammen, dann nahm Peitschenmüller wieder Abschied.
»Juba Riata ist im Winter dort gewesen!« schloß Helene ihren Bericht. »Ende Dezember und Anfang Januar, und er konnte mir nicht genug von der Winterpracht der dortigen Wälder vorschwärmen. Schon zweimal war ich im Begriff, mit ihm dorthin zu gehen, als ich dieses Schiff noch nicht hatte, aber immer ist nichts daraus geworden — und Du weißt ja auch von meiner früheren Abneigung gegen alle Seefahrt. Nun aber ist mein Entschluß gefaßt: wir gehen nach Vancouver, verleben dort einen Winter. Meinst Du nicht?«
»Nu allemal! Wird es aber nicht jetzt schon zu spät dazu sein?«
»Weshalb zu spät?«
»Wollen wir direkt mit unserem Schiffe hin?«
»Gewiß, und das ist es eben. Der weiße Biber hatte seine Jagdgründe an der Westküste, wohin er dann auch zurückkehrte, Riata mitnehmend. Wo das ist, das kann ich Dir nicht genauer bezeichnen — hier ungefähr, wo meine Fingerspitze ist — die Hauptsache aber ist, daß Juba dort einen weiten Hafen gesehen hat, wie geschaffen zur Aufnahme unseres Schiffes, tief genug, das hat er mit der Lachsharpune oft genug sondiert, auch beim größten Sturme ganz ruhig darin, sicher einzufahren, und er weiß bestimmt, daß er diesen Hafen auch wiederfindet.«
»Ja aber nun wegen der Eisverhältnisse im Winter, das meine ich eben!«
»Ach so. Ja, wir können immer hinein. Um diese Zeit ist dort oben allerdings schon Eis, aber dieses wird niemals so stark, daß wir mit unserem Kriegsschiffe, auch wenn es ungepanzert ist, nicht durchbrechen könnten. Es war damals im Januar ein ausnahmsweise strenger Winter für Vancouver, aber Juba behaupten auch damals hätten wir mit der »Argos« das Eis mit Leichtigkeit auframmen können, und wegen des Fischfanges, den er hauptsächlich betrieb, hatte er ganz genaue Bekanntschaft mit den Eisverhältnissen gemacht. Ich habe ihn schon vorhin nochmals darüber gesprochen, er ist Feuer und Flamme, seinen alten Freund, den weißen Biber wieder zu besuchen. Ach, Georg, dort oben im verschneiten Walde wieder einen Winter verleben!«
»Da bin ich mit dabei, also mal los!«
Und eine Stunde später schon waren wir bereits mit Volldampf nach Osten unterwegs.
Aber erst ging es nach San Franzisko. Wir mußten unseren Proviant ergänzen, brauchten sonstige Sache und meine Jungens wollten doch auch wieder einmal an Land, und nicht in so einer chinesischen Hafenstadt.
Achtzehn Tage brauchten wir zu der Fahrt über den Stillen Ozean, der aber durchaus nicht still war, jetzt zur Winterszeit. Das Leben an Bord ging in seiner frischen, fröhlichen Weise weiter.
Über unsere »Königin«, welchen Namen sie nun einmal bekommen hatte, habe ich nichts weiter zu sagen, als daß sie todesstarr in einem kleinen Salon aufgebahrt lag.
Sehr merkwürdig — aber ich habe eben nichts weiter über sie zu sagen.
Doktor Isidor hatte Verschiedenes mit ihr versucht nichts half, — die lag mit geschlossenen Augen da, wie sie lag, ohne zu atmen, ohne zu verwesen, ohne zu verfallen. Auch ihr Blut blieb in demselben dicken, eigentümlichen Zustande. Doktor Isidor fand keinen Unterschied zwischen frischem Menschenblute, nur daß es eben ganz dick war, nicht von selbst aus einer Wunde fließen wollte.
Mister Carlistle verbrachte täglich längere Zeit bei ihr, meist kniend im Gebet, streichelte sie wohl auch, küßte sie aber nicht mehr und . . . war glücklich in der Hoffnung an ihr Erwachen. Na‚ und wenn ein Mensch glücklich ist, mehr kann man doch nicht von diesem Leben verlangen.
Dann weiter habe ich noch zu bemerken, daß unser Isidor noch immer an der Geheimschrift herumrätselte, ohne zu einem Resultat zu kommen, daß aber der Sternkieker nichts davon wissen wollte, in San Franzisko so einen gelehrten Diftelbruder zu Rate zu ziehen. Hier an Bord würde die Lösung der Geheimschrift erfolgen, oder nie.
Auch jut — immer ganz wie der Mensch will — besonders wenn er eine halbe Milliarde hat. Bei dieser Gelegenheit mache ich darauf aufmerksam, daß für den halben Milliardär in Mark die Charterung dieses Schiffes dasselbe zu bedeuten hatte, als wenn ein vierprozentiges Millionär für seine Wohnung 400 Mark jährliche Miete zahlt, und das wird er sich doch wohl leisten können. Und uns war es ebenfalls sehr angenehm »Wir lebten einander zu Liebe« . . . unser Sternkieker mit eingeschlossen.
Sonst habe ich über diese achtzehn Tage sehr stürmischer Fahrt nach meinem Tagebuche noch Folgendes zu erzählen:
Am 11. November kam an Bord unseres Schiffes der erste größere Unglücksfall vor, der des Erwähnens wert ist: dem Matrosen Walter wurde von einer herabkommenden Spiere der linke Oberarm gebrochen. Doch würde voraussichtlich alles wieder gut heilen.
An demselben Tage machte Napoleon, der erste Bootsmann, einen famosen Witz, allerdings ganz unfreiwillig.
Fritz der Mondgucker hatte beim Anholen der Rahen eine falsche Brasse von der Nagelbank geworfen, und Napoleon machte ihn liebevoll auf den Irrtum aufmerksam: »Du Kalb — Du Ochse — Du Büffel — Du Nashorn — Du Rhinozeros — Du Du Du Du Du . . . Rhododendron!«
Die Patronin hatte es wie ich mit angehört, mußte sich schnell abwenden.
»Hört, Napoleon, wißt Ihr denn, was ein Rhododendron ist?« fragte ich.
»Das ist ein Rhinozeros mit drei Hörnern, das noch vor der Sündflut auf der Erde herumgelaufen ist.«
»Nein, das ist eine Blume, eine sehr schöne Blume.«
»Das Rhododendron? Nee, Waffenmeister, das ist ein, vorsündflutliches Vieh gewesen.«
»Ich versichere Euch, es ist eine Pflanze mit sehr schönen Blumen. Kommt, ich will sie Euch im Konversationslexikon zeigen, mit Abbildung.«
Na‚ dann glaubte ers endlich, konnte sich nur noch hinter den Ohren kratzen.
Seitdem war Fritz der Mondgucker nur noch das Rhododendron, wenigstens so lange, bis gemerkt wurde, wie furchtbar fatal es dem biederen Bootsmann aus Finnland war, da hörte es sofort auf.
Ich kann nicht etwa die zahllosen Witze und humoristischen Episoden erzählen, die tagtäglich passierten, aber das habe ich anführen müssen. Wie Napoleon seine Titulaturen steigerte, mit dem Kalbe anfing und dann über das Rhinozeros weg bis zum Rhododendron — es war zu urkomisch gewesen! Freilich mußte man es wohl selbst mit angehört haben.
Ebensowenig erzähle ich solche Kleinigkeiten, wie der Matrose Karl seinem besten Freunde dem Gottlieb während dieser Überfahrt wegen einer kleinen Meinungsdifferenz im Knockhimdownsalon zwei Schneidezähne ausschlug.
Erwähnenswerter ist da schon, daß nach meinem Tagebuche am 17. November der geistesgestörte Albrecht die goldene Uhr erwischte, die sich der sparsame, aber etwas eitle Matrose Klaus in Kapstadt für sieben Pfund Sterling gekauft hatte, und sie so lange mit dem Putzlappen bearbeitete, bis der dünne Goldüberzug verschwunden war und der Tombak zum Vorschein kam.
Na‚ Gnade Gott dem Juden, wenn wir wieder nach Kapstadt kamen! Da erlebte jene schon erwähnte Erzählung des Kapitän Marryat, der einen Matrosen wegen eines Petschafts noch einmal von London nach Liverpool fahren läßt, noch einmal eine neue Auflage. Und unsere Fahrt von Marseille nach Paris ebenfalls.
Am 25. in aller Frühe liefen wir im herrlichen Hafen von San Franzisko ein, allgemein einfach nur Frisko genannt. Hierbei erwähne ich einmal das, was die Patronin in jedem Hafen, wo es möglich war, sofort tat: nämlich, daß sie sofort nach Neuyork an ihren Rechtsanwalt telegraphierte, hauptsächlich wegen des Befindens ihres Bruders. Daß dieser von der Schwester nicht mehr besucht sein wollte, habe ich wohl schon früher berichtet, und ich hätte es an seiner Stelle nicht anders gemacht.
Trotz der vielen Umschaltungen, die der elektrische Funke auf seinem Wege durch den ganzen amerikanischem Kontinent nötig hatte, kam die Antwort von der Küste des Atlantischen Ozeans schon in drei Stunden zurück, welche Schnelligkeit am besten der begreift, der einmal auf eine Stadtdepesche gelauert hat — dem Bruder ging es in Sing-Sing ganz famos!
Der amerikanische Rechtsanwalt hatte sich wirklich sehr drastisch ausgedrückt — kreuzfidel und puppenlustig, hätten die entsprechenden englischen Worte in freier Übersetzung gelautet.
Noch an demselben Vormittag nahmen wir Kohlen und Proviant in nötiger Menge ein und versorgten uns sonst mit allem, was wir bei einem mehrmonatlichen Winteraufentshalt auf Vancouver zu gebrauchen gedachte, nicht zu vergessen Schlittschuhe und Schneeschuhe, pro Kopf je ein Paar.
Uns alle hatte überhaupt plötzlich eine Begeisterung ganz besonderer Art gepackt. Während der ganzen Reise über den Stillen Ozean, seitdem an der chinesischen Küste das mit Vancouver herausgekommen war, war nur noch von Wintersport jeglicher Art gesprochen worden. Besonders schwärmten alle meine Jungen fürs Skilaufen. Ganz besonders deshalb, weil außer Kabat, dem norwegischen Matrosen Olaf und Juba Riata, der es auch erst damals auf Vancouver gelernt hatte, überhaupt noch keiner Schneeschuhe an den Füßen gehabt hatte. Ich auch noch nicht. So waren wir alle für die Sache mit einem Male eingenommen, daß wir schon auf dem Wendekreis des Krebses an Bord des Schiffes hatten Schneeschuhe laufen wollen. Und wir hatten es wirklich getan. Die drei Sachkundigen hatten welche gefertigt, jeder ein Paar, der Eskimo die in Grönland üblichen, wieder ganz verschieden von den langen standinavischen Skis, und Juba Riata hatte ein Paar kanadische gefertigt, mit Lederriemen überflochtene Holzrahmen, wie die Tennisschläger aussehend. Und da waren wir abwechselnd auf dem nassen, glatten Deck herumgerutscht. Gerade wie die Kinder, die zu Weihnachten die ersten Schlittschuhe bekommen, es ist noch kein Eis, und da humpeln sie einstweilen in der Stube herum.
Ja, auch mit Schlittschuhen war es gleich versucht worden. Da aber nur in einer einzigen Kleiderkiste ein Paar verrostete Dinger vorhanden gewesen waren — an so etwas hatte die Patronin bei der Ausrüstung des Schiffes denn doch nicht gedacht, wir alle später auch nicht — so wurden Rollschuhe daraus gemacht. Fast jeder der jungen Leute hatte sich ein Paar gefertigt, die Rädchen aus irgend etwas rundem herstellend, die verwegensten Kombinationen waren zum Vorschein gekommen.
Natürlich war das alles nur halber Kram gewesen. Nur so eine Idee mit humoristischer Ausführung. Schon die langen Ski, so einfach sie auch aussehen, sind gar nicht so leicht zu machen, ganz abgesehen davon, daß uns das nötige Eschen— oder Buchenholz fehlte.
Nun, in Frisko war alles vorhanden. Wenn man in dieser paradiesischen Gegend mit ewigem Frühling auch gar keinen Schnee kennt. Aber ganz in der Nähe ist ja die himmelhohe Sierra Nevada mit ewigem Eis und Schnee. Da wird von Frisko aus eifrigst dem Wintersport gehuldigt, also ist hier auch alles zu haben.
Ach, war das eine Lust, wie wir noch am Vormittage einkauften! Und Frau Helene Neubert war wieder einmal diejenige, der nichts teuer genug sein konnte. Sie strahlte vor Seligkeit, wenn sie bezahlte. Pelzgefütterte Sportstiefeln, extra nur zur Aufnahme von den neuesten Patenthalifaxschlittschuhen bestimmt. Da aber nun einmal das Rollschuhfahren angeschnitten worden war, mußten auch Rollschuhe gekauft werden. Für jeden gleich zwei Paar. Das eine Paar mit einfachen vier Rädern, das andere zum Kunstlaufen bestimmt, sieben Gummiräder in einer Reihe geordnet. Und hierzu waren nun wieder besondere Kunstrollschuhläuferstiefeln nötig. Wenigstens absolut nötig nach Ansicht der Frau Helene Neubert. Und dies alles bekam jeder, jeder, ob er wollte oder nicht, auch Hammid mit seinem hölzernen Bein und Kapitän Martin. Obgleich der gar nicht daran dachte, solche Dinger an die Füße zu schnallen, zumal wenn er dabei etwa gardie Hände aus den Hosentaschen nehmen sollte!
Das erste Resultat dieses Einkaufes war, daß August der Starke mit seinen siebenrädrigen Kunstläuferrollschuhen, als er sie eben erst anprobiert hatte, sofort in das Schaufenster des Ladens hineinsauste, außerdem auch noch mit seinem Hinterteil einen eigentlich ganz soliden Polsterstuhl in Trümmern legend, wofür die Patronin wieder 30 Dollars zu bezahlen hatte — und sie bezahlte stets freudestrahlend.
Na‚ sie hatte es ja jetzt dazu, noch viel mehr als früher! Wie wir jetzt durch den Charterungskontrakt gestellt waren!
Ach, ich sehe noch die Szenen, die da passierten, wie die ganze Bande in dem Laden die Rollschuhe anprobiert! Ich sehe noch den kleinen Knut, wie er mit dem rechten berollten Fuß unter den Ladentisch fährt und mit dem linken der Verkäuferin unter die Röcke, während er sich mit beiden Fäusten krampfhaft an den prächtigen Vollbart eines fremden Herrn anklammert — und ich sehe noch den baumlangen Heinrich, wie dem die Füße abgehen, wie er nach oben greift und eine Portiere erwischt, wie er das ganze Gelumpe herunterholt und sich damit zudeckt — und kaum hat sich August der Starke aus den Trüummern der großen Spiegelfensterscheibe und des Stuhles hervorgearbeitet, da kracht er auch schon wieder mit einem Sofa zusammen, auf dem aber auch schon die Patronin sitzt . . .
Genug!
Und doch, ich muß es betonen, wie wir den Einkauf der Ausrüstung zum Wintersport betrieben, wenn zu diesem auch nicht gerade Rollschuhe gehören.
Wir wollten frühestens erst morgen fort, die Jungens sollten sich diese Nacht einmal amüsieren. Sie wollten nicht. Sie wollten nach dem winterlichen Vancouver, sich im verschneiten Gebirgswald vergraben. Wäre es möglich gewesen, wir wären schon zu Mittag wieder in See gegangen — auf Wunsch der Leute. Einiges konnte aber erst am Abend geliefert werden. Na‚ und da allerdings machten sie einen lustigen Nachmittag, und so groß Frisko auch ist, in der Altstadt merkte man es ganz deutlich, — 974 daß gegen siebzig Menschen die Taschen voll Geld hatten.
Und dann ist die Hauptsache auch die, daß wir eben deswegen in Frisko keine Vorstellung gaben. Am Abend in der achten Stunde ging es wieder in See! -
Genau 70 Stunden später, nachdem die Sonne schon seit zwei Stunden verschwunden war, wenn wir sie auch überhaupt in den drei Tagen nie zu Gesicht bekommen hatten, nahmen wir Peilung auf die Südwestküste von Vancouver. Wir peilten aber nicht etwa nach Leuchtfeuern, sondern mit dem eingefetteten Lot nach Wassertiefe und Beschaffenheit des Meeresgrundes. Hier gibt es keine Leuchtfeuer. Man kann doch nicht etwa die ganze Küste von Amerika mit Leuchttürmen spicken. Der Schiffer muß eben den Küsten fern bleiben, muß, wenn er die Küste nahe glaubt, bei sternenloser Nacht ständig loten und kann nach der Erde, die er mit dem eingefetteten Blei heraufholt, sich auch ungefähr über die Gegend orientieren, wo er sich befindet.
Das ist alles auf den Seekarten verzeichnet, und was die Engländer in diesen Seekarten im Laufe der Jahrhunderte geleistet haben, das ist einfach fabelhaft!
70 bis 80 Meter Tiefe, ungefähr 30 Prozent weißgelber Sand Nummer 6, 50 Prozent Pinasmuscheln Nummer 13, 20 Prozent sonstiger Dreck, den wir nicht näher zu untersuchen brauchten — gewiß, etwa 10 Seemeilen vor uns war der Barclay Sound mit Kap Reale.
Nun aber schleunigst wieder seewärts ahoi!
Es war eine schauderhafte Nacht! Seit zwei Tagen schon wütete der Nordsturm, der Stille Ozean tobte, wie nicht der Atlantik in der Bucht von Biscaya tobt, bittere Kälte, daß man sich nicht die Nase putzen konnte, alles gefroren, und dazu ein Schneetreiben, daß im Lampenschein nicht die Hand vor den Augen zu sehen war. Erst gegen Mitternacht ließ dieses furchtbare Schneetreiben nach, der Himmel begann sich sichtlich aufzuhellen, und gegen acht Uhr hatten wir den herrlichsten Sonnenaufgang, wenn auch der Nordsturm noch brauste, daß man nicht gegen ihn atmen konnte.
Im Nordosten erblickten wir eine Küste von furchtbarer Zerrissenheit, mächtige Vorgebirge reckten sich weit ins Meer hinaus.
Auf der Kommandobrücke stand Juba Riata, hatte seine blauen Adleraugen auf diese Küste gerichtet, und jetzt streckte er die Hand aus.
»Dort jenes Vorgebirge ist es, zwischen diesem und dem Kuppelbau müssen wir hinein.«
Die Spezialkarte von Vancouver wurde befragt. Namen haben diese Vorgebirge und Buchten ja alle bekommen, wenn man sie sonst auch noch gar nicht kennt.
Port Sunny hieß die Bucht, welche Juba Riata bezeichnete, an deren waldiger Küste er damals einige Wochen verlebt. Er hatte sie aber mit dem weißer Biber von Viktoria zu Fuß erreicht, meist auf Schneeschuhen, in viertägigem Marsche, und diese beiden Kerls hatten marschieren können!
Port Sunny — sonnige Bucht — wir hatten es gerade gut getroffen, daß sie ihren Namen bewahrheitete.
»Noch unvermessen!« setzte die Patronin hinzu, nachdem sie eine andere Karte befragt hatte, die aber wieder ganz anders aussah als jene geographische Küstenkarte.
Was dies für eine Bedeutung für uns hatte, daß diese Bucht innerhalb des letzten Vierteljahres noch nicht vermessen worden war, das wird der Leser später erfahren. Oder eine Andeutung kann ich schon machen: die Küsten dieser Bucht hatte noch keinen Besitzer, es war vorläufig noch freies Regierungsland.
»Und Sie halten eine Einfahrt auch bei diesem Sturme und diesem Seegang für möglich?« fragte Kapitän Martin.
Ja, Juba Riata hält die Einfahrt für möglich und sieht keine Gefahr vorhanden. Denn er hatte das Meer hier während einiger Wochen beobachtet. Hier trifft also der japanische Golfstrom auf, der an der Küste einen Höhenunterschied zwischen Ebbe und Flut von sechs Metern erzeugt. Und Juba Riata hatte auch bei tiefster Ebbe und auch bei stärkstem Seegang, wodurch das Meer doch noch tiefere Einblicke gestattet, keine einzige Klippe gesehen. Das mußte den Ausschlag geben, wenn wir es nun einmal wagen wollten. »Well, in einer Stunde haben wir Hochflut — Frau Patronin?«
»Na‚ sicher wirds riskiert!« gab die ihre Erlaubnis zu der Sache, obgleich die eigentlich von dem Chartermeister hätte eingeholt werden müssen. Aber wie das Verhältnis bei uns nun einmal lag, brauchte Mister Carlistle gar nicht erst gefragt zu werden.
Und wir gingen mit Volldampf gegen die felsige Küste los. Jedes andere Schiff, das uns beobachtet, hätte uns für verrückt gehalten. Wirklich verrückt wurde auch unser Schiff, als es sich nach einer Stunde zwischen den beiden Vorgebirgen befand. Dermaßen tanzte es hier, in einem tollen Wogengang, der gleichzeitig von allen Seiten zu kommen schien.
Aber wir rangen uns durch, kamen immer weiter hinter das Vorgebirge, das sich als Landzunge von Norden nach Süden zu erstreckte, und hinter dieser natürlichen Kaimauer mußte ja das Wasser immer ruhiger werden. Nur daß jetzt noch Eisschollen hinzukamen, die furchtbar gegen den Schiffsrumpf donnerten.
Ich will die weitere Passage nicht ausführlicher beschreiben, könnte sie auch gar nicht anschaulich machen.
Wieder eine Stunde später schwammen wir in einer kleinen Bucht, die aber noch ein Dutzend solcher Schiffe bequem hätte aufnehmen können, glatt wie ein Spiegel, obgleich über uns die Wolken noch immer vom Sturm gejagt wurden, das Wasser durchsichtig wie blauer Kristall, so daß man bei etwa zehn Meter Tiefe die kleinste Muschel am Boden erkennen konnte.
Auf der Nordseite wurde diese Bucht von einem niedrigen Damm begrenzt, hinter dem sich eine kilometerweite, spiegelglatte Eisfläche erstreckte. Nach Osten hin stieg die bewaldete Küste wohl steil, aber doch erklimmbar empor, während sich auf der Südseite die schwarzen Felsen jäh bis zum Himmel emporreckten, aber von vielen Schluchten durchbrochen, die noch von dem blauen Wasser erfüllt waren.
Über die ganze Szenerie kann ich nur eines sagen:
»Ach, ist das herrlich hier, ist das herrlich hier!«
So hatte die Patronin begeistert gerufen, als sie damals in jener Bucht des Feuerlandes das Land betreten hatte.
Hier wäre dieser Ausruf viel eher angebracht gewesen. Hier tat sie ihn nicht.
Keiner von uns war eines Wortes fähig.
So furchtbar überwältigend war die Szenerie in ihrer schrecklich wilden Schönheit. Unbeschreiblich. Ich wage gar keinen Versuch einer näheren Schilderung.
Nur ein Beispiel kann ich heranziehen.
Ich habe gesagt, daß die Bucht auf der Südkette von schwarzen Felsen eingerahmt war, sich steil aus dem Wasser emporreckend. Von Schluchten unterbrochen. Das sagt im Grunde genommen gar nichts, da kann man sich kein Bild in seiner Phantasie machen.
Wir haben eine gleiche Szenerie in Deutschland.
In der sächsischen Schweiz, wenn man auf der Brücke des Basteifelsens steht und nach der Ostseite in die Schlucht hinabblickt, wie sich da die Sandsteinfelsen wie die Säulen emporrecken.
Die sächsische Schweiz, bah, was ist das für sein lausiges Miniaturgebirge! Es gibt viele, viele Dresdener, die noch nicht auf den Basteifelsen gekommen sind. Wenn sie es sich leisten können . . . ja, die Alpen!
Da muß man einmal solche Engländer hören, die noch mehr als die Alpen gesehen haben, alle zugänglichen Gebirge der Erde.
Da wird man die einstimmige Versicherung hören, daß es eine Szenerie von solch wilder, überwältigender Romantik, wie man sie hier von der Basteibrücke der sächsischen Schweiz erblickt, nur noch im indischen Hidukusch und im Libanon gibt!
Wenn man das von solchen Weltbummlern hört, da fängt man anders über die sächsische Schweiz zu denken an.
Endlich fanden wir wieder Worte.
»Wie kommt es,« fragte ich, »daß diese Bucht nicht zufriert?«
»Weil sie,« entgegnete Juba Riata, einen warmen Zufluß hat.«
Das Wasser hatte eine Temperatur von 18 Grad Celsius, kam einem daher bei den 6 Grad Kälte der Luft lauwarm vor.
»Wo ist der warme Zufluß?«
»Das weiß auch ich nicht. Jedenfalls unterirdisch, vielleicht dort in der Nähe jener natürlichen Felsenbrücke, dort ist das Wasser am wärmsten. Dann ist gar nicht weit von hier, in zehn Minuten Bootsfahrt zu erreichten, eine Höhle, eine Tuffsteingrotte, in der eine mächtige heiße Quelle entspringt, die sich im Boden verliert. Es ist drin vor Hitze kaum auszuhalten.«
»Und was ist das dort für ein Eisfeld? Seine Spiegelglätte füllt auf. Es hat doch auch hier tüchtig geschneit, die Fichten können die Schneelast ja kaum noch tragen. Wo ist der Schnee auf dem Eisfeld geblieben?«
»Das ist eine Lagune. Sie sehen, daß der abgrenzende Damm kaum einen halben Meter hoch ist, und höher ist hier auch nicht der Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Bei der höchsten Flut nun geht das warme Wasser der Bucht eben über den Damm hinweg, überschwemmt die Lagune, bringt im Winter die oberste Eisschicht und den Schnee zum Schmelzen, gefriert natürlich bei genügender Kälte schnell wieder, und so ist eben immer eine spiegelglatte Eisfläche vorhanden.«
Dann war das ja die idealste Eisbahn, die man sich nur denken konnte!
»Nun müssen Sie aber erst einmal,« fuhr Juba Riata fort, »in diese Felsenschluchten eindringen! Das ist das grandioseste, was ich je gesehen habe. Es ist ein ganzes Labyrinth, mit einer bizarren Architektur, wie sie kein menschlicher Architekt im Fieberdelirium zusammenträumen könnte. Wir können die Wasserwege mit diesem Schiff befahren.«
»Mit diesem Schiffe?! Dort zwischen die Felsen dringen?!« rief ich erstaunt.
»Auf den Hauptwegen, ja. Wenigstens bis nach jener heißen Grotte kann ich Sie bringen, mit dem Schiffe. Dann zweigen ja auch noch viel schmälere Schluchten — 981 ab, die wohl nur im Boote zu befahren sind. Es ist eben ein ganzes Labyrinth, dessen Ausdehnung ich gar nicht kenne, ich bin ja nur vier Wochen hier gewesen, und wie ich es auch mit dem Boote befahren habe — ich glaube, da langt ein Menschenleben nicht aus, um dieses Labyrinth kennen zu lernen. Wollen Sie erst einmal die heiße Tuffsteingrotte besichtigen? Das ist wohl das Interessanteste. Fabelhaft, dieser Anblick!«
»Wollen wir?« wandte ich mich an die Patronin.
Diese starrte noch immer die schneebedeckten Tannen und Fichten and Eichen an, ließ ihr Auge über die blinkende Eisfläche schweifen und blickte dann wieder hinein in die kolossalen Felsentore, oben wirklich sehr oft durch einen Bogen, eine natürliche Brücke verbunden erst bei meiner Anrede schrak sie aus ihren Träumen empor.
»Nein, nein!« fing sie plötzlich zu schreien an. »Fort! Fort! Nach Viktoria!l«
Sie hatte wirklich geschrien, daß ich ganz zusammengeschrocken war.
Nun, ich mußte sehen, was sie für einen Grund dazu hatte.
Dieses Land hier konnte ja schon seinen Besitzer haben.
Die neueste Vermessungskarte von ganz Kanada erscheint aller Vierteljahr. Die letzte war Anfang Oktober herausgekommen. Auf dieser, die wir in Frisko hatten kaufen können, war Port Sunny und Umgebung allerdings noch nicht rot umgrenzt. Herrenloses Gebiet, Regierungsland. Aber Juba Riata hatte ja gar nicht gewußt, daß es sich um Port Sunny handele. Also hatte auch eine telegraphische Anfrage in Viktoria nicht viel genützt. Und unterdessen konnte ja dieses Land gekauft worden sein, ein Gebiet von vielen Quadratmeilen.
Zwar hätten wir hier immer dem Wintersport heiligen können, auch dem Sommersport, so lange es uns beliebte. Der etwaige Besitzer hätte uns nicht fortweisen können. Das ist in Amerika an solch einer einsamen Küste nicht so leicht. Da muß schon ein Regierungsbefehl hinzukommen, der aber auch erst zu begründen ist.
Aber wie unsere Patronin nun einmal war, die Frau Helene Neubert, die Freifrau von der See, und überhaupt, was wir hier alles vorhatten, wenn sich das bewahrheiten sollte, was uns Juba Riata schon alles von dieser Gegend vorgeschwärmt hatte und was wir nun mit eigenen Augen als Tatsache erblickten — nein, wenn wir uns hier niederlassen wollten, dann mußte dieser Grund und Boden und dieses Wasser auch uns gehören, oder . . . wir fuhren gleich wieder ab, ohne uns erst weiter umzusehen, um niemals wieder herzukommen.
Der Leser weiß ja schon, was wir hier vorhatten. Wir wollten unseren eigenen Hafen haben, von dem . . . niemand nichts wußte. Das drückt es wohl am besten aus. So einen verborgenen Schlupfwinkel irgendwo auf der Erde. Und zum Hafen gehört doch auch eine Küste.
Ach, wir hatten schon viel hierüber gesprochen! Aber wo solch einen heimlichen Schlupfwinkel finden? Das ist heutzutage doch nicht mehr ganz so einfach. Die Bucht im Feuerlande hatten wir ja schon Argonantenbucht getauft gehabt. Aber der Wind hatte nur einmal zu blasen brauchen, da wußten wir, daß das dort nichts war, hatten es ja auch schon vorher gewußt. In diese Bucht konnte man doch nur einlaufen wenn viele Tage lang Windstille gewesen war, was dort so selten passiert, bei dem geringsten Seegang war immer Gefahr vorhanden, daß das Schiff bei der Einfahrt zerschellte. Nein, dort war es nicht. Jene Bucht war ja überhaupt gar nicht so wunderschön.
Aber diese hier, das war etwas für uns! So etwas Herrliches hätten wir uns überhaupt gar nicht träumen lassen.
Also zuerst einmal nach Viktoria, ehe wir uns hier weiter umsahen. Das Land wurde mit keinem Fuße betreten.
Die Hauptstadt von Vancouver war von hier 120 Seemeilen entfernt, abends um zehn lagen wir im Hafen.
Das Landamt war natürlich geschlossen. Aber da war bald ein Beamter gefunden, der uns Auskunft geben konnte. Und wir durften aufjubeln. Nein, dort an der Südwestküste war alles noch herrenlos.
Nun muß ich etwas über den Erwerb von Regierungsland in Kanada mitteilen.
Jede mündige, unbescholtene, männliche Person —— bei Frauen bedarf es einiger Erweiterung — bekommt in Kanada auf Antrag 60 Acker Regierungsland. Der englische Acre hat 5000 Quadratyards gleich 4000 Quadratmeter. Dieses schon vermessene Regierungsland bekommt er umsonst und vollständig gebührenfrei, kann es sich auf der Karte aussuchen, wo er will. Ein Vater mit sechs erwachsenen Söhnen bekäme also 420 Acker zusammenhängendes Land. Das läßt sich bei gemeinschaftlichem Familienbesitz auch noch auf Frau und Töchter und selbst noch auf die kleinen Kinder erweitern. Mit Genossenschaften läßt sich die Regierung nicht ein, das können die Mitglieder machen, wie sie wollen.
Nur muß man sich verpflichten, dieses Land selbst zu bebauen, darauf zu »dominieren«. Das muß fünf Jahre lang geschehen, dann erst wird der Grundbesitz mein wirkliches Eigentum. Doch mit dem Bebauen wird es gar nicht ernst genommen. Wohl kommt ab und zu ein Regierungsbeamter, aber dem ist es ganz schnuppe, was jemand auf seinen Äckern treibt. Dagegen wird es mit dem »Dominieren« sehr streng genommen. Man muß darauf ständig wohnten. Werden einem größere Reisen nachgewiesen, dann ist man das Land wieder los.
Nun glaube aber niemand, er könne nach Kanada gehen, sich da 60 Acker Urwald aussuchen und darin ein Jägerleben führen. Das hält niemand ein halbes Jahr aus. Das haben schon tausende versucht, und tausende haben sich hinterher selbst ausgelacht. Das ist alles nicht so einfach.
Dann kann man in Kanada auch noch unvermessenes Regierungsland bekommen, so viel man haben will, ohne Verpflichtung darauf zu wohnen und es zu bebauen.
Auch dieses Land gibt die Regierung vollständig umsonst, gleich quadratmeilenweise. Aber einmal sind die eventuellen Indianer, die noch Anspruch auf dieses Land machen, zu entschädigen, die haben pro Acker zwei Schilling zu bekommen, müssen diesen Preis annehmen, ob sie wollen oder nicht, und dann vor allen Dingen hat man dieses Gebiet auf seine eigene Kosten vermessen zu lassen.
Und das ist eine gar teure Geschichte! Es sind gewöhnlich zwei Geometer mit einigen Hilfsarbeitern, die zusammen pro Tag ungefähr 100 Mark bekommen. Man muß pro Acker 10 Schilling deponieren. Für einen Quadratkilometer also 2500 Mark. Zwar wird einem vorgerechnet, daß die Vermessung nicht die Hälfte, nicht den vierten Teil kosten wird — aber die beiden Herren sorgen schon dafür, daß die deponierte Summe ganz genau aufgebraucht wird. Die nehmen sich Zeit.
Doch darf man hierin keine Übervorteilung erblicken. Das ist eine ganz eigentümliche Sache.
An der Spitze der Vermessungsabteilung für Kanada stand damals und steht noch heute Sir Mac Hovell, Professor und vielfacher Ehrendoktor, einer der bedeutendsten Geologen und sonstigen Naturwissenschaften der beste Kenner Kanadas, außerdem, wie er bei mehrfacher Gelegenheit gezeigt hat, ein hochehrenwerter Mensch.
Und der stellt alle Geometer als Regierungsbeamte persönlich an, prüft sie persönlich, und mit der Vermessungskunst ist es bei dem noch nicht abgetan, er nimmt — 986 nur geschulte Geologen, Zoologen und Botaniker, prüft auch besonders auf den Charakter.
Zeit nehmen sich diese Herren, das stimmt. Aber faulenzen dürfen sie nicht etwa. Dieser Sir Howell soll vielmehr wie ein Teufel hinter ihnen sitzen, überall in Kanada da auftauchen, wo man ihn am wenigsten vermutet, um seine Herren Beamten zu kontrollieren.
Diese müssen zugleich auch das ganze Land, das sie vermessen sollen, auf Gesteinskarten, Fauna und Flora untersuchen, wissenschaftlich, das ist es! Auf diese Weise wird das deponierte Geld verbraucht. Solche reiche Leute, die den Wunsch hegen, gleich einige Quadratmeilen zu besitzen, um Riesenfarmen anzulegen oder dem Sport zu huldigen, müssen mit ihrem Gelde der Wissenschaft dienen, um das noch so wenig erforschte Kanada aufzuschließen.
Es wird ja viel von solchen Leuten über dieses System geschimpft, ich aber finde es ganz vortrefflich. Außerdem muß man doch auch bedenken, daß die kleinen Bauern, die doch die eigentliche Kraft des Landes bilden, auch in Sachen des Steuerbezahlens das schon vermessene Land ganz umsonst und gebührenfrei bekommen, und das muß doch irgendwo wieder herausspringen.
Am nächsten Morgen um 10 begaben wir uns auf das Landamt. Die Sache war höchst einfach, dauerte keine Viertelstunde. Allerdings konnte die Patronin jetzt nur tausend Acker für sich registrieren lassen, vier Quadratkilometer. Für mehr Land muß ein besonderer Antrag gestellt werden, welcher einer höheren Entscheidung bedarf. Aber bei Zusprechung dieser vier Quadratkilometer war es nicht viel anders, als wenn jemand eine Schnitte Brot abschneidet. Die Patronin deutete auf der Karte das Küstengebiet, das sie zu besitzen wünsche, mit dem Bleistift an, ein bartloser Jüngling maß mit dem Zirkel, und zog mit roter Tinte ein Viereck —— so, dieses Viereck, vier Quadratkilometer, gehörte der Frau Helene Neubert aus Hamburg.
Freilich die Hauptsache, erst hatte sie 500 Pfund Sterling für die späteren Vermessungsarbeiten deponieren müssen! Oder man war bei der doch ganz sicher, daß es geschah! Die Schiffsbesitzerin hatte nur erklären müssen, daß sie dieses Geld sofort hinterlegen könne und wolle!
Dann kam noch das Registrieren.
Frau Helene Neubert unterschrieb.
»Und Titel?« fragte der Beamte
»Titel?«
»Freifrau von der See?«
Der englische Beamte hatte dies deutsch ausgesprochen, hatte sich dabei beinahe die Zunge abgebrochen. Jedenfalls kannte er gar nicht die Bedeutung dieser Worte.
Aber immerhin, er hatte es gesagt. Mußte also schon so etwas gehört haben.
Die Patronin bekam einen Kopf wie eine Klatschkrose.
»Missis Helene Neubert — ich habe keinen Titel. Nun ja — Schiffsbesitzerin.«
Die Sache war erledigt.
Noch will ich erwähnen — falls ein Leser auf diesen klugen Gedanken kommen sollte — daß ja auch wir anderen noch jeder vier Quadratkilometer dazu nehmen konnten, nebeneinander gelegen, die traten wir dann der Patronin ab. Oder auch nicht. Ganz wie sie wollte.
Ja, das wäre gegangen. Das ist doch auch nicht gerade eine unehrliche Schiebung.
Aber mit solchen gegenseitigen Abtretungen von ausgewirktem Regierungsland kann man in Kanada und überhaupt in Nordamerika mörderlich hineinfallen! Inwiefern, das kann ich hier nicht auseinandersetzen, das würde viel zu weit führen.
Nur eines will ich sagen: England hat es wunderbar verstanden, allem Landwucher in seinen Kolonien einen Riegel vorzuschieben, weil es da früher mit Australien so böse Erfahrungen gemacht hat, noch heute nach Jahrhunderten fürchterlich daran zu kauen hat.
Wir begnügten uns vorläufig mit den vier Quadratkilometern.
Die Geometer würden erst nächstes Frühjahr kommen.
Dagegen kam sofort ein Major mit, ein Indianeragent, um mit den roten Besitzern dieses Gebietes in Verhandlung zu treten. Denn die bekamen nun von uns noch 100 Pfund Sterling, gleich 2000 Mark, pro Acker zwei Schilling, sofort in bar oder in gewünschten Waren zum Marktpreis von Viktoria, frei ins Wigwam geliefert.
In diesen Kauf mußten die Indianer also willigen, ob sie wollten oder nicht.
Wer hierbei eine Ungerechtigkeit findet, eine Vergewaltigung, dem sei nur gezeigt, wie es diese Indianeragenten machen, wenn sich die Rothhäute etwa auf die Hinterbeine setzen wollen.
»Wo habt Ihr denn dieses Land her?« lautet dann die Frage.
Alle Indianer Nordamerikas wissen nämlich noch heute ganz genau, daß sie nicht die Ureinwohner dieses Landes sind. Vor ihnen war hier ein anderes Volk, dessen letzte Reste jedenfalls die nach dem höchsten Norden verdrängten Eskimos sind. Die fremde Rasse, die wir die indianische nennen, ist von Nordwesten hier vorgedrungen, jedenfalls aus Asien über die Behringstraße, und hat diese Ureinwohner vollständig ausgerottet. Dieser furchtbare Vernichtungskampf muß eben erst beendet gewesen sein, als die Europäer in Nordamerika von Osten her vordrangen. Die heutigen Indianer wissen das noch ganz genau, sie rühmen sich dessen.
»Was habt Ihr denn damals diesen Ureinwohnern für eine Entschädigung gegeben?« lautet dann die zweite Frage.
Da wissen die Indianer nichts zu antworten.
Nein, es ist höchst anständig, daß England heute diesen kanadischen Indianern zwei Schilling für den Acker Land zahlt. Die Union hat es nicht so gemacht.
Außerdem ist ja in Kanada wie in ganz Nordamerika die Jagd frei, also auch die Indianer können nach wie vor auf den von ihnen abgetretenen Gebieten jagen. Nur nicht auf bebautem Felde, das in Frucht stehst, das heißt der Ernte wartet. Und dann nicht auf umzäuntem Gebiete, so hoch eingefenzt, daß kein vierfüßiges Tier in freiem Sprunge darübersetzen kann, wobei es zwischen Grundbesitzern und Jagdliebhabern manchmal zu interessanten Prozessen kommt.
Major Deware wurde von einem Wachtmeister und zwei Soldaten als Diener begleitet, alle in Zivil. Die begleiteten uns kostenlos, wenn sie natürlich auch unsere Gäste waren. Kostenlos wurde uns auch weitere militärische Hilfe zugeschickt, falls es nötig werden sollte. Aber das war auf Vancouver noch nie vorgekommen. Die »Argos« ging wieder ab.
Nur zwei schlossen sich von der Rückfahrt aus: Jubas Riata und ich.
Wir beide hatten verabredet, den Rückweg über Land per Schneeschuh zu machen. Hatten es öffentlich so verabredet, daß sich uns kein anderer als Begleiter anbot.
Besonders Helene schmollte ein bißchen mit mir, aber das war mir ganz egal. Da ließ ich mir doch keine Vorschriften machen. Oder sie hätte mich ja als Kargo—Kapitän abmustern und als Waffenmeister entlassen könnten. Ich hänge mich niemandem an die Rockschöße, will aber auch niemanden an den meinigen hängen haben.
Wir legten die Strecke, die in der Luftlinie 150 Kilometer beträgt, in sechs Tagen zurück, immer auf Schneeschuhen, auf kanadischen, deren Gebrauch gar nicht weiter zu erlernen ist, sie beabsichtigen auch gerade das Gegenteil der norwegischen, sollen durch ihr Lederflechtwerk das Gleiten verhindern.
Hätte Juba Riata diesen Weg unter kundiger Führung nicht schon einmal gemacht und hätte er nicht jeden Gebirgspaß wieder zu finden gewußt, so wäre diese Tour im Winter überhaupt gar nicht möglich gewesen.
Wir haben unterwegs manches Abenteuer erlebt, doch finde ich es nicht weiter erwähnenswert. Einmal saß Peitschenmüller unten in einer Schneespalte, in die er gestürzt war, und ich saß oben auf einem Baume, und zwischen uns beiden saß ein mächtiger Grislybär und ging nicht eher, als bis er unseren für zwei Tage berechneten Proviant verzehrt hatte. Dann freilich, als wir unsere Waffen wieder hatten, mußte er dafür sein Leben lassen.
Nur ein einziges Mal fanden wir die Schneeschuhspuren eines andern Menschen, doch wurden sie bald verweht.
Es waren sechs herrliche Tage und Nächte gewesen, die ich in den einsamen, verschneiten Wäldern verlebt hatte, aber noch herrlicher war es, als ich am siebenten Tage in der elften Morgenstunde auf dem letzten Bergrücken stand, in weiter Ferne das glitzernde Meer erblickte und gerade unter mir die Bucht mit unserem Schiffe.
Ach, war das ein Anblick! Nämlich besonders unsere Jungen zu beobachten, was die gerade trieben!
Gut die Hälfte von ihnen tummelte sich auf der Eisbahn, fuhr Schlittschuh, da gab es ja schon amüsante Szenen genug, aber interessanter war es doch, die Rodler zu beobachten.
Na‚ die hatten da ja wieder einmal etwas Nettes ausgeheckt!
Rodeln kann ja schließlich jeder, wenn er einen Schlitten, einen Abhang und genügend Schnee hat, aber so wie die jodelten, das brachten eben nur die neuen Argonauten fertig!
Dort, wo der Abhang etwas sanfter war, aber immer noch auf der Eisbahn endend, ging es hinab, auf den regelrechten Sportschlitten, die in Frisko gekauft worden waren, und sie schienen sich auch schon welche nach eigenen Ideen gebaut zu haben, es waren merkwürdige Formen dazwischen.
Schon die auf der Bahn hier und da stehenden Bäume boten Schwierigkeiten genug, die gewandt umgangen werden mußten. Dann war auch noch eine künstliche, sehr scharfe Kurve geschaffen worden, und nicht genug mit dieser Gefahr, sondern hier hatten sie auch noch ein Gestell aufgebaut, an dem Beutelchen hingen, und beim Vorbeisausen kam es daran an, solch ein Beutelchen zu erhaschen, wobei man beim Biegen nach der Außenseite der Kurve noch viel leichter umkippen konnte. Und sie rollten denn auch nicht schlecht im Schnee.
Und was war in den Beutelchen?
Ich erfuhr es ja erst später.
Da hatte jeder Mitspielende als Einsatz sein Goldstück hineinzutun, ein englisches Pfund oder den gleichen Wert. Meine solid gewordenen Jungen hatten doch massenhaft Geld.
Na‚ solch eine Rodelei ließ ich mir wenigstens gefallen!
Ich bin nämlich sonst nicht fürs Rodeln. Ich finde es etwas dämlich, einen Berg hinaufzukraxeln, in wenigen Sekunden herunterzurutschen und dann den Schlitten wieder hinaufzuschleppen, und so immer weiter. Ja, als Kinder haben wir das auch gemacht. Aber eigentlich nur deshalb, weil es auf dem Stadtberge verboten war. Um den Schutzmann zu kujonieren. Und wenn der Sandaugust kam und streute, dann schnell den Sand wieder mit den Pudelmützen fortgefegt und wieder dem Hüter der Ordnung an der Nase vorbeigesaust! Das war unsere Lust, aber doch nicht etwa da den Hügel hinabzurutschen.
Und das möchte ich hierbei auch einmal sagen: so wie wir Jungen vor 25 Jahren Schlittschuh fuhren, das kann die heutige Jugend nicht mehr! Ich habe viele deutsche Städte im Winter gesehen, habe stundenlang an Eisbahnen meine Beobachtungen gemacht — unsere heutige Jugend kann nicht mehr Schlittschuh fahren! Das scheint man über das fade Rodeln ganz verlernt zu haben. Freilich fiel uns halbwüchsigen Jungen, zwölf— bis sechzehnjährig, auch gar nicht ein, den Mädels — oder jetzt sind es wohl schon Damen — die Schlittschuhe anzuschnallen, vor ihnen die Mütze abzunehmen und mit ihnen ein bißchen auf dem Eise herumzukraxeln. Na‚ so ein Süßholzraspler hätte uns ja nicht mehr kommen dürfen! Wir jagten um die Wette, übten uns im Kunstlauf und suchten auf freier Bahn die Stellen, wo man am leichtesten einbrechen konnte.
Also dieses Rodeln hier ließ ich mir schon eher gefallen. Ich habe dann selber von früh bis abends mitgemacht. Wem es gelang, ein Beutelchen zu erhaschen, der hatte jedes Mal 20 Mark verdient, und griff er noch weiter hinten zu, wobei er freilich auch noch viel leichter kentern konnte, dann auch noch mehr Goldstücke, die Zahl vermehrte sich immer. Wer aber daneben griff oder dabei umwarf, der mußte wieder seinen Einsatz zahlen.
Und nicht genug hiermit, das Beste kam erst noch.
Dann einfach einige hundert Meter über die glatte Eisfläche sausen, bis der Schlitten sich ausgelaufen hatte, das war nichts für meine Jungen, da hatten sie schnell ihre Erfindung gemacht.
Sie hatten unten aus der Lagune das Eis ausgehackt und die Eisschollen herausgenommen hatten. Über dem freien Wasser nur eine schmale Eisbrücke stehen lassen, daß eben die Schlittenkufen darin Platz hatten, und über diese Eisbrücke mußte nun der vom Hügel herabsausende Schlitten. Erst wenn dies gelang, erst dann war die Beute richtig gewonnen. Sonst mußte sie wieder zurückgegeben werden.
Gerade als ich hinsah, kam ein Rodel den Hügel herabgesaust, es war der englische Matrose Sam, er hatte richtig ein Beutelchen erwischt, nun aber schnell wieder — 995 den Schlitten dirigiert, auf die Lagune, auf die Eisbrücke
Bruch, Kladderadatsch! Hochauf spritzt das Wasser, verschwunden ist der Schlitten samt Rodler, da taucht er pustend wieder aus, schwimmt ans Ufer, den Schlitten nachziehend . . .
Und da kommt schon wieder einer herabgesaust . . . bruch, kladderadatsch . . . genau dasselbe . . . nur daß der nach der anderen Seite ins Wasser schießt . . .
Na da guten Morgen!
Rodeln diese Kerls ins Wasser hinein, bei sieben Grad Kälte!
Na‚ gesundheitsschädlich ist so etwas ja nicht. Wenn man nicht bereits die Lungenschwindsucht hat. In diesem Falle soll mans lieber bleiben lassen.
Aber sonst . . . ach, Du lieber Gott, wenn man sich durch so etwas den Tod holen könnte — dann gäbe es doch überhaupt gar keine lebendigen Matrosen mehr! Was wir manchmal in Wasser stehen müssen, an Deck, aber doch immer im Wasser, lange Eiszapfen im der Nase.
Die Rodler hatten ihr Ölzeug an, unten und oben gut zugebunden. Ganz schützen tut es ja nie, etwas Wasser dringt immer ein . . . aber die Hauptsache war, daß es ihnen Spaß machte.
Und was es ihnen für Spaß machte, das hatte uns schon vorher ihr furchtbares Brüllen und Johlen gesagt, das wir schon in drei Knoten Entfernung gehört hatten. Wir hatten erst geglaubt, sie lägen bereits mit Indianern im Kampfe.
Dann traten wir den Abstieg an und ließen uns unten von Menschen und Tieren nach Gebühr begrüßen.
37. KAPITEL. WIE WIR UNSERE KONKURRENTEN RETTEN.
Vierzehn Tage waren vergangen.
Mit Sport aller Art und reicher Jagd dazu.
Es war ein herrliches Leben, und wir glaubten, hier für immer bleiben zu können. Wenn wir einmal Abwechslung bedürften — bis nach Viktoria waren es ja nur zehn Stunden, bis nach Frisko drei Tage. Aber jetzt dachten wir noch nicht an so etwas.
Indianer hatten sich noch nicht gezeigt. Die hatten schon längst ihre festen Winterquartiere bezogen, von denen sie sich nicht weit entfernten, und es war eben ein Zufall, daß diesen Winter kein Stamm hier in der Nähe lagerte. Sonst wären die schon gekommen, die mußten dieses Gejohle und Posaunengetute und Orgelspielen doch vernehmen. Aber niemand kam.
Nun, Major Deware hatte Zeit. Der konnte ein halbes Jahr warten. Es wäre ja gut gewesen, wenn man in Viktoria über seinen längeren Verbleib gewußt hätte, aber etwa deshalb hinfahren — kein Gedanke dran! Wie dort überhaupt die Verhältnisse liegen.
Der schon ältere Offizier war einst ein echter Hinterwäldler gewesen und war es eigentlich noch immer, nur daß er sich unterdessen eine ganz respektable Bildung angeeignet hatte. Im übrigen ein prächtiger Mensch. — 997 Und eben so gut vertragen wir uns mit dem bärbeißigen Wachtmeister und mit den beiden Soldaten. Sie alle machten mit.
Besonders der alte Major wurde ganz Begeisterung, nachdem er uns näher kennen gelernt und unser Treiben beobachtet hatte.
»Haben Sie denn noch nicht daran gedacht,« sagte er eines Tages, als wir Hauptpersonen in der Kajüte bei der Punschterrine zusammensaßen, »mit Ihrem Schiffe Schule zu machen? Und zwar im wörtlichen Sinne dieses Ausdrucks. Ein Schulschiff einzurichten? Wenn Sie etwa zum Schiffsdienst geeignete Waisenknaben . . . «
Weiter kam er nicht.
Kaum ist ihm das letzte Wort entfahren — »orphans« auf englisch, eigentlich ja orphanboys, aber wir dachten doch nicht etwa an Waisenmädchen — also kaum ist ihm dieses letzte Wort entfahren, da springt Mister Carlistle auf und breitet die Arme aus.
»Endlich, endlich!« jauchzt er ganz verklärt zum Himmel empor, respektive zur Kajütendecke.
Wir denken doch schon, seine Traumkönigin ist endlich aus ihrer Todesstarre erwacht. Aber woher soll er das hier plötzlich wissen?
Nein, sein »endlich« hatte auch einen ganz anderen Grund.
»Endlich darf ich Ihnen meinen Vorschlag machen! Ja, nehmen Sie Waisenknaben auf und bilden Sie sie zu tüchtigen Seeleuten aus, nach Ihrer eigenen Methode! Schon immer wollte ich Ihnen diesen Vorschlag machen, aber ich mußte warten, bis er erst von anderer Seite kam, so hatten es mir die Sterne befohlen!«
Ahaaaa!
Nur schade, daß Major Deware mit seinem Vorschlag zu spät kam und Mister Carlistle mit dem seinigen schon viel früher zu spät gekommen wäre.
Diesen Fall hatten wir unter uns ja schon längst sehr häufig besprochen.
Ich hatte ja schon früher einmal gesagt, daß wir ein Schulschiff machen wollten. Auf ein Kadettenschiff, also auf Söhne »besserer« Eltern, verzichteten wir lieber von vornherein. Das muß unter staatlicher Kontrolle stehen, und . . . lieber nicht.
Also Söhne armer Leute, am liebsten gleich Waisenknaben.
Und dabei hatten wir natürlich an deutsche Jungen gedacht.
Da aber hatte der erfahrene Kapitän Martin eine Warnung ausgesprochen.
Die deutsche Kauffahrtei kann massenhaft Schiffsjungen gebrauchen. Es melden sich ja auch genug, aber die meisten halten nur eine Reise aus, dann haben sie die Nase voll von der christlichen Seefahrt, gehen wieder nach Hause zur Mutter oder zur Mama oder zum Muddchen, werden lieber Zuckerbäcker oder irgend etwas anderes weniger Gefährliches, wobei man nicht so egal naß wird, keine so krummen, aufgerissenen Finger davon bekommt.
Da, müßte man meinen, könnten doch die deutschen Waisenhäuser genug Material liefern. Oder auch solche Anstalten für verwahrloste Knaben. Das täte nichts. Die kommen später an Land doch auch in eine Lehre. Da können solche Stromer auch an Bord kommen. Da ist an ihnen entweder nichts mehr zu verderben, oder . . . sie sollen sich wundern, was für eine gute Zucht ihnen beigebracht wird!
Aber da haben Kapitäne und andere Männer, die so etwas in die Wege leiten wollten, schon die schlimmsten Erfahrungen gemacht. Das hängt mit dem deutschen Vormundschaftswesen zusammen. Dann besonders mit der hirnverbrannten, aber in Deutschland schier unausrottbaren Ansicht, daß die Seeleute zum Abschaum der Menschheit gehören. Und solche Jungen sollen doch im Gegenteil zu »nützlichen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft« erzogen werden. Kurz und gut, während sonst so ein Junge in seinem »Heim« meistenteils mehr Prügel als zu essen bekommt, wird er jetzt plötzlich, wenn er aufs Schiff soll, als Ebenbild Gottes betrachtet, als die wertvollste Perle der Schöpfung — fortwährend steckt das Vormundschaftsgericht seine Nase dazwischen.
»Laßt um Gotteswillen bloß Eure Hände ab von deutschen Waisenhäusern und Fürsorgeanstalten!« hatte Kapitän Martin gesagt, erzählte einige Beispiele aus seinen Erfahrungen, und es genügte für uns.
»Aber aus englischen oder amerikanischen Anstalten können Sie solche Bengels nehmen, da werden sie Ihnen mit Haut und Haaren und Seele überlassen, und kein Mensch kümmert sich mehr um sie.«
Gut, uns war das recht. Es brauchten nicht gerade Deutsche zu sein. Wir waren auch nur zu dreiviertel deutsch Und wenn wir die Jungens ausgebildet hatten und konnten sie der Welt vorführen, nicht nur als tüchtige Seeleute, sondern auch als wirkliche Menschen und dazu wollte ich sie schon dressieren, in aller Liebe, da hatte ich meine Pläne schon bis ins kleinste gemacht dann würde man uns wohl auch deutsche Stromer und Vagabunden anvertrauen.
Aber so eilig hatten wir es mit der Ausführung dieses Planes nicht. Das Argonautenschiff existierte erst ein Jahr, und was hat denn ein Jahr zu bedeuten! Die Gelegenheit würde schon noch kommen.
Immerhin war dies der hauptsächlichste Grund, daß wir noch keine anderen Leute angenommen hatten. Den Leser entsinnt sich ja, daß die Patronin bis zu hundert Mann haben wollte, um gleichzeitig sämtliche Rahen bedienen zu können. Dies war der Grund unserer bisherigen Zurückhaltung. Wir dachten immer an eine ganzes Bande von Schiffsjungen. Aber nur nichts übereilen. Und gerade auf dem Schiffe lernt man warten.
So unterhielten wir uns eines Morgens beim gemeinsamen Frühstück, zu dem es aber schon Punsch gab, was man in dieser Gegend auch ganz gut vertragen kann.
»Ich verpflichte mich,« sagte unser Sternkieker noch, »nein, ich bitte um die Gunst, die Kosten dieser Erziehung tragen zu dürfen.«
Weiter konnte jetzt nicht darüber gesprochen werden.
Der erste Steuermann kam herein gestürzt.
»Auf den Riffen sitzt ein Dampfer!«
Wir hinaus.
»Ludwig hat ihn gesehen, von dort oben.«
Der Matrose hatte zur Frühpartie den steilen Berg erklommen, auf der Hälfte des Weges hatte er im Nordwesten zwischen den Riffen einen großen Dampfer liegen sehen, weit, weit von hier.
Mehr konnte er nicht berichten, und es genügte. Hinaufgeklettert war niemand, jetzt stand alles im Schiffsdienst, mußte der Kommandos warten.
Jetzt ich mit einigen der schnellsten Kletterer hinauf, Ludwigs Spuren folgend, die besten Fernrohre mitgenommen.
Wir hatten eine Viertelstunde zu klettern, ehe wir über den nördlichen und nordwestlichen Bergrücken blicken konnten, der uns die Aussicht nach dem Meere verdeckte.
Wahrhaftig dort lag zwischen den dem Küstengebirge vorgelagerten Riffen und Klippen ein Dampfer. Oder überhaupt ein mastenloses Wrack. Die Entfernung wagte niemand zu taxieren. In einer Entfernung von einer bis fünf geographischen Meilen. Also lieber gar keine Abschätzung. Durch das beste Fernrohr konnten wir an dem ganz schräg liegenden Deck eben noch Menschen kriebein sehen, und zwar eine sehr große Menge, und da man doch die Tragweite oder Heranziehung solch eines Glases genau kennt, müßte man danach doch die Entfernung sogar ganz richtig berechnen können — aber das geht alles nur in der Theorie, in der Praxis kommt es ganz auf die Beschaffenheit der Atmosphäre an, und nicht nur auf ihren Feuchtigkeitsgehalt.
Jedenfalls aber waren das viel mehr Menschen, als zur Besatzung des Dampfers gehörten, also Passagiere, und jedenfalls sahen sie ihrem unvermeidlichen Tode ins Auge, wenn nicht noch rechtzeitig eine Rettung kam. Denn wie furchtbar es dort brandete, wie sich die Sturzseen immer über den ganzen Rumpf ergossen, das war ebenfalls deutlich zu erkennen.
Wir jagten wieder hinab. Unterdessen hatte es Kapitän Martin schon fertig gebracht — oder wir wollen die Ehre allein den Heizern geben — vollen Dampf aufzumachen. Feuer unter den Kesseln war ja immer, aber in einer halben Stunde volle Dampfspannung zu bekommen, dazu hatte doch etwas gehört. Mit Kohle freilich war das nicht möglich gewesen. Mit Holz, drei Ballons Petroleum und einigen Fässern Schweineschmalz.
Schnell war der Plan entworfen. Juba Riata getraute sich den Weg nach dort über Land zu finden. Also der mit der Hälfte der Mannschaft ab, mit soviel Tauen und besonders mit Brettern bedacht, als sie nur tragen konnten. Wurde es ihnen zu viel, so mochten sie es einstweilen unterwegs liegen lassen. Denn daß dem Wrack nur vom Lande her beizukommen war, indem über die Riffe eine Brücke geschlagen wurde, das ahnten wir gleich.
Wir dampften hinaus. Zwei Stunden brauchten wir ja schon, um nur das offene Meer zu gewinnen, welches jetzt bei fast völliger Windstille noch vom letzten Sturme tobte, und dann brauchten wir noch eine weitere halbe Stunde, um ein kleineres Vorgebirge, das sich nach Westen reckte, herumzukommen.
Dann sahen wir es liegen, gar nicht mehr weit von uns entfernt. Ein schrecklicher Anblick. Die ganze hintere Hälfte war schon total geborsten, überhaupt verschwunden, nur das Vorderteil reckte sich zwischen den Klippen festgeklemmt, schräg empor, und dort an Deck, auf wenige Quadratmeter zusammengedrängt, klammerte sich ein Knäuel Menschen aneinander fest, wir schätzten sie auf hundert, es war aber fast die doppelte Anzahl, und dazwischen sehr, sehr viele Kinder.
O Jammer über Jammer!
Wie kam denn nur dieses Schiff mit so vielen Kindern hierher?! Was hatte denn nur hier ein Passagierdampfer zu suchen?
Na‚ solch eine Frage warfen wir jetzt doch gar nicht auf. Wie sie zu retten waren, um diese Frage drehte sich jetzt alles. Von unserem Schiffe aus nicht. Ausgeschlossen! Diesen Klippen und Riffen, zwischen denen es fürchterlich kochte, konnte sich kein Boot nähern.
Oder wir mußten warten, bis die See einmal ganz still wurde. Das geschah aber in diesem Winter nicht mehr.
Und denen dort hingen die Eiszapfen von den notdürftigen Kleidern herab, jetzt sahen wir es deutlich.
Zwar war es gar nicht so sehr kalt. Das selbst registrierende Thermometer hatte als höchste Kälte für die Nacht sechs Grad angezeigt, jetzt waren es nur noch drei Grad.
Aber das genügte gerade, um Eiszapfen entstehen zu lassen. Das Meerwasser mit drei Prozent Salzgehalt friert erst bei vier Grad Celsius. Wenn es nicht sehr bewegt ist. Dabei scheidet es den Salzgehalt aus. Also bleibt das einmalige Eis auch bei weniger Grad bestehen. Daher noch jetzt dort die Eiszapfen und Eiskrusten. Und sehr viele Personen und vor allen Dingen die meisten Kinder waren nur im Hemd! Die Katastrophe mußte mitten in der Nacht erfolgt sein, als alles in der Koje lag, und wie sie gelegen, so waren sie eben an Deck gestürzt!
Ach, diese Winkerei!
Alle diese Hände und Händchen schlugen mir schmerzhaft gegen mein Herz.
»Betet, betet!« jammerte die Patronin. »Hämmerlein die Orgel — die Orgel!«
Sie war vor Verzweiflung einfach von Sinnen.
Und doch — beten konnten wir, daß Juba Riata den Weg nach der Küste fand und genug Bretter bei sich hatte.
Von dort war eine Rettung vielleicht möglich.
Ein Mann, wahrscheinlich der Kapitän oder ein Offizier, ließ sich von zwei anderen mehr vorschieben und festhalten, um nicht von den Sturzseen über Bord gewaschen zu werden, hatte in jeder Hand einen weißen Lappen, er semaphorierte.
Das ist die Art der Verständigung durch Signale, wobei zwei Flügel um eine aufrecht stehende Stange gedreht werden, dieser Signalapparat heißt Semaphor. Durch verschiedene Stellung eines oder beider Flügel kann man alle Buchstaben des Alphabetes wiedergeben, und dasselbe kann man ja auch mit den Armen ausführen. Das Semaphorieren muß jetzt in der Marine von jedem Manne erlernt werden.
»Golden City — Frisko — Kapitän Swift.«
So, das war die erste, die dienstliche Vorstellung.
Golden City — die goldene Stadt — was für ein dummer Name, was für eine Blasphemie!
Nun ahnte ich aber auch schon etwas.
Und da kam es auch schon.
»Am 15. von Skagway nach Frisko.«
Richtig! Ein Goldschiff! Wenn es auch kein Gold an Bord zu haben brauchte. Aber Goldgräber! Skagway ist der Haupthafen für Alaska, für Klondyke.
Dort drüben fuhr es fort:
»Mit elf Mann Besatzung . . . «
Hallo! War das kein Irrtum, keine falsche Zahl gewesen?
Dieser Dampfer, dessen ganze Größe man doch noch ungefähr erkennen konnte, mußte mindestens 40 Mann Besatzung haben, und erst hatte der Kapitän die volle Besatzung zu melden, mit der er abgegangen war, ohne Abzug des Verlustes.
Ich, der ich das Semaphorieren übernommen hatte, aber an unserem Apparat, machte das Nichtverstanden-Zeichen.
»Elf Mann Besatzung,« wurde wiederholt, »in Skagway alles desertiert, keine Leute zu haben gewesen . . . «
Nun wußte ich es. O, Du verfluchtes Gold!
Und dieser amerikanische Kapitän geht mit elf Mann — mit vier Heizern, fünf Matrosen, einem Steward und einem Steuermann, wie ich gleich verraten will — in hohe See! Um nicht in Skagway einen ganzen Winter lang eingefroren liegen zu bleiben.
O Du Amerika!
O Du armer Dividendensklave!
Denn hättest Du nicht riskiert, was nur irgendwie zu riskieren ist — dann hätte Dich die Reederei als Kapitän entlassen. Mit den Seegesetzen wollte man schon fertig werden. Denn wenns glückt, dann kräht kein Hahn danach. Im Gegenteil, dann hat der Kapitän ja ein Bravourstückchen gemacht.
Die fünf Matrosen hatten natürlich mit heizen müssen. Also überhaupt gar keine Deckmannschaft!
»186 Passagiere!« fuhr es drüben fort.
Hierbei bemerke ich gleich, was mir der Kapitän jetzt nicht zu melden brauchte, daß noch kein einziger durch den Tod abgegangen war. Wohl standen die zusammengedrängten Menschen fortwährend unter Wasser, aber es waren doch zwischen den Riffen keine eigentlichen Sturzseen, nur die überdammende Brandung, die keine so große Gewalt mehr hatte.
Der Kapitän wollte mir weiter melden, wann der Schiffbruch erfolgt war, da aber hatte ich erst etwas zu semaphorieren
Denn was haben denn in Alaska so viel Kinder zu suchen? Die Goldgräber nehmen ihre Familien nicht mit, das ist ganz ausgeschlossen.
»Woher die Kinder?« semaphorierte ich also.
Die Antwort kam:
»Zirkus Smetani, mit 120 Personen, darunter Ballett von 52 Kindern.«
Plötzlich sanken mir die Hände wie gelähmt von den Drehkurbeln herab.
O Du verfluchtes Gold und Geld!
Ich hätte es wissen können.
Ich hatte in San Franzisko die Riesenplakate an allen Straßenecken gelesen. Ein Zettel kündigte an, daß demnächst der weltberühmte Zirkus Smetani in Frisko auftreten würde, gegenwärtig noch in Alaska, in Klondyke gastierend, mit hundert Pferden, mit zehn Elefanten, mit einer ganzen Menagerie, mit 150 Artisten, darunter die »flying angels«, die fliegenden Engel, ein Ballett von mehr als 50 Kindern, kleinen Kindern, keines über zehn Jahre alt. Es war extra betont.
Ich will gleich alles erklären, was ich erst später erfuhr.
Wie solche Artistentruppen, auch die größten Zirkusse durch ganz Amerika die weitesten Kunstreisen machen, mit den Planwagen durch Wildnisse und Prärien, um ein weltverlassenes Nest zu erreichen, in dem sich aber das Geld der Arbeiter aufgehäuft hat, das habe ich wohl schon früher erwähnt. Es lohnt sich also.
Solch eine Reise nach dem Goldlande Alaska würde sich für den großen Zirkus wohl gelohnt haben.
Sie hatten den ganzen Sommer dort gastiert, von Ansiedlung zu Ansiedlung ziehend, aus denen aber zum Teil schon ganz ansehnliche Städte geworden sind, und Direktor Smetani hatte denn auch wirklich das Gold in Säcken eingeheimst.
Der Haupthafen für Alaska ist also Skagway. Die Seefahrt ist dort wegen der Eisverhältnisse schon im Anfang September beendet. Wenigstens muß man darauf gefaßt sein. Der Zirkus war rechtzeitig zur Stelle. Da kam diesmal das Treibeis schon Ende August an, sackte sich fest, auch der stärkste Dampfer konnte nicht mehr durchbrechen.
Ach, dieser Zeit, und Geldverlust! Nun den ganzen Winter — nein, dreiviertel Jahr hier festgebannt liegen müssen, bis in den Mai hinein!
Die Natur spottet aller Berechnung. So etwas kommt dort oben überhaupt häufig vor. Nämlich Anfang Dezember trieb alles Packeis wieder ab, noch einige Tage, und die Wasserstraße war wieder frei.
Nun schnellstens diese Gelegenheit benutzen, denn lange hielt das nicht an!
Der Zirkus hatte den ganzen Dampfer gechartert, wenn er auch noch andere Passagiere mitnehmen durfte.
Keine Heizer? Keine Matrosen? Ach was, wir selbst heizen mit! Nur fort von hier, aus diesem Eisloche nach San Franzisko, wir sind schon wieder engagiert!
Und der Kapitän hatte es riskiert.
Dort saßen sie nun zwischen den Klippen.
Heute nacht um elf war die Katastrophe erfolgt. Wie der Dampfer so tief zwischen die Riffe gekommen war, das konnte niemand sagen. Eben im dichten Nebel. »Dort, dort!« heulte ich auf.
Da kamen sie aus einer Schlucht hervor, Juba Riata mit seiner Mannschaft, im Laufschritt, obgleich schwer, schwer bepackt, mit langen Brettern von Schulter zu Schulter.
Sie erreichten das feste Ufer, vor dem die Klippenformation begann, wo es nur wenig brandete.
Ja, von dort aus hielt ich die Rettung für möglich, von dort aus waren es nur noch 500 bis 600 Meter nach dem Wrack.
Das semaphorierte uns auch Juba Riata zu.
»Brücke möglich. Aber mehr Bretter, Pfosten und Seile.«
Die Hauptmasse der Bretter, die wir in Frisko eingenommen hatten, falls wir in Vancouver viel zu bauen hatten, uns auch am Lande häuslich einrichten wollten, befand sich noch an Bord.
»Wir gehen sofort zurück und bringen sie Euch nach.«
»Ich komme zur Führung zurück.«
Nun setzte ich mich erst noch einmal mit dem Wrack in Verbindung.
»Kann sich das Wrack halten?«
»Allright!« lautete die etwas seltsame Antwort.
»Mut, wir retten Euch!« war es das letzte, was ich semaphorierte, und dann ging es mit Volldampf zurück, und da wir jetzt auch in den schmalen Wasserstraßen, die wir aber nun doch schon kannten, mit voller Kraft fuhren, wurde es diesmal in zwei Stunden gemacht.
Trotzdem war Juba Riata schon zur Stelle. Es war sehr gut, daß er als Führer gekommen war, denn es wäre nicht so einfach gewesen, den Spuren unserer Vorgänger zu folgen, so deutlich sie in dem Schnee auch sein mochten. Juba Riata hatte doch erst einen Weg suchen müssen, sie hatten große Umwege gemacht, waren große Strecken zurückmarschiert, so wären wir irre geführt worden, was jetzt vermieden wurde.
Jubas Bericht brauche ich nicht wiederzugeben und er wurde auch nicht untätig angehört. Bretter und Pfosten und Taue und Seile ausgeladen und sonst alles, was wir zu gebrauchen gedachten, aufgepackt und im Dauerlaufe davon!
Zurück blieben nur Kapitän Martin, Hämmerlein, Carlistle und natürlich Ilse. Sonst ging alles mit. Hammid mit seinem hölzernen Bein, der aber als Zimmermann und überhaupt als Genie in allen Holzsachen uns doch recht praktische Winke geben konnte, wurde abwechselnd auf dem Rücken getragen, immer im Dauerlauf, auf kanadischen Schneeschuhen.
Doktor Isidor, der in dem letzten Jahre ein ganz anderer Mensch geworden war, schleppte seinen beträchtlichen Verbandskasten, die Patronin hatte sich mit den Utensilien zum Kaffeekochen beladen, und Klothilde vollends stellte im Buckeln einen ganzen Mann.
Schlitten konnten auf diesem Wege nicht gebraucht werden, das hatte Juba Riata schon vorher gewußt, dagegen hatte er sich gleich von einigen Hunden begleiten lassen, falls eine Botschaft zu übermitteln war.
Also immer im Dauerlaufe, wenn nicht geklettert werden mußte, was oft genug der Fall war. Die steilsten Abhänge hinan und hinab, an schauerlichen Abgründen vorbei, wo jeder Fehltritt den Tod brachte. Und nun dabei so schwer bepackt, mit zum Teil sechs Meter langen Brettern auf den Schultern, von zwei Mann getragen, und nicht nur je eines!
Unsere Vorgänger hatten zu der Strecke zwei und eine halbe Stunde gebraucht, wir machten sie in anderthalb. Da hatte aber Juba Riata eben erst einen Weg gesucht, war oftmals zurückgegangen, und außerdem hatten sie erst Schluchten mit Brettern überbrückt, uns also so schon einen bequemeren Weg geschaffen.
Um zwei waren wir aufgebrochen, also erreichten wir halb vier die Küste, da aber verschwand auch schon die Sonne unter dem Horizonte.
Doch währte die Dämmerung in dieser hohen Breite noch eine Stunde, auch dann herrschte, obgleich der Himmel bedeckt und kein Mond war, noch immer nur ein Halbdunkel. Einmal kam das durch die Brandung, denn obgleich das Meer in dieser nördlichen Breite nicht phosphoresziert, so muß durch die heftige Bewegung des Salzwassers, mit Algen und sonstigen mikroskopischen Lebewesen erfüllt, doch eine elektrische Fluoreszenz erzeugt werden, es geht von der Brandung immer wie ein leuchtender Schein aus, und hinter uns die schneebedeckten Felsen und Abhänge trugen ebenfalls mit zur Erleuchtung bei, mochte sie auch noch so schwach sein. Jedenfalls konnten wir arbeiten. Außerdem hatten wir noch genug Lampen mitgenommen, einer mußte dem andern bei besonderen Arbeiten vor die Hände leuchten.
Wie es dort zwischen den Riffen aussah und wie wir die Brücke darüber schlugen, das kann ich unmöglich schildern. Es spottet wirklich jeder Beschreibung. Erwähnen will ich nur, daß das Legen und Befestigen der Laufbretter Nebensache war. Hauptsache und die schwerste Arbeit war das Herstellen der Barriere! Denn diese war unbedingt nötig, um sich daran festzuhalten. Ach, da ging es ja manchmal in Winkeln von 45 Grad hinauf, von Felsen zu Felsen, und nun immer von der Brandung bespült, und da nützten auch noch nichts, um ein Ausgleiten zu verhindern, aufgenagelte Querleisten, da mußte in Leibeshöhe darüber unbedingt ein starkes Seil gespannt werden, an das man sich ganz sicher klammern konnte, befähigt, Zentnerlasten zu tragen, denn ohne Zweifel mußten wir doch die Schiffbrüchigen auf dem Rücken an Land tragen, die armen Menschen konnten doch solch einen gefährlichen Weg nicht mehr beschreiten!
Dieses Seil mußte von Felsen zu Felsen gespannt werden. Aber das war nicht so einfach, wie sich das hier sagen läßt. Da mußten meistenteils erst Pfosten eingeklemmt werden. Und die wir besaßen, erwiesen sich meistenteils zu kurz. Erst Pfosten, ganze Balken fertigen, aus langen Brettern, die übereinander befestigt wurden, Löcher gebohrt und zusammengeschraubt, wozu wir alles mitgenommen hatten, oder auch nur zusammengebunden, wie es nur Seeleute verstehen.
Ich habe es dennoch zu beschreiben versucht, finde es ist doch nicht möglich, ein Bild von unserer Arbeit zu machen.
Solche Vorbereitungen hatten die Vorausgegangenen in den vier Stunden, da sie schon hier waren, bereits getroffen, sie hatten die Brücke mit dem Barrierenseil auch schon gegen 50 Meter weit vorgeschoben.
Wie diese bisher geschaffene Brücke nun aussah, das ist es eben, was jeder Beschreibung spottet.
Jetzt liefen die Fußretter einmal gerade hin, dann ging es direkt in den kochenden Strudel hinab und dann wieder haushoch hinauf nach einem spitzen Felsen, fünf sechsmeterlange Bretter mußten zusammengebunden werden, um eine Strecke von 25 Metern zu überbrücken, ohne Unterstützung!
Und das war erst der Anfang gewesen, der allerleichteste Teil! Immer furchtbarer wurde die Klippenformation, daher auch immer schwieriger die Arbeit und dazu wurde es nun jetzt dunkel!
Kabat war es, der diese Arbeit leitete. Ich sah diesen Eskimo eigentlich zum allerersten Male arbeiten, etwas Nützliches tun. Wie dieser Kerl jetzt aber auch arbeitete! Was der alles fertig brachte! Das Unmöglichste, das Fabelhafteste! Wenn wir anderen alle ratlos dastanden, hier mußte unbedingt das Ende der Brücke sein, jetzt war kein anderer Felsen mehr zu erreichen — dieser Eskimo wußte doch noch einen Rat, fand immer wieder eine Fortsetzung!
Juba Riata mußte einen Felsen, an den wir gar nicht gedacht hätten, weil wir ihn gar nicht dazu für geeignet hielten, mit seinem Lasso einsaugen, oder Kabat selbst warf das Seil mit der Schlinge, arbeitete sich durch die Brandung hinüber, Bretter nachgezogen, die er erst provisorisch festband, dann Pfosten nach, seine Axt geschwungen, daß die Spähne nur so flogen, irgendwie wußte er die Pfosten sicher einzuklemmen, auf diesen wurden die Laufbretter erst richtig befestigt, dann das Seil gespannt — und da war es meist Klothilde, welche als zweite Person hinüberkam um die erste Sicherung für die nachkommenden Arbeiter herzustellen. Denn immer wieder mußten wir Männer zu unserer Beschämung gestehen, daß dieses Weib mit den widerspenstigen Seilen und Tauen umzugehen verstand wie kein anderer von uns!
Aber die Hauptsache war doch der Eskimo — im Auffinden des Weges.
Dieser Eskimo, der ehemalige Führer von Polarexpeditionen, war hier eben in seinem Element. Zwar waren es hier keine Eisblöcke, von deren Zerrissenheit man sich gar keine Vorstellung machen kann, die er zu überwinden hatte, sondern nackte Steinfelsen, aber im Grunde genommen war es doch dasselbe.
Jedenfalls hätten wir ohne diesen Eskimo die Brücke niemals fertig gebracht, und er war es auch gewesen, der durch Juba Riata uns hatte zusemaphorieren lassen, daß er die Brücke für möglich hielt. Hier an Ort und Stelle bei Besichtigung hätten wir es nicht für möglich gehalten. Keiner von uns. Kabat mußte es uns erst zeigen, daß es dennoch möglich war.
Und dabei war und blieb er immer der Mister Tabak. Immer die qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen, auch wenn es direkt durch das brandende Wasser ging, der Pfeifenkopf war durch eine besondere Vorrichtung geschützt, und erlosch sie doch einmal, dann konnte die Arbeit ruhig warten, erst mußte die Pfeife mit Stahl und Zunder wieder in Brand gesetzt werden, und wenns eine Viertelstunde lang dauerte — dann aber flogen die Spähne auch wieder in doppelter Anzahl!
Nur noch eines will ich hierzu sagen: die verschiedensten Sachverständigen haben später diese Gegend besichtigt, und sie hätten es nimmermehr geglaubt, daß wir über diese Klippenformation in einer Länge von mehr als 250 Metern innerhalb von 23 Stunden eine begehbare Brücke schlagen konnten, auch beim stillsten Wetter nicht, mit allen modernsten Hilfsmitteln nicht, wenn wir nicht 200 Zeugen dafür gehabt hätten, eben die, die wir dadurch retteten.
Gegen sechs Uhr, als der letzte Schein der atmosphärischen Dämmerung geschwunden war, wurde es plötzlich so finster, daß man die Hand nicht vor den Augen nicht mehr erblicken konnte. Das heißt, wir mußten uns erst daran gewöhnen, dann wurde es schon besser. Aber erst war es doch so.
Die Arbeit wurde deswegen nicht eingestellt. Nur daß Kabat nicht mehr die nächsten Felsenriffe attackieren konnte, da wäre auch nicht viel mit Magnesiumfackeln zu machen gewesen. So wurden einstweilen Vorbereitungen zum weiteren Bau getroffen, Pfosten hergestellt, Löcher gebohrt, indem man mit den Lampen vor die Hände leuchtete.
Da, kaum eine halbe Stunde später, flammte am Horizonte plötzlich ein prachtvolles Nordlicht empor, die Nacht fast tageshell erleuchtend, wenigstens für unsere Augen.
Und noch prachtvoller war der Anblick, den dieses nächtliche Licht uns zeigte.
Der Eskimo hatte sofort seine Pionierarbeit wieder aufgenommen, unterstützt von Klothilde.
Und so sahen wir denn die beiden jetzt dort oben stehen, auf einem spitzen Felsen, der sich als Säule fast so hoch wie ein vierstöckiges Haus aus der Brandung emporreckte, dort hinauf lief schon die Brücke, noch aber fehlte eine letzte Verbindung von einigen Metern, die stellten die beiden her, und nun sahen wir die zwei Gestalten, sich wie schwarze Silhouetten mit den denkbar schärfsten Umrissen von dem blendendweißen Horizonte abhebend — der Eskimo, wie er mit seiner Axt gewaltig einhieb, und hoch oben auf einem schon errichteten Pfosten Klothilde, natürlich nicht in Weiberröcken, aber daß es ein Weib war, dort oben gewissermaßen auf der Fahnenstange eines vierstöckigen Hauses arbeitete, das konnte man an dem langen, vom starken Winde gepeitschten Haare erkennen, denn wenn Klothilde auch Knoten gut schlingen verstand, ihr Haar hatte sie nicht richtig zu befestigen verstanden . . .
Ein herrlicher, ein unbeschreiblicher Anblick! Wie die beiden dort oben arbeiteten, mit den Pfosten und Seilen herumwürgten, gegen die alles Gebilde von Menschenhand hassenden Elemente ankämpften!
Und dann blickte ich nach dem Wrack hinüber. Ich hatte es ja in solcher Nähe nur gesehen, als schon die Dämmerung angebrochen war, nun sah ich es in voller Beleuchtung.
Daß die genau 198 Menschen, die sich an dem Vorderdeck zusammendrängten, von einem starken, doppelten Seile umspannt waren, wußte ich bereits, jetzt aber sah ich es erst richtig. Und jetzt sah ich die jammervollen Gestalten, die meistens nur ganz notdürftig bekleidet, viele tatsächlich nur im Hemd, von der überkommenden Brandung ständig durchnäßt werdend und dennoch mit Eis bedeckt, und ich sah deutlich die verzweifelten Gesichter, die meist geschlossenen Augen . . .
Gestern nacht um elf war die Katastrophe erfolgt. Seit nun schon 20 Stunden standen sie so da, und es sollten noch immer 16 Stunden vergehen, ehe sie diese Stellung verlassen konnten!
Nun, mit den der Situation entsprechenden Augen betrachtet, war ihr Schicksal erträglich. Da kommen bei Schiffbrüchigen noch ganz andere Notlagen vor. So, wie sie standen, wie die Schafe dicht zusammengepfercht, konnten sie schlafen. 36 Stunden kann der Mensch Hunger und Durst aushalten. Denn aus den Räumen war nicht etwa noch etwas zu holen, die 100 Pferde und die 10 Elefanten wie die Tiere der ganzen Menagerie waren im Hinterteil untergebracht, natürlich gleich ersoffen, überhaupt bis zur Höhe des Decks stand alles unter Wasser. Und die Kälte war schließlich nicht so schlimm. Sechs und noch mehr Grad kann der Mensch vertragen, ohne zu erfrieren, auch wenn er im Hemd ist. Gerade, wenn er die meiste Zeit unter Wasser steht, kann er diese Temperatur aushalten. Da wissen wir Seeleute doch etwas zu erzählen. Es kommt auch noch die ganze seelische Stimmung hinzu.
Ja, wir würden sie, wenn sonst alles glückte, als noch gebrauchsfähige Menschen retten, das heißt ohne erfrorene Gliedmaßen.
Freilich sonst — fragt mich nicht, wie es denen zumute sein mochte!
Und darauf konnten wir uns auch gefaßt machen, daß wir mit etlichen Irrsinnigen zu rechnen hatten, die gar nicht gerettet sein wollten.
Nun will ich an dieser Stelle gleich noch etwas erledigen, um später den Gang der Handlung nicht mehr unterbrechen zu brauchen.
Wir wußten von vornherein, daß die 120 Artisten, auch wenn sie einem amerikanischen Zirkus angehörten, meist Deutsche waren und ganz bestimmt sämtlich deutsch sprachen.
Sämtliche reisende Handwerksburschen und sämtliche Bäckergesellen in der Welt sind Deutsche. Wenn sie auch einmal aus Österreich oder Ungarn stammen. Deutsch sprechen sie mindestens, sind also deutscher Abstammung. Andere reisende Handwerksburschen und Bäckergesellen findet man gar nicht in der Welt. Worüber schon Goethe in seiner »Italienischen Reise« als eine Merkwürdigkeit spricht.
Ebenso sind fast sämtliche Artisten, welche die Welt bereisen, Deutsche. Woher das kommt, das kann man sich kaum erklären. Aber es ist nun einmal so.
Nur daß sie immer einen englischen oder Französischen oder italienischen Namen annehmen, weil . . . Michel das nun einmal so liebt. In Deutschland darf ein berühmter Seiltänzer nicht seinen ehrlichen Namen August Schulze beibehalten, sondern er muß Sennor Raphaelo Estramadura heißen, dann kann er etwas.
Aber unter sich selbst bleiben die deutschen Zirkus- und Varieteekünstler immer deutsch, so international sie sonst auch sein mögen, vor allen Dingen ist Deutsch die internationale Artistensprache, auch die englischen, französischen, italienischen und sonstigen anderen Artisten, deren es natürlich auch genug gibt, können alle Deutsch. Ebenso wie jeder deutsche weitbefahrene Seemann Englisch kann, weil Englisch die internationale Seemannssprache ist.
Als nun das Nordlicht aufflammte, sah ich die zusammengedrängte Menschenherde teilnahmslos dastehen, wie ein regungsloser Klumpen.
Dann tauchten dort oben aus der Felsenkuppel der Eskimo und Klothilde auf.
Die Schiffbrüchigen mußten sie sehen, unser ganzes Werk, alle konnten doch nicht schlafen, aber es vermochte keinen Eindruck auf sie hervorzubringen, dazu hatte der zwanzigstündige Jammer schon zu stark gewirkt.
»Kinder,« schrie da Klothilde aus ihrer Höhe hinüber, »in vier Tagen haben wir Weihnachten!«
Das stimmte allerdings. Heute war der 20. Dezember. Trotzdem, es war etwas merkwürdig, daß dies Klothilde hinübergerufen hatte.
Doch wirklich, da kam eine Bewegung in die zusammengepferchte Masse.
Und da erscholl dort drüben auf dem Wrack eine sehr schöne Männerstimme, ein Lied angebend. Und dann fiel es hundertstimmig ein, am meisten klangen die hohen Kinderstimmen durch.
Klothilde hatte es auf englisch gerufen — Christmas — jetzt aber erklang dort drüben auf Deutsch ein Weihnachtslied, von Martin Luther, bei uns weniger bekannt, wenn es auch im Gesangbuch steht, in deutschamerikanischen Kirchen und Gemeinden zu Weihnachten dagegen sehr viel gesungen:
»Vom Himmel kam der Engel Schar,
Erschien den Hirten offenbar,
Sie sagten ihm: Ein Kindlein zart,
Das liegt dort in der Krippen hart . . . «
Da sank das Polarlicht in sich zusammen, erlosch so plötzlich wieder, wie es aufgeflammt war, undurchdringliche Finsternis umgab uns, und da verstummte auch plötzlich der Gesang. Aber es hatte genügt.
Ach, wie es da in meinem Herzen aufstieg, und wohl in unser aller!
Und hatten sie wirklich »Krippen« gesungen, nicht »Klippen«?
»Na‚ da fang doch nicht zu flennen an, Döskopp!« erklang neben mir eine ärgerliche Stimme. »Ach wat, nun wollen wir mal singen.«
»In Hamborg in Sankt Pauli,
Do geiht dat lustig tau . . . «
Und sie sangen weiter, meine Jungen. Matrosenlieder, weil es eben Matrosen waren.
Und überhaupt, was ist in dieser gesegneten Nacht zusammengeflucht worden!
Dafür aber war der Himmel uns auch nicht günstig. Das Nordlicht hätte uns doch eigentlich die ganze Nacht leuchten können. Statt dessen fings sofort auch noch zu schneien an.
Na‚ dann wurde eben weiter geflucht . . . und weiter gearbeitet! Auch ohne Nordlicht. Wenns eben nicht leuchten wollte, na, dann pfiffen wir einfach auf alle Nord— und sonstigen Lichter. Wir wurden auch ohne sie fertig. Prometheustrotz!
Und meine Jungen hatten ja auch allen Grund zum Fluchen. Doktor Isidor bekam immer einmal etwas zu tun. Mehr aber als gequetschte Finger und aufgeplatzte Zehen, auf die ein Brett gefallen war, und zerschundenen Knien gab es glücklicherweise nicht. Nur dem Matrosen Gottlieb mußte der linke Zeigefinger abgeschnitten werden. Na‚ da half er nun mit Kaffee kochen, von dem wir, wenn wir an Land kamen, immer einmal naschten, dazu ein paar Bissen Schiffszwieback.
Aber gegen acht Uhr erscholl ein gellender Schrei, dem andere Rufe nachfolgten.
»Ludwig, Ludwig, wo bist Du?!«
Keine Antwort. Und wir fanden ihn auch nicht.
Der Matrose Ludwig, derjenige, der das Wrack gesichtet, ohne den wir vielleicht überhaupt gar nichts davon erfahren hätten — gerade der war von den nassen, jetzt auch noch verschneiten Brettern abgeglitten, war zwischen die Riffe gestürzt — verschwunden!
Wir hielten uns nicht lange mit Suchen auf. An eine Rettung wäre überhaupt gar nicht zu denken gewesen.
Weiter geschuftet!
Nun aber konnten bald immer weniger Hände beschäftigt werden, auch alle Vorbereitungen waren schon getroffen. Dagegen fehlte es uns noch an dünnerem Tauwerk, auch mußten wir schon an den Empfang der Schiffbrüchigen denken, an Proviant und besonders auch an Decken.
Gleich 30 Mann gingen ab, wieder unter Führung von Juba Riata, der sie alle zusammen an die Leine nahm. So rückten sie ab im Schneegestöber.
Fünf Stunden später, gegen zwei, kamen sie zurück, besseres Wetter mitbringend und alles, was wir sonst noch brauchten. Und außerdem noch etwas Besonderes, womit wir sie nicht beauftragt hatten.
Aber unter ihnen war auch Ostar gewesen, der eine verbundene Hand hatte, und der mußte doch natürlich wieder etwas ganz Besonderes ausgeheckt haben, sonst wäre es doch nicht der Oskar gewesen.
Posaunen und Trompeten und Klarinetten brachten die Kerls mit.
Und nun ging es auch gleich los, Märsche und Walzer und Gassenhauer, geblasen von einem aus 20 Mann bestehenden Orchester!
Übrigens war es nicht etwas so ganz und gar Neues, was wir da aufführten.
Hast Du, lieber Leser, schon einmal gesehen, wenn in Kiel oder Wilhelmshaven oder in einem fremden Hafen ein deutsches Kriegsschiff Kohlen einnimmt?
Dies darf, wenn es die Verhältnisse irgendwie erlauben, nur in der Nacht geschehen. Wenn die Sonne aufgeht, muß das Kriegsschiff wieder wie aus dem Ei geschält daliegen.
Jedes größere Kriegsschiff hat eine Musikkapelle an Bord, und diese muß nun während der ganzen Nacht spielen, um den blauen Jungens die schmutzige, heillose Arbeit wenigstens in etwas zu erleichtern.
Es ist etwas Großartiges dabei. Aber man muß es selbst mitgemacht oder es wenigstens einmal in der Nähe beobachtet haben, um das Großartige zu begreifen. Solch eine nächtliche Kohlenübernahme eines deutschen Kriegsschiffes bei voller Musik!
Ich habe, auch wenn ich Einjähriger war — da muß alles rann! — mit geschippt und gekarrt und getrimmt, daß mir der Schweiß wie eine Dusche zum Buckel heruntergelaufen ist und ich an den hornigen Händen doch immer noch Blasen bekam.
Ja, da muß alles mit ran! Auch die Musiker!
Ach, diese armen Musikanten!
So weh mir der Buckel auch tat — ich habe die Musikanten nicht beneidet.
Die ganze Nacht ununterbrochen blasen!
Wir können doch ab und zu eine kleine Pause machen — die nicht!
Die müssen blasen und tuten und blasen, bis ihnen die Lunge zum Halse heraus kommt!
Bis dann endlich »rein Schiff« kommandiert wird. Die Matrosen und Heizer sind noch fähig, das ganze Schiff zu säubern — die Musiker könnten es nicht mehr, die knicken zusammen.
Und wenn dann die Sonne aufgeht, und sie spiegelt sich in dem blitzenden Messing, und das Deck glänzt und gleißt, und die Sonne weiß nichts davon, was hier während ihrer Abwesenheit für eine furchtbare Arbeit geleistet worden ist, eine kriegsmäßige Übung, deren Zeit bis zur Minute auch, aus dem fernsten Hafen der Welt sofort nach Berlin gemeldet werden muß, und die Hafenbewohner glauben, das deutsche Kriegsschiff hat sich nur so während der ganzen Nacht mit Musik amüsiert, die Matrosen hätten getanzt . . . o, es ist etwas Herrliches dabei!
Und so arbeiteten wir unter den Klängen der Posaunen, Trompeten und Klarinetten die zweite Hälfte der Nacht durch, so rückten wir Schritt um Schritt und Fuß um Fuß und Zoll für Zoll über die Klippen vor, auf das Wrack los, dann freilich auch wieder einmal gleich eine zehnmeterweite Kluft mit zusammengebundenen Brettern überspringend.
Als es gegen acht zu dämmern begann, waren wir vielleicht noch 50 Meter von dem Racker entfernt, aber die schwerste Arbeit war nun auch hinter uns.
Es war gerade um elf, als wir endlich nach dreiundzwanzig Stunden ununterbrochener Arbeit das letzte Brett legten, das uns mit dem Wrack verband, und da gerade brach hinter die Wolken die strahlende Sonne hervor, küßte mit warmem Hauch die blassen Gesichter der frostzitternden Schiffbrüchigen und küßte ihre schweißtriefenden Retter.
»Die Kinder, zuerst die Kinder!«
Die Ausladung ging in aller Ordnung vor sich.
Nur ein einziger Mann, ein amerikanischer Goldgräber, konnte es nicht erwarten, drängte sich rücksichtslos vor, einige Kinder beiseite schleudernd . . . der Matrose Theodor, der die Sache schon kannte und dem er gerade entgegenlief, setzte ihm sofort die Faust zwischen die Augen, schmetterte ihn zu Boden.
Das war die einzige Ausnahme gewesen, aber dieses Exempel genügte. Irrsinnige gab es nicht.
Das Hinübertragen der 52 Kinder bot gar keine Schwierigkeiten. Getragen wurden sie, auch wenn sie zum Selbstgehen fähig waren und selbst gehen wollten. Es hätte doch noch ein Unglück geben können. Jedes Ausgleiten, wenn man sich nicht an dem Seil festhielt, bedeutete den Tod.
Es waren die 52 Kinder des Balletts, zur Hälfte aus Jungen und Mädels bestehend. Wirklich keines über zwölf Jahre alt, einige aber auch erst vier Jahres alt! Eine Sünd und Schande!
Woher diese Kinder, sämtlich deutsch sprechend, stammten, davon werde ich später berichten, so weit sich dies überhaupt ermitteln ließ.
Es waren aber auch noch andere Kinder vorhanden, teils eben als Artisten auftretend, teils . . . Mißgeburten.
Denn mit dem amerikanischen Zirkus war, wie dort üblich, gleich eine Abnormitätenschau verbunden gewesen.
Die tierischen Mißgeburten waren unten im Zwischendeck sämtlich ersoffen, nur die menschlichen lebten noch, eine ganze Menge, die ich aber jetzt nicht etwa zu beschreiben gedenke. Wenn es nicht gerade mit dem Rettungswerke zusammenhängt.
So war da zum Beispiel ein zehnjähriger Junge, der etwas über zwei Zentner wog. Der hätte ja eigentlich zu den Männern gerechnet werden müssen, aber im anderen Sinne war er noch mehr als ein Kind . . . etwas blödsinnig, konnte nichts weiter sagen als »schu dick. Da wir das gleich merkten, wurde auch er gleich an Land getragen.
Jawohl, den zweizentrigen Jungen an Land tragen, über die schwankende Brücke weg, aus schmalen Brettern bestehend, die sich schon durch das Gewicht eines einzelnen normalen Mannes manchmal wie die Gerten bogen, überschwindelnde Tiefen, in denen es von Felsenspitzen starrte, aus so schrägen Brettern, daß man sich überhaupt nur an dem Barrierenseil Hand über Hand fortziehen konnte!
Der Matrose Albrecht war es, der das kleine oder vielmehr sehr stattliche Mastschwein auf den Rücken nahm. Der geistesgestörte Albrecht, der immer nur putzen wollte!
Aber jetzt war er nicht mehr geistesgestört. Sobald er gehört, um was es sich handelte, da hatte er mitgewollt, und es hatte nichts genützt, daß wir ihm die schönsten Sachen, mit Grünspahn überzogen, zum Putzen gegeben.
Er war mitgegangen. Und er war der tüchtigsten Arbeiter einer gewesen.
Aber wenn wir geglaubt, das wäre eine Krisis gewesen, jetzt wäre er wieder normal, so hatten wir uns geirrt. An Bord fing er gleich wieder zu putzen an,
Doch jetzt huckte er den zweizentrigen Jungen auf. Und dazu war auch Albrecht am geeignetsten. Er war erst nach seiner vierjährig—freiwilligen Marinezeit für immer zur See gegangen, zur Kauffahrtei, früher war er Müllerbursche gewesen, na, und da mußte er wohl so einen Zweizentnersack schleppen können.
»Schu dick!« sagte der Bengel, als er die Arme um Albrechts Hals schlingen sollte,
Er mußte festgebunden werden.
»Nun schlinge Deine Beine um seinen Leib!«
»Schu dick.«
»Verstehst Du uns?«
»Schu dick!« war die stereotype Antwort, und dabei steckte der Blödsinnige sein Zünglein immer heraus.
Es war noch mehr ein Wage- als ein Kraftstückchen, den jugendlichen Koloß hinüberzutragen, aber es gelang.
Hier auf dem Wrack blieb ja alle Heiterkeit aus, aber an Land, sobald wieder so ein Häufchen Unglück in Sicherheit war, da mußte sich der Matrosenwitz unbedingt Luft machen, oder es wären eben keine deutschen Matrosen gewesen, wovon freilich sehr bald auch die Heizer und Kohlentrimmer angesteckt werden.
Wie ich am Lande drei Kinder ablud, die mir auf den Rücken gebunden worden, kam wieder ein Matrose an, Wilhelm, mit zwei Kindern bepackt.
Bedächtig lud er sie ab, und wie er sie betrachtete, machte er ein überaus dämliches Gesicht.
»He, wat is denn dat? Wer hat denn die beiden zusammengelascht?!«
Die beiden Kinder, ein Junge und ein Mädchen, waren mit dem Hinterteil zusammengewachsen.
Wilhelm tat, als könne er das durchaus nicht begreifen, obwohl er es recht gut konnte.
»Wat, Gaukler?!« rief er dann, als man ihm davon gesagt. »Dat sind Gaukler wie wir? Dann sind das doch Konkurrenten von uns! Na‚ da smeet see nur wedder int Water!«
Noch muß ich einen halbwüchsigen Jungen erwähnen, der nur ein Bein hatte, aber gleich so geboren, es war auch fast in die Mitte gerückt, als eine Mißgeburt, und an diesem sonst ganz normal entwickelten Beine hatte er keinen Fuß, es war eine Gummiplatte daran gesetzt.
»Jim Snyder aus Melbourne, genannt das einbeinige Känguruh.«
So meldete das Zirkusprogramm.
Das erste stimmte nicht. Er war in Nordamerika von deutschen Eltern geboren und gegen eine horrende Summe an so einen Unternehmer verkauft oder vermietet worden, was in solchen Artistenkreisen ja alles möglich ist. Aber die letztes Bezeichnung stimmte.
Der Bengel wollte sich nicht auf den Rücken nehmen lassen, und ehe wir es uns versahen, war er schon davongesprungen, setzte mit seinem einen Gummifuße die ganze Brücke entlang, sprang den ihm begegnenden Männern über die Köpfe weg, wozu sie sich allerdings etwas bücken mußten, ganz genau wie ein richtiges Känguruh, vorausgesetzt, daß ein Känguruh auf seinen zwei Beinen wirklich so springen kann, mit solcher Kraft und Gewandtheit und Grazie, die steilsten und glättesten Strecken hinauf, mit fabelhafter Sicherheit!
Dann kamen die Weiber daran. Unter diesen waren auch sechzehn englische Mädchen, solche verrückte »Girls«, die taratabumdeay singen und dazu tanzen, mit den Beinen Buttermilch in der Luft quirlen.
Das heißt aber, jetzt sangen und tanzten sie nicht. Die Hälfte von ihnen war nur im Hemdchen. Nicht einmal Lockenwickel hatten sie an.
Als die durchweg sehr, sehr schlanken Dämchen von meinen Matrosen auf den Rücken genommen worden, da brach auch noch einmal so ein Witzfunke hervor, gleich hier noch auf dem Wrack, es kam ja doch manchmal vor, so wie auch die Sonne sich manchmal versteckte und wiedererschien.
»Gucke mal, Garl, was die für dürre Beene hat,« sagte der Heizer Schorschl, dessen Wiege am Strande der sächsischen Elbe gestanden, als er sich ein TaratabumdeayGirl im Hemdchen auflud, wobei er doch auch ihre Beine unter seine Arme nehmen mußte, und wenns eine Frau Bürgermeisterin gewesen wäre.
»Na, da baß nur uff, Schorschl,« entgegnete Garl, ebenfalls von da unten her, »daß Du unterwegs geene Knochen verlierscht.«
Unter den Frauen aber war eine, die wir bis zuletzt lassen mußten.
Eine Riesendame. Oder nein, keine Riesendame, so groß war sie gar nicht, wog aber noch etwas mehr als vier Zentner.
Sie war noch gar nicht so alt, hatte ein wirklich hübsches Gesicht, einen Mund so klein, daß sie kaum eine Wallnuß hineinbrachte, dagegen wahre Elefantenbeine, schon die Waden waren wie die eines Elefanten, und dementsprechend dick war alles an ihr.
»Madame Pompadour, die schwerste Dame der Welt!« meldete der Zirkuszettel.
Ich bemerke gleich, daß sie noch länger bei uns an Bord bleiben sollte, und aus Madame Pompadour machten meine Jungen natürlich sofort »Mama Bombe«.
Also die konnten wir nicht so ohne weiteres hinübertragen. Dieses Gewicht hätte auch nur August der Starke tragen können, das hätte zusammen sieben Zentner ergeben, und darauf war unsere Brücke nicht geaicht.
Den Prüfstein für ihre Tragfähigkeit hatte schon immer August abgeben müssen, deshalb hatten wir auch Albrecht ohne besondere Sorgen mit dem zweizentrigen Jungen abgehen lassen, aber dieses vierzentrige Maststück auf dem Rücken eines anderen, es brauchte gar nicht August zu sein — nein, das durften wir nicht wagen, und da half nun auch keine Verstärkung mehr, die war überhaupt gar nicht mehr anzubringen.
Nun, zuerst einmal alle Männer hinüber. Wer von diesen selbst geben wollte, durfte es, aber wer getragen werden wollte, wurde gebuckelt, es waren genug dabei, und wir konnten es ihnen nicht verdenken 36 Stunden lang und jetzt schon länger so regungslos stehen, immer von eisigem Wasser umspült, und nun dazu diese Seelenverfassung!
Unterdessen hatte ich meinen Plan überlegt, auch schon die Vorbereitungen dazu getroffen.
Das Gewicht mußte auf möglichst lange Strecken verteilt werden. Also die Riesendame wurde an eine lange Stange gebunden.
Ach Gott, ach Gott!
Und so wimmerte auch fortwährend die Madame Pompadour.
Aber in echt berlinerischem Dialekt.
»Ach Jotte ooch, ach Jotte ooch!«
Und zu diesem Wimmern hatte sie ja auch allen Grund.
Wir banden das arme Weib wie eine abgebrühte Sau in der Mitte der Stange an, banden ihr auch, damit sie sich nicht etwa anklammern konnte, die Hände zusammen, fesselten sie regelrecht. Und dabei hatte das arme Weib ebenfalls nur ein Hemd an, dazu noch ein sehr kurzes. So hatte sie in der Koje gelegen, so war sie nach der Katastrophe an Deck gestürzt.
Das heißt, uns war nicht etwa lächerlich zumute, und auch sonst hatten wir alles andere im Kopfe!
Wie diese vier Zentner nun über diese schwankende Brücke bringen . . . in solch einer Situation ist es einem verdammt egal, ob dieses lebende Gewicht nun eine Freifrau von, auf und zu oder eine Hökenfrau ist, ob sie ein Ballkleid anhat oder überhaupt gar nischt.
Zwei Träger durften es nur sein. Den einen machte ich, das war von vornherein bei mir beschlossen. Ich fühlte mich befähigt dazu, und überhaupt, das ließ ich mir hier als Anführer der Bande nicht nehmen — wenn schon, denn schon — wenn hier jemand den Todessturz machte, dann hatte ich ihn zu machen.
Als zweiten Träger wählte ich Albert. Den Sänger. Denn der war nicht etwa zurückgeblieben, in der Befürchtung, er könne bei der Geschichte durch einen Halskatarrh seine Stimme verlieren. Das gabs bei dem nicht!
Und einmal war Albert ein baumstarker Kerl, wenn man es ihm auch nicht ansah, ebensowenig wie mir magerem Häring, und dann vor allen Dingen war Albert die phlegmatische Ruhe selbst, und das war dabei die Hauptsache.
Und wir beide fuhrwerkten los, die acht Meter lange Stange mit der aufgebaumelten Riesendame zwischen uns. Ich wage gar nicht mehr daran zu denken. Einmal hatte ich die allergrößte Lust, die Stange von der Schulter gleiten zu lassen und mich kopfüber in die Tiefe nachzustürzen, denn überleben hätte ich das ja nicht können.
»Ach Jotte ooch, ach Jotte ooch!« fing in diesem Augenblicke wieder die Madame Pompadour zu wimmern an.
»Wat seggt see?« fragte da vorn Albert! »Hürt, Waffenmeister — ick mutt immer dran denken — ob der wohl ook schuhplatteln kann?«
Ich blieb die Auskunft schuldig.
Aber mit einem Male war meine Schwäche vorüber.
Und wir brachten sie ans Ufer.
Als die letzte Person vom Wrack, nachmittags gegen drei.
Am Ufer warteten wohl noch einige Leute von uns, aber von den anderen Schiffbrüchigen war niemand mehr da. Sie hatten nur etwas Kaffee und Zwieback mit Fleischextrakt und Cornedbeef bekommen, dann mußten sie weiter, und wer nicht selbst gehen konnte, der wurde getragen oder gezogen oder geschleift, aber jedenfalls fort, fort an Bord unseres Schiffes! Eine Nacht wollten wir nicht mehr hier zubringen.
Daß dieses Riesenweib gehen konnte, daran war gar kein Gedanke. Nun ließen wir sie aber auch gleich an der Stange hängen, wie sie einmal hing. Nur daß wir ihr die Hände aufschnürten und ihr zu trinken und zu essen gaben. Na‚ wie die schlang! Und dann natürlich wickelten wir sie in Decken.
Dann weiter mit ihr, trotz der großen Last im Geschwindschritt, jetzt freilich immer auf jeder Seite drei Mann unter der Stange. Nur beim Passieren der mit schmalen Brettern überbrückten Schluchten wurde der schnelle Schritt gemäßigt. Halb fünf wurde es stockfinster, und wir waren noch mindestens eine Stunde vom Schiffe entfernt und hatten zufällig keine einzige Laterne bei uns!
Da aber begrüßte uns schon Hundegebell, ein Lichtchen tauchte auf — es war der unverwüstliche Jubai Riata, der uns als Führer entgegenkam.
Eine Stunde später legten wir Madame Pompadour an Deck unseres Schiffes nieder.
Ach, wie wohl mir da zumute war!
Mister Carlistle stürzte auf mich zu.
»Waffenmeister — Mister Stevenbrock — denken Sie sich . . . meine Königin ist erwacht!«
»Ach, Quark, hängt Euch beide auf!« war meine Antwort.
Na‚ zum Teufel noch einmal — kommt der splienige Kerl jetzt mit seiner Traumkönigin angerückt, wo ich mich hier seit drei geschlagenen Stunden mit einer menschlichen Bombe von vier Zentnern netto herumbalge!
Übrigens hatte der Sternkieker seine Traumkönigin schon öfters lebendig gesehen, aber es war immer nur so eine Vision in seinem verschrobenen Gehirn gewesen, und diesmal war es auch nicht anders. Die Inderin lag noch kalt und starr in ihrem Salon.
Ich wußte schon, wo ich die Patronin zu finden hatte. Dort, wo einstweilen die Kinder untergebracht waren, in der großen Kajüte.
Ja, da lagen sie, die 52 fliegenden Engel, und einige kleine Mißgeburten dazwischen, gut gebettet und in Decken gewickelt. Alles in tiefem Schlafe. Einige aber hatten vorher noch gegessen — oder gefuttert, wollen wir lieber sagen, sie hatten als erste Füllung des maltraitierten Magens Hafergrütze mit Syrup bekommen. Die Schüsseln standen noch am Boden herum, es sah wirklich nicht viel anders aus, als hätten kleine Schweinchen ihre Mahlzeit gehalten, was sie nicht bewältigen konnten, das hatten sie sich ins Gesicht und in die Haare geschmiert und so lagen sie da, in süßem Schlummer und bedeckt mit durch Syrup versüßter Hafergrütze.
Klothilde war eben dabei, diese Schüsseln und Teller beiseite zu räumen, und die Patronin saß in einem Lehnstuhl, die Hände im Schloß gefaltet, und ließ ihre verklärten Blicke über die verkleisterten Engelchen schweifen.
Bei meinem Eintritt erhob sie sich, kam mir entgegen, hatte es aber nicht eben eilig, mir ihre Arme um den Hals zu legen, und ebenso langsam — oder feierlich, will ich sagen — kam es heraus aus ihrem Munde:
»Heute ist mein Geburtstag!«
Na‚ dann war das große Geheimnis endlich heraus! Ich hatte ihren Geburtstag schon immer zu erfahren versucht. Der Geburtstag unserer Patronin mußte doch gefeiert werden. Die Patronin war etwas ganz anderes als der Kapitän. Aber vergebens, der war nicht zu erfahren gewesen.
»Ach, der ist schon lange vorbei!l« hatte sie das eine Mal gesagt, und das andere Mal: »Ach, bis dahin ist noch lange Zeit.«
Nun aber war es heraus, und ich zweifelte nicht, daß sie die Wahrheit sprach.
»Georg, heute ist mein Geburtstag!« wiederholte sie noch einmal an meiner Brust, aber mehr jauchzender als vorhin, und dabei patschte sie mir mit ihren ebenfalls mit Syrup und Hafergrütze bekleisterten Händen im Gesicht herum. Und wie sie das gejauchzt und das getan hatte, da war diesmal ich derjenige, der plötzlich einen Weinkrampf bekam. Den ersten in meinem Leben und hoffentlich den letzten.
38. KAPITEL. WIR SICHTEN UNSERE KONKURRENTEN UND WAS WIR SONST NOCH ERLEBEN.
Die Sonne ging auf und ging wieder unter, und wir dachten gar nicht daran, die Schiffbrüchigen nach einem Hafen zu bringen.
Dieser ganze Tag wurde mit Schlafen und Essen und Essen und Schlafen hingebracht und nur ab und zu eine Meinung ausgetauscht.
Gut wäre es ja gewesen, wenn die Kunde von dem Schiffbruch der »Golden City«, und der Rettung ihrer Mannschaft und der Passagiere schnellstens nach San Franzisko kam. Das konnte auf telegraphischem Wege auch von Viktoria aus geschehen.
Aber jetzt Dampf aufmachen — ich hätte mir doch lieber die Hände abgehackt, ehe ich meinen Jungen so etwas zugemutet hätte, auch nicht für die Barkasse, die überhaupt bei diesem Seegange gar nicht hinausgehen konnte.
Da in aller Frühe dieses ersten Tages erbot sich der unverwüstliche Juba Riata, die Meldung nach Viktoria zu bringen, über Land, in drei Tagen wollte ers schon schaffen. Mister Tabak wolle ihn begleiten, sie hätten schon zusammen gesprochen.
Na‚ wenn die beiden wollten — des Menschen Wille ist sein Himmelreich.
Mit Mühe und Not brachte ich Kapitän Swift wach, er setzte einen Bericht auf, der von seinem Steuermann und einigen von uns als Zeugen unterschrieben wurde.
Auch Major Deware gab ein Schreiben mit. Über den und seine drei Leute habe ich bei dieser Affäre nichts weiter gesagt. Na‚ die hatten eben mitgemacht, waren mitgekommen und hatten geholfen, was sie hatten helfen können. Die Brücke freilich hatten sie ja mit keinem Schritte betreten. Und was der alte Major und der noch ältere, bärbeißige Wachtmeister so ab und zu äußerte, das mag ich nicht wiederholen. Der alte Wachtmeister jedenfalls hatte seine Bärbeißigkeit meinen Jungen gegenüber plötzlich total verloren, war förmlich schüchtern wie ein kleines Mädchen geworden.
»Wenn die »Argos« wieder nach Viktoria kommt, sollen Sie und Ihre Leute ja nach Gebühr empfangen werden, und wenn es nach mir ginge, dann würde ein Denkmal errichtet werden, wie es kein zweites in der Welt gibt.«
So, das will ich nur erwähnen, sagte der Major, als er sein Schreiben brachte. »Na, Herr Major, damit ist uns nicht gerade gedient, mit so einem Empfang, für den ich mir am Ende gar erst einen Frack bauen lassen muß!« entgegnete ich.
»Würde der Bote nicht auch diesen Brief von mir an das englische Konsulat mitnehmen?«
Der dies fragte, war ein Herr im warmen Sportanzug, mit eisgrauem Haar, aber noch mit ziemlich jugendlichem Gesicht, im übrigen eine höchst sympathische Erscheinung, freundlich und bescheiden und dennoch einen ganz exklusiven Eindruck machend.
»Wer sind Sie, bitte?«
»Ich heiße Mac Miller, bin ein Engländer, hatte eine Reise nach Alaska gemacht, nur zum Vergnügen, oder auch aus wissenschaftlichem Interesse. Ich möchte doch so bald als möglich meine Angehörigen benachrichtigen, was dann das englische Konsulat in Viktoria auf telegraphischem Wege besorgt.«
»Selbstverständlich kann der Brief mitgenommen werden.«
Diese Sache war erledigt. Weiter kam aber niemand mit Briefen, alle anderen lagen in tiefem Schlafe.
Juba Riata und Mister Tabak rückten auf Schneeschuhen ab, letzterer gab Volldampf, und auch ich legte mich, nachdem ich noch einmal den Magen vollgepfropft, gleich wieder schlafen, um im Traume allen transtinkenden und schmanttrinkenden Eskimos eine Liebseserklärung zu machen, und Klothilde gab ihren Segen dazu, wozu sie aber erst auf einer Felsenspitze einen noch höheren Balken hinaufkletterte.
So also wurde dieser ganze Tag verdämmert, erst am nächsten befanden wir uns wieder in richtiger Verfassung, außerdem aber noch viel mehr in seligster Stimmung.
Erst jetzt hielten wir nähere Umschau unter den Geretteten. Die meisten meiner Jungen hatten ja eine lebendige Bürde auf dem Rücken gehabt, ohne zu wissen, ob weiblichen oder männlichen Geschlechts, ob nur mit einem Beine ausgestattet oder gleich mit dreien.
Ja, da erblickten wir nun freilich seltsame Gestalten. Aber ich will sie nicht etwa alle einzeln schildern. Die meisten verließen uns ja überhaupt bald wieder, derer will ich gar nicht erst gedenken, und die anderen, die bei uns blieben, bekommt der Leser so nach und nach vorgestellt, wenn eben gerade die Gelegenheit zur Vorstellung ist.
Das kann auch sofort beginnen.
»Wenn der sich hinlegt, dann ist ein Bandlwurm.«
So sprach Joseph ein Matrose, wie unser zweiter Bootsmann gleichfalls ein Bayer.
So hatte ich ihn sagen hören, als ich am zweiten Tage wieder das Deckt betrat.
Er hatte einen Riesen von 2,35 Meter Länge gemeint. Aber auch ausschließlich in die Länge gewachsen. Dürr wie eine Hopfenstange, von Schultern gar keine Spur, hingegen war ein gut Teil seiner Länge auf den Hals zu rechnen.
Der Matrose oder Heizer, der ihn getragen, hatte ihn wie ein Tau über dem Nacken hängen gehabt.
Bandlwurm hatte der bayrische Joseph gesagt, nicht Bandwurm.
Na‚ da war »General Tim Tom, der größte Mensch der Welt«, natürlich unser »Bandlwurm« geworden.
Ich hatte mich auf dem Wege zur Patronin befunden, setzte ihn fort, fand sie im großen Badezimmer, auch für Massendusche eingerichtet, mit hochgekrempelten Ärmeln im Kostüm einer Scheuerfrau, und scheuern tat sie auch, schrubbte ein Dutzend der kleinsten fliegenden Engel ab, Klothilde schmierte sie mit grüner Seife ein. Besonders die Haare, die aber auch noch eine andere Salbe nötig hatten, weil sich darin kleine Gäste angesiedelt hatten. So etwas bleibt ja auf solch einem Passagierdampfer selten aus, und diese Tierchen machen sich verdammt wenig aus eiskaltem Seewasser.
»Du, Georg, denke Dir mal . . . die haben alle Läuse!« begrüßte mich die Patronin seelenvergnügt.
Na‚ dann hätte ich nicht erst so zarte Andeutungen zu machen brauchen.
Dann betrachtete sie, mit der Schrubbarbeit einhaltend, tiefsinnig und zärtlich zugleich den kleinen verlausten Engel, den sie gerade unter der Bürste hatte, einen vielleicht fünfjährigen Jungen, der aber auch wirklich einem Engel glich! Außer dem herrlichsten blonden Lockenkopf mit klassischen Zügen die harmonischsten Körperlinien, alles wie gemeißelt, zart und ungemein kräftig zugleich.
Na ja, zu solchen Kindern, die Ballett tanzen müssen und an Drähten durch die Luft fliegen, sucht man sich doch überhaupt die schönsten aus, besonders wird auf volle, schöne Körperformen geachtet, und das Weitere tut die fortwährende Übung, verbunden mit gutem kräftigem Essen, wie es doch bei solch einem großen Zirkus verabreicht wird.
Ich bemerke von vornherein, ehe wir sie so sortierten, daß von den 52 Kindern dieses Ballette 32 Knaben und 20 Mädchen waren, also nicht genau halb und halb, wie wir erst annahmen.
Man müßte eigentlich annehmen, daß sich für irdische Engel, die in Trikots an Drähten aufgebaumelt werden. Mädchen mehr eignen als Jungen. Wegen der Körperlinien.
Nein, gerade das Gegenteil ist der Fall. Wenigstens wenn es sich um kleine Engelchen handelt.
Ich möchte den Leser einmal auf etwas aufmerksam machen.
Wenn man in einer Gemäldegalerie alle die Bilder betrachtet, besonders Heiligenbilder, auf denen Engel vorkommen, so wird man durchweg finden, daß alle kleineren Engel Buben sind. Aber wenn sie größer werden, mehr in die Jahre kommen, dann werden Mädchen draus. Aber im zarten Engelsalter sind es durchweg Jungen.
Na‚ diese Maler haben eben gewußt, weshalb diese Metamorphose. Und der Mann, der dieses Kinderballett zusammengestellt hatte, das war doch schließlich auch ein Künstler, wußte wenigstens, worauf es ankam. Kurz, bis zum sechsten oder siebenten Jahre, und das waren die meisten, waren es lauter Knaben, erst dann kamen in der Mehrheit Mädchen, nur einige wenige ältere, dicke Buben dazwischen.
»Georg, was meinst Du dazu — ich habe eine Idee — wir wollten doch Schiffsjungen annehmen — wenn wir diese Kinder erzögen . . . «
Ich weiß gar nicht, weshalb mich plötzlich so ein Schreck durchzuckte.
Wie ich den fünfjährigen Engel anstarrte und mich dabei impulsiv in den Haaren kratzte.
»Ab . . . aber — Helene — die . . . die Mädchen auch?« konnte ich nur stammelnd hervorbringen.
»Nein, die Mädchen nicht, mit solchen Experimenten, durch Schiffsmädchen einen neuen weiblichen Beruf zu eröffnen, wollen wir uns lieber nicht befassen!« lachte sie zurück. »Natürlich nur die Jungen. Was meinst Du dazu?«
»Ab . . . aber,« hatte ich immer noch nicht die Sprache ganz wieder, »die sind doch noch so winzig klein . . . «
»Nun, dieser Fehler würde sich mit jedem Tage verbessern. Und ab wir überhaupt nicht ein gutes Werk tun, wenn wir diese Kinder dem Zirkusleben entführen? Erst handelt es sich doch nur um eine Erziehung, und die könnten wir ihnen doch an Bord ganz gut geben.«
Ich hatte mich wieder zusammengerafft.
»Nein, Helene, das ist nicht so einfach, wie Du Dir es denkst. Diese Kinder sind doch gar wertvolle Objekte, die sind durch irgend einen Kontrakt ihrem Manager mit Leib und Seele verpflichtet . . . «
»Dieser Manager ist aber tot!«
»Tot?!«
»Jawohl, Mister Ephraim Snatscher, wie er hieß, ist bei dem Schiffbruch verunglückt, ertrunken, über Bord gewaschen worden.«
»Verunglückt?!«
Ja, so war es. Diese Kinder hatten es gesehen, auch noch andere, wie der alte Herr noch in der ersten Nacht über Bord gewaschen worden war.
Aber der Kapitän hatte es nicht gesehen, nicht sein Offizier, nicht die meisten anderen — na‚ und die hatten sich über solche Kleinigkeiten nicht unterhalten.
Also war es ein falscher Bericht gewesen, den wir abgeschickt hatten, ein Passagier hatte dabei seinen Tod gefunden. Na‚ das hatte ja nichts weiter zu sagen.
»Aber dieser verunglückte Manager wird doch Rechtsnachfolger haben, die nun in den Kontrakt eintreten können.«
»Ja, darüber können mir diese Kinder nichts sagen, da müssen wir uns an eine andere Quelle wenden.«
Dann wurde sofort Gelegenheit. Siddy meldete, daß der Herr Direktor Smetani der Frau Patronin seine Aufwartung zu machen wünsche.
Ja, das konnte geschehen. Die Patronin überließ die Kinder der Klothilde, warf sich ein Morgenkostüm über, und wir empfingen den Herrn.
Es war ein italienischer Zirkusdirektor, wie er im Buche steht, das hagere, verlebte, aber nicht unsympathische Gesicht mit einem mächtigen schwarzen Knebelbart verziert. Nur daß es eigentlich ein Österreicher war.
»Erlaubens, daß i hereinspazier — kiß d'Hand, gnä Frau —1i hob die Ehr . . . «
Und so weiter. Und dabei purzelten ihm schon die Tränen über die faltigen Wangen herab.
Einmal, weil er noch unter dem Eindruck der Todesnot und der Rettung stand, und zweitens, weil er, wie er uns gleich offenbarte, durch den Schiffbruch die schwersten pekunären Verluste erlitten habe. Zwar war alles, was er dabei verloren hatte, versichert gewesen, das bekam er bezahlt, — aber als Zirkusdirektor konnte er für lange Zeit nicht mehr arbeiten, er mußte überhaupt sein ganzes Personal entlassen, drei Engagements für große Städte gingen ihm verloren.
»Wissen Sie, daß Mister Snatcher verunglückt ist?«
Ja, der wußte es.
»Verheiratet war er nicht?«
»Aber nein, gnä Frau!« erklang es, als wäre es eine beleidigende Frage gewesen.
»Ist es denn so ausgeschlossen, daß der verheiratet gewesen ist?«
»Abber jaaa gnä Frau!l«
»Weshalb denn?«
Ich fasse es kurz zusammen, was wir so nach und nach erfuhren.
Dieser Ephraim Snatcher, ein echter Yankee, war ein Geizknüppel ersten Ranges gewesen. Den Kindern hatte er ja bei ihrer anstrengenden Arbeit kräftiges Essen verabreichen müssen, aber sonst . . . nur keinen roten Cent ausgeben! Es war ein alleinstehender Mann gewesen, er hatte auch alles, alles allein gemacht. Nur daß er für die Kinder von Gesetzes wegen einen Privatlehrer halten mußte, den er aber auch danach bezahlte.
Übrigens hatte er nicht allein dieses Kinderballett »gemanaget«, sondern auch noch einige andere Kinderspezialitäten. So zum Beispiel waren auch der zweizentrige »Schudick« und das menschliche, einbeinige Känguruh sein »Eigentum«.
»Wo hat er denn diese Kinder her?«
Das konnte Direktor Smetani alias Schmidt nicht sagen, auch kein anderer. Wie solche Kinder eben verkauft werden. Von ihren Eltern oder von Kindesräubern oder von sonst wem, ganz wie richtige Ware. Dann läßt solch ein Unternehmer die Kinder bei anderen Truppen ausbilden, oder er tut es selbst, aber immer in aller Heimlichkeit, bis er mit ihnen in der Öffentlichkeit erscheint. Dann weiß niemand mehr die Abstammung dieser Kinder.
Zum ersten Male hörte ich damals von solchem Kinderhandel für Zirkus- und Varieteebetriebe und sonstige Schaustellungen, und der erstreckt sich nicht etwa nur auf Amerika, sondern umspannt die ganze Welt.
O, man sollte nicht nur allein, wie es jetzt geschieht, den »Mädchenhandel« verfolgen. Es gibt zahllose Kinder, die des Schutzes noch viel mehr bedürftig sind.
»Was wird denn nun aus diesen Kindern?«
Ja, das war eine fatale Sache. Mister Snatcher war in Artistenkreisen eine weltbekannte Persönlichkeit gewesen, aber von seinen Verhältnissen wußte niemand etwas. Und seine Papiere befanden sich in seinem Koffer dort im Wrack, waren verloren.
Überhaupt ist solch ein Kinderhandel doch nicht etwa gesetzlich geregelt, anerkannte Kontrakte gibt es da gar nicht, also kann auch kein Erbe eintreten.
Diese namenlosen, ortsunansässigen Kinder waren jetzt wie die herrenlosen Hunde. Wer sich ihrer annahm, dem gehörten sie, bis sie ihm wieder davonliefen. Die Kunst besteht eben darin, in solchen Kindern den Gedanken an ein Fortlaufen gar nicht aufkommen zu lassen. Also kann von einer schlechten Behandlung nicht viel die Rede sein. Oder aber . . . gerade das Gegenteil! Die schmählichsten Prügel! Das sind dann aber Stümper in ihrem Fache. Die hier hatten nichts zu klagen gehabt.
Sonst, wenn sie einmal davon laufen, kann man natürlich nicht etwa die Hilfe der Polizei anrufen. Dann werden sie eben in eine Fürsorgeanstalt gesteckt.
So hatte uns Direktor Smetani erklärt.
»Ich nehme sie nicht. Ich habe jetzt anderes vor. Und nun überhaupt — diese Rasselbande! Mister Snatcher verstand sie im Zaume zu halten —— ich könnte es nicht. Der Pepi, einer meiner Clowns, will sich ihrer annehmen, mit ihnen reisen. Ich habe wenigstens schon so etwas munkeln hören.«
»Könnten wir sie hier an Bord behalten?«
»Abberrr jaaa! Sie sind doch auch so ein Zirkusunternehmen, ich habe doch schon genug von Ihnen gehört, von dem schwimmenden Zirkus des Argonautes, nehmen Sie das fliegende Kinderballett mit in Ihr Programm auf . . .«
»Nein, nein, das ist es nicht!« wehrte die Patronin mit leisem Lächeln ab, während ich den Kerl schon bald beim Kragen genommen hätte, um ihn hinauszuschmeißen. »Wir möchsten nur einige Knaben an Bord behalten, um sie zu Seeleuten auszubilden . . .«
»Abberrr jaaa! Suchen Sie sich doch die besten Exemplare aus!«
»Wohin dann aber mit den anderen? In eine Erziehungsanstalt bringen?«
»Abberrr nein!« schlug der Zappelmann — denn ein solcher war es — gleich die Hände über dem Kopfe zusammen. »Bedenken Sie doch die arrrmen Kinderrrchennn, die haben nun getanzt von früh bis abends, was sollen die nun in einer Erziehungsanstalt . . . «
Er sprach noch weiter, und der Mann hatte ganz, ganz recht! Mir gefiel es sogar sehr an ihm, daß er gleich auf diese Weise für die Freiheit der Kinder eintrat. Etwas eigentümlich, aber . . . er gehörte doch selbst zu den fahrenden Leuten, jetzt sprach er in echtem Mitleid für diese Kinder.
Die Sache war erledigt. Wir würden uns die brauchbarsten Jungen aussuchen und die übrigen nebst sämtlichen fliegenden Mädchen großmütig einem anderen überlassen.
O, ich freute mich wirklich schon riesig darauf, solche sechs— bis zehnjährige Jungen — jüngere konnten wohl schwerlich in Betracht kommen — die schon halb und halb zu kleinen Akrobaten ausgebildet worden waren, in meine weitere Dressur zu nehmen, ich wollte schon aus ihnen etwas machen! Und auch in moralische Erziehung wollte ich sie nehmen! Denn daß da böse Pflanzen dazwischen waren, das war ja zu erwarten. Jedenfalls aber hätte ich bei Jungen, die mir aus Waisenhäusern und Fürsorge, also Besserungsanstalten übergeben worden wären, alle schon über 14 Jahr alt, der Moral nach ein noch viel ungesünderes Material erhalten.
Wie ich durch den etwas dunklen Korridor ging, kam mir etwas zwischen die Beine, ein dünnes Stimmechen kreischte auf.
»O, mein Kind, ich habe Dich doch nicht getreten?!«
»Nicht sehr, mein Herr, nicht sehr!« winselte das zarte Stimmechen.
Ich hob das Geschöpfchen auf, fühlte kaum ein Gewicht, setzte es auf meinen Arm.
Jetzt mußte man verdammt vorsichtig sein, überall wiebelte und kriebelte es von Kindern. Meine Jungen saBen schon wieder feste bei der Schneiderarbeit, die meisten hatten doch nur ein Hemdchen angehabt, nur notdürftig bekleidet waren sie alle gewesen, und mindestens wollte ich diesen Kindern hier erst etwas Wintervergnügen bereiten.
Ich trat in helles Licht. Es war ein kleines Mädchen, das ich auf dem Arm hatte, trug, wie ich gleich bemerkte, es trug ein Kleidchen von unserer Ilse. Na‚ für unsere Ilse war ja das überhaupt etwas!
Ein kleines Mädchen? Gewiß das war sie. Aber wie alt? Vier Jahre? Nein, war das nicht eine — eine Puppe?
Ja, zum Teufel, hatte dieses kleine, überaus zarte Geschöpfchen nicht schon einen ganz regelrechten Busen?!
Kurz und gut, ich wurde nicht klug aus dem Dinge, was ich da auf dem Arme hatte, und ehe ich selbst auf den Trichter geriet, kam da ein Junge anspaziert, einer von den wenigen, der bei dem nächtlichen Schiffbruche Pumphosen angehabt hatte, auch so ein vierjähriger Knirps.
»Herr Waffenmeister?« fragte er.
Hallo! Ich starrte den Knirps nicht schlecht an. Hatte der eine Baßstimme für seine Wenigkeit!
»Wie alt bist Du denn, mein Kleiner?«
»Zweiundvierzig Jahre!« entgegnete die Baßstimme.
Ja, nun merkte ich es. Es war ein Zwerg, noch nicht ganz einen Meter hoch.
Das heißt, daß die Patronin den nicht etwa aus Versehen mit abseifte!
Der glich nur im Äußeren einem vierjährigen Kinde, hatte auch ein Kindergesicht, aber nur, wenn man nicht genauer hinsah — sonst gerade das Gegenteil davon, wie es auch schon seine Stimme verriet.
»Ja, der Waffenmeister dieses Schiffes bin ich. Sie wünschen?«
»Wenzel ist mein Namel!« fuhr die tiefe Stimme fort, und jetzt ward sein Gesicht für mich auch immer älter. »Alois Wenzel — genannt Attila — Sie wissen vielleicht Attila, das war nämlich der König der Hunnen, die damals die Goten . . . «
»Ja, ja, ich kenne schon den Attila, wenn auch nicht persönlich.«
»Ich bin nämlich professioneller Hundereiter — trete als Hunne auf, schieße mit Pfeil und Bogen, werfe die Lanze und führe die verwegensten Reiterkunststückchen aus, aber nicht zu Pferd, sondern zu Hund —— meine beiden Doggen sind nun freilich ersoffen, aber Sie haben ja genug Hunde, die reite ich zu — und was meine Frau ist, die reitet die hohe Schule auf dem Ziegenbock . . . «
»Ihre Frau?!« mußte ich zunächst einschalten.
»Sie hat das Vergnügen, auf Ihrem Arme zu sitzen.«
Au weh! Nun freilich wußte ich es! Daher die puppenhafte Figur mit ziemlich voller Entwicklung, und daher auch hatte sie zimperlich den Finger an den Mund gelegt und blickte errötend seitwärts, wie sie so auf meinem Arme saß.
»Entschuldigen Sie gütigst, Frau . . . Frau . . . Attila Wenzell« sagte ich und setzte sie, wirklich von Verlegenheit befallen, sacht auf den Boden.
»Ach, ich bin durchaus nicht eifersüchtig,« tröstete mich der Gatte, meine Verlegenheit bemerkend, »und Rosamunde is ooch nich so, wenn se sich ooch so stellt. Ja, also was ich sagen wollte — meine Frau da reitet die hohe Schule auf dem Ziegenbocke, eine Attraktion ersten Ranges — nun sind allerdings unsere beiden Ziegenböcke ersoffen — aber da bekommen wir schon andere wieder oder ich möchte auch einmal ein Schwein zureiten — also wenn Sie uns beide engagieren wollen . . .«
»Na ja, darüber sprechen wir noch!« sagte ich und machte, daß ich fortkam. Sonst ritt der zuletzt auch noch unseren Igel zu.
Aber den ganzen Tag noch wurde ich von Artisten aller Art angelaufen, überhaupt von sämtlichen, auch von den Dienern, Pferdewärtern und sonstigen Arbeitern. Sie waren ja alle stellenlos und glaubten eben, das sei ein schwimmender Zirkus, der noch mehr Personal brauchen könne.
Wen wir von ihnen behielten, darüber werde ich später berichten.
Die Tage vergingen. Ach, das war ja etwas für diese Kinder, besonders unsere Menagerie. Zwar hatten sie ja selber eine in dem Zirkus gehabt, noch eine ganz andere als unsere, aber mit diesen Löwen, Tigern und Bären hatten sie doch nicht etwa spielen dürfen. Wenn diese Raubtiere nicht mehr genügend wild waren, dann wurden sie künstlich wild gemacht, damit sie einmal den sie in voller Freiheit vorführenden Dompteur anbrüllten, und nach ihm schlugen. Und überhaupt, das war doch etwas ganz anderes gewesen, die Kinder hatten gar nicht an diese Tiere herandürfen.
Mit den Raubtieren unserer Menagerie aber konnten sie nach Herzenslust spielen, an Bord wie an Land, sich mit ihnen im Schnee wälzen und Rutschbahn fahren, Unser Leo war jetzt mit seinen anderthalb Jahren ein unleserlich neugierig wie ein junger Hund. Freilich mußten wir es ihm erst erlauben, ein Fremder hätte ihn nicht so ohne weiteres angreifen dürfen. Und das galt von allem Raubzeug unserer Menagerie.
Dann mußte die Brücke abgebrochen werden, wenn wir nicht auf die Bretter und auf das viele Tauwerk verzichten wollten. Einmal wäre sie doch dem Sturme und der Brandung zum Opfer gefallen, jetzt hielt alles noch zusammen.
Auch Kapitän Martin bekam sie noch in voller Struktur zu sehen, und da sah ich auch diesen Mann einmal staunen.
»Das ist fabelhaft! Ich hätte diese Brücke nicht für möglich gehalten, hätte es überhaupt gar nicht gewagt. Und in 23 Stunden?! Das ist einfach fabelhaft!«
So sprach Kapitän Martin. Und dabei herrschte jetzt nicht mehr so eine Brandung wie damals.
Da sieht man also, daß ich diese Arbeit gar nicht richtig beschreiben konnte. Das Abbrechen ging viel schneller als das Aufbauen, wenn wir uns dabei auch Zeit nahmen, vier Tage.
Ludwigs Leichnam wurde nicht gefunden. Wir setzten ihm kein anderes Denkmal als in unserem Herzen.
Von dem Wrack war absolut nichts zu holen. Das Vorderteil saß fest und würde so lange sitzen bleiben, bis der Rost alles in Trümmer brach.
Das Weihnachtsfest war nach Gebühr gefeiert worden.
Am achten Tage nach ihrer Abreise kamen Juba Riata und Kabat zurück, in Begleitung einiger Dutzend Indianer, die sie auf dem Rückweg getroffen hatten, die Männer des ganzen Stammes, dem dieses Gebiet gehörte. Juba Riata war ihnen ja schon von damals bekannt, aber den weißen Biber fand er nicht mehr unter ihnen, der war tot.
Es waren einesteils noch ganz waschechte Indianer, anderseits konnte man mit ihnen geschäftlich unterhandeln wie mit einem Yankee.
Die Gebietsabtretung bot nicht die geringste Schwierigkeit. Diese Indianer wußten eben, daß da gar nichts zu machen war. Wenn sie sich im Kampfe gegen die »langen Messer« nicht bis zum letzten Mann aufreiben wollten.
Major Delaware stellte den Verkaufsvertrag aus, der Häuptling setzte nebst einigen anderen Kriegern das Totem darunter, erhielt seine 100 Pfund Sterling in Gold, und die Sache war erledigt. Er hatte sogar gesagt, daß er auch einen Scheck auf Viktoria annehme. Aber Gold war ihm doch lieber.
Die drei Dutzend Indianer wurden zwei Tage lang bewirtet, dann schieden wir als die besten Freunde.
So, nun waren wir die Besitzer dieses Grund und Bodens, nun konnten wir uns hier häuslich einrichten, Blockhäuser erbauen, die heiße Grotte in ein regelrechtes Dampfbad verwandeln und andere bleibende Arbeiten ausführen, die uns niemand wieder wegreißen durfte, wie wir uns alles schon so schön ausgemalt hatten, alle Pläne dazu schon fix und fertig entworfen.
Statt dessen packten wir die Bretter und Zementfässer jetzt wieder ein und dampften davon, nach San Franzisko zurück, um überhaupt ein anderes Ziel zu suchen.
Ich hatte es kommen sehen.
Wir hatten hier nun schon vier Wochen lang Wintersport aller Art getrieben, und diese Zeit genügte vollkommen, nun sehnte man sich wieder einmal nach einer Abwechslung. Außerdem wollten doch die Goldgräber, die das, was sie in Klondyke gefunden, bei sich hatten, endlich nach einem Hafen gebracht werden, auch die anderen Schiffbrüchigen sollten und wollten nicht immer bei uns bleiben — also sie wurden nach San Franzisko gebracht, und bei uns stand es fest, daß wir nicht sofort zurückkehrten. Später einmal wieder, ja, aber nicht sogleich.
Unterdessen war die Sache geregelt worden, wen wir behalten wollten und wen nicht. Wir behielten gleich alle 32 Jungen des Balletts bei uns, es ließ sich auch kaum anders machen, wenn wir sie nicht rücksichtslos einem ungewissen Schicksal ausliefern wollten.
Der Clown Pepi war der einzige der Artisten, der, auch über einiges Geld verfügend, das Kinderballett weiterführen, mit ihm reisen wollte. Aber nur mit Mädchen. Weshalb nur mit solchen, weshalb er durchaus keine Jungen haben wollte, das sagte er nicht, daß war sein Geschäftsgeheimnis, und gerade bei derartigen Unternehmern kommt es ja darauf an, mit einer neuen Spezialität, einem neuen Trick urplötzlich herauszukommen, sonst ist die ganze Sache nichts.
Jedenfalls aber hatte ich diesen Clown unterdessen näher kennen gelernt, es war ein Ehrenmann, dem nicht zuzutrauen war, daß er etwa einen Handel mit kleinen Mädchen anfangen wollte, und daß er sich nicht mit Jungen als überflüssige Esser beladen mochte, das war ihm bei seinem kleinen Kapital nicht zu verdenken. Übrigens pumpte er die Patronin auch um tausend Pfund an, die er aber später zum bestimmten Termin, den er selbst angegeben, pünktlich zurückzahlte.
So behielten wir also gleich alle 32 Jungen. Es war ja, wie ich nun schon erfahren, unter diesen kleinen und halbwüchsigen Engeln mancher darunter, bei dem es nicht genügte, nur ein B vorzusetzen, der eine stahl alles, was er sah und fortbringen konnte, nur aus Lust am Stehlen, er warf es fort, ins Wasser, und ließ sich eher totschlagen, als daß er dann, wenn er überführt worden, den Ort angab, aber das war der schlimmste noch nicht, es waren auch schadenfrohe Charaktere darunter — und Schadenfreude ist die einzige Untugend, die ich beim Kinde und überhaupt beim Menschen nicht verzeihen kann, einen Menschen, der sich über das Unglück eines anderen freut, halte ich zu allem, zu allem fähig, und das halte ich auch für unausrottbar, wenn es ihm das Schicksal nicht selbst austreibt — aber was sollten wir mit solchen Bengeln machen. Sie einer Anstalt übergeben, auch wenn wir dafür zahlen mußten, das war immer mehr ausgeschlossen, je mehr wir uns die Sache überlegt hatten, da hatte der Zirkusdirektor vollkommen recht gehabt.
Also sie blieben sämtlich an Bord. Ja, es reizte mich immer mehr, den Kampf mit solchen noch unentwickelten Charakteren, die man aber schon jetzt direkt als verbrecherisch veranlagte bezeichnen konnte, aufzunehmen. Wenn nur erst die anderen von Bord waren, die nicht zu uns gehörten, dann wollte ich diese kleinen Teufel schon unter meine Fuchtel nehmen, geführt in aller Liebe.
Ich verweile deshalb so lange bei dieser Sache, weil sie damals für mich wirklich von höchster Bedeutung war. Ich sah ein neues Lebensideal vor meinen Augen auftauchen. Aus diesen zum größten Teil nichtswürdigen kleinen Stromern brave, tüchtige Menschen zu machen, durch eine besondere Erziehungsmethode durch eine spartanische Lebensweise, bei der sie vor Erschöpfung gar nicht auf böse Gedanken kommen konnten, aber dabei immer behandelt mit der allergrößten Liebe, immer angeführt durch aufmunterndes Beispiel.
In solchen Gedanken ging ich damals ganz auf, begann schon jetzt die Stundenpläne dazu bis ins Kleinste auszuarbeiten
Nur ein einziger Junge der ganzen Bande machte eine Ausnahme in seiner Abstammung, indem er diese nämlich kannte, wenigstens seine Mutter — den Vater allerdings auch nicht.
Es war dies die Nummer acht. Die Jungen hatten alle pompöse Namen bekommen, meist klassische Götter- und Heldennamen, Apollo und Achilles und dergleichen, außerdem aber waren sie bei den Tanzübungen, wie es da am praktischsten war, mit Nummern gerufen worden, und bei diesen Nummern blieb es auch bei uns. Es war das allereinfachste. So waren sie alle gleich der Größe nach geordnet. Sollte der Teufel alle die Götter— und Heldennamen im Kopfe behalten, mit den Zahlennummern aber ging es gleich am zweiten Tage, weil sie sich dementsprechend in Reih und Glied aufstellten. Und es ist vielleicht auch besser, man nennt ein Kind acht oder dreizehn, als Ernst, und dann ist's ein kreuzfideler Bruder, oder Felix, das ist der Glückliche, und dann ist's in seinem ganzen Leben ein ewiger Pechvogel, der sich zuletzt vor Gram aufhängt.
Die zehnjährige Nummer acht war nämlich der Sohn der Madame Pompadour, für seine Jahre ein äußerst kräftiger Bengel, würde aber wohl niemals so ein Fettwanst werden und vor allen Dingen war er, wie ich nun schon beobachtet hatte, der tüchtigste Junge von allen, auch der beste Charakter, er hatte mich schon angefleht, an Bord bleiben zu dürfen, als Schiffsjunge, aber die vierzentrige Mama liebte den Jungen wirklich, kein Gedanke dran, daß sie sich von ihm trennen würde . . .
»Na‚ da bleiben auch Sie bei uns. Wollen Sie?«
»Ach Jotte ooch, ja!«
Also auch Mama Bombe blieb bei uns an Bord. Als gar nicht so unnützes Mitglied dieser Schiffsgesellschaft. Wenigstens meine Jungen hatten sofort ihren bedeutsamen Zweck erkannt. Wenn wir einmal eine Fünfunddreißigzentimeterhartkugel in den Schiffsbauch bekamen, die setzte sich einfach auf das Leck drauf, da kam kein Wasser mehr herein!
Außerdem hatte Mister Ephraim Snatcher, so weit noch unmündige Kinder in Betracht kamen, auch noch das einbeinige Känguruh und den zweizentrigen »Schudick« gemanaget. Diese beiden waren nun auch herrenlos geworden, kein anderer Artist wollte sie haben, — gut, behielten wir die auch.
Froh war ich bloß, daß die zusammengewachsenen Zwillinge noch ihren Herrn und Besitzer hatten, sonst hätten wir die auch noch an Bord behalten müssen!
Das Kinderballett hatte, wie schon erwähnt, von Gesetzes wegen einen Lehrer haben müssen, der den schulpflichtigen Kindern wenigstens Lesen und Schreiben beibrachte. Natürlich war es ein Deutscher. Auch solche Haus— und Privatlehrer sind in aller Welt Deutsche. Ein noch junger, schüchterner, ungelenker, halbverhungerter Mann. Wenigstens sah er so aus. Obgleich er immer kaute, sobald er sich unbeobachtet fühlte. Die 52 Kinder, und nicht zum wenigsten die Mädels, hatten ihm so auf der Nase herumgespielt, daß er überhaupt gar keine Nase mehr hatte. So behaupteten wenigstens meine Jungen. Er hatte eine winzige Stulpnase, auf welcher der Brillensteg eben noch Halt fand. Und überhaupt ein Gesicht wie ein böser Affe. Und heißen tat er Balduin Fabian. Natürlich hatten meine Jungen diesen Namen sofort in Pavian verdreht. Das heißt, zu hören bekam er das nicht. Der Matrosenwitz ist wohl derb, kann furchtbar derb werden, roh — aber beleidigend wird er nie. Die Kinder nannten ihn nur Fabs und das allerdings mußte er sich gefallen lassen.
Im übrigen ein seelensguter Kerl, ein Pädagoge vom Scheitel bis zur Sohle, hatte nichts weiter im Kopfe — na, der blieb natürlich auch als Lehrer.
Ferner blieb bei uns auch General Tim Tom, der größte Mensch der Welt, der Bandlwurm. Er hatte so lange gebettelt, bis er bleiben durfte. Er hatte das Artistenleben satt, sich vom Publikum anstaunen zu lassen, er wollte irgendwelche Arbeit verrichten, wir konnten noch einen Tellerwäscher gebrauchen — er wurde es. Zwar ging er in den Aufwaschraum nicht hinein, der war nur 2 Meter 20 hoch, — na‚ da kroch er eben hinein und setzte oder kauerte sich bei seiner Arbeit hin.
Schließlich blieben auch noch Attila, König der Hunnen, und Frau Gemahlin Rosamunde bei uns. Auf unseren eigenen Antrag. Ilse hatte sich in die winzige Puppendame verliebt. Helene vielleicht nicht minder, und sie war es auch wirklich wert. Aber auch der Wenzel—Attila gefiel mir immer besser. Sie hatten unsere Einladung angenommen, denn Gage gab es nicht, sie sollten nur unsere Gäste sein, und sie wollten sich denn auch einige Zeit Ferien nehmen. Das konnten sie sich auch leisten, der Knirps hatte Geld — eine seltene Ausnahme unter den Artisten.
So, nun war es aber genug, nun konnte losgegaukelt werden. Nun waren wir ein wirkliches Gauklerschiff, aber in noch einem ganz anderen Sinne als in dem des Seehandels. Wenn uns überhaupt hieran noch etwas gefehlt hatte.
Der Anfang des neuen Jahres wurde noch auf Vancouver gefeiert, wurde ganz mächtig gefeiert, und am 4. Januar lagen wir beim schönsten Frühlingswetter in der Bucht von Frisko auf Reede.
Weiter ging es auch nicht, nicht in den Hafen hinein. Ein Fährdampfer wurde signalisiert, der die ganze Bande an Bord nahm, und nur Kapitän Martin ging mit, um alles Geschäftliche zu erledigen.
Überschwengliche Dankesworte hatte es ja zahllose gegeben, aber keiner der Geretteten dachte daran, zu fragen, ob denn nun irgend etwas zu bezahlen sei. Denn das ist ja nicht so einfach, das muß alles bezahlt werden. Na, wir dachten ja ebenso wenig daran, ihnen eine Rechnung zu präsentieren, aber immerhin, es ist interessant, daß sich kein einziger muckste, am allerwenigsten der Herr Zirkusdirektor Smetani.
Doch einer machte sich deswegen noch bemerkbar.
Der Sportsman mit dem jugendlichen Gesicht und den weißen Haaren, der sich Mac Miller nannte. Während der ganzen zwei Wochen hatte der sich am allerwenigsten bemerkbar gemacht, jetzt aber tat er es.
»Darf ich Sie einmal unter vier Augen sprechen, Herr Waffenmeister?« fragte er, als wir erst nach dem Fährdampfer signalisiert hatten.
Ich führte ihn in meinen eigenen kleinen Salon.
»Sie, Herr Waffenmeister, sind wohl die richtige Person, an die ich mich jetzt wende.«
»Es kommt ja ganz darauf an, was Sie wollen.«
»Um meine Kostenrechnung darf ich wohl nicht bitten?«
»Nein. Sie waren wie alle übrigen unsere Gäste — oder die unserer Patronin.«
»Ich verzichte auf alle Dankesworte — auch Ihre Hand will ich nicht drücken, ich hätte zu viele Hände zu schütteln. Hingegen . . . kann ich für die Frau Patronin und für Sie selbst und für die ganze Mannschaft dieses Schiffes etwas tun?«
»Was wollen Sie denn für uns tun?«
»Jeder Wunsch, den der mächtigste Herrscher auf dieser Erde erfüllen kann — er soll Ihnen erfüllt werden.«
Groß blickte ich den Sprecher an.
»Der mächtigste Herrscher dieser Erde?!«
»Der König von Großritannien und Irland, Kaiser von Indien — er ist mein intimster Freund.«
Mein Stutzen läßt sich denken.
»Ja, Herr, wer sind Sie denn?!«
»Ich bin englischer Peer und Earl — ich bin der Herzog von Westmoreland.«
Da nahm ich die Hände aus den Hosentaschen und die Mütze vom Kopf. Ich weiß, was sich schickt. Wenn mir auch eine Prinzessin vergebens die Hand zum Kusse hinhalten würde.
Freilich biß ich mir auch erst ein neues Stück Kautabak ab, um recht klar denken zu können.
Ja, da hatte ich einen Wunsch vorzutragen.
Aber hiermit breche ich die Wiedergabe unserer Unterhaltung ab.
39. KAPITEL. DIE KÖNIGIN DER AMAZONEN.
Haben Sie ein besonderes Ziel, Mister Carlistle?«
»Ach ja, bitte.«
»Na, da schießen Sie mal los.«
Ich machte mit dem Herrn, der auf Vancouver bei jeder nächtlichen Gelegenheit in seinem Rasierspiegel mit dem Zirkel zwischen den Sternen herumgestochert hatte nicht viel Federlesens. Unsympathisch war er mir durchaus nicht, im Gegenteil — aber wenn er gehen wollte, ich hätte ihn nicht zurückgehalten.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit gleich etwas erwähnen.
»Haben Sie ein Glück, so einen halben Milliardär zu finden, der mit seinem Gelde Ihr ganzes Schiff unterhält!«
So und ähnlich ist unserer Patronin gar oft gesagt worden.
Von Sachunverständigen.
Da war gar kein besonderes Glück dabei.
Ein Mädchen hat nichts weiter als eine gute Figur und eine hübsche Larve — blutarm braucht sie nicht zu sein, Blut hat sie genug, aber sonst keinen Groschen — und sie wird wegen ihrer guten Figur und ihrer hübschen Larve von einem reichen Manne geheiratet, bei dem sie es auch wirklich gut hat.
Kommt das nicht häufig genug vor? Kennt wohl nicht jeder von uns solch einen Fall? Ob so etwas bei den drei Milliarden Menschen, die es auf der Erde gibt, nicht jeden Tag passiert?
Ja, und was lag denn hier anderes vor? Der halbe Milliardär hatte sich in unser Schiff, das eine gute Figur besaß, einmal verliebt, er fühlte sich glücklich zwischen uns — warum sollte er sich da das nicht leisten?
Und bei uns war es eigentlich ganz anders. Unser Schiff war zwei Millionen Mark wert, hatte ein Betriebskapital von acht Millionen. Wir hatten den doch überhaupt gar nicht nötig. Wir konnten unser Schiff arbeiten lassen und dabei noch viel mehr verdienen. Kapitän Martin war mit seinem Charterpreis ganz bescheiden gewesen. Dafür hatten wir doch auch unsere Freiheit verkauft. Freilich waren wir so vorsichtig gewesen, daß die Ehe innerhalb von 24 Stunden wieder geschieden werden konnte.
Nein, da war absolut kein besonderes Glück dabei, daß der uns gechartert hatte. »Na‚ da schießen Sie mal los, wohin wollen Sie?«
Er hatte aus den Sternen seines Rasierspiegels wieder eine geographische Ortsbestimmung herausgestochert, bis auf die Sekunde.
Der angegebene Punkt lag auf dem zweiten Grade nördlichen Breite zwischen Celebes und Halmahera, welches ebenfalls eine ganz beträchtliche Insel des malaiischen Archipels ist. Man sehe auf der Karte nach, wie auch ich es jetzt tat.
»Können Sie haben. Wenn wir dort zwischen die vielen Inselchen kommen, die Fahrstraßen sind noch nicht ausgelotet . . .«
»Ich weiß bestimmt, daß das Schiff dort ankern kann.«
»Das wird sich ja finden. Jedenfalls nähern wir uns der Stelle, so weit als wir können. Vorausgesetzt, daß die Patronin damit einverstanden ist.«
Ich begab mich hin zu ihr. Natürlich war die damit sofort einverstanden. Die wurde doch gleich von der Neugierde geplagt.
»Was will er denn dort?«
»Da mußt Du ihn selber fragen!« war meine Entgegnung, wenig höflich, aber ehrlich.
Denn ich hätte mir doch lieber die Zunge abgebissen, ehe ich den nach dem »Warum« gefragt hätte.
Zweiundzwanzig Tage später, am 26. Januar, gingen wir genau an der bezeichneten Stelle vor Anker, mitten in der Lagune einer der hier zahllosen kleinen Koralleninseln.
Hier wollte Mister Carlistle das Erwachen seiner Traumkönigin erwarten, so stand es in den Sternen geschrieben, und da dies niemals erfolgen würde, einfach weil sie mausetot war, so lägen wir wahrscheinlich heute noch dort, wenn nicht etwas anderes dazwischengekommen wäre.
Aber zwei ganze Monate blieben wir hier doch liegen, die Patronin hatte Geduld, die wartete ebenfalls auf das Erwachen der Toten — na, und wir anderen wußten uns die Zeit schon zu vertreiben.
Es war also eine Koralleninsel, von anderthalb Kilometer Durchmesser, stark mit Kokospalmen bestanden, in der Mitte ein Brunnen, das sich ansammelnde Regenwasser enthaltend, nur bei höchster Flut einen brakigen Geschmack annehmend, umringt von dem üblichen Barrierenriff, höher aufgebauten Korallen, das immer mehrere Durchstiche hat, Inlets genannt, ein solches hatten wir ausgelotet, es hatte uns bei gutem Wetter eine glatte Durchfahrt erlaubt.
Alle diese kleinen Inseln, die ihre Entstehung nur den bauenden Korallen verdanken, daher kein Gebirge haben, sind unbewohnt. Nur zu gewisser Zeiten kommen die Insulaner von den bewohnten Inseln, um die reifen Kokosnüsse einzusammeln. Einmal herrscht hier keine Wohnungsnot, und zweitens ist es überhaupt gar nicht möglich, sich auf diesen ungeschützten Koralleninseln für die Dauer niederzulassen. Die Äquinoktialstürme werfen alles nieder, was der Mensch hier gebaut hat, jeder Halm würde vor der Ernte abgeknickt werden, nur die schlanke Kokospalme vermag diesen Stürmen zu trotzen, sie mögen blasen wie sie wollen, deshalb eben hat die Natur sie hierher gepflanzt Selbst die Schweinezucht, die man versucht hat, erwies sich als unmöglich. Die Tiere werden einfach ins Meer geweht. Diese kleinen Koralleninseln, so verlockend sie auch aussehen, kommen für die Kultur der Menschheit nicht in Betracht.
Nun, dies nächste Sturmzeit war noch fern, und wir hatten sie auch nicht zu fürchten, unser Schiff lag auf diesem Korallengrund fest vor Anker, diese Ketten brachen nicht, das war wieder etwas ganz anderes. Aber man kann doch nicht etwa in der Lagune jeder dieser Inselchen so ein Schiff verankern.
Also zwei Monate brachten wir hier zu, und wir wußten uns die Zeit zu vertreiben. Eben mit unseren gewöhnlichen Sportübungen. Und wie ich meine Kinder ausbildete, das werden die später geschilderten Resultate zeigen. Jedenfalls war ich höchst zufrieden mit ihnen.
Nur einmal hatte ein malaisches Anlegeboot mit 20 Mann, die unsere Masten über dem hohen Barrierenriff erblickt, einen Besuch abgestattet. Doktor Isidor hatte den Dolmetscher gespielt, sie kamen von dem Festland herüber, worunter sie aber die Insel Halmahera verstanden, 100 Kilometer von hier entfernt, wollten nach dem Stande der Kokospalmen sehen. Sie sprachen von einem Radschah von Maladekka, oder so ähnlich, dem sie untertänig seien, dem auch diese Inseln hier gehörten — aber dieser Name war weder auf der Karte noch im geographischen Wörterbuche zu finden, und kein Gedanke dran, daß die uns diese Gegend auf einer Karte hätten zeigen können. So ein buntes Papier hatten die überhaupt noch gar nicht gesehen.
Sie wurden reichlich bewirtet und segelten wieder ab. Wir glaubten, nun würden die uns auch bald andere Besucher auf den Hals schicken, aber vier Wochen vergingen, und kein anderes Boot zeigte sich.
Es war am 24. März, als ich in früher Morgenstunde an Deck stand und über einen Plan nachsann. Ich wollte gern einmal nach Menado, dem uns nächsten Hafen auf Celebes, mit Anschluß an das Telegraphenkabel. Ich wollte einmal nach England telegraphieren. Das brauchte aber die Patronin nicht zu wissen. Und wenn ich gesagt hätte, ich wollte nach Hause an meinen Vater telegraphieren, das hätte sie mir nicht geglaubt.
Nun, sie brauchte von meiner Telegraphiererei ja überhaupt nichts zu wissen. Wir brauchten zwar nichts, meine Jungen und Bengels — Jungen sind die Erwachsenen, Bengels die Kinder — hatten gar keine Sehnsucht nach Frischfleisch, wir hatten da Ersatz genug, aber ich wollte der Patronin schon plausibel machen, daß Frischfleisch doch gut sei, es könne doch einmal der Skorbut ausbrechen.
Wenn nicht das ganze Schiff hinging, weil der Sternkieker fürchtete, in dieser Zeit könne das Erwachen seiner Traumkönigin verpaßt werden, so genügte auch schon die Barkasse. Die machte die Fahrt nach Mienado in 12 Stunden, das Wetter war jetzt noch das denkbar günstigste und würde auch noch einige Zeit so anhalten, und in Menado würde es doch Schweine geben, da brachte die Barkasse einige Dutzend lebendig mit, die wir hier nach und nach schlachteten, vielleicht auch einige Schafe und Kälber, und außerdem dachte ich auch schon an eine großartige Karnickelzucht. Mit Karnickeln muß man auf diesen Koralleninseln doch etwas anfangen können, das sollte man einmal probieren. Nahrung finden die immer, bei den Stürmen verkriechen sie sich in ihren Löchern, und Schaden können sie auf diesen Inseln doch nicht anrichten.
Ja, eine Karnickelzucht anlegen, das war ein Gedanke von Schiller, ich hatte wieder einmal ein Ei des Columbus gelegt! Nur erst einmal ein Karnickelpaar haben, um es als Adam und Eva in den Garten Eden zu setzen!
So hing ich meinen Gedanken nach und blickte dabei nach dem nahen Strande, auf dem meine großen Jungen den verschiedensten Sportübungen oblagen, wie auch meine kleinen Jungen zur Hälfte Fußall spielten, zur anderen Hälfte unter des ersten Bootsmanns Leitung ein Landungsmanöver in den beiden Jollen übten. Einige gondelten auch unter Mister Tabaks Steuerung in dessen Walfischboot herum, das heißt sie schossen herum, und ich bemerkte schon mit bloßen Augen, wie einige der kleinen Kerls, und er hatte sich gerade die allerkleinsten ausgesucht, die Zunge zum Halse herausreckten, aber die Knirpse pulten noch immer mit ungeschwächtem Eifer.
Da kam Mister Carlistle in größter Aufregung angestürzt.
»Herr Waffenmeister, Herr Waffenmeister — sie ist erwacht!«
Es machte auf mich nicht den geringsten Eindruck.
»Schon wieder einmal?« fragte ich kalt zurück.
Ganz richtig war es im Kopfe dieses jungen Mannes ja nie gewesen, und es wurde immer schlimmer mit ihm. Nicht nur, daß er nach wie vor im Traume mit ihr verkehrte, sondern jetzt sah er sie auch manchmal im wachen Bewußtsein lebendig vor sich. Visionen. Er konnte schon Traum von Wirklichkeit nicht mehr richtig unterscheiden.
Die Inderin war eben mausetot. Ausgezeichnet einbalsamiert. Auf eine uns unbekannte Weise. Auch Juba Riata gab schon längst zu, daß sich seine Hunde damals getäuscht hatten. Solch eine einbalsamierte Leiche, die nicht in Verwesung geht, war ihnen eben etwas Neues gewesen, da hatten sie sie als ein noch lebendiges Wesen angekläfft.
»Schon wieder einmal?« fragte ich also zurück.
»Sie hat sich auf das Sofa gesetzt!«
»Nanu!« mußte ich allerdings jetzt staunen.
So weit, daß die Leiche aufstand und sich anderswo hinsetzte, hatte es unser Sternkieker freilich noch nicht getrieben. Er sah sie sich manchmal nur bewegen, den Mund öffnen, die Augen aufschlagen, atmen und dergleichen.
»Und sie sitzt noch auf dem Sofa?«
»Sie sitzt noch da.«
»Nanu! Ganz lebendig?«
»Nein, nach wie vor starr, aber sie hat sich auf das Sofa gesetzt.«
Ich ging mit ihm hin in die Kabine, in der sie auf einem besonderen Tische standesgemäß aufgebahrt lag, festgeschnallt . . .
Nein, sie lag eben nicht mehr auf der Bahre!
Sie saß dort in einer Ecke des Sofas!
Ich starrte lange Zeit, ehe ich eine Untersuchung begann, nachdem ich auch die Patronin und Doktor Isidor und Kapitän Martin und die sonstigen Hauptpersonen hatte rufen lassen.
Die fanden ebensowenig wie ich eine Erklärung für dieses Rätsel.
Wenn das Mädchen sich hatte bewegen können, so war es recht wohl möglich, daß sie sich allein losgeschnallt hatte. Sie konnte mit der Hand nach dem einen Arm reichen, dann den Brustriemen, dann den unteren, und dann hatte sie sich aufgerichtet und die Fußriemen beseitigt.
Ja, da hatte sie sich aber doch eben erst bewegen müssen!
Und jetzt saß sie so starr da, wie sie immer gelegen hatte! Aber doch in einer ganz anderen Haltung!
Ganz starr war sie allerdings nie gewesen. Die Glieder waren wie jeder Finger ungefähr wie harter Gummi, noch ein wenig elastisch.
Wir standen vor einem unlösbaren Rätsel, so unlösbar wie jene Geheimschrift.
Daß Mister Carlistle seine Hand im Spiele habe, daran war nicht zu denken. Oder er mußte wissen, wie die Gliederstarre zeitweilig zu lösen war.
Sonst war sie wieder tot wie zuvor — tot wenigstens für uns.
»Boot ahoi!« erklang da oben an Deck der Ruf. »Eingeborene kommen!«
Das war im Augenblick wichtiger für uns. Nur Carlistle blieb zurück, wir anderen eilten hinauf.
Es war wieder so ein Auslegeboot, wie es alle Insulaner der Südsee haben, das durch das »Inlet« hereinsegelte. An zwei oder drei Balken wird ein Brett weit hinausgeschoben, auf dieses setzen sich Bootsinsassen, um, wenn nötig, die Balance herzustellen, so daß diese Dinger ganz mächtige Segel führen können, ohne in die Gefahr des Kenterns zu kommen. Anderseits freilich sind diese Ausleger, auch wenn sie verschoben werden können, ja sehr hinderlich. Aber geborene Wasserratten sind diese Südsee—Insulaner jedenfalls. Und außerdem geborene Seeräuber.
Es war ein größeres Boot als jenes erste, auch viel besser gebaut, zwei Dutzend Menschen darin, zum Teil beturbant, sie winkten, wir winkten friedliche Grüße zurück, das Boot rauschte heran, Segel und Ausleger wurden eingezogen, es legte am Schiffsrumpf bei.
»Ist es erlaubt, an Deck zu kommen?« rief ein älterer, beturbanter Inder hierauf, in seine Seide gehüllt.
Er hatte es in perfektem Englisch gefragt, aber ich hatte gleich den Dialekt, den eigentümlichen Gaumenlaut herausgehört, den der Holländer in der Aussprache des Englischen hat, und es war auch das Gesicht eines Holländers.
»Bitte, Sie und Ihre Leute sind herzlich willkommen.«
Wer dies sagte und wer fernerhin von uns spricht, einmal dieser, einmal jener, ist gleichgültig. Auf der anderen Seite war nur dieser Holländer.
Er allein stieg das Fallreep hierauf, nachdem er auch noch den Kris, den malaiischen Dolch, aus dem Gürtel gezogen und ihn zurückgelassen hatte.
Ich, Mustapha Allharrah, durch die Gnade meines Herrn sein Sirdar, ein Pascha, komme als Gesandter des Maharadscha von Maladekia.«
»Freut uns sehr. Bitte, wollen Sie uns in die Kajüte folgen. Haben nach andere Personen in Ihrem Gefolge Anspruch daraus, daß wir sie mit Ihnen zugleich empfangen? Daß wir nicht etwa die Etikette verletzen, die uns ja unbekannt ist.«
»Nein, meine Leute bleiben vorläufig im Boote.«
Wir, die Hauptpersonen, saßen in der Kajüte, Siddy servierte als erstes den unvermeidlichen Champagner und Portwein. Dabei bemerke ich nachträglich, daß der indische Steward aus Delhi stammte und von der Insel Halmahera noch gar nichts gehört, Celebes bisher für eine Provinz aus Borneo gehalten hatte. Dabei aber darf man seine geographischen Kenntnisse nicht etwa unterschätzen. Ich habe erst kürzlich von einer großen, französischen Firma einen Brief erhalten mit der Aufschrift: Dresden, Westpreußen.
»Ich danke, ich bin Mohammedaner, der Prophet verbietet allen Weingenuß!« schlug der holländische Pascha oder indische Sirdar den Portwein ab, aber dabei einen sehnsüchtigen Blick nach der Buttel werfend.
»Ist Ihnen ein Glas Likör angenehm?« muß ich doch erwähnen, daß es Kapitän Martin war, der dies fragte.
»Ach ja, wenn es kein Wein ist.«
Im Laufe unserer langen Unterhaltung kippte der Mohammedaner ein Gläschen Schnaps nach dem anderen hinunter. Den Schnaps hat der Prophet nämlich seinen Gläubigen zu verbieten vergessen. Einfach deshalb, weil der Schnaps damals noch nicht erfunden war. Dasselbe gilt vom Bier. Aber Pascha Mustapha Allharrah blieb lieber beim Schnaps.
»Ich habe doch die hohe Ehre, die Patronin dieses Schiffes vor mir zu sehen, Missis Helene Neubert?«
»Ich bin es.«
Der Sirdar erhob sich, nahm gegen die Patronin eine unterwürfige Stellung an.
»Meine allergnädigste Herrin, die Begum der Maladekkaranis, sendet durch mich der Patronin der »Argos« ihre Grüße und ladet sie nebst allen ihren Leuten zu sich ein. Du, o Patrona, sollst über den Felsenpalast der Maladekkaranis gebieten, so lange es Dir beliebt, und Deine Leute sollen auch ihre Gäste sein. — Ich habe mich meines Auftrags entledigt.«
Er verbeugte sich mit auf der Brust verschränkten Armen, setzte sich wieder, goß das erste Weinglas voll Benediktiner hinter und leckte sich die Lippen.
»Maladekkaranis!« wiederholte Doktor Isidor zunächst. »Maladekka ist ein Wort des indischen Pakrit—Dialektes und bedeutet Waffenreich. Das habe ich gleich gewußt, ohne mir weiter dabei etwas zu denken. Wir gebrauchen im Deutschen das Wort Frankreich ohne daran zu denken, daß dies wörtlich »reich an Franken« bedeutet. Das heißt reich an Frankenmännern. Aber Maladekkaranis? Das würde doch wörtlich, heißen: reich an waffentragenden Frauen? Nicht?«
»Sie sagen es. Der Maharadscha von Maladekka hat eine weibliche Leibgarde — also Amazonen, würden wir sagen — und seine Gemahlin ist die Anführerin derselben, hat den Titel Begum oder Königin der Amazonen.«
»Was Sie nicht sagen!« rief Helene überrascht und gleich mit ganz strahlenden Augen. »Amazonen?! Richtige Amazonen?!l«
Nun, da brauchte sie nicht so überrascht zu sein.
Wenn wir von Amazonen hören, die heute noch existieren sollen, waffenkundige Frauen, die mit in den Krieg ziehen, so denken wir immer an die aus 5000 Weibern bestehende Leibgarde des Königs von Dahomey! Als gebe es nur dort noch Amazonen.
Das ist falsch! Es gibt auf der Erde noch sehr viele Reiche mit Amazonen.
Die Kurdenmädchen werden in den Waffen ausgebildet und gehen mit ihren Brüdern und Vätern bis zu ihrer Verheiratung mit auf Krieg und Raub aus.
Bei sehr vielen Völkern des Himalajagebirges ziehen Frauen und Töchter mit in den Krieg, nicht als barmherzige Schwestern, sondern sie müssen, ebenso wie die Dahomeyweiber, an der Spitze kämpfen.
Man kann die Sache aber auch noch mit anderen Augen betrachten.
Ein indischer Kaufmann in Rongoon, ein sonst ganz gebildeter, in Geographie und Politik beschlagener Mann, hat mir persönlich gegenüber einmal behauptet, daß der Kaiser von Deutschland eine weibliche, bewaffnete Leibgarde habe, die vor ihm kriegerische Evolutionen machen müsse. Das sei doch in Indien allgemein bekannt.
Wie solch eine Legende entstehen kann?
Das ist ganz einfach.
Und ein Stückchen Wahrheit steckt auch schon dahinter. Man muß das Rätsel nur gelöst bekommen.
Ein indischer Fürst kommt nach Berlin, wird mit allen ihm gebührenden Ehren empfangen, wird auch einmal in die Hofoper geführt.
Es wird darauf aufmerksam gemacht, daß dies die königliche Hofoper ist.
Ein Ballett wird vorgeführt.
Das ist das königliche Ballett!
Es wird dem orientalischen Gaste zu Ehren ein orientalisches Stück gegeben, eine Bearbeitung eines Märchens aus »Tausendundeinernacht, Aladin oder die Wunderlampe«.
In dieser Burleske führt das Corps de ballet einen Waffentanz auf, mit Schwert und Spieß und Schild, kriegerische Evolutionen.
Dieser echte Orientale sieht auf der Bühne nichts Orientalisches, er sieht nur phantastische Kostüme und angemalte Pappe und Leinwand — sieht nur die tanzenden Kriegerinnen.
»Königliches Ballett?«
»Königliches Ballett.«
»Die gehören dem König?«
»Die gehören dem König!« muß ihm gesagt werden, denn die richtige Sachlage ist dem Fremdling gar nicht begreiflich zu machen.
Ein anderer Inder, ein Kaufmann oder sonst ein gewöhnlicher Sterblicher, der kann dann später im Hotel den Oberkellner fragen, sich die Sache richtig erklären lassen.
Aber das kann der Fürst nicht.
Und jetzt fährt der wieder nach Hause und erzählt, daß der König von Preußen und Kaiser von Deutschland eine weibliche Leibgarde hat, die vor ihm Kriegstänze aufführen muß, und das sickert nun weiter herum.
So kommt es! —
Der holländisch—indische Sirdar, das ist so viel wie Generalfeldmarschall, gab uns weitere Aufklärungen. Maladekka war nichts anderes als der im eigenen Lande gebräuchliche Name für Halmahera. So heißt die Insel, als Reich ist es Maladekka, das Waffenreich, über welches ein Maharadscha herrscht, absolut unabhängig.
Absolut unabhängig? Wo diese Insel doch eine holländische Kolonie ist, mit zu dem holländischer Gouvernement Celebes gehört?
Wenn ich über diese politischen Verhältnisse sprechen will, so mache ich es mir bequem, ich schreibe aus dem neuesten Konsversationslexikon von dem Artikel »Celebes« den betreffenden Absatz ab:
»Nur der kleinste Teil der Insel wird direkt von holländischen Beamten verwaltet. Der weitaus überwiegende Teil steht unter einheimischen Fürsten. Mit den meisten derselben hat Holland Bundesgenossenschaftsverträge abgeschlossen. Nur die Fürsten einiger kleinen Reiche sind tributpflichtig. Der weitaus größte Teil des Landes mit allen benachbarten Inseln ist faktisch gänzlich unabhängig.«
So ist es heute noch, gegenwärtig.
Und so wird es wohl noch lange Zeit bleiben.
Diese indischen Fürsten des malaiischen Archipels pfeifen doch auf die holländischen Gouverneure! Holland ist es vielmehr, welches diesen Fürsten Tribut zahlt, damit sie nur ja Ruhe halten!
Holland ist ja viel zu schwach, ist ja gar keine Kriegsmacht mehr.
Aber Holland ist ein politisches »Rührmichnichtan«.
Diese Kolonien können ihm also nicht etwa von einer anderen Nation abgenommen werden, auch nicht durch Kauf.
Vorläufig nicht. So kommt es, daß dort die herrlichsten Länder, reich bewässert, überaus fruchtbar und meist ganz gesund, welche hunderte von Millionen Menschen ernähren könnten, noch ganz brach liegen. Vorläufig noch.
Nach der Wahrscheinlichkeitsberechnung, die aber in diesem Falle totsicher ist, es ist die Formel der Zinseszinsrechnung, muß Deutschland in 100 Jahren zweihundert Millionen Einwohner haben. Wie es dann in Deutschland und überhaupt in der Welt aussehen wird, das kann sich keine Phantasie erträumen, hat auch noch keine probiert. Zukunftskriege mit Luftschiffen und Flugmaschinen sind leichter zu beschreiben, nur diese Bevölkerungszunahme muß dabei vergessen werden. Wir können uns doch nicht gegenseitig auffressen. Dann also dürfte sich die politische Geographie doch ganz bedeutend ändern.
Der Maharadscha oder Sultan Rangalla herrschte über die Insel Halmahera mit ihren 18 000 Quadratkilometern und 120 000 Einwohnern in absoluter Unabhängigkeit. Er duldete darauf einige holländische Ansiedlungen, aber nur an der Küste, also Hafenorte, weil er selbst dadurch viele Vorteile hatte, so bekam er zum Beispiel von Holland alle Waren vollkommen zollfrei. Diese Gefälligkeit ist aber doch nur ein Tribut, den Holland ihm zahlte.
Der also lud uns zu sich ein.
»Nein, die Begann ist es, seine Gemahlin, die Sie einlädt!« betonte der Sirdar extra. »Es ist bei uns Sitte, daß nur die Frau Gäste einladen kann.«
»Woher kennt die Begum uns denn?«
Nun, es waren eben Eingeborene von Maladekka gewesen, die uns damals besucht, die hatten sich den Namen »Argos« gemerkt, so war die Kunde von uns an diesen indischen Hof gekommen.
»Ja, aber woher kennt man uns denn sonst? Hat man denn dort schon von diesem Schiffe und den Argonauten gehört?«
Gewiß. Der Sirdar berichtete uns näher. Dort wurden sogar Zeitungen gehalten. Überhaupt war die Königin Sallah eine Französin, der edle Sirdar, dem der Benediktiner zu Kopfe stieg, machte gar kein Hehl daraus, daß seine allergnädigste Königin einst zur Pariser Demimonde gehört hatte, jedenfalls war sie auch einmal Artistin gewesen, Zirkuskünstlerin, Seiltänzerin, hatte sich abenteuernd nach Indien verirrt, war schon in einem anderen Harem gewesen, bis sie hier als allerhöchste Majestät landete.
Die hatte von unseren Triumphen in Kapstadt und Rio gelesen, die Kunde war zu ihr gekommen, daß die »Argos« hier in einer Lagune läge — »das sind sie, die Argonauten — na‚ da fahre mal hin und lade sie ein, diese Argonauten müssen mir etwas vormachen und mit meinen Maladekkaranis kämpfen.«
»Was kämpfen sollen wir mit den Amazonen?!«
»Jawohl. Das heißt unblutig. Nur Kampfspiele. Diese 256 Weiber sind so halb und halb oder auch ganz als Akrobatinnen ausgebildet. Sie möchten mit den Argonauten um die Wette laufen und springen und den Speer werfen. Und dann besonders auch Ringkampf. Sie nehmen doch die Einladung an?«
Ich war schon aufgesprungen.
»Kapitän, ich rufe meine Jungens an Bord, Sie erlauben doch, daß ich gleich Dampf aufmachen lasse.«
Na‚ da fuhren wir doch hin!
Mit diesen Weibern wollten wir uns doch herumbalgen!
Das war doch ausgemachte Sache!
Ach, war dieser Sternkieker ein famoser Kerl! Denn ohne seinen Rasierspiegel lägen wir doch jetzt nicht in der Lagune dieser Koralleninsel, die Maladekkas hätten uns nicht gesehen, die Königin hätte uns nicht eingeladen, meine Jungen könnten sich nicht mit diesen indischen Amazonen herumbalgen.
Ist das nicht ganz logisch? Wirklich ein famoser Kerl, dieser Mister Carlistle! So einen Rasierspiegel schaffe ich mir auch noch an, vielleicht auch noch ein ägyptisches Punktierbuch.
»Wir müssen aber doch erst Mister Carlistle fragen!« lächelte die Patronin ob meiner Eilfertigkeit.
»Ach, da hat er diesmal gar nichts zu sagen, sonst trage ich Ehescheidung an —— da kommt er.«
Ich nahm ihn gleich draußen vor, um ihn nicht erst einführen zu müssen.
»Wie gehts Ihrer Frau Traumkönigin?«
»Es ist nichts, sie sitzt starr auf dem Sofa.«
»Das freut mich. Wissen Sie schon, daß wir von einer indischen Königin eine Einladung bekommen haben?«
Ja, er wußte es schon. Siddy hatte ihm schon alles schnellstens erzählt.
Siddy war ein Luder, konnte sein Maul partout nicht halten — aber diesmal wars ganz gut gewesen.
»Und diese Einladung müssen wir auch annehmen,« fuhr Carlistle gleich fort, »dort werde ich erfahren, wer sie ist, dort wird sie auch erwachen. So punktieren die Sterne.«
Na‚ dann wars erst recht gut. Wirklich ganz famos, diese Sterne, daß sie sich so punktieren und mit dem Zirkel anstochern lassen!
Meine Jungens kamen schon von allein zurück, teils um den fremden Besuch zu besichtigen, teils weil überhaupt Frühstückszeit war.
»Hört, Jungens — Dampf auf und klar Schiff überall! Und dann wascht Euch die Pfoten, Ihr sollt mit indischen Amazonen großes Preisringen machen — na‚ ich erzähle es Euch nachher ausführlich — oder laßts Euch von Siddy erzählen,«
Als ich wieder in die Kajüte trat, berichtete der Sirdar soeben, daß es immer 256 Amazonen seien, welche die Leibgarde des Königs bildeten, eine eiserne Zahl, nämlich deshalb, weil die vier bei den Maladeklas eine heilige Zahl ist, und vier mal vier mal vier mal vier macht zusammen 256.
»Es sind Frauen des Königs?« fragte die Patronin.
»O nein, es müssen Jungfrauen sein und bleiben.«
»Und die Begum ist zugleich dies Anführerin?«
»Jawohl, und die ist auch mit in diese Zahl 256 inbegriffen.«
»Hm, dann ist die aber doch keine Jungfrau mehr!« meinte Doktor Isidor, bedächtig mit den Ohren wackelnd.
»Doch. Sie ist zwar als Königin die erste Gattin des Sultans, aber nur dem Namen nach. Das ist die höchste Ehre, die es bei uns gibt. Die gehört ebenfalls mit zu den 256 Jungfrauen.«
»Ja, ich denke aber,« fing ich jetzt an, »die ist früher auf den Pariser Boulevards herumgelaufen . . . «
Die Patronin gab mir unterm Tisch einen sanften Tritt gegen das Schienbein, und ich verstummte.
Der Sirdar erzählte auf Befragen weiter, wie diese Leibgardistinnen bis auf die Königin schon als ganz kleine Kinder unter den schönsten Mädchen des Landes ausgesucht und als Tänzerinnen und in allen akrobatischen Künsten ausgebildet werden.
»In den Krieg gehen sie nicht mit?«
»Nein. Wenn sie auch in der Führung aller Waffen ausgebildet werden, worin sie auch Erstaunliches leisten. Es sind eben mehr Waffentänzerinnen, nur insofern Amazonen.«
»Sie dürfen niemals heiraten?«
»Niemals.«
»Was geschieht denn mit ihnen, wenn sie zu alt sind, um solche akrobatische Künste auszuführen?«
»Dann — dann . . . werden sie bis an ihr Lebensende verpflegt.«
»Hm,« brummte da Doktor Isidor, einmal ganz mächtig mit seinen großen Ohren wackelnd, »jetzt entsinne ich mich, doch schon einmal von diesen Amazonen von Halmahera gehört zu haben. Nur der Name Maladekka war mir fremd. Diese Maladekkaranis werden, wenn man sie wegen Alters oder sonstiger Unbrauchbarkeit ausrangiert, eingesperrt und müssen des Hungertodes sterben, nicht wahr?«
Während vorhin das Zögern des Sirdars kaum bemerkbar gewesen war, färbte sich jetzt sein dickes, braunes Gesicht noch dunkler.
»So ist es!« mußte er dann zugeben.
Und das nannte der nun eine Verpflegung bis zum sanften Lebensende!
»O,« fuhr er dann eifrig fort, die Sitten des Landes verteidigend, dem er jetzt angehörte, »dieser freiwillige Hungertod ist aber die höchste Ehre, was meinen Sie wohl, was dabei für Festlichkeiten gefeiert werden, wenn so eine Amazone stirbt!«
»Und wenn sie nun einmal nicht freiwillig verhungern will?«
»Ja, dann allerdings wird sie dazu gezwungen.«
»Indem man sie einsperrt und ihr nichts zu essen gibt?«
»Ja natürlich, wie soll es sonst geschehen. Aber trotzdem werden ihr dann dieselben Ehren zuteil.«
»Und dasselbe gilt doch nicht etwa auch für die Königin?«
»Ganz genau dasselbe!«
»Wenn die alt wird oder sonst nicht mehr tanzen kann, muß auch die des Hungertodes sterben?«
»Sobald es der Sultan befiehlt, ja.«
»Und auf so etwas hat sich, eine lebenslustige Französin eingelassen?!«
»Sie ist schon vollkommen eine mohammedanische Inderin geworden. Und dann diese Ehren und Vorzüge, die diese Amazonen schon bei Lebzeiten genießen! Schon daß sie als Mohammedanerinnen unverschleiert gehen, ihr Gesicht jedem Manne zeigen dürfen. Dies allein wiegt doch solch einen gar nicht so schmerzvollen Tod hundertfach auf. Aber dies dürfte Ihnen als christlichen Abendländern wohl nicht recht verständlich sein!«
Da hatte er allerdings recht!
Ich aber verstand sofort, weshalb wir das nicht verstehen.
So wenig wie ein mohammedanischer Orientale versteht, wie jemand bei uns wegen solch eines kleinen Dinges, das man an der Brust trägt, Orden genannt, zum Speichellecker werden kann. Wobei ich mich noch sehr dezent ausdrücke.
Hierbei fällt mir ein guter Witz ein, ein Wortspiel, das ich irgendwo einmal gehört habe.
Es gibt dreierlei Art von Orden: erdiente, erdienerte und erdinierte. Die letzteren sollen die häufigsten sein.
Die nötige Dampfspannung wurde gemeldet, die Boote gehivt, auch das der Eingeborenen, die Anker hoch, und es ging zur Lagune hinaus.
Ein Eingeborener machte den Lotsen. Bei den 12 Knoten, die unser Schiff dampfte, würde es neun Stunden brauchen, bis es Kalam erreichte, den Hafen der Residenz. Das berechnete der Mann genau, und es stimmte dann auch.
Aber da die mondlose Nacht sehr finster werden würde, müßten wir eine Bucht anlaufen oder im freien Wasser vor Anker gehen, das sagte er ebenfalls im voraus.
Inselchen überall, und nicht nur unbewohnte Koralleneilande. Am Nachmittage erblickten wir Küsten, die ebensogut einem Festlande angehören konnten, wenn wir nicht gewußt hätten, wo wir uns befanden.
Es waren die Ternates, recht beträchtliche Inseln, der großen Halmahera vorgelagert.
»Gehören diese mit zu Maladekka, sind sie dem Sultan untertänig?«
»Dem Namen nach, ja. Wie wir zu Holland, so stehen diese Inseln wieder zu uns. Es hausen Seeräuber darauf. Wir nennen sie auch nur die Räuberinseln.«
Daß es hier allüberall Seeräuber gibt, ganze Seeräuberstaaten, das wußten wir bereits. Aber es sind wieder ganz andere Piraten als die chinesischen Sie gleichen mehr den alten nordischen Vikingern, die ja in ihren Booten weniger Jagd auf Schiffe machten, als plündernd ins Land einfielen. So machen es auch diese malaiischen Piraten. Sie kommen in großen Scharen in ihren Prauen angerudert, direkt in den Hafen hinein oder heimlich von der Seite, machen die überrumpelten Männer nieder und schleppen alles mit fort, auch die Frauen und kleineren Kinder. Besonders nach der Ernte werden sie zur reinen Heuschreckenplage.
Aber sie greifen nur die Ansiedlungen ihrer braunen Stammesgenossen an, die in geordneten Verhältnissen leben. Gegen europäische Schiffe und Ortschaften können sie nichts ausrichten.
Es ist wenig gegen sie zu machen. Diese einzelnen Piratenbanden sind besser organisiert und halten im Notfalle besser zusammen als alle diese doch nur kleinen Fürstentümer. Und Holland mischt sich absolut nicht ein. Das ist auch in dem Bundesvertrag festgelegt, daß es dies gar nicht darf. Übrigens kann ja Holland nichts angenehmer sein, als daß sich die Eingeborenen in solchen gegenseitigen Kämpfen aufreiben oder doch dezimieren.
Denn es sind ja nichts weiter als gegenseitige Kämpfe. Die Überfallenen revanchieren sich bei Gelegenheit wieder. Es waren überhaupt alle See— und Landräuber Piratenstaaten und Piratenrepubliken. Die hier auf den Ternaten nannten wieder die Maladekkanen Räuber. Das war hin wie her. Und so ist das alles heute noch.
Abends um fünf liefen wir in eine Bucht mit tiefem Wasser und ankerten. Einen Menschen bekamen wir nicht zu sehen, aber Raubtiere aller Art hörten wir die ganze Nacht brüllen.
Am andern Morgen hatten wir noch zwei Stunden zu dampfen, dann liefen wir in eine herrliche, weite Bucht ein, deren Ufer mit Hütten bedeckt waren — Kalam, die Residenzstadt des Sultans von Maladekka.
Aber das durfte man nicht lächerlich nehmen. Wenn auch hier unten nur einige hundert elende Hütten standen mit einigen tausend Einwohnern.
Alle Verhältnisse waren hier wegen der Seeräuber geregelt, deren Ankunft unberechenbar war.
Halmahera ist zum Teil sehr gebirgig. Es war nur ein schmaler Küstenstreifen, auf dem die Hütten standen, gleich dahinter ging es steil empor, auf der Nordseite trat die glatte Felswand vollends bis dicht ans Wasser heran, und dort oben in einer Höhe von etwa 150 Metern klebte etwas wie ein Adlernest.
Das war der äußere Teil der Felsenburg zu Ehren der Amazonen der Palast der Maladekkaranis genannt, sonst ganz in den Felsen hineingehauen, das war die eigentliche Residenz des Sultans, schon mehr eine ganze Stadt mit mehr als tausend Einwohnern, die immer dort oben lebten, die Hälfte davon Krieger, welche von hier oben nach den Piraten spähten, um dann mit ihnen den Kampf aufzunehmen.
In dieser Felsenbuog wird alles aufgespeichert, was das Land liefert, und es sind gar fleißige, betriebsame Eingeborene, von Feldfrüchten vor allen Dingen Reis, in den Wäldern wird das für Lackfarben begehrte Dammarharz gesammelt, in den Bergen gibt es große Silber- und Kupferminen, auch Gold wird in ganz beträchtlicher Menge gefunden. Dies alles wird hier oben aufgespeichert, bis ein holländischer Dampfer kommt und alles, was die Eingeborenen nicht selbst brauchen, abholt.
Das muß aber doch alles erst aus dem Innern des Landes herbeigeschafft werden, und diesen Zeitpunkt, wann die Karawanen kommen, kennen die Piraten ganz genau, da nützt es nichts, die Termine von der Ernte unabhängig zu machen und sonst zu verschieben, die Piraten haben ihre Spione, und dann erscheinen sie mit ihren zahlreichen Prauen, ein ganzes schwimmendes Heer.
Aber die Krieger dort oben sind auf der Wacht. Dann werden die schon handfertig liegenden Steine und Felsblöcke auf die feindlichen Boote herabgeschleudert, das ist viel wirksamer als jedes Artilleriefeuer.
Manchmal freilich gelingt den Piraten die Landung doch, während die Waren und Produkte noch hier unten liegen, dann wird alles mitgenommen, und dann muß versucht werden, die Piraten in den eigenen Prauen zu verfolgen, um ihnen die Beute wieder abzunehmen, oder man revanchiert sich mit einem Einfall in das feindliche Land. Denn, wie gesagt, das beruht ja ganz auf Gegenseitigkeit, diese Maladekkanen machen genau solche Piratenzüge.
So hatte uns der Sirdar erklärt. Nur daß er das letztere Revanche oder eine Bestrafung der Piraten nannte.
»Wo sind denn hier die Segelboote und Ruderprauen?« fragte ich.
Denn an der Küste lagen nur einige wenige Fahrzeuge, und der Sirdar hatte von einer Flotte von hunderten von Booten gesprochen, und auf der Kriegsfahrt sollten sie sich jetzt nicht befinden, auch nicht zum Einsammeln der Kokosnüsse, deren gepreßtes Fleisch ebenfalls für den Sultan eine Quelle des Reichtums bildet.
Der Sirdar machte mich auf einige Höhlen oder nur Löcher in der Felswand aufmerksam, in die noch das Wasser hineinspülte. Dort drin lagen alle die Boote, in einem in den Felsen hineingehauenen Hafen, der auf diese Weise leicht verteidigt werden konnte, überhaupt ebenso wie die Felsenburg uneinnehmbar war, meinen Ansicht nach auch, für jedes europäische Kriegsheer.
Wer diesen Hafen und die Räume der Burg dort oben und die Treppenaufgänge in den Felsen gemeißelt hatte, das wußte hier niemand mehr. Eben die Vorfahren. Aber unter welchen Sultanen, denn da mußten doch ganze Generationen gearbeitet haben — das ging bis in die graue Vorzeit zurück. Man weiß ja, wie gern sich die Inder in die Felsen hineinbohren. Man denke an den kolossalen Felsentempel auf der Insel Elefantine bei Bombay, das muß man aber gesehen haben, um sich einen Begriff davon machen zu können, da helfen keine Angaben von Maßen, und solcher Felsentempel, bei denen nicht eine schon vorhandene Höhle benützt wurde, gibt es in Indien noch zahllose, sie sind wirklich noch nicht gezählt, und darunter, so weit uns bekannt, mit noch ganz anderen Dimensionen als jene von Elefantine.
Diese Leutchen haben ja Zeit, so etwas anzulegen, bei uns wäre solch eine Arbeit gar nicht mehr möglich, seitdem es keine kriegsgefangenen Sklaven mehr gibt.
In solch ein Wasserlöchelchen konnte unser Schiff nicht kriechen, um in den eigentlichen Hafen zu gelangen, wir konnten uns überhaupt gar nicht der Küste nähern, gingen in der Mitte der Bucht vor Anker.
»Sie werden bereits erwartet, es ist alles zu Ihrem Empfange schon vorbereitet!« sagte der Sirdar, nachdem er mit zwei Tüchern einige Zeichen gemacht hatte, eine Art des Semaphorierens, und wir sahen, wie auch dort oben in dem Adlernest etwas Weißes und Rotes geschwungen wurde.
Wir hatten gestern den ganzen Tag Zeit gehabt, alles zu besprechen, alle Möglichkeiten zu erwägen, nachdem uns der Sirdar alle Verhältnisse offenbart hatte.
Wir mußten ja von vornherein damit rechnen, in ein malaiisches Räubernest zu kommen, dessen mohammedanische Bewohner nur zu gern, wenn sie nur einmal können, Christen aus fanatischem Religionshasse töten, auch Männer zu Sklaven machen, und die es überhaupt auf unser Schiff und seinen Inhalt abgesehen hatten.
Aber wir durften auch unbedingt der Versicherung des Sirdars glauben, daß wir, nachdem wir einmal eine Einladung bekommen, die unter der geheiligten Gastfreundschaft der Mohammedaner stehenden unverletzlichen Gäste sein wurden, denen auch nicht ein Haar gekrümmt werden durfte.
So hatte uns der Sirdar versichert, indem er gleich selbst stark andeutete, wie er recht wohl unser geheimes Mißtrauen erriete und verstände und da hatte er auch gleich noch etwas über sich selbst gesprochen, wie er als Holländer in die Dienste solch eines malaiischen Sultanats gekommen sei.
Er war einst holländischer Offizier gewesen, war ungerechtfertigt übersprungen worden, hatte sich gekränkt gefühlt, hatte sich dem Sultan von Maladekka als militärischer Beirat angeboten und war angenommen worden.
»Ich bin nicht etwa dadurch ein Feind meines Vaterlandes geworden, aber noch weniger ist daran zu denken, daß ich etwa ein holländischer Spion bin. Nein, ich diene jetzt meinem braunen König in bedingungsloser Treue. Mit meinem Mohammedanismus, der unbedingt nötig war, ist es allerdings schwach bestellt. Aber die Versicherung kann ich Ihnen auf mein Ehrenwort als Ehrenmann und als Offizier geben: an die Heiligkeit der mohammedanischen Gastfreundschaft dürfen Sie unbedingt glauben!«
So sprach der Sirdar, und wir glaubten ihm.
Dann aber war unser Plan auch gleich gefaßt gewesen.
Ich selbst hatte die Patronin ja einmal dazu animiert, es sich zum Prinzip zu machen, keine Einladung anzunehmen. Und wenn auch irgend ein König oder Kaiser sie zu sich an seinen Hof einlud — die Einladung wurde abgeschlagen! Wer uns oder die Patronin kennen lernen wollte, der mußte zu uns an Bord kommen.
Aber hier lag ja etwas ganz anderes vor. Wir selbst waren es, die diese malaiischen Amazonen gern kennen lernen wollten. Und daß diese mohammedanischen Weiber, so viel Freiheit sie auch sonst genossen, nicht zu uns an Bord kamen, das war leicht begreiflich, das brauchte uns der Sirdar nicht erst zu erklären.
Nun gut, dann folgten wir eben einmal der Einladung, gingen in die Felsenburg, dann aber auch gleich wir alle zusammen!
Nur die 32 Schiffsjungen blieben an Bord und von uns eigentlichen Argonauten nur diejenigen, die eben nicht mitkommen wollten, denn gezwungen konnte doch dazu niemand werden, das war ja kein Dienst.
Ich führe sie außer den Schiffsjungen alle einzeln an, welche zurückblieben, habe meinen besonderen Grund dazu:
Kapitän Martin, der überhaupt nie das Schiff verließ, wenn es nicht der Dienst erforderte; der erste Steuermann, der sich überhaupt nie unter andere Menschen begab; der erste Maschinist, der überhaupt nichts anderes als seine Maschine im Kopfe hatte; ferner der Schiffszimmermann Hammid mit seinem hölzernen Bein und Kien Chen, der in seiner Kombüse keinen anderen kochen ließ.
Das waren die Zurückbleibenden von der eigentlichen Besatzung.
Sonst blieben noch an Bord: Fabian, der als Lehrer das für seine Pflicht hielt; Mama Bombe; der blödsinnige Schudick; Carlistle.
Alle übrigen waren mit, der Bandlwurm sowohl wie das Zwergehepaar wie das einbeinige Menschenkänguruh, selbstverständlich auch Ilse an der Hand Klothildens.
Wir nahmen gleich mit, was wir bei unseren Vorführungen zu gebrauchen gedachten: Turngerätschaften und Spielutensilien der verschiedensten Art, unsere Säbel und Rapiere, auch die Pauken und Posaunen und sonstigen Instrumente nicht zu vergessen. Dort oben sollte es gleich mehrere Turnierplätze geben, nach der anderen Bergseite hinaus, auch die Amazonen übten ja dort oben, kamen überhaupt niemals herunter. Wenn wir sonst noch etwas brauchten, konnten wir uns ja jederzeit holen lassen. Tiere begleiteten uns vorläufig noch nicht. Auch Kulissen und Garderobe für das Theaterspiel nahmen wir nicht mit, denn für dieses hätten diese Orientalen doch absolut kein Verständnis, das hatte uns der holländische Sirdar gleich gesagt. Aber Musik, ja, das war etwas ganz anderes.
Ich hatte geglaubt, er würde, als wir die Rapiere und Entersäbel einpackten oder umschnallten, etwas davon sagen, daß die Mitnahme von Waffen nicht erlaubt sei, aber kein Wort davon, und so sagte natürlich auch ich nichts.
Die Barkasse genügte, um uns 76 Köpfe, die wir genau waren, an Land zu bringen. Das heißt, es ging durch so ein Wasserloch in den Hafen hinein. Es gab nach der Felsenburg hinauf auch noch einen Weg von der Landseite hinauf, aber den durften Fremde nur mit verbundenen Augen passieren, erklärte der Sirdar, und darauf würden wir uns vielleicht nicht einlassen, worin er auch ganz recht hatte. Von dem unterirdischen Hafen ging es dagegen direkt hinaus, da war solch eine Vorsichtsmaßregel nicht nötig.
Ehe ich als letzter ins Boot stieg, ließ ich noch einmal die 32 Jungen zusammentreten, hielt noch eine kurze Ansprache. Eine humoristische. Wie ich das Schiff einzig und allein unter ihrem Schutze zurücklasse, daß sie zeigen sollten, wie sie ganze Männer seien, wozu aber auch unbedingte Subordination gegen den Kapitän und jeden anderen Vorgesetzten gehöre.
Ja, ich sprach humoristisch.
Anderseits aber war es ganz und gar nicht humoristisch.
Das alleingelassene Schiff stand tatsächlich unter dem Schutze dieser 32 Jungen mit einem Durchschnittsalter von acht Jahren.
Aber der Leser wird später noch erfahren, was ich in den vier Monaten aus diesen Kindern durch eine ganz besondere Erziehungsweise gemacht hatte!
Wie ich sie zur größten Selbständigkeit gebracht hatte. Zu einer Selbständigkeit von deren Größe ich selbst gar nichts ahnte!
Denn diese Bengels sollten uns während unserer Abwesenheit einen fürchterlichen Streich spielen.
Doch ich darf nicht vorgreifen.
»Jawohl, Waffenmeister!« erklang es mir aus 32 Kehlen enthusiastisch nach, als auch ich ins Boot stieg.
Ein größeres Wasserloch ließ uns ein, wir sahen in der weiten, um nicht zu sagen ungeheuren Höhle im unsicheren Scheine von Öllampen und auch einiger Fackeln, von Malaien für uns gehalten, eine Unmenge von Auslegebooten, Ruderprauen und anderen Fahrzeugen liegen. Sonst war nichts deutlich zu erkennen.
Das Wasserbassin wurde ringsum von einer niedrigen Galerie eingerahmt, wir stiegen aus, die Barkasse blieb einfach hier liegen, einstweilen auch alle unsere Sachen, der Sirdar übernahm ohne weiteres die Führung.
Es ging die Steintreppen hinauf, alles aus dem Felsen herausgemeißelt, immer im Zickzack, an jeder Ecke von einer schön aus Kupfer oder Bronze gearbeiteten Öllampe erleuchtet, sonst alles ganz nackt.
»Hier geht der Brunnenschacht durch!« sagte der Sirdar einmal, mit der Hand gegen eine Felswand klatschend.
»Hat der Brunnen immer Wasser?«
»Immer, er versiegt auch in der trockensten Zeit nicht.«
Dann war diese Burg überhaupt uneinnehmbar. Oder es hätte doch, wenn die hier auch alle Feldfrüchte aufspeicherten, einiger Jahre bedurft, um sie auszuhungern. Im Sturme zu nehmen war sie jedenfalls nicht, bei solchen Felsengängen. Einige Mann an jeder Ecke nur mit Lanzen bewaffnet, hätten genügt, um eine ganze Armee aufzuhalten.
Schon sehr hoch waren wir gestiegen, als sich ein horizontaler Gang zu einem Saale erweiterte, in dem die ersten Teppiche und Polster lagen, auch sahen wir hier, mit Ausnahme unten im Hafen, die ersten Menschen, wohl Diener.
Nun erwartete ich endlich die Aufforderung, auch unsere sonstigen Waffen abzulegen, und sie wäre angebracht gewesen. Der Fremde und auch schon bekannte Gast muß beim Betreten eines mohammedanischen Hauses alle seine Waffen im Vorzimmer ablegen. So, erinnere ich daran, hatte ja auch der Sirdar seinen Dolch aus dem Gürtel genommen und im Boote zurückgelassen, ehe er an Bord gekommen war.
Aber diese Aufforderung geschah nicht, keine Frage deshalb. Es handelt sich eben immer nur um offen getragene Waffen. Zwar soll man auch verborgene Waffen ablegen, aber der Gast wird daraufhin doch nicht etwa erst visitiert, braucht auch kein Ehrenwort abzugeben, nicht beim Barte des Propheten zu schwören. Der Sirdar hatte ganz sicher auch noch Waffen unter seinem Kaftan gehabt.
Jeder meiner Jungen hatte einen Sackpuffer bei sich, einen Bulldoggrevolver mit genügender Munition, und außerdem noch sein Schiffsmesser. Aber wir wurden also nicht nach verborgenen Waffen gefragt. Diese Malaien trauten uns eben, daß wir nicht etwa als Räuber kamen, die sich ihrer Burg bemächtigen wollten, so wie wir ihnen vertrauten.
Dann noch ein kurzer Gang, und wir betraten wieder einen Saal, der sein Licht durch große Fensteröffnungen erhielt, allerdings sehr hoch angebracht, und außerdem mit Teppichen und Polstern wirklich prachtvoll ausgestattet.
Auf einem thronartigen Sessel, golden oder vergoldet, die Edelsteine aber jedenfalls echt, saß, der Sultan Rangalla, ein schon älterer, sehr korpulenter Mann, und alle hinter ihm stehenden Männer, die ersten seines Reiches, waren gleichfalls dick.
Mir fiel diese allgemeine Dicke überhaupt sehr auf, ebenso die weichen, verschwommenen Züge, die ich überall erblickte, durch die zum Teil sehr großen Vollbärte nichts Energisches bekommend, überall die ungemein feinen Hände mit polierten und rotgefärbten Nägeln — diese ganze Männergesellschaft machte einen ungemein verweichlichten Eindruck, und der Sirdar hatte uns ja auch schon erzählt, was für ein reicher Mann dieser Sultan sei und in welchem Luxus an diesem Hofe gelebt würde.
Wie wir empfangen würden, wie wir uns zu verhalten hätten, darüber hatte uns ja der Sirdar schon zur Genüge instruiert, ich habe aber von alledem nichts erwähnt, da ich ja sonst wiederholen müßte.
Nun, es war einfach genug. Gar keine weitere BegrüBung, noch weniger eine Vorstellung. Dafür sofort eine gar heilige Zeremonie.
Dem Maharadscha wurde von einem Diener auf einer silbernen Platte ein großer, flacher Brotkuchen gebracht, er selbst entnahm einer goldenen Schale eine Hand voll Salz, streute es auf den Kuchen, riß ein Stückchen ab, aß es, riß weitere Stückchen ab und gab jedem von uns eines, während wir vorbeidefilierten, dazu immer dieselben malaiischen Worte sprechend:
»Im Namen des Propheten heiße ich Euch als Gäste der Sultana von Maladekka und der Begum der Maladekkaranis willkommen.«
So, wir hatten Salz und Brot mit ihm gegessen, nun waren wir unverletzlich und wenn auch einer von uns aus Versehen einen Totschlag beging. Und geschah ein Mord mit Absicht, so mußte der Betreffende sich erst auf freiem Felde außerhalb Gesichtsweite entfernt haben, ehe er verfolgt werden durfte.
Gleich nach dem Vorbeidefilieren wurden wir wieder in einen anderen Saal geleitet, in dem auf niedrigen Tischchen, vor denen wir niederhocken mußten, das vom Propheten für um elf Uhr vorgeschriebene Mittagsmahl serviert wurde.
Eine Schüssel wurde nach der anderen aufgetragen, nach der zehnten verzichtete ich darauf, sie weiter zu zählen. Zwar war es meistenteils Reis, aber immer in total anderer Zubereitung, mit dem verschiedensten Fleisch, das man nicht wiedererkannte, alles so in Würfelchen geschnitten, daß man mit den Fingern fertig wurde. Denn Gabel und Löffel und Messer gab es auch für die europäischen Gäste nicht.
Wie gesagt, der holländische Sirdar hatte uns schon geschildert, wie alles kommen würde, wir hatten uns verabredet, diese Esserei nicht zu lange auszudehnen, sonst hätte das ja Stunden gewährt, und als niemand mehr zulangte, wobei freilich dem Eskimo von seinem Freunde Juba Riata die Schüsseln vor der Nase weggenommen werden mußten, wurde das übliche Waschwasser herumgereicht, und dann ging es wieder in einen anderen Saal, der aber mit einem prächtigen Garten fast in offener Verbindung stand, die eine Wand war herausgemeißelt worden, nur einige Säulen hatte man stehen lassen.
Hier erwartete uns schon wieder der Maharadscha mit seinem Gefolge, auf der einen Seite sitzend, wir lagerten uns ihnen zwanglos gegenüber, so einen weiten Halskreis bildend. Nur der Sirdar blieb bei uns, zwischen der Patronin und mir, um uns Erklärungen geben zu können, unsere Fragen zu beantworten. Ein vertraulicheres Beisammensein mit dem Maharadscha und der Begum würde erst heute abend erfolgen, jetzt ging alles noch streng zeremoniell zu.
»Bitte, keine indischen Gaukler und Schlangenbeschwörer,« hatte ich von vornherein gesagt, »wir möchten so bald als möglich die Amazonen kennen lernen.«
Bisher war noch von keinem Weibe etwas zu bemerken gewesen, weder verschleiert noch unverschleiert, jetzt aber kamen sie anmarschiert, die 256 Leibgardistinnen.
Solch einen Anblick hatten wir nun freilich nicht erwartet. Vor allen Dingen nicht, daß diese Ehrenjungfrauen, die sie doch waren, sich uns christlichen Fremdlingen so ziemlich im Evakostüm präsentieren würden. Obgleich sie vom Halse bis zu den Füßen eingehüllt waren, sogar gepanzert. Da es aber solche schmiegsame Schuppenpanzer wohl schwerlich gibt, mögen sie auch noch so sein gearbeitet sein, so waren es sicher Trikots, auf welche dünne Blechschüppchen nur aufgenäht waren, die einen in Gold, die anderen in Silber. Sonst hätten sie unmöglich so jede Bewegung mitmachen können.
»Es waren durchweg sehr, sehr schöne Mädchen, die sich uns präsentierten, einmal dem Gesicht nach, und dann auch nach den Figuren. Daß sie sehr viel körperliche Übungen treiben mußten, das war den kraftvollen Gestalten wohl gleich anzumerken, aber Riesenweiber oder besonders muskulöse waren nicht darunter.
Sie waren mit Schwert und Schild bewaffnet, führten ein Ballett mit kriegerischen Evolutionen aus, kämpften zusammen, Rot gegen Weiß, Gold gegen Silber, und wenn die blitzenden, ganz gewaltigen Säbel zusammenklapperten, dann klang es nach Holz, sogar nach hohlem Holz, und wenn die nicht anders fechten konnten, dann war es mit ihrer Fechterei nicht weit her.
»Ist denn da auch die Begum dabei?« fragte ich den Sirdar.
»Jawohl, die vierte in der zweiten goldenen Reihe, die jetzt gerade vorrückt, ist es. Das ist die Begum Sallah, die Anführerin der ganzen Leibgarde, die sie alle in Zucht halten muß. Aber Vorkämpferinnen oder Vortänzerinnen gibt es hier nicht, weil doch sonst noch eine zweite vorhanden sein müßte, was nicht sein darf. So tritt sie bei den Spielen einfach mit in die Reihen.«
Ich sah ein ebenso schönes, schwarzäugiges und schwarzhaariges junges Weib mit orientalischen Zügen wie alle die anderen, sie blickte auch genau so kokettierend nach den fremden Gästen wie alle anderen. Ganz genau so wie bei unserem Ballett.
»Es ist wirklich eine Französin?«
»Ganz sicher. Aber bitte, sage nicht, daß Du es weißt.«
»Wie alt ist sie denn?«
»Da stellst Du eine Frage, die hier mit dem Tode bestraft wird!« flüsterte der Sirdar zurück, lächelte aber dabei.
Nun, die meisten unserer Damen würden solch eine Frage nach dem Alter vielleicht auch mit dem Tode bestrafen — wenn sie es nur dürften.
Die trikotgepanzerten Jungfern waren so erst zehn Minuten herumgehopst, waren sicher noch lange nicht fertig, als das gesellige Beisammensein jäh unterbrochen werden sollte.
Ein malaiischer Diener kam auf uns zu, machte dem Sirdar eine Meldung, die ich ja nicht verstand.
»Weshalb ist denn Euer Schiff abgedampft?« wandte der sich jetzt an mich.
»Was?«
»Euer Schiff dampft zur Bucht hinaus.«
»Ach, das ist ja gar nicht möglich!«
»Wenn ich Dir sage! Unsere Krieger haben es gesehen, die stehen doch immer auf dem Söller auf Wache — soeben schicken sie mir die Meldung, daß das fremde Schiff zur Bucht hinausdampft.«
Ich war aufgesprungen, die Patronin auch. Was kümmerte uns jetzt noch die Tanzerei und das ganze Zeremoniell. Erklärung dieses Rätsels mußten wir haben!
»Wo kann man von hier auf die Bucht hinabblicken?«
»Das ist gleich hier . . .«
Der Sirdar führte uns, einige von meinen Leuten, die es mit angehört, worum es sich handelte, schlossen sich an.
Dann standen wir im Freien auf einer Plattform, dadurch gebildet, daß die Felswand hier oben einen Absatz machte, weiter zurücktrat, die Plattform hatte eine Ummauerung — das war das Adlernest, das man von unten gewahrte, hier oben freilich von ganz respektabler GröBe.
Ich sah nicht, wer sich alles darauf befand, ich sah nur tief unter mir die Bucht — und in dieser keine »Argos« mehr — wohl aber steuerte sie soeben mit mächtig qualmendem Schornstein zu der Bucht hinaus und verschwand hinter einem Vorgebirge.
Ich starrte und starrte.
»Helene, was soll das bedeuten?« konnte ich nur flüstern.
»Der Kapitän macht mit den Jungen eine Probefahrt, heizen können die Kinder ja!« entgegnete die.
»Ja, einen Kessel können die Bengels wohl heizen, aber . . . Kapitän Martin mit denen eine Übungsfahrt machen, ohne daß er uns davon benachrichtigt hätte?! I, da ist bei Kapitän Martin doch gar nicht daran zu denken!«
»Die Wächter sagen,« wandte sich da der Sirdar nachdem er noch mit den Malaien gesprochen hatte, »an der Kommandobrücke hätte, als das Schiff abging, nicht der Kapitän gestanden, auch kein anderer erwachsener Mann, sondern nur lauter halbwüchsige Knaben!«
Mehr brauchte ich nicht zu hören, da plötzlich ging mir die klare Erkenntnis auf, so ungeheuerlich sie mir auch selbst dünken mochte.
»Jungens,« schrie ich, »die Bengels rücken mit unserem Schiffe aus! Hinunter! Ihnen nach!«
So schrie ich noch in dem Tanzsaale, in dem aber nicht mehr getanzt wurde. Auch alle meine anderen Jungen und sonstigen Leute standen doch jetzt da, wußten jetzt alle, um was es sich handelte, und wußten nun nicht gleich, was sie beginnen sollten.
»Mir nach! Hinab, hinab! Mit der Barkasse ihnen nach!«
Und wir rasten hinab. Wie lange wir zu den 150 Metern Tiefe brauchten, weiß ich nicht. Ich nahm immer drei und vier Stufen auf einmal und wurde dennoch von Klothilde überholt, obgleich diese die kleine Ilse auf dem Arme hatte.
Und dann saßen wir alle in der Barkasse, die noch mit unseren Sachen bepackt war, der Motor angestellt, und sie knatterte in die Bucht hinein und zu dieser hinaus, mit 14 Knoten Fahrt, während die »Argos« unter Dampf nur 12 machte.
40. KAPITEL. DIE BLAUEN UND DIE GELBEN.
Ja, ich hatte aus den 32 Knirpsen innerhalb von drei Monaten etwas zu machen verstanden.
Nicht etwa, daß ich sie in der Seemannschaft schon so weit ausgebildet gehabt hätte, daß jeder einen ganzen Mann stand. Das kann man bei Jungen, von denen nur einige schon zwölf Jahre alt waren, einige aber auch erst vier, im Durchschnitt acht Jahre, wohl nicht verlangen.
Nein, in moralischer Hinsicht meine ich, in der Ausbildung des Charakters.
Ich glaube da wirklich durch eine besondere Erziehungsmethode ein Problem gelöst zu haben, das man auch anderwärts einmal versuchen sollte, um kleine Tunichtgute — geborene Bösewichte, möchte man fast sagen — in bessere Menschen zu verwandeln.
Zunächst erwähne ich, wenn das dabei auch Nebensache ist, daß die 32 Jungen unterdessen andere Namen bekommen hatten.
Mit den Götter- und Heldennamen konnten wir uns durchaus nicht befreunden, Cäsar, Hektor und Nero hießen auch schon Hunde von uns. Und das Rufen mit Nummern wurde uns nach und nach immer unsympathischer. Riefen wir einfache Zahlen, so entstanden zu oft Verwechslungen, also mußte man immer »Nummer« vorsetzen, und das erinnerte doch sehr an Zuchthaus. Andere Vornamen sind aber gar nicht so leicht zu erfinden, wenn man schon 60 Leute hat, die alle beim Vornamen gerufen werden, jeder mit einem anderen, wenn er auch nachträglich mit einem solchen getauft worden ist. Das ist an Bord des Schiffes nun einmal nicht anders. Jeder Mann vor dem Mast wird beim Vornamen gerufen, und sind drei Auguste dabei, dann werden zwei von ihnen umgetauft.
Nur einer war unter ihnen, der einen christlichen Vornamen hatte. Weil er seine Eltern oder doch seine Mutter kannte, die ja mit uns an Bord war. Der Sohn der Mama Bombe.
Der hieß Otto.
Und zufällig führte er in der Größenreihe auch die Nummer acht.
Das war ein merkwürdiger Zufall insofern, als acht auf Italienisch nämlich Otto ist. Wenn auch unser Name Otto nichts mit der italienischen acht zu tun hat. Der Name Otto ist ein altskandinavisches Wort und bedeutet der Vortreffliche.
Aber die italienische Zahl otto hatte uns doch darauf gebracht.
Wir benannten die 32 Jungen einfach mit den italienischen Zahlen.
Uno, Duo, Tre, Quattro, Cinque, Sei, Sette, Otto, Nove, Dieci, Undici, Dodici, Tredici, Quattordici, Quindici, Sedici, Diciasette, Diciotto, Diciannove, Venti, Ventuno, Ventidue, Ventitre, Ventiquattro, Venticinque, Ventisei, Ventisette, Ventiotto, Ventinove, Trente, Trentuno, Trentiduo.
Das war sehr leicht zu behalten, deshalb braucht man kein Italienisch zu können, die Worte sind scharf voneinander verschieden, und es klingt doch ganz anders, wenn man auf einem deutsch sprechenden Schiffe jemanden »Trentuno« ruft als »Einunddreißig« oder gar »Nummer Einunddreißig«. Deshalb sollten meine Jungen, die meist germanischer Rasse waren, keine Italiener werden. Vorläufig war es ganz gut so, vielleicht konnte es auch für immer so bleiben.
Die Hauptsache war, daß ich die ganze Bande gleich wieder in zwei Farben geteilt hatte, auch äußerlich durch Abzeichen erkennbar, in die Blauen und in die Gelben.
Infolgedessen werde ich fernerhin öfters die Bezeichnungen die »Grünroten« und die »Blaugelben« gebrauchen, um die erwachsene Mannschaft, zu der ich aber auch Fritz den Mondgucker und Jim den schwarzen Kartoffelschäler zähle, von diesen eigentlicher Jungen zu unterscheiden.
Ich habe meine Erziehung während der Fahrt nach der Koralleninsel und während unseres zweimonatlichen Aufenthaltes in der Lagune deshalb nicht geschildert, weil es die größte Ähnlichkeit damit hatte, wie ich auch meine großen Jungen, die Grünroten, ausgebildet hatte.
Also mit Ausnahme einiger Schulunterrichtsstunden wurden den ganzen Tag Sportspiele jeglicher Art getrieben, es wurde geturnt, gesprungen und gerannt, geschwommen und gerudert, ich ließ sie auch fechten, ja ich gab ihnen sogar schon Revolver und Gewehre mit scharfen Patronen in die Hand, ließ sie nach der Scheibe schießen.
Weshalb nicht? Unter den Kindern der Hinterwäldler gibt es noch viel kleinere, die schon ganz perfekt mit dem Schießprügel umzugehen wissen. Sie müssen es lernen, die Not gebietet es. Und konnten wir nicht auch einmal in die Lage kommen, daß wir Erwachsenen nicht mehr fähig waren, unser Schiff zu verteidigen, daß diese Knirpse ein Gewehr abdrücken mußten, um ihr und unser Leben zu verteidigen?
Und was heißt bei so etwas überhaupt Alter? Wie häufig kommt es vor, daß ein Mann, der schon so ziemlich ein ganzes Menschenalter lang den Bureausessel gedrückt hat, nun, da er sich pensionieren läßt, zum Zeitvertreib auf die Jagd gehen will, zum allerersten Male in seinem Leben nimmt er ein Gewehr in die Hand. Und dieser alte Mann hat keine Aufsicht dabei. Ist es da nicht besser, man gibt einem Kinde unter Aufsicht ein Gewehr in die Hand? Dieses Kind wird nicht so leicht ein Unglück anrichten als so ein alter Bureaukrat oder Rentier mit dem Tadderich.
Dann ferner natürlich Unterricht in Seemannsarbeiten aller Art, im Schiffsdienst. Sie mußten einen Teil des Schiffes ganz selbständig rein halten, lernten knoten und splissen, mußten in der Takelage arbeiten. Daß die 32 Bengels etwa das Schiff als Segler hätten bedienen können, daran war natürlich nicht zu denken, aber immerhin, es waren ja sowieso schon so kleine Akrobaten gewesen, sie wurden immer mehr ausgebildet, sie konnten die Matrosen schon recht wohl unterstützen.
Dies alles geschah nach genau bestimmtem Stundenplane, nach der Schiffsroutine.
Bordroutine ist das ungeschriebene Gesetz für den Anstand, der auf dem Schiffe zu herrschen hat. Unter Schiffsroutine versteht man den Stundenplan für die Arbeit und den sonstigen Dienst, der auf Kriegsschiffen von Tag zu Tag anders entworfen und öffentlich ausgehängt wird.
Ja, geregelt waren diese Stunden für jeden einzelnen Tag ganz genau. Heute war von 2 bis 3 Schulunterricht, von 3 bis 4 Flickstunde, dann konnte oder vielmehr mußte geturnt oder sonstiger Sport getrieben werden.
Aber hierin ließ ich den Jungen gänzlich freien Willen.
Es war genau dasselbe wie bei den erwachsenen Grünroten. Farbe ging gegen Farbe, Blau gegen Gelb. Jede Partei übte sich am meisten in der Sache, in der sie am wenigsten leistete, um beim nächsten Wettkampf gegen die andere Farbe die verloren gegangenen Punkte wieder aufholen zu können. Auch hier ging es um Prämien, auf deren Wert es ganz und gar nicht ankam, auch die Blaugelben hatten ihr eigenes »Logis« — sprich so, wie es geschrieben wird — ihren Klubraum, auch hier hatte jede Farbe ihren eigenen Glasschrank, und die Prämien wanderten zwischen den beiden Schränken hin und her.
In diesen drei Monaten hatte die erste Begeisterung für diese Wettspiele nicht im geringsten abgenommen, im Gegenteil, sie nahm immer zu. Genau so, wie noch heute nach einem Jahre meine erwachsenen Grünroten, wenn sie sich zur Koje legten, ehe sie einschliefen, sich nur darüber unterhielten, welche Farbe wohl diese oder jene Prämie das nächste Mal erringen würde.
Mit diesen kleinen Bengeln durfte ich aber noch etwas anderes anstellen, was ich mit den Großen hätte nicht tun dürfen. Ich hätte den Leuten nicht eine Prämie für gute Führung anbieten dürfen. Etwa, welche Farbe am wenigsten flucht, die bekommt hier diese Figur als Prämie in ihren Glasschrank gesetzt. Da hätten mich diese Kerls ja nicht schlecht ausgelacht! Es hat eben alles seine Grenze.
Aber bei solchen Kindern war das noch möglich.
Allerdings war es nur ein Versuch von mir. Ich glaubte selbst nicht daran, daß es gelingen würde. Eine körperliche Ausbildung ist doch etwas ganz anderes als eine moralische.
Aber das Wunder geschah.
Ich hatte die Zauberkraft des Korpsgeistes, über den ich schon früher einmal gesprochen habe, noch immer viel zu gering eingeschätzt.
Denn nichts anderes als der Korpsgeist war es, der dieses Wunder fertig brachte.
Wie schon gesagt: es waren ja niederträchtige Rüpels darunter. Taugenichtse waren sie überhaupt alle gewesen. Mit niederträchtigen Gewohnheiten behaftet. Daß sie sich wegen jeder Kleinigkeit gegenseitig anspuckten, das war noch das wenigste, und mehr will ich gar nicht erwähnen. Bei vielen aber sah man schon den Stempel des zukünftigen Verbrechers ganz deutlich auf die Kinderstirn gedrückt.
Da hätten keine Strafe, nicht die fürchterlichsten Prügel genützt. Das wußte ich im voraus, damit fing ich gar nicht erst an.
Ich setzte eine Prämie für die beste Führung aus. Nur eine, Figur, einen hölzernen Elefant. Mit Absicht hatte ich so etwas gewählt. Die Prämie durfte mit der guten Führung in gar keiner Beziehung stehen.
So, nach dieser Prämie hat jede Farbe durch gute Führung zu ringen. Jeden Mittag vor dem Essen wird sie einer Farbe neu zugeteilt, die sie dann für 24 Stunden zu verteidigen hat. Die früheren guten Führungen zählen natürlich nicht mit. Es geht immer nur von Mittag zu Mittag.
Und da geschah das Wunder, an das auch ich niemals geglaubt hätte.
Die durch und durch verrohten Bengels wurden plötzlich alle Musterknaben.
Ich mußte es mir erst reiflich überlegen, ehe ich es begreifen konnte.
Es war eben der Korpsgeist, der dieses Wunder bewirkte. Alles Persönliche war ganz ausgeschaltet. Es ging nur um die Ehre der Farbe, der Partei. Welche Farbe den hölzernen Elefanten am Mittag in ihren Glasschrank bekam.
Damit die Figur nicht aus dem blauen Schrank in den gelben wanderte, deshalb hörte der unverbesserliche Dieb plötzlich zu stehlen auf. Oder er hatte vielmehr alles, was er heimlich erwischen konnte, einfach über Bord geworfen, nur aus Lust am Verschwindenlassen, an Schädigung eines anderen, an der Vernichtung. Das war ja natürlich schon mehr eine Manie, eine geistige Krankheit. Aber plötzlich war diese verschwunden. Und so war es bei allen anderen. Die verlogensten Schlingel, die aus Prinzip logen — sie sprachen plötzlich die lautere Wahrheit. Denn wenn sie einmal bei einer Lüge ertappt wurden, dann gab es wieder für die andere Farbe einen Punkt, der ihr den hölzernen Elefanten näher brachte. Und so war es bei allem und jedem.
Kurz und gut, aus diesen kleinen, nichtswürdigen Halunken waren mit einem Schlage tadellose Musterknaben geworden.
Und jetzt hatten diese Musterknaben uns das ganze Schiff gemaust!
Ich will es gleich erzählen, wie es gekommen war, wenn ich es auch erst später erfuhr,
Gegen zehn Uhr hatte ich meine Anrede gehalten, wir gingen mit der Barkasse davon.
Die Knirpse fühlten sich als Herren des Schiffes. Das heißt als Beschützer.
»Wenn wir nur jetzt zeigen könnten, was wir schon leisten können.«
»Wenn nur jetzt plötzlich ein Sturm käme.«
»Oder Seeräuber. Na‚ die wollten wir ja heimschicken.«
»Na, wenn uns dieses Schiff gehörte, wir wollten ja etwas anderes machen, als immer so lange in einer Lagune liegen.«
So und ähnlich waren die Reden zuerst gegangen. »Wenn wir wenigstens jetzt einmal eine Fahrt allein machen dürften.«
»Das wäre ein Gedanke! Wir müßten den Kapitän fragen!«
»Dummer Hund, denkst Du denn, der erlaubt so etwas?«
»Na‚ da wird er einfach gar nicht erst gefragt, wir fesseln ihn einfach und fahren los.«
Ventetre war es gewesen, der diesen Vorschlag zuerst gemacht hatte, ein zehnjähriger, aber noch sehr kleiner Bursche, dem ich das eigentlich am allerwenigsten zugetraut hätte.
Doch es kommt ja gar nicht drauf an, von wem dies alles ausging. Sie machten überhaupt alle mit, waren gleich ein Herz und eine Seele, nur die Anregung mußte dazu einmal gegeben werden.
»Na, warum solls denn der Kapitän nicht erlauben,« hatte es dann weiter geheißen, »nur einmal so ein bißchen in der Bucht herumdampfen.«
Hierzu bemerke ich, daß die Blaugelben wirklich schon einmal geheizt hatten, jede Farbe eine ganze Wache lang, vier Stunden lang.
Schon auf der Fahrt von Frisko nach der Koralleninsel hatte ich ihnen die Maschine und die Heizanlagen erklärt oder von den Maschinisten erklären lassen. Diese Kenntnis gehört heute mit zur Seemannschaft, wenn ein Steuermann auch nur auf Seglern fahren will. Auf der Navigationsschule hat man ganz tüchtig Maschinenkunde und alles, was dazu gehört.
»Will mal jemand mitfeuern und Kohlen trimmen, um zu merken, wie einem da der Rücken weh tut?«
Ei gewiß, das macht doch Spaß! Und sie hatten Kohlen geschleppt und unter die beiden Kessel geworfen. Zu deren Bedienung gehörten auf jede Woche vier Heizer und Kohlenzieher, die bei uns abwechselnd arbeiteten, also einmal heizten, einmal trimmten.
Sollten 16 kräftige Jungen, ich meine keine notorischen Schwächlinge, mochten einige von ihnen auch erst vier Jahre alt sein, aber im Durchschnitt waren sie ja acht Jahre, nicht dasselbe leisten wie vier Männer?
Nun, den vollen Atmosphärendruck hatten sie nicht immer halten können. Es ist doch eine ganz höllische Arbeit, das Nachwerfen muß auch verstanden sein. Aber immerhin, der nötige Dampf war doch immer vorhanden gewesen, um die Schraube arbeiten zu lassen, die Bengels hatten sich mächtig angestrengt, zumal es wieder Blau gegen Gelb gegangen war.
Also sie glaubten, die Kessel und Maschine vollständig bedienen zu können, zumal sie unterdessen doch noch viel hinzugelernt hatten. Was die jetzt alle schon für Muskeln bekommen hatten! Und diese Hände!
»Gerade, wenn wir hier ein bißchen in der Bucht herumdampfen, dann sehen die Malaien, was wir können falls sie Lust hätten, das Schiff anzugreifen.«
»Hm, das sollten wir dem Käpten eigentlich sagen, dann wird ers schon erlauben.«
»Wo ist der Käpten?«
»Er kriecht unten im Schiffe herum.«
»Warten wir, bis er wieder kommt.«
»Wer will dann zu ihm gehen und ihm den Vorschlag machen?«
»Ich nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Hasenfüße seid Ihr, Süßwasserhäringe!«
»Na‚ dann geh Du doch!«
Dazu hatte der »Held« aber auch keine Lust.
»Na, dann gehen wir eben alle zusammen!«
»Jawohl, und dann auch sofort!«
Richtig, den Entschluß sobald er sich einstellt, nur immer gleich beim Schopfe gefaßt, zur Ausführung gebracht.
Sie glaubten den Kapitän im Unterdeck, begaben sich sofort hin. Durften es ja auch, alle das Deck verlassen, standen gegenwärtig unter keinem Kommando.
Kapitän Martin inspizierte die unteren Schiffsräume, hatte auch einmal die Arrestelle des ursprünglichen Kriegsschiffes ausgeschlossen oder vielmehr nur aufgeriegelt, war eingetreten, um nach dem Rechten zu schauen. Dringesessen hatte bei uns ja noch niemand, aber in Ordnung mußte doch alles sein, so zum Beispiel daß sich die Pritsche leicht herab und wieder hoch klappen ließ.
»Herr Kapitän!« erklang es da hinter ihm.
Der Kapitän drehte sich um, sah da vor der Tür Jungen stehen, so viel Platz hatten, steckte die Hände, die er zu dem Herumklappen gebraucht hatte, wieder in die Hosentaschen
»Was wollt Ihr?«
»Können wir nicht einmal in der Bucht ein bißchen herumdampfen?«
»In der Bucht herumdampfen?«
»Damit die Malaien sehen, daß wir das ganze Schiff regelrecht bedienen können, daß wir die Matrosen und Heizer gar nicht gebrauchen.«
»Das ganze Schiff regelrecht bedienen können? Ihr seid wohl verrückt geworden? Schert Euch an Deck!«
Da plötzlich krachte die Tür zu.
Mit einem Sprunge war der Kapitän an der Tür, aber da war schon der schwere Riegel vorgeschoben worden.
Wer es getan, das weiß ich nicht, danach habe ich dann später auch nicht geforscht, niemand sollte zum Ankläger werden, um sich entschuldigen zu wollen.
»Bande verfluchte, wollt Ihr gleich die Tür öffnen?!«
Aber nur die Klappe für die Wache wurde aufgemacht. Einer mußte gehoben werden, um durch das Guckloch sehen und sprechen zu können.
»Gehen Sie die Erlaubnis, Käpten, daß wir ein bißchen in der Bucht herumdampfen?«
»Tollhäusler Ihr, wollt Ihr gleich die Tür öffnen?!«
»Na, dann machen wir es eben so, wir werden auch ohne Euch fertig.«
Wie es gekommen war, ich weiß, es nicht.
Jedenfalls war der Anfangs gemacht, nun folgte es weiter.
Die Bürschchen wurden wie von einem Taumel erfaßt. »Der Rausch der Rebellion packte sie. Aus einer Luke, die nach dem Maschinenraum führte, blickte ein Knabenkopf.
»Stürmann, Ihr sollt mal zum Käpten kommen, aber fix, fix!«
Der erste Steuermann hatte Wache auf der Kommandobrücke, durfte diese unter keinen Umständen verlassen. Aber wenn ihn der Kapitän rief? Dann selbstverständlich.
»Was ist denn passiert?!«
»Fix, nur fix!«
Der Steuermann stürzte herbei, in die Luke hinein, die Leiter hinab, hatte den Boden noch nicht mit den Füßen berührt, als ihm diese schon mit Stricken umwunden wurden, und ebenso schnell ging es mit den Armen und Händen, die er noch an der Leiter liegen hatte, um sich festzuhalten, die wurden ihm einfach festgelascht. Was wollte er denn überhaupt gegen 32 solche kräftige Bengels machen. Da unterlag auch ein Riese an Kraft. Und inzwischen hatten sie auch schon eben so leicht den ersten Maschinisten abgefertigt, Kalthoffs Nachfolger, ein stilles, etwas ängstliches Männchen, wie ich ihn schon gleich im Anfange geschildert habe.
Der lag auch schon gebunden neben der Maschine, die er geschmiert hatte, und diese Bengels verstanden Knoten zu schürzen, dafür hatte ich gesorgt, und Klothilde hatte ihnen noch extra einige besondere Kunstkniffe beigebracht, die sie jetzt mit bestem Erfolge anwandten.
Alle anderen wurden mit eben solch leichter Mühe abgefertigt. Bemerkenswert ist es aber doch, daß diese Teufelsbraten dem Zimmermann wie dem chinesischen Koch schon den Revolver auf die Brust setzten. Fabian und Carlistle kamen gar nicht in Betracht, die wurden einfach eingesperrt, letzterer im Totensalon bei seiner Traumkönigin, wo er sich natürlich befunden, und von Mama Bombe, und Schudick braucht gar nicht erst gesprochen zu werden.
Jetzt waren die Knirpse wirklich Herren des Schiffes!
Nun fort!
Erst aber die Führung erwählt!
Als Kapitän und Offiziere konnten nur drei »Mann« in Betracht kommen.
Drei von den Jungen waren sehr gute Rechner, zeigten Interesse für die Sache — ich hatte sie im Ausführen von geographischen Ortsbestimmungen ausgebildet, nach der Sonne sowohl wie nach Sternbildern wie nach Monddistanzen. Da ist gar nicht so viel dabei. Eine rein mechanische Sache. Nur zur Handhabung des Sextanten gehört Geschicklichkeit, weiter nichts. Das Rechnen nach Tabellen geschieht ganz mechanisch, wenn auch Logarithmen dazu nötig sind.
Das Schifferexamen für große Fahrt hätten diese drei natürlich nicht bestehen können, auch in diesem Fache nicht — aber für kleine Fahrt ist diese Bestimmung schon gar nicht nötig.
Quattro wurde Kapitän, die beiden anderen seine beiden Offiziere, darunter auch Otto.
Sehr bezeichnend für ihre Gemütsverfassung war, daß sich diese drei den Gürtel sofort mit Revolver und Messern spickten. Das taten aber auch alle anderen, wenn sie auch zum größten Teil in den Heizraum geschickt wurden.
Na ja, regelrechte Meuterer waren sie nun doch schon geworden. Und von denen bis zum Seeräuber ist es ja nur noch ein kleiner Schritt.
Zwar wußten diese Bengels selbst noch gar nicht, was sie eigentlich wollten — aber nur in der Bucht ein bißchen herumdampfen, das konnten sie jetzt jedenfalls nicht mehr, das wußten sie bestimmt.
Wir waren ja mit voller Dampfkraft eingefahren, das Wasser in den Kesseln war noch immer kochend, die nötige Dampfspannung war bald wieder hergestellt, der einzige Anker mit der Dampfwinde gehin und einstweilen hängen gelassen, und fort ging es zur Bucht hinaus,
Wohin?
Den Weg zurück, den wir gekommen waren. Da die an Deck Gebliebenen doch auch etwas zu tun haben mußten, ließ der Herr Kapitän von ihnen unterdessen Gewehre und Munition aus der Waffenkammer bringen, auch die Revolverkanonen klar machen.
Wozu?
»Wir wußten ja gar nicht, was wir taten, wir waren ganz verrückt.«
So wurde mir später von ihnen gesagt.
Eine andere Erklärung gibt es auch gar nicht.
Sie waren vom Größenwahnsinn berauscht.
Aber die meisten Wahnsinnigen scheinen immer noch ganz genau zu wissen, was sie tun, können oftmals ganz kaltblütig handeln.
Freilich sollten sich die kleinen Seekönige nicht lange ihrer freien Selbstherrlichkeit erfreuen.
Sie waren, seitdem sie die Bucht verlassen, vielleicht erst 20 Minuten gedampft, aber auch nicht mit voller Kraft, die konnten sie nicht aufbringen, hatten sich erst drei Seemeilen von der Bucht entfernt, als es unter dem Kiel knirschte, und immer mehr knirschte, und zwar ganz unheimlich, nicht nur nach Sand, sondern nach Felsen, oder hier wohl nach Korallen, ein Ruck und . . . der Dampfer saß fest!
Übrigens will ich gleich sagen: wir hätten bei der Ausfahrt ebensogut hier festrennen können! Nämlich ohne eingeborenen Lotsen!
Die Bürschchen — steuern konnten sie alle, das ist gar keine Kunst — hatten ganz genau denselben Kurs eingehalten, den wir genommen, das war aller Ehren wert.
Aber das war vor zwei Stunden gewesen, da hatte noch höchste Flut geherrscht, und der Lotse, der sich über den Tiefgang unseres Schiffes genau orientiert, hatte uns glatt über diese Bank weggebracht, ohne uns etwas von ihr zu sagen.
Wenn wir ohne Lotsen den Rückweg zwei Stunden nach Flut angetreten hätten, wir wären hier ebenfalls totsicher festgefahren.
Ach Du großer Schreck!
Doch nein — Ehre, wem Ehre gebühret!
Die erwählte Führung erschrak durchaus nicht, sie waren ganze Männer vom Scheitel bis anderthalb Meter hinab zur Sohle.
»All Mann an Deck!« donnerte der Herr Kapitän durch das Sprachrohr hinab in den Maschinenraum, soweit ein Kinderstimmchen donnern kann, nachdem er durch den Signalapparat auch schon den Dampf abbestellt hatte.
Aber das hatten die Maschinisten schon von ganz allein getan, sie kamen wie die Heizer schon von ganz allein heraufgestürzt, die hatten dort unten doch aus erster Quelle erfahren, was passiert war. Es mußte ganz schauerlich gekratzt haben.
Was nun?
Da tauchte dort hinten schon unsere Dampfbarkasse auf.
Nun hätten die Bürschchen uns eigentlich auch noch beschießen müssen. Aber nein, so weit ging es denn doch nicht.
Bei unserem Anblick rutschte diesen Seehelden denn doch das Herz in die Pumphöschen.
Da war es Otto, der den besten Gedanken hatte, und ich hätte es ihm auch verdacht, wenn ers nicht gewesen wäre, denn der Sohn der Mama Bombe war wirklich der Intelligenteste von allen.
»Jungens, erwischen lassen dürfen wir uns nicht! Diese Blamage ertrage ich nicht! Die beiden Jollen klar! Wir schlagen uns in die Wildnis und führen da ein freies Jägerleben!«
So hatte Otto gerufen.
A la bonheur, das war gar keine so schlechte Idee. Wenn schon, denn schon! Und die anderen sahen denn auch sofort ein, daß es hier gar nichts anderes gab.
Also die beiden Jollen ausgeschwungen und zu Wasser gelassen. Das verstanden die Bengels dank meiner Bemühungen schon ganz famos. Vollkommen ausgerüstet für längere Fahrt waren diese Boote immer, hatten gefüllte Wasserfäßchen und einige Säcke mit Schiffszwieback und Konserven und anderen Proviant.
Aber die wackeren Jungen waren bei so klarem Verstande, daß sie in aller Schnelligkeit noch mehr Proviant einluden, Gewehre nahmen sie selbstverständlich mit, sonst konnten sie doch nicht jagen, sie keuchten unter der Last von Patronenkisten — ja, sie dachten sogar an Äxte, Sägen, Hämmer, Nägel und dergleichen Werkzeug, um es sich als Jäger im indischen Urwald möglichst bequem zu machen.
Tatsächlich — wenn ich jetzt auch etwas ironisch erzähle — dann später fand ich dies alles höchst lobenswert.
Wenn schon, denn schon!
Es waren wirklich ganz tüchtige Bengels, diese Knirpse! Die würden es später schon einmal zu etwas bringen.
Und nun mit welcher Schnelligkeit sie dies alles ausführten!
Wir waren noch ein gutes Stück von dem Schiffe entfernt, da waren die beiden Jollen schon unterwegs.
Ob die Jungens freilich die nächste Insel erreichen würden, das war sehr die Frage, denn von der waren sie noch zwei Kilometer ab.
Aber der Himmel selbst stand den wackeren Burschen bei. Mit einem Male versagte unser Motor. Na überhaupt dieser Petroleummotor! Wir kurbelten und kurbelten — er kam nicht wieder in Betrieb!
Die Barkasse konnte auch gerudert werden, die Riemen lagen vorschriftsmäßig befestigt auf den Trachten. Aber über ihnen lagen unsere Säbel und Rappiere und Posaunen und Pauken und was wir sonst noch alles mitgenommen hatten, das mußte erst fortgeräumt werden, und als wir einige Riemen herausgeholt hatten, konnten sie wegen des Gepäckes kaum gebraucht werden.
So erreichten wir mit Müh und Not das Schiff, gleich in der Absicht, die Barkasse aufzugeben und lieber einen oder zwei Kutter zu benutzen.
Kapitän Martin war es, der uns das Fangseil zuwarf und dann die Hände in die Hosentaschen steckte.
Wie er es fertig gebracht hatte, die schwere Eisentür aufzuwuchten, den kolossalen Riegel aufzubrechen, das ist mir immer ein Rätsel geblieben.
Mit wenigen Worten hatte er uns über den Vorgang verständigt, so weit es nötig war.
»Nun aber ihnen nach mit den Kuttern, oder die Jungen sind des Todes, sie kommen in die Korallenstrudel!«
Ja, die Situation hatte sich unterdessen geändert.
Die unternehmenden Bürschlein sollten keine Ternateninsel erreichen, um sie erst von Seeräubern zu säubern und dann ein freies Bukkanierleben auf ihr zu führen.
Ein anderer mochte glauben, daß sie freiwillig die Richtung geändert hätten, sich von der Insel entfernen wollten. Wir aber merkten gleich an ihrem verzweifelten und daher unregelmäßigen Pulen, daß es ein unfreiwilliger Abgang war.
Sie waren in eine Ebbeströmung gekommen, die sie mit, sich fortriß, so verzweifelt sie sich auch dagegen wehrten.
Und sie wußten schon, daß sie sich nicht forttreiben lassen durften, sie sahen dasselbe, was auch wir sahen: dieser mächtige Strom lief dort hinten in die Korallenriffe hinein — dort wo es so furchtbar brandete und brauste dort wartete ihrer der unerbittliche Tod! Dort blieb keine Bootsplanke auf der anderen, dort verschwand alles in dem kochenden Strudel, wenn es nicht vorher an den spitzen Korallenriffen aufgespießt wurde.
»O, gnädiger Himmel, habe nur einmal noch Erbarmen!« heulte ich auf, als ich diese Situation erfaßt hatte.
»Der erste Kutter, den für gewöhnlich ich selbst steuerte, war auch der erste im Wasser, mit der abgeteilten Mannschaft, die ich selbst eingepult hatte.
Wir schossen über das Wasser, und als auch wir uns in der Strömung befanden, war es noch etwas anderes als ein Schießen. Eine Fahrt wie ein Torpedojäger mit 30 Knoten machten wir sicher.
So hatten wir in höchstens fünf Minuten die beiden Jollen eingeholt, nur noch 300 Meter von dem kochenden Korallenstrudel entfernt.
Ich konstatiere, daß die Bengels bis zur letzten Minute und Sekunde mit voller Kraft gepult hatten, gegen den Tod ankämpfend.
Als sie uns ankommen sahen, die Retter in der Not, die Engel vom Himmel, da freilich war es mit ihnen vorbei, da ließen sie die Riemen fahren.
Ach, diese kläglichen Gesichter, die sich uns zukehrten!
Aber noch einmal mußte ich sie erst aufrütteln.
»Erste Jolle — streich backbord!« brüllte ich.
Gelobt sei Gott, sie waren noch fähig, das Ruderkommando auszuführen.
Die Backbordruderer der Jolle Nummer eins griffen noch einmal zu den Riemen. Der Erfolg war der, daß die beiden Jollen zusammenkamen.
Nun brauchte ich weiter kein Kommando zu geben, sie begriffen schon von selbst, was sie tun müßten, oder sie taten es ganz instinktiv: sie klammerten mit den Händen die beiden Jollen zusammen.
Mit drei Streichen hatten wir gewendet, ich schlang das Seil um den Bug der ersten Jolle, und als ich es durch den Bugring zog, da zogen auch meine Jungen schon an.
Und wieder brauchte ich den Bengels nicht zu sagen, was sie zu tun hätten. Sie dirigierten von ganz allein die zweite Jolle nach hinten, hingen sie an die erste.
Und da kam auch schon der zweite Kutter angeschossen, wie immer von Oskar gesteuert, und spannte sich vor unseren.
Und wie auch die Bengels wieder mutig zu den Riemen griffen, da kam die sechzehnriemige Pinaß unter dem ersten Bootsmann angebraust und spannte sich wieder vor Oskars Kutter.
Und nun ging der Tanz erst richtig los, die letzte Jolle kaum noch 100 Meter von dem Strudel entfernt, schon immer schöpfen müssend.
Ich will ihn nicht schildern, diesen Tanz, kann es nicht.
Ziemlich drei Stunden haben wir gebraucht, um wieder an Bord zu kommen, nur aus der Strömung heraus!
Von einem Vorwärtskommen war überhaupt gar nichts zu merken, das konnte man nur aller Viertelstunden konstatieren.
Als ich meinen Fuß an Deck setzte, trat Carlistle auf mich zu, ganz kläglich, mit gefalteten Händen.
»Waffenmeister — jetzt ist meine Königin wirklich tot!« piepste er.
Ich hätte dem Yankee—Jüngling beinahe eine heruntergehauen, war nur nicht fähig dazu.
Ich hatte gleich im Anfange das Steuer einem anderen übergeben, hatte selbst mit gepult.
Jetzt wollte ich mich auf einen Boller setzen, verfehlte mein Ziel, sackte daneben gleich zusammen.
Und so lagen auch alle die anderen wie die Fliegen da. Ja, das war auch etwas anderes gewesen als damals das Bootsracen in Rio! Wir hatten drei Stunden lang Brust an Brust mit dem Tode gerungen!
Erst nach einer halben Stunde waren wir wieder richtig lebendige Menschen. Wenigstens wir Grünroten. Die Blaugelben noch lange nicht. Das waren noch immer lauter kleine Häufchen Unglück. Kapitän Martin ließ sie in die Segelkammer einsperren. Hatte kein Wort zu ihnen gesagt, noch weniger einen berührt. Dazu hätte er ja auch die Hände aus den Hosentaschen nehmen müssen. Übrigens hätte er sie noch ganz anderswo einsperren lassen können, wir hatten nackte Räume genug; so konnten sie sich wenigstens auf die Segel hinlegen. Aber visitieren hatte er sie zuvor lassen, damit sie in ihrer Verzweiflung nicht etwa sonst noch etwas anrichteten.
»Na, Gnade Euch Gott, wenn wir Euch dann vornehmen!« sagte August der Starke, der Herr der Segelkammer, als er einen Jungen ziemlich unsanft hineinschob.
»Still, Bootsmann,« hörte ich Kapitän Martins Stimme, »Ihr werdet sicher nicht den Richter spielen und stoßt die Jungen nicht so herum!«
Unterdessen, gleich nach unserer Abfahrt, hatte Kapitän Martin schon gelenzt. So dicht hält auch nicht das bestgefugte Stahlschiff, daß es nicht doch etwas Wasser einläßt. Und dann hinten die Stopfbüchse, durch welche die Schraubenwelle geht! Dieses sich regelmäßig im Kielraum ansammelnde Wasser, das von Zeit zu Zeit ausgepumpt wird, heißt Lenzwasser. Hier und da gehen durch alle Decks Röhren bis in den Kielraum hinab, durch diese wird das Lenzwasser zu regelmäßigen Zeiten gepeilt, es muß darüber eine besondere Tabelle geführt werden.
Das Lenzwasser war normal, also ein Leck war nicht vorhanden.
Unter den Zurückgebliebenen war kein ausgebildeter Taucher gewesen. Jetzt ging der Heizer Paul hinab, ein geschulter Taucher, gelernter Schlosser, ich begleitete ihn im zweiten Kostüm.
Eine tote Korallenbank, das heißt die Korallen waren abgestorben, es hatte sich eine hohe Schicht Korallensand gebildet, auf dieser hatten sich in hoher Lage Muscheln angesiedelt, Hammermuscheln.
In diese Muschelschicht und vielleicht auch noch in den darunter liegenden Korallensand hatte sich der scharfe Kiel in eine Tiefe bis zu einem halben Meter eingegraben, fast der ganzen Länge nach. So weit wir jetzt beurteilen konnten, war er ungebrochen Hinten lag er naturgemäß tiefer als vorn. Aber die Hauptsache war: die Schraube war unverletzt, lag frei, hatte noch genug Spielraum.
Als ich wieder an Deck war, den Helm abgeschraubt und meine beruhigende Meldung erstattet hatte, tauchte der Sirdar auf, der mit einem Boote gekommen war.
Was denn passiert sei. Festgerannt? Hat nichts weiter zu bedeuten?
»Na, dann ist es ja gut! Also nun kommen Sie doch gleich wieder nach der Felsenburg zurück. Die Begum hat mir befohlen, daß ich Sie unbedingt gleich mitbringen soll. Heute nacht findet ein glänzendes Fest statt. Also bitte, kommen Sie.«
Er bekam ja von uns nichts zu hören, keine Grobheit, aber . . . hatte der gute Mann eine Ahnung!
Wir dachten jetzt doch an alles andere als an diese malaiischen Amazonen! Die mochten sich unter Anleitung ihrer Königin nur alle aufhängen — wir wären nicht hingekommen, um sie abzuschneiden.
Unser Schiff, unser Schiff!
Denn daß wir es so glatt wieder herausbekamen, das war noch lange nicht gesagt!
Die nächste Hochflut war hier heute nacht einige Minuten nach zehn Uhr. Einmal aber war in diesem Inselgebiet die Flut überhaupt sehr gering, der Strom wurde, wie wir selbst schon erfahren, dort an der Inselspitze nach Norden abgelenkt, und unglücklicherweise war heute nacht Nippflut, sie erreichte die geringste Höhe, weil der Mond mit der Sonne in Quadratur stand, 90 Grad voneinander entfernt.
Die nächste Flut war morgen früh halb elf, die war schon bedeutend höher. Die wollten wir ganz ruhig abwarten.
Wir hätten ja auch einmal mit voller Kraft zurückgehen können, jeder andere Dampfer hätte es gemacht — aber wir waren unversichert! Nein, wir wollten ganz ruhig bis morgen mittag warten. Dann pumpten wir auch noch die hinteren mit Wasser gefüllten Ballasttanks leer, vielleicht schafften wir auch noch eine gute Portion Kohlen nach hinten, um das Vorderteil zu entlasten — dann hatten wir getan, was wir tun konnten, wir brauchten uns nie Vorwürfe zu machen, falls doch noch etwas schief ging.
Denn die deponierte Versicherungssumme unseres Chartermeisters hätten wir in diesem Falle niemals angenommen, das war ganz ausgeschlossen.
Der Sirdar ging wieder ab mit unserem Bescheid. Morgen hoffentlich würden wir wieder die Felsenburg besuchen, um der Begum etwas vorzuführen und uns mit ihren Amazonen zu messen, aber heute nacht war nicht daran zu denken.
Ende des Zweiten Teils