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Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.

   

Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.

Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.

Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.

 

Inhaltsverzeichnis


41. KAPITEL. VON WELCHEM SCHICKSAL UNS DER DUMME JUNGENSTREICH BEWAHRT HAT, UND WAS ER UNS SONST NOCH EINBRINGT.
42. KAPITEL. DIE FREIFRAU VON DER SEE.
43. KAPITEL. HEXENGOLD UND HEXENSCHÜSSE.
Die Geisterhand von Black Castle.
44. KAPITEL. NEUE WERBUNGEN.
45. KAPITEL. WIE WIR EMPFANGEN WERDEN, UND WAS ICH AUF DEM PLATEAU ERLEBE.
46. KAPITEL. DROHENDE KONFLIKTE UND WIE ICH SIE ZU ÖSEN WEIß.
47. KAPITEL. DAS INDIANERSPIELEN WIRD ERNST.
48. KAPITEL. STATT SCHÄTZE NUR EIN REVOLVER.
49. KAPITEL. DER PIRAT.
50. KAPITEL. DAS GEHEIMNIS DER BEIDEN SCHWESTERN.
51. KAPITEL. AN BORD DES PIRATEN, UND DESSEN ENDE.
52. KAPITEL. RÄTSELHAFTE VORGÄNGE.
53. KAPITEL. EINE BOTSCHAFT AUS UNBEKANNTER WELT.
54. KAPITEL. »IN DER REITZENBAINER STRASZE HAT'CH NE KAFFEEFRAU ERHÄNGT.«
55. KAPITEL. DIE GLOCKE LÄUTET!
56. KAPITEL. DER STOWAWAY.
57. KAPITEL. DIE TAUBE DER ARGONAUTEN.

Dritter Teil

41. KAPITEL.
VON WELCHEM SCHICKSAL UNS DER DUMME JUNGENSTREICH BEWAHRT HAT, UND WAS ER UNS SONST NOCH EINBRINGT.

Der Abend war angebrochen, die Hauptpersonen saßen in der Kajüte beisammen zur Beratung.

»Was soll nun aus diesen Bengels werden,« begann die Patronin. »Ich will mein Urteil zurückhalten, bis ich Ihres gehört habe. Herr Kapitän Martin, fangen Sie an.«

»Well, die waren von jeher reif für eine Korrektionsanstalt.«

»Bitte, lassen Sie mich das Wort ergreifen!« sagte sofort Klothilde, aber sie kam nicht dazu, zuerst ergriff ich das Wort.

Und ich sprach eine halbe Stunde lang.

Ich sprach wie ein Buch, wie ein Advokat.

In einer halben Stunde kann ein zungengewandter Advokat tausend solcher Zeilen wie diese sprechen, und die möchte ich doch lieber nicht wiedergeben.

Ich fing von den Äpfeln in Nachbarsgarten an, die dazu da sind, um von den Nachbarskindern gemaust zu werden.

Und der Junge, der, obgleich in seines Vaters Garten noch viel bessere Äpfel wachsen, die er nach Belieben abpflücken darf, nicht in des Nachbars Garten steigt, um dessen saure Äpfel zu mausen, das ist kein tüchtiger Junge, das wird auch kein tüchtiger Mann.

Ich weiß zwar, daß ich da bei den Herren Pädagogen auf Widerspruch stoßen werde, aber da lasse ich mich gar nicht beirren, da habe ich meine Erfahrungen, und außerdem habe ich den Baum der Erkenntnis auf meiner Seite. Was ich hiermit meine, das werden die Herren Pädagogen schon verstehen, andere brauchen es nicht zu verstehen. Und wenn der Prometheus nicht die Götter bemaust hätte, dann hätten wir heute noch keine Streichhölzer, müßten die harten Erbsen roh kauen.

Quod licet Jovi, non licet bovi.

Was dem Jupiter erlaubt ist, darf noch lange nicht jeder Ochse tun.

Alles mit Unterschied.

Es kommt immer ganz auf den Gesichtspunkt an.

Das Ideal des tüchtigen Jungen ist, des Nachbars essigsaure Äpfel zu mausen, auf die Gefahr hin, den Hosenboden windelweich geklopft zu bekommen.

Weiter geht der Gesichtskreis dieses Jungen eben noch nicht.

Ich war einmal als Junge bei einem Jagdwagen angestellt, der abgeschirrt und festgebremst auf einer etwas abschüssigen Straße stand, sollte aufpassen, daß kein Lausbub kam und an der Bremse leierte.

Aber der Lausbub war ich selber. Nur einmal ein klein bischen die Bremse aufdrehen, der Wagen nur ein ganz klein wenig laufen lassen — ach, das mußte doch zu herrlich sein! Ich konnte doch sofort wieder festdrehen.

Und mich zog und riß es so lange an den Fingern, bis ich die Bremse ein ganz klein bißchen aufdrehte, der Wagen kam ins Rollen — und dann wußte ich nicht mehr, nach welcher Richtung ich drehen sollte — bis der elegante Jagdwagen an einer Pappel in hundert Stücke zerschmetterte. Mein guter Vater hat ja schwer berappt, obgleich ers vielleicht gar nicht nötig gehabt hätte.

Na‚ und lag denn hier etwas anderes vor?

Ob ein Apfelbaum oder eine Kutsche oder ein ganzer Dampfer von 5000 Tonnen — das ist wohl in unseren kurzsichtigen Augen ein gewaltiger Unterschied, aber im großen Weltenraume ist es so ziemlich ein und dasselbe.

Wir hatten die 32 Bengels zu tüchtigen Seeleuten erziehen wollen, hatten sie bereits zur größtmöglichsten Selbständigkeit gebracht.

Wir hatten sie bei unserer Kutsche einmal als Wächter zurückgelassen

Und da hatten sie einmal die Bremse aufgeleiert.

Und wie sich die Kutsche festgerannt hatte, da waren sie ausgerissen. Genau so wie ich damals ausgerissen war.

Und dabei hatten sie sich dennoch wie ganze Männer von einem bis anderthalb Meter Höhe benommen.

Hatten als zukünftige Jäger die Gewehre nicht vergessen, hatten auch an Äxte und Sägen und Nägel gedacht.

Und zum Schlusse hatten sie noch gepult wie die ganzen Männer.

»Nein,« schloß ich meine halbstündige Rede, »das ist im Grunde genommen nichts weiter als ein dummer Jungenstreich gewesen, der noch sehr gut abgelaufen ist. In eine Korrektionsanstalt hätten wir sie vorher schicken müssen, aber jetzt nicht mehr! Gerade jetzt nicht. Auch von jeder Bestrafung wollen wir absehen. Die haben eine Lektion vom Himmel bekommen — verlassen Sie sich nur darauf, die haben sie bekommen, in deren Haut möchte ich nicht gesteckt haben und auch jetzt noch nicht stecken — die machen so etwas nicht zum zweiten Male! Und da wollen wir dieser Strafe des Himmels nicht noch einige menschliche Backpfeifen ranhängen, nicht eine einzige, kein ungnädiges Wort mehr! Das käme mir wie Lumperei vor. Ich habe gesprochen. So, Klothilde, nun können Sie sprechen.«

»Ja, wenn Sie mir alle Worte wegnehmen, da bleibt mir ja gar nichts übrig.«

»Und ich stimme den Ausführungen des Waffenmeisters bei,« sagte die Patronin, »wenn ich anfangs auch anderer Meinung war. An eine Korrektionsanstalt hatte ich allerdings nicht gedacht. Nur an eine tüchtige Strafe. Aber jetzt stimme ich dem Waffenmeister voll und ganz bei, er hat mich zu überzeugen gewußt.«

»Well, die Sache ist erledigt!« meinte nur noch Kapitän Martin, nichts weiter.

Also ich sofort nach der Segelkammer und aufgeschlossen.

Es war mäuschenstill in dem finsteren Raume, war es wenigstens geworden, als der Schlüssel gerasselt hatte.

»Kommt heraus, Ihr Sünder. Ihr seid wieder Engel. Ihr seid begnadigt worden. Begnadigt! Verstanden? Nicht etwa freigesprochen. Eigentlich habt Ihr ja alle den Tod durch Henkershand verdient, außerdem noch einige Jahre Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte! Es ist alles vergessen und vergeben! Ich nehme Euch kein Ehrenwort ab, daß Ihr so etwas nicht wieder macht. So fürchterlich dumm werdet Ihr doch nicht sein, um solch einen dummen Streich nochmals zu machen. Nun kommt heraus, eßt und legt Euch zur Koje. Oder machst sonst, was Ihr wollt. Es wird nicht mehr darüber gesprochen, es ist überhaupt gar nichts geschehen.«

Sie krochen heraus.

Ach, diese Gesichter!

Nee, die machten so etwas so bald nicht wieder.

Sie holten sich ihr Abendessen aus der Kombüse und schlangen. — — —

»Herr Stevenbrock,« sagte Doktor Isidor zu mir, »jetzt ist die Inderin wirklich tot, sie hat sich total verändert, geht schon in Verwesung über.«

Ja, so war es. Jetzt lag sie auf dem Sofa, mit ganz schlaffen Gliedern, die Züge total eingefallen, gar nicht mehr zu erkennen. Von einer Verwesung bemerkte ich zwar noch nichts, das heißt ich roch nichts — Doktor Isidor wollte es an der Veränderung des Blutes erkennen.

Was hier vorgelegen hatte — ich weiß, es nicht. Die anderen auch nicht. Da konnte man sich immer nur in Vermutungen ergehen, was keinen Zweck hat.

Daneben saß Carlistle, die Hände gefaltet, selbst eine Leiche, wenn sie auch noch sprechen konnte.

»Nein, nein, sie ist nicht tot — hier in Maladekka wollte sie mir ja sagen, wer sie sei — hier wollte sie mir auch in Wirklichkeit gehören.«

So wimmerte er immer wieder. Der junge Mann war nicht recht bei Sinnen. Das war er ja überhaupt nie gewesen.

Ich sprach mit der Patronin.

»Die ist tot, die ihr künstlich beigebrachte Starre hat plötzlich aufgehört, die ist nun reif dazu, in der Erde oder im Wasser zu verschwinden.«

»Das läßt Mister Carlistle nimmermehr zu!«

»Ja, aber diesem grausamen Spiele müssen wir doch endlich ein Ende machen. Ich schlage vor, wir dampfen morgen, wenn es der Himmel nicht anders will, nach Menado und setzen den Mister Carlistle an Land, mit toter oder lebendiger Leiche. Dann kann er mit ihr machen, was er will.«

»Fast ganz genau denselben Vorschlag wollte ich Dir machen, Georg!«

»Wirklich?!«

»Wahrhaftig. Ich habe schon öfters daran gedacht, mich von diesem Herrn wieder zu befreien. Ein ganz harmloser, angenehmer Mensch, aber . . . ich mag keinen Chartermeister mehr über mir haben. Jetzt ist Gelegenheit, uns seiner in aller Höflichkeit zu entledigen. Aber mache Du es mit ihm ab, ich möchte mit ihm darüber nicht verhandeln.«

Dann war die Sache erledigt.

Es wurde still auf dem Schiffe.

Herrlich duftete es aus dem nahen Urwalde herüber, hier fehlte auch das Gebrüll der Raubtiere. Nur riesige Fledermäuse huschten massenhaft durch die Luft.

Es war gegen elf Uhr, bei wolkenbedecktem Himmel sehr finster; nur unsere Seitenlichter und die Toplaterne leuchteten, als ein Rauschen und Ruderschlag das Nahen eines Bootes verkündete.

Ein Feind konnte es nicht sein, der hätte beim Annähern doch nicht solchen Spektakel gemacht. Trotzdem wurde der Scheinwerfer angestellt. Er traf eine malaiische Prau, in der wir gleich den Sirdar erkannten.

Aber nur an der Kleidung. Als er dann in der Kajüte stand, hätten wir ihn bald erst recht nicht wieder erkannt, so verändert hatte sich sein dickes Gesicht, so eingefallen war es. So wie sich plötzlich die starre Inderin verändert hatte.

»Um Gott, Mann, was ist denn geschehen?!« rief die Patronin. »Wie sehen Sie denn aus?!«

Er hob die Hände, brachte es kaum heraus.

»O Jammer über Jammer —— o Greuel aller Greuel . . . die Maladekkaranis haben den Sultan ermordet, alle die Radschas ermordet . . . überhaupt alles ermordet . . . «

Auch unser Schreck läßt sich begreifen. Das war kein Staunen und keine Bestürzung mehr. Oder wir wären keine fühlenden Menschen gewesen.

»Alles ermordet?!«

»Alles, alles! Wenigstens alle Männer — es müssen gegen 300 sein — und alle männlichen Kinder — das Knäblein an der Mutter Brust haben sie nicht verschont . . . «

»Ja, um Gottes Willen, weshalb denn nur?!«

»Ich weiß es nicht . . . obgleich es mir die Begum eben erst erklärt hat . . . ich habe nichts gehört . . . ich bin noch jetzt ganz betäubt . . . die Maladekkaranis hätten sich schon längst verschworen, alle männlichen Wesen in ihrem Felsenpalast zu töten . . . immer wieder wäre die Ausführung aufgeschoben worden . . . bis sie geschworen haben, in der Nacht zum Ramsai müsse es geschehen . . . am Ramsai dürfe kein männlisches Wesen mehr in der Burg sein, . . . und morgen ist der Ramsai, an welchem heiligen Tage der Prophet den Entschluß faßte, den höchsten Gott zu predigen . . . und die Maladekkwanis haben ihren Schwur gehalten . . . «

Der Sirdar brach auf einem Stuhle zusammen, verhüllte sein Gesicht.

»O Allah, Allah, was ich geschaut habe!« stöhnte er.

»Sie wurden doch nicht Zeuge der Schlächterei?!«

»Ja, ja! Der Sultan speiste mit den Ersten seines Hofes zur Nacht. Die Maladekkaranis sollten vor ihm tanzen. Sie kamen als Bogenschützinnen. Und wie sie tanzten, da schnellten sie plötzlich ihre Pfeile ab — aber nicht nach der Scheibe, nicht um sie wieder aufzufangen — sondern jeder der spitzen Pfeile durchbohrte eines Fürsten Herz! Und das war das Zeichen zu der Schlächterei. Allen anderen Männern hatten sie bereits Opium in den Schlaftrunk gemischt. Alles schlief. Alles ermordet! Alles, alles! Nur die Weiber und weiblichen Kinder nicht. Es hätte auch niemand fliehen können, sie hatten schon alle Ausgänge besetzt, verrammelt . . . «

»Nur Sie hat man nicht getötet?«

Der Sirdar raffte sich zusammen.

»Ich bin verschont worden, um den Vermittler zu spielen, und jetzt zunächst soll ich Ihnen eine Botschaft bringen. Die Begum Sallah ladet Sie zu sich auf die Felsenburg ein, heute nacht noch, jetzt sofort möchten Sie mir folgen.«

»So, ooch noch!« brummte Kapitän Martin.

»Wir denken gar nicht daran!« erwiderte ich einfach.

»Wenigstens Sie, Herr Waffenmeister, möchten mir sofort folgen.«

»Wohin?«

»Zu der Begum Sallah.«

»In die Felsenburg?«

»Ja.«

»Was will sie von mir?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie hat es Ihnen nicht gesagt?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Sie ahnen auch nichts?«

»Nein, durchaus nicht. Ach, ich bin ja noch halb betäubt von dem Schrecklichen, was ich gesehen habe! Wie die Weiber die kleinen Kinder . . . «

»Genug! Wir wollen solche Greueltaten gar nicht näher beschrieben haben. Sagen Sie der Begum, daß ich nicht komme. Heute nicht und morgen nicht!«

Der Sirdar neigte das Haupt.

»Das habe ich mir gedacht, und auch die Begum hat sich diese Absage gleich denken können. So hat sie mir einen zweiten Auftrag gegeben. Wenn Sie absagen, so will sie zu Ihnen kommen, heute nacht noch, auf dieses Schiff. Die Begum muß Sie unbedingt sprechen.«

»Mich?«

»Ja, Sie, den Waffenmeister dieses Schiffes. Aber Sie müssen ihr erst durch mich Ihr Ehrenwort geben, daß sie an Bord dieses Schiffes geschützt ist, daß sie es wieder verlassen kann, ohne daß Sie oder einer Ihrer Argonauten etwas gegen sie unternimmt!«

Ich überlegte einige Minuten. Niemand störte mich in meinem Nachdenken.

»Ja, daraufhin gebe ich ihr mein Ehrenwort!« entgegnete ich.

»So bringe ich der Begum diesen Bescheid.«

Der Sirdar stieg wieder in sein Boot und fuhr ab. Wir blickten einander an.

»Meine Herren, meine Herren!« flüsterte dann die Patronin mit ganz entgeisterten Augen.

Ja, wir wußten schon, woran sie dachte, und wir dachten genau dasselbe.

»Ich glaube, ich glaube . . . diese Jungen haben uns durch ihren dummen Streich vor einem fürchterlichen Schicksal bewahrt!«

»Da ist wohl nichts mehr zu glauben, sondern das ist wohl ganz sicher so. Wollten wir nicht über Nacht in der Felsenburg bleiben?«

»Ich hätte die Einladung angenommen, es war ja schon ausgemacht.«

»Auch wir wären alle abgeschlachtet worden!«

»Ja freilich, wenn man einen Schlaftrunk bekommt, gegen solch eine heimtücküsche List ist nicht viel zu machen.«

»Oder wir wären einfach in einen Raum gelockt worden, auch uns hätten Pfeilschüsse niedergestreckt.«

»Oder auch nicht!« sagte ich. Andere sprachen auch mit.

»Wie meinten Sie?«

»Uns hätten die Amazonen vielleicht lebendig gelassen.«

»Uns, weshalb gerade uns?«

»Das ist nun eine Frage! Ahnen Sie nichts, Frau Neubert?«

Ja, jetzt ging ihr wohl eine Ahnung auf. Deshalb sagte sie auch nichts weiter.

»Diese Jungen haben uns mit ihrem dummen Streiche einfach gerettet!« wiederholte sie nur nochmals.

»Ja, da wollen wir ihnen nun auch Lorbeerkranze flechten, Prämien verteilen.«

Daraus wurde natürlich nichts. Die Jungen bekamen überhaupt gar nichts oder doch nicht viel davon zu hören,

Aber eines war ausgezeichnet!

Eines freute mich riesig!

Nämlich, daß wir den Bengels schon vorher volle Begnadigung gewährt hatten, noch ehe wir eine Ahnung von den Folgen ihres Streiches gehabt hatten!

Denn es ist doch eine dumme Geschichte, wenn man einem Übeltäter Verzeihung gewähren muß, weil seine böse Tat zufällig ein großes Übel abgewandt hat.

Das hatten wir also nicht nötig. Darüber freute ich mich wirklich riesig.

»Was will aber die Begum nun noch von Ihnen?«

»Sie können noch fragen?«

Nein, die Patronin fragte nicht mehr.

Nach der Abfahrt des Sirdars war noch keine Stunde vergangen, als wieder ein Boot kam, von dicht vermummten Gestalten gerudert, woraus wir schlossen, daß es Frauen sein müßten. Doch konnten wir uns auch irren, es war nicht zu unterscheiden.

Eine vermummte Gestalt erstieg das Fallreep, ich allein empfing sie in der Kajüte.

Sie enthüllte ihr Gesicht, ich sah schöne, brünette Züge, die mir aber älter vorkamen als heute mittag bei dem Waffentanz.

»Ich habe Ihr Ehrenwort, daß ich geschützt bin,« erklang es auf Französisch.

»Sie haben es, Sie sind geschützt.«

»Ich bin die Begum Sallah.«

»Und ich bin der Waffenmeister dieses Schiffes.«

»Nicht der Besitzer desselben, aber Sie haben hier viel zu sagen.«

»So ungefähr ist es. Was wünschen Sie?«

»Hat Ihnen der Sirdar erzählt?«

»Ja. Sie haben den Sultan und alle Männer in der Felsenburg ermordet.«

»Hat er Ihnen auch gesagt, warum?«

»Nein. Und ich will es auch nicht wissen.«

Aus den schwarzen Augen der Südfranzösin schossen Blitze furchtbaren Hasses.

»Weil wir dieser Weiber in Männerkleidern endlich überdrüssig waren . . . «

»Ich will es nicht wissen, sagte ich.«

»Weil wir endlich frei sein wollten . . . «

»Ich will es nicht wissen!« betonte ich nochmals. »Was wünschen Sie sonst?«

»Hören Sie mich an, Herr Waffenmeister! Wir Amazonen sind Herrinnen der Felsenburg und dadurch Herrinnen von ganz Maladekka, und ich bin die anerkannte Sultana der Amazonen. Aber wir brauchen Männer! Wirkliche Männer! Und wir haben von den Argonauten schon mehr gehört, als Sie vielleicht ahnen. Wir wollen uns miteinander verbinden. Sie alle kommen mit auf unsere Felsenburg, wo wir zusammen . . . «

»Nein, ich höre Sie nicht an!« fiel ich ihr ins Wort, nur deshalb so spät, weil sie außerordentlich schnell gesprochen hatte, »Ich habe Sie nur empfangen, weil doch vielleicht die Möglichkeit vorhanden ist, daß Hilfsbedürftige Schutz brauchen. Sind vielleicht Weiber und Kinder in Sicherheit zu bringen? Daß sie nicht einer Rache zum Opfer fallen, die sie nicht verdient haben? Nur das antworten Sie mir. Jeder andere Vorschlag, jedes weitere Wort ist ganz vergebens.«

Ich hatte in einer Weise gesprochen, die keine andere Deutung zuließ.

Die Begum gab sich denn auch gar keine Mühe weiter, jetzt aber galt ihr haßerfüllter Blick direkt mir.

»Sie schlagen mein Angebot also ab?!«

»Kein Wort weiter!«

»Wissen Sie, wie furchtbar Sie mich als Weib beleidigen?!«

Sie hatte es gezischt, mit vorgebeugtem Oberkörper, und ich war darauf vorbereitet, einen Dolch oder dergleichen in ihrer Hand zu sehen.

»Das ist mir ganz egal. Haben Sie mir keinen anderen Vorschlag zu machen? Daß wir uns Hilfsbedürftiger annehmen sollen? Dann verlassen Sie unser Schiff. Mit Mörderinnen wollen wir nichts zu tun haben.«

Jetzt, dachte ich, würde es kommen.

Statt dessen richtete sie sich ganz ruhig auf, ging nach der Tür, drehte sich aber dort noch einmal um.

»Auf Wiedersehen, Herr Waffenmeister,« winkte sie lächelnd zurück, aber mit furchtbarem Hohne, »ja, wir werden uns schon noch einmal wiedersehen — dann mache ich Ihnen noch einmal denselben Vorschlag — und dann werden Sie es sich wohl anders überlegen. Auf Wiedersehen!«

Sie stieg ins Boot, es ruderte ab.

Ich war die Antwort schuldig geblieben, hatte auch jede spöttische Bemerkung unterdrückt.

Die Patronin und die anderen Hauptpersonen hatten dieser kurzen Unterhaltung unbemerkt mit beigewohnt.

Sie hatten nichts weiter zu sagen. In Gegenwart der Patronin wäre es auch peinlich gewesen, noch viel darüber zu sprechen.

Siddy mußte es natürlich schleunigst unter der Mannschaft verbreiten. Freilich hätte ein Wink von uns genügt, so wäre er schweigsam wie das Grab gewesen. Aber das brauchte er hier gar nicht zu sein, wir benutzten ihn in solchen Fällen geradezu als Telephon, das uns mit der Mannschaft verband.

»Na‚ das wäre mir schon ganz angenehm, dort oben in der Amazonenburg so einmal ein bißchen den Sultan oder Pascha zu spielen.«

So hatte Oskar gesagt, als er es erfahren, und noch manch anderer meiner Jungen mochte ebenso denken, was ich ihnen gar nicht verargen konnte. Aber . . . man soll den Teufel nicht an die Wand malen. — —

Die Nacht verging ohne jede Störung. Angegriffen konnten wir ja auch gar nicht werden, wir lagen in freiem Wasser, vom nächsten Ufer zwei Kilometer weit entfernt. Trotzdem hatte ich natürlich für die nötige Sicherheit gesorgt.

Ebenso friedlich brach der neue Tag an. Niemand hätte geahnt, daß dort hinter dem niedrigen Hügelrücken, der nach dem Meere hin die Bucht von Kalam begrenzt, die Revolution tobte.

Nun, wahrscheinlich »tobte« sie auch noch gar nicht so.

Erst mußte sich die Sache abklären.

Doch uns ging das ja überhaupt gar nichts an.

Sobald die Sonne höher gestiegen war, daß ihre Strahlen nicht gar so schräge ins Wasser drangen, ging ich mit Paul im Taucherkostüm noch einmal hinab, um genauer zu messen, wie tief der Kiel sich eingegraben hatte, ob unter den Muscheln nicht doch vielleicht noch scharfe Korallenzacken waren, die uns beim Rückwärtsgehen gefährlich werden konnten.

Es waren also Hammermuscheln, eine Unterart der Vogelmuschel, zu der auch die Auster gehört.

Auf der Steuermannsschule muß man auch Muschelkunde treiben. Eben wegen des Peilens, was man mit dem einfetteten Lote vom Meeresboden heraufbringt.

Nun muß ich gestehen, daß ich in der ganzen Zoologie äußerst schwach beschlagen bin. Ich kann heute noch kein Rotkehlchen von einem Gimpel unterscheiden. Das ist ganz merkwürdig. Das Interesse hierfür geht mir ganz ab.

Am besten von allen Tieren einer Art und Gattung wußte ich zwischen den Muscheln Bescheid. Weil mir das eben auf der Navigationsschule eingepaukt worden war. Aber auch da war es noch schlimm genug mit meinen Kenntnissen bestellt, das allermeiste hatte ich schon wieder vergessen.

Nun, unsereiner brauchst auch gar nichts von Muscheln zu wissen, mindestens nicht ihre Namen. An dem bißchen Talg, womit man unten das Lot einschmiert, bleiben größere Muscheln doch nicht hängen, überhaupt keine lebendigen, man bekommt immer nur so losen Dreck herauf, eventuell zum Teil auch aus kleinen Muschelschalen bestehend.

Und bei der Unterscheidung dieses Dreckes mit kleinen Muschelschälchen da kann mir nun niemand etwas vormachen! Dazu braucht man aber keine zoologischen Kenntnisse zu besitzen. Das geschieht bei uns alles nach Nummern und nach Stichworten, die man dann im Handbuche aufsucht.

Daß dies Hammermuscheln waren, das wußte ich. Weil sie fast genau wie die Austern aussahen, und Austern kenne ich deshalb so gut, weil ich sie sehr gern esse. Aber Austern konnten es nicht sein, weil diese in den tropischen Breiten nicht vorkommen. Das freilich mußte ich wissen, sonst hätte ich mich aufhängen können.

»Ob man die Dinger wohl essen kann?« fragte ich mich und leckte in meinem Taucherhelm schon die Lippen.

Als unsere Untersuchung mit sehr günstigem Resultat beendet war, nahm ich einige mit, kleinere und größere, eine mit einem Durchmesser von fast 20 Zentimetern. Es gibt ja auch solche große Austern, sogar noch viel, viel größere, die aber nicht verschickt werden. Sie schmecken nicht, und dann wird der Transport durch das wertlose Kalkgewicht zu teuer.

Ich bin wieder an Deck, der Helm wird mir losgeschraubt, ich habe noch in den Händen die Muscheln.

»Das sind doch Perlmuscheln?!« erklingt es da gleich von mehreren Seiten.

Unter meinen Jungen gab es eben welche, die noch viel mehr Erfahrungen hatten als ich. Da war also gar nicht daran zu zweifeln.

Was, Perlmuscheln?!

Ich hätte doch jeden Eid geleistet, ja ich wäre sogar jede Wette darauf eingegangen, daß die Perlmuschel eiförmig ist und ganz glatte Schalen hat, so wie die Pfahlmuschel, wie die Entenmuschel!

Ja, ich habe mich dann sogar überzeugt, daß ich die echte Perlmuschel so in meinem Kollegienheft beschrieben und nachgemalt habe. Genau wie eine Pfahlmuschel.

Da habe ich Döskopp damals in der Schulstunde eben geträumt! Da ist uns zum Unterschiede eine Anodonta gezeigt worden, eine Süßwassermuschel, die auch Perlen liefert, freilich nicht zu vergleichen mit den Perlen des Meeres, am häufigsten in der Elster vorkommend, wo sie sogar gezüchtet wird, mit minimalem Erfolge — und die gleicht allerdings ganz der Mieß- oder Pfahlmuschel — und ich hatte die für die echte Meeresperlenmuschel genommen, während ich beim Zeichnen der echten Perlmuschel von einem Austernfrühstück geträumt hatte!

»Jawohl, das sind Perlmuscheln!«

Ich mußte es wohl glauben. Daß mich etwa meine Jungen verhohniebelten, das war ganz ausgeschlossen.

Meister Kännchen kam aus seiner Kombüse herbei.

»Wahrhaftig, das sind Perlmuscheln! Und in dieser großen sind Perlen — und in der auch — und in der auch.« — — —

Ich will gleich erwähnen, was über die Perlen und ihre Entstehung zu sagen ist, weil es für uns noch später von Bedeutung sein sollte. Zunächst muß betont werden, daß überhaupt fast alle Muscheln Perlen erzeugen. Ich selbst habe in einer Pfahlmuschel einige Dutzend Perlchen gefunden, größer als ein Stecknadelkopf, und auch in der Auster kommen sehr häufig große Perlen vor. Aber die sind alle nichts wert. Graue Kalkkügelchen. Nur die Avicula des Meeres liefert jene tautropfenähnlichen Perlen, nach denen die Menschen so begehrlich sind, und dann hat höchstens noch die Elsterperle aus dem Süßwasser einigen Wert.

Eine einzige Perle findet man niemals. Weniger als vier ist schon eine Seltenheit. Mikroskopisch kleine Perlen hat man schon bis zu 300 und mehr Stück in einer Muschel gezählt.

Die kostbarste heute bekannte Perle, früher im Besitze des Königs Philipp II. von Spanien, ist heute unter dem Namen »La Peregrina« im englischen Thronschatz, hat bei schönster, durchsichtiger Weiße die Größe eines Taubeneis und hat heute nach Juwelierberechnung einen reellen Wert von einer Million 200 000 Mark. Liebhaber würden ja noch ganz andere Preise dafür zahlen. Und besonders der Sultan von Maskat soll auch noch ganz andere Perlen sein eigen nennen. Sonst hat die größte Sammlung der schönsten Perlen die jetzige Königin von Italien. Da können die Damen der amerikanischen Milliardäre mit ihren Klunkerketten noch lange nicht mit.

Die Perlen bestehen aus demselben Stoffe wie die Innenseiten der Schalen, aus denen man das Perlmutter gewinnt. Es ist kohlensaurer Kalk. Aber auf die Struktur durch das natürliche Ausbauen kommt es an, das ist es, was wir im Laboratorium nicht nachahmen können! Die ganze Schale ist kohlensaurer Kalk, aber nur die Innenseite liefert das schillernde Perlmutter, und was wieder von diesem durch den Magensaft oder sonst einen Schleim abgelöst wird, das liefert wieder die köstliche Perle. Durch die natürlichen Transformationen wird die Substanz eben immer wertvoller.

Weshalb die einen Muscheln Perlen erzeugen, die anderen nicht, und auf welche Weise sie es machen, das wissen wir nicht. Unsere Gelehrten ergehen sich da nur in Vermutungen.

Es sollen Fremdkörper in die Muschel eindringen, weniger wohl beim Öffnen wegen Nahrungsaufnahme als durch äußere Verletzungen, Sandkörnchen und dergleichen, besonders wird auch von einem Eingeweidewurm erzählt, welcher dem Weichtiere Kummer bereitet, weshalb es ihn mit seinem Schleim, der mit Perlmutterlösung gesättigt ist, einhüllt, so wird das scharfe Sandkorn oder der Eingeweidewurm unschädlich gemacht.

Es mag sein. Man hat in Perlen mikrospische Partikelchen gefunden, manchmal sind sie sogar mit bloßen Augen erkennbar. Aber in den meisten Perlen ist absolut nichts vorhanden, auch kein Hohlraum.

Und dann müßte man da doch auch Perlen künstlich erzeugen können, das heißt die Muscheln dazu zwingen, solche zu erzeugen, indem man ihnen künstlich Fremdkörper einführt.

Solche Versuche sind gemacht worden. Am intensivsten in der zoologischen Versuchsstation von Kensington Garden zu London. Aber alles war vergebens. Man hat dort Perlmuscheln, den natürlichsten Verhältnissen angepaßt, länger als 30 Jahre gepflegt, man hat sie zu Tode gekitzelt . . . aber Perlen haben sie nicht erzeugt.

Ebenso erfolglos waren die künstlichen Züchtungsversuche in der Station von Colombo auf Ceylon, wo man die Muscheln gleich direkt im Meerwasser ließ. Nein, sie hüllten keine Fremdkörper mit Perlmutter ein, sie spuckten sie einfach wieder aus, oder starben daran.

Und doch, es geht!

In China werden echte Perlen zwangsweise hergestellt, indem man in Perlmuscheln winzige Zinnstückchen einführt, die bilden dann den Kern von schönen, großen Perlen.

Aber so einfach ist die Sache nicht, wie man immer hört, wie es zum Beispiel auch im Konversationslexikon steht. Wenn das so einfach wäre, dann würden die Chinesen doch den ganzen Perlenhandel ruinieren.

In China, heißt es, die Chinesen.

Nein, es gibt in ganz China überhaupt nur zwei buddhistische Klöster, welche das Geheimnis kennen, wie man Muscheln zwangsweise Perlen machen lassen kann.

Ihr Geheimnis brauchten sie gar nicht besonders zu hüten.

Die Sache verhält sich nämlich genau so wie mit der Goldmacherei.

Daß alle Metalle, also auch Gold, keine einfachen Elemente sind, wie man bisher angenommen, darüber sind sich unsere modernen Chemiker bereits wieder einig. Die verspottete Alchemie kommt wieder zu Ehren. Dann aber muß man Metalle auch auf synthetischem Wege herstellen können, also auch Gold. Dieses Problem wird ganz sicher noch einmal gelöst werden.

Aber niemals wird der Mensch Gold oder irgend ein anderes Metall billiger herstellen können, als es uns die Natur liefert. Das ist die Sache!

Und so verhält es sich auch mit den künstlichen Perlen. Jene chinesischen Mönche verkaufen sie für den doppelten und dreifachen Preis einer natürlichen Perle und behaupten, sie nicht billiger herstellen zu können, und man darf ihnen glauben.

Weshalb aber werden denn überhaupt solche künstliche Perlen zum doppelten und dreifachen Preise der natürlichen Perlen gekauft?

Weil es kleine Buddhafigürchen aus Zinn sind, welche die Mönche von den Muscheln mit Perlmutterschleim umhüllen lassen, diese Figürchen sieht man dann durchschimmern. Solche Perlen werden dann als Amuletts, als Talismane getragen, weil diese beiden Klöster im Rufe der größten Heiligkeit stehen. Nur deshalb werden diese hohen Preise dafür gezahlt. Natürlich können nur die Reichsten sich so etwas leisten, solche Buddhaperlen sind überhaupt selten genug.

Immerhin, es ist doch interessant: es ist wirklich möglich, die Muscheln zum Erzeugen von Perlen zu zwingen, und in China versteht man diese Kunst. Unsere Wissenschaft hat es noch nicht fertig gebracht. —

Die größten Perlenbänke sind bei Ceylon, im Golf von Mexiko und im persischen Golfe. Letztere sind persönliches Eigentum des Sultan von Maskat, hier werden die schönsten und größten Perlen gefunden, aber nur gelbe, welche aber von den Orientalen auch am meisten bevorzugt werden.

Am bekanntesten ist die Perlenlbank bei Aripo auf Ceylon, hier hat der Fremde Zutritt, deshalb ist hier das Leben und Treiben bei der Perlenfischerei am häufigsten beschrieben worden.

Da heißt es immer, daß die von Tauchern gefischten Muscheln an der Küste aufgehäuft werden, sie müssen absterben, natürlich einen gräßlichen Gestank verbreitend, dann werden die Perlen herausgelesen. Da man nun in tausend Muscheln oftmals noch nicht eine einzige kleine Perle findet, so sei dies der sinnloseste Raubbau.

Dies alles stimmt zwar — bis auf das letzte.

Die dortigen Taucher und sonstigen Sachverständigen erkennen nämlich sofort, wenn eine Muschel Perlen enthält. Diese Perlen sind für die Muscheln eine Krankheit — wahrscheinlich ganz unserem Blasenstein entsprechend, oder dem Ambra des Potwales — und diese Krankheit drückt sich auch schon äußerlich aus. Die Hammermuscheln haben an sich schon eine sehr rauhe Schale, aber wenn sie Perlen enthalten, dann sind sie noch viel hockriger, mit großen Kalkauswüchsen besetzt, Gebilde wie Schraubenzieher recken sich empor. Die Muschel ist krank, wenn sie auch nicht daran stirbt.

Das wissen die Leute dort natürlich. Solche Muscheln werden sofort aussortiert, in ihnen findet man regelmäBig Perlen. Je größer die Auswüchse auf der Schale, desto größer auch die Perlen. Aber auf die Größe der Muschel selbst kommt es gar nicht an.

Nun allerdings werden unter den zur Verwesung aufgeschichteten Muscheln dann beim Abräumen auch noch Perlen gefunden, es wird emsig danach gesucht. Aber das ist fast Nebensache. Die Hauptsache ist das Perlmutter. Die Ausbeute an Perlen ist überhaupt so gering, daß sie die Kosten der gewaltigen Unternehmungen kaum noch deckt. Aber die Verarbeitung dieser Muscheln auf Perlmutter, die lohnt sich vorzüglich!

»In dieser großen sind Perlen — und in der auch — und in der auch!« hatte Kien Chen sofort gesagt.

Sie sind gar nicht so leicht zu öffnen, diese Muscheln, auch im kochenden Wasser dauert es noch lange genug, ehe die Hitze durch die dicken Kalkschalen dringt.

Aber wir hatten natürlich an Bord einen Austeröffner, einige, da war es eine Kleinigkeit.

Und was erblicken wir, wie wir die erste Muschel, eine mittelgroße, aufgeknackt und den weichen Körper mit dem Messer zurückgestrichen haben?

Fünf haselnußgroße Perlen von schönster Form und Milchfarbe wie die Eierchen im Nest gebettet!

Na‚ wir Umstehenden starrten ja nicht schlecht!

Nur Kapitän Martin blickte anstatt nach der Muschel in meiner Hand nach der nahen Insel, und dann begann er sofort mit seiner Bruststimme zu deklamieren:

»Holland gesteht seinen indischen Kolonien nur eine halbe Seemeile Küstenwasser zu, oder es sind wohl vielmehr die einheimischen Fürsten gewesen, die auf eine nur so schmale Wasserzone bestanden, wozu sie schon ihren Grund haben mögen. Wir sind von jener nächsten Insel mehr als eine Seemeile entfernt. Also befinden wir uns auf herrenlosem Freigebiet. Perlmuschelbänke stehen nach internationaler Vereinbarung unter keiner Ausnahmegesetz. Diese Muscheln und Perlen gehören dem, der sie findet.«

»Dann gehören sie mir, ich habe sie hiermit gefunden!« sagte Mister Tabak, griff schnell zu, hatte die fünf Perlen sofort in der Hand und ließ sie in der Tasche verschwinden — griff nochmals zu, nahm mir auch die Schale aus der Hand, die Pfeife aus den Zähnen, und er schluckte auch die Auster hinter — und dann reichte er mir die Schale zurück.

»Hier, Herr Waffenmeister, diese Schale schenke ich Ihnen!«

Ach, dieses Gelächter!

Aber man kann so etwas ja so schwer beschreiben. Der Witz lag hauptsächlich in der Fixigkeit, mit welcher der Eskimo dieses Manöver ausgeführt hatte. Die fünf Perlen herausgenommen und in die Tasche gesteckt, die Auster hintergeschluckt, mir die Schale zurückgereicht — alles innerhalb von drei Sekunden.

In diesem Witz lag aber auch ein gar tiefer Sinn.

Der Eskimo behielt die Perlen doch nicht etwa in der Tasche. Er hatte nur einmal schnell einen guten Einfall gehabt. Wer die Perlen findet, das heißt, wer am fixesten zugreift, dem gehören sie.

Aber ich habe einmal eine Geschichte gelesen. Wahrscheinlich nur erfunden, aber von einem Manne geschrieben, der die Sache kannte, alles den Möglichkeiten entsprechend.

Ein Schiff findet im Indischen Ozean auch so eine Perlenbank. Die 20 Mann Besatzung sind die besten Kameraden. Was die nun für Pläne machen. Aber es kommt gar nicht zur Teilung des Perlenschatzes. Nach drei Tagen lebt niemand mehr von den 20 Mann. Sie haben sich gegenseitig abgemurkst.

Bei uns war das nicht zu fürchten. Aber ich glaube, ich glaube — wir bildeten eine seltene Ausnahme!

Das war nur die erste der drei gekennzeichneten Muscheln gewesen.

Jetzt wurde die große aufgeknackt. Die war mit Perlen strotzend angefüllt, aber nur mit winzig kleinen, mit bloßen Augen kaum erkennbar. Staubperlen, gar nichts wert. Wenn in den Zeitungen für einen halben Taler ein Ring mit zehn echten Perlen angeboten wird — das sind solche Dingerchen. Oder sie können auch noch größer sein, sie sind nichts wert. Aus diesen Staubperlen macht man im Orient Zahnpulver.

Die dritte Muschel aber, die kleinste, enthielt wieder erbsengroße, wunderschöne Perlen, gleich elf Stück. Es ist überhaupt merkwürdig, daß die meisten Muscheln zehn oder elf Perlen enthalten. Neun und zwölf sind schon Ausnahmezahlen.

Oskar kam auf mich zugetänzelt, ins rechte Auge eine kleine Lederdichtung, eine runde Lederscheibe als Monokel geklemmt.

»Ääääääh . . . auf ein Wort, Herr Waffenmeister . . . äääääh . . . vielleicht können Sie mir einen Rat geben . . . ich habe nämlich nächstens —— äääh . . . einige Millionen anzulegen . . . welche Bank könnten Sie mir empfehlen . . . «

Auf diese Weise ging es schon los. Also von Habgier war bei uns nicht viel zu merken.

Und Oskar war nicht etwa der einzige, der seinem Witz freien Lauf lassen mußte.

Zum Beispiel auch Doktor Isidor machte sofort mit.

Es waren auch einige der Blaugelben herbeigekommen, die Jungens hatten sich unterdessen etwas von ihrer Niedergeschlagenheit erholt.

Jetzt nahm Doktor Isidor solch eine Erbsenperle heraus, hielt sie gravitätisch mit unnachahmlicher Miene solch einem Knirpse hin, einem Dreikäsehoch.

»Hier, mein Junge . . . hier hast Du ein kleines Trinkgeld . . . kaufe Dir in Steglitz bei Berlin eine hübsche Villa dafür . . . Balkon mit Wasserklosett . . . mit Musik . . . wenn man sich drauf setzt, dann spielts den Priesterchor aus der Zauberflöte mit voller Pauken— und Posaunenbegleitung. Ich besuche Dich auch einmal mit meinem Luftschiffe . . . «

»Vorausgesetzt,« ergänzte Klothilde, »daß Sie bis dahin Ihre Perlen noch nicht versoffen haben.«

Und so ging es weiter.

Ja, und diese Bengels!

Es mußte als eine Tatsache anerkannt werden.

Diese Lausbuben waren die reinen Götterknaben. Erst bewahren sie uns davor, daß uns diese malaiischen Amazonen abmurksen oder zu ihren Leibsklaven machen, und dann drücken sie uns auch noch mit der Nase auf eine Perlenbank!

Na — gedankt wurde ihnen ja nicht etwa — aber für die Zukunft dieser Kinder sollte gesorgt werden!

Das heißt, erst mußten wir noch ein paar Perlen mehr haben.

Und dafür wurde auch gesorgt, bei diesen Witzen standen wir nicht etwa untätig herum.

Schon wurde der zweite Korb, von Paul mit Muscheln gefüllt, heraufbefördert, schon war alles mit Aufknacken beschäftigt, schon hatte Mister Tabak mindestens drei Dutzend Austern verschlungen, schon stieg auch ich wieder mit bleibeschwerten Füßen das Fallreep hinab.

»Das heißt,« hatte ich noch gesagt, ehe mir der Helm festgeschraubt wurde, »vergeßt mir über den Perlen nicht Luft zuzupumpen, sonst könnte mir dann mein Anteil an den Millionen verdammt wenig nützen.«

Ehe auch ich die Körbe vollsackte, schritt ich einmal den ganzen Grund ab, so weit der Schlauch reichte, aber um das ganze Schiff herum, die Pumpe wurde immer weiter gerückt.

Es war doch nur eine sehr kleine Bank, die wir ausbeuten konnten.

Sonst haben solche Perlmuschelbänke ja gewöhnlich riesige Dimensionen, und der Theorie nach müßten sie ja ins Endlose wachsen. Hat man doch in einer einzigen Muschel schon mehr als zehn Millionen Eier gezählt oder vielmehr abgewogen. Aber der Nachwuchs und schon die Eier sind eben sehr gefährdet, eben deshalb ist die Natur mit den Eiern so verschwenderisch und dann werden die Grenzen solcher Bänke durch Meeresströmungen und Bodentiefen gezogen. Tiefer als 30 Meter geht die Perlmuschel nicht, bei Ebbe muß sie noch mit vier Fuß Wasser bedeckt sein, sonst stirbt sie ab.

Daß hinten die Schiffschraube frei lag, hatte ich schon gesagt. Jetzt konstatierte ich, daß es dort hinten plötzlich ganz steil hinabging, so war es auch vorn, wenig entfernt vom Vordersteven, und ebenso an den Seiten in einem Abstande von etwa 25 Metern. Mit einer Lotleine von 50 Meter Länge fand ich noch keinen Grund.

Die Sache war also die, daß sich von dem tieferen Meeresboden hier ein Felsen emporreckte, oben ein Plateau bildend. Auf diesem hatten sich einst Korallen angesiedelt, deren Wachstum war wieder durch Perlmuscheln erstickt worden.

Wenn den umwohnenden Eingeborenen dieser unterseeische Felsen als Untiefe auch bekannt sein mochte, so wußten sie doch sicher nicht, daß hier Perlmuscheln gediehen. Sie loteten, ohne den Grund einmal zu untersuchen. Durch Strömungen konnten Muscheln wohl abgerissen, aber niemals an ein Ufer gespült werden, sie fielen dann von dem Felsen in eine große Tiefe hinab.

Hätten die Eingeborenen oder sonst jemand von dieser Perlenbank gewußt, dann wäre sie natürlich schon längst ausgebeutet worden.

Ach, wie viele unbekannte Perlenbänke mag es in jenen Gegenden noch geben!

Was mögen da in stets erreichbarer Tiefe noch für Schätze liegen!

Da der Mensch diese krankhafte Bildung der Muscheln nun einmal als Kostbarkeit betrachtet. Und wenn ich selbst auch nie viel Geld für so etwas ausgeben würde ich kann die Vorliebe vieler Menschen für solche Dingerchen recht wohl begreifen. O ja, es ist doch etwas Herrliches, solch eine Perle, wenn sie über die Hand rollt, wie eine erstarrte Träne, wie ein geschliffener Milchtropfen! Es gibt wirklich nichts, was sich mit solch einer Perle vergleichen läßt.

Und wir hatten solch eine unbekannte, herrenlose Perlenbank gefunden!

Und die dem Menschen so angenehme Krankheit herrschte unter ihren Bewohnern außerordentlich stark.

So ging es allerdings nicht weiter, daß unter sieben Muscheln gleich drei mit Perlen beladen waren, wenn auch eine nur mit Staubperlen. Das war ein Zufall gewesen, daß ich bei sieben Stück gerade drei solche schrumplige Muscheln erwischt hatte, ein außerordentlicher Zufall. Eine ungefähre Berechnung ergab dann, daß bei 80 Muscheln, der kleine Nachwuchs nicht mit gerechnet, nur eine perlenhaltige war, mit wirklich schönen Perlen, mindestens so groß wie eine kleine Erbse.

Nur! sage ich. Das war schon ein ganz enormer Prozentsatz!

Wir gingen ganz planmäßig vor. Schon die beiden Taucher mußten ihr Augenmerk auf möglichst verschrumpelte Muscheln richten, wozu in aller Schnelligkeit ein besonderer Leuchtapparat gefertigt worden war. Faßreifen wurden kreuz und quer mit Lederschnüren übersponnen, an diese kamen einige Dutzend Glühbirnen, mit der Akkumulatoren—Batterie verbunden — das gab unter Wasser eine ganz bedeutende Lichtquelle.

Nach einer Stunde begab ich mich hinauf, um mich von einem anderen ablösen zu lassen.

Ei die Dunnerwetter!

Ein Kasten, größer als eine Zigarrenkiste, war schon halb voll. Mindestens erbsengroße Perlen, die kleineren kamen anderswohin, und eine kleine Schachtel war auch schon fast gefüllt mit solchen bis zur Haselnußgröße. Größere fanden wir auch nicht, die allererste Muschel, die erbrochen worden war, hatte zufällig die größten und auch die schönsten Perlen enthalten.

Und doch . . .

Gerade, wie ich den Helm herunter hatte, stieß Oskar ein wahres Indianergeheul aus, kam angestürzt, eine Perle in der Hand, so groß wie eine Billardkugel!

Ich will es gleich verraten: es war nämlich auch eine Billardkugel, die Oskar aus irgend einem Lokal zum Andenken mitgenommen und sie in seiner Kleiderkiste gehabt hatte, sicher ohne sie zu bezahlen, übrigens keine elfenbeinerne, eine ganz geringe Imitation.

Aber die Hauptsache war doch, daß wir uns alle doch erst von dieser ungeheuren Perle verblüffen ließen. Freilich wenn sie nur nicht gerade von Oskar gefunden worden wäre! Lange dauerte das Staunen ja nicht.

»Du, Oskar, zeige mal die Muschel, wo Du die Perle gefunden hast.«

»Halts Maul, Döskopp — die hat schon Mister Tabak verschlungen — samt der Schale . . . verdirb mir doch den Spaß nicht!«

Oskar hatte es nämlich weniger auf uns als vielmehr auf Mama Bombe abgesehen. Die saß nämlich mit ihren mehr als vier Zentnern Fettgewicht auf einem extra für sie gefertigten Stuhle — laufen konnte sie überhaupt kaum noch — und schaute dem Treiben zu.

Auf diese hatte es Oskar mit seiner Billardkugel hauptsächlich abgesehen, und da allerdings kam er auch an die richtige. Die Madame Pompadour, jetzt Mama Bombe, war nämlich etwas dämlich, ein bißchen sehr dämlich. Na ja, was kann man denn auch bei vier Zentner Fett noch besonders viel Geist verlangen.

»Wer die Perle findet, dem gehört sie, nicht wahr, Waffenmeister?«

Ich bestätigte es, und nun hätte Oskar schon nicht mehr nötig gehabt, mich bei dieser Frage anzublinzeln.

»Wie hoch wird die la peregrina im englischen Kronschatz von der Größe eines Taubeneis taxiert?«

»Auf 60 000 Pfund Sterling.«

»Dann ist diese hier doch zehnmal so viel wert, rund zehn Millionen Mark, wollen wir sagen, was?«

»Ganz sicher!«

»Jungens, kiekt mich an, ich bin ein zehnfacher Millionär! Aber ich will es gar nicht sein, ich habe das Gelübde der Armut abgelegt. Solch eine Bombenperle kann, überhaupt nur unserer Mama Bombe gehören. Nicht wahr, Jungens?«

»Jawohl, jawohl, die muß unsere Mama Bombe haben!« erklang es einstimmig im Chor. Denn jetzt wußten ja nun schon alle, was es mit dieser Bombenperle für eine Bewandtnis hatte.

Nur Mama Bombe merkte nichts.

»Ach, Jotte ooch — nee, Jotte ooch — das kann ich doch gar nicht annehmen!« wiederholte sie verschämt immer wieder, als ihr Oskar die Billardkugel mit entsprechenden Worten als Geschenk überreichte. »Nee, was soll ich denn mit so 'ner Perle anfangen . . . «

»Zum ewigen Andenken an mich an Ihrem Busen tragen . . . «

Und da geschah wieder so etwas, was, glaube ich, überhaupt nur an Bord eines Schiffes möglich ist, das eine kleine, aber auch eine ganze Welt für sich bedeutet, in welcher, wie die tausendpferdige Maschine keuchend arbeitet, sich die Stunden in Minuten konzentrieren.

Der erste Maschinist war es, der plötzlich nach der Billardperle griff und davoneilte, unter Deck verschwand.

Ich habe Herrn Ingenieur Malzmann schon etwas beschrieben, als er noch zweiter Maschinist war, als er das Zeichen zum Beginn des Zweikampfes geben sollte, er hatte nur »los!« zu sagen gehabt, hatte es aber vor Erregung nicht herausgebracht, oder vielmehr gleich in mehrfacher Wiederholung: lololololo . . .

Also ein fünfzigjähriges, grauköpfige Männchen, eingetrocknet, aber noch äußerst rüstig, nur so ungemein bescheiden, in gewisser Hinsicht sogar ängstlich das heißt so vorsichtig in allem, was er tat und sprach.

Und dabei war er früher Grobschmied gewesen. Nicht Schlossergeselle, wie ich erst gesagt, Hufschmied. Er war ein Selfmademan. Er war als Kohlenzieher zur See gegangen, hatte es bis zum Maschinisten gebracht ohne eine Schule besucht zu haben, hätte nach seinen bisherigen Stellen und nach den Zeugnissen, die er aufzuweisen hatte, jetzt als erster Maschinist, als erster Ingenieur auf dem größten Passagierdampfer fahren können.

Als der nun nach der mächtigen Perle griff und davon rannte, da wußten wir alle sofort, was er vorhatte.

Dieser ursprüngliche Grobschmied hatte eine fabelhafte Handfertigkeit für die feinsten Arbeiten. Er betrieb aus Liebhaberei in seiner Freizeit Goldschmiedearbeit, hatte in seiner Kabine eine vollständig eingerichtete Werkstatt dazu. Er schmolz einfach im Kesselfeuer englische Sovereignes ein, machte daraus die schönsten Phantasieringe, aber auch andere Sachen, die herrlichsten Blümchen, alles ganz naturgetreu, mit Staubfädchen und allem.

Diese Goldarbeiten schickte er bei Gelegenheit in seine Heimat, an ein Fräulein Julia Walzmann, seine auch schon bejahrte Schwester. Das hatten wir zufällig erfahren. Das letzte Wertpaket hatte er aus Para abgeschickt. In einen anderen Hafen mit Postverbindung waren wir ja überhaupt gar nicht mehr gekommen. Was er sonst mit den Schmucksachen machte, ob er sie verkaufen ließ oder für sich selbst aufbewahrte, das sagte er uns nicht, und deshalb nur die kleinste Frage zu stellen, das verbot der Bordanstand.

Es war überhaupt eine eigentümliche Sache. Es war überhaupt ein eigentümlicher Mensch. Echt wie sein Gold, gediegen wie seine Arbeiten — aber still für sich, verschlossen — obgleich dennoch der treueste Kamerad. Aber es schien ihm peinlich zu sein, daß wir nur um seine Goldschmiedearbeit wußten. Zu Ilses Geburtstag hatten wir bestimmt erwartet, daß er einen goldenen Schmuck liefern würde, denn von Knauserei war bei dem gar keine Rede. Stattdessen hatte der ehemalige Grobschmied einige Strümpfchen gestrickt und Borden gehäkelt.

Infolgedessen hatte ihn die Patronin auch noch niemals, so oft sie auch schon daran gedacht, mit der Bitte angegangen, ihr einen Schmuck zu fertigen. Der kuriose Kauz hätte doch sicher keine Bezahlung angenommen und . . . es wäre ihm überhaupt höchst unangenehm gewesen.

Als aber nun jetzt der erste Ingenieur mit der Billardperle davonrannte, da wußten wir alle sofort, was er vorhatte. Ein Spaßverderber war er ja überhaupt niemals gewesen, und jeder Mensch hat einmal einen Moment, da er aus seiner Charakterrolle fällt. Oftmals bedeutet solch ein Moment, da er auftaut, eine Umwandlung seines ganzen Charakters.

Und richtig, noch waren keine zehn Minuten vergangen, die sich die Jungens unterdessen durch andere Scherze zu vertreiben gewußt hatten, als der erste Ingenieur wiederkam, nur mit etwas verlegenem Lächeln sein Werk präsentierend.

In diesen noch nicht ganz zehn Minuten, wozu aber doch auch der Weg nach seiner Kabine und zurück gerechnet werden muß, hatte dieses Männchen die Billardkugel mit starken Golddrähten gefaßt und das Ganze an einer langen Stahlnadel befestigt, gelötet — eine Arbeit, so sauber und akkurat und zierlich, daß man meinen sollte, ein Goldarbeiter müsse einen ganzen Tag damit beschäftigt gewesen sein — und der hatte das in noch nicht zehn Minuten fertig gebracht!

Ich erwähne dies alles deshalb so ausführlich, weil ich damals, als ich mir die ganze Sache richtig überlegte, fast an Zauberei glaubte, ich hielt solch eine Schnelligkeit nicht für möglich, ich dachte erst, der Ingenieur hätte solch eine Billardkugel als Busennadel schon fertig liegen gehabt, mußte es dann aber wohl glauben, daß er dazu nur etwa sechs Minuten gebraucht hatte.

Und zweitens schildere ich dies so ausführlich, weil diese Goldschmiedekunst des ersten Maschinisten für uns alle später noch von höchster Bedeutung werden sollte.

Jetzt zunächst setzte Oskar seine Kapriolen fort, steckte die Busennadel dorthin, wohin sie gehörte — an den Busen der Mama Bombe!

Und die merkte noch immer nichts, nur daß sie noch mehr vor stolzem Glücke strahlte

»Jotte ooch nee, wie komme ich nur dazu, so ne Berle for zehn Millionen Märkersch!« stammelte immer wieder ihr so ungemein kleines Mündchen.

Aber das war nicht etwa die einzige humoristische Szene, die sich während der Arbeit abspielte. Denn die Arbeit wurde ja deswegen nicht etwa versäumt. Nur noch eine will ich schildern von hundert anderen.

Alle Muscheln, die nach ihrem Aussehen keine Perlen enthielten, wurden gleich wieder über Bord geworfen, aber an einer bestimmten Stelle, die vorher schon nach rauhschaligen abgesucht worden war, so daß man Muscheln nicht wiederholt heraufbrachte. Die leeren Schalen der aufgebrochenen Muscheln aber wurden gleich dorthin geworfen, wo sie in größere Tiefe sanken. Da muß man auch sehr vorsichtig sein, solche Leichen können eine ganze Bank verpesten, absterben lassen, denn das scheint doch etwas ganz anderes zu sein, als wenn Muscheln eines natürlichen Todes sterben, wozu doch auch Krankheiten zu rechnen sind. Ihre Altersgrenze kennt man noch gar nicht.

In diesen aufgebrochenen Muscheln waren die Weichtiere selbst nur noch zum Teil. Wir alle, die wir Geschmack an Muscheln fanden, hatten sie schon gekostet, roh und auch gekocht und gebacken, aber keinen Gefallen daran gefunden. Diese Perlmuscheln haben einen eigentümlichen, tranigen Beigeschmack!

Das war ja aber gerade etwas für unseren Mister Tabak!

Es gibt ja Menschen genug, die auf einen Sitz hundert Austern verzehren. Das sind immerhin noch normale Menschen. In dieser Hinsicht aber, wenn es sich um die Fresserei handelte, war dieser Eskimo kein normaler Mensch, ich glaube sogar noch weniger als seine Kameraden von der Eiskante. Der schluckte und schluckte, schneller noch als Juno — auch Schweine lieben Austern wie alle Muscheln ungemein — der erbrach besonders große Muscheln nur, um das Tier selbst zu verschlucken, und was er dabei an Perlen im Munde spürte, spuckte er in den Sammelkasten.

Daß hiermit eine Gefahr des Verlustes für uns verbunden war, das merkten wir erst später, darauf machte er selbst uns erst aufmerksam, nachdem er so ungefährer Schätzung nach schon mindestens 300 Muscheln verschlungen hatte.

»Schon wieder eine Perle verschluckt,« rief er jetzt einmal, »wenigstens so groß wie ein Kirschkern.«

Rufe des Schreckens! Was, der verschluckte Perlen so groß wie die Kirschkerne?! Hatte sicher schon mehrere solche verschluckt?!

Aber Mister Tabak beruhigte uns, mit entsprechender Handbewegung, mit der anderen Hand schon wieder nach einer anderen Riesenmuschel greifend.

»O, das macht mir nix — ich kann solche Perlen schon vertragen — und wenn sie so groß wie die Wallnüsse sind — und ich werde sie schon wieder zum Vorschein bringen, ich werde gut aufpassen . . . «

»Neneneneee!!l« rief aber Doktor Isidor. »Der Magensaft läßt keine Perle passieren — und nun gar Ihr Magensaft, der sogar Kotelettknochen spurlos verdaut!«

So ist es. Schon in gewöhnlichem Essig lösen sich die Perlen, nur aus kohlensaurem Kalk bestehend, unter Brausen ziemlich schnell aus, und der Magensaft ist noch viel schärfer.

Also mochte Mister Tabak vielleicht schon, um nur irgend eine Summe zu nennen, für rund hunderttausend Mark Perlen verschluckt haben! Oder vielleicht auch nur für zehntausend.

Na‚ wir hatten ja genug von dem Zeuge, ein Brechmittel wollten wir ihm deshalb nicht erst einflößen, das hätte seine Ehre beleidigen können. Und überhaupt, was dem sein Magen einmal gefaßt hatte, das gab er doch durch keine List und durch keine Gewalt wieder her.

Jedenfalls aber ging das nicht so weiter, jetzt durfte er nur noch Muscheln schlucken, die schon von anderer Seite auf ihren Perleninhalt geprüft worden waren.

»Ja, was ist dieses Gemüse eigentlich wert?« fragte ich einmal, als ich die erstarrten Tautropfen in dem Kasten durch meine Finger gleiten ließ. »Was kosten solche weiße Bohnen nach dem heutigen Marktpreise?«

Das konnte niemand von uns sagen. Am besten hätte es vielleicht die Patronin verstanden, die hatte doch schon genug Perlengeschmeide gekauft, das war aber eben Geschmeide, da muß doch die Juwelierkunst bezahlt werden, überhaupt will der Juwelier doch an den Perlen selbst verdienen.

In diesem Augenblick dachte ich an den ersten Ingenieur, ob der nicht vielleicht . . .

Da wurde ich in die Kajüte zur Patronin gerufen.

Ihre Augen leuchteten, sie mußte erst ein paar Mal tief Atem holen, ehe sie sprechen konnte.

»Georg, jetzt sind wir reich!«

»Das sind wir schon immer gewesen, so lange wir auf den faulen Schwindel nicht hereinfielen, die Neuyorker Bodenkreditbank könnte pleite gemacht haben. Mit zwei Millionen Dollars darf man sich wohl reich nennen.«

»Aber eine Million dürfte wohl noch hinzukommen.«

»Ja, das wird es wohl, und ich unterschätze diesen Zuwachs unseres Reichtums auch gar nicht. Nun dürfen wir schon einmal unsere »Argos« verlieren, jetzt können wir uns eine neue kaufen, ohne daß unser Betriebskapital geschwächt wird.«

Mit einem Male nahmen Helenes erst so strahlende Züge einen Ausdruck der Niedergeschlagenheit an.

»Nun können wir aber doch nicht mehr Mister Carlistle fortschicken.«

Verdammt noch einmal, ja, da hatte sie recht!

Ich verstand sofort.

Jetzt, da wir den Perlenschatz gefunden, da wir sein monatliches Chartergeld nicht mehr brauchten, schickten wir ihn fort, lösten wir den Kontrakt.

Das heißt, so hätte er denken können.

Und daß er so hätte denken können, das war mir schrecklich fatal, nur deshalb wollten wir ihn lieber behalten.

»Schiff ahoi!« erklang es in diesem Augenblicks wie ich noch so dachte, kein Wort deshalb noch gesagt hatte,

Wir sahen es durch das Kajütenfenster. Es war ein Frachtdampfer mit englischer Flagge, der hinter jener Insel hervorkam, offenbar Kurs auf Kalam zu hielt, wobei er in ziemlicher Nähe an uns vorüber mußte.

Und da plötzlich kam Carlistle in die Kajüte geeilt.

»Frau Patronin — Verzeihung, wenn ich störe — aber die Zeit drängt — ein Dampfer kommt, auf den ich als Passagier möchte — Verzeihung, wenn ich unseren Kontrakt so plötzlich löse!«

Nur einen freudig—erstaunten Blick konnten wir beide wechseln.

»Sie wollen uns verlassen?!« rief dann die Patronin, und ihr Bedauern war dabei ganz ungekünstelt.

»Ja, und natürlich nehme ich sie mit.«

»Ihre Traumkönigin?«

»Ja, ich lasse sie schon wieder in die Kiste legen.«

»Aber warum denn nur?!l«

Er gab in aller Schnelligkeit eine Erklärung, die für uns gar keine war.

Eben wieder die Sterne. Oder sein ägyptisches Punktierbuch. Hier mußte unser Schiff festgenagelt werden hier mußte ein anderes kommen, um ihn und seine Traumkönigin mitzunehmen, dann würde die Erklärung erfolgen, dann würde sie wieder zum Leben erwachen. Wenn da nicht erst noch andere Umwege zu machen waren.

»Ja, Mister Carlistle, ganz wie Sie wünschen — da muß aber dem Dampfer signalisiert werden.«

Es geschah. Zuerst stellten sich die beiden Schiffe einander vor.

Der »Hamilton« aus Newcastle kam von Singapore und ging direkt nach Valparaiso.

»Wollen Sie denn nach Valparaiso?« fragte die Patronin.

»Sicher, sicher — doch ganz gleichgültig, wohin er geht — ich muß unbedingt an Bord dieses Dampfers!«

»Nehmen Sie einen Passagier erster Klasse mit?« lautete die nächste Frage, die noch mit Signalflaggen gegeben wurde.

Alle Frachtdampfer, auch die größeren Segelschiffe, nehmen einige Passagiere erster Kajüte mit, sind dazu eingerichtet. In diesen Gegenden füllen sie auch oft genug, wenn Platz und Gelegenheit, das ganze Zwischendeck mit farbigen Passagieren an, lassen sie sogar viele Tage lang auf freiem Deck kampieren. Man darf überhaupt zwischen Passagier— und Frachtdampfer gar keinen so scharfen Unterschied machen. Nur die Auswandererdampfer bilden eine besondere Klasse.

Gewiß.

»Wen?«

»Einen Herrn.«

Wenn ein Diener dabei gewesen wäre, das wäre sofort gemeldet worden, bei solcher Flaggensprache geizt man doch mit jedem Worte.

»Fünfzig Pfund!« nannte der englische Kapitän gleich den Preis.

Das war nicht zu viel für diese noch lange Strecke, und schließlich muß solch eine besondere Gelegenheit doch auch besonders bezahlt werden.

Der Dampfer hatte direkt auf uns zugehalten, wir waren schon in Rufnähe.

Daß wir festgerannt waren, das konnte man dort noch nicht wissen — aber daß die nicht merkten, wie wir hier Muscheln heraufholten und öffneten, dafür war schnellstens gesorgt worden.

»Wir sitzen auf einer Bank fest, warten die Flut ab!l« rief Kapitän Martin durch das Sprachrohr hinüber.

Da hütete sich der andere Dampfer, noch näher zu kommen, strich langsam seitwärts vorüber.

Während sich die beiden Kapitäne noch weiter unterhielten, wurde schon ein Kutter zu Wasser gelassen. Mister Carlistles umfangreiches Gepäck hineinbefördert, und unter diesem sah ich auch die Kiste, in der wir in dem chinesischen Räuberneste die Leiche gefunden hatten.

»Die Inderin ist drin?« fragte ich leise den neben mir stehenden Doktor Isidor.

»Sie ist drin. Carlistle gab den Auftrag dazu, sobald er die Masten des Dampfers erblickte, er hätte es allein getan, wenn ihm niemand dabei geholfen hätte. Es geht doch nicht gegen Ihre oder der Frau Patronin Ansicht, daß er die Leiche mitnimmt?«

»Durchaus nicht, mag er seine Traumkönigin nur mitnehmen. Wie sieht sie aus?«

»Ich scheine mich doch geirrt zu haben, als ich schon an eine Verwesung glaubte. Jetzt scheint die Leiche, die bisher ein so frisches Aussehen hatte, zur Mumie einzutrocknen.

»Leiche?« wiederholte ich. »Ist sie nicht gestern aufgestanden, hat sich auf das Sofa gesetzt?«

Doktor Isidor zuckte skeptisch die Achseln.

»Nach meiner wissenschaftlichen Ansicht darf ich nur von einer Leiche sprechen. Und überhaupt ist es noch längst nicht erwiesen, daß die Inderin auch wirklich selbst aufgestanden ist. Der Yankee hat gefunden, daß ihre Gliederstarre geschwunden ist, hat sie losgeschnallt und auf das Sofa getragen, ihr die Hände im Schoße gefaltet. Aber er weiß gar nicht, daß er es getan hat. Denn ganz richtig ist es mit dem jungen Mann sicher nicht. Wenn er auch nicht gerade ein somnambuler Nachtwandler ist, so schläft er doch oft genug bei Tage mit offenen Augen.«

Carlistle kam aus der Kajüte, in der er noch einmal mit der Patronin verhandelt hatte.

»Leben Sie wohl, Herr Kapitän — leben Sie wohl, Herr Waffenmeister — lebt herzlich wohl Ihr alle — ich werde schon noch von mir hören lassen.«

Zu einem weiteren Abschied war keine Zeit vorhanden. Der Dampfer konnte nicht lange warten.

Ins Boot hinein und hinübergerudert, an Bord gestiegen, das Gepäck nachbefördert und der Dampfer, der sich noch nicht einmal ausgelaufen hatte, setzte sich mit voller Kraft wieder in Fahrt.

Carlistle winkte noch lange, wir winkten zurück, bis der Dampfer hinter dem Vorgebirge verschwand.

So, nun waren wir den kuriosen Kauz los.

Schade um den jungen Mann! Wenn der . . .

Doch ich wollte gar nicht mehr an ihn denken, und da mich alle zur Genüge kannten, fing auch in meiner Gegenwart niemand von ihm an.

Aber wir sollten uns doch nicht für immer von ihm getrennt haben.


42. KAPITEL.
DIE FREIFRAU VON DER SEE.

Die Hochflut um elf machte uns frei, wir hätten wohl gar nicht nötig gehabt, den Wasserballast auszupumpen.

Noch zwei Tage blieben wir hier liegen, ununterbrochen Muscheln tauchend, durch abwechselnde Wache auch während der Nacht. Natürlich aber liefen wir nicht wieder fest, bei niedrigem Wasser wurde das Tauchen von der Barkasse aus besorgt.

Die Nachbarschaft merkte nichts von unserer einträglichen Arbeit. Sonst wäre doch ganz sicher einmal ein Boot gekommen. Denn wo so etwas wie Perlenmuscheln zu finden ist, da ziehen sich die Menschen doch wie die Geier an einem Aase zusammen. Hin und wieder fuhr ein Auslegeboot oder eine Prau mit Eingeborenen vorüber, sie blickten natürlich nach uns, kamen aber nicht herbei.

Die Entfernung nach der nächsten Insel betrug eben zwei Kilometer, da kann man mit bloßen Augen nicht unterscheiden, was Menschen treiben, und mit einem guten Fernrohre hätte nur konstatiert werden können — vielleicht — daß wir hier tauchen ließen.

Aber die hier hausenden Eingeborenen kamen gar nicht auf die Vermutung, daß auf dieser Bank, die sie ja sonst recht gut kannten, Perlmuscheln gediehen. Dagegen mußten sie wissen, daß wir hier festgerannt waren. Dabei hatten wir eben eine Havarie erhalten. Wir führten unter Wasser eine Reparatur aus.

Ebensowenig erfuhren wir etwas davon, was sich dort hinter dem fernen Vorgebirge im Reiche Maladekka und in der Felsenbucht abspielte. Niemand besuchte uns, wir fuhren nicht hin, wir kümmerten uns nicht darum.

Nach zwei Tagen — oder noch nicht einmal nach 48 Stunden — mußten wir unsere Fischerei beenden. Nach langer windstiller Zeit hatte über Nacht ein Lüftchen geweht, das sich bei Sonnenaufgang in einen brausenden Sturm verwandelte, und der würde nun hier zur Äquinoktialperiode das Meer wochenlang toben lassen. Da war nichts mehr zu wollen.

Übrigens war die Bank an perlenhaltigen Muscheln schon bald erschöpft. Es war eben nur ein sehr kleines Areal, das man regelrecht absuchen konnte. Aber es waren auch bald zwei Pfund der schönsten Perlen, die wir gesammelt hatten.

»Wohin nun, Georg?«

»Ja, ich hätte eine Bitte — ich habe in meinem Rasierspiegel die Sterne abgestochert . . . «

»Jawohl, nun fange Du auch noch an!« lachte Helene »Na gut — und was sagen die Sterne?«

»Nicht die Sterne, sondern mein Rasierspiegel. Er sagt, daß wir heute den 27. März haben . . . «

»Ach, hast Du einen allwissenden Spiegel!«

» . . . und daß wir dann gar nicht mehr so viel Zeit haben, um unser nächstes Ziel zu erreichen.«

»Ja, was aber ist das für ein Ziel?«

»Welches wir spätestens am 16. Juni erreicht haben müssen.«

Helene stutzte.

»Am 16. Juni?!«

»Nun, was geschah da voriges Jahr?«

»Da — da . . . saßen wir plötzlich auf der Sandbank im brasilianischen Urwald fest! Ja, wollen wir denn dort wieder hin?«

»Ja, selbstverständlich. Oder hast Du keine Lust, dort noch einmal solche sieben Wochen durchzumachen?«

Ich will nichts weiter sagen, als daß sich unter der ganzen Mannschaft, so weit sie erwachsen war, ein ungeheurer Jubel erhob, als sie erfuhr, daß es wieder nach dem Amazonenstrome ging.

Da hatten wir aber, wenn man mit kleinen Zwischenfällen rechnen wollte, auch wirklich nicht mehr viel Zeit zu verlieren, deshalb wollten wir auch den doch etwas kürzeren Weg links herum um die Erde einschlagen, den Suezkanal benutzen. Wenn man innerhalb zweier Tage zwei Pfund solche Perlen gefunden hat, dann kommt es einem doch nicht auf 25 000 Franken an.

Am nächsten Tage liefen wir erst noch einmal Menado auf Celebes an. Es war die nächste Kabelstation, die Patronin wollte wieder einmal nach Neuyork wegen ihres Bruders telegraphieren.

Sie erhielt den Bescheid, daß sie in fünf Stunden wiederkommen möchte, wegen der Antwort. Eher hätte es keinen Zweck. Mit dem Telegraphieren geht es eben doch nicht so schnell, wie man manchmal denkt. Wenn auch der elektrische Funke in der Sekunde mehrmals die Erde umläuft. Da kommen die Umschaltestationen und noch vieles andere in Betracht.

Nun, wir wußten uns auch noch mehr als nur fünf Stunden zu vertreiben. Wir hatten auch mancherlei zu ergänzen und anzuschaffen, und Menado ist ein wichtiger Hafen, da ist alles zu haben, was ein Schiff nur brauchen kann, wenn auch etwas teuer.

Vor allen Dingen aber betrat auch ich die Kabelstation, jedoch ohne daß die Patronin etwas davon wußte.

In dem Telegraphenraum in den ich gewiesen wurde, befand sich nur ein junger Herr.

Es ist eine sehr hübsche Episode, die ich hier erleben sollte, die ich nicht in meinem Leben vermissen möchte. Ich denke jedesmal daran, so oft ich mir eine Zigarre anbrenne.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte nach London telegraphieren.«

»Das Wort sechs Franken.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie müssen sich aber eine halbe Stunde gedulden, es werden gegenwärtig Regierungsdepeschen gewechselt, so lange werden die wohl noch in Anspruch nehmen. Wären Sie zehn Minuten eher gekommen, da war eine Dame hier, an die hätten Sie sich gleich anschließen können, jetzt nicht mehr. Also wollen Sie in einer halben Stunde wieder vorfragen.«

»Und in welcher Zeit werde ich dann aus London Antwort bekommen können?«

»Das kommt ja ganz darauf an, ob Ihnen auch gleich geantwortet wird . . . «

»Sofort. Die betreffende Stelle hat selbst direkten Kabelanschluß und wartet schon auf meine Depesche, beantwortet sie sofort.«

»Dann müssen Sie sich aber immer noch auf fünf bis sechs Stunden gefaßt machen.«

»Es ist eine amtliche Depesche, eine amtliche Unterhaltung.«

»Eine amtliche?!«

Ich zeigte die Depesche, die ich schon aufgesetzt hatte, zeigte noch ein anderes Schriftstück mit einem großen Siegel versehen.

Der junge Mann stutzte nicht nur, sondern er staunte, blickte mich plötzlich ganz unsicher an.

»Ja, das ist doch eine Regierungsdepesche!«

»Jawohl, so etwas nennt man wohl eine Regierungsdepesche.«

»Ja, das ist doch etwas ganz anderes! Erstens kostet die nichts, so etwas rechnen die Regierungen unter sich ab, und zweitens wird die ohne Umschaltungen direkt befördert. Da haben Sie die Antwort auch sofort wieder. In zehn Minuten, wenn die Depesche dort schon für Sie bereit liegt. Und dann kann ich auch vielleicht eine Pause in dem jetzigen Gespräch benutzen, um Ihr Telegramm noch London zu befördern. Bitte, wollen Sie Platz nehmen.«

Wie umgewandelt konnte der junge Herr nicht sein, denn er war schon immer sehr höflich gewesen.

Ich setzte mich, er ging an ein Stehpult und schrieb, hatte sich eine Zigarre angebrannt. Einer von den drei vorhandenen Apparaten klapperte hin und wieder.

Ein Malaie trat ein, zwar in heimatlichem Kostüm, aber durch ein Messingschild auf der Brust als Beamter gekennzeichnet. Etwas Hohes konnte er jedoch nicht sein, der junge Holländer schnauzte ihn in einer mir fremden Sprache ganz mächtig an. Trotzdem nahm der braune Kerl nicht die qualmende Manilazigarre aus dem Munde, mit der er auch eingetreten war.

»Hier ist das Rauchen wohl gestattet?« fragte ich freimütig, als sich der Kerl wieder entfernt hatte.

»Aber bitte sehr!«

Ich hätte es auch ohne Frage wissen können, im ganzen Orient betrachtet man das Tabakrauchen zum Leben gehörig wie das Atmen. Selbst im deutschen Krankenhause zu Konstantinopel, unter deutschen Ärzten stehend, läßt man noch den schon mit dem Tode ringenden Schwindsüchtigen sein Zigarettchen rauchen. Alle die Krankensäle und Krankenzimmer sind mit Tabaksqualm gefüllt, und keiner dieser Ärzte meint noch, daß dies schädlich sein könnte. Dabei muß ich auch daran denken, wie mich einmal jemand dazu verleitete, eine längere Eisenbahnfahrt in einem Nichtraucherkupee zu machen. Und in dem saßen gleich zwei spuckende Schwindsüchtige, die ängstlich die Fenster geschlossen hielten. Na‚ da gute Nacht!«

Also ich zog schmunzelnd mein Zigarrenetui.

»Darf ich Ihnen Feuer geben?«

Der junge Holländer nahm aus so einem Wandfeuerzeug den Stift, mit Benzin getränkt — zog ihn aber unangebrannt zurück.

»Halt, einen Augenblick! Vielleicht ist es eine kleine Überraschung für Sie . . . «

Er lauschte nach dem Klappern des Apparates, ging hin, hob einen kleinen Kasten auf, unter dem sich zwei nahe gerückte Metallspitzen befanden.

»Der Generalgouverneur in Batavia gibt eine Depesche an alle Regierungen der Erde — Menado liest mit — da, jetzt wird Stockholm angerufen — mit ganz direkter Stöpselung — einen Augenblick, gleich muß Stockholm das Verstandenzeichen geben — so, jetzt . . . «

Zwischen den beiden Metallspitzen knisterte ein blaues Fünkchen über, der Herr hatte den Stift daran gehalten, die Benzinwatte brannte sofort.

»Bitte hier — Feuer direkt aus Schweden — ohne Schwefel und Phosphor.«

In der Tat, ich brannte meine Zigarre mit Feuer an, das direkt aus Schweden kam!

Ein geringfügiges Erlebnis, ohne jede Bedeutung aber ich erinnere mich so gern daran.

Und gut war es vielleicht, daß die Patronin nicht dabei war. Die hätte am Ende diesem liebenswürdigen jungen Manne gleich eine Hand voll Perlen in die Tasche gesteckt.

Zwanzig Minuten vergingen, der Herr erzählte mir mancherlei von der Kabeltelegraphie, dann wurde ich mit London verbunden, so ziemlich mit der höchsten Amtsstelle Englands. Ich hatte ziemlich viel zu depeschieren, konnte es mir auch leisten, es kostete mich ja nichts. Die Antwort kam immer prompt zurück. Doch nur fünf Minuten, dann war es beendet.

Mit bestem Danke verabschiedete ich mich. Das Telegrammgeheimnis mußte überhaupt gewahrt werden, und dann bat ich noch, auch der in fünf Stunden wiederkommenden Dame, der Miß Helene Neubert, nichts davon zu sagen, daß ich, der Waffenmeister der »Argos« hier gewesen sei.

Selbstverständlich nicht!

Hochbefriedigt, wirklich glücklich marschierte ich ab.

Ach, sollte Helene eine Überraschung erleben!

Wie ich so durch die Straßen des europäischen Stadtviertels schlendere, erlebe aber erst ich eine Überraschung, sehe etwas, was ich auch niemals erwartet hätte.

Ich komme an so einem Vergnügungslokal vorbei, wie es die Holländer gleich wie die Deutschen lieben, höre da drin ein Brüllen und Gejohle mit deutschen Worten hallo, das sind doch meine Jungens! — ich trete ein, komme durch die Hausflur in einen großen Garten, in der Mitte ist ein festgetretener oder gar asphaltierter Platz, zum Tänzchen im Freien, und auf diesem tummeln sich so ziemlich die Hälfte meiner Jungen, aber nicht im Tanze, sondern sie sind damit beschäftigt, auf Fahrräder aufzusteigen und sofort immer wieder herunterzufallen. Fast jeder hatte sein eigenes Zweirad.

Menado hat 10 000 Einwohner. Freilich sind es meist arme Eingeborene, Malaien und Chinesen und anderes Gesindel, aber es gibt doch auch reiche darunter, sehr reiche, und dann holländische Beamte und Kaufleute und Plantagenbesitzer, die im modernsten Komfort leben.

Wo ist heute in der Welt eine Ansiedlung, in der es noch kein Fahrrad gibt.

In solch einer Stadt gab es also etliche radelnde Herren und Damen und Kinder, sogar eine Aya, ein indisches Kindermädchen, radelte.

Nun hat jede Ortschaft, ob Millionenstadt oder hundertköpfiges Dorf‚ einmal eine Periode, da das Radeln zur Manie wird. Mit einem Male will jeder ein Bicycle haben, es gehört zu seinem Glück. So war es auch hier vor einem Vierteljahre gewesen. Da hatte sich ein griechischer Händler von einer amerikanischen Filiale in Batavia sechs Dutzend Clevelandräder schicken lassen, hier die beliebteste Sorte.

Einige konnte er noch verkaufen, dann war die allgemeine Lust am Radfahren hier schon wieder vorbei. Wie die Patronin vom Postamt kommt, sieht sie in einem Bacchal, in so einem Laden, in dem überhaupt alles zu haben ist, was zum Leben gehört, ein Plakat: »Hier sind vier Dutzend ganz neue Clevelandräder spottbillig zu verkaufen.«

Da bekommt unsere Patronin eine geniale Idee.

Ha, Fahrräder!

Die hatten ihre Jungens noch nicht.

Auf der Sandbank dort im Urwald! Auf einer Bretterbahn!

Hineingegangen.

Die ganz vernickelten Räder scheinen tadellos zu sein. Noch 46 Stück sind vorhanden, darunter zwei Damen— und einige Kinderräder.

»Wieviel kosten die alle zusammen?«

Nun, das Clevelandrad ist die Elitemaschine Amerikas, durchschnittlich 400 Mark . . .

»Jedes Rad, wie es hier steht, kostet 300 Gulden — aber ich will es machen billig — zehntausend Gulden alle zusammen.«

So spricht der griechische Jude, der doch auf den ersten Blick sieht, wen er vor sich hat.

Und die Patronin zieht sofort ihr Scheckbuch, sie ist eine gute Kopfrechnerin, ist schon hoch beglückt, 3800 Gulden »abgehandelt« zu haben.

Da tritt zum Glück Kapitän Martin in den Laden, will sich ein paar Kisten Manilazigarren kaufen.

Nun aber kauft sich dieser olle ehrliche Seemann nicht einmal zehn Zigarren, ohne daran zu denken, ob er nicht, falls sie ihm nicht schmecken, durch Wiederverkauf ein Geschäftchen dabei machen kann. Und wäre er nicht eben derjenige, so hätte er uns auch nicht damals seinen Kredit anbieten können.

»Zehntausend Gulden? Daß Du räudiger Hund zehntausend Mal die Cholera bekommst! Fünfhundert Gulden, und keinen blutigen Cent mehr für Deine miserable Schundware!l«

Und dabei weiß Kapitän Martin noch gar nicht, was die Patronin eigentlich kaufen will!

Aber der hat doch nicht umsonst jahrelang in Konstantinopel auf eigene Rechnung mit Griechen um Knochen und Lumpen gefeilscht.

Der Grieche rauft sich die Haare und schwört bei den Häuptern seiner noch ungeborenen Kinder . . .

Na‚ kurz und gut, für 2500 Gulden bekam die Patronin den ganzen Schwamm.

Wie der Händler dann mit der amerikanischen Filiale fertig wurde, wie er die wieder anschmierte, das weiß ich nicht, das ging uns ja auch gar nichts an.

Nun konnten sich die Jungens die Räder gleich abholen, brauchten aber nicht erst von Bord zu kommen. Die erste und dritte Wache, gegen 50 Mann, saß ganz in der Nähe in einem Gartenlokal, poussierten da zusammen in Kompanie mit einer einzigen österreichischen Kellnerin.

Sie wurden geholt.

Ach, diese Freude, wie die die Räder erblickten, die ihnen gehören sollen!

»O Hein, kannst Du ook radfahren?«

»O tjiooo, nu worum denn nich?«

Also erst noch einmal in den Garten hinein, den asphaltierten Tanzplatz als Radfahrbahn benutzt.

Nur ganz wenige, einige Heizer, hatten schon einmal ein Fahrrad zwischen den Beinen gehabt. Ich auch noch nicht.

Aber warum soll denn nicht jeder Mensch radfahren können? Das ist doch so überaus einfach! Man setzt sich einfach drauf, tritt links, tritt rechts, paßt auf, daß man weder nach links noch nach richts umkippt.

Und nun diese Athleten und Akrobaten, geschmeidig wie die Panther, alle schon mehr ganze als halbe Seiltänzer . . . was, die sollten nicht sofort auf so einem Dinge fahren können?!

Ich kam gerade hinzu, wie die Anfangsversuche in vollem Gange waren.

O Gott, 0 Gott!

Wie die kaboltzten!

Mit welcher schneidigen Eleganz sich diese Akrobaten auf die Maschine schwangen, und mit welcher Vehemenz sie nach irgend einer Seite wieder herabschossen!

War das ein Gelächter und ein Gejohle damals im malaiischen Archipel auf Celebes!

»Nee, Kinners, so geiht dat nich,« kam dann einer der Geschundenen zu dieser Erkenntnis, »wir mötten irst enne Rieh bilden.«

Und sie bildeten erst eine Reihe, ein Dutzend, stiegen auf die nebeneinanderstehenden Räder und hielten sich gegenseitig fest, Arm in Arm, so wollten sie erst einmal fahren, bis sie die Balance heraus hatten.

Aber noch ehe sie abgeschoben sind, da kippt die ganze Reihe um, genau so, wie man eine Reihe Bleisoldaten umwirft.

Ach, diese Stellungen und Lagen, dieses Beinezappeln in der Luft!

Auch die Patronin wälzte sich mit — obgleich sie nicht mitfuhr — nur vor Lachen.

Und wir anderen Zuschauer desgleichen.

Ein Glück nur, daß wir imstande waren, in unserer Maschinenwerkstätte jede nötige Reparatur an den Dingern selbst auszuführen. Denn ein Dutzend Räder waren bereits demoliert. Aber, wie gesagt, wenn wir sie einmal hatten, dann konnte sich daran auch verbiegen und zerbrechen, was da wollte, wir flickten alles wieder zusammen, brauchten auch keine rohen Ersatzteile, die schmiedeten unsere Schlosser selbst, drehten und bearbeiteten sie sonstwie, viel Matrosen waren nicht minder geschickt in solchen Arbeiten, und dann wußte man sicher, daß die geflickten Maschinen noch besser hielten, als da sie neu waren.

Denn ich sah es schon kommen!

Wenn die Jungen erst gut fahren konnten, dann erst würde die Reparatur richtig losgehen!

Wenn die in der Batterie auf dem tanzenden Schiffe fuhren, gerade wenn es auf stürmischer See recht toll bockte, wenn die dann bergauf und bergab sausten, immer gegen die Wände prasselten!

Denn so war es doch auch mit dem Rollschuhlaufen gewesen.

Ich habe nur nichts davon erzählt. Ich habe geschildert, wie sich die Jungens damals in Frisko die Kunstläuferrollschuhe anprobierten, wie sie in die Fensterscheiben sausten und sich fremden Menschen an die Vollbärte hingen.

An Deck des schlingernden Schiffes kamen ja solche Situationen nicht vor, die Gelegenheit fehlte eben dazu, aber sonst ging es da noch viel, viel köstlicher zu. Aber eben gar nicht möglich, so etwas zu beschreiben. Deshalb habe ich auch gar nichts davon erwähnt.

Übrigens war das nicht etwa was Neues, was wir da trieben oder noch treiben wollten. Ich vergesse nie, darauf aufmerksam zu machen, wenn wir einmal mit einer Idee schon Vorgänger gehabt hatten.

Das Rollschuh- und Radfahren wird schon längst auf den großen Passagierdampfern als Sport betrieben. Gerade wenn das Schiff einmal recht tüchtig stampft und schlingert, dann geht das Vergnügen los. Freilich ein ziemlich kostspieliges Vergnügen. Wenigstens das Radfahren. Es handelt sich nur darum, eine bestimmte Strecke zurückzulegen, oder einmal um das Deck zu fahren und mit heiler Maschine zurückzukommen. Es muß ein sehr seefester Radfahrer sein, der das fertig bringt. Diese erstklassigen Passagierdampfer haben schon eine besondere Fahrradreparaturwerkstätte an Bord.


Am 15. April passierten wir für 25 000 Franken, wozu aber auch noch die Gebühren für den Lotsen und andere hinzukommen, den Suezkanal, in 19 Stunden. Man darf nur fünf und eine halbe Seemeile in der Stunde machen. Und nur wer wie wir einen elektrischen Scheinwerfer an Bord hat, darf auch in der Nacht dampfen. Allerdings kann man sich auch einen solchen nebst Dynamomaschine leihen. Sonst muß man für die Nacht in einer Ausweichebucht festmachen.

Sechs Tage später passierten wir die Straße von Gibraltar.

»Frau Patronin,« sagte Kapitän Martin, »wir müssen noch einmal Kohlen fassen, und da schlage ich Lissabon vor, dort sind sie am billigsten.«

»Ganz wie Sie wollen. Wenn wir nur rechtzeitig auf unserer Sandbank liegen.«

Es war gut, daß die Patronin die Verhältnisse doch nicht so recht kannte. In Gibraltar sind die Kohlen nämlich billiger als in Lissabon. Denn Gibraltar ist englisch, und England duldet doch nicht etwa eine so nahe Konkurrenz, lieber würden die Kohlen unter dem Preise verkauft werden. Erst müßte Lissabon als Kohlenstation tot gemacht werden.

Diese kleine Flunkerei aber hatte Kapitän Martin nur in meinem Auftrage begangen.

Wir konnten Lissabon in 20 Stunden Fahrt erreichen. Am Ende derselben aber kam eine sternenlose Nacht, und am Morgen bei bedecktem Himmel wußten wir immer noch nicht das »Wo bin«. Bis ein Fischerfahrzeug uns sagte, daß wir schon 25 Seemeilen oder zwei Stunden nördlich über das Ziel hinausgeschossen waren, uns auch genauen Kurs nach Kompaß angab.

»Was, Südwest zu Süd? I, das ist ja gar nicht möglich!«

»Si, si, Sennor Capitano.«

Der portugiesische Fischer steuerte wahrscheinlich nach einem von ihm selbst erfundenen Kompaß.

Wir wollten die Sonne abwarten oder ein anderes Fahrzeug abwarten, das in diesem Wasser beschlagen war.

Und richtig, nicht lange, da kam ein Fahrzeug angedampft, gleich mit vier Schloten, ein englischer Panzer!

Grüßend senkte er die Kriegsflagge, wir erwiderten natürlich den Gruß mit unserer deutschen Handelsflagge.

Freilich ist bei solcher Grüßerei wenig Freundlichkeit dabei. Diesem zuerst grüßenden Kriegsschiffe mußten wir sofort Namen des Schiffes, des Heimatshafens und des Kapitäns melden, was man bei einem grüßenden Handelsschiffe doch nicht nötig hat. Aber stellt man sich einem Kriegsschiff, das seine Flagge halbstock holt, nicht sofort vor, dann fällt erst ein blinder Schuß, drei Minuten später gibt es ein Loch in den Bauch.

Also wir hatten uns vorgestellt. Der Panzer, immer näher kommend, dankte höflich, und jetzt kletterten auch dort drüben einige bunte Lampen hoch.

Aber nicht etwa, daß dieses englische Kriegsschiff sich jetzt uns vorgestellt hätte!

Die meisten Matrosen konnten sich das Signal sofort übersetzen, es ist allgemein bekannt, wenn es auch selten gegeben wird. Dieses Signal ist der Popanz in der Kauffahrtei, und jeder weiß doch, was ein Gespenst ist, wenn auch noch niemand eines gesehen hat.

Und Verwünschungsrufe erklangen überall.

»Vermaledeite Engländer! Daß wir uns so etwas bieten lassen müssen! Was will der lausige Manofwar eigentlich von uns?«

Dieses Signal, das uns das Kriegsschiff gab, lautete nämlich:

»Streicht die Segel!«

Das heißt: wir sollten stoppen! In dieser uralten Fassung aber lautet dieser Befehl auch noch für den Dampfer, der überhaupt gar keinen Mast mehr hat, wenn er halten soll. Die englische Seemannssprache, die, ganz mit Recht, maßgebend ist, hat überhaupt gar kein Wort für »dampfen«, sie läßt noch heute auch den Dampfer »segeln«, was hier also die Bedeutung von »fahren« angenommen hat.

Ja, da war nichts dagegen zu machen, wir hatten einfach zu gehorchen, wir mußten darauf gefaßt sein, daß unser ganzes Schiff durchsucht wurde, daß wir nach irgend einem Hafen geschleppt und beliebig lange Zeit festgehalten wurden, bis uns diplomatische Verhandlungen zwischen England und Deutschland wieder freigaben.

Denn eine wahre Freiheit gibt es auch auf dem offenen Meere nicht, obgleich es herrenlos ist. Hier herrscht noch das Recht des Stärkeren, das Faustrecht — das freie, internationale Meer steht ständig unter den Kriegsgesetzen.

Tatsächlich so ist es!

Jede Seemacht hat nahe ihren Küsten eine Grenze, hinter welcher der friedliche Zustand aufhört.

Für Deutschland ist diese Grenze nach Westen die Linie Dover—Calais. Sobald ein deutsches Kriegsschiff diese Linie passiert, wird eine Flaggenparade abgehalten, der Kriegswimpel wird niedergeholt und wieder gehißt, der Kommandant erklärt den Kriegszustand, die Geschütze werden geladen, der Mannschaft werden die Kriegsartikel verlesen, das ganze Schiff befindet sich fernerhin im gefechtsklaren Kriegszustand.

Desertiert ein deutscher Kriegsschiffsmatrose in dem Hafenstädtchen Gravelines, zwei Meilen von Calais, wird fahnenflüchtig, wird erwischt, so kommt er vielleicht mit einem Jahre Festung ab. So lautet das bestimmte Urteil.

Bleibt er aber in Grisnez, zwei Stunden hinter Calais versehentlich über Urlaub, so wird er kriegsgerichtlich erschossen!

Das heißt, er wird nicht erschossen. Er wird auch nur zu einiger Zeit Festung oder sogar nur Arrest begnadigt. Aber begnadigt wird er dazu, nicht verurteilt! Das ist der gewaltige Unterschied dabei! Das Urteil kann nur auf den Tod lauten. Jede geringere Strafe ist nur eine Begnadigung.

Diesen Unterschied macht die Linie Dover—Calais aus.

Also außerhalb seiner heimatlichen Gewässer ist jedes Kriegsschiff im effektiven Kriegszustande, immer klar zum Gefecht.

Daß zwei Kriegsschiffe zweier Nationen, die miteinander im Frieden leben, nicht aufeinander losgehen, das ist selbstverständlich.

Aber die Kauffahrtei bekommt diese internationale Kriegsbereitschaft doch manchmal recht derb zu fühlen.

Jedes Kriegsschiff jeder anerkannten Macht, die Gesandtschaften unterhält, kann auf internationalem Wasser jedes andere Fahrzeug irgendwelcher Nation, das keinen Kriegswimpel führt, Fischkutter oder den größten Passagierdampfer anhalten, der Kommandant oder sein Stellvertreter kann sich an Bord begeben, sich die Schiffspapiere vorlegen lassen, er kann das ganze Schriff visitieren, kann es in den nächsten Hafen schleppen, über dem seine eigene Flagge weht — unter Umständen ist aber auch das nicht nötig — kann das Schiff unter militärischer Bewachung hier festhalten.

Gehorcht der Kauffahrer der Aufforderung nicht, die Segel zu streichen, widersetzt er sich der Visitation, so wird Gewalt angewendet, er kann sofort in den Grund geschossen werden.

Nach dem Warum hat nur die Regierung des Handelsschiffes zu fragen. Der Kommandant des Kriegsschiffes gibt die Erklärung des Warums seiner Regierung ab, die antwortet der anderen.

Das machen die beiden Regierungen ganz unter sich ab!

Das ist von Bedeutung!

Nämlich daß die Öffentlichkeit, das große Publikum da gar nichts zu erfahren braucht!

Da hat keine Zeitung und niemand seine Nase dazwischen zu stecken!

Das Kriegsschiff hat sich im effektiven Kriegszustande befunden, das ist die Sache!

Auf freiem Meere herrscht immer Krieg, auch wenn er nicht zum Ausbruche kommt!

Das Kriegsschiff rechtfertigt sein Vorgehen, die Regierung entschuldigt sich oder erklärt sich der anderen Regierung, diese nimmt die Entschuldigung oder die Erklärung als gerechtfertigt an, und die Sache ist erledigt!

Also kann auch jedes chinesische oder türkische Kriegsschiff, das kleinste Kanonenboot, den größten englischen Handels- oder Salonluxusdampfer anhalten, kann ihn visitieren, kann ihn nach einem Hafen schleppen die Regierungen machen das Warum unter sich ab, den Grund braucht sonst niemand zu erfahren.

So lauten die internationalen Bestimmungen.

In Wirklichkeit sieht es nun freilich etwas anders aus. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Gewiß, es kann vorkommen, daß auch das armseligste türkische Kanonenboot den größten englischen Dampfer anhält, ihn festnimmt, und die englische Regierung muß später dieses Vorgehen billigen. Und dabei braucht man gar nicht an großartigen Waffen— und sonstigen Schmuggel zu denken.

Der englische Dampfer ist etwa in Konstantinopel gewesen, verläßt den Hafen wieder — da erfährt die türkische Behörde, daß dort an Bord ein Pestfall vorgekommen ist, die Engländer haben ihn verschwiegen, um nicht unter Quarantäne zu kommen — oder ein Pestverdächtiger hat sich an Bord begeben . . . da jagt eben ein türkisches Kriegsschiff nach und nimmt den englischen Dampfer fest.

Ist das nicht sogar höchst ehrenwert? Das geschieht doch zum Wohle der ganzen Menschheit.

Ja, solche Fälle können vorkommen und kommen auch tatsächlich oft genug vor.

Sonst freilich . . . so ein dreckiger Kümmeltürke wird sich doch schwer hüten, der englischen Handelsflagge nahe zu treten!

Wenn da nicht ein absolut genügender Grund vorliegt, einen englischen Dampfer anzuhalten . . . na‚ England wüßte sich doch zu revanchieren! Das kann doch die arme Türkei kujonieren, daß sie Blut schwitzt!

Anderseits freilich wird auch der Kommandant des größten englischen Panzers es sich erst sehr reiflich überlegen, ehe er auch den kleinsten türkischen Küstendampfer oder Segler anhält. Er muß einen durchaus triftigen Grund haben, ehe er es tut, es riskiert.

Denn auch seine vorgesetzte militärische Behörde könnte ihm sein rigoroses Vorgehen höchst, höchst verdenken. Denn auch die Türkei kann sich gegen England revanchieren. Durch Warenboykott und dergleichen

Kurz und gut, die internationale Höflichkeit wird auch auf dem Meere wegen der guten Handelsbeziehungen aufs strengste gewahrt! Es muß ein ganz, ganz triftiger Grund vorliegen, wenn ein Kriegsschiff ein anderes Fahrzeug unter fremder Handelsflagge anhält und es gar untersucht. —

»Streicht die Segel!«

Hier an uns war von einem englischen Kriegsschiffe dieser Befehl einmal ergangen. Und wir hatten einfach zu gehorchen und uns alles gefallen zu lassen, was diese Engländer mit uns vornahmen.

Hatten den Teufel danach zu fragen, weshalb sie es taten.

Ja, fragen konnten wir wohl, aber zu antworten brauchten sie nicht.

Die Erklärung erhielten wir später von der deutschen Regierung durch das Seemannsamt — oder vielleicht nicht einmal das.

Gehorchten wir nicht, so wendete das Kriegsschiff zur Erreichung seines Zieles Gewalt an, als letztes Mittel, wenn wir flohen, wurden wir manövrierunfähig gerammt oder geschossen, eventuell bis auf den Grund.

Und wenn uns eine Flucht gelang?

Dann wurden wir durch internationale Verfügung, auf schnellstem Wege sämtlichen Häfen der Erde mitgeteilt, unter den Bann der Piraterie oder doch der »Half-Piratery« gestellt.

Worüber ich später noch sprechen werde.

Jedenfalls hatte dann jedes Kriegsschiff der Welt die Pflicht, mit Hintenansetzung seiner heimatlichen Order die »Argos«, sobald sie irgendwo erblickt wurde, zu verfolgen, sie festzunehmen oder eventuell zu vernichten.

Obgleich wir deshalb noch keine Piraten, keine Seeräuber zu sein brauchten. Das englische »Piratery« hat international noch eine andere Bedeutung bekommen. Davon also später mehr. Oder schon hier eine ganz einfache Erklärung: der Pirat ist nicht nur ein Freibeuter, sondern er selbst ist »freie Beute« — indem er sich außerhalb der Gesetze stellt.

»Streicht die Segel!«

Die Verwünschungen unserer Leute gegen die Engländer waren erklungen.

Und da sah ich, wie Helene bis in die Lippen erblaßte.

»Die — Frei — Frau — von — der — See!« flüsterten diese todesblassen Lippen, und tief sank ihr Kopf auf die Brust herab.

Der Leser weiß sofort, was sie mit diesen Worten meinte, so wie ich es sofort verstand, ihre ganze Gemütsverfassung, woran sie jetzt dachte, was sie zu furchtbar niederschmetterte.

Nichts war es mit ihrem erträumten Ideal!

Nichts ist es mit der freien Selbstherrlichkeit zur See!

Und wenn ich mein eigenes Schiff habe — und ich weiß mitten im Meere, was es nämlich auch wirklich gibt, eine Süßwasserquelle — und ich weiß ein unerschöpfliches Lager von Kohlen und Proviant oder ich bin überhaupt von Kohlen unabhängig und kann mir die Nährmittel auf chemischem Wege aus der Atmosphäre ziehen, so daß ich niemals einen Hafen anzulaufen brauche — frei bin ich deshalb noch lange nicht, gerade nicht auf dem internationalen Meere!

Da kommt ein Kriegsschiff, es kann eine chinesische Dschonke mit der Kriesgsflagge sein — »streich die Segell« — ich muß gehorchen, ich muß mich eventuell bis aufs Hemd visitieren lassen . . .

Na‚ ist das etwa eine selbstherrliche Freiheit?

Nichts ist es damit!

Und das meinte unsere Patronin, als sie erbleichend jene Worte flüsterte, jenen Titel, mit dem sie manchmal verspottet wurde und den sie sich in ihren Träumen doch selbst so gern gab!

»Stopp!«

Der Signalapparat hatte geklingelt, die Schraube stoppte.

Kapitän Martin natürlich fluchte nicht, kam nicht aus der Fassung, hatte nicht einmal einen verwunderten Blick nach dem englischen Panzer.

Der handelte einfach wie er als Kapitän handeln mußte, und dafür bekam er monatlich 25 Pfund Sterling. Oder jetzt vielmehr 500 Mark. Nein, 510 Mark. Denn daß der Schilling eine Mark 2 Pfennige hat, das hatte der doch nicht etwa vergessen!

Das Kriegsschiff setzte ein Boot aus. Die See war doch etwas zu sehr bewegt, als daß sich zwei große Schiffe ohne jede Gefahr des Rammens Bord an Bord hätten legen können — im Kriegsfalle freilich wäre es im Gegenteil eine Spielerei gewesen — es wird bei dieser Gelegenheit überhaupt durchaus vermieden.

Das Boot tanzte schneidig aus uns zu.

»Die Offiziere haben doch große Paradeuniform an?!« erklang es.

»Und die Matrosen sind auch in Parade!«

»Ja, was wollen die Lumpenkerls eigentlich von uns?!« ertönte es dann allgemein.

»Haltet's Maul!« kommandierte ich. »Oder habt dann auch den Mut‚ solche Schimpfworte diesen englischen Manofwars ins Gesicht zu sagen! Wir werden schon sehen, was sie von uns wollen. Ausgefressen haben wir doch nichts. Oder Sie vielleicht, Frau Patronin?«

Die starrte jetzt mit noch immer blassem Gesicht dem Boote entgegen, hatte nicht meinen Humor herausgehört.

»Die — Frei — Frau — von — der — See!« flüsterte sie nochmals.

Die Falltreppe war herabgelassen worden, das Boot legte schneidig bei, als erster stieg ein Kapitän zur See, in der Armee einem Oberst entsprechend, herauf, ihm nach folgten zwei andere Offiziere, alle in Paradeuniform.

Kaum hatte der Kapitän, sicher der Kommandant des Panzers, den Fuß an unser Deck gesetzt, so richtete er sich straff empor, legte die Hand an den Dreimaster, und laut und klar ertönte es:

»Im Dienste Seiner Majestät des Königs von Großritannien und Irland, Kaisers von Indien!«

Hallo!

Was hatte dieser englische Offizier hier zu sagen, daß sein Kriegsherr auch Kaiser von Indien war?

Das war uns verflucht schnuppe!

Und das war auch ganz außer der Form!

Ich kannte doch die Formalitäten in solch einem Falle.

Und was salutierte denn der dabei?!

»Missis Helene Neubert, Patronin dieses Schiffes?« wandte sich der Kapitän dann an diese, noch immer die Hand an dem Dreimaster.

»Ja!« flüsterte die, noch immer blässer werdend.

»Im Dienste Seiner Majestät des Königs von Großbritannien und Irland, Kaisers von Indien!« erklang es noch einmal, dabei aber zog er jetzt schnell unter dem Waffenrock etwas Weißes hervor, ein großes Kuvert, mit vielen Siegeln bedeckt, überreichte es der Patronin.

Mit zitternden Händen nahm die es. Ich blickte ihr über die Schulter.

Oben auf dem großen Kuvert stand gedruckt, was der Kommandant schon zweimal gesagt hatte, natürlich sich der englischen Sprache bedienend, und hier war es etwas anders geschrieben, als es englische Schulbücher lehren, nämlich alle Hauptwörter mit großen Anfangsbuchstaben:

»In Service of His Majesty the King of Great—Britain and Ireland, Emperor of India.«

Und darunter war schwungvoll eine Adresse geschrieben, halb englisch, halb lateinisch:

To
The Freelady of the Sea
Helene Neubert,
capitanea et valvasora,
Honorable.

Die Patronin starrte und starrte.

»Na‚ da machen Sie doch auf!« ermunterte ich, schon im ganzen Gesicht lachend.

Denn ich wußte ja alles.

Das war ja alles erst von mir arrangiert worden!

Sie erbrach die Siegel.

Es war der Dank des Herzogs von Westmoreland für seine Rettung und für die von 200 anderen Menschen.

Der englische König erhob die Mistreß Helene Neubert, erhob unsere Patronin, die Schutzherrin der Argonauten, als Freelady of the Sea, als Freifrau von der See in den Adelsstand!


Dieser Titel »Freifrau von der See«, den es in England wirklich gibt, bedarf einer Erklärung.

Es gibt in England den Adelstitel Lord, es gibt auch Freelord. Den letzteren Titel aber hat man seit dem 16. Jahrhundert aussterben lassen.

Weshalb? Ich weiß es nicht.

Wir haben ja ganz genau dasselbe bei uns. Es gibt noch den Titel »Edler«. Zum Beispiel Edler von der Planitz. Früher in Österreich besonders aber auch in Bayern sehr häufig. Aber verliehen wird dieser Adel jetzt nicht mehr.

Der Adel »Freelord«, dessen Gattin eine Freelady ist, kann in England noch verliehen werden, aber es geschieht nicht mehr. Stattdessen ist der Baronet geschaffen worden.

Wer nun die englischen Adelsverhältnisse nur einigermaßen kennt, nicht genau, der glaubt gewöhnlich, daß der Freelord mehr sei als der Lord.

Aber das ist falsch. Gerade das Gegenteil ist der Fall.

Ebenso, wie man gar manchmal die Meinung hört, daß ein außerordentlicher Professor mehr sei als ein ordentlichen. Das ist natürlich nicht so. Der erstere ist eben »außer der Ordnung«, ist den ordentlichen Professoren noch nicht eingereiht. So ein Irrtum kann aber leicht entstehen.

Das »Free« vor dem Lord ist nichts weiter als eine zarte Beschränkung, aber doch eine Beschränkung.

Den Adelstitel Freelord führten zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert in England die Hauptleute der königlichen Leibgarde.

Ihr militärischer Titel war: capitaneus et valvasorus« Also lateinisch. Kapitän — Hauptmann und Vasall.

Ein heutiger Lateiner mag darüber lächeln.

Aber man wird doch schon von dem sogenannten Küchenlatein gehört haben, auch Mönchlatein genannt, weil es in Klöstern gesprochen wurde. Ein ganz schauderhaftes, korrumpiertes Lateinisch, dadurch entstanden, weil damals Latein fast zur Umgangssprache geworden war, nicht nur unter Gelehrten, auch am Hofe wurde es gesprochen, sogar in der Küche, und da machte man immer mehr sein eigenes Lateinisch So, wie es heute gelehrt wird, so ist es erst wieder im 19. Jahrhundert gereinigt worden. Übrigens heißen noch heute in Italien die kleinen Lehensadligen »valvassori«.

Diese Hauptleute der königlichen Leibgarde, die auch in der Schlacht des Königs persönlichen Schutz bildeten, waren natürlich gewaltige Haudegen. Bei deren Ernennung, wenn es um die persönliche Sicherheit ging, wurde einmal nicht auf angeborenen Adel und sonstigen Stammbaum gesehen. Da wurde der gewöhnlichste Soldat zum Hauptmann gemacht, wenn er nur furchtlos und treu war und seine Plembe zu schwingen verstand!

Alser solch ein Mann, dem sich der König ganz und gar anvertraute, mußte doch besonders geehrt, auch er mußte in den Adelsstand erhoben werden.

Nun aber sind alle Adlige hoffähig, zu gewissen Festlichkeiten müssen sie unbedingt bei Hofe erscheinen.

Und was sollte denn nun solch ein alter, verwetterter Haudegen, ursprünglich ein gewöhnlicher Soldat, bei Hofe machen! Der aß womöglich mit den Fingern und beim Tanzen trat er die Kavaliere und Hofdämchen doch nur egal auf die Hühneraugen.

Da erfand man für diese Hauptleute der Leibgarde den Adelstitel »Freelord«.

So frei sollte dieser Lord sein, daß er nicht einmal bei Hofe zu erscheinen, daß er sich den Teufel um die ganze Zeremonie zu kümmern brauchte!

Das ist die Sache!

Und in gleichem Sinne hat es in England auch immer einen »Freelord of the Sea« gegeben, aber immer nur einen einzigen.

Diesen Titel führte der Kapitän des Schiffes, welches der König benutzte, wenn er einmal eine Seereise zu machen hatte. Das heißt, es konnte ja immer ein anderes Schiff sein — aber dann wurde dieser »Freelord of the Sea« stets zu seiner Führung kommandiert. Natürlich hatte man sich da ebenfalls den tüchtigsten Seemann ausgesucht, und wunderbar ist es da nicht, daß das kein geborener Adliger mit uraltem Stammbaum, sondern ursprünglich ein gewöhnlicher Matrose gewesen war.

Dieser »Freelord of the Sea« hat sich sogar noch viel länger erhalten als der Freelord an Land, bis ins 18. Jahrhundert hinein, man weiß sogar noch die genaue Jahreszahl, da dieser Titel aus dem Adelsregister gestrichen wurde: im Jahre 1741, als der damalige Leibkapitän von König Georg II., John Vernun, ebenfalls ein von der Pike auf gedienter Seebär, der in seinen früheren Jahren sogar nur auf Schmugglerschiffen gefahren war, zum Großadmiral der britischen Flotte ernannt wurde. Als solcher konnte er das Schiff des Königs doch nicht mehr ständig führen, da ist dieser Titel »Freelord of the Sea« für immer eingezogen worden. Obgleich er noch immer verliehen werden könnte.


Ich hatte dies alles schon immer gewußt.

»Kann ich für Sie — für die Patronin — für die Mannschaft dieses Schiffes etwas tun?«

So hatte mich damals auf der Reede von Frisko der jugendlich aussehende Herr mit dem weißen Kopfe gefragt, als er noch einmal unter vier Augen von mir Abschied nehmen wollte.

»Wer sind Sie?«

»Der intimste Freund des mächtigsten Herrschers auf dieser Erde — ich bin Earl und Peer von England — ich bin der Herzog von Westmoreland.«

Da war mir sofort der Gedanke durch den Kopf geschossen — da hatte ich schnell die Mütze abgenommen und mir noch ein Stück Tabak abgebissen.

Ja, wenn dieses Männchen solch einen Rang einnahm, da hatte ich allerdings einen Wunsch vorzutragen, und ich tat es.

»Ist das möglich?«

»O ja, das ist schon möglich,« hatte der Herzog gelächelt, »dieser Titel ist ja nicht eigentlich gestrichen worden, er liegt nur in der Rumpelkammer, könnte wieder hervorgeholt werden. Und weshalb sollte ihn nicht auch eine Dame bekommen können? Aber auch von der Flagge, die früher dazu gehört hat, sprachen Sie?«

»Gewiß, gewiß, das ist doch die Hauptsache dabei, sonst hat es ja gar keinen Zweck!« rief ich eifrig.

»Ich will sehen, ob es sich machen läßt. O ja, ich kann es Ihnen schon jetzt zusichern, daß es geschehen wird. Natürlich bedarf es einiger Zeit.«

Und wir hatten weiter darüber gesprochen, wie wir uns verständigen wollten, und der Herzog hatte auf ein schon mit mehreren Siegeln versehenes Formular einige Zeilen geschrieben, hatte seinen Namen und sein eigenes Siegel daruntergesetzt, noch dazu einige merkwürdige Stichworte, und kraft dieses Dokumentes konnte ich überall auf der Erde, wo sich eine Telegraphenstation befand, ohne Gebühr direkt mit dem englischen Kriegsministerium hin und her depeschieren. Dort würde er alles niederlegen, wenn er nicht selbst antworten konnte. Vor einem Vierteljahre würde eine Anfrage freilich wenig Zweck haben, zumal der König von England sich gerade auf einer Reise befand.

In Menado hatte ich nach dem Kriegsministerium telegraphiert.

Ja, es war alles in Ordnung, lag alles fix und fertig da.

»Kommen Sie nach London?«

»Wie Sie bestimmen.«

»Es ist nicht unbedingt nötig.«

»Wie sonst?«

»Wohin gehen Sie jetzt?«

»Nach Para.«

»Übermorgen geht H. M. S. »Prince of York« nach Lissabon. Soll Kommandant Diplom und Flagge mitnehmen, unserer Gesandtschaft in Lissabon übergeben?«

»Wie Sie bestimmen.«

»Bestimmte Antwort Ihrerseits.«

»Ja.«

»In 14 Tagen bei englischer Gesandtschaft in Lissabon abzuholen. Schluß.«

So hatten wir nach Passieren der Straße von Gibraltar den Abstecher nach Lissabon gemacht. Weil dort die Kohlen am billigsten sind. Kapitän Martin war der einzige, den ich eingeweiht hatte.

Der hatte einmal, o Wunder, ohne ganz dringenden Grund die Hand aus der Hosentasiche gezogen und sich auf den Schenkel geklatscht, daß es wie eine Fuhrmannspeitsche geknallt hatte.

»Donnerschlag ja — dann darf sich unsere Patronin wirklich eine Freifrau von der See nennen — eine Frau, deren Freiheit zur See gänzlich unbegrenzt ist — und diese absolute Freiheit fällt auf das ganze Schiff zurück!«

Der »Prince of York« mußte schon seit einer Woche in Lissabon sein, das heißt das Bewußte schon vor einer Woche bei der englischen Gesandtschaft abgegeben haben.

Da tauchte am frühen Morgen der große Panzer mit englischer Kriegsflagge auf.

»Streicht die Segel1«

Ich konnte nicht wissen, daß dieses Panzerschiff der »Prince of York« war, ich kannte es nicht, konnte den Namen nicht lesen, aber als dieser Befehl zum Stoppen kam, da wußte ich es sofort. Und richtig, es war der »Prince of York«, dessen Kommandant alles bei sich hatte, um es bei der Gesandtschaft zu hinterlegen. Es war etwas dazwischengekommen, er erreichte Lissabon eine Woche später.

Als ich nun die Offiziere in großer Parade sah, da bestand vollends gar kein Zweifel mehr.

So kam alles noch weit, weit besser, als ich im schönsten Traume geträumt hatte. Auf der englischen Gesandtschaft wäre bei Überraschung der betreffenden Sachen gar keine Zeremonie gemacht worden. Freelord, Freelady — auch frei von jeder traditionellen Zeremonie! Das ist ja eben das Schönste dabei, was unser zeremonielles Zeitalter aber eben nicht mehr dulden will.

Hier war es schon etwas anderes, der Kommandant und seine Offiziere und die rudernden Matrosen hatten doch wenigstens ihre besten Anzüge anlegen müssen Paradeuniform — und dann überhaupt die Bordroutine! Hier wurde doch schon eine kleine Zeremonie daraus.

Die Patronin starrte auf das geöffnete Schriftstück, wie sie vorhin auf das Kuvert gestarrt hatte.

»Die — Frei — Frau — von — der — See!« flüsterte sie nochmals, wie sie schon vorhin zweimal geflüstert hatte, jetzt aber wohl in einer ganz anderen Gemütsverfassung. Und plötzlich färbte sich ihr bisher so blasses Gesicht dunkelrot.

Ich ließ sie rot werden, ich war den beiden anderen Offizieren behülflich.

Diese hatten über die Bordwand hinuntergelangt, die Matrosen hatten ihnen ein ziemlich umfangreiches und gewichtiges Paket, in Seide gehüllt, heraufgelangt, sie hatten es in Händen, wußten nicht gleich, was sie damit anfangen sollten — ich nahm es ihnen einfach ab.

Das dünne Seidenzeug enthielt eine große Flagge aus schwerster Seide. Es war die englische Kriegsflagge, aber das große Mittelkreuz im weißen Felde, sonst rot, hier von blauer Farbe.

Es war die englische Halbkriegsflagge Sie wird von einem Nichtkriegsschiffe geführt, also von einem Passagier- oder sonstigem Schiffe der Kauffahrteiflotte oder auch nur vom kleinsten Segler, auf dem sich ein Mitglied des königlichen Hauses oder sonst ein Fürst oder überhaupt eine Person befindet, die in königlichem oder nur amtlichem Auftrage reist, und es ist Grund vorhanden, sie vor jeder Visitation zu schützen. Das muß sich dann aber auch auf das ganze Schiff erstrecken, über dem diese Flagge weht. Kein englisches Kriegsschiff kann solch ein Fahrzeug anhalten. Der Befehl »Streicht die Segel« kann nur irrtümlich ergehen. Es braucht nur diese Halbkriegsflagge gehißt zu werden, das Kriegsschiff bittet um Entschuldigung und zieht wieder ab.

Zwar ist das nur eine interne Angelegenheit Großritanniens. Es besteht keine internationale Abmachung. Ein Kriegsschiff einer anderen Nation könnte solch ein Fahrzeug dennoch anhalten. Aber so etwas ist ganz ausgeschlossen. Das wäre für den englischen Stolz eine tödliche Beleidigung — es ist vollkommen ausgeschlossen.

Diese Halbkriegsflagge hatte stets als Attribut zu dem Titel »Freelord of the Sea« gehört, er hatte sie auch auf seiner Privatjacht oder sonstigem Handelsschiffe geführt, auf dem er sich gerade befand.

Sie hatte auch einer Freelady of the Sea nicht vorenthalten werden können.

Wir waren zum ersten und letzten Male von irgend einem Kriegsschiffe angehalten worden, nie wieder würde es passieren.

Jetzt waren wir wirkliche freie Herren der See!


Die Offiziere waren zurückgerudert, nachdem in der Kajüte etlichen Champagnerflaschen der Hals gebrochen worden war, der Panzer nahm seinen Kurs nach Lissabon wieder auf.

Die Patronin war in alles eingeweiht worden, in alle ihre Rechte; Pflichten hatte sie durch diesen, allerdings nicht erblichen Adelstitel absolut nicht auf sich genommen, und sie war in ihrem Glücke wohl stolzer, als sie sich merken ließ, zu welchem Stolze sie auch wirklich allen Grund gehabt hätte.

»Folgen wir gleich dem Panzer nach Lissabon?« fragte ich.

Mit leuchtenden Augen blickte die Gefragte auf das weite Meer hinaus, gerade nach der anderen Richtung, als wo Lissabon lag.

»Ach, daß wir wegen dieser schwarzen Steine jetzt erst einen Hafen anlaufen müssen —— daß wir nicht gleich in das freie Meer hinaus können!«

»Nun,« meinte Kapitän Martin, »bis Para wird schon langen, wir haben ja Zeit genug, wir segeln, wenn wir irgendwie können — dann nehmen wir die Kohle eben in Para ein — wieviel die dort kosten, das ist uns doch ganz schnuppe.«

Es war die Entscheidung gewesen.


 

 

43. KAPITEL.
HEXENGOLD UND HEXENSCHÜSSE.

Am 14. Juni gingen wir im brasilianischen Urwald neben unserer Sandbank vor Anker.

Neben ihr, nicht auf ihr.

Es war ja ganz hübsch gewesen, wie unser Schiffchen von 5000 Tonnen so direkt auf dem trockenen Sande gelegen hatte, wie ein Ei in weichem Flaum gebettet, wie man gleich so von Bord herabspringen konnte, aber . . . wir wollten unserem Schiffe doch lieber die Bewegungsfreiheit lassen.

So waren wir in der Fahrstraße vor Anker gegangen, die auch bei niedrigstem Wasserstande noch Tiefe genug für das größte, schwerste Kriegsschiff hatte. Die Entfernung konnte später noch mehr verkürzt, es konnte ja dann eine bequeme Brücke nach der Sandbank geschlagen werden.

Vorläufig stand sie noch unter Wasser. Dort sah der Baumstamm heraus, mit unserer Inschrift, wonach wir uns als Herren dieser Brutbank betrachteten — und dort reckten sich nun gar die beiden hohen Masten empor, zwischen denen wir die Springschaukel befestigt gehabt hatten. Denn die hatten wir damals stehen lassen. Weshalb hätten wir die kolossal verankerten Masten erst wieder ausgraben sollen? Reparaturen, neue Befestigungen würden ja freilich vorzunehmen sein.

Vor allen Dingen aber handelte es sich darum, ob auch wirklich wieder in der Nacht vom 15. zum 16. das Wasser abfließen würde, so weit, daß die Sandbank freigelegt wurde. Oder an einem etwas späteren Termine, darauf kam es uns ja gar nicht an.

Ich will nicht schildern, wie die zwei Tage vergingen, was wir während derselben an die Pünktlichkeit der Naturordnung für Anforderungen stellten.

»Wenn übermorgen bei Sonnenaufgang die Sandbank nicht freiliegt, dann trete ich aus der christlichen Kirche aus und werde Mohammedanerin, das bin ich noch nicht gewesen.«

So sprach Klothilde. Mag das genügen.

Aber die Natur sollte uns in dem Vertrauen, das wir auf ihre Zuverlässigkeit setzten, nicht täuschen.

Ja, es ist wirklich wunderbar, wie pünktlich die Naturelemente, Wind und Regen und dergleichen, in jenen Breiten sind!

Eigentlich war sie ja nicht ganz pünktlich. Diesmal fing das Fallen des Wassers schon am Abend an, noch vor Sonnenuntergang.

Na‚ diese kleine Verfrühung wollten wir der Mama Natur verzeihen. Klothilde wollte eine gute Katholikin bleiben. Oder eigentlich gehörte sie jetzt wohl der Sekte der Quäker an. Sie wußte es nicht mehr genau, führte darüber kein Buch. Na‚ darauf kam es ja auch nicht so genau an.

Also diesmal konnten wir das rapide Fallen des Wassers beobachten.

Schon um Mitternacht war es vollkommen beendet, und als die Sonne eines neuen Tages aufging, hatten wir unsere Lage schon verändert, waren der Sandbank bedeutend näher gerückt, waren sogar schon dabei, eine solide Brücke von 25 Meter Länge zu schlagen.

Dann richteten wir uns auf der Sandbank wieder ein, brauchten aber nicht wieder ganz von vorn anzufangen.

Dort stand wohlerhalten noch unser Backofen, Kapitän Martin sollte wieder seinen Riesenpfefferkuchen haben, diesmal natürlich mit einem anderen Zuckergemälde. Der Ofen brauchte nur etwas von eingeschlemmtem Sande gereinigt zu werden, dann war er gleich wieder betriebsfähig.

Auch der Argonautenkanal mit größerem Teich — alles noch vorhanden. Das darüber stehende stille Wasser hatte da doch nicht viel versanden können, auch nicht die ankommende Flut. Das ging hier alles so glatt vor sich.

Etwas ausgebessert und ausgeschippt mußte ja natürlich doch werden. Aber das war jetzt eine Kleinigkeit, in wenigen Stunden war alles schon wieder tadellos. Dann die Masten mit neuen Tauen gespannt, und noch vor dem Mittagsessen schwang schon wieder die Riesenschaukel, meine Jungen gingen mit Kopfstürzen und einfachen und doppelten und dreifachen Saltomortales ab und hauten ins Wasser, daß es eine Pracht war!

Und als am Abend unter Hämmerleins Meisterhänden die Orgel im Urwald erbrauste, da erstrahlte das ganze Schiff schon wieder in voller Illumination, das Licht in diesen Flaschen lieferten wieder phosphoreszierende Pilze.

Ich überspringe die nächsten fünf Wochen.

Ach, es waren wieder fünf köstliche Wochen gewesen!

Eines Nachmittags, nach der Siesta, bin ich unten im Ballastraum und sehe nach den Wassertanks, von denen einer lecken soll.

Mit dem Aufschrauben vergeht einige Zeit. Ich habe oben niemandem gesagt, wohin ich mich begebe.

»Waffenmeister, Waffenmeister!« brüllt da Siddys Stimme.

»Hier! Was gibt es?«

»Sie werden im ganzen Schiffe gesucht!«

»Ist etwas passiert?!«

»Nein, das nicht — aber Besuch haben wir bekommen.«

»Was denn für einen Besuch?«

»Na‚ raten Sie mal.«

Ich muß hierzu bemerken, daß Siddy seine Stellung als Exklusiver zu wahren gewußt hatte. Als gewöhnlicher Steward, als Schiffskellner und Diener, hätte er mir, dem Kargo—Kapitän, doch nicht etwa so kommen dürfen. »Na, raten Sie mal.« Aber dieser indische Gaukler, der er früher gewesen, hatte nur sein Vergnügen daran, mit den Tellern zu jonglieren, die Speisen zu servieren, überhaupt eine dienende Rolle zu spielen. Doch was heißt dienende Rolle? Überhaupt jeder Mensch, der nicht gerade dem lieben Gott den Tag abspielt, nimmt im Leben eine dienende Rolle ein.

Ein einziges Mal, gleich im Anfange, als ich noch gar nicht an Bord gewesen, war etwas vorgekommen, gerade mit dem Kapitän. Kapitän Martin, der das Verhältnis der »Exklikusen« noch nicht richtig gekannt, hatte den indischen Steward achtern aus der Kajüte gerufen, er sollte umgeschüttete Tinte aufwischen. Siddy war nicht gekommen, hatte den Gehorsam verweigert. Eine kleine Auseinandersetzung mit der Schiffspatronin — — die Sache war ein für alle Mal in aller Gemütlichkeit erledigt. Wenn Kapitän Martin fernerhin wünschte — Siddy putzte ihm sofort die Stiefeln. Mir auch. Aber er tat es freiwillig. Da durften wir nicht verlangen, daß er vor uns stramm stand. Wir mußten uns vertrauliche Anreden gefallen lassen. Und wir verstanden unser gegenseitiges Verhältnis ganz genau.

»Na‚ raten Sie mal.«

Ich war mit meiner Arbeit fertig, nahm das Lämpchen und den Schraubenschlüssel und begab mich nach der Luke, durch die Siddy seinen beturbanten Kopf steckte.

»Indianer?«

»Nein. Wenn Sies raten, bekommen Sie meine nächste Monatsheuer — 30 Pfund Sterling.«

Zum ersten Male erfuhr sich durch Zufall — denn nie, nie hatte ich mich um so etwas gekümmert — daß dieser Steward mehr bekam als ich und der Kapitän! Es war eben ein »Exklikuser«, mit zu der Firma Juba Riata, Mister Tabak und Kompanie gehörend, die von der reichen Weltreisenden aus ihren Lebensstellungen gerissen worden waren.

»Ja, mein lieber Siddy, wie soll ich da raten.«

»Sie kennen ihn.«

»Was, ich kenne ihn?!«

»Sehr, sehr gut.«

»Und er besucht uns hier im brasilianischen Urwald?«

»Jawohl. Wissen Sie nun, wers ist?«

Ich kam nicht darauf. Ich konnte mir unmöglich jemanden vorstellen, den ich gut kennen sollte und der uns hier besuchte.

»Na, Waffenmeister, da polstern Sie sich mal hinten Ihre Hosen aus, damit Sie sich nicht weh tun, wenn Sie dann vor Staunen umfallen. Kommen Sie nur, kommen Sie nur, Sie werden wie eine Stecknadel gesucht — der Herr wartet in der Kajüte, alles ist schon beisammen, nur Sie fehlen noch.«

Na‚ da war ich doch wirklich gespannt wie ein Regenschirm, wen ich da in der Kajüte finden würde! Ich trete ein.

Die Patronin ist drin, Kapitän Martin Juba Riata, Doktor Isidor.

Die aber sehe ich gar nicht.

Ich sehe nur die abenteuerliche Gestalt, eingemummt in einen schäbigen Mantel, sehe die Krallenfinger, die ein Zigarettchen unter die schiefe Nase führen . . .

Heiliger Klabautermann!

Unser Prospektador!

Der Sennor Montezuma della Estrada!

Ja, mein lieber Siddy, Du hättest ruhig Deinen Kopf verwetten können — ich würde ihn Dir nicht abgenommen haben. Diesen alten Freund hier wiederzusehen, das hätte ich mir allerdings nie träumen lassen!

Die Unterhaltung war schon im besten Gange.

Natürlich drehte sie sich um den Riesendiamanten, der als corpus delicti auf dem Tische lag, auch eine Schüssel mit Wasser war bereits vorhanden.

Sennor Estrada hatte sich auch schon überzeugen lassen, daß es kein echter Diamant war. Er schien selbst nicht viel von Diamanten zu verstehen. Wenigstens kannte er nicht diese Wasserprobe. Es ist auch wirklich ganz merkwürdig. Diese Wasserprobe ist doch so überaus einfach, und sie ist doch so wenig bekannt.

Gerade, wie ich eintrat, richtete sich die spanische Mumie mit unnachahmlichem Stolze empor, richtete seine schiefe Nase von einem zum anderen.

»Sennor Capitano — Sennora Patrona . . . halten Sie mich für fähig, daß ich Sie habe betrügen wollen?«

Nein, davon konnte keine Rede sein. Sonst hätte der sich doch nicht wieder vor uns blicken lassen.

Das war so logisch, daß darüber gar nicht weiter gesprochen zu werden brauchte.

»Well,« nahm Kapitän Martin das Wort, »davon kann keine Rede sein. Sie sind eben selbst das Opfer einer Täuschung, wahrscheinlich eines Betrags geworden. Wo haben Sie den Diamanten eigentlich her?«

»Mi sabe!« konnten wir wieder einmal hören.

»Hören Sie mal, mein lieber Freund, mit Ihrem mi sabe kommen Sie diesmal nicht weit!« fuhr Kapitän Martin fort. »Sie haben garantiert, daß Sie uns für vier Millionen Dollars Chinarinde liefern wollten, Sie haben auch eine Bürgschaft geleistet, wir nahmen sie auch an, aber diese Bürgschaft hat sich als wertlos erwiesen . . . «

»Verzeihung, Sennor Capitano, wenn ich unterbreche. Vier Millionen Dollars hatte ich gesagt?«

»Vier Millionen Dollars.«

»So biete ich Ihnen als Ersatz vier Milliarden Dollars an.«

Der Kerl hatte es gesagt, wie so etwas mit solcher Grandezza nur so ein verlumpter spanischer Hidalgo sagen kann.

Am schnellsten hatte das Gesagte unser Doktor Isidor begriffen, der hielt gleich die offene Hand hin.

»Vier Milliarden Dollars? Her damit. Womöglich in Gold.«

»Si si, Sennores — in Gold!« erklang es zurück.

Die kleine Pause war begreiflich.

»Well,« nahm dann wieder Kapitän Martin das Wort, was ich aber wohl nicht immer zu sagen brauchte, wenn ein »well« erklingt, »wir nehmen als Entschädigung gern vier Millionen Dollars in Gold an.«

»Ich schätze es mindestens auf vier Milliarden Dollars.«

»Well, wir begnügen uns schon mit dem tausendsten Teil, nur mit vier Millionen.«

»Ich biete Ihnen aber den ganzen Goldschatz an, stelle ihn Ihnen zur freien Verfügung.«

»Well, wir danken. Das heißt nämlich: wir nehmen ihn dankbar an. Wo befindet sich denn dieser Goldschatz?«

»Gar nicht weit von hier.«

»Well, wenn man mit Monddistancen rechnet, so ist es von hier bis nach Honolulu auf der anderen Seite der Erdkugel gar nicht sehr weit.«

»Wenn Ihr Schiff mit halber Kraft dampft, sechs Seemeilen in der Stunde, so können wir das Ziel in einem Tage erreichen. Oder in sechzehn Stunden, will ich sagen.«

»So. Hm. Wollen Sie uns nicht etwas nähere Auskunft geben, ehe wir hier die Anker lichten, die schöne Brücke abbrechen müssen?«

»Ich habe das Eldorado gefunden.«

»Ach herrjeeehses, ach herrjeeehses!« ließ sich in diesem Augenblick Huckebein unser Rabe mit schinarrender Stimme vernehmen.

Jawohl, mein Huckebeim Du hattest ganz recht.

Das Eldorado . . . ach herrjeeehses

Ich habe über dieses Goldland ja schon früher erzählt, brauche es nicht zu wiederholen.

»So, Sie haben Eldorado gefunden.«

»Si si, Sennor.«

»Das goldene Land.«

»Si si, Sennor.«

»Sind selbst dort gewesen?«

»Si si, Sennor.«

»Wann?«

»Komme soeben von dort.«

»Und dort ist wirklich Gold?«

»Si si, Sennor.«

»Haben natürlich gleich welches eingesackt.«

»No, Sennor.«

»Weshalb denn nicht?«

»Mi sabe.«

»Hören Sie, mein lieber Freund, ich wiederhole, daß Sie diesmal mit Ihrem mi sabe . . .«

»Weil ich bei der heiligen Veronika von Camonna, die meine Schutzpatronin ist, geschworen habe, niemals wieder Gold zu berühren.«

»So, hm!« brummte Kapitän Martin, und auch wir anderen mußten uns bei dieser Erklärung beruhigen, gegen solch ein Gelübde ist eben nichts zu machen.

»Wie ist das Gold dort beschaffen? Wie wird es gefunden?«

»Es ist eine Bonanza.«

»Bonanza? Was ist denn das?«

»Eine Bodenvertiefung, in welcher das Gold frei zu Tage liegt, indem jedenfalls Wasser alles Erdreich wegspülte, nur die schweren Goldblöcke liegen gelassen hat. Das nennen wir eine Bonanza.«

Hallo!

»Es liegt in ganzen Blöcken da?«

»In mächtigen Blöcken, so groß wie hier diese Kajüte, wie dieses ganze Schiff.«

Richtig gehört hatten wir, da gab es ja nun nichts.

»So — groß — wie — die — ses — gan — ze Schiff?« wiederholte Kapitän Martin in rhythmischem Takt.

»Si si, Sennor!« erklang es gleichmütig wie immer zurück.

»Doch nicht etwa reines Gold?«

»Si si, Sennor.«

»Nicht nur Erzblöcke, die einiges Gold enthalten?«

»Gediegenes Gold.«

»Gediegenes Gold in Blöcken so groß wie dieses ganze Schiff?«

»Si si, Sennor. Freilich auch kleinere Klumpen. Dann aber auch wieder ganze Berge von Gold, größer als dieses Schiff.«

»Das haben Sie selbst gesehen?!«

»Si si, Sennor.«

»Wann denn?«

»Vor drei Tagen, als ich dort war.«

Der Prospektador war, bemerkte ich jetzt, in einem kleinen, primitiven Boote angerudert gekommen.

Ja, warum denn nicht? Weshalb soll man denn so ganz und gar für ausgeschlossen halten, daß es solche riesige Goldklumpen gibt?

Die ersten Goldfunde in historischer Zeit, die man so richtig kontrollieren konnte, waren die in Kalifornien. Dort hat man gediegene Goldklumpen frei und glänzend auf dem Boden liegend gefunden. Was man früher auch schon bezweifelt hatte, dieses freie Vorkommen von gediegenem Golde auf dem Erdboden. Nicht denkend, was da für Wasserkräfte im Spiele gewesen sein können.

Es waren aber höchstens hühnereigroße Stücke. Und da kam der Mensch mit seinem wunderbaren Scharfsinn sofort wieder zu der Erkenntnis, daß größere Goldklumpen überhaupt gar nicht vorkommen können.

Habe acht, o Natur, die Grenzen sind Tür gezogen: bis zur Hühnereigröße basta!

Bis in den fünfziger Jahren in Australien ausgerechnet ein Schäfer dieses »Naturgesetz« über den Haufen wirst, ganz wörtlich über den Haufen wirft.

Ein alter Schäfer sitzt jahraus jahrein unter einem Baum auf einem Steine. Es ist sein Lieblingsplätzchen, von wo er seine Schafe beobachtet. Eines Tages sieht er, wie unter diesen Stein eine kleine Schlange schlüpft. Zum ersten Male legt er Hand an den Stein, um ihn umzukippen, er wundert sich über die ungemeine Schwere, endlich gelingt es ihm — da gleißt es ihm golden entgegen!

Es ist ein gediegener Goldklumpen von 87 Kilogramm Schwere, nur außen etwas mit Lehm beschmiert, dessen Gewicht hierbei aber schon abgerechnet ist.

Dieser Nugget, nach seiner ersten Besitzerin »Sarah Sand« benannt, wurde vom Britischen Museum in London erworben, dort ist er heute noch in der geologischen Abteilung zu sehen.

Aber hiermit nicht genug — dort in derselben Gegend wurden noch drei andere Goldklumpen gefunden, einer von 74, der zweite von 68, der dritte von 51 Kilogramm Gewicht.

Dann aber hörte es auf. Nicht ein Körnchen wurde mehr gefunden. Der Boden enthält dort keine Spur von Gold.

Wie kommen nun gerade diese vier großen Goldklumpen dorthin?

Frage die vergangenen Jahrtausende!

Nach alledem ist es also recht wohl möglich, daß man einmal einen ganzen Goldberg findet, einen Klumpen so groß wie ein ganzes Haus.

»Mir hat einmal so ein alter Distelbruder gesagt, als wir über das Vorkommen von Gold sprachen, daß es das noch gänzlich unbekannte Patagonien und noch mehr das trostlose Feuerland sein dürfte, welches uns in Sachen des Goldes noch die größten Überraschungen bereiten würde.

Ja . . . ich weiß nicht . . . auch ich habe so eine Ahnung!

Wer hat im Jahre 1895 gewußt, daß im nächsten Jahre in Alaska, in dieser Eiswüste, Gold gefunden würde, allein im Jahre 1906 für 100 Millionen Mark!

»Wie haben Sie dieses Goldlager entdeckt?« setzte Kapitän Martin das Examen fort. »Aber bitte — kein mi sabe.«

»Ich war von der wirklicher Existenz eines Eldorado immer überzeugt, habe so lange geforscht, bin so lange im Urwalde herumgekrochen, bis ich es gefunden habe. Allerdings besaß ich schon immer eine uralte Überlieferung. Schon früher ist einmal ein Spanier, ein Ahne von mir, dort gewesen. Er hatte den Weg aufgezeichnet. Nach jahrelangem Bemühen habe ich ihn endlich gefunden.«

»Außer Ihnen weiß niemand davon?«

»No, Sennor.«

»Eine Bodensenkung, sagten Sie?«

»Si si, Sennor. »Das heißt, es ist ein ganzes Tal, angefüllt mit riesigen Goldblöcken.«

»Ein ganzes Tal?« wiederholte der Kapitän, und ich hätte es auch getan.

»Si si, Sennor.«

»Dann müßte doch ein Gebirge in Betracht kommen.«

»Si si, Sennor.«

»Das Grenzgebirge nach Guayana hin?«

»Si si, Sennor.«

Das stimmte, das mußten wir so ungefähr in 16 Stunden erreichen können, bei halber Fahrt.

»Englisch Guayana? Niederländisch Guayana? Französisch Guayana?«

»Mi sabe.«

Diesmal mußten wir diese ausweichende Redensart gelten lassen.

Eigentlich war uns dieser Mann ja gar keine nähere Erklärung schuldig. Wir mußten uns einfach seiner Führung anvertrauen — oder ließen es eben bleiben.

»Wie weit können wir mit unserem Schiffe heranfahren?«

»Direkt bis zum Aufstieg.«

»Wie hoch ist dieser Aufstieg?«

»Er erfordert eine halbe Stunde.«

»Schwierig?«

»Ganz und gar nicht.«

»Ist es denn nicht möglich, daß ein anderer Mensch dieses Goldtal findet?«

»Es wäre ein sehr, sehr großer Zufall.«

»Weshalb?«

»Es ist ein hohes Plateau, überall von senkrechten, ganz glatten Felswänden begrenzt, und es gibt nur diesen einzigen Aufstieg.«

»Ist denn dieser so schwer zu finden, zu sehen?«

»Zu sehen ist er überhaupt nicht.«

»Überhaupt nicht zu sehen? Das begreife ich nicht.«

»Sie werden es begreifen, sobald ich Sie hingeführt habe.«

Der Kapitän schien nichts mehr zu fragen zu haben. Ob wir jetzt hinführen oder nicht, das blieb der Patronin oder einer Beratung überlassen.

»Sie sagten doch,« nahm da Doktor Isidor das Wort, »es handele sich um das sagenhafte Eldorado.«

»Si si, Sennor Dottore.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil in dem Tale eine große Stadt liegt, auf welche ganz die Beschreibung paßt, welche alle geben, die in Eldorado gewesen sein wollen und jedenfalls auch wirklich gewesen sind.«

»Aah, eine große Stadt liegt in diesem Tale?« erklang es mit größter Überraschung, nicht nur aus dem Munde des Doktors.

»Si si, Sennores e Sennora.«

»Aber unbewohnt!«

»Si si, Sennor. Eine Ruinenstadt, wenn auch nicht gerade ganz in Trümmern liegend. Die goldenen Dächer sind noch wohl erhalten.«

»Was, goldene Dächer?!«

»Si si, Sennores. Wie alle die Beschreibungen lauten.«

Ich muß hierzu bemerken, daß die spanische Literatur über dieses sagenhafte Eldorado eine eigene Spezialität hat, schon zu einer ganzen Bibliothek angewachsen.

Freilich — so mußten doch auch wir annehmen — nur der Phantasie entsprungen. Wenn die Beschreibungen dieser Goldstadt so übereinstimmend sind, so kommt das einfach daher, weil einer vom anderen abgeschrieben hat.

»Sie waren in dieser Ruinenstadt?«

»No, Sennor.«

»Nein?!«

»Ich konnte nicht hinab.«

»Ja, weshalb denn nicht?«

»Diese Stadt liegt in dem Goldtale.«

»Ja, wir denken, Sie waren in dem Tale!«

»Nein. Ich habe nur von oben hinabblicken können. Kennen die Sennores nicht die Beschreibung des Baptiste Salvatore, welche die genaueste und sachlichste über Eldorado ist?«

Nein, die kannte niemand von uns.

»Es ist ein Tal von anderthalb Kilometer Breite und vier Kilometer Länge, in welchem die Doristis, wie Salvatore die ausgestorbenen Einwohner getauft hat, hausten, in der sie ihre Stadt hatten. Oben auf dem Plateau trieben sie nur Ackerbau und Viehzucht. Das Tal ist rings von hohen Felswänden eingeschlossen, unersteigbar, wie ich selbst gesehen habe.

Die Doristen wußten einen geheimen Auf- respektive Abstieg, von dem aber die Überlieferung mit Plan, die ich besitze, nichts meldet, ich habe ihn auch nicht zufällig gefunden. Vielleicht gelingt das uns. Ich mußte mich mit dem Anblick der Goldblöcke und der Ruinenstadt mit ihren goldenen Dächern und Pfeilern von oben begnügen.«

Wir wurden von immer größerer Spannung befallen. Irgend etwas Wahres mußte doch unbedingt daran sein! Dieser Mann wollte uns doch direkt hinführen!

»Wie sollen denn wir da hinabgelangen?«

»Nun, einfach durch Seile. Eine Stelle habe ich gemessen, die Tiefe betrug 42 Meter.«

»Sie hatten kein Seil mit?«

»Nicht solch ein langes.«

»Wie haben Sie denn da diese Tiefe gemessen?«

»Durch zusammengeknüpfte Schlingpflanzen.«

»Da konnten Sie sich doch auch auf solchen ein Seil herstellen, um sich daran hinabzulassen.«

»In eine Tiefe von 42 Meter, Sennores?«

Der Mann hatte recht. Das ist leichter in der Phantasie ausgeführt als in der Wirklichkeit. Für uns würde es eine Kleinigkeit sein, aber ein einzelner Mann würde sich doch verdammt hüten, sich an einem aus Schlingpflanzen gedrehten Seil in die zweifache Tiefe eines vierstöckigen Hauses hinabzulassen, wo er dann doch auch wieder heraufklettern muß! Ei, da soll man einmal klettern!

»Wie groß ist das Plateau?« wurde weiter gefragt.

»Baptiste Salvatore hat es gemessen, hat es fast kreisrund gefunden mit einem Durchmesser von etwa drei Meilen.«

»Seemeilen?«

»No, Sennor, Landmeilen.«

»Sie meinen geographische Meilen?«

»Si si, Sennor.«

»Wie sieht es dort oben aus?«

»Zum Teil Urwald, herrliche Grascampos, dann aber auch viele Felsformationen, auf denen zahlreiche Ziegenherden klettern.«

»Ziegen?!«

»Si si, Sennor. Und auf den Grasflächen tummeln sich unübersehbare Pferdeherden.«

»Was, Pferde?!« wurde in immer größerem Staunen gerufen.

»Si si, Sennores. Baptiste Salvatore, der Eldorado im 16. Jahrhundert besuchte und beschrieb, es dann aber nicht wiedergefunden hat, auch auf seiner zweiten Reise gestorben ist, erzählt von diesen Pferdeherden, er nimmt nach Funden von angebrannten Pferdeknochen an, daß die Doristen diese hauptsächlich deshalb züchteten, um ihr Fleisch zu essen, und auch ich habe diese ungeheuren Pferdeherden gesehen.«

Ja, wir mußten es wohl glauben — vorläufig auf Hörensagen hin. Dieser Mann konnte uns doch nicht so Ungeheuerliches vorflunkern!

»Schöne Pferde?« fragte Juba Riata aufmerksam.

»Herrliche Rosse, Sennor, wie sie edler und feuriger nicht auf den Gefilden Andalusiens weiden. Nicht zu vergleichen mit den sonstigen amerikanischen Mustangs, die alle so dicke Fesseln haben.«

»Ja, meine Herren — Frau Patronin — wollen wir da nicht hin?« fragte jetzt auch Juba Riata, dem es gleich die Pferde angetan hatten.

Denn seiner Reitlust konnte er freilich nicht an Bord frönen. Pferde hatten wir nicht, das wäre doch etwas schwer zu machen gewesen. Diese langbeinigen Tiere leiden auf dem stampfenden und schlingernden Schiffe schrecklich.

»Ja, Waffenmeister, wollen wir?« fragte mich die Patronin.

»Na, gewiß doch, dann mal los! In zwei Wochen müßten wir die Sandbank doch sowieso verlassen, oder da ist sie vielmehr verschwunden, da kommt es auf diese zwei Wochen nun auch nicht mehr an.«

Bis zum Abend war alles an Bord gepackt. Viel war es ja auch nicht. Den Hauptbestandteil bildeten die Bretter der Radfahrbahn.

Dann waren wir fertig zum Abdampfen. Aber unser Prospektador wollte den Morgen abwarten, es war eine finstere Nacht, auch das Licht des elektrischen Scheinwerfers hielt er für ungenügend, um ganz sicher den Weg auf den Wasserstraßen durch den Urwald zu finden.

Also am nächsten Morgen um sechs Uhr, sobald sich die Sonne über den Horizont erhob, für uns noch gar nicht sichtbar, dampften wir los, mit halber Kraft.

Unsere Erregung läßt sich denken.

Gold bleibt Gold. Es hat von jeher die Erde beherrscht und wird es wohl auch immer tun.

Der lotsende Spanier machte uns immer auf besondere Inseln und leicht erkennbare Bäume aufmerksam, wonach auch eine Karte entworfen wurde, so daß wir später den Weg auch allein finden konnten.

Am späten Nachmittage tauchte im Norden über dem Urwald ein Gebirge auf, das Tumuchumac—Gebirge, welches die Grenze zwischen Brasilien und Französisch—Guayana bildet. Aber nur eine geographische, keine politische. Diese Grenze ist noch nicht festgelegt, noch immer beansprucht sowohl Brasilien wie Frankreich dieses Gebirge für sich, ohne daß es deswegen zu Streitigkeiten gekommen ist.

Guayana ist nämlich für Frankreich ganz wertlos, diese Kolonie kostet den Franzosen jährlich nur ungeheures Geld.

Mit Guayana beweist Frankreich seine totale Unfähigkeit für jede energische Kolonisation.

Diese französische Kolonie, 80 000 Quadratkilometer, ist nicht minder fruchtbar, wahrscheinlich noch viel fruchtbarer als das benachbarte Niederländische und Britische Guayana, hat mit seinen vielen Gebirgszügen ein ganz gesundes Klima. In Fiebersümpfe darf man sich natürlich nicht setzen.

Die Engländer führten aus ihrem Guayana im Jahre 1900 Landeserzeugnisse, hauptsächlich Tabak, Kaffee und Kakao im Werte von zehn Millionen Mark aus. Die Holländer im gleichen Jahre für sechs Millionen. Die Franzosen mußten in demselben Jahre, wie es noch heute ist, alle diese Waren sogar noch einführen, sogar Kakao, obgleich der dort wild wächst!

Unter internationalen Jesuiten entwickelte sich dieses jetzige Französisch—Guayana einst wunderschön. Ich bin doch nicht etwa ein Freund der Jesuiten, aber das muß man diesen Jesuitenpatern lassen, daß sie die Eingeborenen zur Kultur des Landes anzuhalten verstanden, daß sie Verkehrswege anlegten, daß sie das ganze Land immer höher brachten. Zucker, Reis, Mais, Kaffee und Kakao wurden massenhaft erzeugt und ausgeführt.

Da übernahm die französische Regierung die Verwaltung, die Jesuiten wurden enteignet, vertrieben und die Franzosen haben die Kolonie total verlottern lassen. Alle die Verkehrsstraßen sind wieder mit der Wildnis verschmolzen, jetzt ist das Innere dieses Landes wieder genau so unbekannt wie vor 400 Jahren, es treiben sich darin einige tausend Indianer und Buschneger, die Nachkommen von entlaufenen Sklaven herum, in Sachen der französischen »Zivilisation« hört man nur von der Teufelsinsel und anderen Deportationsorten — Cayenne, Ile Royale, Kourou, Maroni etc. — in denen gegenwärtig 6000 Sträflinge schmachten, meist politische »Verbrecher«. Das ist alles, was die Franzosen aus diesem herrlichen Lande zu machen gewußt haben.

An diesem Tage konnten wir das Gebirge nicht mehr erreichen. Am anderen Morgen hatten wir noch drei Stunden zu fahren, die Gegend wurde immer hügeliger, immer höher reckte sich das Gebirge empor, bis die glatte Felswand jäh aus Wasser und Urwald emporstieg.

»Wir sind am Ziel, hier ist der Aufstieg,« sagte der Spanier eine Viertelstunde später.

Wie, hier sollte ein Aufstieg sein?

Wenigstens 300 Meter hoch stieg die rötliche Porphyrwand glatt wie eine Mauer empor, kein Grashälmechen konnte Fuß fassen, keine Schlingpflanze fand einen Halt.

Wenn der Aufstieg freilich so leicht erkennbar gewesen wäre, dann hätte er doch auch kein solches Geheimnis sein und bleiben können, wie unser Prospektador auf Fragen immer wieder versicherte, ohne eine nähere Erklärung zu geben.

Nur ganz unten nahe dem Wasser zog sich an der Felswand noch ein breiterer Grat hin, auf dem sich Humus gebildet hatte, auf dem daher auch tropische Vegetation wucherte, auch riesige Wollbäume standen, sich auf der einen Seite mit den Zweigen gegen die Felswand quetschend, nach der anderen Seite die mächtigen Äste desto weiter über das Wasser reckend.

An zwei solchen Urwaldriesen wurde, wie der Spanier anordnete, unser Schiff festgemacht, also auch dieser Felsgrat fiel noch steil ins Wasser hinab, wir loteten noch immer eine Tiefe von einigen zwanzig Metern, und ich will nur sagen, daß unsere Masten 30 Meter hoch waren und daß ihre Topen doch immer noch nicht die untersten Äste der Wollbäume berührten, und dabei standen diese hier doch nicht etwa auf besonders gutem Boden, die Humusschicht war nicht allzudick! Diese Wollbäume sind eben Riesen, die man gesehen haben muß, um sich von ihnen eine Vorstellung machen zu können.

»Nun teilen Sie die Leute ab, die Sie mitnehmen wollen.«

»Es können beliebig viele sein?«

»Möglichst viele, das Gold muß doch herunter transportiert werden, wenn wir es auch meist rutschen lassen können. Vorher ist es aber doch noch eine ziemliche Strecke zu tragen.«

Es herunter rutschen lassen? Nun, wir würden ja sehen. Der Spanier hatte ganz recht, wenn er nicht viel Erklärungen gab, da wir ja gleich alles mit eigenen Augen schauen sollten.

Ich wählte die Roten, welcher Farbe ja auch ich angehörte. Mehr als die Hälfte der Mannschaft wollte ich lieber nicht mitnehmen, wenn der Spanier auch versicherte, in den vielen Jahren, seitdem er sich hier herumtrieb, niemals einen Indianer erblickt zu haben.

Die Kinder blieben sämtlich zurück, die kamen dann auch schon einmal daran, wenn es dort oben wirklich so interessant war.

Juba Riata gehörte überhaupt zu den Roten, und bei solchen Hauptpersonen war es ja auch etwas ganz anderes, von den Grünen kamen auch noch Kabat und Doktor Isidor mit, natürlich die Patronin, auch Klothilde schloß sich der Expedition an, da die kleine Ilse ja unter genügendem Schutze stand.

Zuerst wurde das zweite Frühstück eingenommen. Ohne Essen fährt die Seele aus dem Körper. Dann beladen wir uns mit dem, wie der Prospektador anordnete, hauptsächlich mit Seilen, und da mehrere Laternen nötig sein sollten, nahm gleich jeder eine mit, dazu genügend Petroleum.

»Auch Stangen, Balken, Bretter?« fragte ich.

»Nein, die sind nicht nötig, um uns in das Tal hinabzulassen, dicht am Rande stehen Bäume, die genügen zur Befestigung der Seile. Aber noch einige Rollen, Äxte und Sägen. Balken schon deshalb nicht, weil zum Transportieren derselben erst ein Weg geschaffen werden müßte. Ich bitte nämlich, wenn wir jetzt durch das Unterholz kriechen, möglichst wenige Spuren zu hinterlassen. Wir wollen diesen Aufstieg doch lieber als unser Geheimnis hüten.«

Wir brachen auf, einer hinter dem anderen, der Spanier als Führer an der Spitze, mit schon brennenden Lampen. Auch einige Hunde begleiteten uns, falls eine schnelle Botschaft nach dem Schiffe zu schicken war.

So krochen wir Mann hinter Mann durch das Unterholz, durch die Büsche, die hier glücklicherweise keine Stacheln hatten, kamen in eine Felsspalte, die sich aber nicht nach oben, fortsetzte, also in eine Höhle.

»Dies ist ein unterirdischer Flußlauf!« erklärte der Spanier mir, der ich der nächste hinter ihm war, aber auch die anderen Hauptpersonen konnten es noch hören. »Hier ist einst das Wasser eines Flusses herausgekommen, der früher das Plateau durchströmte und plötzlich im Boden verschwand. Es läßt sich oben noch an dem ausgetrockneten Flußbett erkennen. Aber auch zur Regenzeit fließt jetzt kein Tropfen Wasser mehr hier herab, es hat sich mit der Zeit einen anderen Weg gewählt, ergießt sich oben in einen großen See, der nur nach Norden einen Abfluß hat, am Rande des Plateaus einen mächtigen Wasserfall bildend.«

In schnurgerader Richtung stieg der Tunnel empor, in einem Winkel von etwa 30 Grad, nur deshalb leicht zu ersteigen, weil der Boden ziemlich rauh war, breit genug, daß mehrere Männer nebeneinander gehen konnten, und auch unser Bandlwurm hätte überall aufrecht stehen können.

Sonst war hier nichts Bemerkenswertes zu sehen, von Gold keine Spur.

Nach einer halben Stunde schimmerte uns ein schwaches Dämmerlicht entgegen, wir kamen in eine große Höhle mit ebenem Boden, grüne Zweige verdeckten den Ausgang.

Wir drangen durch, ohne noch darauf zu achten, keine Spuren zu hinterlassen, hieben uns mit Messern Bahn.

Zuerst kam eine breite Rinne das ehemalige Flußett, jetzt mit Buschwerk angefüllt, wir arbeiteten uns durch und hinauf und . . .

Ein herrlicher Anblick bot sich uns dar!

So weit das Auge reichte, schweifte es über wellenförmige Grasflächen, aber nicht zu vergleichen mit den um diese Zeit sonnenverbrannten Llanos oder Campos dort unten, sondern das hier oben waren richtige Prärien im herrlichsten Blumenschmuck, wie sie sonst nur die Mississippigegenden aufzuweisen haben, und das jetzt in der trockensten Jahreszeit!

»Das macht die Höhenlage,« erklärte der Prospektador unaufgefordert auf unser freudiges Staunen, »jede Nacht fällt hier reichlich Tau, so daß gar kein Tropfen Regen nötig wäre.«

Aber es war keine einförmige Prärie, hier und da standen Baumgruppen, die dort hinten einen ganzen Wald bildeten, einen Urwald, jedoch ohne Unterholz, parkähnlich, und ferner fehlte es auch nicht an pittoresken Felsgruppen.

Gerade hinter uns befand sich eine solche, wir waren ja aus einer großen Höhle getreten, und, gerade sprang vor uns eine Ziege auf, die an den Knospen genagt hatte, sprang mit mächtigen Sätzen die Felsen hinauf, und plötzlich zeigten sich dort überall solche Ziegen.

Waren das nicht unsere gewöhnlichen Ziegen und Ziegenböcke? Fast mochten wir es glauben. Allerdings sehr, sehr stattliche Tiere!

»Endlich Ziegenböcke, da fangen wir ein paar, die reite ich zu!« jubelte Frau Rosamunde Wenzel—Attila auf, die uns natürlich nebst Herrn Gemahl begleitet hatte. Denn wenn man solch eine Reise tut, da will man doch auch etwas sehen.

Wir hatten uns in Menado vergebens nach Ziegen umgesehen, auf daß uns die Zwergin ihre Dressur und Reitkunst auf diesen Tieren einmal zeigen könne, ebenso in Para, und anderswo waren wir ja, seitdem wir die Schiffbrüchigen gerettet, noch nicht gewesen.

»Und dort Pferde!« setzte Juba Riata mit leuchtenden Augen hinzu, schon nach dem Lasso greifend.

Es waren prächtige, langbemähnte und langbeschweifte Tiere, einige Dutzend, die hinter solch einem Wäldchen, aber aus Urwaldriesen gebildet, hervorgaloppierten und hinter einer Felsengruppe wieder verschwanden.

»Pferde, aaah, Pferde!« ließ sich auch Mister Tabak freudestrahlend vernehmen, aber bekanntlich aus einem ganz anderen Grunde — er leckte sich dabei schnalzend die Lippen. »Gehen wir auf die Pferdejagd!«

»Na, erst wollen wir einmal auf die Goldjagd gehen!« meinte ich.

Wir setzten uns in Marschreihe, verfolgten einige Zeit einen klaren Bach, in dem Forellen sprangen, sahen immer ab und zu eine Pferde— und Ziegenherde, wozu aber auch noch Mufflons kamen, die schon mehr zu den Schafen gehören.

»Gibt es sonst noch andere Tiere hier oben?« fragte ich den Spanier.

»Vögel.«

Die sah ich selbst. Für diese beschwingten Bewohner der Lüfte bietet ja so eine steile Felswand kein Hindernis.

»Säugetiere, meine ich.«

»Ich habe noch keine anderen gesehen als Pferde und Ziegen und solche behörnte Schafe.«

»Schlangen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wie lange haben Sie sich hier oben aufgehalten?«

»Zwei Tage.«

»Da waren Sie zum ersten Male hier?«

»Si si, Sennor.«

»Und haben uns dann gleich aufgesucht?«

»Si si, Sennor.«

»Weil Sie erwarteten, daß wir in diesem Jahre wieder nach jener Sandbank kommen würden.«

»Si si, Sennor.«

»Nun sagen Sie bloß mal, Sennor Estrada, weshalb wollen Sie uns alle denn durchaus zu Millionären oder gar zu Milliardären machen?«

»Mi sabe.«

»Weil Sie denken, daß bei uns dieses Gold am besten aufgehoben ist, daß wir mit den Reichtümern den besten Gebrauch machen?«

»Si si, Sennor, Sie sagen es.«

»Und Sie sollen sich da in uns nicht getäuscht haben.«

»Wie sind denn nun,« ließ sich da dies Patronin hinter mir vernehmen, »diese Pferde und alle die sonstigen Tiere hier heraufgekommen, wenn dieses ganze Plateau von unersteigbarem Felswänden eingefaßt ist?«

Da stellte Helene eine Frage, welche kein Darwin und kein Häckel und kein anderer Mensch beantworten kann und jemals beantworten wird.

Deshalb aber, um solch eine Frage zu stellen, braucht man nicht nach Brasilien zu gehen, in das TumuoHumao—Gebirge.

In unseren Alpen liegt ein einsamer Gebirgssee in einer Höhe von mehreren tausend Metern.

Es sind Fische darin. Wohl mag der See einige Spezialitäten haben, aber die meisten Fischarten sind doch genau dieselben wie dort unten in den Gewässern des Tales.

Wie sind denn diese Fische da hinauf gekommen?

Na‚ wer kann diese Frage beantworten?

Nein, die Schöpfung läßt sich nicht hinter die Kulissen blicken! Da ist jede Grübelei und Spekulation ganz zwecklos!

Die Gelehrten spekulieren und spekulieren und . . . spekulieren immer daneben!

»Wie weit ist es noch bis zu dem Goldtale?«

»Hier sind wir schon.«

Eine Hügelkette, mit einigen Bäumen bestanden, hatte uns die Aussicht verdeckt.

Wie wir oben standen, da . . . konnten wir nur verblüfft stehen bleiben! Steil ging es plötzlich in die Tiefe hinab, dicht vor unseren Füßen lag ein weites Tal.

Und, o Wunder, was wir da erblickten!

Der Spanier hatte es uns ja geschildert, aber das mußte man selbst sehen, um es glauben zu können.

Allüberall ließ es die hochgekommene Sonne gleißend aufleuchten, allüberall, wohin man auch blickte, lagen Goldblöcke, darunter solche von riesenhaften Dimensionen, und in der Mitte des Tales eine große Stadt, gar keinen so ruinenhaften Eindruck machend, und dort leuchtete erst recht alles von rotem Golde, besonders die Dächer, aber auch Säulen, ganze Mauern — alles von Gold.

Eldorado! Die goldene Stadt!

Also es war doch kein leerer Wahn!

Es war ein Land, in dem das Gold so häufig vorkam, daß es seine Bewohner wie gewöhnliches Material zum Bauen benutzt hatten.

Großen Wert konnte da dieses Gold freilich hier nicht gehabt haben.

Aber für uns hatte es jetzt den gegenwärtigen Wert, das Pfund rund tausend Mark, wir mußten unseren Fund nur als Geheimnis zu wahren wissen.

Denn wenn solch eine Unmenge Gold auf den Markt geschleudert wurde, das konnte doch vielleicht eine bedeutende Entwertung herbeiführen. So wie es zur Zeit der Entdeckung Amerikas geschah, besonders dann durch Pizarro und Cortez. Da stiegen natürlich zumal in Spanien, wo aus Amerika ein Goldschiff nach dem anderen ankam, die Preise für alle Lebensmittel, überhaupt für alles, was man kaufen kann, ins Ungemessene - und das ist gleichbedeutend mit einer Entwertung des Goldes.

Man darf wohl glauben, daß wir alle zusammen ganz fassungslos waren.

Gold ist eben Gold, es verfehlt wohl bei keinem Menschen, der nicht blödsinnig ist, seine magische Wirkung.

Nur bei einem von uns galt das nicht. Der war durchaus nicht blödsinnig, aber . . . er wurde von etwas anderem geplagt.

»Dort sind wieder Pferde,« sagte Mister Tabak, nicht ins Tal, sondern in die Ferne spähend, »die scheinen wirklich sehr schön durchwachsen zu sein. Ich will doch einmal eins totschmeißen. Es ist ja auch bald Mittag.«

Lachen tat ich darüber nicht, aber es gab mir doch die Fassung wieder.

»Ja, Kinders, da wollen wir uns mal hinablassen und den goldenen Mammon herausholen. Na‚ das wird ja eine Heidenarbeit geben!«

Mit diesen Worten trat ich dicht an den Rand, an dem die Grasnarbe wie abgestochen war. Aber da ebenso dicht am Rande ein mächtiger Baum wurzelte, würde der Boden auch mich tragen, eine Gefahr des Abbröckelns war ausgeschlossen, wir durften diesem Grenzboden noch ganz andere Lasten anvertrauen, hier und wohl überall.

So blickte ich in die Tiefe hinab. Schwindel kennt ja unsereins nicht. Sonst hätte ich mich ja auch an einen Ast festhalten können, aber es war gar nicht nötig.

Ja, ganz senkrecht ging die hier weißgraue Felswand hinab. Aber doch nicht so ganz glatt. Da war zum Beispiel in einer Tiefe von ungefähr sechs Metern erst ein meterbreiter Absatz, der nach beiden Seiten immer schmäler wurde, bis er sich ganz verlief, und auch auf diesem Grad lagen zwei Goldklumpen, einer so groß wie eine mittlere Kegelkugel, aber mehr vierkantig, also mehr ein Würfel, und der andere so groß wie — wie — wie . . .

»Du, Jochen, die goldene Kommode dort unten, die schenke ich Dir!« sagte Hein.

Ja, so groß wie eine Kommode. Der mächtige Goldblock hatte auch nämlich ungefähr so eine Form, oben mit einem Aufsatz drauf. Es gibt ja nun freilich sehr große Kommoden, es gibt auch sehr kleine Kinderkommoden das hier war eine von mittlerer Güte. Betrug ihr Inhalt »nur« einen Kubikmeter, so wog sie, da Gold das spezifische Gewicht 20 hat, das heißt zwanzigmal schwerer als ein gleiches Volumen Wasser ist, 400 Zentner, hatte also, wenn es durch und durch gediegenes Gold war, woran wir gar nicht zweifelten, einen Wert von rund vierzig Millionen Mark.

So hatte nämlich Doktor Isidor mit lauter Stimme vorgerechnet.

»Träume ich denn wirklich nicht nur?!« flüsterte die Patronin, wie ich in die Tiefe blickend, aber mit ganz entgeisterten Augen.

»Nee, nee, Doktor, Sie haben ganz recht,« sagte ich, »Ihre Rechnung stimmt — für diese Kommode können Sie sich vier Millionen Flaschen echten Kognak kaufen.«

»Was hat sich denn der Doktor für das Ding Kognak zu kaufen, die goldene Kommode hat mir doch schon Hein geschenkt?« meinte Jochen.

Man sieht — bei uns konnte kein Goldfieber ausbrechen — der Matrosenwitz war stärker, der ließ sich durch nichts zurückhalten.

»Gut, Jochen, Du sollst sie haben,« sagte ich jetzt, »aber Du mußt sie Dir natürlich auch selber heraufholen. Das heißt — die Kommode laß einstweilen liegen bringe erst einmal den Würfel herauf. Mit dem knobeln wir dann das andere Gold aus.«

Also an einem geeigneten Ast, der sich über den Abgrund reckte und an dem ich mich erst einmal ein bißchen schaukelte, wurde ein Block mit Rolle befestigt — ein Stängewant oder Puppblock, will ich für einen Sachverständigen einmal ganz sachlich sein, denn es gibt sieben verschiedene Arten von Blöcken — ein Seil durchgeschoren, an diesem wurde Jochen hübsch unter den Armen aufgehängt und so hinabgelassen.

Wenn ich den etwas abgerundeten Würfel auf 15 Zentimeter Durchmesser berechnete, so ergab das rund 3400 Kubikzentimeter, mal 20 ist 68 000, also wog er ungefähr 68 Kilogramm.

Na‚ diese Last hatte für den stämmigen Jochen nicht viel zu bedeuten.

Aber so rechnen muß man erst, wenn man so etwas vor sich hat, solch einen Goldklumpen aus der Tiefe heraufbefördern will!

Da kann man sich nämlich verflucht irren!

Besonders in Jugendschriften wird da manchmal Großes geleistet.

Da nimmt jemand einen Goldklumpen so groß wie ein Bierfäßchen auf die Schulter und rückt damit ab.

Das gibts nicht!

Gold ist fast dreimal so schwer wie Eisen.

Also Jochen schwebte hinab.

Ich stand an dem Baume, mich an einem Aste festhaltend, etwas vorgebeugt, kommandierte — fast alle anderen, so weit sie nicht die Taille zu bedienen, das heißt das Seil zu dirigieren hatten, lagen platt am Boden neben dem Rande und beobachteten auf diese Weise ungefährdet den ganzen Vorgang.

Jochen ist unten angelangt, hat noch einen Schritt zu machen, bückt sich, bringt beide Hände unter den kleinen Goldblock, hebt ihn . . .

»Ooooohhh!« brüllt er da furchtbar auf und fällt platt auf den Boden hin, über den Goldwürfel weg, den er eben erst geliftet hat, nur wenige Zoll, wie mir schien

»Was ist denn los, Jochen?!« schreie ich hinab.

»Ooooohhh — — ich habe mir Schaden getan, ich habe mir einen Bruch gehoben!« winselt der dort unten, auf dem Gesicht liegend.

»Hol auf!«

Er wurde hochgezogen.

Ach, was der Matrose schrie und winselte und heulte, wie er wieder in der Luft hing!

Und Jochen war ein ganzer Kerl, der hätte nicht geschrien, mit keiner Wimper gezückt, wenn man ihm etwa ein Bein amputiert hätte, ohne Narkose.

Aber er mußte Schmerzen haben, die jeder Beschreibung spotteten.

Ja freilich, wenn man sich durch zu schweres Heben einen innerlichen Schaden getan hat, wenn ein Gewebe oder sonst etwas zerrissen ist, dann muß es wohl die denkbar ungünstigste Situation sein, wenn man so in der Schwebe hängt und hochgezogen wird, wenn man die ganze Last des Körpers mit den Armen oder unter den Schultern zu tragen hat.

Doch was halfs? Herauf mußte er, so oder so. Er wurde, wie er auch winselte und heulte, hochgezogen und eingeschwungen. Es hatte ja auch kaum eine halbe Minute gedauert.

Dann lag er am Boden, auf dem Rücken, nach wie vor heulend und wimmernd, schien sich vor Schmerzen krümmen zu wollen, wagte es aber nicht, konnte nicht.

»Mein Rückgrat — oooohhh — ich habe das Rückgrat gebrochen — macht mich tot‚ ich halte es nicht mehr aus, macht mich tot — oooohhh . . .«

Es war einfach haarsträubend, wie sich der Mann gebärdete.

Aber dieser stämmige Kerl sollte sich beim Heben von vielleicht 130 Pfund Schaden getan, sich einen Bruch gehoben oder gar das Rückgrat gebrochen haben?

Ach, Unsinn! Was müssen wir manchmal heben, so aus der Kniebeuge heraus!

»Der wird einen Hexenschuß bekommen haben!« sagte ich gleich, oder vielmehr erst jetzt diesen Gedanken erfassend.

»Ja, das glaube ich auch, es wird ein Hexenschuß sein!« bestätigte Doktor Isidor sofort, wenn er auch gleich an eine Untersuchung nach einem Unterleibsbruch ging.

Ein Hexenschuß!

Was ist denn das eigentlich, ein Hexenschuß?

Ich weiß es nicht.

Und kein anderer Mensch weiß es, und wenn er auch die sämtliche Medizin der ganzen Erde mit Löffeln gefressen und einige hundert Menschen anatomisch in lauter Atome zerschnipselt hat!

Ich gewissenhafter Mann schlage im allerneuesten Konversationslexikon nach — das heißt jetzt, am Schreibtisch im Schlafrock mit Pantinen, ich hatte damals doch nicht die siebzehn Riesenbände einstecken — und lese:

»Hexenschuß (Lumbago), ein heftiger, meist ganz plötzlich auftretender und alle Bewegungen, insbesondere Drehungen und Beugungen des Rückens in hohem Grade erschwerender Kreuz— und Lendenschmerz welcher entweder auf einem einfachen Rheumatismus der Lendenmuskeln oder auf der Zerreißung einzelner Muskelfasern der Rückenstrecker infolge einer allzu hastigen und kräftigen Bewegung beruht. In der Regel verschwindet das Leiden bei einem geeigneten diätischen Verfahren (Ruhe, Bettwärme, Schwitzen) nach einigen Tagen von selbst; bei heftigeren Schmerzen bringen kräftige Hautreize, wie Spanischfliegenpflaster, Schröpfköpfe, der elektrische Pinsel, die heiße Dampfdusche, die Anwendung der Massage und dergleichen oft überraschend schnelle und anhaltende Erleichterung. Der Namen hängt mit dem Hexenglauben zusammen.«

So, nun wissen wir es, was ein Hexenschuß ist.

Also entweder Rheumatismus der Lendenmuskeln oder eine Zerreißung einzelner Rückenmuskeln.

Mich deucht aber, zwischen Rheumatismus und Muskelzerreißung ist ein Unterschied wie zwischen Zahnschmerz und der Trichinose.

Und was soll denn überhaupt bei einer Zerreißung von Rückenmuskeln Fliedertee helfen, damit man schwitzt?

Nein, meiner Ansicht nach ist es ein akuter Rheumatismus der Rücken— und Lendenmuskeln, wobei auch Brustmuskeln in Mitleidenschaft gezogen werden können.

Die Urplötzlichkeit, mit welcher dieser Schmerz, also dieser Rheumatismus auftritt, hat dabei nichts zu sagen.

Denn was ist denn nun überhaupt wieder Rheumatismus?

Niemand weiß es.

Es tut sehr weh, das weiß jeder, der den Rheumatismus schon einmal gehabt hat.

Und dann weiß er auch — wenigstens wenn er sich selbst scharf beobachtet hat — wie urplötzlich jeder Rheumatismus sich bemerkbar macht oder doch sich bemerkbar machen kann.

Man macht irgend eine kleine Bewegung mit dem Arm, greift nach einem Glase, denkt gar nicht an Rheumatismus — schrumm, plötzlich ein heftiger Stich in der Schulter — man hat im Arm den schönsten Rheumatismus, der lange, lange Zeit anhalten kann. Ganz nach und nach verschwindet er, aber mit den heftigsten Schmerzen angemeldet hat er sich in einem einzigen Moment.

So wird es wohl auch mit dem Rheumatismus der Rückenstreckmuskeln sein, die mit den Muskeln der Lenden und auch der Brust verbunden sind. Vorbereitet hat sich die Krankheit schon längst, die Muskeln warten nur noch auf eine passende Gelegenheit, auf eine besondere Drehung, um ihr Kranksein definitiv anzumelden.

Ich konnte davon erzählen, ich hatte auch einmal einen Hexenschuß abbekommem nur einen einzigen, aber auch einen vom besten Kaliber.

Es war schon viele Jahre her, in Acapulco, ich schlenkere meine Spazierhölzer in einem Tanzsaal, habe da so eine niedliche kleine Mexikanerin, nehme das Mädel einmal bei den Hüften und schwinge es hoch . . . pflauz, da fällt mein Georg plötzlich so lang wie er ist, auf die Nase, bleibt so liegen, wimmernd und stöhnend.

»Georg, mit Dir ist's vorbei — Du hast Dir einen Schaden gehoben — hast Dir die Rückenmarkssäule zerknaxt und Dir außerdem noch die ganze Lunge umgekrempelt — nun ade Du schöne Welt!«

Dabei hatte ich aber doch noch andere Gedanken, zweifelnde.

Deibel noch einmal, Du und Dir einen Bruch oder so was heben?! Bei diesem kleinen Mädel, das vielleicht noch keine achtzig Pfund wiegt, brutto?!

Na‚ kurz und gut — ich wurde der Länge nach an eine Stange gebunden und so von meinen Kameraden an Bord getragen. Das sagt wohl am besten, wie es mit mir bestellt war. Ich konnte nicht stehen und nicht sitzen und nicht liegen. Wenn ich nur den kleinen Finger krumm machte, fühlte ich in der Wirbelsäule, daß ich laut aufschrie, und als ich einmal niesen mußte, glaubte ich, meine Lungen müßten zerplatzen. Denn auch so furchtbare Lungenschmerzen hatte ich bei jeder Bewegung! Es waren aber nur die Brustmuskeln, die das Atmen besorgen.

Unser Kapitän wußte gleich, was es war, einfach ein Hexenschuß und der glaubte auch nicht an eine Muskelzerreißung. In die Koje gepackt und tüchtig geschwitzt, daß das Wasser nur so lief. Nach zwei Tagen war es vollkommen vorbei. Aber noch einmal durchmachen möchte ich diese zwei Tage nicht. Und noch lange hinterher getraute ich mir nichts zu heben. Oder ich dachte immer mit Grausen dabei: wenns nur nicht wieder schießt! Auch dieser ängstliche Gedanke schwand, dann lachte ich darüber, spielte mit einer anderthalbzentrigen Holländerin beim Tanzen Fangeball, ohne an Hexenschießerei zu denken.

Jedenfalls also wußte ich jetzt, wie es dem armen Jochen zumute war.

»Was hat denn der Spanier da, ist denn der Kerl plötzlich übergeschnappt?!« wurde da gerufen.

Wirklich, was sollte man davon denken?

Liegt unser Prospektador da plötzlich auf den Knien, hat eine Reihe Zwiebeln zwischen seinen Krallenfingern und benützt sie als Rosenkranz, murmelt Gebete und schiebt dabei die Zwiebeln hin und her.

Hierbei muß ich nachträglich etwas erwähnen. Die Spanier sind doch überhaupt ganz von religiösem Aberglauben durchseucht, solche spanische Goldsucher erst recht. Bei unserem Prospektador aber hatten wir hiervon niemals auch nur das Geringste bemerkt. Ebensowenig etwas von einer Frömmigkeit. Noch nie hatten wir ihn beten oder sich bekreuzigen sehen. Daß er immer Hartbrot und Zwiebeln unter seinem Mantel bei sich führte, das wußten wir — aber daß er jetzt mit solch einer Reihe Zwiebeln den Rosenkranz betete, ganz öffentlich, dabei auf den Knien liegend, das war uns etwas ganz Neues.

Und wie der Kerl dabei aussah!

Wie eine vieltausendjährige Mumie, die wieder zum Leben erwacht ist, um nochmals zu sterben! Und wie die Augen angstvoll, mit allen Zeichen des Entsetzens angstvoll umherirrten!

Und jetzt fing er auf den Knien zu rutschen an, gerade auf mich los.

»Gnade, Sennor — Erbarmen, Sennor — Verzeihung, Sennor — um aller Heiligen willen, gewähren Sie mir Absolution!« winselte er.

»Ja, Mann, was ist denn nur los?!« staunte ich, wie er auch noch meine Knie umklammerte.

»Ich habe Euch betrogen!«

»Uns betrogen? Wieso denn?!«

»Ich habe Euch etwas Furchtbares verschwiegen!«

»Was denn verschwiegen?«

»Den Fluch — den schrecklichen Fluch!«

»Was denn für einen Fluch?«

»Der auf diesem Tale, auf diesem Golde ruht!«

Endlich fing er an zu sprechen, erzählte.

Erzählte von dem alten Eldorado, wie die einstigen Bewohner hier wie im Paradiese gelebt hatten — wie ein christlicher Missionar gekommen war, ein heiliger Mann, natürlich ein Spanier, der ihnen das Evangelium gepredigt hatte — wie der von den Eldoristen verhöhnt und verlacht worden war — zuletzt hatten sie ihn auch gemartert — und da hatte der heilige Mann, ehe er seinen Geist aufgab, gerufen:

»Verflucht sei dieses Tal — verflucht bis in alle Ewigkeit sei Euer Gold — wer es anrührt, den soll der Spinodezza treffen und er soll daran elendiglich sterben . . .«

So hatte unser Prospektador winselnd erzählt.

»Es gibt böse Geister, welche den Menschen mit furchtbaren Schmerzen peinigen können . . . «

»Der Spinodezza?« fragte ich. »Was ist denn das?«

»Spinodezza ist bei den Spaniern genau dasselbe, was bei uns der Hexenschuß!« erklärte Doktor Isidor.

»Verzeiht mir, Sennores — ich habe es gewußt und habe Euch nichts davon gesagt — aber ich habe es selbst nicht geglaubt — jetzt sehe ich es . . . «

»Ach, Quark!« sagte ich. »Verschont uns mit Euren spanischen Faxen. Der Matrose ist einfach schon längst für Rückenrheumatismus disponiert gewesen, und zufällig in dem Augenblick, da er sich nach dem Goldklumpen bückte, ist die verhaltene Krankheit zum Ausbruch gekommen. Vorwärts, seilt mich an, ich selbst gehe hinunter.«

»Sennor, ich beschwöre Euch . . . «

Ich ließ ihn weiter beschwören, ich glitt hinab. Kein einziger von uns schenkte solchem Aberwitz Glauben. Weiter hätte doch auch nichts gefehlt.

Ich habe den Sims erreicht, vor mir liegt der Goldwürfel. Ich bücke mich, habe ihn eben erst mit den Händen berührt — plötzlich geht es mir wie ein Blitz durchs das ganze Rückgrat, auch ich stütze hin, brülle und wimmere vor Schmerz.

Ich habe in meinem Leben den zweiten Hexenschuß bekommen!

Ich habe nicht an den auf diesem Golde ruhenden Fluch des heiligen Märtyrers gedacht, dazu war mein Schmerz zu groß; in meinem Inneren schien sich alles zu verdrehen — aber man kann sich wohl vorstellen, was die dort oben dachten, wie auch ich, sobald ich das Gold berühre, hinstürze und zu brüllen anfange!

Natürlich zieht man auch mich gleich wieder hoch.

O, Du heiliges Kanonenrohr, was ich in der halben Minute ausgestanden habe, wie man mich hochzog, wie ich so unter den Armen in der Schwebe hing, wie sich meine Wirbelsäule ausdehnte!

»Laßt mich los — laßt mich in die Tiefe stürzen! — das halte ich nicht mehr aus!«

So heulte auch ich.

Dann lag ich oben auf dem Rücken.

Ich hätte mich gern vor Schmerzen gekrümmt, aber ich konnte nicht. Bei der kleinsten Bewegung wurde der Schmerz nur noch unerträglicher, der sich von der Wirbelsäule über den ganzen Körper verbreitete, bis in die Fingerspitzen hinein.

Na‚ diese Gesichter der Umstehenden! Das läßt sich ja wohl auch denken. Und ich habe sie trotz meiner furchtbaren Schmerzen auch wirklich gesehen. Wie die fassungslos auf mich herabblickten, mit welchen Augen!

»Georg, um Gottes willen, was ist das, was ist das?« schrie Helene, neben mir kniend, die Hände ringend.

Doktor Isidor wollte mir behülflich sein, riß mir Jacke und Hemd auf.

»Rührt ihn nicht an, rührt ihn nicht an!« schreit da der Spanier. »Auch wer den nur berührt, der schon einmal dieses verfluchte Gold angefaßt hat, wird vom Spinodezza getroffen, so lautet der Fluch!«

»Ooooohhh!« stöhnt da Doktor Isidor und fällt über mich hin.

»Ooooohhh, mein Rückgrat, mein Rückgrat!« jammert da plötzlich Helene und wirft sich zu Boden.

»Uuuuuhhhh — aaauuuhhh — verflucht noch einmal verflucht und zugenäht!«

So und ähnlich heult und winselt es plötzlich, allüberall, einer nach dem anderen stürzt hin oder legt sich hin, krümmt sich vor Schmerzen und erstarrt wieder, brüllt und wimmert und stöhnt.

Wie soll ich es schildern?

Wir waren 42 Personen.

Keine blieb verschont.

Ich sehe noch Juba Riata, wie er daliegt, auf dem Gesicht, ohne zu schreien und zu winseln, wie er aber dafür wie ein toller Hund wütend ins Gras beißt.

Ich sehe noch den Eskimo, wie er auf dem Rücken liegt, noch vielmehr höre ich ihn, was der für schauerliche Töne ausstößt, es klingt wie ein Gesang, es sind auch Worte, aber mir unverständliche — es ist ein Zaubergesang seiner Heimat, der die bösen Geister bannen soll.

Ich sehe noch Klothilde, wie sie sich dort brüllend am Boden wälzt.

Ob ich jetzt an einen Fluch glaubte, der über dieses Gold, über dieses Land ausgesprochen worden war, der an uns in Erfüllung ging, daß wir alle zusammen einen schrecklichen Hexenschuß bekommen hatten, oder so etwas ähnliches, ein »Spinodezza«, woran wir hier kläglich sterben sollten?

Ich weiß nicht, ob ich damals so etwas gedacht habe.

Jedenfalls aber hatte ich etwas anderes zu denken.

Diese Schmerzen, ach, diese furchtbaren Schmerzen in der Wirbelsäule, in den Lenden, im Brustkasten, die von hier aus wie Feuer durch den ganzen Körper gingen!

Da denkt man nur an Rettung, an Linderung und da allerdings mußte ich an einen bestimmten Mann denken.

»Doktor — oooohhhh — Doktor — — was — was ist das!«

»Ich — oooohhhh — ich — ich weiß es nicht!« winselte Doktor Isidor neben mir. »Weshalb aber — oooohhhh — weshalb aber — bleibt — ooohhhh — der Spanier davon verschont!«

Wahrhaftig!

Jetzt erst sah ich es!

Nicht alle waren von der rätselhaften Krankheit befallen worden! Nur einer nicht!

Dort auf den Knien lag noch der Spanier, drehte noch den Zwiebel—Rosenkranz zwischen den Krallenfingern und betete dazu!

Mochten seine Augen auch noch so entsetzt blieben von den furchtbaren Schmerzen war er jedenfalls nicht befallen worden.

Ich fand keine Erklärung dieser Rätsels grübelte auch nicht weiter darüber nach.

»Chloe — ooohhhh, aaauuuh — Chloe!« wimmerte ich. — Der Leser entsinnt sich. So hieß der Schäferhund oder eigentlich eine Hündin — jedenfalls unser bester Hund, der zuverlässigste Depeschenträger.

Ja, die Hunde, die wir mitgenommen, wie die sich betrugen! Zuerst hatten die geglaubt, wir wollten mit ihnen spielen, hatten sich über uns geworfen, sich mit uns balgen wollen.

Aber der Irrtum währte bei diesen klugen Tieren nicht lange.

Sie wurden unsicher, ganz kopfscheu — dann fingen sie auf eine schreckliche Weise zu heulen an.

Die konnten doch gar nicht wissen, nicht begreifen, was mit uns los war, weshalb wir uns so auf der Erde wälzten und brüllten und stöhnten.

Einer und der andere oder vielleicht auch alle wären schon noch davon gelaufen, nach unserem Schiffe, um ganz aus eigenem Antrieb Hilfe zu holen, dessen bin ich sicher.

Aber vorläufig waren sie noch ganz fassungslos, und es war gut, daß sie nicht schon alle davon gelaufen waren.

»Chloe — oooohhh — Chloe — komm her!«

Der Schäferhund kroch winselnd auf mich zu, als hätte er selbst solch furchtbare Rückenschmerzen, machte aber dazwischen doch manchmal einen merkwürdigen, wie mich aufmunternden Sprung, als sollte ich den nachmachen, und dann leckte er winselnd mein Gesicht.

Ach, diese Augen, die auch solche Hunde machen können!

Chloe, also der zuverlässigste Depeschenhund, hatte am Halsband gleich eine Kapsel hängen.

Kaum, daß ich sie öffnen, den Bleistift aus der Brusttasche ziehen und ein Blatt Papier von dem Notizblock abreißen konnte. Mit unsäglichen Schmerzen gelang es mir, konnte ich einige Worte schreiben.

»Wir sind alle von rätselhafter Krankheit befallen worden, von Wirbelsäule ausgehend, sind ganz hülflos. Leute schicken. Stevenbrock.«

So hatte ich gekritzelt, kaum leserlich.

Da, noch hatte ich das Papier nicht in die Kapsel gesteckt, erscholl in der Ferne Hundegebell.

Der zurückgebliebene Neufundländer Odin kam angesetzt, eine Kapsel am Halse.

Juba Riata richtete sich etwas auf, öffnete den Mund, wollte wohl rufen, konnte es nicht.

»Odin — hierher — zu mir!« brachte ich mühsam hervor. Jedes gesprochene Wort ließ die Brust krampfhaft schmerzen.

Ich machte die Kapsel auf, nahm das Papier heraus.

Kapitän Martins Handschrift, aber kaum zu erkennen!

»An Bord rätselhafte Krankheit ausgebrochen, furchtbare Schmerzen im Rückgrat, auch Lenden und Brust, wie Hexenschuß! Aber alle ganz plötzlich! Nur alle Kinder und Siddy sind verschont geblieben. Kommt sofort zurück! Martin.«

Ich starrte und starrte.

Doktor — hier lest!«

Er war fähig dazu, preßte die Lippen zusammen.

Dann stieß er einen Schrei aus, der ganz anders klang als die sonstigen Wehelaute.

»Der Spanier verschont? Siddy verschont? Die Kinder verschont? Ich habs, ich habs! Waffenmeister — oooohhhh — aaauuuh — haben Sie heute — zum Frühstück — den Kindern — von dem australischen Büchsenfleisch gegeben?«

»Nein, nein . . . !« wimmerte ich.

Da zuckte Klothilde empor, als habe sie einen Gegenhexenschuß bekommen.

»Strychnin, Strychnin!« schrie sie auf, sie, die sich auch in Australien viel herumgetrieben hatte, mitten im Busch.

»Ja, ja, bestätigte Doktor Isidor winselnd, »das australische Büchsenfleisch — enthält Strychnin — wir alle sind mit Strychnin vergiftet!«

Ja, da allerdings war die Erklärung sofort gegeben! Der Fluch des heiligen Märtyrers hatte eine ganz natürliche Lösung gefunden — freilich nicht eben eine uns beruhigende.

Strychnin ist ein furchtbares Pflanzengift. Diejenigen Pflanzen, welche es in den Blättern, Wurzeln und Früchten — meist Nüssen — sehr reichlich enthalten, kommen hauptsächlich in Australien vor. Man gewinnt das weiße, kristallinische Pulver leicht durch alkoholische Extraktion, aber auch auf andere Weise.

In ganz Australien wird dieses Strychnin, das sich also jeder so leicht selbst herstellen kann, dazu verwendet, um die Dingos, wilde Hunde, das einzige Raubtier Australiens, das unter den Schafherden mörderischen Schaden anrichtet, zu vergiften.

Ein Schaf wird geschlachtet — oder es gibt doch auch immer einmal ein gefallenes Tier — man reibt es innen tüchtig mit dem weißen Pulver ein, läßt es liegen.

In der Nacht kommen die Dingos, fressen von dem Fleische und sterben sehr bald. Am andern Morgen liegen Dutzende von Dingoleichen um den Rest des Schafes, alle mit krampfhaft aufgerissenem Rachen. Denn das Strychnin wirkt hauptsächlich auf das Rückenmark, erzeugt Starrkrampf, der schnell mit dem Tode endet. Doch davon später mehr.

Hat man nicht gleich ein gefallenes Schaf zur Hand, so nimmt man ein verendetes Rind.

Uns waren in Menado zehn Zentner australisches Cornedbeef angeboten worden. 50 Büchsen a 20 Pfund, wie solche auch die englische Marine bekommt, von einem Händler, der sie schnellstens los werden wollte, weil er eben Geld brauchte.

Zwei geöffnete Probedosen, nach Belieben ausgewählt, hatten das vorzüglichste Fleisch enthalten. Wir hatten die 50 Büchsen gekauft, sehr billig.

Die ersten beiden Dosen hatten uns nichts geschadet. Wir hatten unterdessen neun weitere Büchsen verzehrt — wir hatten nichts von einer Strychninvergiftung, nichts auch nur von den leisesten Rückenschmerzen gemerkt.

Es brauchte ja auch nur eine einzige Dose solches mit Strychnin durchsetztes Fleisch zu enthalten. Diese 50 Büchsen enthielten doch nicht nur das Fleisch eines einzigen Rindes. Oder, anders ausgedrückt, von dem mit Strychnin vergifteten Rinde brauchten wir doch nicht sämtliches Fleisch konserviert bekommen zu haben. Das ist doch alles Massenfabrikation. Wer weiß, in welche verschiedenen Erdteile diese giftigen Fleischdosen gegangen waren!

Jedenfalls aber war da eine Schweinerei vorgekommen. In der Konservenfabrik — die aber vielleicht mitten in der Wildnis stand — war jedenfalls ein nicht frisch geschlachtetes Rind verwendet worden, ein schon vorher totgewesenes Tier war eingekocht worden — freilich hatte wohl niemand gewußt, daß das Fleisch mit Strychnin vergiftet gewesen war.

Solch eine Dose hatten auch wir bekommen, hatten das Cornedbeef heute zum zweiten Frühstück gegessen. Aber nur die eigentliche Besatzung, die Exklusiven und die Kajütengäste Für diese, ungefähr 80 Personen, langte solch eine Zwanzigpfunddose gerade so hübsch, da bekam jeder sein Viertelpfund zugeteilt, der Kapitän, die Offiziersmesse und die Patronatskajüte als Aufschnitt.

Die Kinder, die Blaugelben, hatten zum Frühstück etwas anderes bekommen. Die standen auch betreffs der Ernährung unter meiner speziellen Aufsicht. Und was brauchten die Cornedbeef zu haben. Einerseits ist es nur eine Leckerei, anderseits nur ausgekochtes Fleisch, die eigentliche Kraft ist doch schon heraus. Die hatten zum zweiten Frühstück ihre mit kondensierter Milch versüßte Hafergrütze bekommen, welche die Hauptspeise der alten Germanen bildete, welcher noch heute die Gebirgsschotten ihre sprichwörtlich gewordene Muskelkraft und ihren mächtigen Knochenbau verdanken, und dann hinterher hatten sich die 32 Bengels noch mit einem großen holländischen Käse amüsieren können.

Die hatten also kein Cornedbeef gegessen.

Und der Spanier fristete sein Leben bekanntlich nur mit Brot und Zwiebeln.

Und der indische Siddy war ein strenggläubiger Buddhist, dem das Rindvieh heilig ist, der kein Rindfleisch aß.

Und wie nun Doktor Isidor das vernahm — die 32 Kinder verschont geblieben. Siddy und hier unser Prospektador — da kam er sofort auf den Trichter!

»Haben die Kinder heute zum Frühstück von dem australischen Büchsenfleisch bekommen?«

Und wie er diese Frage gestellt hatte, da ging auch sofort der Klothilde ein Licht auf, die sich eben schon genug in Australien herumgetrieben hatte.

»Strychnin!«

Denn so äußert sich die Strychninvergiftung.

In furchtbaren Rückenschmerzen.

Freilich nur, wenn man noch nicht so viel Strychnin geschluckt hat, daß man gleich daran stirbt, oder daß doch nicht sofort Starrkrampf eintritt, der regelmäßig mit dem Tode endet.

Wie das Strychnin eigentlich auf den Organismus wirkt, das wissen wir noch gar nicht. Es scheint, als ob zuerst das Rückenmark angegriffen, gelähmt wird, und diese Lähmung erstreckt sich schnell über den ganzen Körper. Sobald das vergiftete Tier den Rachen aufreißt, der Mensch den Mund, sobald der Krampf die Kinnbacken ergreift, dann ist es vorbei mit ihm.

Ich hatte von Strychnin schon genug gehört, aber doch nichts weiter, als daß es ein furchtbares Pflanzengift ist, welches durch Starrkrampf den Tod herbeiführt, wobei man zuletzt das Maul aufreißt.

Wir hatten mit Strychnin infiziertes Büchsenfleisch gegessen, ungefähr eine Stunde später machte sich die Wirkung urplötzlich bei allen ziemlich gleichzeitig bemerkbar, und ich fühlte bereits, wie ich die Maulsperre bekam — das heißt in meiner Einbildung! So ein eingebildeter Narr ist eben der Mensch.

Ob es ein Gegenmittel gibt, ob noch eine Rettung möglich war, ohne daß wir samt und sonders Zeit unseres Lebens mit aufgesperrtem Maule herumlaufen mußten, das brauchte ich nicht erst zu fragen, darüber äußerte sich unser Doktor Isidor gleich selbst.

Dieser krummbeinige Jude bewies überhaupt bei dieser Gelegenheit, daß er ein ganzer Kerl war, wenn er sich auch auf der Erde herumwälzte und stöhnte und quietschte.

»Wasser, Wasser!« heulte er. »Nach dem Bach! Trinkt Wasser, bis Ihr platzt! Wenn wir keinen Starrkrampf bekommen, sind wir gerettet! Ohne schädliche Folgen! Aber Wasser, Wasser saufen! Das schafft das Gift wieder heraus! Und dann . . . Juba Riata, schickt den Hund an Bord! Sie alle sollen Wasser saufen, immer saufen, bis sie platzen! In meiner Apotheke links oben in vierter Reihe die sechste Büchse — Diuxetin steht dran! Aller halben Stunden einen . . . halt, ich schreibe es auf! Wir müssen . . . «

Er sagte, was wir mußten.

Es ist zu dumm, daß man so etwas nicht wiedergeben kann.

Hier wurde freilich kein Blatt vor den Mund genommen.

Wenns brennt, springt sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemd zum Fenster heraus, und bei uns brannte es ganz bedenklich.

Ich will es kürzer beenden, die vielleicht grausigste Szene meines Lebens — man muß sich die ganze Sache nur richtig vorstellen — will nicht mehr brüllen und stöhnen und wimmern und quietschen lassen.

Wir schleppten und rollten uns nach dem Bache, der zum Glück nicht weit entfernt war. Im langsamen Gehen nur fünf Minuten, auf diese Weise brauchten wir zwanzig.

Unser Prospektador zeigte sich gleich wieder ganz energisch, rannte davon, kam wieder, hatte seinen Sombrero mit Wasser gefüllt, hielt sich wohl verpflichtet, mir als Waffenmeister und Kargo—Kapitän als erstem das Leben zu retten. Der Bach schien kalte Bouillon zu enthalten. So eine Fettschicht schwamm auf dem Wasser in dem Filz. Und ehe ich diese Kraftbrühe, aus des Spaniers Kopf gezogen, einer anderen Person anbieten konnte, etwa der Patronin, hatte der Spanier durch eine ungeschickte Bewegung auch schon wieder das ganze Wasser ausgeschüttet.

Mit solchen kleinen Wassermengen war hier überhaupt nichts zu machen.

Wieder war es Doktor Isidor, der anordnete, daß der Spanier erst die beiden Zwerge an den Bach trug. Gerade diese beiden kleinen Menschlein wurden ganz fürchterlich herumgerissen. Bis das geschehen war, hatten auch wir anderen den Bach erreicht, jeder so gut wie er konnte.

Und nun ging die Pantscherei los. So ein alter, echter Münchner, allabendlicher Stammgast im Hofbräu, ders nicht unter zehn Maß tut, hätte seine Freude an uns gehabt. Das heißt, wenns Bier gewesen wäre. Hier hätte er ja ohne Grund nicht mitgemacht.

Töpfe und dergleichen hatten wir nicht mitgenommen, aber jeder hatte doch eine Mütze. Wer sich gleich ins Wasser setzen wollte, konnte das ja auch machen. Und wir zechten, daß, wenn dort weiter unten am Bachesrand Leute wohnten, die sich wundern mußten, wo denn plötzlich das Wasser bliebe.

Es gibt auch wirklich kein anderes Mittel. Man kennt keines gegen Strychnin. Nur die Erfahrung hat gelehrt, daß Rettung noch möglich ist, wenn man das Strychnin durch möglichst vieles Wassertrinken wieder aus dem Körper schafft, so lange sich noch kein Starrkrampf bemerkbar macht, und am besten ist dieser schnelle Stoffwechsel durch harntreibende Mittel zu unterstützen.

Dafür wurde denn auch bei uns gesorgt. Nach noch nicht ganz einer halben Stunde kamen gleich mehrere Hunde angesprungen, die uns das betreffende Medikament brachten, und Doktor Isidor verteilte die Pülverchen. Genau so wurde es natürlich an Bord gehalten, dort hatte der vierbeinige Depeschenbote schon instruiert, und dieser Depeschendienst wurde weiter aufrecht gehalten, es kamen immer beruhigendere Nachrichten.

»Ilse erholt sich merklich wieder, versichert kaum noch Schmerzen zu haben. Martin.«

Na‚ dann war es gut. Das Kind hatte auch nur ein Scheibchen von dem Teufelszeug gegessen. Aber unsere Ilse war doch unsere Hauptsorge gewesen. Auch schon wegen der Patronin. Denn die hatte durchaus hinuntergewollt, nur wegen des Kindes ihres Bruders. Ach, hatte die gebrüllt! Weil sie eben vor Schmerzen nicht konnte. Ich mag gar nicht dran denken. Nun aber konnten wir der weiteren Entwicklung mit Ruhe entgegensehen.

Das Wasser half. Die Schmerzen schwanden bei allen ohne Ausnahme sichtlich, oder vielmehr merkliche. Gegen ein Uhr stellte sich bei allen eine große Müdigkeit ein. Aber die hatte nichts mit unserer Vergiftung zu tun, sondern war im Gegenteil ein Zeichen der Gesundheit, daß wir wieder normal wurden.

Denn wie ich unser Sandbankleben beim ersten Male ausführlich beschrieben habe, wir waren hier gewöhnt, nachts bis gegen zwei Uhr aufzubleiben — Moskitofang bei elektrischem Licht und dergleichen — bei Sonnenaufgang wieder aufzustehen und dann des Mittags eine ausgiebige Siesta zu halten. Das hatten wir nun auch schon wieder fünf Wochen so getrieben, das zweistündige Nachmittagsschläfchen war uns zum Bedürfnis geworden.

Allein Doktor Isidor riet uns, die Neigung zum Schlaf zu bekämpfen. Wir taten es, aber es ward uns wirklich schwer, sehr schwer. Vielleicht mochte doch die Erschöpfung durch die Schmerzen mit beitragen, auch ich konnte mich des Schlafes kaum erwehren.

»Na‚ Kinders, da erzählt ein paar gute Witze!« munterte Klothilde auf.

Jawohl, uns war gerade zum Witze erzählen zumute! So weit waren wir noch lange nicht.

»Na‚ da will ich den Anfang machen!« blieb jedoch Klothilde dabei. »Aber diesmal will ich — autsch! — nichts von mir selber erzählen, kein Erlebnis, sondern eine aaauuutsch! — Gespenstergeschichte. Weil wir hier doch auch eine Gespenstergeschichte erlebt haben. Denn daß dieses Gold hier verhext ist, das ist doch — aaaauuuh, jetzt stachs wiedermal im Rücken! — gar kein Zweifel! Also eine Geistergeschichte, die tatsächlich passiert ist, auch wenn ich nicht mit dabei gewesen bin.«

Und Klothilde erzählte.

Ich will diese wahrhaftige Geistergeschichte dem Leser nicht vorenthalten. Nur gebe ich sie in etwas anderer Fassung wieder, flechte nicht ab und zu ein »au« oder »autsch« ein, wie es die Erzählerin tat, und was dieses Teufelsweib für Grimassen schneiden konnte, das habe ich ja schon früher erwähnt.

Also:

Die Geisterhand von Black Castle.

Eine wahre Gespenstergeschichte. Tausend Mark Prämie demjenigen, der beweist, daß so etwas nicht passieren kann.

War da eine lustige Gesellschaft englischer Aristokraten bei Lord Walsome, dessen Schloß, eine ehemalige Ritterburg, hoch oben auf dem schwarzen Felsen von Walsomecliff trotzig seine Türme und Zinnen zum Himmel reckte. Es heißt noch heute Black Castle, die schwarze Burg. Diese grausige Geschichte ist übrigens vor noch gar nicht so langer Zeit passiert.

Morgen sollte Jagd auf Hochwild sein, heute abend kreiste der Pokal. Manch Märlein wurde erzählt, auch der Vergangenheit dieses Schlosses gedacht.

»Spukt in dem Turmzimmer immer noch die Geisterhand?« fragte jemand.

Der Schloßherr nickte trübe.

»Ja, leider. Immer noch. Und das wird wohl auch nie anders werden.«

»Was, Spuk! Was Geisterhand?!« erklang es von verschiedenen Seiten.

»Sie kennen das noch nicht?«

»Kein Wort!« riefen die meisten. »Erzählen, erzählen!«

»Die Geschichte ist ganz einfach, wenn man so etwas einfach nennen kann. Da ist hier einmal vor hundert und mehr Jahren ein Roßhändler hergekommen, hat dem Burgherrn sein Pferd angeboten. Der Gaul schien schon, wenigstens nach den Zähnen, seine zwanzig Jahre auf dem Buckel zu haben, war wohl nur mit Arsenik oder mit einem ähnlichen Teufelsmittel so rund und für einige Stunden so feurig gemacht worden, aber der Jude hob seine Hand zum Schwure empor. Und sagte feierlich: Der Gott meiner Väter soll mer erscheine lasse jede Nacht meine Hand vor dem Bette, wenn das Pferd älter ist als sechs Jahre!

Da hat der Burgherr das Pferd gekauft. Der Jude ist im Turmzimmer über Nacht geblieben. Am anderen Morgen fand man ihn tot im Bett. Ein Herzschlag. Andere sagten, die Läuse hätten ihm das letzte Stückchen Niere aufgefressen. Und am Abend war der Gaul klapperdürr und stolperte über seine eigenen Beine.

Ein Kammerjäger wurde beordert, der säuberte das Turmzimmer von der lebendigen Hinterlassenschaft des Juden. Weil er an einem Tage nicht fertig wurde mit den vielen Tierchen, legte er sich am Abend gleich auf das Bett, um mit dem ersten Morgensonnenstrahl mit fröhlichem Halali gleich wieder auf die Jagd gehen zu können. Er schlief ein. Mit einem Male erwachte er durch einen kühlen Lufthauch, der über ihn hinstrich. Der Vollmond schien in das Turmzimmer. Und da sah der Mann zu seinen Füßen am Bettrand eine große, weiße Hand, so groß, wie der Roßtäuscher sie gehabt hatte. Gerade verkündete die Turmuhr die zwölfte Stunde, und eine volle Stunde, bis es eins schlug, stand die Hand so da. Dann verschwand sie wieder.

Während dieser ganzen Stunde konnte der Kammerjäger kein Glied rühren, war wie erstarrt, mußte unverwandt nach der Hand blicken. Geschadet hatte es ihm ja weiter nichts. Nur wurde er dann in seinem Berufe so unsicher, daß er nicht einmal mehr einen lahmen Floh zur Strecke bringen konnte. Infolgedessen soll er dann noch die juristische Laufbahn betreten haben, wobei man nicht so zu eilen braucht. Das ist die ganze Geschichte.«

So hatte der Gastgeber geschlossen.

»Und dieser Spuk existiert jetzt noch?« wurde ungläubig gefragt.

»Heute noch. Regelmäßig bei Vollmond. Während meiner Zeit haben es zwei Männer gewagt, bei Vollmond in dem Turmzimmer zu schlafen. Beide sind um Mitternacht von dem kühlen Luftzug geweckt worden, beide haben die große, leuchtende Hand erblickt. Das heißt, es darf nur ein einziger im Turmzimmer sein, er muß im Bett liegen. Bei zwei Personen kommt der Spuk nicht. Ich spreche von zwei verschiedenen Fällen. Geschadet hat es ja keinem, aber . . . nicht für alles Geld der Welt noch einmal! Und das ist ein Faktum!«

»Haben Sie den Spuk selbst schon gesehen?« fragte ganz aufgeregt Baron Naugham.

Dieser junge Baron war erst kürzlich von einer Reise um die Erde zurückgekehrt, erzählte fortwährend die haarsträubendsten Jagd— und Abenteuergeschichten, renommierte mit seinen Heldentaten, nahm es sehr übel, wenn man ihm nicht volle Aufmerksamkeit schenkte. Er allein wollte immer das Wort führen.

»Nein, ich mache solche Experimente nicht, für mich genügt die Aussage glaubwürdiger Zeugen!« entgegnete Lord Walsome.

»Ach, das ist ja Unsinn! So etwas gibts ja heutzutage gar nicht mehr!« rief der Baron.

»Ich weiß es nicht. Ich habe die beiden Herren für glaubwürdig gehalten.«

»Das sollte man doch einmal versuchen!« sagte ein anderer. »Heute ist ja gerade Vollmond.«

»Ja, wer wagts?!« erklang es im Chor.

»Na‚ was gibts denn da zu wagen!« rief Baron Naugham. »Ich bin in Indien bei Heiderabad einmal in einem Leichenturm gewesen, da . . . «

»Ist in dem Turmzimmer ein Bett?« wurde er schleunigst unterbrochen, denn sonst kam wieder eine endlose Geschichte.

»Die alte Bettstelle steht noch da, es braucht nur eine Matratze hineingelegt und sonst alles vorgerichtet zu werden.«

»Baron, wagen Sies?«

»Na, was gibts denn da zu wagen! Ich habe einmal in Neuyork in einer Leichenkammer . . . «

»Es muß also ein einzelner sein!« sagte Lord Walsome nochmals.

»Na‚ denken Sie etwa, ich fürchte mich? Ich bin in Südafrika einmal in einem offenen Grabe . . . «

»Baron, wenn aber der Spuk schon um Mitternacht losgeht, dann müssen Sie sich beeilen, es ist schon zehn Minuten über elf.«

»Ich bin bereit.«

Gut, der Schloßherr gab sofort Order, das Turmzimmer vorzurichten, das war schnell geschehen, alle Herren begleiteten den Baron hinauf.

Es war ein rundes, nacktes Zimmer, das nur das schon gemachte Bett enthielt, daneben ein Nachttisch, nichts weiter. Der Vollmond schien bereits herein.

»Aber ich bin für nichts verantwortlich, was auch passiert und was es auch für Folgen haben mag!« sicherte sich der Gastherr noch.

»Selbstverständlich! Und ich wiederum mache die Herren darauf aufmerksam, daß ich hier auf den Nachttisch meinen geladenen Revolver lege. Wenn man mich etwa schrecken will, wenn ein Mummenschanz kommt — ich verfehle mein Ziel nie! Ich habe in China einmal . . . «

»Aber, Baron, wer denkt denn an so etwas!«

»Dann ist's gut. Muß man denn schlafen? Kommt der Spuk auch, wenn man wacht?«

»Das weiß ich nicht. Man schläft wohl durch höhere Gewalt ein.«

Noch einige humoristische Warnungen und Wünsche, und die Herren stiegen wieder hinab.

Schon unterwegs auf der Turmtreppe lachten sie sämtlich sich ins Fäustchen.

»Gott sei Dank, daß wir diesen Schwätzer mit seinen furchtbaren Aufschneidereien endlich los sind, das war ja gar nicht mehr auszuhalten! Jetzt können wir uns erst gemütlich unterhalten.«

Also nur darauf war von vornherein alles zugeschnitten gewesen, den Baron zu entfernen, ihn ins Bett zu bringen, was nur nicht sein eigenes hatte sein können. Jedoch zirkulierte wirklich solch eine Spukgeschichte über das Turmzimmer, darin hatte Lord Walsome die Wahrheit berichtet. Nur daß die Geisterhand noch niemand gesehen hatte.

Und die übermütigen Herren ahnten nicht, was sie dem jungen Baron für ein furchtbares Geschick bereiteten! Denn der sollte wirklich einen Spuk erleben, die Geisterhand wirklich zu sehen bekommen, und mit was für schrecklichen Folgen!

Wir bleiben in dem Turmzimmer bei dem Unglücklichen.

Furcht kannte der junge Bärenbinder tatsächlich nicht, das mußte man ihm lassen. Er sah sich noch einmal um, auch unters Bett und in den Nachttisch! legte dann auf diesen seinen entsicherten Revolver, schloß die Tür, entkleidete sich, legte sich zu Bett, löschte das Licht aus.

Er schlief denn auch sehr bald ein. Allerdings bestand die »höhere Gewalt« wohl nur in dem reichlich genossenen Punsch.

Wie lange er geschlafen hatte, wußte er nicht, als ihn ein kühler Lufthauch weckte, der vom Fußende her zu kommen schien.

Der Vollmond schien jetzt direkt ins Zimmer, eben schlug es die zwölfte Stunde und . . . dort am Fußende seines Bettes zeigte sich eine große, weiße Hand!

Fassungslos starrte der Baron sie an. Aber bewegen konnte er sich noch, und kouragiert war der junge Mann wirklich.

Schnell griff er nach seinem Revolver.

»Hand dort weg, oder ich schieße!« schrie er. »Eins zwei . . . «

Die Hand wich nicht.

»Drrrrr . . . «

Puff!

Sein unfehlbarer Revolver hatte gekracht.

Die Folgen waren fürchterliche.

Wie soll ich das Folgende nun schildern?

Am nächsten Morgen konnte Baron Naugham nicht mit auf die Jagd gehen.

Weshalb nicht?

Acht Tage lang lag der unglückliche junge Mann im Bett, konnte weder gehen noch stehen.

Er hatte sich von seinem linken Fuße die große Zehe abgeschossen.


Die Erzählung war beendet.

Einen Kommentar bedarf sie wohl nicht.

Solch einen Schluß hätte nun freilich niemand von uns erwartet.

Und wie Klothilde nun zu erzählen verstand, wie die uns immer mehr in Spannung versetzt hatte!

Wir lachten, daß uns die Augen tränten.

Ja, wir konnten wirklich lachen, so sehr uns dabei auch der Rücken schmerzte — es war wirklich die beste Medizin gewesen, die uns Klothilde eingeflößt hatte, zum ersten Male konnten wir wieder aufstehen.

»Na‚ Jungens, dann machen wir uns auch gleich auf den Rückweg!«

Es geschah. So sauer es uns auch wurde. Und wenn wir dazu auch zwei Stunden brauchten, in dem schrägen Tunnel immer auf dem Hosenboden rutschten — wir kamen an Bord. Natürlich hatten wir alles zurückgelassen.

Wenn die Erkrankten an Bord unterdessen auch schon ganz bedeutend den Weg der Besserung beschritten hatten, ohne so herzlich gelacht zu haben wie wir, so schrieben wir das nur der Schwitzkur zu, die sie inzwischen schon in ihren Kojen hinter sich hatten.

Das taten jetzt auch wir, ließen uns von den Kindern gut einpacken. Doktor Isidor gab uns noch einige Pülverchen, und schon gegen sechs Uhr fiel ich für meinen Teil in einen todesähnlichen Schlaf.

Als ich erwachte, stand die Sonne schon etwas über dem Horizont. Vorsichtig wollte ich meine Glieder bewegen. Aber es war gar keine Vorsicht mehr nötig. Mit einem Juchzer sprang ich aus der Koje, fühlte mich wie ein neugeborener Mensch. Und dasselbe galt von allen anderen ohne irgend welche Ausnahme, die Schmerzen waren gänzlich verschwunden, das Strychnin war vollständig aus dem Körper herausgeschafft worden und hatte keine Spur einer nachteiligen Folge hinterlassen.

Ein gnädiger Gott war mit uns gewesen! Es hätte ja auch ganz anders ablaufen können, trotz unseres erfahrenen Schiffsarztes Wasserkur.

Wir frühstückten nach bald vierundzwanzigstündigem Fasten wie die verhungerten Wölfe, denn gestern hatte niemand Appetit gehabt. Natürlich kein Cornedbeef wieder! Daß die noch vorhandenen 38 Dosen gleich über Bord wanderten, brauchte ich wohl nicht erst zu sagen.

Die Dose, die zum gestrigen Frühstück verwendet worden, war noch vorhanden. Doktor Isidor konnte in den Fleischresten, die an den Wänden klebten, wirklich Strychnin nachweisen

Wir wollten ein andermal beim Kaufen von Lebensmitteln aus unbekannter Quelle vorsichtiger sein. Freilich weiß man da niemals, wo man mit der Vorsicht anfangen und aufhören soll. Mit einer Hummerdose aus dem feinsten Delikatessengeschäft kann man sich genau so und noch ganz anders vergiften.

Und dann machten wir uns natürlich zum zweiten Male auf den Weg, um nun wirklich das Gold herauszuholen.

Da gab es doch nichts! Auch der Spanier sagte kein Wort mehr von dem auf dem Golde ruhenden Fluche, sagte überhaupt gar nichts, ging schweigend mit.

Also die Expedition setzte sich genau aus denselben Personen wie gestern zusammen. Andere hätten sich ihr ohne Erlaubnis auch gar nicht anschließen können, höchstens der Kapitän, aber der verließ doch jetzt das Schiff nicht.

Nach dreiviertel Stunden standen wir wiederum vor dem Tale und blickten auf das in der Sonne gleißende Gold hinab.

Ich selbst seilte mich an, um wiederum zuerst den kleinen Goldblock heraufzubefördern. Dabei sah ich wohl was Helene für ein ängstliches Gesicht machte, aber sonst tat sie nichts, dazu hatte sie doch einen zu starken Charakter.

Alles Weitere, was mit diesem Golde im Werte von vielleicht ungezählten Milliarden zusammenhängt, mache ich so kurz wie möglich ab.

Ich schwebe hinab, erreiche den Grat, mache den Schritt, der mich noch von dem Goldwürfel trennt, blicke mich, ergreife ihn, hebe ihn . . .

Da bekomme ich abermals einen Hexenschuß!

Aber einen ganz anderen als gestern.

Es ist nur ein jäher Schreck, der mich durchzuckt. Nämlich weil der Goldblock so ungemein leicht ist.

Ich habe seine Schwere doch auf mindestens 130 Pfund berechnet, und jetzt finde ich, daß es höchstens 20 Pfund sein können!

Und wenn man sich anschickt, ein schweres Gewicht zu heben, die Muskeln dazu anspannt, und man hebt plötzlich eine Leichtigkeit, so erschreckt man dabei tatsächlich, genau so, wie wenn man im Finstern glaubt, jetzt kommt eine sehr tiefe Stufe, und dann findet man nur einen ganz geringen Absatz.

Ja, wie ist denn das möglich, daß dieser Goldwürfel so leicht ist?

Sollte er hohl sein?

Aber ich brauche nur das Gold etwas näher zu betrachten, die faserige Struktur, die Fasern und Blättchen lösen sich unter meinen Fingernägeln sogar ab, da geht mir sofort die Erkenntnis auf.

Und ich breche in ein unbändiges Lachen aus.

Ja, es ist tatsächlich Hexengold, das uns der Spanier hier hat finden lassen!

Hexengold, auch Katzengold genannt.

Eine goldglänzende Spielart des Glimmers.

Wie man solche Streifen häufig in der Steinkohle findet.

Ein ganz wertloses Zeug.

Und — alles andere, was hierzu gehört, mache ich nun vollends ganz kurz — von derselben Beschaffenheit waren die sämtlichen Goldblöcke!

Einfach ein Tal, in dem solches Hexen- oder Katzengold, gelber Glimmer, massenhaft vorkam!

Die einstigen Bewohner dieses Tales hatten mit solchen goldglänzenden Glimmerplatten ihre Dächer geschmückt, hatten mit solchen Glimmerplättchen die Säulen und Mauern ihrer Häuser beklebt!

Und als diese Erkenntnis eine allgemeine geworden war, da sahen wir uns vergeblich nach unserem Prospektador um, was der nun dazu sagen würde.

Der Spanier war spurlos verschwunden, hatte englischen Abschied genommen.

Jetzt hatte der noch nachträglich von dem Hexengold seinen Hexenschuß bekommen, hatte sich schleunigst an Bord begeben, hatte sein Boot bestiegen und war davongerudert.

Ein schallendes Gelächter klang ihm nach, wenn er es auch nicht mehr hören mochte.


44. KAPITEL.
NEUE WERBUNGEN.

»Georg, glaubst Du an Ahnungen?«

So fragte mich Helene drei oder vier Stunden später, als wir alle schon unten in den Ruinen herumkrochen.

Die verlassene Stadt erwies sich in der Nähe doch nicht so wohlerhalten, wie sie von oben aus den Eindruck gemacht hatte. Sonst habe ich über sie weiter nichts zu sagen. Wir fanden nichts Interessantes, kein Skelett, kein Hausgerät, gar nichts. Und solcher Ruinenstädte, von einer ausgestorbenen Menschenrasse aufgebaut, gibt es in ganz Amerika so zahllose, daß ein Altertumsforscher wohl schwerlich die weite Reise unternommen hätte, nur weil man hier zur Verzierung der Gebäude, die sonst gar keine architektonische Merkwürdigkeit bildeten, Platten und Plättchen von dem in diesem Tale so häufigen Goldglimmer benutzt hatte. Und ob dies doch vielleicht das sagenhafte Eldorado sei, das war eine ganz zwecklose Frage.

»Georg, glaubst Du an Ahnungen?«

Mit diesen Worten drehte sich Helene plötzlich nach mir um. Wir befanden uns gerade in einer mit Trümmern bedeckten Straße.

Ich blicke in ein wenn nicht verstörtes so doch höchst ängstliches Gesicht und in eben solche Augen.

»Um Gott, Helene, was ist denn geschehen?!«

»Ob Du glaubst, daß es so etwas wie Ahnungen gibt, frage ich!«

Ja, an so etwas glaube ich.

Ich selbst habe in meinem Leben nie so etwas gehabt. Also die Vorahnung eines künftigen Ereignisses. Man sagt zwar manchmal, auch ich gebrauche es wohl häufig: »Das habe ich geahnt — ich habe die sichere Ahnung . . . « und dann ereignet es sich wirklich. Vielleicht — vielleicht auch nicht. Das meine ich hier natürlich nicht. Ich meine also die Vorahnung eines künftigen Ereignisses, besonders eines solchen, das tief in das eigene Schicksal greift, wenn eine Person stirbt, die man sehr liebt, und man weiß in weiter Ferne, daß sie jetzt mit dem Tode ringt, oder daß ihr sonst etwas zugestoßen ist — man weiß es ganz bestimmt, ohne daß man sich irgendwie Rechenschaft geben kann, und hinterher erfährt man, daß es Tatsache gewesen ist . . .

Nun, der Leser versteht schon.

Nein, ich selbst habe niemals solch eine Vorahnung gehabt. Mir sind gar liebe Personen gestorben, mein Vater, er hat auf seinem Sterbebett nur an mich gedacht, sein heißester Wunsch war, mich noch einmal zu sehen — und ich habe weder ein »Gesicht« gehabt noch sonst irgend eine Ahnung.

Aber ich bin direkt gezwungen worden, daran zu glauben, daß es doch so etwas gibt.

Ich will ganz schlicht die Tatsache erzählen.

Als ich in Hamburg die Navigationsschule besuchte, war ich bei einem weitläufigen Verwandten meiner schon verstorbenen Mutter in Pension, bei einem Bahnassistenten und dessen Frau, die überhaupt, um ihr Einkommen zu verbessern, immer einige Pensionäre nahmen.

»Mit mir zusammen war noch ein Gymnasiast, ein sechzehnjähriger Untersekundaner, der Sohn eines Holsteiner Gutsbesitzers. Er war ein äußerst aufgeweckter, etwas frühreifer Junge, machte gern ein Kneipchen mit und war schon etwas sehr hinter den Frauenzimmern her. Aber deswegen war nichts zu sagen. Er war sonst ein ganz braver Junge, machte seine Sache in der Schule, war immer unter den ersten, führte sich tadellos. Er war schon sechs Jahre bei meiner Tante in Pension, eben seitdem er das Gymnasium besuchte, nie hatte er Grund zur Klage gegeben. Seine Klassenkameraden kneipten auch schon, machten einen Ausflug mit anschließendem Kommers, das ist nun einmal so in Untersekunda und schon vorher. Artur wäre ein Mucker gewesen, wenn er da nicht mitgemacht hätte, mit seinem Taschengeld kam er dabei aus, und wenn er einmal mit einer Kellnerin poussierte na‚ das ist nun einmal so in diesen Jahren, da fängt die Geschichte an.

Meine Tante war eine ganz ausgezeichnete Frau, war ihren Pensionären eine wirkliche Mutter. Wenn sich Artur nicht tadellos geführt hätte, so würde sie ihn niemals behalten haben, nicht für alles Geld der Welt.

Eines Sonnabendnachmittags will sie wie gewöhnlich auf den Markt gehen, auch ich muß in die Stadt, begleite sie ein Stück, Artur will Schularbeiten machen, ist ganz allein zu Hause.

Wir sind vielleicht erst zehn Minuten unterwegs, wir plaudern harmlos zusammen, als meine Tante, den Marktkorb am Arme, plötzlich stehen bleibt und mich ganz verstört anblickt . . .

»Ich weiß nicht . . . ich muß wieder nach Hause . . . da ist etwas passiert . . . mit Artur —!«

Umgedreht, und in vollem Galopp zurückgerannt! Wirklich gerannt, daß alle Menschen stehen bleiben.

Ich hinterher.

»Was ist denn nur los?«

»Ich weiß nicht . . . unser Artur . . . o Gott, o0 Gott, daß ich nur nicht zu spät komme . . . «

Und so ins Haus hinein, die zwei Treppen hinauf, die Vorsaaltür aufgeschlossen, nach Arturs Zimmer . . .

Dessen Zimmertür ist verschlossen!

»Aufgemacht, aufgemacht!« donnert meine Tante dagegen und versucht die Tür zu erbrechen, reißt fast die Klinke ab.

Drinnen wird ein Stuhl gerückt. Artur öffnet die Tür, mit einem sehr roten Kopfe.

»Artur, was hast Du tun wollen?!«

Mit diesen Worten greift ihm meine Tante sofort in die rechte Rocktasche — und nicht etwa, daß er nach dieser eine verdächtige Bewegung gemacht hätte — zieht einen Strick hervor, mit einer Schlinge daran.

Und da gesteht der Junge! Er hat vor einiger Zeit in seiner Klasse Geld kassiert, 40 Mark, um eine gemeinschaftliche Bücherrechnung zu bezahlen, hat das Geld in einer Animierkneipe verjuxt, übermorgen, am Montag, muß die Sache herauskommen, er weiß nicht, wie er sich das Geld noch verschaffen soll, will es nicht gestehen — da hat sich der Bengel aufhängen wollen, hat soeben schon auf dem Stuhle gestanden, den Strick am Nagel, die Schlinge um den Hals. — —

Das ist eine Tatsache, die ich erlebt habe, die ich durch nichts aus der Welt schaffen kann.

Meine Tante in ihrer furchtbaren Verantwortlichkeit für den ihrer Fürsorge anvertrauten Zögling wurde von einer geheimen Gewalt noch rechtzeitig zurückgetrieben.

Auf jede andere Erklärung verzichte ich.

Für so etwas gibt es überhaupt gar keine Erklärung.

Nur so manchmal denke ich daran, was wohl mit dem Manne passiert wäre, der vor 25 Jahren behauptet hätte, es wäre möglich, einem Menschen die Knochen im Leibe zu photographieren. Oder noch später, es wäre möglich, ohne Draht zu telegraphieren.

Zwar ist das etwas ganz anderes, hierbei handelt es sich doch um ein physikalisches oder sogar mechanisches Problem, das zu lösen ist, aber . . . ein Vergleich liegt doch sehr nahe.

Jedenfalls bin ich damals überzeugt worden, daß es so etwas wie eine Vorahnung doch gibt. Denn dann noch nicht daran zu glauben, das wäre eine Sünde wider den heiligen Geist. Dann noch von einem »Zufall« zu sprechen, das wäre schon mehr heller Wahnsinn.

Erwähnen will ich noch, daß die Rechnung natürlich sofort bezahlt wurde, und es geschah noch rechtzeitig, es kam nichts heraus. Und meine Tante behielt den Jungen nun doch bei sich. Nun gerade! Und er machte seine Schul— und Universitätszeit glatt durch — heute ist er Studienrat.

Und nun stelle man sich vor, wenn die brave Frau nach Hause gekommen wäre, und der Junge hätte dort am Nagel gehangen!

»Ja, ich glaube, daß es so etwas wie Ahnungen geben kann!« entgegnete ich jetzt auf Helenes nochmaliges Fragen.

Von meinem eigenen Erlebnis hatte ich ihr noch nichts erzählt, tat es auch später nicht, es hatte ja keinen Zweck.

»Ich weiß nicht . . . mir ist es, als ob . . . als ob . . . ich nach Neuyork müßte!«

»Wegen Deines Bruders?«

»Ja. Als ob dem etwas zugestoßen sei. Das heißt, nicht etwa, als ob ich eine ganz bestimmte Ahnung hätte — aber . . . mich drängt es plötzlich nach Neuyork!«

»Ich weiß schon, ich weiß schon.«

»Und das sofort, sofort!«

Sie geriet immer mehr außer sich.

»Ja, Helene, dann entweder — oder. Willst Du hier bleiben oder aufbrechen.«

»Ich muß nach Neuyork, und das sofort, sofort!«

Und dabei war sie schon unterwegs mit großen Schritten, ich hinter ihr her.

»Mit dem ganzen Schiffe?«

»Ja natürlich ich trenne mich doch nicht von meinem Schiffe, von meinen Leuten!«

»Nun, das ist nicht so ganz natürlich. Wenn Du so schnell wie möglich nach Neuyork kommen willst!«

»Sicher, sicher, so schnell wie möglich! O, Georg, wüßtest Du, wie mir plötzlich zumute ist!«

» . . . dann solltest Du den Weg über New—Orleans benutzen, also von dort aus mit der Eisenbahn.«

»Richtig, richtig, das machen wir!«

»Ich hätte auch Lust, die Jungen und besonders die Kinder einmal sich allein zu überlassen, das heißt unter Juba Riatas Führung, der hat hier viel vor, er hat schon einige Andeutungen gemacht, und ich wäre begierig, wie die sich in einigen Wochen entwickelt hätten, ohne daß ich immer Zeuge der einzelnen Phasen bin.«

»Ganz wie Du willst, ganz wie Du willst.«

Wir hatten den Aufzug erreicht. Unterdessen war oben schon ein tüchtiger Balken verankert worden, der Förderkorb faßte vier Personen und trug noch eine ganz andere Last. In wenigen Minuten waren wir oben.

Alles Weitere fasse ich kurz zusammen.

Helene fügte sich ganz meinem Plane.

Das Schiff blieb hier liegen, die Barkasse brachte uns nach Para, unter Ernsts Führung, der versicherte, den Rückweg finden zu können, was er dann auch bewies. Schon jetzt, indem er sich ja erst aus dem Wasserlabyrinth heraus in den Amazonenstrom finden mußte, welche Aufgabe er ohne mein Einreden glatt löste. Außerdem nahmen wir zwei Seehunde mit, im Boote liegend. Für solch eine weite Strecke hatten diese Wassertiere allerdings noch keine Probe abgelegt, aber sie führten sie dann wirklich aus, sollten später noch ganz andere Proben ihres Orientierungssinnes ablegen.

Wir kamen in Para an, hatten manchen Dampfer überholt. Die Patronin sofort auf die Telegraphenstation.

Schon nach einer Stunde kehrte sie in das Hotel zurück, in dem die Leute mindestens einen Tag ruhen sollten.

»Georg, mein Bruder ist tot!«

An dem Tage und wahrscheinlich in der Stunde, da sie die Ahnung gehabt, war er im Gefängnis einer akuten Lungenentzündung erlegen.

Ja, nun allerdings mußten wir schnellstens nach Neuyork! Wegen der Hinterlassenschaft, wegen der Brieftasche mit dem Situationsplan.

Und schon in zwei Stunden ging ein Uniondampfer von Para ab direkt nach Neuyork, den wollten wir beide benutzen. Denn bei direkter Fahrt dauerte es nicht länger als mit der Eisenbahn.

Also die Barkasse ging schon morgen zurück. Na ja, die siebzehn Kerls konnten doch nicht hier untätig liegen bleiben, oder das wollte ich doch nicht, wer wußte denn, wie lange wir ausblieben, was wir wegen der Herausgabe der Sachen für Umständlichkeiten hatten, auch sollte der Bruder noch ein anständiges Begräbnis finden. Denn vorläufig war er doch auf dem Friedhofe der Ehrlosen eingescharrt worden.

Wie wir uns dann nach dem Schiffe zurückfanden, darüber brauchten sich die anderen nicht den Kopf zu zerbrechen, das war meine Sache, und ich wollte es schon fertig bringen, so oder so.

Abschied genommen und zum Hafen hinaus. Weshalb wir nach Neuyork wollten, das freilich wußte niemand. Ich war der einzige, den die Patronin in das unglückliche Schicksal ihres Bruders eingeweiht hatte. Es brauchte doch auch niemand zu erfahren, daß der Vater der kleinen Ilse im Zuchthause saß, ob nun unschuldig oder nicht. Die Patronin hatte in Neuyork eben etwas Geschäftliches zu erledigen — basta!

Von Para nach Neuyork sind es rund tausend Seemeilen, die der Dampfer in vier Tagen und Nächten tadelloser Fahrt machte. Ich will nicht schildern, wie der verstorbene Zuchthaussträfling exhumiert wurde und bei Brooklyn auf einem Stückchen gekauften Landes ein anständiges und auch feierliches Begräbnis fand, und was wir dann für Scherereien hatten, ehe die erbberechtigte Schwester die aufbewahrten Sachen ausgeliefert bekam.

Endlich erhielten wir das versiegelte Paket. Alles war vorhanden, wie es das Protokoll aufzählte, auch die rote Brieftasche mit den gleichfalls numerierten Papieren darin.

In unserem Hotel trennten wir die Nähte auf, ein Pergament kam zum Vorschein, auf diesem eine Zeichnung und viele Bemerkungen in englischer Sprache.

Auf eine weitere Beschreibung verzichte, ich eine verständliche könnte ich doch nicht geben.

Also es war der Situationsplan, nach dem wir uns von der Argonautenbucht im Feuerlande dorthin finden konnten, wo vor 300 Jahren der Flibustierkapitän van Horn sein Schiff, die »Desolation« samt allen an Bord befindlichen Schätzen, die er zusammen geraubt, versenkt haben sollte.

»Wieviel Tonnen Gold waren es gewesen?« fragte ich.

»Zwanzig Tonnen.«

»Der Teufel noch einmal, das wären ja schon wieder rund vierzig Millionen Mark! Bei uns müssen es wohl immer vierzig sein, entweder Millionen oder Milliarden, Mark oder gar Dollars!«

»Und dazu noch unermeßliche Schätze an Edelsteinen.«

»Na, na, wenn sich nur nicht wieder alles in Hexengold und Katzensteine verwandelt!« lachte ich.

»Aber nachsuchen tun wir doch.«

»Na sicher!«

Zuerst aber hatten wir in Neuyork noch etwas anderes zu tun, machten eine Erwerbung, die mir viel lieber war als alle Schätze der »Desolation« und vielleicht der ganzen Erde. Wenigstens mir viel lieber. Ich bin nun einmal so. Und die Patronin war es wohl erst recht

Ein guter Stern hatte uns gerade jetzt nach Neuyork geführt, daß wir diese Erwerbung, die mit keinem Golde zu bezahlen ist, machen konnten.

Die Sache war folgende:

In Neuyork und Brookiyn und sonstiger Umgegend, wo es so massenhaft Deutsche gibt, existieren doch ganz selbstverständlich viele deutsche Turnvereine. So selbstverständlich wie Gesangs- und Schützen- und Skat- und Kegelvereine.

Da waren diese deutschen Turnvereine einmal übereingekommen: wir wollen hier doch einmal ein deutschamerikanisches Turnfest veranstalten und laden dazu unsere Turnerbrüder aus der Heimat dazu ein.

Und es geschah. An alle größeren oder vielleicht auch kleineren Turnvereine Deutschlands war die Einladung ergangen. Freie Fahrt hin und zurück zweiter Kajüte und hier volle Verpflegung. Natürlich vorausgesetzt, daß jeder Verein nur seine besten Turner schickte. Anderseits muß man bedenken, daß es unter den DeutschAmerikanern doch reiche Knöppe gibt. Das war zum Beispiel ein Mann, der vor 20 Jahren als armer Fleischergeselle nach Amerika gekommen war, jetzt beherrschte er den ganzen Neuyorker Fleischmarkt — der allein zeichnete für hundert Gäste, die er auf seine Rechnung herkommen ließ und bewirtete, und solch splenditer Landsleute gab es noch mehrere.

Und sie waren gekommen, aus allen Gegenden Deutschlands, eine ganze Schiffsladung, die Elite der deutschen Turnerschaft.

Wobei allerdings zu bedenken ist, daß viele ausgezeichnete Turner ja nicht hatten abkommen können.

Denn auf vier Wochen mußten sie sich doch gefaßt machen, und so lange Urlaub gibt doch selten ein Prinzipal, und ein solider, in fester Stellung befindlicher Kaufmannsgehilfe wird sich doch sehr überlegen, ehe er wegen solch einer Turnerfahrt nach Amerika einfach seine sichere Stellung aufgibt.

Aber immerhin, es war die Elite der deutschen Turnerschaft, die hier zusammengekommen war!

Auf Long-Island war der Festplatz. Eine ganze Woche lang wurde hier geturnt, um die Preise gerungen.

So oft als möglich waren wir beide, Helene und ich, drüben, schauten dem Treiben zu. Helene hatte in diesen trübseligen Tagen ja auch sehr eine Abwechslung nötig.

Und die bekam sie dort. Sie wurde immer mehr ganz Begeisterung. Und ich auch.

Ich hatte doch natürlich schon Turner gesehen, gute Turner. Ich hatte auch schon größeren Turnfesten beigewohnt. Das heißt so Gauturnfesten.

Hier aber sah ich etwas, was ich noch nicht zu sehen bekommen hatte.

Ich habe, ganz einfach gesagt, Maul und Nase aufgesperrt.

Und wenn ich dachte, ich könnte das Maul wieder zumachen, weil ich mich an den Leistungen solch eines Turners an Reck und Barren satt geschaut hatte, dann sah ich denselben Mann seine Übungen am hölzernen und gepolsterten Pferd machen, um die meisten Punkte zu erreichen, und ich mußte das Maul doch wieder aufsperren!

Und so erging es natürlich erst recht den zuschauenden Yankees und sonstigen geborenen Amerikanern, und so erging es auch den deutsch—amerikanischen Turnern.

Denn die waren aus dem deutschen Turnen schon ins Sportwesen verfallen. Das eben ist die Sache!

Der Unterschied zwischen Sport und Turnen ist der, daß beim Sport ganz einseitig die höchste Vollendung in einer einzigen körperlichen Fähigkeit erreicht werden soll, während beim Turnen jede einzelne Muskel im Körper möglichst entwickelt wird.

Mit den Champion—Sportsmen, welche Weltrekords aufstellen, konnten diese deutschen Turner nicht antreten, das stimmt allerdings. Keiner von ihnen erreichte einen Hochsprung von nur 190 Zentimeter, keiner lief 100 Meter in elf oder gar nur zehn Sekunden, keiner konnte vier Zentner stemmen.

Aber ich habe ja schon einmal geschildert, wie es diese meist englischen und amerikanischen Athleten treiben. Sie wollen Amateure sein, nehmen ja auch wirklich keine Bezahlung an, und im Grunde genommen sind es doch nur bezahlte Professionisten. Sie werden eben von ihren Vereinen oder sonst aus einer Kasse unterhalten. Wer einmal sich als Hochspringer ausgebildet hat, der bleibt beim Hochsprung, tut nichts anderes mehr. Enorm entwickelte Bein— und Wadenmuskeln, und dabei die reinen Kinderarme. Dafür bekommt der Mann später, wenn er ausrangiert wird, eine Leibrente.

Und wie solch ein olympischer Sieger im Hochsprung nun über das Seil kommt! Das Wie ist ja ganz gleichgültig. Wenn er nur drüber kommt, ohne es zu berühren. Es sieht manchmal wirklich scheußlich aus, mit welchen Gliederverrenkungen der sich in der Luft darüberwälzt.

Dagegen nun hier diese deutschen Turner! Mit welcher Eleganz die ihren Hochsprung absolvierten! Halb Panther, halb Achilles, halb Gummiball. Und dann zum Reck, und dann zum Pferd, und dann zum Weitsprung, und dann zum Barren, und dann zum Hantelstemmen, und dann zum Schnellauf — und überall Leistungen, daß . . . ich eben Maul und Nase aufsperrte!

Und ich war doch schon von meinen Jungens etwas gewöhnt, ich selbst hatte mich unterdessen auszubilden verstanden, und ich hatte doch auch schon früher etwas im Zirkus gesehen.

Pah, Zirkus!

Da schwingt sich so ein Gymnastiker durch die Luft von Trapez zu Trapez und umschlägt sich unterwegs einige Male.

Das nachzumachen, das ist für solch einen deutschen Turner, der seine Glieder schon so in der Gewalt, einfach eine Spielerei!

Aber er tut es nicht, weil er Angehörige hat, weil er seinen Beruf hat, und weil man bei solchen Kunststückchen doch einmal das Genick brechen kann.

Das ist die Sache!

Er kann es sofort machen, aber er tut es nicht, weil er nicht für abendlich hundert oder tausend Mark seinen Hals riskiert. Er geht treu seinem Berufe nach.

Außerdem blickt er schon deshalb verächtlich auf diesen ganzen Zirkusmumpitz herab, weil hier jede elegante Körperhaltung fehlt, die für den deutschen Turner mit als Höchstes gilt!

»O, Georg, wenn wir solche Männer für uns gewinnen könnten!«

Helene sprach es aus, was ich mir bereits gedacht hatte, mir dazu schon den Plan zurecht legend.

Als wir unsere Sachen geordnet hatten, ließ ich den Werberuf erschallen. Freilich nicht mit Pauken und Posaunen.

Ich sprach persönlich mit jedem einzelnen, der mir am meisten imponiert hatte, als Turner und . . . als Mensch! Was letzteres ich aus seinen Augen richtig beurteilen zu können glaubte und, wie dann die Erfahrung lehrte, auch richtig beurteilt habe.

Oft genug kam ich ja an eine falsche Adresse. Manchen, den ich sehnlichst gern an mich gefesselt hätte, mußte ich fahren lassen. Verheiratet oder verlobt oder sonstige Familienbande. In fester Stellung oder sonstwie unabkömmlich für seinen weiteren Beruf sich ausbildend. (Was wiederum bewies, daß ich mich nicht in den Augen getäuscht hatte.)

Aber acht Mann brachte ich doch zusammen, und diese genügten auch, und es waren nur solche, welche in jedem Fache die erste Siegespalme davongetragen, aus deren Augen die Treue strahlte.

Ich führe sie hier namentlich an, die fernerhin mit zu den Argonauten gehören sollten, mit Angabe ihres Berufes und einer kurzen Körperzeichnung. Zur Unterscheidung der übrigen Leute wurden sie nur beim Vatersnamen gerufen, so daß ich also auch jetzt gleich den Vornamen weglasse.

Zuerst die beiden Extreme den Körperformen nach:

Häckel, Advokatenschreiber. Nach seinen Umrissen ein Herkules. Aber ich habe noch keine Statue des Herkules gesehen, den farnesischen nicht ausgeschlossen, bei dem die Muskulatur so durchgearbeitet, so hervorgetreten wäre. Und trotz dieses gewaltigen Körpers, geschmeidig wie eine Katze, schon mehr wie eine Schlange.

Kretschmar, Kaufmann, d. h. Handlungsbeflissener, speziell Verkäufer in einem Damenkonfektionsgeschäft. Im direkten Gegensatz zu dem riesigen Herkules ein kleines, dürres Männchen. Nur aus Knochen und Sehnen bestehend, alles federnder Stahl. Wo der seine Kraft hernahm, daß er auch z. B. im Hantelstemmen, Steinstoßen und ähnlichen Kraftübungen immer den ersten Preis davontrug, das ist mir so lange ein geheimnisvolles Rätsel geblieben, bis ich erfuhr, wie sich solche Menschen systematisch ausbilden.

Das also waren die beiden Extreme in Körperformen. Die anderen hielten zwischen diesen beiden die Mitte.

Vogel, ebenfalls Handlungsbeflissener, aber aus der Kolonialwarenbranche.

Kaul, Maler und Tapezierer.

Swidersky, Lithograph.

Starke, Schriftsetzer.

Hannemann, Uhrmacher.

Günther, genannt Schnipplicht, Schneider.

Dieser letztere bildete noch eine besondere Ausnahme, weil er ein sehr kleiner und sehr dicker Stöpsel war. Von seinen Kameraden wurde er allgemein Schnipplich genannt, welchen Spitznamen er auch bei uns beibehielt, weil er etwas Schnippliches, Zappliges an sich hatte. Das machte aber nur die Schnelligkeit, mit der er seine Übungen ausführte, schon wie er dazu antrat. Alles war so zweckmäßig. Und das hatte er auch im gewöhnlichen Leben an sich. Ob der nun sein Taschentuch hervorholte oder sich eine Zigarre anbrannte, das war alles ein Ruck und ein Zuck. Daher der Name »Schnipplich«. Ich hätte diesen kleinen, dicken Schneidergesellen manchmal für den besten Turner unter den acht gehalten, wenn ich nicht immer wieder zu der Ansicht gekommen wäre, daß überhaupt jeder der beste war. Wenn einer in irgend etwas übertroffen worden war, dann machte er es gleich wieder durch irgend etwas wett, machte etwas vor, daß ich . . . immer wieder nur Maul und Nase aufsperren konnte.

Wie man sieht, gingen sie allen Berufen nach, die zu solchen Kraftspielen und zu ihrem Körperbau im schreiendsten Gegensatze standen.

Das mag einen anfangs irritieren, bald aber, wenn man sich um so etwas näher kümmert, sieht man ein, wie das alles zusammenhängt.

Männer, die den ganzen Tag schwer körperlich zu arbeiten haben, Lastträger, Maurer, Schmiede und dergleichen, die haben des Abends keine Lust mehr, sich noch mit Gewichten herumzubalgen und am Reck herumzubaumeln.

Das ist schon der eine Grund, weshalb man unter den besten Turnern so viele Männer mit einer ruhigen, sitzenden Beschäftigung findet.

Aber der Hauptgrund ist das nicht.

Dieser läßt sich nicht so leicht erklären.

Hiermit ist ein tiefes physiologisches und auch psychologisches Geheimnis verbunden.

Die indische Philosophie kann dieses Geheimnis erklären, unsere moderne Wissenschaft nicht.

Doch ich will hier nicht philosophisch und okkultistisch werden, nur einiges möchte ich noch andeuten:

Solche Menschen, die ihre körperliche Kraft und Gewandtheit nach jeder Richtung hin bis zur größtmäöglichsten Vollendung ausgebildet haben, die haben nicht erst in einem gewissen Alter, wenn sie selbständig denken konnten, den Entschluß gefaßt, ich will ein guter Turner werden.

Dann wäre so etwas nicht mehr möglich gewesen. Da nützt der Wille und die Übung allein nicht, das sind geborene Turner, sie sind schon mit Muskeln und stählernen Knochen zur Welt gekommen.

Ihr Kismet, ihr Schicksal hat sie gleich in eine Turnerfamilie hineingeboren werden lassen, oder doch in Verhältnisse, in denen sie von zartesten Kindesbeinen an sich im Turnen geübt haben, zuerst sogar unbewußt.

Ich spreche aus Erfahrung, ich selbst kenne persönlich solch eine Familie, wo schon die kleinen Kinder in der Wiege unbewußt Freiübungen machen. Ich brauche keine Diskretion zu beobachten: es ist die Familie Faber in Leipzig. Alle Mitglieder dieser Familie auch die weiblichen, sind Meisterschaftsturner, ohne einen Beruf daraus zu machen.

Solche Kinder haben dann nichts weiter als die Turnerei im Kopfe. Danach richten sie dann von vornherein ihr ganzes Leben ein, alles bis ins Kleinste, bis aufs Essen und Trinken. Und als Beruf wählen sie sich meist eine ruhige, womöglich sitzende Beschäftigung. Doch genug hiervon, soweit es das Allgemeine betrifft.

Damals freilich, als ich hörte, daß dieser riesenhafte Herkules mit dieser furchtbaren Muskulatur von seinem vierzehnten Jahre an Schreiber bei einem Advokaten gewesen war, es niemals über 80 Mark im Monat hinausgebracht hatte, da . . . bin ich doch förmlich erschrocken!

Was lag denn hier für ein Rätsel vor?

Fehlte es dem Manne etwa an Intelligenz?

Ganz und gar nicht! Ganz im Gegenteil! Der hätte ebensogut studieren können, wenn seine Eltern nur das nötige Geld dazu gehabt hätten. Dann wäre der jetzt Professor gewesen.

Nun, ich lernte die Verhältnisse mit der Zeit kennen. Der war in seinen bescheidenen Verhältnissen eben glücklich.

Und was kann denn der Mensch mehr verlangen?

Und im Gegensatz dazu nun sein Extrem, der kleine, dürre Konfektionär.

Ja, der eignete sich dazu, den Damen Kleiderstoffe vorzulegen, Korsetts und Unterhöschen. Dieses zierliche, gewandte, patente, etwas eitle Männchen.

Aber wenn man dieses Männchen, das bis auf die krummen Beine ganz die schwächliche Figur unseres Doktor Isidors hatte, nun nackt sah!

Himmeldonnerwetter noch einmal!

Da hatte man allerdings Grund zum Erschrecken!

Gegen diesen nixigen Zwerg konnte auch unser dreizentriger Bootsmann mit seiner Riesenkraft im Ringkampfe nichts ausrichten. Wenn sich das dürre Männchen feststemmte, dann wurzelte es wie ein Eichbaum im Boden. Und griff es richtig zu, dann spritzte tatsächlich unter seinen Fingern sofort das Blut hervor.

Und dann führte dieser kleine Konfektionär ein Kraftkunststückchen aus, das gar nicht zur Turnerei gehörte, das er nur einmal so nebenbei zum Besten gab, sich aber wohl erst eingeübt haben mußte: er legte vor sich auf den Boden drei Zentnerkugeln und warf eine nach der anderen schnell empor, immer wieder auffangend, immer wieder hochwerfend — jonglierte also mit ihnen, einige Minuten lang. Ich habe dies von keinem anderen Menschen nachmachen sehen, von keinem professionellen Herkules. Und dieses Männchen verkaufte den Damen Kleiderstoffe, Korsetts und Unterhöschen!

Na‚ lassen wir es. Aber ich habe damals so gelacht, daß ich dabei weinte.

Ja, sie kamen mit, erklärten sich mit allem einverstanden.

Dazu hatte es natürlich längerer Verhandlungen bedurft.

Die wollten doch wissen, wohin und wozu eigentlich. Nun, ich wußte es ihnen zu erklären, ihnen auch etwas den Mund wässerig zu machen.

Turnerschiff — das genügte schon — und was ich nun sonst von unserem Leben schilderte.

Wegen des Gehaltes mußte ich schnell sein, sonst machte die Patronin ihre Vorschläge, und die dachte doch natürlich, solche Eliteturner, schon mehr Übermenschen, müsse man stückweise mit Gold aufwiegen.

»Englische Matrosenheuer, wenn wir auch unter deutscher Flagge segeln — monatlich 80 Mark.«

»Wir sollen als Matrosen arbeiten?«

»Als Matrosen? Ja, meine Herren, können Sie denn als Matrosen fahren? Haben Sie die dreijährige Schiffsjungenzeit und eine mindestens einjährige Leichtmatrosenzeit durchgemacht? Oder woher können Sie denn sonst alle Schiffsarbeiten?«

Die Elitemenschen stutzten etwas.

»Ja, was sollen wir denn sonst dort auf dem Schiffe?«

Da begann ich einen Vortrag zu halten, einen sehr, sehr langen.

Und die Patronin staunte und die acht Männer lachten immer wieder aus vollem Halse.

Was ich sprach, worüber die Patronin so staunte und weshalb die acht Turner so lachten, das wird der Leser erst später erfahren, wenn es so weit ist. Sonst würde ich die Pointe vorwegnehmen.

»Ja, gewiß, da machen wir erst recht mit!« erklang es mit strahlenden Gesichtern.

»Gut. Also 80 Mark im Monat. Für uns gilt der Kontrakt ein Jahr, von heute an gerechnet. Sie können uns jederzeit verlassen, sobald es möglich ist, spätestens aber müssen wir Sie, nachdem Sie den Kontrakt lösen, nach zwei Monaten in einen Hafen gebracht haben, wo eine gute Verbindung nach Hamburg herrscht, Heimreise auf unsere Kosten. Außerdem ist jeder gegen erwerbsunfähig machenden Unfall oder gegen Tod mit 10 000 Mark versichert, innerhalb dieses ersten Probejahres. Wollen Sie jeder eine Adresse angeben, wohin das Geld bei Todesfall geschickt werden soll.«

Die acht Männer staunten ob unserer Großmut.

Das hatte ich aber mit der Patronin vorher verabredet, hatte sie wieder einmal tüchtig in die Kandare nehmen müssen. Daß die nicht wieder gleicht mit Goldklumpen um sich schmiß.

Na ja, wenn man zwei Millionen Dollars auf der Bank hat, eine ganze Zigarrenkiste voll erbsen- bis haselnußgroße Perlen sein eigen nennt und zwanzig Tonnen oder 400 Zentner Goldbarren liegen weiß, dazu noch etliche Fässer voll Diamanten und sonstiges Geschmeide, dann brauchst man ja auch nicht so auf die Groschen zu sehen. Aber alle kanns doch einmal werden, wenn man nur tüchtig zu schmeißen weiß. Da hielt ich ihr doch lieber ein bißchen die Hand fest.

Das Turnfest war beendet, auch der letzte Katzenjammer vom letzten Kommers überwunden — na nun vorwärts, auf, nach dem Amazonenstrom!

Vorher aber mußte noch eingekauft werden, die Ausrüstung.

Na‚ das war ja nun wieder so etwas für meine Helene!

Aber es machte auch wirklich Spaß, besonders im Waffenladen, wo sich die acht Turner aussuchen konnten, was sie wollten.

Zwar hatten wir ja alles an Bord, aber es war doch auch die lange Fahrt durch die Wildnis zu bedenken.

Und ob es den Turnern Spaß machte, sich die Jagdkostüme und dann besonders die Waffen auszusuchen?

Na und ob!

Oder es wären doch keine Turner und überhaupt keine jungen Männer gewesen! Denn wenn so viele pensionierte Beamte oder Rentiers mit weißen Haaren noch auf den Gedanken kommen, nach dem Schießprügel zu greifen, vielleicht zum ersten Male in ihrem Leben, um an einem Häslein vorbeizuschießen und noch viel, viel weiter an einem Rebhuhn, dagegen oftmals mit Sicherheit in das Hinterteil eines Treibers —— na‚ dann soll doch die ganze Frisch—Frei—Fromm—Fröhlichkeit der Teufel holen, wenn die nicht erst recht Spaß an so etwas hat!

»Nur nicht genieren, nur nicht genieren!« mußte ich die bescheidenen jungen Männer wiederholt ermuntern. »Es ist die Freifrau von der See, für deren Schutz und Ernährung Sie sich bewaffnen sollen! I nu nee, Häckel, was wollen Sie denn mit dieser leichten Bleispritze, die benutzen Sie doch höchstens nur als Zahnstocher — hier, diese Elefantenbüchse, das ist etwas für Sie — und wenns dort keine Elefanten gibt, dann schaffen wir einfach erst welche hin. Diesen Revolver, Starke? Für zwei Dollars? Nee, Starke, mit solcher Lumperei fangen wir nicht an. Das Allerteuerste ist für uns Freiherren von der See gerade gut genug.«

So ging es zu, und so ging es weiter.

»Und nun noch ein Dutzend englische Sättel, das habe ich Juba Riata versprochen,« sagte die Patronin, »falls die Matrosen in Para keine solchen oder nur spanische Sättel bekommen haben.«

»Sättel?« wurde verwundert gefragt. »Wozu denn Sättel?«

»Nun, zum Reiten!« entgegnete ich.

»Zum Reiten?!«

»Jawohl, zum Reiten. Wir haben Pferde an Bord. Wir reiten in der Takelage auf Pferden herum, bedienen die Segel zu Pferde. Sie glaubens nicht? Auf mein Ehrenwort als Reserveoffizier.«

Dieses Ehrenwort durfte ich geben. Die unter den Rahen gezogenen Taue, auf denen der Matrose beim Arbeiten steht, heißen nämlich Pferde, und die kurzen Taue, an denen er sich festhält, Handpferde.

»Wir sind nämlich in einer Gegend, wo es wilde Pferde gibt,« setzte ich noch hinzu, »die wollen wir fangen und zureiten. Können Sie reiten, meine Herren?«

Nein, kein einziger. Na ja, vielleicht im Hippodrom hatten sie einmal einen Gaul zwischen den Beinen gehabt. Gedient hatten sie alle, Kretschmar und Starke, welch letzterer fremdsprachliche Schulbücher setzte, als Einjährig—Freiwillige — aber zufälligerweise alle bei der Infanterie oder Festungsartillerie. Sechs von ihnen waren als Unteroffiziere entlassen worden.

Also reiten konnte keiner.

Aber ich wußte schon, was ich da erleben würde.

»Können Sie reiten, meine Herren?« hatte ich gefragt

Ebensogut hätte mich der Advokatenschreiber fragen können: »Können Sie eine Klageschrift kopieren?«

Nein, das hatte ich noch nie gemacht.

Diese Meisterschaftsturner schwangen sich doch ganz einfach drauf auf den Gaul und ritten davon, und wenn er bockbeinig werden wollte — na‚ dann quetschten sie ihn ganz einfach tot.

Wir benutzten gleich wieder einen nach Para gehenden Dampfer, der diesmal freilich einige westindische Inseln anlief, was mir aber ganz lieb war. So gewöhnten sich die Neulinge nach und nach an das tropische Klima. Außerdem ließ ich sie eine kleine Chininkur durchmachen.

An Bord war ein englischer Artist, Luftgymnastiker, Reckturner, der vom dreifachen bis auf das fünffache Reck gekommen war. Es sollte seine letzte Gastreise sein, die er so ziemlich um die ganze Erde machte. Daraus aber sollte nichts werden.

Er hatte seinen Apparat in einem besonderen Abteil des Zwischendecks aufgebaut, übte täglich. Bis er eines Tages jammernd auf der Matratze lag. Er hatte einen mächtigen Schlag gegen den Bauch bekommen.

»Wollen Sie mir den Turnapparat verkaufen?« fragte ich ihn.

»Was geben Sie dafür?«

Ich kaufte ihn. Er blieb gleich stehen. Meine Turner nahmen ihn gleich in Benutzung.

Noch keiner von ihnen hatte an einem fünffachen oder auch nur doppelten Reck geturnt. Schon eine halbe Stunde später machten sie nicht nur alle die fabelhaften Schwungübungen nach, die sie von dem Artisten gesehen hatten, sondern ein jeder übertraf ihn noch bei weitem!

Stürzen taten sie dabei allerdings oft, machten Fehlgriffe, zumal im Anfange. Ganz halsbrecherisch aussehende Stürze.

Aber wie die sich gegenseitig abfingen!

Und das ist es eben! Nämlich wie die deutschen Vorturner in einem Sonderkursus speziell in diesem Abfangen ausgebildet werden!

Und das war es eben, wozu ich diese systematisch geschulten Turner hauptsächlich zu gebrauchen gedachte. Ich war immer ein sehr guter Turner gewesen. Hatte mich unterdessen weiter ausgebildet, täglich. Am Reck konnten die mir wenig vormachen. Aber von diesem Abfangen hatte ich noch gar keine Ahnung gehabt. Uns fehlte überhaupt ganz die systematische Schulung, die elegante Haltung — die sollten uns die erst beibringen.

In Para kaufte ich von der Werft ein nagelneues Seeboot, einen zehnriemigen Kutter, und es ging den Amazonenstrom hinauf.

Gerudert hatten sie ja alle schon. Gegondelt. Oder auch schon gepult.

Freilich, wenn ich tüchtige, intelligente Kauffahrteimatrosen habe, so will ich sie bei täglich achtstündiger Übung in einer Woche so weit bringen, daß wir eine Bootsparade mitmachen können. Freilich nur pulen, kein Bootsmanöver, anlegen und absetzen und dergleichen.

Diese acht Eliteturner hier zogen schon nach der ersten Viertelstunde mit einem kraftvollen und eleganten Takt durch, daß auch Prinz Heinrich seine Freude daran gehabt hätte! Und dessen eingepulte Bootsmannschaft steht in der ganzen Welt unerreicht da.

Mit einem Bootsmanöver war freilich noch nichts zu wollen, und ehe sie nur auf Riemen halten kannten, würden sie noch manchen Tropfen schwitzen müssen. Die würden sich überhaupt noch über manches wundern, wenn die mit uns mitmachen wollten! Mit der Turnerei allein ist es noch nicht abgetan.

Jedenfalls aber schossen wir mit einem ganz schneidigen Takt den Strom hinauf, brauchten uns vor keinem Kriegsschiff zu schämen.

Jedoch nahmen wir uns Zeit. Sehr oft wurde gelandet, ich gab reichlich Gelegenheit zur Jagd, jeden Abend legten wir frühzeitig an einem der hier überall vorhandenen Dörfer an.


45. KAPITEL.
WIE WIR EMPFANGEN WERDEN, UND WAS ICH AUF DEM PLATEAU ERLEBE.

Am 24. Juli hatten wir das Schiff verlassen, am 30. August, nach fünfwöchentlicher Abwesenheit, tauchte es vor uns wieder auf.

Ach dieser trauliche Anblick im brasilianischen Urwalde! Ich verstand, weshalb die Patronin so aufjubelte.

»Sie kommen, sie kommen!« jubelte da ein Kinderstimmechen zurück. »Die Tante, die Tante — der Onkel, der Onkel — sie kommen, sie kommen!«

Na‚ das war ja eine schöne Zucht an Bord!

Erspäht die kleine Ilse zuerst den nahenden Feind! Aber das Kind hatte eben zufällig gerade nach der Inselecke geblickt, hinter der wir hervorgeschossen kamen.

Dann schlugen wütend die Hunde an, und bis sich ihr drohendes Bellen in ein Freudengeheul verwandelte, hatten wir das Schiff erreicht, legten mit möglichster Schneidigkeit an der Falltreppe bei.

»Wat in denn dat for Seutratten?« erklang es da dort oben verächtlich aus Matrosenmund. »Wat späln dee denn for Sößunsöchzig?«

Ei die Dunnerwetter!

Ich hatte meine acht Puler während der langen, langen Stromfahrt doch wenigstens hundert Mal anlegen lassen, hatte ihnen alles und alles erklärt und gezeigt, hatte ihnen jeden Griff vorgemachrt — jetzt war es früh in der achten Stunde, sie hatten eine ruhige Nacht hinter sich, hatten gut geschlafen, waren also bei ganz, frischen Kräften, und natürlich hatten sie sich jetzt bei diesene Anlegen doch die denkbarste Mühe gegeben, es hatte ja auch ganz famos geklappt und da sagen die Matrosen dort oben, diese acht Meisterschaftsturner hier unten spielten mit den Riemen sechsundsechzig!

Und sie hatten nämlich recht, diese Matrosen!

Ja, meine lieben Meisterschaftsturner Deutschlands, Ihr werdet noch manches auszuhalten haben, ehe Ihr meinen Argonauten als vollwertig eingereiht werden könnt!

Ich hatte diesen meinen Argonauten doch nicht umsonst nunmehr schon anderthalb Jahre lang täglich den Schweiß in Strömen den Buckel hinunterlaufen lassen!

Ich sprang hinauf. Kapitän Martin kam mir entgegen, nahm eine Pranke aus der Hosentasche, um . . . sich ein neues Stück Kautabak abzubeißen. Bei dieser Gelegenheit gab er sie mir aber auch gleich.

»Well?«

»Alles wohl. Und an Bord?«

»Alllright.«

»Kein Unfall?«

»Nee.«

Kein Krankheitsfall?«

»Nee.«

»Wir bringen acht neue Argonauten mit.«

»Well.«

»Die ausgesuchtesten Eliteturner Deutschlands.«

»Well.«

Na‚ mit dem war ja doch nicht viel anzufangen. Die acht Mann waren hochgekommen.

»Siddy, nimm Dich dieser acht Herren an, bringe sie gut in der Kajüte unter. Es sind Argonauten, sie bleiben bei uns, vorläufig aber sind es die Gäste der Frau Patronin.

»Allright, Waffenmeister. Bitte, kommen Sie, meine Herren. Nehmen Sie das Gepäck gleich mit?«

Die erst so freudestrahlenden Gesichter der umstehenden Matrosen und Heizer hatten sich plötzlich in recht mürrische verwandelt.

»Na, nun vorwärts, Jungens, holt den Herren mal ihr Gepäck herauf!« fuhr ich sie an.

Sie gehorchten. Ihre Mienen dabei waren mir höchst gleichgültig.

»Gott grüße Sie, Waffenmeister!« rief jetzt Juba Riata, mir herzlich die Hand schüttelnd, wie er schon die Patronin begrüßt hatte.

Jetzt war Juba ein vollkommener Cowboy, indem er nämlich auch Sporen trug — und was für silberne Dinger mit Fünfmarkrädern — und außerdem duftete er nach Pferd.

An Bord unseres Schiffes schien mir jetzt überhaupt alles mehr nach Pferd als nach Teer zu duften.

»Wie gehts, mein lieber Juba?«

»Nu fein!« lachte er im ganzen Gesicht. »Sind wohl schon tüchtig hinter den Gäulen her?«

»Nu!«

»Haben schon viel zugeritten?«

»Nu!«

»Wie stehts sonst oben aus auf dem Plateau?«

»Gehen Sie nur selbst hinauf, ich verrate nichts!«

»Wo sind die Kinder?«

»Alles oben aus dem Plateau, alles! Nur die Wache ist an Bord. Gehen Sie hinauf!«

»Jawohl.«

»Sofort?«

»Na‚ wenigstens etwas Frühstück will ich noch in aller Schnelligkeit verschlingen . . . «

»Können Sie auch oben.«

»Ein Bad nehmen habe es fast nötig.«

»Können Sie auch oben.«

»Na‚ lassen Sie mir nur wenigstens fünf Minuten Zeit!« lachte ich.

»Gut, fünf Minuten. Dann kommen Sie hinauf?«

»Jawohl.«

»Oder in einer Viertelstunde, wollen wir sagen«

»Weshalb denn gerade in einer Viertelstunde? Was haben Sie eigentlich?«

»Lassen Sie nur — ich habe tatsächlich etwas vor.«

»Was?«

»Einen Empfang für Sie.«

»Was für einen Empfang?«

»Lassen Sie nur! Sie werdens schon sehen. Gehen Sie allein hinauf?«

»Allein?«

»Nicht mit den Herren, nicht mit . . . bitte, gehen Sie in einer Viertelstunde allein durch den Tunnel hinauf.«

»Wie Sie wünschen.«

»Also in einer Viertelstunde kommen Sie nach.«

»Jawohl.«

Peitschenmüller entfernte sich schleunigst. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was der wollte.

Ich begrüßte Klothilde und den Doktor und einige andere, packte aus, was ich der kleinen Ilse mitgebracht hatte — die arme Waise, die sie nun geworden! — sah noch einmal nach den acht Turnern, ob sie gut untergebracht waren, wobei ich eine halbpfündige Schinkenscheibe frei aus dem Handgelenk verzehrte.

Dann machte ich mich auf den Weg, mit einem Lämpchen ausgerüstet. Durch das Unterholz war noch keine Bahn geschlagen, doch hatte es durch das viele Hin— und Herkriechen natürlich stark gelitten. Aber das war ja bei dieser tropischen Üppigkeit bald wieder zugewachsen.

Ich ersteige den Tunnel, in dem sich nichts verändert hat, habe, wie gesagt, gar keine Ahnung, wie man mich oben empfangen will. Na ja, wahrscheinlich eine Ovation mit Pauken und Posaunen. Vielleicht tuten auch die Kinder mit.

Nach noch nicht einer halben Stunde bin ich oben. Auch durch das Buschwerk des trockenen Flusses muß man noch kriechen, um ins Freie zu kommen.

Jetzt bin ich wirklich oben und im Freien, vor mir liegt die Prärie, genau noch so frischgrün und blumig, wie vor fünf Wochen. Was hier niedergetreten wird, richtet sich über Nacht wohl wieder auf.

Aber kein Mensch ist zu sehen.

Doch da, wie ich noch so dastehe, eben erst aus dem Busche herausgekommen bin, schwirrt plötzlich etwas Schwarzes vor meinen Augen, es legt sich etwas um meinen Leib, wie eine Schlinge, schnürt mir die Arme fest, und ehe ich mich versehe, kriege ich von hinten einen mächtigen Ruck, daß ich gleich rücklings in die Knie sacke, dann liege ich auch schon vollends auf dem Rücken und plötzlich kriebelt und wiebelt es um mich herum von kleinen, halbnacktem rotbraunen Gestalten von Indianern in Miniaturausgabe will ich gleich sagen und ehe ich mich weiter versehe, sind mir meine Hände auch schon vollends gefesselt, desgleichen die Füße.

Ich hätte mich tatsächlich nicht wehren können, wenn ich es auch gewollt hätte.

Und da setzt auch schon so ein kleiner Indianer seinen Fuß auf meine Brust, macht ein fürchterliches Gesicht, rollt drohend die Augen und sagt in fürchterlichem Ton, aber auf gut Deutsch:

»Hugh! Was macht das Blaßgesicht an den Jagdgründen der Kommantschen?!«

Na‚ da guten Morgen.

So wird der Herr Waffenmeister von seinen Zöglingen empfangen!

Na‚ nun wußte ichs.

Meine Kinder spielten Indianers.

Recht so!

Jeder Junge hat doch wohl Indianerschmöker gelesen — und es gibt gar vortreffliche darunter, sie brauchen nicht gerade von Cooper oder »nachempfunden« zu sein — und kein tüchtiger Junge, der dann nicht auch »Indianers« gespielt hat. Mindestens zeugte das von großer Phantasielosigkeit, die sich wohl auch später im praktischen Leben als Mangel an Unternehmungsgeist fühlbar machen wird.

Wir Jungen seinerzeit haben alle »Indianers und Trappers« gespielt, haben einander die imaginäre Kopfhaut abgezogen und im Walde ganz reelle Lagerfeuer angezündet.

Die Jungens heute machen es auch noch.

Nur ist zwischen damals und heute ein kleiner Unterschied.

Wir haben damals deswegen, hauptsächlich wegen der Lagerfeuer erst vom Förster und dann vom Lehrer der Hosenboden voll bekommen.

Heute werden die Jungen als »Pfadfinder« von obenher protegiert und organisiert und von ihren Lehrern bei ihren Indianerspielen angeführt.

Also sind wir Jungens von anno dazumal es gewesen, die diese ganze Sache erst in Gang gebracht haben, wir haben dafür die Märtyrerprügel erlitten. Hut ab vor uns!

Und außerdem ist es sehr schade, daß die »Pfadfinder« auch erst von England importiert worden sind.

Mehr Originalität, meine Herren, mehr Originalität! Ich will den Miniatur—Indianer, den ich da erblickte, ganz genau beschreiben, und zwar gilt diese Beschreibung für alle. Ich fange von unten an und gehe zollweise nach oben.

Mokassins aus weichgegerbtem Leder, sehr sauber genäht, sehr hübsch gestickt.

Lederne Leggins — auf gut Deutsch Hosen — sicher gleichfalls eigene Arbeit, an den Seiten Fransen.

Festgehalten wurden die Leggins durch einen Gürtel, an dem . . . Skalpe hingen!

»Jawohl, echte Skalpe!«

Denn ein Lappen zusammengeschrumpelte Haut, an dem sich eine Haarlocke befindet, das nennt man doch wohl einen Skalp.

Was sonst noch in dem Gürtel steckte oder daran baumelte, das werde ich später beschreiben.

Der Oberkörper war nackt und von der Sonne schon so braunrot gebrannt, daß sein Besitzer als ganz echter kupferroter Indianer durchgehen konnte, und dasselbe galt von dem Gesicht.

Bemerkenswert war, daß jeder der Zwergindianer, die ich hier erblickte, in der Mitte der Brust ein spannenlanges Herz von gelbem Tuch angepappt hatte, mit Harz befestigt, dessen Zweck mir später erläutert werden sollte. Es mochte eben das Totem sein.

Tätowierungen und Malereien am Körper fehlten, nur das Gesicht zeigte einige Striche und Punkte von schwarzer und weißer Farbe, wodurch auch das pausbäckigste, gutmütigste Kindergesicht ein ungemein wildes Aussehen bekam.

Und nun schließlich in der Mitte des glattrasierten Schädels eine prachtvolle Skalplocke, geschmückt mit einer langen, gelben Feder.

Wo die Jungen, die immer ganz kurz geschnittenes Haar tragen mußten, plötzlich so eine lange Wirbellocke herbekamen, das wurde mir ja bald klar. Einfach eine Perücke, wohl aus einer Fischblase hergestellt, daran eine steife Locke aus Pferdehaar. Das war der Skalp, den sie dem besiegten Feinde abnahmen, um ihn sich als Trophäe an den Gürtel zu hängen.

Alle, die ich hier erblickte, gehörten zur gelben Partei, hatten auf der Brust gelbe Herzen und auf dem Kopfe eine gelbe Feder, also würde die blaue Partei eben ihre Farbe tragen.

Nun wieder zum Gürtel. An diesem hingen verschiedene Beutelchen, die natürlich alles enthielten, was der Wald— oder Prärieläufer immer bei der Hand haben muß, beim Indianer durfte sicher auch der Medizinbeutel nicht fehlen — dann steckte darin und noch in Scheide das lange, starke Schiffsmesser, das auch diese Jungen, wenn sie in der Takelage arbeiten sollten, unbedingt haben mußten, und ferner ein ganz regelrechter Tomahawk, eine Axt‚ aber doch etwas anders, besonders auch mit schön geschnitztem und geschmücktem Griffe, und dann von etwas kleinerem Format.

Auch Bogen und auf dem Rücken hängende Pfeilköcher erblickte ich, alles saubere, kunstvolle Arbeit, da gab es keine solche zusammengebundene Stümpereien, wie man sie bei indianerspielenden Kindern manchmal sieht, das schien hier alles ganz echte indianische Hausarbeit zu sein — und dann vor allen Dingen hatte jeder in der Hand oder auf dem Rücken noch ein Gewehr, über deren Herkunft ich mir nicht gleich klar werden konnte.

Es waren kleine Gewehre, Teschings, aber mit kürzerem Lauf — Miniatur—Kugelbüchsen. Das Schloß konnte ich nicht richtig erkennen.

Wo hatten sie denn die her? An Bord hatte es die nicht gegeben.

Nun, ich würde es schon später erfahren.

Jedenfalls waren es ganz waschechte Rothäute. So realistisch hatten wir Jungens uns nicht ausstaffiert, hätten freilich auch gar keine Möglichkeit dazu gehabt.

Und nun außerdem zeigten alle diese kleinen Indianer für ihr Alter, selbst jeder fünfjährige Knirps, eine Muskulatur, die das Staunen eines jeden Menschen und besonders auch das höchste Interesse eines jeden Arztes hervorrufen mußte!

Über diese ausgebildete Muskulatur, die ich allen Kindern ohne Ausnahme innerhalb eines halben Jahres beigebracht hatte — angeschöpft, hätte ich beinahe gesagt darüber werde ich später noch einiges zu sagen haben.

Es war Otto, der Sohn der Mama Bombe, der mir den Fuß auf die Brust setzte. Wie ich gleich bemerkte, war er durch ein besonders großes Herz und durch eine besonders schöne Skalplocke und desgleichen Feder als Häuptling ausgezeichnet.

»Hugh! Was macht das Blaßgesicht auf den Jagdgründen der Kommantschen?!«

So hatte der Indianerhäuptling grimmig gefragt, und ich bin und war nicht derjenige, der lange Zeit zur Antwort brauchte, meine Beobachtungen machte ich so nach und nach. Ich fand mich sofort in meine Rolle.

»Ich bin ein harmloser Jäger, der nicht wußte, daß dies die Jagdgründe der tapferen Kommantschen sind, deren Ruhm die ganze Welt erfüllt!« gab ich zurück.

Kein Zeichen des Beifalls. Immer finsterer blickten die Augen in den wilden Gesichtern auf mich herab. Meine Lobhudelei schien also nicht viel genützt zu haben.

»Hat das Blaßgesicht schon einen Namen?«

Die waren ja schon ganz gut beschlagen! Wenns wahr ist, was in den besseren Schmökern steht, dann bekommt der Indianer erst einen Namen, wenn er eine kühne Tat vollbracht hat.

»Meine weißen Brüder nennen mich den Meister der Waffen.«

»Den Meister der Waffen!« wiederholte der kleine Häuptling gravitätisch. »Der starke Bär, der große Häuptling der Kommantschen, wird prüfen, ob das Blaßgesicht die Wahrheit spricht. Hat der weiße Jäger eine gespaltene Zunge, so wird er am Marterpfahl sterben. Uff! Der starke Bär hat gesprochen.«

Und da geschah etwas, was ich auch niemals für möglich gehalten hätte!

Er hob die Hand und winkte, und da . . .

Da galoppierten hinter der Felsengruppe, neben der wir uns befanden, ein Dutzend Pferde hervor, auf ihren mit Decken, aber auch mit Pantherfellen belegten Rücken saßen einige solcher kleinen Indianer, führten die ledigen Tiere an Lassos.

Ich staunte ja nicht schlecht!

Hatten sich diese Jungens als ganz regelrechte Kommantschen sogar schon beritten gemacht!

Daß Juba Riata unterdessen schon Pferde gefangen und gebändigt und zugeritten hatte, daß glaubte ich ja, das hatte er mir vorhin ja selbst gesagt — aber sogar schon alle diese Kinder zu Pferde . . .

Ja, und was waren denn das für Pferde?!

Ich hatte damals in der kurzen Zeit, da ich auf dem Plateau geweilt, nur große, stattliche Tiere gesehen.

Das hier aber waren Pony's, den Shetländern ähnlich, auch so struppig, trotzdem aber sehr schöne Tiere, ungemein kräftig und doch von eleganten Formen, und auBerdem alle gescheckt.

Wo kamen denn die her?

Gab es hier zweierlei Pferderassen, eine große und eine kleine?

Nun, ich würde dies alles ja später erfahren.

Jetzt erst bemerkte ich, daß alle auch mit Lasso und mit federgeschmückter Lanze versehen waren, eine ganz achtunggebietende Lanze mit glänzender Stahlspitze.

»Uff!«

Und ich, der ich halb aufgerichtet dasaß, bekam, während mir gleichzeitig die Fußfesseln gelöst wurden, einen Stoß mit der umgekehrten Lanze in den Rücken, gar nicht so sanft.

Na‚ wartet nur, meine Jungens, wenn ich nicht mehr Euer Gefangener bin!

Sie schwangen sich auf ihre Gäule.

Prachtvoll, großartig!

Und dann wurde ich, mit noch besser umschnürten Händen, am kurzen Lasso oder gleich an zweien zwischen zwei Reiter genommen, mußte zwischen ihnen herlaufen, rennen, die Pferde schlugen einen ganz gehörigen Trab an. Das fand ich ja nun weniger prachtvoll und großartig.

So eine gemeine Schwefelbande!

Lassen die ihren Herrn und Meister und Erzieher mit gebundenen Händen zwischen zwei Gäulen in vollem Trabe rennen!

Na‚ wenn ich Euch erst wieder als Schiffsjungen an Bord habe, dann will ich Euch doch . . .

Doch Spaß beiseite!

Die Kerlchen hatten ihre Sache großartig gemacht!

Da mußte man Respekt bekommen!

Ich war vollständig überrumpelt worden — aber auch vollständig! Den Lasso von hinten über den Kopf geworfen, und ich hatte dagelegen. Da war ich auch schon an Händen und Füßen gefesselt gewesen. Und das war nicht etwa nur so eine Spielerei, auf die ich einging — nein, ich hätte mich wirklich nicht wehren können, ganz ausgeschlossen. Es war zu plötzlich gekommen und zu geschickt gemacht worden. Diese Knoten hielten, diese Lederbanden zu sprengen war keine Möglichkeit. Und ich mußte hier zwischen den Pferden mitlaufen, ob ich wollte oder nicht!

Zu meinem Glück war unser Ziel nicht weit. Ein Wäldchen, oder nur ein größerer Platz, der mit hohen Bäumen ziemlich eng umstanden war. Hier und da sah ich auf einem hohen Aste eine kleine Rothaut sitzen. Das waren die Wächter des Lagers, die das hohe Gras beobachten mußten, in dem ein Anschleichen doch sehr leicht möglich gewesen wäre.

Denn daß die Gelbherzen mit den Blauherzen, von denen auch die Skalpe stammten, im Kampfe lagen, daß sich die beiden Indianerstämme auf dem Kriegspfade befanden, daran war ja für mich gar kein Zweifel.

Ich war doch wirklich auf die spätere Erklärung gespannt, wie die diesen Krieg führten, in welchem Falle sie einen Skalp erbeuteten. Der Tote wurde dann natürlich schnell wiedergeboren, sein Skalp wuchs ihm gleich wieder nach. Aber der Sieger hatte dann einen feindlichen Skalps erbeutet, das war natürlich die Hauptsache. Wir hatten es früher so mit unseren Schülermützen gemacht, bei uns gab die Besiegung im Ringkampf den Ausschlag, was hier aber wegen der großen Verschiedenheit des Alters und daher der Körperstärke wohl nicht angebracht war.

In der Mitte der Waldblöße standen drei Wigwams. Ganz regelrechte. Vielleicht nur etwas kleiner als wie für normale Indianer. Aber sonst ganz regelrecht aufgebaut und ausgeführt, aus Lederhäuten, mit grotesken Tiergestalten und sonstigen Figuren bemalt. Die gelbe Farbe herrschte vor.

Dann brannten zwei große Lagerfeuer, über dem einen schmorte ein mächtiger Braten, jedenfalls eine Ziege. Gedreht wurde der Spieß von einem Indianer. Weiber und Kinder konnte ich natürlich nicht verlangen.

Meine Begleiter saßen ab, die Pferde wurden regelrecht gekoppelt. Oder vielmehr gehobbelt, wie es im wilden Westen heißt. Die Vorderfüße wurden ihnen so zusammengebunden, daß sie beim Weiden nur kleine Schrittchen machen, nicht entfliehen konnten.

Und die Kerlchen machten das alles, als wären sie geborene Rothäute, aber schon ausgewachsene Krieger!

Die mußten ja in den fünf Wochen tüchtig ausgebildet worden sein! Natürlich von Juba Riata. Viel faullenzen aber hatten die jedenfalls nicht können, und . . . gelernt bleibt gelernt, sogar das Pferdehobbeln.

Mir wurde bedeutet, mich in einiger Entfernung von den Feuern niederzulassen. Zwei Wächter blieben bei mir, und mit deren handbereiten Tomahawks wäre gar nicht zu spaßen gewesen. Auch im Ernstfalle hätte ich bei diesen Kindern nicht so leicht eine Flucht gewagt.

Die anderen ließen sich an dem Lagerfeuer ohne Braten nieder, zur Beratung. Erst aber wurden Pfeifenrohre aus dem Gürtel gezogen, andere steckten den Pfeifenkopf an den hohlen Stiel ihres Tomahawks, und gravitätisch wurde einige Zeit geraucht.

Doch nein, sie rauchten nur kalt. Gestopft hatten sie den Kopf aus einem Beutel, hatten wenigstens so getan, hatten auch mit einem Luntenfeuerzeug Funken geschlagen aber Qualm gabs nicht.

Und doch, als ich dann einige solcher Pfeifen näher betrachtete, da merkte ich, daß sie alle ganz regelrecht nach Tabak rochen, die Steinköpfe auch schon angeräuchert waren, und das hatten nicht etwa die Matrosen getan.

Na‚ meinetwegen. Da bin ich nicht so. Wir haben als zehnjährige Indianer auch schon die Friedenspeife geraucht, auch andere Pfeifen, auch Zigarren, haben uns dann hinter einen Busch gestellt und mit bleichem Gesicht den Magen umgekrempelt. Und haben uns hochbeglückt als ganze Männer gefühlt.

Als ich diese Kinder übernahm, da hatte schon mancher der fliegenden Engel bei jeder Gelegenheit sein Zigarettchen ganz offen geraucht. Das hatte ich ihnen nun freilich schleunigst aus den Fingern geschlagen. Es gab überhaupt kein Rauchen, direktes Verbot!

Wenn sie aber hier einmal heimlich eine Pfeife rauchten, weil sie Sehnsucht danach hatten, oder weil es nun einmal zu ihrer »Vollkommenheit« gehörte — na‚ da hätte ich nichts dagegen gehabt. Das heißt, ich hätte es nicht gesehen. Am wenigsten, wenn sie den Indianer markierten.

Dem Indianer ist der Tabak eine hochheilige Pflanze. Als Manitou, der große Geist, den Menschen geschaffen, seinen roten Sohn, und nun die Erde verließ, auf der er bisher gesessen, da sproßte dort, wo seine rechte Hand geruht, der Mais hervor, und dort, wo seine linke Hand gelegen, wuchs der Tabak. Der Mais zur wirklichen Stillung des Hungers, der Tabak zur vermeintlichen Stillung, zur Besänftigung des knurrenden Magens, falls der Mais einmal mißriet. Gar nicht so dumm ausgedacht!

Deshalb ist der Tabak als Geschenk des großen Geistes dem Indianer auch tatsächlich heilig, es werden beim Rauchen viele Zeremonien getrieben. Deshalb die heilige Friedenspfeife, gemeinschaftliches Rauchen gilt als Schwur, das Calumet spielt ja überhaupt eine große Rolle. Die indianische Tabakspfeife ist Gegenstand einer eigenen Forschung geworden, es existiert darüber eine eigene Literatur. Genau so, wie bei uns die alten Wappen vergangener Geschlechter studiert werden.

Matrosen sind die ersten gewesen, welche mit den Ureinwohnern Amerikas in Berührung kamen. Matrosen haben den Tabak, nach Salz heute das unentbehrlichste Bedürfnis des Menschen, über die ganze Erde verbreitet. Es ist ganz merkwürdig, wie die Seeleute aller Nationen die indianische Ehrfurcht für den Tabak mit übernommen haben. Inwiefern diese Ehrfurcht, das kann man aber nur verstehen, wenn man selbst Seemann ist. Jedenfalls kann sich der heutige Seemann die Seefahrt ohne Tabak gar nicht mehr vorstellen und daß der Mangel an Tabak beim Anlaufen eines Hafens als halbe Seenot gilt, die Hafengebühren bedeutend erleichtert, habe ich ja schon einmal gesagt.

Schon der vierzehnjährige Schiffsjunge darf rauchen. Allerdings nur mit jedesmal bei den Matrosen eingeholter Erlaubnis, die ihm nur gegeben wird, wenn er ein tüchtiger Kerl ist. Zum Kauen des Tabaks dagegen wird er direkt angehalten.

Weshalb? Weil ohne Tabakkauen bei dem heutigen Salzfleisch sofort der Skorbut ausbrechen würde! Als die Seefahrer noch keinen Tabak hatten, da gab es auch noch kein Salzfleisch, nur getrocknetes und geräuchertes, welches bald von Würmern wimmelt. Erst der Tabak hat die dauernde Ernährung durch Salzfleisch möglich gemacht. Was man aber damals noch gar nicht gewußt hat. Das ist ein ganz, ganz merkwürdiges Zusammengreifen gewesen!

Die kalte Pfeife der nachdenklichen Sammlung war ausgeraucht, wurde ausgeklopft, der Steinkopf in das Beutelchen, das lange Rohr oder der Tomahawk in den Gürtel zurückgesteckt.

Jetzt hielten sie Beratung ab.

Ganz nach indianischer Weise.

Es imponierte mir wirklich äußerst.

Mädchen bringen so etwas nicht fertig.

Die können keine »Indianers« oder »Indianersch« spielen.

Das weiß ich aus eigener Erfahrung.

Wenn ich auch Ausnahmen zulassen will. Stadtrat Piekers Grete zum Beispiel konnte es ganz ausgezeichnet, die durfte an unserem Beratungsfeuer mit teilnehmen. Denn die war taubstumm.

Diese meine Jungens hier machten als waschechte Indianer so wenig Worte wie möglich. Sogar eine Zeichensprache hatten sie sich schon zurechtgelegt.

Dann erhoben sie sich, König Otto der Achte, als Kommantschenhäuptling der starke Bär, trat auf mich zu.

»Der Meister der Waffen wird beweisen, daß er diesen Namen mit Recht führt.«

»Ich werde es beweisen.«

»Er wird mit mir kämpfen.«

Kämpfen mit dem Knirps? Na‚ da war ich doch gespannt, wie nun das wieder arrangiert werden sollte,

Nun, das war ganz einfach. Es gibt einen Waffenkampf, bei dem man sich nicht gegenseitig abzuschlachten braucht. Man kann doch auch um die Wette schießen.

Und um so etwas handelte es sich auch hier.

An einen Baumstamm wurdein Kopfhöhe solch ein Tuchherz befestigt, der Häuptling ging hin, entfernte sich mit zehn großen Schritten, die bei einem Erwachsenen vielleicht sechs ausmachten, sieben Meter, drehte sich um, zog sein Schiffs— oder vielmehr Skalpiermesser, nahm die Spitze zwischen Daumen und Zeigefinger, hielt es im erhobenen Arm etwas über die Schulter, visierte, ein kräftiger Schleuderruck — und zitternd steckte das Messer tief in dem Baume, hatte das Herz ziemlich in der Mitte durchbohrt.

Dabei hatte es sich nicht in der Luft herumgewirbelt, sondern hatte nur eine halbe Umdrehung gemacht.

Hallo!

Ich war doch ganz starr! Nein, das konnte ich nicht, daran war ich nicht geaicht.

Obgleich ich im Messerwerfen einige Erfahrung hatte, Früher war nämlich das Messerwerfen bei den Seeleuten allgemein üblich, wurde also als Sport geübt, auch für den Ernstfall verwendbar. Es hörte immer mehr auf. Zuletzt betrieben es nur noch die englischen Matrosen. Jetzt auch diese nicht mehr, es ist durch das Boxen ganz verdrängt worden.

Immerhin, wenn das Gespräch darauf kommt, probiert man es doch einmal wieder, mit dem Messer nach einem Ziel zu werfen.

Das ist garnicht so einfach. Mann trifft wohl das Ziel, aber nicht mit der Spitze. Das Messer dreht sich schnell im Kreise, und es ist nur Zufall, wenn es gerade mit der Spitze auftrifft. Es kommt darauf an, daß das Messer nur eine halbe Umdrehung macht, oder nur eine viertel oder gar keine, je nachdem wie man es anfaßt, bei der Spitze oder beim Heft, wie man es sich eben einmal eingeübt hat. Oder solche Meisterschaftswerfer lassen es sich auch zweimal oder dreimal oder sehr viele Male umdrehen, ganz wie sie wollen.

Das ist nicht so leicht wie es aussieht. Es kommt auf eine gewisse Bewegung an, oder auf irgend etwas, was man nicht definieren kann. Das ist gerade so wie etwa bei dem Doppelkreisel, Diabalo oder wie das Ding heißt, welches die Kinder mit einer ausgestreckten Schnur aufheben und in der Luft tanzen lassen. Das probiert man und probiert man, das Teufelsding will nicht an der Schnur kleben bleiben, so schwitzt man einige Stunden lang bis es mit einem Male geht. Weshalb das Ding jetzt plötzlich tanzt, das weiß man gar nicht. O, es ist ganz interessant, auch für einen alten Mann, wenn er sich einmal mit solch einem Teufelsding abmüht und sich von den Kindern mit seiner Gelehrsamkeit auslachen läßt. Diese Stunden sind durchaus nicht unnütz verbracht, jedenfalls nützlicher als beim Kartenspiel.

Ich hatte das Messerwerfen probiert, es nicht gebracht, mich auch nicht weiter darin geübt. Nein, das konnte ich nicht nachmachen.

»Junge, wer hat Euch denn das beigebracht?!« fiel ich da vor Staunen aus meiner Rolle.

Daß unter meinen Leuten ein Messerwerfer war, das wußte ich gar nicht.

Das Messer wurde aus dem Herzen entfernt, der starke Bär — oder Otto, der er jetzt für mich war — zog seinen kleinen und doch als Waffe ganz beträchtlichen Tomahawk aus dem Gürtel, den Arm zum Wurf zurückgelegt — sausend durchschnitt die blitzende Axt die Luft, hatte das Herz glatt durchschnitten, stak tief drin in der Baumrinde.

»Nanu! Hat das Euch Juba Riata gelehrt?!«

»Hugh! Das Blaßgesicht spricht wie eine Squaw!« erklang es verächtlich zurück. »Kann der Meister der Waffen das Messer und den Tomahawk auch so schleudern?«

»Na‚ versuchen will ich es doch einmal!«

Ich war aufgesprungen, meine Hände wurden mir entfesselt.

»Wenn das Blaßgesicht an Flucht denkt, so wird es die Schärfe meines Tomahawks fühlen!« wurde dabei gesagt.

Ich achtete nicht weiter darauf, fiel immer mehr aus der Rolle. Denn ich wurde immer mehr Feuer und Flamme. Inzwischen hatten nämlich auch andere »Krieger« Messer und Tomahawk geschleudert, den Baum hatten sie alle getroffen, stets blieb Spitze oder Schneide im Holz haften, die meisten hatten auch das Herz getroffen, allerdings keiner mit solcher Sicherheit, Kraft und Eleganz wie ihr kleiner Häuptling.

Man hatte Otto eben nicht umsonst zum Häuptling erwählt. Der Stärkste war er ja lange nicht, aber jedenfalls der Geschickteste und dann vor allen Dingen der Intelligenteste, das hatte ich ja schon immer gewußt. Nur daß es bei meiner Erziehung keinen Unteroffizier und keine andere führende oder beaufsichtigende Rolle gab. Es existierten nur zwei Farben, die miteinander wetteiferten, mit Ausschluß jeder Persönlichkeit.

Ich schleuderte ein Messer. Mit einem Male war ich nämlich der Meinung, daß es doch ganz einfach sein müsse. Denn es hatte immer so überaus einfach ausgesehen, wie diese noch nicht einmal halbwüchsigen Jungen Messer und Tomahawk geworfen hatten.

Nichts war es! Wohl traf ich das Herz mit dem Messer, aber es klapperte nur dagegen, immer und immer wieder, auch nicht der Zufall wollte es, daß es einmal mit der Spitze drin stecken blieb.

Dann ließ ich mir ein Tomahawk geben — nein, es gelang mir nicht, die halbe Drehung herauszubekommen. Entweder es prallte mit dem Stiel oder mit der hinteren Seite gegen den Baumstamm.

»Nein, Waffenmeister, auf diese Weise geht es nicht, da müssen Sie das Messer wie das Beil ganz anders anfassen.«

Das hatte Juba Riata gesagt, der hinter den Bäumen auftauchte.

Sein Dazwischenkommen schützte mich davor, daß ich als Prahlhans an den Marterpfahl gestellt wurde.

Das Indianerspielen war für mich beendet — vorläufig. Ich wollte auch erst einmal eine sachliche Erklärung haben.

Die gab mir Peitschenmüller, während wir etwas abseits lagerten, dabei dem weiteren Treiben der Miniatur-Indianer zuschauend.

Es hatte den Kindern schon immer im Blute gesteckt, die Indianerspielerei. In der Bibliothek von zirka 2000 Bänden, welche die Patronin damals in Liverpool in aller Schnelligkeit und doch mit guter Auswahl zusammengekauft hatte, befanden sich auch zahlreiche Indianererzählungen, nicht nur die klassischen von Cooper und Ferry und Meyne-Reid. Matrosen interessieren sich für so etwas genau so gut wie andere junge Menschen germanische Matrosen, meine ich — ja, es ist sogar sehr eigentümlich, wie bescheiden sie da in ihren Ansprüchen sind, wie sie zum Beispiel auch an abenteuerlichen Seegeschichten, von Verfassern geschrieben, die nie ein Schiff gesehen haben, gar keine Kritik üben, wenn sie eben nur durch phantastische Abenteuerlichkeit unterhalten werden, und infolgedessen wird in den Hafenstädten ein schwungvoller Hausierhandel, auf der Straße wie in Hamburg meist mit Karrenwagen, mit solchen Schmökern getrieben.

Für meine 32 Kinder waren diese Indianergeschichten natürlich erst recht etwas, und ich wäre doch der letzte gewesen, der ihnen solche Literatur vorenthalten hätte. Übrigens war auch bei uns das erste Literaturwerk, das in der Schule gelesen wurde, Robinson Crusoe. Nach der heutigen Pädagogik ist so etwas kaum noch denkbar, aber ich sehe schon die Zeit kommen, da der unsterbliche Rubinson Crusoe in der Schule wieder zu Ehren kommen wird, und zwar in noch ganz anderer Weise, da er nicht nur gelesen, sondern auch gleich selbsterlebt wird — worüber ich dann noch etwas sagen werde.

An Bord war keine Gelegenheit zum Indianerspielen. Die Jungen hatten hierzu auch tatsächlich keine Zeit. Jede Stunde war durch die Schiffsroutine ausgefüllt. Schiffsarbeit, körperliche Übungen aller Art und Schulunterricht. Wenn ich für diesen auch täglich eine Stunde oder höchstens zwei für genügend hielt, um das bißchen Lesen und Schreiben und Rechnen beizubringen, was der Mensch braucht, so lange er sich nicht für eine höhere Wissenschaft vorbereitet. Ferner mußten sich die Jungen alles, was sie brauchten, selbst fertigen, ihre Kleider und Strümpfe und Stiefeln, mußten auch abwechselnd unter Meister Kännchens Anleitung ihr Essen selbst kochen, und da war also nicht viel Zeit zum Indianerspielen vorhanden. Anderseits war ja überhaupt ihr ganzes Leben ein Spiel.

Ich will hier gleich erledigen, was ich über Robinson Crusoe und die Schule sagen wollte, muß aber dazu eine kleine Einleitung machen.

Im Jahre 1905 starb zu Amiens ein Prophet, wie es einen mit solch prophetischer Gabe wohl selten gegeben hat.

Dieser gottbegnadete Prophet hieß Jules Verne.

Wohl alle meine Leser kennen seine phantastischen Schriften.

Jawohl, phantastisch!

Alles, was dieser Mann, ursprünglich ein armseliger Gerichtsschreiber, einst von Unterseebooten und lenkbaren Luftschiffen und Flugmaschinen geträumt hat, zu einer Zeit, da die andere Welt an so etwas noch gar nicht dachte — alles ist fast buchstäblich in Erfüllung gegangen oder befindet sich auf dem besten Wege der Verwirklichung.

Ganz selbstverständlich hat es seinerzeit nicht an dem nötigen Spott gefehlt, mit dem man diesen unverbesserlichen Phantasten, der sich nur in »Unmöglichkeiten« gefiel, überschüttete.

Ja, das galt sogar von denjenigen seiner Schriften, in denen er gar keine wunderbaren Erfindungen behandelte. Wie zum Beispiel in seiner »Reise um die Erde in 80 Tagen«, erschienen 1873.

Wohl haben damals auch Erwachsene dieses Buch mit Vergnügen gelesen, haben es dann aber lächelnd den Kindern in die Hände gegeben.

»In 80 Tagen um die Erde! Pff! So ein Unsinn, so eine Unmöglichkeit!«

Na und heute? Heute braucht man dazu noch nicht einmal 60 Tage.

Dann aber hat Jules Vernes seinen prophetischen Blick auch auf dem Gebiete der Schule oder überhaupt der Jugenderziehung offenbart, ohne daß dies damals gewürdigt wurde.

»Die Schule der Robinsons!« heißt diese Erzählung.

Kinder werden auf eine Insel gebracht, müssen sich von grundauf durchs eigenes Nachdenken alles selbst fertigen.

Das, was dieser Dichter damals geträumt hat, wird jetzt bereits in Praxis ausgeübt.

In Nordamerika gibt es schon mehrere solcher »Robinsonschulen«, auch in England schon zwei.

Die Kinder kommen, so bald sie so weit sind — bei schulpflichtigem Alter, das in England mit dem fünften Jahre beginnt, oder schon vorher oder auch erst später, das ist ganz egal — in eine ländliche Kolonie, wo sie alles, was sie zu des Lebens Nahrung und Notdurft gebrauchen, sich selbst erzeugen und anfertigen müssen. Mit dem Urbarmachen des Landes fängt es an, dazu muß sich ein jeder einzelne den ersten Spaten und die erste Hacke selbst schnitzen, mit einem Steinmesser, er lernt eine Messerklinge schmieden, so verfertigt er sich die ersten eisernen Spaten und Hacken — eine kleine Gemeinschaft baut sich die erste Hütte aus Zweigen, daraus wird eine Blockhütte aus rohen Baumstämmen, daraus eine Bretterhütte, daraus ein Fachbau — bis zuletzt ein steinernes Haus entsteht, und alles, alles, was sich darin befindet, ist selbstgefertigt, das Hemd ist aus selbstgebautem Flachs gesponnen und gewebt, die Nähnadel und der Zwirn ist selbstgefertigt, das Tuch zum Anzug ist dem Schafe abgenommen, versponnen und verwebt.

Das, was wir Schulunterricht nennen, ist dabei ganz ausgeschlossen. Das heißt, daß sie dabei mit gefalteten Händen auf der Schulbank sitzen. Na ja, wenn sie lesen und schreiben und die ersten Anfangsgründe des Rechnens lernen, müssen sie dabei wohl still sitzen. Aber dann ist es hiermit vorbei. Alles Weitere erlernen sie eben gleich in der Praxis. Denn bei allem, was sie tun und fertigen, wird ihnen von vorgebildeten Lehrern auch das Woher und Wie und Warum gelehrt, die ganze Mathematik, die uns eingebläut wird, lernen diese Jungen — und auch die Mädchen — bei ihren praktischen Arbeiten. Wenn sie einen Kreis aus Holz aussägen, so haben sie zugleich geometrischen Unterricht aber das wird ihnen alles spielend beigebracht und das eben ist die Hauptsache!

Aber nicht nur das, sondern diese Kinderkolonien verwalten sich auch ganz selbständig, es sind kleine Republiken; wenn nicht einen Präsidenten, so erwählen sie doch ihren Gemeindevorstand, ihre Gemeinderäte, sie haben ihre eigene Gerichtsbarkeit, verhängen Strafen, und so weiter.

Wenn dann diese Kinder, diese Knaben mit 14 Jahren ins Leben treten, dann sind das schon vollkommene Männer, die sich in jeder Lebenslage zurechtfinden, in jeder, darauf darf man sich wohl verlassen. Und dennoch haben sie die schönste Jugendzeit genossen!

Wenn ich dagegen meine Schulzeit bedenke!

Ach, Du lieber Gott! Ach, Du großer Jammer!

Unsere Arbeiter erstreben als Ideal die achtstündige Arbeitszeit.

Wir Kinder hatten täglich außer Mittwochs und Sonnabends, sieben Schulstunden — und nun außerdem noch diese häuslichen Arbeiten! Mit zehn Stunden täglicher Arbeit konnte man getrost rechnen.

Und was für Ballast wurde uns aufgebürdet! Mit was mußten oder sollten wir unseren Kopf vollpfropfen! Meiner Berechnung nach neunzig Prozent davon . . . alles für den alten Fritzen!

Ein Glück nur, daß ich so schlau war, niemals Schularbeiten zu machen, und freilich ein weiteres Glück, daß sich auch mein Vater nichts aus meinen Schulzensuren machte. Wenn ich zu Ostern nur eben so gerade mit durchrutschte, damit kein ganzes Jahr verloren ging, dann war es schon gut, mehr verlangte er nicht von mir.

Freilich hatte ich deshalb auch in meiner Kinderzeit immer Sorgen, schwere, schwere Sorgen.

Die schriftlichen Hausarbeiten konnten vor der Schulstunde schnell noch abgeschrieben werden, was man sonst beantworten mußte, das wurde vorgesagt, da waren wir mit allen Hunden gehetzt, und wenn der Lehrer daneben stand, da wurde aus weiter Ferne signalisiert, dafür hatten wir eine eigene Zeichensprache erfunden — aber beim Auswendiglernen von längeren Sachen, da hörte doch so etwas auf.

Und ach, was haben wir vor zirka 30 Jahren alles auswendig lernen müssen! Besonders diese Bibelsprüche, diese Gesangbuchlieder!

Ich muß es hier aussprechen. Mir ganz egal, ob ich Anstoß errege. Es ist der heilige Geist, der mich dazu drängt, dem man nicht widerstreben darf.

Ich habe solches Zeug nie auswendig gelernt. Ich hatte keine Zeit dazu.

Und ich bin nie ein schlechter Mensch gewesen, bin keiner geworden. Ja, ich bin in späteren Jahren sogar sehr religiös geworden! Und eigentlich, wenn ich es mir recht überlege, bin ich es sogar immer gewesen!

Und da denke ich nun an einen Schulkameraden. Der Junge hatte ein ganz besonderes Faible für biblische Geschichte und was damit zusammenhängt. Der konnte fast die ganze Bibel auswendig. Wo der und der Spruch stand, die Sprüche herzuschnattern, die Gesangbuchlieder herzudeklamieren, das war seine Lust. Natürlich in Religion immer die Eins, natürlich überhaupt ein Musterknabe, der uns immer als Beispiel hingestellt wurde.

Und was ist aus diesem Jungen geworden?

Er wurde Kaufmann, hatte ein großes Geschäft. Mit betrügerischem Bankrott fing das Zuchthaus an. Aber dabei blieb es nicht, es ging immer weiter. Das letzte, was ich von ihm hörte, war ein Versicherungsschwindel mit Brandstiftung!

Gewiß, es ist eine Ausnahme.

Ja und doch . . . wo bleibt denn da die Nutzanwendung?

Genug davon!

Auch während des fünfwöchigen Aufenthaltes auf der Sandbank war keine richtige Gelegenheit zum Indianerspielen gewesen. Die ganze Umgebung mit dem dunklen und feuchten oder aber undurchdringlichen Urwald eignete sich doch nicht recht dazu. Und die Sandbank selbst war nur ein großer Sportplatz gewesen.

Aber hier in dieser luftigen, gesunden Höhe, auf diesen Prärien und in diesen parkähnlichen Wäldern, da war ja nun alles wie dazu geschaffen, um »Indianers« zu spielen. Und nun außerdem Pferde! Ich hatte ja diese Gegend gleich am zweiten Tage wieder verlassen, hatte von dem Plateau gar nichts weiter zu sehen bekommen.

»Also nicht wahr, Juba Riata. Sie lassen die Kinder hier einmal nach Herzenslust spielen!« hatte ich beim Abschied gesagt.

»Ohne Sorge, ich will aus den Bengels schon ganz waschechte Rothäute machen!« hatte Peitschenmüller gelacht.

Zufälligerweise waren wieder fünf Wochen vergangen, bis wir zurückkamen.

Ich hatte ja in dieser Zeit oftmals daran gedacht, erwartete bestimmt, hier die Kinder beim Indianerspiel zu finden . . . aber daß sie mir, von Juba Riata schnell instruiert, solch einen Empfang bereiten würden, das freilich hatte ich nicht erwartet.

Peitschenmüller berichtete ausführlich.

Alles, was ich an ihnen und sonst hier sah, hatten sie sich selbst gefertigt. Allerdings nicht so ganz buchstäblich genommen, nicht von grundauf. Für ihre stählernen Tomahawks hatten sie nicht erst Eisenerzlager und Hochöfen mit Puddelanlagen zu errichten brauchen. Stahl war schon genug vorhanden gewesen, die Beile waren ihnen von den Schlossern geschmiedet worden, aber auch viele Matrosen hatten dabei geholfen.

Na ja, wenn sie Bäume für Zeltstangen fällen wollten, Feuerholz zerkleinern und dergleichen, dann mußten sie auch richtige Beile haben, nicht nur solche hölzerne Tomahawks, mit Silberpapier überklebt, wie wir sie uns gefertigt hatten. Wenn schon, denn schon. Und diesen kleinen Männern, von denen jeder allwöchentlich seine Schießbedingungen mit scharfen Patronen aus englischen Infanteriegewehren zu erfüllen hatte, die bei der Arbeit in der Takelage immer das große Schiffsmesser benutzen mußten, denen konnte man auch ganz ruhig scharfe Beile in die Hände geben. Oder sie wären eben nicht diejenigen gewesen, die sie waren. Den Kopf spalteten sie sich nicht gegenseitig, das wußten wir schon.

»Sonst aber haben sie sich alles selbst machen müssen. Erst wurden Ziegen geschossen, sie mußten das Abhäuten lernen, dann das Gerben . . . «

»Womit haben sie denn die Ziegen geschossen?« fiel ich ins Wort. »Was sind denn das nur für kleine Gewehre?«

Da erfuhr ich es: Es waren Windbüchsen. So wenigstens werden die Dinger bei uns genannt, Wind— oder Luftbüchsen, ganz fälschlicherweise. Wohl gibt es Luftgewehre, die also mit Luft, nämlich mit komprimierter Luft schießen, aber zu kaufen bekommt man wohl keine. In den sechziger Jahren wurde einmal ein preuBisches Kavallerieregiment, oder nur eine Schwadron, mit Windbüchsen ausgerüstet. Sie leisteten fast dasselbe wie Pulvergewehre, aber der Lauf explodierte zu oft. Jetzt hat auch wieder Nordamerika pneumatische Geschütze von kolossalen Dimensionen, die Dynamitbomben schleudern, eingeführt. Weitere Versuche kenne ich nicht.

Das, was wir Luftgewehre nennen, deren Schleuderkraft beruht ganz einfach auf Federmechanismus, hat mit Wind und Luft gar nichts zu tun. So war es auch hier. An Bord hatte sich von jeher ein großer Raum voll Gasrohre befunden, sie waren schon bei der Übernahme des Schiffes vorhanden gewesen, Wozu, das wußten wir nicht. Der erste Maschinist war es gewesen, dem der Gedanke gekommen. In ein möglichst gerades Stück Rohr kam eine Spiralfeder hinein, eine Vorrichtung zum Anspannen und Abschnellen. Korn und Visier, eine besondere Öffnung für die Kugel, so daß es ein moderner Hinterlader wurde, hinten ein Kolben aus Holz daran, und das Gewehr war fertig.

Freilich ist das ja nun leichter gesagt als getan, aber für solche Bordmechaniker ist es tatsächlich eine Kleinigkeit, ach, was müssen die manchmal flicken, und nun gar unser erster Maschinist, dieses alte Männchen, gelernter Grobschmied und jetziger Goldarbeiter, überhaupt ein Tausendkünstler. Der machte, wenn man es verlangte, aus einer alten Kaffeemühle innerhalb weniger Stunden eine brauchbare Weckuhr.

Also der brauchte nur das erste Modell zu fertigen, dann gab es andere Hände genug, um innerhalb eines Tages alle 32 Jungen mit solch einer Waffe zu versehen.

»Wirklich eine ganz brauchbare Büchse,« sagte Juba Riata, in der Hand solch ein Gewehr, an dem er mir die Konstruktion erläutert hatte, »durchaus solid und zuverlässig, selbst eine Sicherung ist hier vorhanden, auf zehn Schritt glatter Kernschuß . . . «

»Aber ich bitte Sie‚« mußte ich ihn wiederum unterbrechen, »wie kann man denn nur mit so einem Federdinge eine Ziege erlegen?!«

»Nein, eine Ziege freilich nicht,« lachte Peitschenmüller, »nicht einmal einen Spatzen!«

»Ja, wozu haben sie denn sonst diese Dinger?«

Ich erfuhr es, mein eigener Scharfsinn reichte zur Erklärung nicht aus.

Die ganze Bande bildete zwei Stämme. Die Gelben waren die Kommantschen, die Blauen die Apachen. Natürlich mußten sie sich gegenseitig befehden. In welchem Falle nun war ein »Krieger« besiegt, mußte dem Gegner seinen Skalp, mit der Feder seiner Farbe geschmückt, ausliefern, wenn ein Ringkampf wegen der großen Verschiedenheit des Alters und daher der Körperstärke nicht in Betracht kommen konnte?

Ich betone ausdrücklich, daß die Jungen selbst dieses Problem in einer Beratung gelöst hatten. Die Sache war wirklich gar nicht so einfach gewesen.

Es wuchs hier oben überall, wie auch unten, ein Strauch, der schwarze Beeren trug, so groß wie die Vogelbeeren. Seinen botanischen Namen habe ich gar nicht erfahren können, die in Brasilien einheimischen Portugiesen nennen diese Pflanze Yammaia.

Die sehr dünnschaligen Beeren enthalten einen schwarzen, dickflüssigen, klebrigen, teerähnlichen Saft, sind ungenießar, werden auch sonst nicht verwendet.

Durch diese Beeren waren die Jungen auf den genialen Gedanken gekommen. Sie halten wohl einen kleinen Druck zwischen den Eingern aus, wenn sie aber heftiger aufschlagen, dann platzen sie, der schwarze Saft, ganz harmlos, ist nicht so leicht wieder zu entfernen.

Also jeder Krieger mußte auf der Brust ein spannengroßes Tuchherz von seiner Farbe tragen, mit etwas Baumharz darauf geklebt. Als erste Schußwaffe hatten Blaserohre gedient, aus Bambus gefertigt. Als der erste Maschinist davon gehört, war der gleich auf den Gedanken gekommen, hatte die Blaserohre durch richtige Gewehre ersetzt, oder doch durch Rohre, mit denen man so einigermaßen richtig zielen und schießen konnte.

Nun handelte es sich also darum, den Feind zu beschleichen und ihm einen »tödlichen« Schuß ins Herz beizubringen. Andere »Verwundungen« zählten nicht mit. Platzte die Beere, die Kugel auf dem Herzen, dann färbte der Saft den Tuchlappen schwarz, dann war der Getroffene einfach tot, hatte liegen zu bleiben und zu warten, bis ihm der Sieger den Skalp abgenommen hatte.

Dann durfte der Skalpierte wieder lebendig werden oder nein, noch nicht so ganz, ohne Skalp durfte er sich nur erheben, seine Waffen mitnehmen, mußte aber ganz still nach Hause gehen. Erst wenn er sich in seinem Wigwam einen neuen Skalp aufgeklebt und sein geschwärztes Herz wieder gewaschen hatte, war er wieder ein lebendiger Mensch durfte von neuem den Kriegspfad betreten.

Wirklich ganz genial ausgedacht! Man muß sich in die Sache nur richtig hinein versetzen, um diese Genialität zu begreifen. Es handelte sich hierbei um einen ganz richtigen Kampf um Tod und Leben, ohne daß die Geschichte irgendwie gefährlich werden konnte. Dann waren durch gegenseitiges Übereinkommen alle Kampfregeln auch bis ins Kleinste ausgearbeitet. Wenn sich zwei feindliche Indianer gegenüberstanden, durch gegenseitiges Beschleichen womöglich ganz unvermutet, so kam es eben darauf an, wer am schnellsten sein Gewehr anschlug und den tödlichen Schuß am sichersten abgab. Und nicht etwa, daß sich jemand schnell auf den Bauch warf oder dem Gegner den Rücken zukehrte, damit der sein Herz nicht treffen konnte! So etwas gibt es beim Indianer natürlich nicht, der sich die Skalplocke nur deshalb stehen läßt, um dem Gegner eine gute Handhabe zu geben, daß der ihm recht bequem die Kopfhaut abziehen kann. Immer frei dem Feinde Brust und Herz geboten. Nur auf die Geschicklichkeit des Anschleichens kam es an, oder auf die Schnelligkeit der Hand.

Und dann war die Sache immer noch nicht so einfach. Wohl mußte der einmal ins Herz Getroffene sofort niederstürzen, aber seinen Skalp brauchte er deshalb noch nicht verloren zu haben, den mußte der vorläufige Sieger ihm selbst abnehmen. Aber der Getroffene konnte ja Stammesgenossen in der Nähe haben. Die eilten herbei, um wenigstens noch seinen Skalp zu retten. So konnte es kommen, daß auch der erste Sieger noch Leben und Skalp verlor. Oder auch der bekam wieder Hülfe, dann entbrannte um die »Toten« ein heißer Kampf.

Und schließlich mußten die Toten, deren Skalps gerettet werden sollte, erst heimgetragen werden! Erst wenn der Betreffende in seinem Lager war, sogar im bestimmten Wigwam, erst dann erwachte er mit gerettetem Skalp wieder zum Leben.

O, es war alles bis ins Kleinste ausgearbeitet! Streitfragen, ob tot oder lebendig, ob der Skalp dem Feinde verfallen war oder nicht, konnten gar nicht vorkommen

»Peitschenmüller, da spiele ich mit!« rief ich ganz begeistert.

Denn ach, ich hatte damals noch ein so junges Herz! Habe es übrigens noch heute. Einige graue Haare haben dabei nichts zu sagen.

»Da sind Sie nicht etwa der einzige Erwachsene, der mitspielt!« lachte Juba, »die ganze Mannschaft spielt mit. Die Grünen sind die Pawnees, Sie als Roter würden wie ich zu den Sioux gehören. Die bekämpfen sich auch gegenseitig, manchmal allein, manchmal macht der eine Stamm mit den Apachen oder mit den Kommantschen Bundesgemeinschaft, wies gerade so kommt. Ja, wirklich, die Matrosen und Heizer haben auch solche Federbüchsen. Ach, und ich sage Ihnen, es ist wirklich ein ganz herrliches Spiel! Und glauben Sie, daß dieses kindliche Spiel auf die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten einen kolossalen Einfluß hat?«

Er erklärte näher, wie er das meinte, und ich glaubte es ihm.

Ich habe schon früher gesagt, daß Juba Riata nicht gern über sein früheres Leben sprach. Nicht etwa, daß er Grund zum Schweigen gehabt hätte. Ganz im Gegenteil. Der hätte etwas erzählen können, worauf er stolz sein durfte. Er war also auf einer Rinderfarm in Texas aufgewachsen, mitten zwischen Apachen, die sich immer gegen die Blaßgesichter auf dem Kriegspfade befanden, war dann aber als Cowboy oder Vaquero auch in Arizona und in anderen Indianergebieten gewesen, immer mit den Rothäuten im Kampfe liegend.

Das war so ein Mann, so ein Held des wilden Westens, wie ihn die Indianerschmöker verherrlichen. Aber er war viel zu bescheiden, um irgend etwas von seinen zahllosen Abenteuern zu erzählen. Das konnte höchstens einmal die Gelegenheit mit sich bringen.

Kurz, Juba Riata verstand alles, was der Wildwestmann können muß. Und jetzt weihte er die Kinder ein, ebenso die erwachsenen Jungen, in die Fährtenkunde und in alles andere, in die tausend Kniffe, um den Feind zu überlisten und sein eigenes Leben zu schützen.

Und nun wolle man sich die ganze Sache nur richtig vorstellen, um sie auch richtig würdigen zu können. Das Verlieren des Skalps war durchaus nicht entehrend. Aber selbstverständlich wollte doch jeder, der einen verloren hatte, nun baldigst einem Gegner den seinen abnehmen.

Und nun schlich so ein Junge, ob nun sechs— oder sechsundzwanzigjährig, durch die Prärie und durch den Wald, die Augen am Boden, um eine gefundene Splur zu verfolgen, um sich an einen Gegner heranzuschleichen, dabei aber mußte er seine Augen auch allüberall haben, mußte sein Gehör aufs schärfste anstrengen, um nicht selbst überrascht zu werden, hatte dabei immer auf das kleinste Merkmal am Boden zu achten . . .

Glaubt man, daß da fünf Wochen genügen, um die menschlichen Sinne bis zum feinsten Grade auszubilden, um einen Menschen überhaupt ganz zu verwandeln, und nicht zu seinem Nachteile?

Ich habe es selbst erlebt, daß es so ist. Weshalb wird denn der deutsche Soldat so intensiv im Felddienst, im Patrouillendienst ausgebildet, mit der Bemühung, ihn auch in der geistigen Selbständigkeit so weit als möglich zu bringen?

Es läuft auf ganz dasselbe hinaus. Wenn heute unsere Jungen mit obrigkeitlicher Erlaubnis im sonst gesperrten Walde »Pfadfinder« spielen — was wir früher »Indianers und Trappers« nannten — so ist dies durchaus nicht zwecklos. Es ist durchaus nicht nur als ein kindliches Spiel zu betrachten. Und es ist nicht nur für einen künftigen Krieg, nicht zur Vaterlandsverteidigung, sondern es ist für das ganze Leben.

Ja, ich habe es selbst beobachtet, was aus Kindern und auch noch aus erwachsenen Männern innerhalb von fünf Wochen werden kann, wenn sie solch eine Lebensweise führen, fünf Wochen lang täglich unausgesetzt und manchmal des Nachts mit intensivster Anspannung aller ihrer Sinne, die doch geistigen Ursprungs sind. Es ist wirklich fabelhaft, was da für eine Umwandlung mit dem ganzen Menschen stattfindet. Aber zu definieren ist diese Umwandlung nicht weiter. Nun, wir sollten es erleben, was diese Ausbildung aller Sinne für einen kolossalen Nutzen für uns hatte.

»Es gibt aber auch ein Lebendigfangen des Feindes,« fuhr Juba Riata in seinen Erklärungen fort, »das geschieht mit dem Lasso, sowohl zu Fuß wie zu Pferde. Überhaupt wird ja auch das gegenseitige Beschießen zu Pferde ausgeübt . . . «

»Ja, die Pferde!« mußte ich wiederum unterbrechen. »Wo haben Sie denn nur diese Ponys her?!«

»Na‚ die kommen hier oben eben auch massenhaft vor. Es sind zweierlei Rassen vorhanden, eine sehr große und eine ponyartig. Die großen, starken lassen sich allerdings sehr schwer zähmen. Wohl habe ich einige gebändigt und zugeritten, sie gehorchen ganz gut dem Zügel und dem Schenkeldruck, aber zu trauen ist ihnen niemals. Plötzlich wälzen sie sich, oder man hat plötzlich ihr Gebiß im Schienbein. Einen nicht durch und durch geübten Rauhreiter, der besonders auch über etwas — etwas . . . Brutalität verfügen muß, möchte ich gar nicht drauf setzen. Ohne zungenzermalmende Kandare und grausamer Stachelschiene wird man nie mit ihnen fertig. Also überlassen wir diese edlen Rosse nur lieber unserem Mister Tabak, der findet ihr schön durchwachsenes Fleisch ganz delikat. Einige andere Leute aber auch schon, es werden immer mehr, die Geschmack an Pferdefleisch finden, und ich sehe gar nicht ein, warum man denn Pferdefleisch verabscheuen soll. So werden diese großen Tiere bereits als Jagdwild betrachtet, das Fleisch wird schon geräuchert oder eingesalzen.

Die Ponys dagegen lassen sich äußerst leicht zureiten. Das ist wirklich ganz wunderbar, obgleich die Tiere doch so wild und störrisch aussehen. Schon nach einer Stunde vernünftiger, nicht grausamer Behandlung nimmt auch der zuerst unbändigste Wildling willig Sattel und Reiterlast auf sich, gehorcht ganz sanft der Trense. Und es sind gar starke Tiere, tragen einen anderthalbzentrigen Reiter stundenlang im schärfsten Galopp, ohne irgendwelche Erschöpfung. Auch einige unserer Leute sind schon ganz tüchtige Pferdebändiger und Zureiter geworden, so daß ich nicht mehr allein alle Arbeit habe. Besonders Hans hat nicht nur einen leichten Fuß, sondern eine überaus leichte Hand, was beim Zureiten die Hauptsache ist, wenn es sich nicht nur um ein bloßes Bändigen handelt. Natürlich mit der nötigen Kraft verbunden. Aber die leichte Hand merkt das Pferd sofort und ist dankbar dafür.«

»Gibt es Raubtiere hier oben?«

»Nur Panther. Wenigstens haben wir bisher noch kein anderes Raubtier erblickt. Freilich handelt es sich um ein Areal von mehr als zehn geographischen Quadratmeilen, es gibt darin die denkbar verschiedensten Regionen, erst der geringste Teil davon ist von uns erforscht oder doch untersucht, und solche Tiere halten sich immer nur in bestimmten Gebieten auf, die ihnen am meisten zusagen.«

»Dieselbe Pantherart wie unten?«

»Ja. Nur daß sie mir alle etwas größer zu sein scheinen. Sie kommen massenhaft vor. Das muß wohl auch sein, zumal wenn es wirklich die einzigen Raubtiere sind. Sonst würden sich ja die anderen, die pflanzenfressenden Tiere ins Ungeheure vermehren, bis sie sich selbst auffressen müßten, wollten sie nicht verhungern. Dem weiß, die Natur immer vorzubeugen.«

»Werden sie dem Menschen gefährlich?«

»Wenn sie angegriffen werden, natürlich. Wir jagen tüchtig auf sie, auch die kleinen Jungens haben schon viele geschossen, natürlich nicht mit der Federbüchse. Es gibt wenige, die noch kein Fell haben. Ein Unglücksfall ist noch nicht vorgekommen. Die Kerlchen schießen ja schon wie die Westernmens, wie die Hinterwäldler. Übrigens ist strenge Order, daß kein Junge ohne Beisein eines Erwachsenen, den ich selbst dazu bestimmt habe, einen Panther angreift. So lange Sie nicht hier waren, war ich dafür verantwortlich. Jetzt können Sie die Bestimmung ja ändern.«

»Sie mag nur so bleiben. Gibt es Schlangen hier oben?«

»Ja, mehrere Arten. Auch eine Riesenschlange, eine Netzschlange, der größten eine. Kommt ziemlich häufig vor, ist aber dem Menschen ungefährlich.«

»Giftschlangen?«

»Noch keine einzige gefunden.«

»Was gibt es sonst noch für bemerkenswerte Tiere hier oben?«

»Vor allen Dingen Büffel, welche . . . «

»Was, Büffel?!« rief ich erstaunt.

»Büffel, die ich für echte nordamerikanische Bisons halten möchte, nur daß sie nicht einen so ausgeprägten Höcker haben. Dafür sind sie noch größer, noch mächtiger . . . «

Peitschenmüller fuhr fort zu erklären, ich aber hörte nichts mehr.

Erschrocken war ich emporgeschnellt, blitzähnlich erwägend, welche Waffe hier wohl am angebrachtesten sei, die ich auch wirklich gleich zur Hand hatte, außer meines Revolvers in der hinteren Hosentasche, der mir aber zur Abwehr gar nicht recht geeignet erschien.

Ein dröhnendes Brüllen war nämlich erschollen, in dichtester Nähe, ein furchtbares Brüllen, und da trat es auch schon aus dem Gebüsch heraus, ein ungeheurer Büffel, ein Stier, mit mächtigen Hörnern, überhaupt ein mächtiges, ganz unheimliches Vieh!

Der amerikanische Bison, der Buffalo, wird im Durchschnitt am Widerrist zwei Meter hoch. Beim Bison besteht dieser Widerrist in einem hohen Höcker, daher auch diese für ein Rind doch ganz bedeutende Höhe.

Bei diesem Tier hier fehlte der den Bison doch etwas entstellende Höcker, und trotzdem betrug seine Höhe immer noch mindestens zwei Meter. Sonst aber glich er ganz einem Bison. Nun kann man sich vielleicht vorstellen, was das für ein Vieh war! Und nun noch dazu diese zottige, am Boden schleppende Mähne! Dieser Haarwulst!

Und jetzt senkte dieses Ungeheuer den ungeheuerlichen Kopf mit den rotglühenden Augen, richtete die ganz gefährlich spitzen Hörner direkt gegen uns.

Und da kann man vielleicht auch begreifen, daß ich schnellstens jeden Gedanken an eine Waffe aufgab und mich lieber nach einem Baume umsah, auf den ich reterieren könnte.

Nur weil Juba Riata ganz ruhig liegen blieb, tat ich es nicht. Obwohl ich Peitschenmüllers Verhalten ganz und gar nicht verstand.

»O, Sie brauchen nicht zu erschrecken,« sagte er jetzt ganz gemütlich nachdem er seine Erklärung, die ich also gar nicht mehr gehört, beendet hatte. »Komm her, Devil, komm her, mein Liebling.«

Und Devil, der liebliche Teufel, folgte dem Rufe, kam heran, nahm aus der ausgestreckten Hand ein Stückchen Zucker. Doch nein — ein Stückchen Salz.

Da erst bemerkte ich, daß das Ungetüm einen Ring in der Nase hatte, von dem aus ein Leitseil nach dem Rücken lief, und daß außerdem auf dem Rücken ein Sattel lag — freilich ein ganz anderer als ein Pferdesattel, ein ganz ungeheures Ding, der den Buckel umspannen mußte — mit entsprechenden Steigbügeln daran.

Ein zugerittener Büffel!

Im Augenblick aber mußte ich über etwas ganz Besonderes staunen.

Doch ein ganz merkwürdiger Kauz, dieser Juba Riata, dieser Peitschenmüller!

Man überlege sich die Sache nur recht.

Wir sprechen über Pferde. Wir sprechen über andere Tiere, die hier oben vorkommen. Wir unterhalten uns schon länger als eine halbe Stunde. Endlich bringe ich aus ihm heraus, daß es hier oben auch Büffel gibt.

Und dabei hat dieser Kerl schien einen Büffel gezähmt und zugeritten, der hier ganz dicht in seiner Nähe weidet‚ der nur nicht zu sehen ist und sich nicht bemerkbar macht!

Versteht der geneigte Leser, worum es sich hierbei handelt, worüber ich so staunte?

Wohl jeder andere hätte doch alsbald gesagt: »Hören Sie mal, ich habe schon so einen Büffel zugeritten, sehen Sie mal, haben Sie schon so etwas gesehen? Na, was sagen Sie denn dazu?«

Dieser Mann hier verlor kein Wort.

Wenn der Büffel nicht zufällig gebrüllt und aus dem Gebüsch gekommen wäre, wir hätten hier tagelang im Grase liegen können, dieser Peitschenmüller hätte nichts von seinem phänomenalen Reittiere erwähnt.

Dieser Mann hatte sich in seinen früheren Jahren einen indianischen Charakter angeeignet, es war noch immer etwas Indianisches an ihm. Das war es! Ich hatte so etwas schon öfters gemerkt, ohne mir richtig Rechenschaft über diesen Charakter geben zu können. Jetzt aber kam das einmal voll und ganz zum Vorschein, nun wußte ich es!

Und jetzt erst, als ich nicht mehr vom Schreck beherrscht wurde, sah ich auch, was für ein ungeheures, fürchterliches Vieh das war!

Zwei Meter hoch und drei Meter lang!

Man messe sich das einmal aus, und dann lese man über den Bison in Brehms »Tierleben« nach. Um es nämlich auch glauben zu können, daß es solch einen Ochsen wirklich gibt!

Dann aber gehe man nicht in den zoologischer Garten, um da an amerikanischen Bisons seine Messungen zu machen.

Was man da an nordamerikanischen Bisons zu sehen bekommt, das ist ja nur Schruz. Die sind in der Gefangenschaft geboren, und schon deshalb können es gar keine ganz echten sein, denn es gibt noch kein einziges Beispiel, daß sich wildeingefangene Bisons in der Gefangenschaft fortgepflanzt haben.

Auch die Bisons, welche Buffalo Bill mit seiner Indianerbande benutzt, sind keine echten. Es sind Abkömmlinge von Bisons aus dem Yellowstonepark mit zahmen Hauskühen, welche unter jene wilden Herden getrieben und dann wieder eingefangen worden sind. Trotzdem sind des Obersten Codys Mischlings—Bisons die schönsten und größten, die jetzt gezeigt werden, kein zoologischer Garten hat solche Exemplare aufzuweisen. Aber echte Bisons sind es noch lange nicht.

Die einzigen jetzt noch existierenden Bisons leben im Yellowstonepark, in jenem ungeheuren Nationalpark, auf dem Grenzzipfel der Staaten Wyoming, Montana und Idaho, eine der herrlichsten, imposantesten, schaurigsten Gegenden der ganzen Erde, wo die Natur einmal alles zusammengedrängt hat, was sie an Wundern nur irgendwie bieten kann, und der Yankee ist ideal und praktisch genug gewesen, diese 13 000 Quadratkilometer für tabu, für heilig, für unantastbar zu erklären. Dort gibt es noch große Büffelherden, sie dürfen nicht gejagt werden, leben sonst aber in ungebundenster Freiheit. Wer bei der Jagd erwischt wird, bekommt Zuchthaus, kann auch sofort niedergeschossen werden. Die Aufsicht führen einige Schwadronen Bundeskavallerie, aber nur zusammengesetzt aus erprobten Wildwestjägern.

Ich bin in späteren Jahren im Yellowstonepark gewesen, habe dort Büffelherden weiden, Stiere miteinander kämpfen sehen.

Für mich ist der amerikanische Bison das imposanteste, das fürchterlichste Tier.

Man kennt einen Löwen, man kennt einen Elefanten.

Wenn man das Wort »Löwe« oder »Elefant« hört, so kann man sich doch dieses Tier gleich im Geiste vorstellen. Aber das kann man beim Bison nicht.

Man denkt an ein Rind, an einen Ochsen.

Und nun sieht man plötzlich solch einen Ochsen.

Jawohl, einen Ochsen!

Der Anblick spottet aller Beschreibung.

Zwei Meter hoch und drei Meter lang!

Und das ist nur die Durchschnittshöhe, es gibt noch größere.

Und nun diese ungeheure Mähne, und dann vor allen Dingen dieses rote, glühende, furchtbar wilde Auge!

Das finstere Gesicht eines Löwen ist gar nichts dagegen.

Schon hier auf dem Gebirgsplateau im brasilianischen Urwald sah ich solch einen riesenhaften Bison. Nur dadurch vom nordamerikanischen unterschieden, daß der Höcker fehlte, daß der zwei Meter hohe Widerrist sich über den ganzen Rücken erstreckte. Also war er noch mächtiger als der eigentliche Bison.

»Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben!« sagte Juba Riata, über des Ungetüms Nase streichelnd und den ungeheuren Kopf krauend, was der Stier mit einem behaglichen Grunzen vergalt. »Mein Devil ist wie ein Lamm. Eigentlich hätte ich ihn daher lieber Angel, Engel, nennen sollen.

Mein Schreck — oder ich will nur lieber gleich sagen: meine Furcht war verschwunden

»Ja, wie kommen denn diese Ungeheuer nur hier herauf?!«

»Herr, das weiß ich nicht!« lautete die einfache Antwort, und es war auch eine dumme Frage von mir gewesen, nach dem Ursprung der Schöpfung zu forschen, worüber ich ja schon einmal gesprochen habe.

»Es ist kein ganz echter nordamerikanischer Büffel oder Bison?« konnte ich schon eher weiterfragen.

»Bis auf den Höcker. Sonst gleicht er diesem vollkommen.«

»Ich denke, der Bison läßt sich nicht zähmen, also wohl noch viel weniger zureiten?«

»Nein, und auch darin gleicht dieses Tier ganz dem amerikanischen Bison.«

»Auch darin?! Ja, Sie haben ihn aber doch zugeritten!«

Juba Riata blickte zur Seite, und es kam mir nicht anders vor, als wenn er meinen Augen ausweichen wolle.

»Herr Waffenmeister,« sagte er dann etwas leise, »ja, ich habe dieses Tier zugeritten. Ich kenne ein Mittel, um auch das wildeste Tier zu bändigen und es ganz meinem Willen zu unterwerfen, daß es mir wie ein Lamm folgt, mir wie ein Hund gehorcht. Aber zum zweiten Male möchte ich diesen Dressurakt nicht vornehmen. Fragen Sie mich nicht, wie ich es fertig gebracht habe. Es geschah auch an einer ganz abgelegenen Stelle, niemand durfte und konnte mir zuschauen. Ich habe es fertig gebracht, einen Bison zu bändigen und zuzureiten — genug! Einmal und nicht wieder!«

Da mochte es ja freilich schön dabei zugegangen sein.

»Na‚ da reiten Sie mir doch wenigstens einmal etwas vor!« sagte ich, denn Juba Riata machte keine Miene, in den Sattel zu steigen, und er hätte es sicher nicht getan, wenn nicht eine zwingende Notwendigkeit vorlag.

Aber meiner Aufforderung kam er sofort nach. Er voltigierte hinauf. Denn von einem Aufsteigen durfte man bei dieser Höhe nicht viel sprechen.

O, wie das schon aussah, der Mann auf dem Büffel!

Peitschenmüller war ein gar stattlicher Kerl! Aber gegen dieses ungeheure Reittier war er doch nur ein verschwindendes Menschlein!

Auch der Vergleich mit einem Elefantenreiter wäre ganz fehlgeschlagen, das war wieder etwas ganz, ganz anderes.

Nein, dieser langgelockte Mann auf dem kolossalen, mähnenumwallten Büffel, dicht hinter dem ungeheuren Kopf sitzend — einfach ein unvergleichlicher Anblick!

Und nun, wie er das Ungetüm zugeritten hatte! Eben genau wie ein gutes Schulpferd. Auf der Waldblöße ließ, er das Tier in allen Gangarten gehen, zuletzt in Galopp, in immer rasenderer Karriere.

O, dieser Anblick, wie das Ungeheuer mit tief gesenktem Riesenschädel dahinjagte! Unbeschreiblich!

Und ich dachte an etwas.

Früher benutzte man Elefanten, um die feindlichen Reihen in Verwirrung zu bringen, indem man sie einfach hineinjagte.

Was gab es wohl, was diesem Ungeheuer hier widerstanden hätte?

Felswände, künstliche Mauern in genügender Stärke. Sonst wohl nichts. Wehe, wenn dieser Büffel in eine Schwadron Kavallerie hineingerast wäre! Da wäre ja überhaupt gar kein Pferd mehr zu halten gewesen, sie brauchten dieses wütende Vieh bloß ankommen zu sehen.

Zuletzt ließ er den Büffel sogar über Büsche und einen Graben springen, und das riesige Tier tat es trotz seines unförmlichen Leibes mit einer Eleganz, wie ich es niemals für möglich gehalten hätte.

Dann hielt er wieder neben mir. Aber nun wie! Ein Ruck, und das Ungeheuer, eben noch in voller Karriere befindlich, stand plötzlich wie aus Erz gegossen.

»Prachtvoll! Herrlich! Unvergleichlich!« jubelte und staunte ich.

»Wollen wir einmal nach dem Sportplatz reiten?«

»Sportplatz?«

»Am See liegt er. Gar nicht weit von hier. Die Grünen fechten jetzt gegen die Roten ein Polospiel aus. Zu Pferde.«

»Zu Pferde?!«

»Jawohl, alle, alle sind schon beritten. Reiten Sie mit? Können Sie reiten?«

Ja, ich konnte reiten. Auf dem Karussell hatte ich schon geritten. Auch schon im Hippodrom, dreimal herum einen Groschen. Aber auch schon in orientalischen Häfen hatte ich schon geritten, auf der Straße, Ausflüge gemacht. Freilich nur auf Eseln. Und gar zu schnell durfte mir mein Reittier nicht werden. Sonst ließ ich den Zügel los und schlang liebevoll die Arme um den Eselshals. Wenn ich es nicht vorzog, an einer weichen Stelle mich sanft vom Rücken herabgleiten zu lassen.

Na‚ unterdessen hatte ich die Sache etwas geändert, ich war wieder der gewandteste Turner geworden, leistete noch viel mehr, als in meinen besten Knabenjahren. Mit dem Reiten hat die Turnerei ja freilich nichts zu tun, aber . . . doch darüber habe ich ja schon einmal ausführlich gesprochen.

Also her mit dem Gaul! Ein großes, starkes Pony wurde gebracht, die Steigbügel verlängert, und ich schwang mich mit der Grazie oder doch Geschicklichkeit eines Pavians hinauf, ohne den Steigbügel benutzt zu haben nämlich weil ich den nicht gefunden, wie auch mein Fuß gesucht hatte.

»Recht so, ein echter Wildwestmann muß von jeder Seite aus aufsteigen können!« lobte mich Juba Riata. Ach so, ich war ja von der verkehrten Seite aufgestiegen, von der rechten!

Aber wenn mich ein Juba Riata deswegen belobte, dann war es ja gut so.

Fort ging es! Erst im Schritt, dann im Trab!

Na‚ nun sage niemand mehr, daß ich nicht reiten konnte!

»Galopp!«

Nee, ich konnte doch nicht reiten.

Wenigstens muß es jammervoll ausgesehen haben, wie ich da oben herumschaukelte.

Aber die Hauptsache war doch, daß ich die Balance behielt, überhaupt nicht herunterkugelte. Das andere, was zum Reiten gehört, wollte ich schon mit der Zeit lernen.

»Dort kommt ein Wassergraben. Wollen wir ihn nehmen?«

»Nu sicher!«

»Werden Sie ihn nehmen können?«

»Nu sicher!«

»Das Pferd springt von allein. Nehmen Sie die Zügel etwas kürzer, Schenkel fest und Oberkörper etwas vor, dann schnell . . . «

Peitschenmüllers Anweisung kam zu spät, es war seine Schuld, er hätte schneller sprechen müssen.

Mein Gaul war schon gesprungen und ich . . . bruch, kladderadatsch ich war über den Kopf weggeschossen und lag drüben auf der Nase.

Aber das Pony war ausgezeichnet dressiert, das mußte man ihm lassen.

Auch das Tier, ein Hengst, bleibt sofort stehen, setzt nur die Vorderfüße über mich weg, und wie es so breitbeinig über mir steht, da fängt das Luder an zu . . .

Na Gott bewahre mich! Muß mir so etwas passieren!

Zwar war ich wie ein Blitz unter dem Pferdeleib hervorgesprungen, aber da war es schon zu spät, da hatte ich schon meine warme Dusche weg!

Und Peitschenmüller lachte auf seinem Büffel, daß ihm die Tränen über die Wangen rannen.

»Verzeihen Sie, Herr Waffenmeister, daß ich lachte aber so ein Mißgeschick, das nennt man Pech . . . «

»Ich verzeihe Ihnen, hoffe aber, daß Sie nicht alle Ihre Ponys so ausgezeichnet dressiert haben!« lachte ich selbst aus vollem Halse mit. Denn da bin ich doch nicht so.

Und dann war es ein großes Glück im Unglück, daß es niemand gesehen hatte. Denn wenn etwa Klothilde dabei gewesen wäre oder es später erfahren hätte — na‚ die hätte mich doch einfach tot gemacht!

Das Wasser war ja ganz in der Nähe, angezogen war ich auch danach — ich also hinein in die Schwemme, dann wieder hinauf in den Sattel — und nun machte ich gleich zum zweiten und dritten Male den Sprung, ohne wieder den Boden zu küssen. Nun hatte ich es schon heraus, worauf es beim Springen ankam.

Das Hexengoldtal blieb links liegen, nach wenigen Minuten schon in Trab und Galopp hatten wir unser Ziel erreicht.

Es war ein recht beträchtlicher See, an dessen südlichem Ufer sich das ganze Treiben entwickelte.

Ich habe einmal die Behauptung aussprechen hören, daß sich gerade in England der Sport nur deshalb so ungemein entwickelt hätte, weil England einen ganz besonderen Rasenboden habe.

Das wird wohl übertrieben sein, aber Tatsache ist, daß England einen Rasen besitzt, wie man ihn sonst nirgends in der Welt wiederfinden. Wenn das hohe Gras bei gutgepflegtem Boden ganz kurz geschoren wird, dann entsteht ein Teppich, der eben für alle Rasenspiele ganz unvergleichlich ist. Anderswo muß überall für Lawntennis ein besonderer Platz geschaffen werden, asphaltiert und mit Kies bestreut und gewalzt — ist in England alles gar nicht nötig. Einfach das Gras abgeschoren, und der herrlichste Sportplatz ist fertig, gerade so wie er für die Gummibälle beschaffen sein muß, weder zu hart noch zu weich, was aber auch für alle anderen Ballspiele gilt, und nicht zuletzt für das Pferderennen. Dieser Grasboden ist wie geschaffen für den Pferdehuf. Solcher Graswuchs läßt sich aber durch Kunst sonst nirgends erzeugen. Er hängt eben mit dem englischen Klima zusammen.

Hier war auch solch ein Boden, ein ganz natürlicher, der gar keiner Pflege bedurfte. Es war ein großes Felsenterrain, glatt wie ein Tisch, ohne jeden Riß auf dem in zweifußhoher Humusschicht tropisches Moos wucherte,hart wie Gummi, also doch etwas elastisch. Sonst duldete dieses Moos keine andere Pflanze.

Ich halte mich deshalb so lange bei diesem Sportplatz auf, weil jeder, der etwas von Sport kennt, doch weiß, wie sehr es auf den Boden dabei ankommt.

Auf dieser Moosfläche tummelten sich einige Dutzend Ponyreiter, tummelten sich ganz gehörig. Die Grünen fochten gegen die Roten einen Polokampf aus.

Ich will darüber nichts weiter sagen, als daß es sich darum handelt, ob nun zu Pferde oder zu Fuß, oder auch zu Schlittschuh oder zu Rollschuh, einen Ball durch das feindliche »Tor« zu treiben.

Besonders bei der englischen Hautevolee ist dieses Ballspiel zu Pferd sehr beliebt, ganz besonders in Indien. Der Ball wird dabei mit langen Stöcken geschlagen und getrieben.

Ich wunderte mich doch etwas, daß das meine Jungen schon fertig brachten. Ich hätte da nun freilich noch nicht mitmachen können. Ich bekam schon grandiose Reiterkunststückchen zu sehen.

Aber auch noch anderes gab es hier zu sehen, nicht alle waren an dem Polospiel beteiligt, vielleicht nur die Hälfte.

Seitwärts davon in gehöriger Entfernung war die Humusschicht mit dem Moos abgehoben worden, auf der freien Felsbäche, eben und glatt wie ein Tisch, wie asphaltiert, wurde Rollschuh und Rad gefahren, und mehrere von ihnen hatten sich auch schon als Kunstfahrer ausgebildet, die sich in jedem Varietee hätten sehen lassen können.

Und dort ein Turnplatz mit sämtlichen Geräten, die des Nachts in einem Schuppen aufbewahrt wurden.

Und jetzt kam die Patronin mit den acht Turnern angerückt.

»Leute, hier stelle ich Euch Eure Kameraden vor, wir haben acht neue Argonauten bekommen, es sind die Meisterschaftsturner von Deutschland, sie werden Euch jetzt etwas vorturnen.«

Und die acht Kerls begannen zu turnen.

Dem Folgenden muß ich ein besonderes Kapitel widmen, es ist gar zu wichtig für uns.


46. KAPITEL.
DROHENDE KONFLIKTE UND WIE ICH SIE ZU ÖSEN WEIß.

»Es ist schon losgegangen, Georg.«

So sagte die Patronin am Abend zu mir in der Kajüte.

Wenn nicht einmal oben auf dem Plateau ein Nachtlager und vielleicht auch ein nächtlicher Schleichkrieg inszeniert wurde, so mußten die beiden Wachen, welche den ganzen Tag frei hatten, bei Sonnenuntergang wieder an Bord sein, die Kinder natürlich erst recht.

So hatte Kapitän Martin während meiner Abwesenheit bestimmt, und so würde auch ich es weiter halten. In den zwölf Tagesstunden konnten die sich oben genug austoben, konnten es ja auch abends bis spät in die Nacht an Bord fortsetzen.

»Was ist schon losgange?« fragte ich in bayrischem Dialekt, was meine humoristische Stimmung charakterisiert.

»Die Eifersucht!« war die lakonische Antwort

Ich hatte es gewußt.

Ich hatte doch meine Jungen beobachtet, als heute nachmittag dort oben die acht Turner ihr phänomenales Können an jedem Gerät entwickelt, auch auf den Sprungbrettern ins Wasser hinein, auch schon auf dem Rücken der Pferde. Sie waren eben sofort die unübertrefflichsten Kunstreiter gewesen. Aber das Staunenswerteste hatten sie doch wieder an den Geräten geleistet, besonders an Barren und Reck.

Die biederen Seeleute hatten gestaunt, dann aber waren ihre Gesichter verdrießlich geworden, dann mürrisch dann finster, dann verächtlich — und verächtlich hatten sie sich zuletzt abgewandt.

Meine Jungen waren ganz einfach von der Eifersucht erfaßt worden.

»Wenn das die neuen Argonauten sind, die ihr aus Neuyork mitgebracht habt, dann können wir alten Argonauten ja gehen. Sucht Euch nur noch mehr solche Turnerhelden zusammen, die Euch etwas vorzappeln.«

Nicht etwa, daß ich dies sagen hörte. Von keinem einzigen, keine Andeutung davon! Aber ich las diese Worte ihnen förmlich von der Stirn ab, aus den Augen heraus.

Einfach die Eifersucht hatte sie erfaßt.

Die Eifersucht ist eine der häßlichsten Leidenschaften.

Doch nein! Für diese Untugend kann der Mensch am allerwenigsten, dagegen hilft kein Ankämpfen, also soll man sie auch nicht häßlich nennen.

Die Eifersucht ist eine Leidenschaft,
Die stets mit Eifer sucht,
Was Leiden schafft.

Dieses geflügelte Wort ist wohl bekannt genug. Es schadet aber auch nichts, zu wissen, daß es von dem deutschen Philosophen und Theologen Schleiermacher ist; um von dem Geistreichtum dieses jetzt so wenig gelesenen Mannes wenigstens einen kleinen Begriff zu haben.

Und so ist es doch.

Andere unglücklich machen — und sich selbst am allertiefsten. In seinem eigenen Herzen schmerzhaft herumwühlen. Jeden Grund dazu verhundertfachen, und ist kein Grund dazu vorhanden, so wird einer mit jedem Raffinement gesucht.

Also meine Jungens waren eifersüchtig geworden.

Na‚ sie hatten in diesem Falle ja vielleicht auch wirklich einen Grund dazu.

Es gibt auch eine Art von Eifersucht, die man hochachten soll.

Bei den Tieren findet man diese Art von Eifersucht am ausgeprägtesten bei den Hunden, und gerade hierdurch werden sie die treuesten Freunde des Menschen, eben dadurch erheben sie sich himmelhoch über alle anderen Tiere.

Bei den Menschen hängt diese edle Art von Eifersucht mit der Vasallentreue zusammen, am stärksten im Nibelungenliede in der Person des Hagen von Tronje zum Ausdruck gebracht.

Mögen diese Andeutungen genügen.

Und für uns war die Sache wahrhaftig gar nicht so einfach.

Es drohte tatsächlich ein böser, böser Konflikt, durch den unsere ganze bisherige Harmonie in die Brüche gehen konnte.

Aber ich scharfsinniger Mensch — der wirklich scharfsinnige Leser verstehst doch wohl dieses Eigenlob — hatte das alles ja gleich in Neuyork vorausgesehen, als ich die Turner anwarb, ich geistreicher Mensch hatte auch gleich ein Mittel gewußt, um dies alles zu verhüten, der Sache noch die allerbeste Wendung zu geben.

»Offenbare es den Leuten gleich jetzt!« bat Helene.

»Nein, morgen früh erst.«

»Bitte, bitte, Georg, offenbare es den armen Jungen gleich jetzt!« flehte die Patronin noch mehrmals.

Aber ihr untertänigster Vasall ließ sich nicht erweichen, der blieb hart.

Mochten die Jungens nur einmal die ganze Nacht zappeln, sich mit ihrer Eifersucht herumbalgen, das schadete gar nichts.

Aber den Kapitän Martin weihte ich schon ein. Sonst freilich niemanden

Der Morgen brach an. Die dritte Wache hatte heute Deckwaschen, überhaupt den ganzen Tag Dienst, durfte das Schiff nicht verlassen. Da noch kein dritter Steuermann angenommen, war der Offizier dieser Wache noch immer der Kapitän selbst, den dritten Bootsmann hatte schon immer der Matrose Hein gespielt, er bekleidete diesen Rang auch schon längst.

Das Deckwachen begann. Nur wenige von den anderen beiden Wachen trieben sich an Deck herum, auch sie verschwanden nach und nach wieder, aber nicht, daß sie sich nach dem Plateau begeben hätten.

Nur die Kinder waren unter Peitschenmüllers und des Eskimos Führung schon abgerückt zum täglichen Spiel, heute war besonders großes Ger- oder Speerwerfen.

Aber vorher hatten die Kinder in der Batterie ihren »Törn« abmachen müssen. Bleibeschwertes Schnellgehen, Hantelstemmen und einige andere Übungen, immer mit täglich zunehmendem Gewicht, und waren es auch nur wenige Gramm. Daher die Muskulatur dieser Kinder. Man solls nur einmal probieren!

Zwar hatten sie dort oben noch viel bessere Gelegenheit dazu, auch auf dem Plateau war dazu alles vorhanden, dort konnte auch jeder noch nach Belieben üben und sich trainieren — aber der Morgentörn in der Batterie war nun einmal eingeführte Pflicht, der sich niemand entziehen durfte. Nur um ja keine Ausnahmen einreißen zu lassen. Daher, wiederhole ich, die Muskulatur dieser Kinder.

»Na‚ was ist denn?« wandte ich mich an eine noch an Deck stehende Gruppe der ersten und zweiten Wache. »Geht Ihr denn nicht auf das Plateau hinauf?«

»Nee.«

»Warum denn nicht?«

»Wi hämm keen Lust.«

So!

Na meinetwegen.

Das konnten die machen, wie sie wollten.

Freilich würde dann, wenn sie keine Lust mehr für dort oben hatten, bald ein anderer Wachtdienst eingeführt werden.

Auch diese letzte Gruppe der Freigänger begab sich ins Mannschaftslogis.

Ich blickte einmal hinein. Da hockten sie, Heizer und Matrosen, und wühlten in ihren Kleiderkisten herum.

»Habt Ihr denn heute schon Euren Törn abgemacht in der Batterie?«

»Nee.«

»Warum denn nicht?«

»Wi hämm keen Lust.«

So!

Na meinetwegen

Diese Morgenübungen gehörten ebenfalls nicht zum Schiffsdienst, darüber gibt es nirgends eine Vorschrift.

Das heißt: zum dritten Male durften sie mir diese Antwort nicht geben!

Doch so weit ließ ich es nicht kommen, ich wußte ja.

Die armen Kerls!

Ob sie wohl schon ihre Kleiderkisten packten?

Mit was für einem Herzen wohl?

Die Eifersucht ist eine . . . und so weiter.

Der Kapitän erschien auf der Kommandobrücke.

»Alle Mann an Deck!«

Die Bootsmannspfeife schrillte das Kommando nach. Die beiden Freiwaschen kamen an Deck, natürlich mit affenartiger . . . nein, mit der Geschwindigkeit mit der sie kommen müssen, im Sturmschritt.

Mürrische Gesichter konnten sie ja machen, so viel sie wollten, aber ihre Spazierhölzer schlenkern mußten sie aus Leibeskräften. Oder die Bootsleute hätten ein Feuer dahintergemacht, mit Stiefel und Faust, daß ihnen Hören und Sehen vergangen wäre.

Denn der Bootsmann, der das bei Gelegenheit nicht tut, womöglich gar, weil er nicht dazu fähig ist, der bekommt etwas ins Buch geschrieben, daß er nie wieder als Bootsmann fahren kann.

Sie kamen angestürmt, bauten sich auf. Da wir drei Wachen hatten, mußte ein Karree gebildet werden, nur eine Seite offen, die nach der Kommandobrücke.

»Der Kargo—Kapitän und Waffenmeister übernimmt das Kommando bis zum Beleg.«

Der nautische Schiffsführer sprachs und verschwand wieder im Kartenhaus, in dem er also einen Niedergang nach seiner Kajüte hatte.

Also ich war der Kommandant des Schiffes. Eigentlich war ich es ja immer, konnte ja sogar den Kapitän entlassen, aber dessen Würde mußte doch der Mannschaft gegenüber gewahrt werden, und in den eigentlicher Schiffsdienst hatte ich ja wirklich nichts hineinzureden.

»Wegtreten?« fragte der erste Offizier, als ich nicht gleich ein weiteres Kommando gab,

Nein. Die Leute konnten gleich stehen bleiben.

Und nun wollte ich mir auch einmal einen ganz besonderen Spaß machen.

»Aaaahhh Händs an Deck!«

Gleich alle drei Bootsmannspfeifen schrillten und trillerten, noch in ganz anderer Weise als vorhin, besonders die Stewards rannten, die Kajütenjungen, wurden dabei von den dazu abgeteilten Matrosen unterstützt.

Nämlich um die Exklusiven und die sonstigen Gäste an Deck zu bringen, aus der Koje heraus, falls sie noch darin lagen, Alle, alle mußten an Deck!

Na ja, das Schiff konnte doch sinken, oder brennen, oder sonst eine Lebensgefahr bestehen.

Nur wegen der Mama Bombe hatte ich Siddy schon vorher einen Wink gegeben, damit die nicht ihre vier Zentner aus der Koje zu wälzen brauchte, wobei sie regelmäßig das Moskitonetz zerriß, der Kapitän blieb in seiner Kajüte, und auch die Schiffsherrin hätte nicht zu kommen brauchen, die hätte, wenn es ihr Spaß machte, freihändig verbrennen oder wegsacken dürfen.

Aber auch die Patronin stellte sich schnellstens ein, Ilse an der Hand, beide schon angezogen, während Klothilde sich noch im kurzen Unterrock befand, und der Bandlwurm knüpfte sich noch die Hosen zu, wozu er bei deren endloser Länge ja freilich auch geraume Zeit brauchte.

Und nun gar unser armer Doktor Isidor! Der hatte gerade im Bade gesessen, war aber sofort herausgeholt worden, erschien nur in einen Bademantel eingewickelt, mit schneeweißem Kopf, die Haare eingeseift!

»Was ist los?! Was ist denn passiert?!«

»Angetreten!«

Sie traten an, die acht Neulinge in ihren grauen Turnerkostümen wurden mehr nach der Mitte bugsiert.

»Diese acht Burschen dort sind auf der »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden.«

So sprach ich, und alle wars!

Für den Leser muß ich aber wohl noch einige Erklärungen hinzufügen.

Für die Seeleute war es nichts Neues, daß gereifte Männer noch einmal als Schiffsjungen anfingen.

Ich persönlich kenne zwei Männer, welche in gereiftem Alter noch als Schiffsjungen in die Kauffahrtei eintraten.

Dabei schließe ich alle die vielen Jünglinge aus, die ich kenne, welche noch vor ihrer Militärzeit zur See, zur Handelsmarine gegangen sind. Teils, um wirklich Seemann zu werden, teils um nicht als Vier—, sondern als Dreijähriger in der Kriegsmarine zu dienen, also um »gezogen« zu werden, teils solche junge Leute, die ihr Einjährig—Freiwilligen—Examen gemacht haben und nun ihre einjährige Dienstzeit in der Marine absolvieren.

Denn das ist nur möglich — in der Matrosendivision wenn man vorher ein Jahr zur See gefahren ist. Man muß unbedingt mindestens 12 Monate Seefahrtszeit auf deutschen Segelschiffen nachweisen, sonst kann man nicht als Einjähriger in der Marine, d. h. in der Matrosendivision dienen. Dann aber ist es ja auch ganz schön. Man kommt auf jeden Fall hinaus, sieht etwas von der Welt, und es kostet absolut nichts. An Land muß der Einjährige freilich auch in der Kaserne schlafen, anders geht es nicht. Auch der Offiziersaspirant. Und in der Marine kann noch jeder Mann Offizier werden, jeder! Wenn er das Zeug dazu hat. Meist geht es über den Feuerwerksmaat hinaus. Sonst kann er nur Deckoffizier werden. Hat aber auch schon etwas zu sagen!

Nein, diese Jünglinge meine ich hier nicht

Ich meine gereifte Männer, die eine sichere Lebensposition aufgaben, um noch zur See zu gehen, um die Seemannskarriere zu ergreifen.

Der eine war ein siebenundzwanzigjähriger Kaufmann, ein gutgestellter Buchhalter, in Lebensstellung, der noch einmal den Schiffsjungen spielte, der andere, 32 Jahre alt, war . . . ein Assessor beim Landgericht.

Als gewöhnlicher Schiffsjunge zur See gegangen! Denn anders geht es nicht.

Drei Jahre als Schiffsjunge. Das ist Vorschrift, ist Gesetz. Die Zeit als Leichtmatrose hängt ganz vom Kapitän ab, aber unter einem Jahre geht es selten. Und dann, wieder Gesetz, mindestens zwei Jahre als Vollmatrose. Dann wird man zum Steuermannsexamen zugelassen, wozu man natürlich erst eine Navigationsschule besuchen muß. Oder auch nicht so natürlich. Darauf könnte man sich eventuell auch durch Selbststudium vorbereiten.

Und all diese Zeit muß man auf deutschen Segelschiffen durchmachen! Dampfer und Ausländer zählen nicht mit.

Da sieht man also, was es für ein Märchen ist: die Zeiten der Segelschiffe seien vorüber.

Im vergangenen Jahre sind in Hamburg ungefähr 4300 Segelschiffe eingelaufen und wieder ausgelaufen. Und zwar Hochseeschiffe! Kleine Küstensegler nicht mit einbegriffen. Das spricht wohl am besten.

Das ist ein Viertel aller Hochseeschiffe, die Hamburg anliefen.

Mit der Tonnenzahl können sie freilich nicht mit den Dampfern konkurrieren, auch im Verhältnis nicht, daß stimmt allerdings.

Hinwiederum werden gerade jetzt immer mächtigere Segler gebaut, in Amerika schon Sechsmaster. Denn die Konkurrenz im Seehandel wird immer größer, und in der Billigkeit des Frachtsatzes können die Dampfer wieder nicht mit den Seglern konkurrieren.

Also die vorschriftsmäßige Zeit zum Zulassen zum deutschen Steuermannsexamen unbedingt auf deutschen Hochseesegelschiffen abgemacht werden.

Wenn sich nur recht viele Schiffsjungen zur Handelsflotte melden wollten. Wie sich die deutsche Flotte noch entwickeln wird, das ist noch gar nicht abzusehen, die scheint erst noch in den Kinderschuhen zu stecken, und außerdem muß besonders deshalb für Nachwuchs gesorgt werden, weil der Abgang der deutschen Matrosen und Seeoffiziere nach der englischen und amerikanischen Flotte ein ganz kolossaler ist. Alles deutsch, alles deutsch!

Ja, Schiffsjungen genug melden sich ja auch. Aber neunzig Prozent geht wieder nach Hause zu Muttern.

Denn freilich, leicht ist es nicht. Ein schwerer, schwerer Dienst, — harte, harte Arbeit! Man muß sich nur einmal die Hände solch eines Jungen nach der ersten Woche ansehen! Bis sich das nötige Leder gebildet hat. Es gibt keinen anderen Beruf, der solches Leder bildet. Diese nassen Taue! Und nun überhaupt alles naß. Naß in die Koje, mit gefrorenen Kleidern — man denkt, jetzt endlich kann man einmal seine vier Stunden abschlafen — da fängt wieder so ein Segel zu schlagen an »all Händs an Deck!« — und wieder geht die Balgerei auf den Rahen los, stundenlang. Und nun dazu noch dieser Schlangenfraß!

Aber wer es aushält, wer die nötige Energie und Intelligenz besitzt, und wer nicht zum Krüppel geschlagen wird oder sonst abfährt, der hat Aussicht, dereinst Kapitän zu werden, ganz sichere Aussicht!

Denn der Abgang ist groß, und sonst fährt man eben unter anderer Flagge. Der deutsche Kapitän wird von allen anderen seefahrenden Nationen mit Kußhänden aufgenommen.

Aber vor allen Dingen Energie! Das Ergreifen und Benutzen der gegebenen günstigen Verhältnisse! Daran eben lassen es ja die meisten fehlen, die trotz aller Intelligenz und seemännischen Tüchtigkeit Zeit ihres Lebens als Matrosen fahren. Sobald sie an Land ausgezahlt werden, versaufen sie alles. Saufen darf man natürlich nicht.

Ist man aber einmal Kapitän, dann ist man ein kleiner König. Zwar ein kleiner nur, aber selbstherrlicher als jede Majestät an Land. Die beiden Männer, die ich hier meine, haben es ausgehalten.

Und sie mußten als Schiffsjungen anfangen. Als ganz richtige Schiffsjungen. Da gibt es nichts. Und außerdem nun das uralte Zunftwesen!

Auch der Herr Assessor wurde von den Matrosen geduzt, während er sie mit »Sie« anzureden hatte, mußte ihnen das Eßgeschirr reinigen, alle anderen der niedrigsten Arbeiten verrichten, die dem Schiffsjungen zufallen.

Eine dreijährige Lehrzeit brauchten die beiden allerdings nicht durchzumachen. Die gesetzliche Vorschrift sagt nur, daß niemand unter 17 Jahren Matrose werden kann. Ist man schon darüber hinaus, so kommt es eben ganz auf die Leistungen an, dann kann der Kapitän nach Willkür zum Leichtmatrosen befördern. Freilich wird da der Kapitän sehr vorsichtig sein, er ist verantwortlich dafür, wenn er einen Mann als Matrosen qualifiziert, der noch nicht sämtliche Schiffsarbeiten versteht.

Ein Jahr Junge, ein Jahr Leichtmatrose — unter dem kommt sicher niemand weg. So war es auch bei dem Assessor, den ich näher kennen lernte. Und dann unbedingt 24 Monate als Matrose, ehe man zur Steuermannsschule zugelassen wird, das ist Gesetz, da kommt niemand herum.

Prügel bekommen solche große »Jungen« natürlich nicht mehr. Da ist ein »natürlich« angebracht. Ja, sie können Prügel bekommen, die Matrosen haben dazu das Recht. Aber dann sind es eben Waschlappen, die es nicht anders verdient haben, und solche gehen in späten Jahren doch nicht mehr zur See.

Aber immerhin, ich selbst habe gesehen, wie der Herr Assessor, als er nicht schnell genug einen Block einhing, vom zweiten Steuermann einen Tritt bekam, der ihn zu Boden warf.

Und der mußte ihn ruhig einstecken, konnte nichts dagegen machen.

Oder er wäre heute nicht Kapitän.

Denn dieser ehemalige Landgerichtsassessor, der die Juristerei satt bekam, der noch in spätem Alter sein Jugendideal verwirklichen wollte, der hat dieses sein Ideal wirklich erreicht! Der fährt heute einen großen Passagierdampfer zwischen Bremen und Indien. Der tauscht mit keinem Reichsgerichtsdirektor mehr!

Der andere, der Kaufmann, ging zur amerikanischen Flotte über und ist heute als Staatsbeamter Hafenmeister von Charleston. »Haben Sie nicht Lust, den Seemannsberuf zu ergreifen, Kapitän zu werden?«

So hatte ich die acht Turner damals gefragt. Nachträglich, nachdem ich sie schon engagiert hatte.

Kapitän werden? Ja, natürlich! Wer möchte das wohl nicht gern! Aber geht das denn?

»Ja, aber Sie müssen eine dreijährige Lehrzeit als Schiffsjunge durchmachen.«

Was? Dazu freilich hatte keiner Lust.

Da hatte ich eine halbe Stunde lang gesprochen, hatte alles erzählt, geschildert, Beispiele angeführt Prügel bekamen sie ja nicht bei uns. Aber den ungeschriebenen Zunftgesetzen mußten sie sich fügen.

Und lachend hatten sie freudestrahlend ihre Zustimmung gegeben, und sie waren durchs das deutsche Generalkonsulat auf dem Neuyorker Seemannsamt für die Hamburger »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden! Monatlich zehn Mark! Mehr gibt es auf deutschen Schiffen für den Jungen nicht. Reicht aus für die Kleidung, und mehr braucht er ja auch nicht. Was ich den acht Männern sonst gab, das ging ja niemandem etwas an. Die Heuer betrug zehn Mark. Nebenbei bemerkt: englische Schiffe nehmen überhaupt keine Jungen an; die Engländer sind so schlau, sich die besten Matrosen gleich fix und fertig vom lieben deutschen Vetter Michel liefern zu lassen.

»Diese acht Burschen dort sind auf der »Argos« als Schiffsjungen angemustert worden.«

So hatte ich jetzt von der Kommandobrücke herab als stellvertretender Kapitän gesagt.

Und das genügte.

Gleichgültig, ob diese Leute hier schon so einen Fall erlebt hatten oder nicht — jedenfalls wußten sie nun sofort, worum es sich handelte.

Ein allgemeiner, starrender Blick nach den acht »Burschen«, ein staunender Blick — und dann plötzlich heiterten sich alle die mürrischen und verdrießlichen Gesichter auf. Dann weiter ein allgemeines Grinsen, auch Grienen genannt.

Die hatten es sofort erfaßt!

Und hiermit war der drohende Konflikt beseitigt, alles Böse hatte sich zum Guten gewendet.

Inwiefern, wodurch — diese Antwort überlasse ich dem Leser. So leicht zu definieren ist es ja auch gar nicht.

Aber das war jedenfalls das einzige Mittel gewesen, um jede Mißstimmung sehnellstens zu beseitigen, alle Eifersucht, um die acht neuen Männer als gleichberechttigte Argonauten einzuführen — gerade als die niedrigsten Schiffsjungen, die eventuell jeder Matrose backpfeifen konnte.

Zunächst aber mußten die neuen Schiffsjungen auf die Wachen verteilt werden, das ist immer das erste bei einer neuen Massenanmusterung.

Die Exklusiven und Gäste konnten dazu wieder wegtreten, die »Gefahr« war ja vorüber. Aber nur Doktor Isidor verschwand, in seinem Bademantel gewickelt, nicht schlecht auf mich raisonnierend.

Die Verteilung der neu angemusterten Mannschaft auf die Wachen ist Sache der Offiziere, der Kapitän kümmert sich nicht darum. Die neuen Leute treten an, die Steuerleute rufen beim Namen oder winken, immer abwechselnd, bis die ganze Portion verteilt ist. Das sind immer kritische Minuten für die Offiziere, zumal wenn sie die Matrosen sonst noch gar nicht kennen gelernt haben. Jeder will natürlich die besten Matrosen für seine Wache haben. Aber woher soll man das wissen? Die Papiere sagen gar nichts. Solche mit schlechten Zeugnissen hat der Kapitän doch gar nicht angemustert. Da muß man sich auf den Blick verlassen, auf die seemännische Menschenkenntnis, wobei man sich aber doch oft grimmig täuschen kann.

Kritisch ist für den Steuermann diese Auswahl bei der Verteilung deshalb, weil er allein für die Leistung der ganzen Wache verantwortlich ist. Klappt einmal ein Segelmanöver nicht, passiert sonst etwas während dieser oder jener Wache, dann ist es allein der wachthabende Offizier, der vom Kapitän das Donnerwetter bekommt. Und was für ein Donnerwetter, manchmal mit Blitz und Hagelschlag! Um die einzelnen Matrosen, die schlapp und ungeschickt gewesen sind, kümmert sich der Kapitän gar nicht. Der hält sich nur an den führenden Steuermann, der muß dann alles ausbaden. Das ist genau so wie im Heer, wenn beim Manöver eine Kompanie einen dummen Streich gemacht hat, nur die Soldaten selbst sind daran schuld — aber diese Soldaten werden dann doch nicht etwa zum Zivil entlassen, sondern der vielleicht ganz unschuldige Herr Hauptmann ist es, dem ein »Major ade!« zugerufen wird, der den Helm mit dem Zylinderhut vertauschen muß.

Ja, die Verteilung dieser acht Schiffsjungen, von solchen strammen Bengeln war wirklich eine ganz wichtige Sache, und es ging sofort los.

»Die Jungen werden mit ihren Vatersnamen gerufen!« brauchte ich nur noch zu sagen, und begab mich an Deck, um selbst mit zu wählen, als dritter, denn jetzt galt ich nur als dritter Steuermann, wie es auch beim Kapitän selbst gewesen wäre, das heißt als Offizier der dritten Wache.

Diese Familiennamen waren im Laufe des gestrigen Tages schon allgemein bekannt geworden.

»Häckel!« sicherte sich der erste Steuermann sofort den Advokatenschreiber mit den riesenhaften, herkulischen Umrissen, und der Gerufene marschierte hinüber.

»Starke!« schrie Ernst, der zweite Steuermann, mit einer krampfhaften Hast, als fürchte er, ein anderer könne ihm diesen Mann wegnehmen.

Der Schriftsetzer, der mit seinen muskulösen Riesenpfoten auch lieber Granitblöcke als Letterchen hätte setzen sollen, wie er überhaupt der Statur nach am meisten dem Advokatenschreiber ähnelte, marschierte zur zweiten Wache hinüber. Das »marschieren« ist wörtlich zu nehmen.

»Schneider Schnipplich!« entfuhr es mir.

Alles lachte.

Es war mir wirklich nur entfahren. Ich wußte, daß Günther Schneider war, daß er allgemein Schnipplich genannt wurde, ich war nicht gleich auf den richtigen Namen gekommen — da hatte ich zur Sicherheit »Schneider Schnipplich« gerufen.

Nun blieb es aber auch bei diesem Schneider—Schnipplich!

Also der kleine, dicke Stöpsel, fast eine Fettkugel, schnippelte mit zierlichen Schrittchen zu mir hierüber. Natürlich wußte ich schon, wen ich für des Kapitäns eigene Wache gesichert hatte. Ein phänomenaler Kerl, dieser Herrenkleiderkünstler! Wenn er auch Brüste wie eine Frau hatte. Das war bei dem aber alles Muskel!

»Swidersky!«

»Vogel!«

Gott sei Dank, der, auf den ich es abgesehen hatte, war noch frei! Ich hatte schon gezittert.

»Kretschmar!«

Der kleine, spindeldürre Damenkonfektionär hopste mit elegantem Sprunge zu mir herüber.

Auch ihr Beruf war ja nun schon allgemein bekannt.

»Sie, Herr Waffenmeister,« mußte sich denn auch Klothilde gleich vernehmen lassen, »Sie wollen wohl ein Herren— und Damenkonfektionsgeschäft aufmachen?«

»Jawohl, und ich hoffe, daß Sie uns als erste Kundin beehren, um sich einen neuen Unterrock zuzulegen. Der da sieht ja scheußlich aus!«

Nun blieben noch zwei übrig, die ausgelost werden mußten: der Uhrmacher Hannemann und der Maler und Tapezierer Kaul.

Ersterer trug eine Brille und fiel der zweiten Wache zu, letzterer hatte sich an den Zimmerdecken beim Malen die Haare abgestoßen, hatte eine mächtige Glatze, und wurde durch das Los für die dritte Wache entschieden.

Gerade diese beiden, die niemand hatte haben wollen — wenn sie auch in der Turnerei den anderen durchaus nichts nachgaben — sollten die tüchtigsten Seeleute werden und das höchste Ziel erreichen. So ist es eben gewöhnlich.

Der Kapitän erschien wieder und nahm mir formell durch »Beleg« das Kommando wieder ab. An Bord wird ein Kommando oder Befehl oder eine Anordnung nicht zurückgenommen oder aufgehoben, sondern »belegt«.

So, nun konnte es losgehen. Und es ging los! Die acht neubackenen Schiffsjungen sollten erst einmal vollen Tagesdienst tun, ehe sie mit zur Freiwache kamen.

Also schnellstens Arbeitszeug anziehen, und dann wurde ihnen zuerst der Schrubber in die Hand gedrückt — nein, zuerst ihnen gezeigt, wie sie den Besen überhaupt anzufassen hatten. Denn das will auch gelernt sein. Wenn so ein Matrose ein Dienstmädchen kehren sieht, dann sträuben sich ihm die Haare.

Dann war es natürlich Oskar, der als erster einen Jungen vornahm, um ihn »soltig« zu machen, salzig, scharf.

Er hatte heute Dienst, teerte gerade ein Segel.

»Du, Häckel,« sagte er zu dem Herkules, »lang mal hin zum ersten Bootsmann, laß Dir eine neue Teerzange geben. Der mit den krummen Beinen und dem Napoleonsgesicht, das ist der erste Bootsmann, und darauf ist er auch stolz — das heißt auf sein Gesicht, auf seine Beine weniger — er will auch so angeredet sein. Also Du sagst zu ihm: »Herr Napoleon, Sie möchten doch so freundlich sein und die Güte haben und mir für den Herrn Segelmacher eine neue Teerzange gehen.« — Verstanden? Nun lauf. Aber trapp, immer trapp!«

Also Häckel rannte, stellte sich in Positur vor das kleine Krummbein hin, ein Riese vor einen Zwerg.

»Herr Napoleon, Sie möchten doch so freundlich sein und die Güte haben und mir für den Herrn Segelmacher eine neue Teerzange . . . «

Das letzte Wort konnte er nicht mehr aussprechen. Da hatte das kleine Krummbein schon in die rechte seiner ungeheuren Tatzen gespuckt und zum Schlag ausgeholt.

»Du Näswater! Du Rotzjunge infamer! I hau Di een in de Snut . . . «

Zwar tat es der Bootsmann nicht, aber es genügte gerade.

Einmal nämlich wollte er nicht Napoleon genannt sein, und zweitens gibt es überhaupt so etwas wie eine Teerzange gar nicht . . .

So fing es an, und so ging es weiter. Auf diese Weise wurden die neubacktenen Schiffsjungen »salzig« gemacht.


47. KAPITEL.
DAS INDIANERSPIELEN WIRD ERNST.

Ungefähr acht Tage später ritt ich an einem herrlichen Morgen auf meinem Pony, auf dem ich nun sattelfest geworden, allein nach Norden durch Wald und Prärie, nur begleitet von Chloe, dem Schäferhunde.

Ich wollte einmal allein sein, einen ganzen Tag lang, vielleicht noch länger, wollte mich aber dazu doch nicht in ein Versteck legen. So machte ich gleich einmal eine kleine Forschungsexpedition auf eigene Faust.

Erforscht war das Plateau ja schon innerhalb der sechs Wochen, seitdem die »Argos« hier lag, so weit dies eben bei solch einem Gebiet möglich war. Wenn man einen Begriff davon haben will, was zehn geographische Quadratmeilen bedeuten, so nimmt man am besten eine Karte von der Umgegend seiner Heimat her, die man gut kennt, alle die umliegenden Dörfer, mißt ein Viereck von etwa drei deutschen Meilen ab und sieht nun nach, was da alles drinliegt. Dies also erkennt man, was zehn Quadratmeilen zu bedeuten haben, was es heißt, solch ein Gebiet mit Gebirgen und Tälern, mit Wäldern und Prärien, mit Flüssen und Seen zu erforschen, das heißt, es gründlich kennen zu lernen.

Wir hundert Menschen hätten vielleicht ein ganzes Jahr lang hier tagtäglich herumschweifen können, und dann fand man eines Tages noch immer ein weites Tal von den bizzarsten Formationen, von denen wir bisher noch keine Ahnung gehabt hatten.

Nur der ganze Rand des Plateaus war schon abgegangen, respektive abgeritten worden. Allüberall fielen die Felswände glatt wie die Mauern hinab, mindestens 300 Meter hoch, auf der Nord— und Ostseite stürzten einige prachtvolle Wasserfälle in die furchtbare Tiefe.

So war mir von Juba Riata berichtet worden, der während meiner Abwesenheit mit Matrosen und anderen schon wiederholte Forschungsexpeditionen unternommen hatte. Ich selbst hatte mich während der acht Tage nur wenige Kilometer von unserem Sportplatz entfernt, nur wie es Sport und Spiel mit sich brachte, ich hatte mich unausgesetzt meinen Jungen und Kindern gewidmet, und so war es mir nicht zu verdenken, wenn ich bei dieser meiner ersten Expedition einmal mit mir allein sein wollte. Es war für mich einmal ein Ruhetag.

Ich folgte keinem Rande, sondern wollte das Plateau zuerst möglichst in der Mitte nach Norden durchqueren Während ich so mein Pferdchen durch Wälder und Prärien lenkte, mehr im Schritt als im Trab, dachte ich dies und dachte jenes.

Zehn deutsche Quadratmeilen! Die vermochten bei diesem fruchtbaren Boden mit Ackerbau und Viehzucht mindestens 5000 Menschen zu ernähren, ganz selbständig. Ein unersteigbares Felsplateau, zu dem hinauf es vielleicht nur einen einzigen Schleichweg gab, der nur uns bekannt, der jedenfalls mit einer Hand voll Leute gegen ein ganzes Regiment zu verteidigen war.

Lag da ein Gedanke nicht sehr nahe?

Wir Argonauten setzten uns hier oben fest. Wir nahmen uns hier herauf germanische Frauen, die unserem Geschmack und idealen Zielen entsprachen. Wir zeugten Kinder und erzogen sie in unseren Idealen.

Vorläufig war dies noch herrenloses Land, stand noch unter keiner Regierung. Zwar war eigentlich gerade das Gegenteil der Fall, sowohl Frankreich wie Brasilien machten Anspruch darauf — doch das ist fast dasselbe: so lange sich zwei Hunde um einen Knochen streiten, so lange gehört der Knochen noch keinem von ihnen. Erst wenn der Knochen in einem Magen begraben ist, dann erst kann der betreffende Hund mit Recht sagen: dieser Knochen gehört mir! Vorher nicht.

Doch ob nun Frankreich oder Brasilien, das war ja überhaupt ganz gleichgültig. Wir pflanzten hier oben einfach die Argonautenflagge auf — »Argonautien sollst Du heißen Du, jungfräuliches Land!« — als brave Christen feierten wir natürlich einen Dankgottesdienst, daß uns der liebe Gott hier so ein schönes Land geschenkt hatte, besaßen wir schon Kirchenglocken, so wurden die geläutet, sonst spielte jedenfalls die Orgel, dazwischen einige Kanonenschüsse — und die selbständige Republik Argonautien war erklärt. Oder wollten die Argonauten lieber einen König dazu haben, mich dazu wählen — gut, wurde angenommen, da bin ich nicht so — also dann war eben das Königreich Argonautien fertig. Oder vielleicht auch das Kaiserreich.

Dann, nachdem ich mich als König oder Kaiser von Argonautien — am besten beides zugleich — aller Welt proklamiert hatte, richtete ich in allen Hauptstädten Gesandtschaften ein, nahm nach allen Regeln der politischen Kunst erst einmal einen tüchtigen Pump auf, weil das nun einmal zum Anstand gehört . . .

Doch nein, bevor ich noch meine Gesandtschaften in England, Deutschland, Frankreich, Montenegro und so weiter eingerichtet hatte, würden hier wohl von der Nordseite her die Franzosen und von der Südseite her die Brasilianer mit Heeresmacht angerückt kommen.

»Herunter da, Ihr Strauchdiebe, was habt Ihr dort oben zu suchen! Das ist Regierungsgebiet!«

Natürlich kamen wir nicht herunter.

Da wollten sie zu uns herauf.

Hieran hatten wir und ganz besonders ich als König natürlich schon gedacht, hatten an dem Eingange zu dem Schleichweg bereits eine Warnungstafel angebracht:

»Achtung! Geschlossene Gesellschaft! Gesperrtes Gebiet! Das Betreten des Königreiches Argonautien ist Fremden ohne besondere Erlaubnis streng verboten. Zuwiderhandlungen werden nach Paragraph 78 bis 2999 bestraft, nicht unter einen Tag Haft. Georg Stevenbrock — König von Argonautien.«

Natürlich würden die Franzosen oder Brasilianer nicht viel auf dieses Verbot geben.

Ebenso natürlich wußten wir dies aber auch, hatten uns schon darauf vorbereitet.

Natürlich hatte unterdessen unsere »Argos« schon alles herbeigeschleppt, was der Mensch und jeder Staat auf viele, viele Jahre hinaus zu des Leibes Nahrung und Notdurft braucht, darunter zum Beispiel auch Pulver und Blei. Und Kruppsche Kanonen.

Doch solche moderne Mordinstrumente und Materialien hatten wir ja gar nicht nötig.

Das Wort »sperren« soll von »speeren« kommen. Wenn früher ein Weg verboten wurde, so befestigte man dort einen Speer, die Spitze dem Kommenden entgegen.

So konnten auch wir es halten. Wir hielten den uneingeladenen Besuchern einen oder einige Speere entgegen, und gehorchten sie nicht diesem Wink, dann stachen wir auch zu.

Was wollten sie denn machen?

Gar nichts konnten sie machen.

Auch Legionen von Regimentern nicht.

Sie konnten uns nicht von unten her bombardieren.

Konnten uns nicht aushungern, uns nicht die Wasserleitung abschneiden.

Wir konnten uns hier oben in aller Mühe vermehren wie der Sand am Meere. Und wenn es genug Sandkörner waren, wenn auch erst nach einigen hundert Jahren, dann rückte der Überfluß an streitbaren Jünglingen aus, germanische Helden, um die Nachbarschaft zu erobern.

Bis zum Meere waren es nach Norden wie nach Osten nur 60 Meilen. Dort würde sich wohl ein Hafen finden lassen. Dann hatten wir, unsere Nachkommen, Ellbogenfreiheit.

Und so oft die germanischen Jünglinge auch wieder zurückgedrängt würden, auf der unbezwingbaren Hochburg fanden sie immer wieder Schutz, immer neue Scharen spie dieses Plateau aus . . .

Genug des Traumes!

Aber nicht etwa, daß nur ich jetzt solch einem Traume nachhing.

Wir hatten uns in der Kajüte schon oft genug darüber unterhalten.

Und nicht etwa, daß es ein unausführbarer, unmöglicher Traum gewesen wäre, eben nichts weiter als ein Traum.

So etwas wie eine Unmöglichkeit gibt es ja überhaupt gar nicht.

Das, was wir uns da manchmal ausmalten, war recht wohl zu verwirklichen.

Auf diese Weise sind ja überhaupt alle Königreiche und Staaten gegründet worden, von Zwingburgen aus.

Ja, die Ausführung war recht wohl möglich, wenn man da auch mit Jahrhunderten rechnen mußte.

Aber wenn wir uns auch darüber unterhielten, so dachten wir doch gar nicht daran, mit dieser Ausführung einen Anfang zu machen, uns hier niederzulassen und Ackerbau und Viehzucht zu treiben.

Wir waren Seeleute, die Liebe zur See und zum Schiffsleben war uns schon in Fleisch und Blut übergegangen, uns gehörte das ganze Meer, uns stand die ganze Welt offen, und wir wollten nur Gott danken, daß wir die englische Halbkriegsflagge bekommen hatten, die uns zu wirklichen Freiherren der See machte.

Das hier war nur ein kleiner Abstecher per Schiff in den brasilianischen Urwald hinein, wir hatten zufällig dieses Gebirgsplateau gefunden, alles war hier für unser Sporttreiben wie geschaffen, hier wollten wir einige angenehme Wochen verbringen, und damit basta! Dann ging es wieder dorthin, wo der Himmel am blauesten war, wo die Sonne am schönsten lachte oder wo das prächtigste Schneegestöber war.

Aber um Gottes willen sich nicht nur auf solche politische, welterschütternde Zukunftspläne einlassen!

Immerhin, unterhalten konnte man sich darüber, zum Scherz, aus dichterischer Neigung, wollen wir sagen, und so machte es auch jetzt mir noch den größten Spaß, solchen utopistischen Träumen nachzuhängen, während ich mein Pferdchen durch Wald und Prärie lenkte und der Schäferhund um mich herumstöberte.

So war ich ungefähr eine Stunde geritten, als ich eine Felsenformation erreichte, die ein kleines Tal bildete, oder eine Schlucht — also ein Fleckchen Grasland, aber auch mit schönen Bäumen bestanden, war von niedrigen Felsen umsäumt, unter einem solchen sprang eine klare Quelle hervor — ein idealer Lagerplatz, wie geschaffen zur Einnahme des ersten Frühstücks.

Ich war absichtlich mit nüchternem Magen abgeritten, hatte im Rucksack Weißrot, Butter und ein delikates Brathuhn, wie sie hier massenhaft herumflogen, fast so groß wie die Truthühner — freilich flogen sie ungebraten herum, in prachtvollem Federschmuck.

Also ich stieg ab, suchte mir ein geeignetes, vom Morgentau verschontes Plätzchen, hobbelte meinen Gaul und traf Vorbereitungen zum Frühstück. Aber nicht, daß ich mir erst ein Lagerfeuer anzündete. So romantisch war ich gar nicht veranlagt. Wenigstens jetzt nicht mehr. Diese Art Romantik hatte ich schon längst hinter mir. Sonst hätte ich mir ja auch erst ein Stück Wild schießen müssen. Aber Meister Kännchen verstand doch so ein Huhn viel besser in der Bratpfanne in feinster Tafelbutter braun zu schmoren, als ich hier am Lagerfeuer am Spieß und der mitgenommene Tee war in der Thermophorflasche noch brühheiß, die Butter dagegen in der Thermaphorbüchse noch eiskalt. Das zog ich aller Romantik am Lagerfeuer vor. Jetzt erblickte ich mein romantisches Ideal darin, die 32 Kinder und auch noch meine erwachsenen Jungen zu Elitemenschen auszubilden, gegen welche die alten Spartaner und die olympischen Sieger Schwächlinge sein sollten.

Auf einem moosigen Steine sitzend, zog ich mir mein Butterbrot und Brathuhn zu Gemüte, trank dazu Tee, war ganz Wonne. Ach, dieser herrliche Morgen! Und dieses herrliche Brathuhn! Auch Chloe war ganz weg ob so vieler Naturschönheit, saß neben mir und paßte gut auf, daß kein Knöchelchen verloren ging.

Plötzlich ein Knurren, ein wütendes Anschlagen und da tauchte es auch schon vor mir an einer Felsenecke auf.

Ein Reitersmann.

Ein Indianer.

Aber kein südamerikanischer, noch weniger ein brasilianischer, sondern nach aller Logik eine nordamerikanische Rothaut.

Erst dachte ich, daß Juba Riata wieder ein Späßchen gemacht hätte, mir auch hier so eine kleine Überraschung bereiten wollte. Daß er einen oder einige der Matrosen als Indianer herausstaffiert hätte, die mich hier überfallen sollten. Die erwachsenen Leute, also die Grünen und Roten, spielten, wie schon erwähnt, zwar ebenfalls »Indianers« mit, hatten sich aber noch keine solchen Kostüme gefertigt.

Nun, dachte ich, hätte sich das geändert, mir sollte hier in voller kriegsmäßiger Kostümierung eine Überraschung bereitet werden.

Natürlich war das nur so ein blitzähnlicher Gedanke, der mir durch den Kopf schoß, im nächsten Augenblick hatte ich meinen Irrtum erkannt.

Nein, das hier war eine ganz waschechte, eine geborene Rothaut, einer der Söhne des großen Geistes, wie sie heute noch in einigen Gegenden Nordamerikas herumstromern.

Es war eine hohe, sehr kräftige, muskulöse Gestalt von vorschriftsmäßig kupferroter Farbe, geschmückt mit der ebenso vorschriftsmäßigen Skalplocke, die aber wohl nicht nur auf einer Perücke befestigt war, noch weniger kostümiert als meine kleinen Indianer, seine Leggins reichten nur bis an die Waden, das heißt nämlich, er trug außer den Mokassins nur noch eine Art Gamaschen aus rotem Leder, sonst nackt bis auf den kleinen Schurz, bewaffnet war er der Hauptsache nach mit Bogen und Pfeilen, die ich über seiner Schulter hervorblicken sah, und in der Hand, die außerordentlich groß, und knochig und muskulös war — wirklich ganz auffallend, so daß man es gleich bemerkte — trug er eine lange, federgeschmückte Lanze.

So thronte er auf einem hohen, prächtigen Pferde, auf einem von der hiesigen großen Sorte, so blickte er mich an, erstaunt und drohend zugleich.

»Hugh, was will das Blaßgesicht auf den Jagdgründen der Apachen?!« erklang es in ganz gutem Englisch.

Merkwürdig! Fast ganz genau so war ich von meinen kleinen imitierten Indianern empfangen worden! Nur daß das die Kommantschen gewesen waren, hier war es ein Apache.

Vor allen Dingen aber gefiel mir diese ganze Art und Weise nicht, wie der mich anredete.

»Hugh, was hat denn die Rothaut mich hier beim Frühstück zu stören?« war meine erste Entgegnung, die mir so entfuhr.

»Was sagst Du da zu mir?« erklang es immer drohender und brüsker. »Wie wagst Du weißer Hund mich, die große Hand der Apachen, zu nennen?! Elender Knabe, Großhand nimmt Dich auf seine Lanze!«

Na‚ nun war mirs aber genug, nun stand ich aber auf.

»Du mich auf Deine Lanze nehmen? Großhand heißt Du? Da ist bei Deiner Namenstaufe wohl eine Verwechslung vorgekommen, man wollte Dich wahrscheinlich Großmaul nennen, wie?«

»Sohn einer Hündin, das war Dein letztes Wort!«

Und da legt der rote Kerl plötzlich seine Lanze ein und sprengt mit gesenkter Spitze auch schon auf mich los!

Hätte ich nicht einen blitzschnellen Seitensprung gemacht, so wäre ich im nächsten Augenblick durchbohrt gewesen, mitten durch die Brust, ich hätte damals meine Seele ausgehaucht, da wäre gar nichts zu fackeln gewesen.

So rutschte die Lanzenspitze gerade noch an mir vorbei. Weiter ließ ich ihn aber nicht kommen.

Wie er selbst gerade an mir vorbeisauste, griff ich schnell zu, packte ihn beim Fuß und beim Handgelenk, riß ihn von seinem Gaule herunter.

Wie er so herabstürzte, kam er mir, der ich zuletzt doch etwas in die Kniebeuge gegangen war, gerade auf das linke, etwas vorgestreckte Knie zu liegen — kam gerade so zu liegen, wie man einen Jungen überlegt, um ihm den Hosenboden auszuklopfen, und wie der Kerl nun so dalag, da dachte ich in diesem Augenblick an all die zahllosen Prügel, die ich auf diese Weise und in dieser Stellung von meinen Lehrern bekommen, weil ich das aufgegebene Gesangbuchlied wieder nicht auswendig gelernt hatte — na und überhaupt, mir war dieser Kerl doch wirklich zu dumm gekommen — ich sitze hier ganz ruhig da und frühstücke, da taucht dieser Kerl plötzlich auf und beschimpft mich ohne weiteres, natürlich gebe ich ihm eine Grobheit zurück — und da will mich dieser Kerl plötzlich aufspießen, hätte es auch wirklich getan, hätte ich nicht eine fixe Wendung gemacht — sonst hätte ich schon eine tote Leiche sein können — oder hätte ich mich gebückt, so hätte er mir mindestens ein Auge ausstechen können — und das ist doch gar keine Sache!

Kurz und gut, in diesem Augenblicke hatte es bei mir dreizehn geschlagen, und ich pochte dem tapferen Apachenkrieger hinten das Badehöschen aus, was ich nur pochen konnte, den Takt dazu mit passenden Worten begleitend:

»I — Du — Lau — se — junge — in — famer . . . «

Weiter kam ich nicht, obgleich es erst die Einleitung gewesen war. Noch rechtzeitig bemerkte ich, daß der Stromer plötzlich ein langes Messer in der Hand hatte, womit er wahrscheinlich untersuchen wollte, ob meine Waden echt oder nur auswattiert seien, aber ehe ihm das gelang, bekam er von mir links und rechts ein paar Backpfeifen mit der Faust. Da hatte er einen Ohnmachtsanfall, lag ganz mäuschenstill auf meinem Knie, ich legte ihn auf den Rücken, und ehe er sich wieder erholt hatte, war er mit seinem eigenen Lasso, den er um die Hüften gewickelt hatte, an Händen und Füßen gebunden.

Das heißt, mit den Füßen war ich noch nicht ganz fertig, nur der letzte Sicherheitsknoten fehlte noch, als ich bei meiner Arbeit gestört wurde.

»Throw up your hands! Hoch die Hände!«

So wurde nicht gerade gedonnert, es war vielmehr ein sehr hohes Stimmchen, welches mir das zurief.

So wie dieses Stimmchen sah auch das ganze Männchen aus, das mir mit vorgehaltenem Revolver befahl, sofort die Hände hochzuheben.

In solchen Situationen ist ja unser natürlicher Photographenapparat, Auge genannt, für Momentaufnahmen eingestellt, es ist ganz wunderbar, was man da in einem einzigen Augenblick alles sieht, wie das Gehirn sofort auch alles verarbeitet.

Es war ein Juba Riata in Miniaturausgabe, der da fünf Schritte entfernt vor mir stand. Bis an den Leib gehende Stiefeln mit Talersporen, unter dem breitrandigen Sombrero blonde Locken, die bis auf die Schultern fielen, und so weiter — eben auch so ein Cowboy oder Vaquero, nur klein und sogar zierlich, der mächtige Revolver, dessen Kolben die kleine Faust umspannte, nahm sich wie eine Handkanone aus.

Jedenfalls aber befand ich mich in einer ganz gefährlichen Situation. Denn jedenfalls war doch der Revolver scharf geladen, solche gestiefelte und langhaarige Burschen, ob sie nun groß oder klein sind, machen nicht langen Sums mit der Schießerei, und einer Kugel kann man nicht so schnell ausweichen wie einer Lanzenspitze.

Also ich beschloß, meine Hände erst einmal schnellstens hochzuheben, ehe dort der Revolver krachte. Dann später konnte man ja weiter sehen.

Das heißt, zu dieser Entschließung brauchte ich nur den tausendstel Teil der Zeit, die ich hier auf diese Erklärung verwende.

»Hoch die Hände!« erklang es, und da wollte ich dieser Aufforderung auch schon nachkommen.

Aber andere Pfoten waren noch fixer als die meinen. Und zwar nicht nur Vorderpfoten, sondern auch Hinterpfoten.

Plötzlich sauste es durch die Luft wie ein schwarzweißer Blitz, und der hieß Chloe.

Und da lag mein Revolvermann auch schon wie ein geprellter Frosch auf dem Rücken, und auf seiner Brust stand Chloe und wies ihm grimmig die Zähne, und ehe dem braven Tiere der Revolver vielleicht doch noch gefährlich werden konnte, war ich mit einem Satze schon dort und hatte das Ding ihm aus der Hand genommen.

»So, meine brave Chloe,« sagte ich, während ich dieses Männchen ebenfalls mit seinem eigenen Lasso band, aber nur an den Händen, »das war Nummer zwei, und aller guten Dinge sind bekanntlich drei. Diese gute Nummer drei wollen wir aber lieber nicht abwarten, sondern lieber machen, daß wir schleunigst von hier verduften. Passe mal gut auf, daß mir unterdessen niemand etwas tut, während ich hier dieses Männchen frachtfähig einpacke. Geh, such nach dem Feind!«

Der von Juba Riata dressierte Schäferhund — nein, eine Hündin war es — verstand und gehorchte sofort, verschwand in den Büschen und zwischen den Felsen, suchte die ganze Umgebung ab, und Chloe hätte mich schon rechtzeitig vor einem dritten Menschen, der nur ein Feind sein konnte, gewarnt.

Mein Entschluß war im Augenblick gefaßt gewesen. Hier durfte ich auf keinen Fall bleiben. Jeder, der jenseits über die niedrigen Felsen kroch, konnte mich wegschießen oder mit dem Lasso wegfangen, allein auf diesen Hund durfte ich doch nicht meine Sicherheit bauen.

Also nur erst einmal fort von hier, womöglich gleich nach unserem Lager. Denn diese Sache hier mußte doch erst einmal klargelegt werden. Dazu mußte ich aber auch gleich einen Mann mitnehmen, der uns die Erklärung abgeben konnte.

Das große Pferd des Indianers hatte das Weite gesucht, aber dort stand noch das Pony, auf dem der Cowboy gekommen. Es ließ sich von mir ruhig am Zügel ergreifen.

Erst hatte ich nur den weißen Mann mitnehmen wollen. Warum aber nicht auch gleich den roten? Es waren überhaupt sehr kräftige und auch sehr große Ponys, das hier ein ausnahmsweise starkes Tier, das recht gut zwei Menschen tragen konnte, zumal einer so ein kleiner Wicht war — also ich lud zunächst den Indianer, der noch nicht zur Besinnung gekommen, aber keinesfalls tot war, auf den Rücken des fremden Tieres, löste die Fußfesseln, ließ die Beine herabhängen, laschte so seinen sonstigen ganzen Körper gut fest. Dann war vorn noch immer Platz für einen Reitersmann.

»Nun seid so freundlich und steigt auf!« sagte ich als ich den Cowboy in die Höhe hob. »Leichter, als Ihr schon seid, braucht Ihr Euch nicht zu machen, nur die Beine wollt Ihr gefälligst ein wenig spreizen, und wenn Ihr Euch sonst ziert, dann gibt es einen Klaps.«

Es war ein noch junger Mann mit blondem Schnurrbärtchen, beim Emporheben fühlte ich trotz der sonst zierlichen Gestalt recht kräftig entwickelte Muskeln, sein sonnenverbranntes und verwettertes Gesicht war intelligent und auch freundlich zu nennen, durchaus nicht wild und verwegen — vor allen Dingen aber war es jetzt ein überaus bestürztes und daher etwas dummes Gesicht, das mich fassungslos anstarrte.

»Aber Sir, aber Sir,« stotterte er, »wer sind Sie denn nur, wie kommen Sie denn nur hierher . . . «

Auch durch diese Redeweise machte er mir durchaus nicht den Eindruck eines echten Cowboys.

»Diese Frage werde ich zunächst dann Ihnen vorlegen, ehe ich Ihnen eine Erklärung gebe!« war meine Antwort, während ich ihm noch die Füße unter dem Pferdeleib festschnürte.

»Wir wollen durchaus nicht Ihre Feinde sein . . .«

»Na‚ ich danke! Erst will Ihr roter Kamerad mich mit der Lanze anspießen, dann drohen Sie mir mit dem Revolver . . . «

»Nur ein unglücklicher Zufall, nur ein Mißverständnis! Ich versichere Ihnen, wertester Sir . . . «

»Halten Sie die Luft an! Wir haben dann noch Zeit genug zur Unterhaltung, jetzt habe ich erst anderes zu tun.«

Die Verladung war geschehen, ich vergaß auch nicht des Indianers Skalpiermesser und Lanze mitzunehmen, seinen Tomahawk konnte er ruhig im Gürtel behalten, vergaß auch nicht des Cowboys Revolver, auch nicht mein halbes Brathuhn und meine anderen sieben Sachen — so, nun konnte die Fuhre abgehen.

Ich schwang mich auf meinen eigenen Gaul, nahm den anderen beim Zügel und pfiff dem Hunde.

»Niemand in der Nähe, Chloe? Dann paß gut auf, daß uns niemand folgt, daß auch um uns herum niemand schleicht.«

Fort ging es, immer im Trab, nach unserem Sportplatz zurück, Chloe in voller Karriere immer in weitem Bogen um mich herum.

»So, Mister, nun können wir uns gemütlich unter halten. Wer sind Sie? Wie kommen Sie hierher?«

Ich gebe es kurz wieder, was ich von dem Manne innerhalb des dreiviertelstündigen Rittes erfuhr, wie er auch noch später sich und seinen Charakter offenbarte — dies alles gebe ich summarisch wieder, ohne die Reihenfolge einzuhalten. Denn das wurde ja eine ganz verzwickte Konversation. Auch bemerke ich gleich, daß ich ihm schon nach den ersten zehn Minuten seine Fesseln löste.

Harry Sandow. Sein Vater war in England Brauereibesitzer gewesen, so ein Bierkönig. Als er dann starb, die Brauerei »limited« wurde, Aktiengesellschaft, bekam jedes der drei Kinder rund zwei Millionen Pfund Sterling ausgezahlt. Sie sind ja ganz kolossal, diese englischen Brauereien. Es gibt ihrer eben nur wenige.

Dabei aber hatte Harry, der einzige Sohn, keine goldene Jugend verlebt. Hatte von der Pike auf dienen müssen, Malz schippen und Würze sieden, dann später im Kontor von früh bis abends hinter den Büchern sitzen. Und dabei war des armen Jungen Kopf ganz mit Indianergeschichten angefüllt gewesen, die in England ja noch viel verbreiteter sind als bei uns. Er hatte lieber Indianerhäuptling werden wollen.

Na‚ als er vor fünf Jahren frei geworden, noch immer ein zwanzigjähriger Jüngling, hatte er ja seiner Neigung folgen können. Und er war nach Amerika gegangen, hatte sich in allen Indianer—Reservaten herumgetrieben, von denen das sogenannte Indianer-Territorium zwischen Kansas, Arkansas, Texas und Neu—Mexiko nur das größte ist. Man betrachte nur einmal eine neuere Karte der Vereinigten Staaten größeren Maßstabes, was für eine Unmasse von Gebieten den Indianern noch reserviert sind, die man nicht betreten darf, oder nur auf das eigene Risiko hin, seinen Skalp zu verlieren. Die Romantik der Indianerherrlichkeit ist noch längst nicht so entschwunden, wie es die Schullehrer den Jungen glauben machen wollen, damit die nicht durchbrennen, um ein reelles Indianerspiel mitzumachen.

Also Harry hatte brav mitgemacht, hatte mit den meisten noch existierenden Indianerstämmen gejagt, sich an ihren Kriegsfehden beteiligt, war ein durchaus tüchtiger Kerl geworden. Konnte jede Fährte wie der geübteste rote Jäger verfolgen, stand auch im Kampfe seinen ganzen Mann. Was ihm am Knochenbau abging, das ersetzten ihm seine gestählten Muskeln. In der sonnenverbrannten Wüste zu schmoren, vor Durst die Zunge aus dem Halse zu recken, das war ihm die wahre Lebensfreude. Merkwürdig war, daß er sich dabei so gar nichts vom indianischen Charakter angeeignet hatte. Immer heiter, immer kreuzfidel und puppenlustig. Es war nämlich ein unverbesserlicher Phantast, Idealist und Optimist, von welchem seinem Charakterzuge ich später noch mehr sprechen werde. Oder eines will ich gleich jetzt erwähnen: wenn der einen Feind getötet hatte, den zu hassen er allen Grund haben mußte, weil der ihn vielleicht schon einmal furchtbar gemartert hatte, und dann also tötete er ihn im Kampfe — dann orientierte er sich, ob dieser sein gefallener Feind eine Familie habe, und dann sorgte er für diese. Also eine Seele von einem Menschen! Aber auch ein unverbesserlicher Phantast.

Auch Südamerika hatte er sich angesehen. Nur um die Indianer zu studieren Ob die argentinischen Penchuenchen, und wie sie alle heißen mögen, vielleicht noch »idealer« seien, als die nordamerikanischen Rothhäute. Nein, das waren sie nicht. So war er wieder zurückgekehrt zu seinen geliebten Kommantschen, die er ganz besonders in sein Herz geschlossen hatte.

Vorher aber hatte er noch einen Abstecher nach Französisch-Guayana gemacht. Die hier hausenden Indianer und schwarzen Buschklepper sollten ganz hervorragende Krieger und Jäger sein.

Das hatte er zwar nicht bestätigt gefunden, aber dafür hatte er die Bekanntschaft eines französischen Jägers gemacht, der diese ganze Wildnis wie seine Hosentasche kannte und dabei ein gott- oder teufelsbegnadeter Held der Wildnis war, wie er im Buche steht.

Der alte Renard war sein Führer geworden, bis an das südliche Grenzgebirge von Guayana hatte er ihn geleitet.

»Was gebt Ihr mir, wenn ich Euch das größte Geheimnis dieses Landes, vielleicht der ganzen Erde das größte Geheimnis meines Lebens zeige?«

»Was verlangt Ihr dafür?«

Der alte Renard verlangte dafür, daß der junge Mann Erkundigungen einzog, was aus seiner Frau und sechs Kindern geworden sei, die er, Renard, von später Abenteuerlust getrieben, oder vielleicht war auch etwas der Staatsanwalt dabei, vor mehr als 30 Jahren in Lyon hatte sitzen lassen, von denen er nie wieder etwas gehört, so sehr er sich manchmal auch schon darum bemüht, freilich ohne selbst wieder nach Frankreich zurückzukehren.

Harry hatte es versprochen und — das sei gleich bemerkt — auch sein Versprechen gehalten, hatte ein ganzes Detektivinstitut mit Kabeltelegrammen damit beauftragt. Den sechs Kindern ging es allen gut.

Da, als Harry also das Versprechen gegeben, hatte ihn der alte Renard noch tiefer in das Gebirge geführt, in eine Schlucht hinein, die sich dann aber als ein aufwärts führender Tunnel erwies.

Also auch von der Nordseite her gab es solch einen unterirdischen Aufstieg nach diesem Plateau. Zweifellos war es ebenfalls ein ehemaliger Wasserlauf, der mit der Zeit versiegt war. Vielleicht gab es noch mehrere solcher Aufstiege. Überhaupt dieses ganze Plateau hatte Karstformation, das hatten wir schon längst erkannt. Das ist ein geologischer Ausdruck für eine Gegend, in der Wasserläufe im Boden verschwinden und anderswo wieder zum Vorschein kommen. Weil sich dies sehr häufig im Karst vorfindet, in jener Einöde in der Nähe von Triest, wohl schon zu Dalmatien gehörend. Wenn ein Fluß im Boden verschwindet und anderswo wieder zutage tritt, so nennt man das auch Karstphänomen, es ist ein wissenschaftlicher Ausdruck geworden. Im afrikanischen Kapland hat man es aber noch viel häufiger und großartiger als im Karst.

Also die beiden waren hier auf das Plateau gekommen.

»Hier ist das alte Eldorado!« hatte Renard scheu geflüstert.

Also auch er kannte die ganze Geschichte, kannte auch jenes Tal, wußte aber auch schon, daß es nur Katzengold war.

Freilich wußte der die Sache anders zu erklären, obwohl auch wieder der christliche Märtyrer in seiner Erzählung vorkam. Aber das war hier einst wirkliches Gold gewesen, erst durch den Fluch des gemarterten Missionars hatte es sich in wertlosen Goldglimmer verwandelt, und außerdem waren all die ehemaligen Einwohner dieses Landes in Pferde und Büffel und Ziegen und andere Tiere verzaubert worden.

Dies war auch der Grund, weshalb der Alte hier oben nicht jagen, sich gar nicht aufhalten wollte. Er hätte verhexte Menschen geschossen, er fürchtete sich überhaupt — vor Gespenstern. Nicht einmal sprechen tat er von diesem Plateau, es war sein Geheimnis, zum ersten Male hatte er es einem anderen Menschen offenbart.

Einige Tage hatten die beiden hier oben zugebracht, Mister Sandow war viel umhergeschweift und den ganzen Plateaurand abgegangen.

Dann waren die beiden wieder hinabgestiegen, Harry war nach Nordamerika zurückgekehrt, zu seinen geliebten Kommantschen, die ihresgleichen nicht hatten.

Es gibt mehrere Kommantschenstämme, die, früher alle zusammen in Nebraska hausend, jetzt auf verschiedene Reservate verteilt sind. Die Lieblinge von Mister Sandow hatten unter ihrem Häuptlinge, dem schwarzen Biber, ihre Wohnsitze im südwestlichen Texas, am Pecos River.

Diese Gegend war ihnen von der Regierung in Washington für »ewige Zeiten« als Reservat angewiesen worden. Wenn aber Geld oder Geldeswert dazwischen kommt, dann ist die »Ewigkeit« manchmal recht kurz, besonders in Amerika.

In diesem geheiligten Gebiete waren mächtige Kupfererzlager entdeckt worden, und nun mußten die Kommantschen hinaus zum Tempel! Ein Vorwand war bald gefunden. Also sie sollten wiederum anderswohin verpflanzt werden.

Die Kommantschen hatten sich so eine Verpflanzung schon zweimal gefallen lassen, diesmal nicht wieder. Es wäre zum mörderlichen Kampfe gekommen. Und der benachbarte Apachenstamm hätte mitgemacht, weil der auch fort mußte. Zwar herrschte von jeher zwischen Kommantschen und Apachen die erbittertste Feindschaft, ein ewiger Kampf — die Regierung ist nämlich so schlau, immer zwei solche Stämme, die sich hassen wie Hund und Katze, als Nachbarn zusammenzubringen, da geht das Verschwinden der lästigen und so kostspieligen Rothäute am allerschnellsten — jetzt aber wurden sich die beiden feindlichen Stämme einig, tranken zusammen Blut, schworen sich Freundschaft, natürlich auch wieder eine »ewige«. Kampf den Blaßgesichtern bis aufs Messer, bis zum allerletzten Mann!

Tatsächlich nur die Ankunft von Harry Sandow hatte ein ganz greuliches Morden verhindert. Die beiden Stämme konnten zusammen 142 geübte Krieger ins Feld stellen, das ist in solchen wilden Gegenden gar nicht zu verachten. Und wenn sie besiegt wurden, was ja gar nicht ausbleiben konnte, so schlachteten sie wie gewöhnlich vorher alle ihre Weiber und Kinder und Greise ab. Es ist doch scheußlich!

Da also war gerade im letzten Moment Harry Sandow angekommen und er brachte es fertig, den Verzweiflungskampf zu verhindern.

»Komm mit mir, meine roten Brüder! Ich habe für Euch neue Jagdgründe gefunden. Und nicht etwa solche, wie man Euch jetzt in der trostlosen Llano estacado anweisen will, wo Ihr ja verhungern müßt, weshalb Ihr ganz recht habt, wenn Ihr Euch durchaus nicht dorthin verpflanzen wollt. Nein, herrliche Jagdgründe, auf denen es von Wild aller Art wimmelt, sogar Büffel gibt es dort in ungeheurer Menge.«

So hatte der weiße Jäger, der hier Heimatsberechtigung besaß, gesprochen.

Hugh, Büffel!

Nur die ältesten Krieger konnten sich dieses edlen Jagdtieres noch erinnern. Aber davon wissen taten sie alle.

Da waren sie sofort bereit, dem weißen Bruder zu folgen.

Es war übrigens eine ganz große Sache, dieses Vertrauen, das man diesem weißen Jäger entgegenbrachte, worüber sich dann besonders Juba Riata noch sehr wundern sollte. Gerade deshalb bekam er vor dem Männchen die größte Hochachtung.

Aber auch an die Regierung mußte sich Sandows deswegen wenden.

»Wo liegen denn diese neuen Jagdgründe, die Sie den Kommantschen und Apachen anweisen wollen?«

»In Afrikal!« lautete die Antwort.

Da hatte die amerikanische Regierung gar nichts weiter zu fragen, Afrika ging sie nichts an.

Es waren genau 413 Menschen gewesen, Männer, Weiber und Kinder, mit denen Sandow nach Galveston gewandert oder zum Teil auch mit der Eisenbahn gefahren war. Nur ihre Pferde hatten sie zurückgelassen, sonst war alles Haus- und Jagdgerät mitgenommen worden, auch die Wigwams.

In Galveston charterte Sandow einen Dampfer, nach Afrika, nach Sierra Leone. So hieß es wenigstens, so wurde auf dem Seemannsamt gemeldet. In Wirklichkeit sollte er nach der Küste von Französisch—Guayana gehen. Darin wurde aber nur der Kapitän von vornherein eingeweiht, und der konnte so etwas machen, denn er fuhr sein eigenes Schiff, und überhaupt, wenn man so viel Geld hat wie dieser junge Mann, da kann man schon Verschiedenerlei machen. Im schlimmsten Falle hätte er einfach einen Dampfer gekauft, er konnte ihn dann ja wieder verkaufen.

Zwischen Organabo und Iracubo wurde gelandet, in einer Flußmündung in aller Heimlichkeit. Natürlich, heimlich mußte dies alles geschehen! Die Franzosen hätten doch niemals die Landung und den Durchmarsch von 400 nordamerikanischen Indianern erlaubt! Durch dieses Deportationsland! Vor Gayenne und vor der ganzen Küste kreuzen immer einige Kriegsschiffe.

Wenn es aber heimlich und geschickt genug gemacht wurde, so konnten diese die Landung und Ausschiffung auch nicht verhindern, dazu ist die ganze Küste denn doch zu groß, zu wild, zu unbekannt.

Und der amerikanische Kapitän, wenn auch ein Deutscher, den Sandow für sich gewonnen, war gerade der richtige, mit allen Hunden gehetzt, ein notorischer Schmugglerkapitän.

Also die Einfahrt in die Flußmündung und die Ausschiffung gelang, ohne daß man an behördlicher Stelle etwas davon erfuhr. Dann später hatte es nichts mehr zu sagen, da war der Indianertrupp schon längst unterwegs, an eine Verfolgung in der Wildnis war dann nicht mehr zu denken.

In elf Tagen hatten die mit ziemlichem Gepäck beladenen Indianer die 50 bis 60 Meilen zurückgelegt. Wenn man die dortigen Verhältnisse kannte, so war es ganz erstaunlich, wie der junge Mann sie so schnell und sicher geführt hatte. Juba Riata sprach ihm dann seine ungeschminkte Hochachtung aus.

Vorgestern nachmittag waren sie hier oben angelangt, das erste Lager wurde aufgeschlagen, gestern waren die ersten Pferde eingefangen und schnell zugeritten worden, heute früh hatten verschiedene Abteilungen die ersten Expeditionen eingetreten, um dieses Gebiet erst einmal kennen zu lernen, Sandow in Begleitung des schwarzen Bibers, des Häuptlings der Kommantschen, und einiger anderer Krieger, die er aber unterwegs verloren hatte, wofür er dann Großhand, einen Apachenkrieger, getroffen hatte. Gleich darauf war das Intermezzo mit mir geschehen.

Diese Erklärung, von mir hin und wieder durch Fragen unterstützt, hatte ungefähr eine Viertelstunde in Anspruch genommen, ich hatte also unterdessen meinem weißen Gefangenen die Fesseln gelöst.

»Nun wissen Sie alles, was ich zu berichten habe, wer ich bin und wie ich hier heraus komme, und nun sagen Sie mir wohl auch, wer Sie sind. Sie können sich denken, wie fatal es mir ist, hier noch einen anderen Menschen zu treffen.«

»Ja, jetzt können Sie das erfahren. Haben Sie vielleicht schon von der Hamburger »Argos« gehört?«

»Was, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Sie mit zu den Argonauten gehören?!«

»Tue ich.«

»Die zum ersten Male in Kapstadt solche Triumphe feierten, dann in Rio de Janeiro, die dann in Vancouver das großartige Rettungswerk ausführten, wofür die Schiffsherrin, die Missis Helene Neubert, dann vom englischen König zur Freifrau von der See ernannt wurde . . .«

»Diese Freifrau von der See ist meine Herrin.«

»Aber der erste dieser Argonauten, dieser Seehelden, wird Waffenmeister genannt, heißt Georg Stevenbrock . . .«

»Der bin ich selber.«

Noch einen grenzenlos erstaunten Blick auf mich, dann ließ er die Zügel fahren, um die Arme auszubreiten und mit ganz verklärtem Gesicht zum Himmel aufzublicken.

»O, himmlische Sonne, daß Du mir in meinem Leben noch einmal das Glück gewährst, einen dieser Argonauten kennen zu lernen!«

So jubelte er. Er jubelte noch ganz anders. Ich kann es gar nicht schildern, wie der sich in seinem Enthusiasmus benahm, was der sonst noch alles hervorsprudelte. Uns sind ja in den vielen Jahren manche Schmeicheleien gesagt worden, aber so etwas habe ich doch nie wieder zu hören bekommen. Und doch klang alles ganz ehrlich. Jedenfalls aber widerstrebt mir, so etwas wiederzugeben.

»Sie können auch alle anderen Argonauten kennen lernen, wir liegen alle hier oben.«

Ich schilderte ihm kurz, wie uns ein spanischer Prospektador, welchen Ausdruck er natürlich kannte, nach Eldorado hatte führen wollen, wie wir anstatt Gold nur goldglänzenden Glimmer gefunden hatten, wie wir nun schon seit sechs Wochen hier oben unsere Spiele trieben.

Ach, nun jetzt erst dieses Glück, daß er in das Lager der Argonauten kommen sollte! Darüber hatte er ganz seine Indianer vergessen. Ich aber nicht.

Ich hatte immer den Gefangenen im Auge behalten, der hinter ihm auf dem Rücken des Pferdes festgebunden war. Er war wieder zu sich gekommen, das merkte ich ganz deutlich, aber er lag noch mit geschlossenen Augen da, hatte nur den Kopf zur Seite gewendet, um sein Gesicht nicht den Sonnenstrahlen auszusetzen. Übrigens waren ja erst 20 Minuten vergangen, so lange hält man solch einen Transport schon aus, und nun gar solch eine Rothaut.

»Warten Sie erst einmal, Geehrtester — was sollen wir nun mit diesem Indianer anfangen?«

»Sie haben doch wohl gesehen, wie ich ihm den Hosenboden ausklopfte.«

»Großartig, großartig!«

»Wird er das nicht übelnehmen?«

»Übelnehmen?«

»Das wird doch natürlich gegen seine Ehre gehen, und ich möchte nicht, daß daraus böse Konsequenzen entstehen, möchte mich mit dem Manne lieber versöhnen.«

»Ich verstehe, ich verstehe. Aber Sie irren. O, wie kann man sich beleidigt fühlen, wenn man von dem Waffenmeister der Argonauten besiegt wird, da sind selbst Prügel nur eine hohe Ehre!«

Es war mit dem enthusiastischen Kerlchen eben nichts anzufangen.

»Soll ich ihn freigeben, ist ihm zu trauen, kommt er freiwillig mit?« versuchte ich es doch noch einmal.

»Lassen Sie nur, lassen Sie ihn nur gebunden! Was gibt es denn für eine höhere Ehre, als von dem unbesiegbaren Waffenmeister der Argonauten so gefesselt zu werden!«

Da gab ich den Versuch auf. Nun gut, mochte der Mann nur so bleiben, die halbe Stunde hielt er schon noch aus, und wie ich dann mit ihm fertig werden wollte, daß wir als Freunde schieden, dazu hatte ich schon meinen Plan.

»Und Sie bleiben für immer hier?«

»Nein, wir gehen sogar sehr bald wieder von hier fort.«

»O, bleiben Sie hier, bleiben Sie hier! Verbünden Sie sich mit uns . . . «

Und er schilderte, was er mit seinen Indianern hier vorhatte.

Es war fast genau dasselbe, was auch wir schon geträumt hatten, nur ohne an eine Ausführung zu denken.

Hier auf diesem unbezwinglichen Plateau das Indianertum in alter Herrlichkeit wieder aufleben lassen, dann von hier aus die umgebenden Länder besiegen, wenigstens so weit als es die Vermehrung nötig machte.

Er schilderte es ganz ausführlich. Ich sagte nichts dazu, ließ ihn schwärmen.

»Und da machen Sie mit Ihren Argonauten mit, wir verbinden uns zusammen!«

»Nein. Wir verlassen das Plateau bald wieder.«

Er wollte noch weitere Versuche machen, mich zu überreden, bis er endlich einsah, daß alles zwecklos war.

»Dann versorgen Sie uns wenigstens Frauen!« scherzte er, obgleich es gar nicht so scherzhaft gemeint war.

»Wozu denn Frauen?«

»Damit diese meine Indianer hier oben nicht aussterben.«

»Ich denke, sie haben ihre Frauen und Töchter mitgebracht?«

»Das wohl, es sind auch genug, aber der Wahrscheinlichkeitsberechnung nach müßte dennoch schon in hundert Jahren keine Seele mehr hier oben sein, auch wenn kein Kampf, kein Unglücksfall vorkommt.«

Er hielt einen kleinen Vortrag, der einer wissenschaftlichen Unterlage nicht entbehrte.

Während die südamerikanischen Indianer heute noch an Zahl zunehmen, sind die nordamerikanischen ganz offenbar von der Natur selbst auf den Aussterbeetat gesetzt. Die Schöpfung hat sie einmal benutzt, nun will sie sich ihrer wieder entledigen, läßt sie aussterben.

Dabei brauchst man gar nicht an ihre Fehden und an Krankheiten zu denken, welche ja allerdings wie seinerzeit die Pocken, fürchterlich unter den Rothäuten aufgeräumt haben.

Einmal ist die Kindersterblichkeit eine sehr große, trotz aller Sorgsamkeit der indianischen Mütter für ihre Kinder, also gar nicht so leicht zu erklären, die Kinderzahl ist überhaupt eine sehr kleine — dann aber vor allen Dingen ist es ganz merkwürdig, daß viel mehr Knaben geboren werden als Mädchen.

Das ist immer ein sicheres Zeichen, daß die Natur ein Volk ausrotten will. Diesen Vorgang hat man recht deutlich bei den Maoris und bei anderen Südsee—Insulanern beobachten können.

Infolgedessen herrscht denn auch heute bei den meisten nordamerikanischen Indianerstämmen Polyandrie, Vielmännerei. Mit ernsten Augen betrachtet, ist das völlig entschuldbar. Übrigens müssen die gemeinsamen Gatten einer Frau überall unbedingt Brüder sein, was auch schon wieder ein Hindernis ist. Man sieht aber doch, wie das indianische Gesetz auch dies zu regeln sucht.

Auch hier waren 258 Männer und Knaben und nur 155 Frauen und Mädchen vorhanden,

»Doch davon abgesehen — es muß überhaupt frisches Blut zugeführt werden, und zwar durch Frauen. Denn nur die Frauen sind an dem Aussterben schuld, das weiß ich bestimmt.«

»Woher wollen Sie das so bestimmt wissen?«

»Durch ein Experiment.«

»Durch was für ein Experiment?«

Er schilderte es mir. Ich kann es hier nicht wiedergeben. Jedenfalls aber hatte alles Hand und Fuß, was mir der junge Mann da sagte.

»Na‚ da führen Sie Ihren roten Schützlingen doch genügend Ehehälften zu.«

»Ja, aber woher nehmen und nicht stehlen?« lachte jener. »Welches Mädchen will denn in das Wigwam solch eines roten Kriegers ziehen?«

»Negerinnen bekommen Sie massenhaft.«

»Um Gotteswillen, nur kein Negerblut! Das entartet vollends. Sambos — Mischlinge zwischen Indianern und Negern — na‚ ich danke!«

»Nun, da könnte ich Ihnen einen anderen Vorschlag machen.«

»Was für einen? Sprechen Sie!«

»Würden Sie auch Inderinnen verschmähen?«

»Inderinnen?«

»Amazonen, ganz echte Amazonen — nur daß sie sich noch nicht beritten gemacht haben.«

»Was, indische Amazonen?!«

»Gegen 250 Stück, ohne die zerquetschten, die könnte ich Ihnen empfehlen.«

»Wo sind denn die zu haben?!«

Ich glaube, der Teufel hat mich damals geritten, daß ich dem unser Abenteuer in Halmahera mit den indischen Maladekkaranis erzählte!

Wie konnte ich aber auch ahnen, daß der wirklich . . .

Doch ich will der Erzählung nicht vorgreifen.

Übrigens wurde meine Erzählung, wie die Weiber alle Männer und männlichen Kinder in der Felsenburg ermordet hatten, durch unsere Ankunft im Lager unterbrochen oder schon durch den Anblick desselben.

Es läßt sich denken, was das für eine Überraschung gab, als ich mit den beiden fremden Menschen angerückt kam. Die erste und zweite Wache befand sich auf dem Plateau, auch alle Hauptpersonen mit Ausnahme des Kapitäns.

Ich sprach nicht erst mit der Patronin oder mit sonst jemand, sondern gleich alle mußten antreten, ein gut Teil, die gerade beim Schwimmen gewesen, in Badehosen — so gab ich mit schallender Stimme einen Bericht, ganz kurz, aber sie erfuhren alles, was sie wissen mußten.

Nicht länger als drei Minuten hatte ich dazu gebraucht.

»So, nun geht wieder an Eure Spiele, und zwar mit aller Energie. Macht hier einmal diesem Indianer etwas vor, damit er dann seinen roten Brüdern erzählen kann, damit die wissen, mit wem sie es eventuell zu tun bekämen.«

Meine Jungen verstanden mich sofort, und sie legten wieder los.

Nur den kleinen Engländer überließ ich der Patronin und den sonstigen Hauptpersonen, unter denen vor allen Dingen Juba Riata zu erwähnen ist, damit er diesen noch einmal seine ganze Geschichte auspackte, der Indianer gehörte mir allein. Ich band ihn vom Pferde, trug ihn unter einen Baum, von wo er gerade so recht hübsch den ganzen Sportplatz und das Seeufer überblicken konnte, löste ihm vollends die Fesseln, gab ihm auch Messer und Speer wieder.

»Hier, mein Sohn, hast Du Deine Messer und Gabel wieder, Du bekommst gleich etwas zu schnabulieren. Einen anderen Gebrauch wirst Du doch nicht von Deinen Waffen machen. Wir gerieten im Kampfe aneinander, einer von uns mußte doch siegen — jetzt aber ist das vorbei, Du bist mein Gast. Dann, wenn Du gegessen hast, stopfst Du Dir gemütlich eine Pfeife und siehst hübsch zu, was wir Blaßgesichter dort für Allotria treiben.«

So ungefähr sprach ich und ließ ihn allein, nur noch dafür sorgend, daß ihm ein Berg gebratenes Fleisch, frischgebackenes Brot und andere gute Sachen vorgesetzt wurden.

Der rote Krieger wollte nicht mitmachen, stellte sich einfach tot. Wie einen schlappen Sack hatte ich ihn tragen müssen, so hatte ich ihn mit dem Rücken an den Baumstamm gelehnt, und, so blieb er mit geschlossenen Augen sitzen.

Aber ich merkte recht wohl, wie er alsbald zu blinzeln begann, er machte die Augen vollends auf, schloß sie wieder, machte sie wieder auf — und als Häckel, dieser notorische Herkules, von der Riesenschaukel mit einem dreifachen Saltomortale abging, oder überhaupt wie eine rotierende Kugel durch die Luft wirbelnd und dann doch noch mit einem eleganten Kopfsturz im Wasser verschwindend, von da an vergaß der rote Krieger, seine Augen wieder zu schließen, sperrte sie vielmehr immer weiter auf.

Ja, da bekam er nun freilich auch etwas zu sehen! Etwas, was man nicht im Berliner Wintergarten und auch nicht im Londoner Olympia zu sehen bekommt, in welch letzterem Varietee immer auf mehreren Bühnen zugleich Vorstellungen gegeben werden.

Nicht nur, daß gerade Schneider-Schnipplich und der Uhrmacher Hannemann gleichzeitig am fünffachen Reck turnten, sondern auch alle meine Jungen taten ihr Bestes, um ihr Können zu zeigen, alle. Wohin man blickte, da sah man Leistungen auf dem Gebiete der Akrobatik, wie man so etwas eben sonst nirgends zu sehen bekommt.

Von alledem will ich nichts weiter erwähnen, als daß Olaf, der schwedische Matrose, sich gerade als Kunstläufer produzierte, sich neue Tricks einübte, auf Rollschuhen, bei denen sieben Rädchen unten in der Mitte in einer Reihe standen, daß sie also mehr Schlittschuhen glichen. Der Schwede war schon immer ein ausgezeichneter Schlittschuhläufer gewesen, und wie sich dieser Kerl nun auf den Kunstrollschuhen ausgebildet hatte, was der für Sachen machte, was der alles riskierte, das war einfach phänomenal! Er konnte stundenlang so auf dem glatten Felsboden herumtanzen, und ich konnte ihm stundenlang zusehen, und wenn ich dachte, jetzt hätte er seine Kunst erschöpft — was er eben gemacht hatte, das war doch nicht mehr zu überbieten — da führte der Kerl einen Sprung, eine Evolution aus, daß ich wiederum vor Staunen Maul und Nase aufsperrte. Gehen, tanzen, fliegen — nein, das hier war eine Bewegungsart, für welche der Mensch noch kein Wort erfunden hat.

Der rote Krieger dachte also nicht mehr daran, die Augen zu schließen und den Toten zu spielen. Ich hätte ihm auch ruhig ein Maschinengewehr zur Verfügung stellen können, er hätte es nicht gegen uns angewendet.

»Wah!« schrie er da plötzlich und schnellte empor.

Und was war es, was diesen roten Mann, dem stoische Gleichmütigkeit gegen alles als die höchste Tugend gilt, in solche Erregung versetzte, daß er sich so weit vergessen konnte?

Nichts weiter, als daß soeben Frau Rosamunde auf einem Ziegenbock im Damensattel an ihm vorüberritt.

Ja allerdings, diesen schneeweißen Ziegenbock mußte man auch gesehen haben, um glauben zu können, daß es auch eine ideale Ziegenbockschönheit gibt. Ein Ziegenbock von unbeschreiblicher Schönheit! Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß man seine mächtigen Hörner vergoldet und daß man ihn mit bunten Fransen behangen hatte. Und wie dieses Dämchen ihn nun ritt! Also eine Beschreibung kann es da gar nicht geben. Und wie sie dann nach allen Evolutionen der hohen Schule plötzlich mit dem Tiere den steifen Felsen hinaufsetzte, man wußte überhaupt gar nicht, wo der Steinbock denn nur Halt für seine Füße fand!

Und dann kam ihr Gatte, der Wenzel-Attila, auf Pollux angeritten, einer unserer Riesendoggen, und ihm nach folgten alle die anderen großen Hunde, alle gezäumt und gesattelt, alle beritten, nämlich von den leichtesten und daher kleinsten unserer Kinder, die jetzt ständig ihr Indianerkostüm trugen.

Was der rote Kriegersmann wohl dachte, als er diese winzigen Indianer da auf Hunden reiten sah? Und wie reiten! Und was die für Hindernisse nahmen?

Ferner will ich nur noch erwähnen, dann aber nichts weiter, daß sogar auf dem Wasser geritten wurde.

Auf dem Wasser, nicht im Wasser!

Wie das zu verstehen ist? Wie so etwas möglich sei?

Nun, es war ganz einfach unser Seelöwe, der in dem See herumschwamm, und auch er war gesattelt, er wurde von Mister Tabak geritten, der diese Dressur vollzogen hatte. Da muß man aber doch wohl von einem Auf-dem-Wasser-Reiten sprechen.

»Uff! Medizin!« hörte ich den roten Krieger flüstern.

Also er hielts für Zauberei. Nun, mochte er es nur glauben.

Ja, wir brauchten keine Perlen zu finden, keine Goldblöcke und Diamanten liegen zu wissen. Wir waren auch nicht allein auf »Kling Klang Klung« nebst Einlagen angewiesen.

Wir mieteten oder kauften uns einfach in der Nähe einer Weltstadt wie Neuyork oder London ein größeres Terrain mit Wasser, es wurde eingezäunt, und da gaben wir uns unseren Belustigungen hin, nur zum eigenen Vergnügen. Aber andere durften zusehen — gegen eine Mark Eintritt.

Glaubt man wohl, daß wir ebensolchen Zuspruch haben würden wie etwa eine Weltausstellung? Täglich zehn— bis hunderttausend Besucher. Und das Geld war rein verdient. Wir hatten ja gar keine Unkosten weiter als unsere Ernährung.

Aber an so etwas dachten wir ja gar nicht!

Ich hatte einige Minuten, nicht weit von dem Indianer stehend, dem ganzen Treiben zugeschaut, mußte mir die Zeit noch weiter vertreiben, denn Sandow war dort noch im besten Erzählen.

»Komm mal her, mein roter Freund, mache mir das mal nach.«

Zwar kam er nicht, stand nicht auf, sah mir aber doch zu.

Außer den verschiedensten Turngeräten waren überall Apparate oder Vorrichtungen aufgebaut, die sich ein Uneingeweihter nicht so leicht hätte erklären können.

Gerade hier neben dem Baume befand sich solch eine Einrichtung, die ich jetzt nicht weiter beschreiben will, der Leser wird ihren Zweck gleich kennen lernen. Es war hier der Platz für den Fechtunterricht, oder doch für eine Spezialität desselben, ein besonderer Trainierapparat, will ich sagen, um Auge und Hand die größtmöglichste Sicherheit zu geben, um den Menschen von einer angeborenen Schwäche zu befreien.

Da stand auch ein Kasten, der Säbel enthielt, scharf geschliffen.

Einen solchen nahm ich, pflückte vom Boden einen kugelrunden Pilz ab, so groß wie eine Billardkugel. Diese Pilze wuchsen hier überall, schossen über Nacht empor.

Dann winkte auch dem ersten besten Matrosen — also tut es gar nichts zur Sache, wer es war — er mußte die Mütze abnehmen, ich legte ihm die Kugel auf den Kopf‚ nahm Abstand, holte recht weit aus und schlug mit dem gewaltigen Säbel eine Quart, also einen horizontalen Hieb von rechts nach links, mit möglichster Vehemenz, und hatte mit dieser Quart den Kugelpilz in zwei Teile halbiert.

Allerdings fiel er dabei vom Kopf, das ließ sich nicht vermeiden. Aber jedenfalls waren die beiden Hälften fast ganz genau gleich.

Es ist dies nicht etwa ein besonderes Kunststück. Das kann jeder gute Fechter, oder man braucht auch gar nicht fechten zu können. Es wird doch jeder, der nicht gerade ein ausgemachter Tölpel ist, mit einem Stock solch eine große Kugel treffen können.

So, wird er es wirklich können?

Geneigter Leser, ich mache Dich hier auf ein psychologisches Geheimnis aufmerksam, Du sollst Dich gleich selbst davon überzeugen können, ich werde Dir die Mittel zur Nachprüfung in die Hand geben.

»Komm, mein roter Freund, mache mir das einmal nach. Aber meinen eigenen Kopf will ich dazu lieber nicht hergeben, es kann ja auch ein anderer sein, ein künstlicher.«

Jene erwähnte Vorrichtung bestand in nichts weiter als in einem zweizölligen Gasrohr, manneslang, das auf eine Steinplatte gestellt wurde, und oben drauf kam ein Menschenkopf aus Holz geschnitzt, angemalt, mit Perrücke, recht natürlich nachgeahmt. Es waren sogar Glasaugen, die einen ganz unheimlich anstierten.

Das war die ganze Vorrichtung. Viel Wind durfte nicht wehen, sonst fiel das Rohr um. Auch stoßen durfte man natürlich nicht dran. Sonst aber stand es fest.

Ich pflückte noch so einen Kugelpilz ab, legte ihn auf den Kopf‚ mit dem Säbel Abstand genommen, eine furchtbare Quart geschlagen — der Kugelpilz fiel in zwei Hälften gespalten herab.

»Nun komm, mein roter Freund, mache mir das einmal nach. Ich behaupte, daß Du es nicht kannst. Ich behaupte, daß Du den Pilz überhaupt nicht triffst. Allerdings erlaube ich Dir nur zwei Schläge. Du brauchst den Pilz auch nicht in der Mitte zu spalten. Du sollst ihn überhaupt nur treffen. Das kannst Du nicht. Oder Du triffst das Eisenrohr, wirfst es um. Aber den Kugelpilz triffst Du nicht. Ich behaupte es.«

Der Indianer stand wirklich sofort auf. Ich hatte mich schon darauf gefaßt, ihn noch länger einladen zu müssen.

»Warum soll Großhand die Kugel nicht treffen?«

»Weil Du es eben nicht kannst. Mache es doch. Aber nicht das Rohr umwerfen! Sonst hast Du Deinen Kopf verspielt.«

Ich zeigte ihm noch einmal, wie leicht das Rohr stand, wie ein geringes Antippen genügte, um es umzuwerfen.

»Meinen Kopf?«

»Ja. Wenn Du das Rohr triffst, dann schneide ich Dir den Kopf ab.«

Der Indianer wurde etwas mißtrauisch und es war begreiflich.

»Und wenn ich die Kugel treffe?« fragte er dann.

»Dann kannst Du mir den Kopf abschneiden. Das heißt, wenn ich es mir gefallen lasse. Na‚ schlage nur zu. Über das andere werden wir uns dann schon einig. Hier hast Du den Säbel.«

Noch ein kurzes Überlegen, dann nahm der Indianer das »lange Messer«, zielte erst mit der Spitze nach dem Pilze, der wieder auf den Kopf gelegt worden war, holte aus, schlug zu — schlug wenigstens drei Zoll über den Pilz hinweg.

Ein ganz verdutztes Gesicht.

Wieder gezielt, zum zweiten Male geschlagen — wieder hoch drüber weg.

Neue Bestürzung noch eine ganz andere als vorhin.

Er zielte und holte zum dritten Male aus.

»Halt, Du hast schon verspielt, nur zweimal ist es erlaubt . . .«

Na‚ ich ließ ihn zum dritten Male schlagen, ich sah es ja schon kommen — und richtig, zum dritten Male schlug er die Quart hoch über die Kugel hinweg.

Da aber hatte der Indianer genug.

»Hugh, Medizin!«

Mit diesen Worten warf er den verhexten Säbel mit allen Zeichen des Grausens weg.

Ich nahm ihn noch einmal, halbierte den Pilz und ging meiner Wege, den roten Krieger mit seinen Grübeleien über den rätselhaften Zauber allein lassend.

Weshalb er den Kugelpilz nicht treffen konnte? Du kannst es auch nicht, lieber Leser, wenn Du Dich nicht darin geübt hast, wenn Du Dich nicht einer menschlichen Schwäche entledigt hast — oder aber, bringst Du es sofort, dann bist Du ein geborenes Fechtgenie.

Ich will hier das Rezept zu einem ganz ähnlichen Experiment geben, besonders in einer Gesellschaft höchst belustigend. Nimm einen engen Lampenzylinder, oder eine weite Glasröhre, die eben steht, ohne umzufallen, stelle sie auf den Tischrand, an eine Ecke, gib der Röhre oben noch eine kleine Plattform, lege etwa ein Stückchen Papier daraus, aber möglichst klein, setze auf dieses einen kleinen Gegenstand, etwa einen Hemdenknopf.«

Nun stelle Dich davor, ziele mit Daumen und Mittelfinger und schnipse den Knopf herunter.

Das ist höchst einfach, das wirst Du sofort und immer bringen.

Nun aber nimm einigen Abstand und gehe schnellen Schrittes — wirklich im Geschwindschritt — an dem Tisch vorüber und schnipse sie im Vorbeigehen, ohne mit dem Schritt zu stocken, den Knopf herunter, ohne die Glasröhre dabei umzuwerfen.

Das kannst Du nicht. Du kannst nicht den Knopf treffen. Du wirst immer und immer wieder hoch darüber hinaus schnipsen. Ja, Du kannst nicht einmal schnellen Schrittes vorbeigehen. Du wirst immer stehen bleiben oder doch im Gehen stocken und dabei dennoch darüber hinaus schnipsen, und wirst dabei jedenfalls ein sehr wenig geistreiches Gesicht machen.

In einer Gesellschaft ist es höchst belustigend. Besonders diese verblüfften Gesichter! Ja, weshalb in aller Welt soll ich denn den Knopf nicht treffen können?! Spaß! Und dann dieses erstaunte Gesicht, wenn der Siegessichere doch wieder hoch hoch darüber hinaus geschnipst hat.

Man begreift wirklich gar nicht, weshalb man denn den Knopf nicht treffen kann.

Bis die psychologische Schwäche überwunden ist, dann kann man es.

Diese Schwäche besteht einfach darin, daß man immer fürchtet, die Glasröhre umzuwerfen. Weiter ist es nichts. Sehr einfach, aber . . . so ist es.

Verstärkt wird die Gefahr und daher auch die Schwäche noch dadurch, wenn man einen Einsatz geben muß, den man beim Umwerfen verliert, einen Taler oder einen Groschen, je nachdem die finanziellen Verhältnisse sind.

Da hütet sich jeder erst recht, die Glasröhre umwerfen zu wollen, schnipst immer höher über den Knopf hinaus, kann noch weniger schnellen Schrittes vorübergehen, stockt, stutzt und macht ein dummes Gesicht.

Man probiere es nur einmal.

Hierbei dem Schlagen mit dem scharfgeschliffenen Säbel nach einem kleinen auf einem menschlichen Kopfe liegenden Gegenstand fehlt nur das schnelle Vorübergehen, sonst ist es im Prinzip genau dasselbe. Man fürchtet, den Kopf zu treffen, den wackligen Apparat umzuwerfen. Diese Schwäche muß erst beseitigt werden, sonst ist an ein Hiebfechten nicht zu denken. Wer es sofort kann, das ist ein geborenes Fechtgenie. Ich begab mich zu der Hauptgruppe zurück. Jetzt mußte Sandow seine Erzählung doch beendet haben.

Jawohl, das hatte er, und jetzt war er mit Juba Riata in Streit geraten, wobei freilich bei diesem Manne nicht an ein »Zanken« zu denken ist.

»Nein, Sie irren sich, Sir,« hörte ich ihn gerade sagen, »Ihr Plan kann sich niemals erfüllen.«

»Na, warum denn nur nicht, so sagen Sie es doch endlich!«

»Einfach deshalb nicht, weil Apachen und Kommantschen niemals in Frieden zusammen leben können.«

»Aber sie haben die Kriegsaxt vergraben, Frieden für ewige Zeiten geschlossen, ich versichere es Ihnen!«

»Ja, genau solch einen ewigen Frieden, wie auch England immer schließt, wenn es sich mit einer anderen Nation befreunden will. Bei der ersten Gelegenheit ist dann alles wieder vorbei.«

»Aber das gilt nicht für diese Indianer, die halten ihr Wort unverbrüchlich; ich kenne doch diese Apachen und Kommantschen . . . «

»Herr, ich werde sie wahrscheinlich besser kennen.«

»Das bestreite ich . . . «

Mehr hörte ich nicht. Eine allgemeine Bewegung, die unter den Turnenden und Spielenden entstand, machte mich aufmerksam.

»Was ist denn los?«

»Alfreds Pferd ist zurückgekommen, ohne seinen Reiter!« wurde mir aufgeregt gemeldet,

Ich sah, wie sich einige bemühten, ein lediges Pferd mit dem Lasso zu fangen, was auch bald gelungen war.

»Wo war denn Alfred hingeritten?«

»Nach dem Goldtale.«

»Wozu?«

»Er ist heute ganz früh dort gewesen, mit noch anderen zusammen, sie haben dort auf einen Panther gejagt. Vor ungefähr einer Stunde, als sie schon längst wieder zurück waren, vermißte Alfred sein Messer, er glaubte die Stelle zu wissen, wo er es nur verloren haben konnte, und da ist er noch einmal fortgeritten.«

»Allein?«

»Ganz allein. Und nun kommt sein Pferd zurück!«

»Kinder, was seid Ihr denn nur so aufgeregt? Der ist eben einmal abgestiegen, das Pferd ist ihm davon gelaufen.«

»Nein, sein Pferd folgte ihm wie ein Hund. Dem ist etwas zugestoßen, daß er es auch nicht mehr rufen konnte!«

»So wollen wir ihn suchen . . . «

»Es sind ihm schon ein paar nach.«

Und da kamen diese auch schon wieder zurück, zu Pferde.

Und der eine, der erste, hatte vor sich im Sattel eine menschliche Gestalt hängen.

»Was ist denn mit Alfred passiert?«

Es war eine fürchterliche Antwort, die schweigend gegeben wurde.

Die menschliche Gestalt glitt herab, wurde hingelegt es war der Matrose Alfred, tot‚ ohne Kopfhaut. Regelrecht skalpiert!

Den Eindruck, den die Leiche auf uns machte, vermag ich nicht zu schildern.

Nicht etwa Racheschwüre!

Meine Jungen schwuren bei jeder Gelegenheit gotteslästerlich, das war ihnen nun nicht mehr abzugewöhnen. Aber Racheschwüre gab es nicht.

Mit finsteren Gesichtern standen sie alle im Kreise herum, blickten auf den guten Kameraden herab, der indianischer Mordlust zum Opfer gefallen war.

Aber diese Augen, diese Augen!

Die linke Brust des Toten war blutig, das Hemd zeigte ein Löchelchen.

Juba Riata beugte sich herab, öffnete das Hemd, untersuchte kaltblütig die kleine Wunde, aus der Herzblut quoll.

»Das ist ein Pfeil gewesen, und sollte der nicht . . .«

Er packte an, wälzte die Leiche herum, schnitt das Hemd hinten mit dem Messer auf.

Auch auf dem Rücken solch eine kleine Wunde.

»Der Pfeil hat ihn von hinten durchbohrt, da gibt es gar keinen Zweifel.«

Er richtete sich wieder auf, warf die langen Haare zurück.

»Wo fandet Ihr ihn?«

Nahe der Stelle, wo wir den ersten Querbalken gelegt hatten, um uns in das Tal hinabzulassen. Unterdessen aber war eine bequemere Stelle gefunden worden.

»Lebte er noch?«

»Nein!« erklang es dumpf zurück.

»Habt Ihr Spuren gefunden?«

Das wohl, aber verfolgt konnten sie nicht weit werden, sie verloren sich bald auf hartem Felsboden.

Juba Riata sagte nichts mehr, wollte davon gehen.

»Halt,« sagte ich, »wo wollen Sie hin?«

»Meinen Teufel holen.«

»Wozu?«

»Um nach jener Stelle zu reiten.«

»Wozu?«

»Wozu, wozu!« wiederholte er verächtlich.

»Sie wollen die Spur verfolgen, den Mörder?«

»Na sicher doch!«

»Sie werden es nicht tun!«

»Was?!«

»Sie werden es nicht tun! Sie bleiben hier! Mister Sandow,« wandte ich mich an diesen, »wissen Sie etwas davon? Können Sie aus irgend etwas erkennen, ob es ein Kommantsche oder ein Apache gewesen ist, der diesen Mann meuschlings von hinten ermordet hat, um ihm den Skalp zu nehmen?«

Der kleine Mann war ganz fassungslos.

Dann schüttelte er den Kopf. Nein, da vermochte er keine Unterscheidung zu machen.

Juba Riata war es, der dem Apachen, der dort noch unter dem Baume stand, etwas in seiner Sprache zurief. Der rote Krieger gehorchte auch wirklich dem Rufe, kam langsam heran. Aber keine Muskel zuckte in dem steinernen Gesicht, als er die skalpierte Leiche betrachtete.

Dann sagte er etwas.

»Nein, auch Großhand vermag nicht zu unterscheiden, ob es ein Apache oder ein Kommantsche gewesen ist!« verdolmetschte mir dann Sandow.

»Gut!« sagte ich. »Aber dort in den Indianerlagern wird man wohl bald erfahren, wer der Mörder gewesen ist.«

»Selbstverständlich, der Betreffende rühmt sich doch seiner Tat.«

»Auch dessen, daß er den harmlosen Mann von hinten erschlossen hat?«

»Ja, das ist mir unbegreiflich! Oder . . . schließlich auch nicht — Skalp ist Skalp!«

»Mister Sandow, wollen Sie sich unter solchen Umständen noch nach dem Indianerlager begeben?«

»Ganz sicher, und das sofort . . .«

»Ist Ihr Leben nicht bedroht?«

»O nein, das wäre ja noch schöner . . .«

»Gut, daß müssen Sie am besten wissen. Wollen Sie unseren Parlamentär machen?«

»Gewiß? Was haben Sie auszurichten?«

Ich erhob meine Stimme, daß es alle, alle vernehmen konnten:

»Sagen Sie den vereinigten Apachen und Kommantschen, daß sie den Mörder unseres Kameraden ausfindig machen und ihn uns ausliefern sollen, damit wir ihn hängen können. Bis morgen früh zum Sonnenaufgang ist der Mörder hier, und zwar lebendig, freiwillig oder unfreiwillig, damit wir über ihn zu Gericht sitzen. Ist er bis dahin nicht hier, dann . . . werden wir uns ihn selbst holen. Verstanden? Das richten Sie aus. Bitte.«

Mister Sandow ritt davon, ohne noch viel zu sagen. Auch Großhand ging mit ihm.

Der Matrose Alfred erhielt sein Begräbnis, wie es dem guten Kameraden gebührte. Auch Kapitän Martin kam herauf, zum ersten Male, um der Feier beizuwohnen.

Sonst will ich sie nicht weiter schildern. Gerade war sie beendet, drei Stunden danach, nachdem Sandow abgeritten war, als er schon wieder zurückkam.

»Es ist ein Apache gewesen, Steinherz, der sich hier herangeschlichen und den einsamen Mann getötet hat. Es sieht böse aus bei uns, ganz böse. Die Apachen verweigern natürlich die Auslieferung ihres Stammesgenossen, während die Kommantschen Ihre Forderung recht und billig finden. Schon haben sich die beiden Stämme getrennt, schon bereiten sie sich zum gegenseitigen Kampfe vor. Vielleicht ist er bereits ausgebrochen.«

Weiter hatte Sandow nichts zu berichten, er ritt gleich wieder zurück, ohne gefragt zu haben, ob wir uns an dem Kampfe beteiligen würden oder nicht.

Wir Hauptpersonen traten zur Beratung zusammen. Zur Beratung über Krieg oder Frieden. Wenn irgendwie möglich, wollten wir einen Kampf vermeiden. Besonders ich war es, dem das Leben eines jeden einzelnen viel zu lieb war, als es gegen solche rote Heiducken aufs Spiel zu setzen. Aber haben mußten wir den Mörder unbedingt, tot oder lebendig, eher gingen wir nicht von hier fort!

Also so mußte doch ein Kriegsplan beraten werden. Ich brauche ihn nicht wiederzugeben, weil er ja doch nicht ausgeführt werden sollte.

Sandow war erst eine halbe Stunde fort, als er schon wieder zurückkam, nicht allein, sondern in Begleitung einer ganzen Bande Rothäute, Kommantschen im vollen Kriegsschmuck.

Der an der Spitze Reitende, sich durch seine dunklere Farbe und durch besonderen Federschmuck auszeichnend, war der schwarze Biber, der Häuptling der Kommantschen, und vor sich hatte er einen gefesselten Apachen.

»Die Apachen sind Hunde, die Blaßgesichter mögen den feigen Mörder hängen!«

So sprach er, warf die gebundene Rothaut uns vor die Füße und ritt mit seiner Bande im Galopp sofort wieder zurück.

Auch Sandow blieb nur noch wenige Minuten bei uns, nur um uns mit wenigen Worten eine Erklärung zu geben, dann seinen roten Freunden gleich wieder nacheilend.

Der Kampf war schon ausgebrochen, es hatte bereits ein mörderliches Gemetzel stattgefunden, Dabei war der betreffende Apache den Kommantschen lebendig in die Hände gefallen, deren Häuptling selbst hatte ihn gefangen, hatte ihn uns gebracht

»Weiter habe ich Ihnen nichts zu berichten. Ich muß sofort zurück. Was werden Sie jetzt tun? Ich bitte Sie innig, beteiligen Sie sich nicht an diesem roten Bruderkriege, den ich auch bestimmt noch beizulegen hoffe. Bitte, bleiben Sie neutral.«

Nun, da brauchte Sandow nicht lange zu bitten. AuBerdem hätten wir doch nur den Kommantschen beistehen können, und diese waren sowieso schon bedeutend in der Mehrheit.

»Dann werden wir noch heute das Plateau verlassen, vielleicht schon in der nächsten Stunde, überhaupt diese Gegend mit unserem ganzen Schiffe, werden nicht sobald hierher zurückkehren. Wollen Sie uns begleiten?«

»Ich?! Ich bleibe hier, die Sache der Kommantschen ist die meine, und ich hoffe doch noch, diesen Bruderkrieg beizulegen.

Der junge Mann blieb in seinem Vorsatze unerschütterlich, des Menschen Wille ist sein Himmelreich und es war überhaupt auch höchst ehrenwert.

»Können wir sonst etwas für Sie tun?«

»Nicht daß ich wüßte.«

Kurz war der Abschied, und wir sahen den jungen Mann wieder zwischen den Bäumen des nächsten Waldes verschwinden.

Über den Mörder wurde regelrecht zu Gericht gesessen, das einstimmige Urteil lautete auf den Tod durch den Strang, und zwar hingen wir ihn nicht an den nächsten Baumast, sondern in aller Schnelligkeit wurde ein regelrechter Galgen gezimmert, außer den Kindern zogen wir alle zusammen an dem Strick, an dessen Ende der rote Mann sein Leben aushauchte. Er mochte nur hängen bleiben, seine Kameraden würden ihn schon selbst abschneiden.

Dann brachen wir die Gerätschaften und das ganze Lager ab, alles wurde auf den Rücken genommen und hinab zum Schiffe marschiert. Eine Stunde später schon waren wir mit halber Kraft unterwegs


48. KAPITEL.
STATT SCHÄTZE NUR EIN REVOLVER.

Am 12. Oktober liefen wir in der Argonautenbucht ein, nachdem wir fast zwei Wochen in der Magalhaesstraße gekreuzt hatten, auf besseres Wetter wartend, das nun endlich eingetreten war, die Einfahrt erlaubend.

Unterwegs hatten wir Buenos Ayres angelaufen, hauptsächlich deshalb, um die sechs Pferde wieder freizugeben, die wir versuchshalber von dem Plateau mitgenommen hatten. Da es meist sehr schlechtes Wetter war, hatten wir das Elend der armen Tiere nicht mehr mit ansehen können, wie sie in den engen Boxen standen, in dem sie sich kaum bewegen konnten, so gut wie festgeschnallt, dabei langsam verhungernd.

Ja, man kann Pferde zur See transportieren, so weit wie man will. Cortez und Pizarro haben doch auch Pferde mit nach Amerika genommen, oder man denke an den englischen Burenkrieg, was sind da für Pferde nach dem Kapland geschafft worden!

Aber es ist und bleibt eine scheußliche Tierquälerei, mit der wir uns nicht beflecken sollten. Wir hatten einen Versuch gemacht — und niemals wieder!

Der Büffel hingegen hatte die Überfahrt ganz ausgezeichnet überstanden. Der konnte sich auch beim schlechtesten Wetter, wenn das Schiff wie toll tanzte und bockte, auch in einem größeren Raume ganz frei bewegen, hielt immer tapfer stand, es schien ihm sogar Spaß zu machen.

Das Pferd ist ein Einhufer, das Rind hat gespaltene Hufe, das macht dabei den Unterschied aus! Das Rind klettert doch auch gern, tummelt sich im Gebirge auf Abhängen herum, auf denen das Pferd gar nicht mehr fortkommen könnte, auch das Maultier nicht, wo es hilflos dastehen würde.

Ferner hatten wir in Buenos Ayres, von wo gefrorenes Fleisch ja massenhaft exportiert wird, eine Eismaschine gekauft, speziell für Schiffsbetrieb bestimmt, hatten sie einbauen lassen, besaßen nun einen großer Gefrierraum, hatten nun immer so gut wie frisches Fleisch. Auf diese Idee hätten wir übrigens auch eher kommen können.

Jetzt waren wir glücklich in die Argonautenbucht eingelaufen, ohne wieder ein anderes Schiff vorzufinden.

Der Steinherd, den die Mannschaft des »Seeteufels« damals errichtet hatte, war noch vorhanden, erwies sich aber gar nicht gebraucht, überhaupt unvollendet. Also schien Kapitän Satan sein Vorhaben, die Hummern . . .

Doch was ging denn das uns an?

Unterdessen hatte die Patronin die ganze Besatzung in ihr Geheimnis eingeweiht. Es galt, die Schätze des Flibustierkapitäns van Horn zu heben.

Die Aufregung der ganzen Mannschaft war ja allerdings groß, aber wegen einer Teilung, wie das dann gehandhabt werden sollte, wurde kein einziges Wort verloren. Jedenfalls stieg solch eine Frage keinem einzigen Manne auch nur in Gedanken auf. Ich geniere mich überhaupt förmlich, von so etwas auch nur anzufangen. Und von demselben Geiste, der die ganze reguläre Mannschaft beseelte, waren auch schon alle unsere Gäste angesteckt worden. Wenn sie überhaupt noch als Gäste gelten konnten, nicht schon als wirkliche Argonauten zu bezeichnen waren. Von dem Zwergehepaar war das ganz bestimmt der Fall, das dachte gar nicht mehr daran, seinen alten Artistenberuf wieder aufzunehmen. Freilich dachten sie ebensowenig an eine Frage, ob sie denn für ihren Aufenthalt hier etwas zu bezahlen hätten. Wir aber dachten noch viel weniger an so etwas. Das hatte sich eben alles so von ganz allein geregelt. Der Bandlwurm war allerdings ein Döskopp so lang er war, aber mit seiner Tellerwäscherei waren wir durchaus zufrieden, und anderes hatten wir doch nicht von ihm zu verlangen.

Also wenn es doch vielleicht an eine förmliche Teilung ging, dann sollte der auch seine paar Goldklumpen abbekommen und sich die Hosentaschen voll Diamanten pfropfen können.

Die Expedition brach sofort auf: die Patronin, ich, Doktor Isidor, Juba Riata, der Eskimo und ein Dutzend Leute. Diese mußten allerdings Verschiedenes tragen, aber die schwersten Sachen, wie zum Beispiel die Taucherapparate, bekam der Büffel aufgeladen — na‚ und der konnte ja etwas buckeln!

Mit dieser Last schwamm er sogar durch jedes Wasser und kletterte dann wieder zum anderen Ufer hinauf, wenn er nur irgendwie einen Fuß hinaufbringen konnte. So etwas bringt doch ein Pferd gar nicht fertig. Ich bin überhaupt der festen Überzeugung, habe es ja auch erfahren, daß das Rind das Pferd in jeder Hinsicht übertrifft, also auch hinsichtlich der Intelligenz. Die Sache ist nur die, daß man sich mit der Zucht des Pferdes als Diener des Menschen schon seit Jahrtausenden beschäftigt hat, das Rind aber ebenso wie das höchst intelligente Schwein immer nur als Schlachtvieh betrachtet hat.

Wir rückten ab. Wohl zeigten die nahen Berge noch eine völlige Winterlandschaft, auch im schattigen Walde lag noch Schnee, aber auf freiem Gelände duldete die Frühjahrssonne unter dieser Breite keinen mehr.

Daß ich die Karte nicht beschreiben kann, habe ich schon früher gesagt. Jedenfalls aber war der Weg, den wir zu nehmen hatten, ganz genau angegeben, auch mit allen Wasserübergängen. Die englischen Bemerkungen bezogen sich auf Kompaßrichtungen und dann vor allen Dingen auf besonders geformte Felsen, nach denen man peilen mußte. Der Weg fing von dieser Bucht an, wo damals der Rückmarsch der Schiffbrüchigen geendet hatte.

Ich mache es kurz, schildere nicht die manchmal sehr schwierigen Wasserpassagen. Jedenfalls hatten wir es nur dem ungeheuren Büffel zu verdanken, daß wir keine einzige Brücke zu schlagen brauchten, so daß wir die langen Bretter ganz umsonst mitgenommen hatten. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.

Morgens gegen elf waren wir aufgebrochen, froren in der Nacht wie die jungen Hunde, und am andern Nachmittage gegen drei Uhr näherten wir uns der Stelle, wo vor 300 Jahren das Piratenschiff gescheitert war, vielleicht nicht so unfreiwillig.

Es war eine weite Bucht, die von Nordwesten her eine breite Wassereinfahrt hatte, durch welche die »Desolation« also eingedrungen war, um an der Küste festzurennen.

Dann hatte man, wie eine ausführlichere Bemerkung angab, das Gold und die sonstigen Schätze ausgeladen und in einer benachbarten kleineren Bucht versenkt, um sie später wieder herauszuholen, was aus irgend einem Grunde also nicht geschehen war.

Von Schiffstrümmern war nirgends etwas zu bemerken. Aber jedenfalls stimmten die Angaben ganz, ganz genau.

Dort war der Felsen, der ungefähr einem Menschenkopf glich, dort weiter hinten der Berg mit der Einsattelung, zwischen diesen beiden Merkmalen mußte man mit vier Strich nach Süden nach einer Felsensäule peilen — von dort aus stieß man mit ungefähr 80 großen Schritten auf die kleinere Bucht, in der die Schätze versenkt worden waren.

Es war ein feierlicher Moment, als wir die 80 Schritte getan hatten und nun vor dem Wasserloche standen, das in einer Tiefe von etwa 25 Metern für 40 Millionen Goldbarren barg, außerdem noch Diamanten und andere Edelsteine und sonstige Juwelen in unschätzbarer Menge.

Eine kleine Enttäuschung hatten wir freilich sofort.

Also im November vorigen Jahres war Richard Hartung selbst hier gewesen, wollte mit eigenen Augen dort unten die Schätze haben glänzen und gleißen sehen.

Daß dies eine Tatsache gewesen war, daran war ja auch gar nicht zu zweifeln.

Wir aber sahen nichts gleißen, obgleich die beste Gelegenheit dazu gewesen war.

Denn es herrschte Windstille, das Wasser war glatt wie ein Spiegel, äußerst klar und durchsichtig, die Sonne stand noch ziemlich hoch, und in eine Tiefe von 25 Metern kann man unter solchen Verhältnissen recht wohl blicken.

Wir sahen denn auch den grauen Grund, aber von Goldbarren und anderen gleißenden Dingen keine Spur.

»Sind wir auch wirklich an der richtigen Stelle?« fragte ich zweifelnd.

Die Patronin deutete auf einen Felsen, der dicht am Rande des Wasserloches sich erhob. In eine glatte Steinfläche waren zwei Buchstaben eingemeißelt, nicht eben tief, aber dennoch deutlich erkennbar — R. H. — und darunter das Datum, an dem Kapitän Richard Hartung von hier aus die Schätze der »Desolation« dort unten gesehen hatte.

Nun war jeder Zweifel beseitigt.

»Na‚ da will ich mal hinab,« sagte ich.

Ein Taucherapparat wurde vorgerichtet, ich panzerte mich und glitt hinunter in das eisig kalte Wasser.

Ich erreichte den Grund, die Petroleumlampe, durch einen besonderen Schlauch mit Luft gespeist, leuchtete genügend.

Aber da war nichts von Gold und Diamanten zu sehen.

Ja und doch!

Dort glänzte etwas zwischen den Steinen, die hier und da lagen.

Ich hob es auf.

Eine goldene Hutnadel! Oder doch so ungefähr aussehend. Eine lange Nadel, vielleicht auch ein sehr dünner Dolch, ein Stilett, mit einem eigentümlich geformten Griff, oben in einem Knauf endend, der wohl einen Pantherkopf darstellen sollte.

Und dort blitzte es abermals!

Es war ein goldener Fingerring, für einen Riesen berechnet, oder aber ein Armband für ein äußerst dünnes Handegelenk, mit blitzenden Steinen besetzt.

Und so fand ich noch einige andere Schmucksachen, aber nur spärlich. Ich mußte die Steine sehr genau untersuchen.

Ja, die Schätze hatten hier gelegen, aber sie waren inzwischen schon von anderer Seite abgeholt worden, das war für mich nun kein Zweifel mehr.

Und was lag denn dort? Der Stein sah ja gerade aus wie ein . . .

Nein, es war nicht nur kein Stein, der so aussah, sondern es war ein wirklicher Revolver, den ich aufhob.

Die alten Südamerikaner hatten noch keine Revolver, aber auch vor 300 Jahren hat es die noch nicht gegeben. Der Revolver, die erste Drehpistole ist im Jahre 1840 vom Amerikaner Colt konstruiert worden.

Und überhaupt, das war ein ganz moderner Bulldoggrevolver, während die Schmucksachen jedenfalls sehr alte Arbeit der Goldschmiedekunst waren, das konnte ich auch im Scheine meines Lämpchens erkennen.

Ich gab das Signal zum langsamen Aufzug.

»Die Schätze des Flibustierkapitäns haben hier unten sicher gelegen, aber ebenso sicher hat sie ein anderer vor uns abgeholt.«

Das waren meine ersten Worte, nachdem mir der Helm abgeschraubt worden war.

»Ja, und zwar die Mannschaft des Seeteufels!« setzte Juba Riata hinzu.

»Was?!«

»Hier hat einer seine Visitenkarte zurückgelassen.«

Und Juba Riata zeigte den Revolver, den er mir gleich abgenommen hatte, deutete auf den Kolben, beide Seiten herumdrehend.

Richtig, auf der einen Seite des hölzernen Kolbens war der Name J. Miller eingeschnitten, auf der anderen Seite das Wort »Seeteufel«.

Wir blickten einander an.

Was wir sonst sagten, brauche ich gar nicht wiederzugeben.

Es war ja alles einfach genug. Einer der Mannschaft des »Seeteufels« hatte beim Tauchen unten seinen Revolver verloren, oder er hatte ihn von hier oben hinabfallen lassen, hatte die Waffe nicht wiedergefunden oder ihren Verlust gar nicht bemerkt — ganz zweifellos aber war doch der Kapitän Satan selbst hier gewesen.

Schon damals voriges Jahr, als der »Seeteufel« in der Argonautenbucht gelegen hatte?

Wie hatte er die Kenntnis von den Flibustierschätzen bekommen?

Hatte er sie zufällig gefunden?

Es waren ganz unnütze Fragen, die wir da aufwarfen.

Kapitän Satan war uns eben zuvorgekommen.

»Treten wir nur gleich den Rückweg an!« sagte die Patronin, und ihr niedergeschlagenes und auch finsteres Gesicht war begreiflich.

»Na‚ da wir nun einmal hier sind, wollen wir auch gründlich nachsehen, was unser Vorgänger uns großmütig nachgelassen hat!« meinte ich.

Helene wollte nicht, wollte sich nicht mit den Knochen begnügen, den ihr der Konkurrent von der riesigen Beute wie verächtlich zurückgelassen hatte, aber ich gab dieser weiblichen Verstimmung nicht nach, ging noch einmal hinab, auch ein Matrose kam im zweiten Apparat mit hinab.

Es war doch noch eine ganz beträchtliche Menge von altertümlichen Schmucksachen und besonders auch von losen Edelsteinen, die wir im Laufe einer Stunde zusammenbrachten. Freilich mußten wir dazu den Boden ganz gründlich absuchen, das Geröll wegräumen, größere Felssteine beiseite wälzen und in Ritzen und Ecken krebsen, um etwas zu finden.

Und das eben war das ganz sichere Zeichen, daß hier einst solches Zeug massenhaft gelegen hatte. Unsere Vorgänger hatten hier so viel davon gefunden, immer einfach hineinschaufelnd, daß sie zuletzt gegen den Mammon ganz abgestumpft geworden waren, sich zuletzt gar keine Mühe mehr gegeben hatten, nach den letzten Resten, die sie nicht mehr gleich erblickten, zu suchen.

Es war ein ansehnlicher, gewichtiger Lederbeutel, den wir dann mit solchen Schmucksachen gefüllt heraufbrachten. Meist Geschmeide von ganz altertümlicher Arbeit, jedenfalls eben altmexikanische. Dann aber war auch eine Goldplatte dabei, auf beiden Seiten mit Verzierungen versehen, sie schien doppelt zu sein, und bei näherer Untersuchung erkannten wir, daß es ein zusammengequetschter Becher war, offenbar ein Kirchenkelch — denn der Seeräuberkapitän hatte doch natürliche auch die in Amerika schon entstandenen spanischen Kirchen geplündert — der die Jahreszahl 1588 trug.

Hiermit war auch der letzte Zweifel gehoben, daß hier nicht wirklich die zusammengeraubte Beute des Flibustierkapitäns gelegen hätte.

»Nun, das ist immer noch genug, kalkuliere ich, um uns dafür eine neue Argos kaufen zu können!« meinte ich, als ich mir diesen Rest der Juwelen, uns großmütig überlassen, bei Tageslicht betrachtete.

Es war töricht von mir, die Patronin auf diese Weise in ihrer Niedergeschlagenheit trösten zu wollen.

»Ja, es ist ein Vexierrevolver!« sagte in diesem Augenblick Juba Riata, noch immer die Waffe in den Händen, sie hin und her drehend, an dem Kolben herumfingernd.

»Was, Vexierrevolver?«

»Das ist so ein Revolver, wie ihn eine amerikanische Fabrik als Spezialität anfertigt, der Kolben ist hohl, kann geöffnet werden, aber da ist eine geheime Vorrichtung dabei, wie bei einem Vexierschloß . . . ah, hier ist es schon!«

Der Kolben war in der Mitte aufgeklappt, etwas Weißes fiel heraus.

Es war ein mehr gelber als weißer Pergamentstreifen, auf dem etwas geschrieben war, wir erkannten fünf Zahlenreihen, auch Buchstaben kamen manchmal vor — einfach fünf geographische Ortsbestimmungen, nur abgekürzt wiedergegeben, wie man sie sich in der Schnelligkeit notiert.

Sie lauteten:

36 22 4 n 164 51 37 w
24 13 11 n 123 6 28 o
52 17 6 s 61 0 49 w
4 31 43 s 7 2 44 o
43 1 12 s 178 20 0 w

Die Buchstaben bedeuteten also nördliche respektive südliche Breite und westliche respektive östliche Länge.

»Was mögen diese geographischen Ortsbestimmungen zu bedeuten haben?« meinte die Patronin.

»Ja, Frau Patronin, da verlangen Sie von meiner Allwissenheit zu viel!« lachte ich.

»Da hat der Piratenkapitän einfach seine Verstecke!« ließ sich ein Matrose vernehmen.

Ich fuhr gegen den Sprecher herum.

»Piratenkapitän?! Mensch, kannst Du etwa beweisen, daß der Kapitän des Seeteufels Seeraub treibt?!«

Der Mann wurde ganz unwirsch.

Ja, der Kapitän Satin oder Satan vom »Seeteufel« wurde ja der heimlichen Piraterie bezichtigt, es wurden fürchterliche Sachen über ihn erzählt — das tat man so im Vertrauen unter sich, im Matrosenlogis in der Kajüte — aber das durfte doch um Gottes willen nicht öffentlich geschehen, wenn man nichts beweisen konnte!

Ich ließ den Matrosen in seiner Verlegenheit, er hatte seine Lektion bekommen, und damit genug.

»Wo liegen denn diese bis zur Sekunde angegebenen Punkte?« fragte die Patronin weiter, wozu sie natürlich das Recht hatte.

Nun, das konnte ich ungefähr angeben, ohne eine Karte befragen zu müssen. Unsereiner sieht ja immer im Geiste die Erdkugel mit Breiten- und Längengraden überspannt. Außerdem aber hatte ich in meinem nautischen Taschenbuche eine ziemlich große Weltkarte.

Ich gebe die Bestimmungen jetzt nur ungefähr wieder, mich nicht mit Sekunden, nicht einmal mit Minuten aufhaltend.

Der erste Punkt lag in der schwimmenden Fucusbank des Sargassomeeres, Atlantischer Ozean. Mag diese Andeutung vorläufig genügen.

Die zweite Bestimmung bezog sich auf die Insel Formosa an der Küste Chinas.

Der dritte Punkt lag in der Nähe der Falklandsinseln, also gar nicht sehr weit von hier entfernt.

Der vierte Punkt war nahe der westafrikanischen Küste bei Kap Lopez.

Die fünfte Bestimmung bezog sich auf einen Punkt, der ungefähr 200 Meilen östlich von Neuseeland mitten im Meere lag.

»O ja, es muß, ganz interessant sein,« sagte ich, »einmal nachzuforschen, weshalb Kapitän Satan diese Bestimmungen gemacht hat und sie in dem hohlen Kolben seines Revolvers verbirgt.«

Der Revolver scheint aber doch einem Manne namens Miller zu gehören!« verbesserte Juba Riata.

»Ach so, richtig! Nun gut, dann bezieht sich mein Gesagtes eben auf diesen Miller.«

»Das ist doch jedenfalls ein Mann vom Seeteufel.«

»Höchstwahrscheinlich.«

»Sollte der seinem Kapitän nicht ein Geheimnis gestohlen haben?«

»Hm. Nicht so unmöglich. Nun, wir können ja erst einmal die Falklandsinseln besuchen, Zeit dazu haben wir ja.«

Wir traten sofort den Rückmarsch an. Es wurde ja unterwegs noch viel von dem Funde in dem Revolver gesprochen, die verschiedensten Möglichkeiten wurden erwogen, was die geographischen Ortsbestimmungen bedeuten könnten, aber es hat keinen Zweck, daß ich unsere Unterhaltung wiedergebe.

Wenn wir einmal mit Kapitän Satan zusammentrafen, so mußten wir ihm ja den Revolver zurückgeben, auch das Pergament sollte darin bleiben, jedenfalls aber hatte ich mir die Zahlen bereits notiert.


49. KAPITEL.
DER PIRAT.

Am anderen Tage kurz vor Sonnenuntergang trafen wir wieder ein, bekamen wenigstens unser Schiff wieder in Sicht.

Wer beschreibt unser Erstaunen, als wir da auch wieder den Torpedojäger an seiner alten Stelle liegen sehen, den Seeteufel.

Wir beschleunigten unsere Schritte, das war die Hauptsache, um schnellstens eine Erklärung zu bekommen.

»Heute früh in der neunten Stunde ist er in die Bucht eingelaufen!« wurde uns natürlich gleich berichtet, noch ehe wir selbst von unserem negativen Erfolge erzählten.

»Was tun sie hier?«

»Gar nichts. Kaum daß einer einmal das Land betreten hat.«

»Hat der Kapitän nichts von sich hören lassen?«

»Nein.«

Wir berichteten dem Kapitän Martin.

Der zuckte die Schultern.

»Ja, das ist fatal, aber da ist nichts zu machen. Auch jener Kapitän Satin hat eben von den Schätzen der »Desolation« gewußt und ist mit dem Abholen schneller gewesen als Sie.«

»Und was halten Sie von diesen geographischen Ortsbestimmungen?«

So fragte die Patronin, ich hätte es gar nicht getan. Der Kapitän wußte doch genau so viel oder so wenig wie wir davon, hätte nur raten können, aber das tat dieser Mann gar nicht.

»Ich muß diesen Kaptitän unbedingt sprechen!« sagte dann die Patronin.

Nach einer kurzen Beratung hatten wir unseren Entschluß gefaßt.

Die Patronin schrieb eine höfliche Einladung, ein Matrose als Ordonnanz beförderte das Briefchen hinüber.

Schon nach wenigen Minuten brachte er die Antwort zurück.

»Herr Kapitän Satan läßt sagen, er würde sich erlauben, sofort zu kommen!« meldete der gediente Marinematrose in strammer Haltung.

»Kapitän Satin, Satiiin heißt der Herr!« hatte ich zu verbessern.

»Nein,« verteidigte sich der Matrose, »er selbst sagte: sagen Sie Ihrer Patronin, Kapitän Satan würde sich erlauben, sofort zu kommen. Kapitän Satan, nicht Satin. Er betonte es extra.«

Dann allerdings war der Mann in seinem Recht, meine Verbesserung war inkorrekt gewesen.

In der schon erleuchteten Kajüte war alles bereit zum Empfang, überhaupt alles an Bord. Dazu hatte vor allen Dingen gehört, daß die Tiere eingesperrt wurden. Trotzdem merkten die Hunde den fremden Schritt, schlugen wütend an — aber diesmal war es nicht wie sonst nur ein kurzes Bellen, um gleich wieder zu verstummen, was man ihnen doch auch nicht verbieten konnte, die treuen Tiere taten doch nur ihre Pflicht — sondern diesmal stimmten sie, von Harras dem alten Wolfshund erst dazu angeleitet, wieder in jenes schreckliche, schauerliche Geheul ein, das sie sonst nie, nie hören ließen. Eben nur damals, als Kapitän Satan zum ersten Male gekommen, hatten sie es angestimmt, und nun abermals . . .

Juba Riata sprang schnell noch einmal hinaus, in den nahen Raum, in den die Hunde gesperrt worden, und alsbald verstummte auch das schreckliche, durch Mark und Bein gehende Heulen, um nicht wieder zu ertönen.

Dabei hatte Juba die Tür weit offen gelassen, wir sahen den Kapitän schon durch den Korridor kommen, vom ersten Steuermann respektvoll geführt.

Da wollte es der Zufall, daß Mama Bombe gerade aus ihrer Kabine, deren Tür nach diesem Korridor ging, ihre vier Zentner herauswälzte.

Und da geschah etwas Besonderes.

Kapitän Satan war von dem sich ihm bietenden Anblick dieser Riesendame — wenn sie auch gar nicht so groß war — so überrascht, daß er wohl ganz vergaß, wie wir in der Kajüte Versammelten ihn sehen konnten. Also er sah nicht uns, sondern nur dieses ungeheure Weib, in einen Schlafrock eingehüllt.

»Hei, wer ist denn das?!« stieß er hervor, schon unverschämt genug, da er ja wohl schwerlich wissen konnte, was für eine Stellung diese Frau einnahm.

»Madame Pompadour,« hielt sich der erste Steuermann wohl zu einer Vorstellung verpflichtet, »eine der Personen, die wir bei Vancouver gerettet haben, was dem Herrn Kapitän wohl bekannt ist!«

Die Augen des Kapitäns verschlangen die unförmliche Gestalt, die sich in dem engen Korridor nicht so leicht an ihm vorbeidrücken konnte, und jener machte auch keine Miene, ihr Platz zu geben.

»Und die ist bei Ihnen geblieben?!«

»Jawohl, für immer, sie zählt mit zu den Argonauten!« lächelte der erste Steuermann.

»Nein, so ein holder Engel! Na‚ da geh nur vorbei, Du reizender Fleischkoloß.«

Und er trat gegen die Korridorwand. Mama Bombe schob sich vorbei, aber wir bemerkten ganz deutlich, wie der Kapitän gerade mit Absicht ihr möglichst wenig Raum gab, sich gegen sie preßte, auch mit den Händen untersuchte, ob wirklich diese kolossale Fleisch- und mehr noch Fettmasse an ihr echt sei.

Die Mama Bombe war ja ein viel zu gutmütiges, naives, beschränktes Geschöpf, als daß sie hierbei etwas gefunden hätte, von einem Beleidigtsein gar keine Spur uns aber stieg vor Entrüstung das Blut in den Kopf!

Und dann bemerkte ich noch etwas, gerade ich, weil ich seitwärts von der Tür saß.

Endlich hatte sich Mama Bombe vorbeigeschoben, Kapitän Satan blickte ihr nach, aber doch nicht den Kopf ganz umwendend, nur so halb seitwärts, und ich saß eben gerade so, daß ich es noch sehen konnte — und da also sah ich, wie der Nachblickende seine große, rote, fleischige Zunge zum Vorschein brachte und sich über die Lippen leckte. Es sah aus, nicht als ob ein Raubtier sich das Maul leckt, sondern als ob ein Raubtier ein großes, rohes Stück Fleisch verschlingt — es sah einfach scheußlich aus, diese tierische Gier, die in dieser Bewegung lag! Von den Augen dabei gar nicht zu sprechen.

Er trat ein. Ich habe ihn ja schon damals ganz ausführlich beschrieben. Auch jetzt war er wieder so stutzerhaft gekleidet, mit einer Unmenge von Schmuck behangen, die plumpen Finger förmlich mit Diamanten gepanzert — außerdem aber war sein Gesichtsausdruck unterdessen noch impertinenter geworden, und mir kam es vor, als ob seine fettige Fistelstimme sich noch höher geschraubt habe. Aus seinem früheren »hä hä« war jetzt ein »hi hi« geworden, bei jedem dritten Worte hervorgebracht.

»Habe die Ehre, meine Herren — hi hi — und habe vor allen Dingen die allerhöchste Ehre, die allergnädigste Freifrau von der See begrüßen zu dürfen — hi hi — die unvergleichliche Heldin von Vancouver — hi hi — deren Ruhm die ganze Welt erfüllt — hi hi . . . «

Er schwatzte und höhnte und kicherte noch mehr, ich will es nicht ausführen.

Endlich hatte er sich erschöpft und sich gesetzt, nippte mißtrauisch von dem Wein, als fürchte er Gift.

»Herr Kapitän,« begann dann die Patronin schnellstens, »es ist nur eine Frage, weshalb ich Sie zu mir habe bitten lassen.«

»Bitte, bitte, allergnädigste Freifrau von der See — hi hi — ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung — hi hi — bin Ihr alleruntertänigster Diener, hi hi . . . «

»Wie haben Sie von den Schätzen der »Desolation erfahren?«

Nur ein stutzendes Staunen in dem widerwärtigen Gesicht. Aber dieses Staunen war sichtlich erkünstelt, ich wenigstens erkannte es sofort.

»Desolation?!« wiederholte er dann.

»So hieß doch das Schiff des Flibustierkapitäns van Horn.«

»Flibustierkapitäns van Horn?!«

»Sie kennen diesen Namen nicht?«

»O doch, aber . . . was wollen Sie denn mit dem hier?!«

»Herr Kapitän, machen wir es einfach. Sie haben hier im Feuerlande doch einige Tonnen Gold und Schätze an Juwelen gefunden.«

Ein noch größeres Staunen wurde geheuchelt.

»Ja, Frau Patronin — Mylady, wollte ich sagen — woher ist Ihnen denn das bekannt?!«

»Sie oder einer Ihrer Leute haben an dem betreffenden Orte eine Visitenkarte hinterlassen.«

Jetzt mußte ich echtes Staunen konstatieren, das sich in dem niederträchtigen Spitzbubengesicht ausprägte.

»Eine Visitenkarte? Wie meinen Sie das?«

»Auf dem Grunde des Wasserbeckens fanden wir hier diesen Revolver.«

Und die Patronin griff hinter sich und präsentierte den Revolver.

Und jetzt kam es drauf an.

Dieser Revolver, das war der Hauptgrund, weshalb wir den Teufelskapitän hierher zitiert hatten, um ihn bei der Überreichung zu beobachten. Wenigstens für mich war es der Hauptgrund gewesen.

Und da sah ich, wie der Mann ganz verstört wurde, als er nach dem Revolver griff, oder doch, wie er die eingeritzten Namen las, und dann bemächtigte sich seiner eine furchtbare Wut, die er gar nicht zu unterdrücken suchte, hier in Anwesenheit fremder, distinguierter Personen und einer Dame.

»So ein Hund infamer, wenn dieser vermaledeite Schuft nicht schon tot wäre . . . «

So ungefähr, aber doch noch ganz, ganz anders, mit fürchterlichen Flüchen vermengt — und dabei hatte er, seiner ersten Wut folgend, den Revolver durch das offene Bollauge geschleudert, das nach dem Wasser ging, was der natürlich sehr wohl wußte.

Nun aber war es auch erwiesen!

Nämlich daß der Kapitän gar nichts von dem Hohlraum des Vexierrevolvers wußte, und wie dieser Hohlraum ein Pergament mit solchen geographischen Ortsbestimmungen barg.

Er war wütend darüber, daß einer seiner Leute, der also unterdessen seinen Tod gefunden, in seiner Tolpatschigkeit dort einen Revolver verloren hatte, mit seinem eingravierten Namen und dem seines Schiffes — daß war der einzige Grund, weshalb der jähzornige Mann plötzlich so wütend geworden war.

Schnell hatte er sich wieder beherrscht, nahm seine alte, hämische Maske wieder an.

»Verzeihen Sie, allergnädigste Mylady — hi hi — Sie werden sich wundern, daß ich plötzlich so erbost bin — hi hi — nämlich deshalb, daß ein gewöhnlicher Matrose es wagt, auf einen Gegenstand, der sein persönliches Eigentum ist, den Namen meines ehrlichen Schiffes zu kratzen — das dulde ich nämlich nicht — hi hi — ich bin nun einmal so hi hi — was würden denn Sie sagen, wenn jeder Ihrer Leute auf seinen Pfeifenkopf . . . «

»Ich hoffe,« unterbrach ich den Sprecher, »Sie werden dem Manne diese kleine Verletzung der Bordroutine doch nicht sehr streng entgelten lassen?«

»Ja, wenn ich nur könnte — hi hi — o, den wollte ich schon hochnehmen — hi hi — aber leider ist dieser Hallunke — John hieß er, jawohl, John Miller — schon vor ein paar Monaten von einer Spiere totgeschlagen worden hi hi — sofort zu Brei zerquetscht — hi hi . . . «

So, das wollte ich mir nur noch einmal bestätigen lassen. Nun war es gut, nun konnte das Scheusal ruhig weiter kichern. Nun aber tat er es gerade nicht mehr, er wurde plötzlich ganz sachlich.

»Also auch Sie, gnädigste Mylady, wußten, daß hier in dieser Gegend in einem Wasserloche große Schätze liegen?«

»Ja.«

»Darf ich fragen, woher Ihnen das bekannt war? Es interessiert mich natürlich sehr.«

»Mir war ein alter Plan in die Hände gekommen!« lautete die ausweichende und doch wahrheitsgetreue Antwort. »Genügt Ihnen diese Erklärung?«

»Sie muß mir wohl genügen, wenn Sie nichts weiter sagen wollen, hi hi!l« ging da das vermaledeite Kichern und Feixen schon wieder los.

»Und woher hatten Sie die Kenntnis von diesen Schätzen? Darf ich das fragen?«

»Mir haben einfach Pescherähs davon erzählt.«

»Hiesige Eingeborene?«

»Ja, Feuerländer, wie man sie auch nennt.«

»Diese hatten die Schätze gesehen?«

»Natürlich, sonst hätten sie mir doch nicht davon erzählen können, hi hi.«

»Weshalb haben die Eingeborenen die Schätze nicht selbst an sich genommen?«

»Erstens, weil die ja gar keinen Wert für sie hatten, und selbst wenn . . . na‚ wie sollten die sie denn aus 25 Meter Wassertiefe heraufholen, hi hi?«

Das war allerdings ein ganz triftiger Grund. Höchstens etwas angeln hätten sie können, da vermochten sie aber doch keine großen Goldklumpen heraufzubefördern.

»Wann erfuhren Sie von den Schätzen?« forschte die Patronin weiter.

»Voriges Jahr um dieselbe Zeit ungefähr.«

»Sie kamen wegen dieser Schätze schon hierher?«

»Nein, erst nur wegen der Hummern, mit denen ich ein Geschäft machen wollte, hi hi.«

»Und dann erst erfuhren Sie von den Schätzen?«

»Ahem — so ist es — wieder von anderen Pescherähs, die uns aufsuchten, um zu betteln, hauptsächlich Talglichter, hi hi.«

»Und dann haben Sie die Schätze gleich abgeholt?«

»Jawohl.«

»Also schon voriges Jahr um dieselbe Zeit.«

»So ist es. Sonst noch etwas gefällig, allergnädigste Mylady? Ich bin Ihr gehorsamer Diener, hi hi.«

»Nein, ich habe nichts mehr zu fragen.«

»Dann gestatten Sie mir wohl noch eine Frage, hi hi?«

»Fragen Sie. So weit ich kann, werde ich antworten.«

»So weit es Ihnen beliebt, wollten Sie wohl sagen, hi hi.((

»Auch das.«

»Also Sie wissen genauer, woher diese Schätze ursprünglich stammen?«

»Jawohl.«

»Die hat der Flibustierkapitän van Horn im 17. Jahrhundert zusammengeraubt?«

»Ganz sicher.«

»Ja ja, ich weiß, sein Schreckensschiff, die »Desolation«, soll hier gescheitert sein.«

»Das ist auch eine Tatsache.«

»Und von diesem Schiffe stammen tatsächlich alle die Goldbarren und Schmucksachen und Edelsteine?«

»Ohne allen Zweifel.«

»Na‚ das ist nur gut, das ist nur gut, daß Sie mir so bestimmt diese Versicherung gehen können, hi hi hi!l« feixte händereibend der Teufelskapitän.

»Weshalb ist es Ihnen denn so lieb, dies zu erfahren?«

»Na, weil ich dachte, die Schätze könnten jemandem gehören — und selbst, wenn sie auf herrenlosem Wassergebiet liegen, mehr als zwei Faden unter Wasser, so daß sie dem Gesetze nach dem gehören, der Sie findet — aber wenn sie doch noch einen Besitzer gehabt hätten, dem hätte ich sie natürlich sofort zurückgegeben — hi hi — da bin ich nicht so, da bin ich nicht so — hi hi — ich bin doch ein Ehrenmann, ein Gentleman dazu; hi hi . . . «

So feixte und kicherte er weiter. O, dieser ironische Satan! Hätte ich ihn doch gleich beim Kragen nehmen und hinauswerfen können!

»Aber wenn sie von dem Flibustierkapitän van Horn stammen, der schon seit 300 Jahren tot ist — na, dann natürlich gehören Sie mir, dann brauche ich mir keine Gewissensbisse zu machen, hi hi.«

»Wieviel Gold in Barren haben Sie denn gefunden?« konnte sich die Patronin doch nicht enthalten zu fragen.

»Wissen Sie, wieviel die »Desolation« an Bord gehabt haben soll?«

»Ich glaube es zu wissen.«

»Nun?«

»Zwanzig Tonnen Gold, die Tonne nach unserer jetzigen Berechnung zu 20 Zentner.«

»Stimmt, stimmt ganz genau, hi hi‚ und zwar das allerfeinste, gediegenste Gold, mindestens zehn Millionen Dollars wert. Wollen Sie sich die Goldbarren einmal besehen, gnädigste Freifrau von der See, hi hi?«

»Nein, ich danke, es hat ja gar keinen Zweck.«

»Aber ein wunderbarer, wunderbarer Anblick, sage ich Ihnen, hi hi! Und nun noch dazu Geschmeide und Juwelen und lose Diamanten scheffelweise, hi hi. Wollen Sie den Schatz nicht einmal besichtigen, hi hi?«

»Nein.«

»Ich würde Ihnen gern die Hälfte abgeben, hi hi.«

»Was?! Wie kommen Sie denn dazu, mir solch ein Angebot zu machen?!« sagte die Patronin mit höchst abweisender Miene.

»Nun, Sie haben doch gewissermaßen auch ein Anrecht auf diese Schätze.«

»Wieso denn ich?«

»Sie haben doch auch darum gewußt, sind nur beim Abholen ein bißchen zu spät gekommen, hi hi . . . «

Nun wurde es aber bald Zeit, daß der hinauskam, sonst griff ich doch noch zu!

Die Patronin aber behielt ihre Ruhe, was mich wieder sehr freute.

»Wer die herrenlosen Schätze abholte, dem gehören sie!« entgegnete sie ganz sachgemäß.

»Das wohl — hi hi — und trotzdem hätte ich einen Grund, Ihnen die Hälfte davon abzutreten . . . «

»Was für einen Grund?«

»Sie würden sie doch gewiß zu wohltätigen Zwecken verwenden . . . «

»Wenn Sie das wollen, so können Sie das ja mit eigener Hand tun.«

»Oder Sie können sich die Hälfte ja auch erst redlich verdienen.«

»Wie das?«

»Geben Sie mir und meiner Mannschaft an Bord Ihres Schiffes eine Vorstellung.«

Lauernd wie die Augen einer Katze vor dem Mauseloche ruhten die seinen auf der Patronin.

»Nimmermehr!«

»Ja, warum denn nicht? Wenn Sie nun einmal nur für die Armen und Waisen . . . «

»Geben Sie sich keine Mühe weiter. Nein! Es ist dies mein letztes Wort.«

»Und doch hätte ich Ihnen noch einen Vorschlag zu machen.

»In dieser Sache ist es ganz zwecklos.«

»Sie haben da doch eine gewisse Madame Pompadour an Bord.«

Die Patronin stutzte wie wir alle, jetzt ging sie doch noch einmal drauf ein, und es war ganz richtig so. Da mußte man das feixende Scheusal doch noch einmal aussprechen lassen.

»Was wollen Sie mit der?!«

»Ich . . . ahem — hi hi hi — ich liebe solche Abnormitäten — ich . . . möchte diese Dame gern an Bord meines Schiffes haben . . . «

Es war eigentlich schade, daß die Patronin jetzt schon aufstand, welches Zeichen der Entlassung ja nicht mißzuverstehen war. Jetzt hätte sie diesen Mann nun auch weiter sprechen lassen können.

»Also nicht für die Hälfte der . . .«

»Nun aber kein Wort mehr!« unterbrach ihn die Patronin drohend.

»Ich bitte vielmals um Entschuldigung — hi hi — wenn ich etwa Ihr Zartgefühl verletzt habe — hi hi.«

Der Kapitän hatte nach seiner Mütze gegriffen und wandte sich zum Gehen.

»Halt!« erklang es da nochmals hinter ihm, aus dem Munde der Schiffsherrin.

»Sie wünschten wohl, allergnädigste Freifrau von der See.«

»Auch dieses gehört Ihnen, was wir dann noch gefunden haben.«

Mit diesen Worten hatte sie ein flaches Körbchen auf den Tisch gesetzt, gefüllt mit jenen Pretiosen.

»Was soll das?«

»Nun, das fanden wir eben noch in dem Wasserloche. Nehmen Sie es nur mit.«

»Aaah, das Resultat der Nachlese, die Sie noch gehalten haben! Nein, das ist Ihnen. Wer herrenloses Gut findet‚ dem gehört es doch. Das gehört Ihnen, hi hi hi.«

Einen größeren Hohn hätte er nun nicht mehr in Worte und Ton legen können.

»Nehmen Sie es mit!«

»Dann schenke ich es Ihnen, hi hi.«

Da nahm die Patronin den Korb und schüttete oder schleuderte seinen Inhalt durch das Schiffsfenster dem Revolver nach ins Wasser hinein.

»Na‚ das kann man ja durch Taucher wieder herausholen lassen, hi hi hi.«

Da war es aber gut, daß er schon draußen war!

»So ein Lump!« sagte Kapitän Martin, der sich immer im Hintergrund gehalten hatte. »Was wollte der denn nur mit der Mama . . . «

»Bitte, kein Wort weiter!« wurde er von der Patronin unterbrochen, und es fiel auch wirklich kein einziges Wort mehr über diese Sache.

Nur über den Revolver und seinen Inhalt wurde noch einmal gesprochen.

Also der Teufelskapitän konnte wirklich nichts von den geographischen Ortsbestimmungen wissen, die einer seiner Leute in seiner Waffe verborgen hatte.

Was hatte es nun mit diesen Bestimmungen für eine Bewandtnis?

Nun, wir wollten einmal nachforschen, es war doch interessant, und . . . wir hatten auch einen besonderen Grund dafür.

Eine Stunde später wurde uns eine große Überraschung zuteil.

Die Matrosen hatten schon vorher mit Schwabbern einige Aalfallen für die Nacht gestellt. Schwabber sind aufgefranzte Taue, oder viele dünne Seile, Kabelgarne, sie werden an einem Ende zusammengebunden. Mit dieser Vorrichtung wird allgemein an Bord das Deck aufgewischt, aufgeschwabbert. Hängt man nun solch einen Schwabber in einiger Tiefe dort, wo Aale sind, ins Wasser, so kann man sicher sein, daß immer Aale hineinkriechen, besonders kleinere, welche ja auch am besten schmecken. Dann bringt man vorsichtig einen Korb darunter, zieht so den Schwabber hoch, und in dem Korbe haben sich die Aale gefangen.

Die Matrosen brachten in dem einen Korbe außer einigen Aalen auch den Revolver hoch! Er war bei dem Wurf durch das Bollauge gerade auf solch einen durch einen Stock weiter ausgesteckten Schwabber gefallen und hatte sich mit der Sicherung an einem Kabelgarn festgehakt.

Getaucht hätten wir nach diesem Revolver ja ebensowenig wie nach den weggeworfenen Schmucksachen, das wäre doch gegen unsere Ehre gegangen. Da wir den Revolver aber nun auf diese zufällige Weise wiederbekommen hatten — desto besser so!

Denn nun konnte ihn der Teufelskapitän nicht mehr bekommen, zufällig oder absichtlich, konnte nicht mehr erfahren, was sich in dem hohlen Kolben befand. Also auch nicht, daß wir um seine eventuellen Geheimnisse wußten.

Am anderen Morgen in aller Frühe wurde die »Argos« abgetaut; als sich die Sonne erhob, befanden wir uns schon draußen im freien Fahrwasser.

Es war ja eine bittere Erinnerung, die wir mitnahmen an unsere einst so geliebte Argonautenbucht, daß dieser hämische Halunke uns zuvorgekommen war, aber . . . da war nun nichts dagegen zu machen.

Eine Stunde waren wir ostwärts gedampft.

»Der Seeteufel achter uns!« erklang da der Ruf.

Ja, dort hinter uns war das kleine und doch so lang aussehende Ding, kaum über Wasser ragend, fast einer Zigarre gleichend, aufgetaucht, es dampfte in unserer Richtung.

Schon eine Viertelstunde später war es vollends dicht hinter uns und . . . folgte in unserem Kielwasser!

Es war eben gar kein Zweifel, daß der das mit Absicht tat!

Wir waren mit unseren 12 Knoten gedampft, der hatte uns mit seinen mehr als 30 Knoten in rasender Fahrt bald eingeholt — und jetzt plötzlich fuhr er genau so schnell oder langsam wie wir! Legte sich ganz einfach mit Absicht in unser Kielwasser!

»Bitte, stoppen Sie, Herr Kapitän, lassen wir ihn vorüber!« sagte die Patronin mit finsterem Gesicht.

Ein Warnungssignal der Dampfpfeife, und die »Argos« toppte.

Der »Seeteufel« ging dicht an uns vorbei. Auf dem niedrigen Deck standen, immer halb unter Wasser, einige Männer, auf der sich nur wenig erhebenden Kommandobrücke auch, der Kapitän Satan.

»Guten Morgen, meine Herren, hi hi‚« grinste er zu uns herauf, »guten Morgen, meine allergnädigste Freifrau von der See —— hi hi. Schöner Morgen heute, wie?«

Die Patronin wandte ihm einfach den Rücken, verschmähte aber auch deswegen unter Deck zu gehen, da sie nun einmal den herrlichen Morgen genießen wollte.

Der »Seeteufel« war vorübergefahren.

»Stopp!« hörten wir aber da noch das Kommando, nicht gerufen, sondern geklingelt, und der Torpedojäger hielt in seiner Fahrt inne.

Was sollte das? Die Patronin bekam denn auch schon ganz große Augen.

»Volle Fahrt, Herr Kapitän!«

Wir fuhren also wieder los und ganz von selbst änderte Kapitän Martin den Kurs, ging in fast rechtem Winkel nach backbord hinüber.

Da aber beschrieb auch der »Seeteufel« einen Bogen, war gleich wieder hinter uns, dann wieder neben uns, behielt mit uns die gleiche Geschwindigkeit.

Mit blitzenden Augen trat die Patronin an die Bordwand. Die beiden Schiffe waren so nahe zusammen, daß man sich bequem unterhalten konnte, man brauchte gar nicht die Stimme besonders zu erheben.

»Herr Kapitän Satin!«

»Ah, ah, gnädigste Freifrau von der See, Sie wünschen, hi hi? Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung, hi hi.«

»Sie wollen sich uns wohl anschließen?«

»Erraten, gnädigste Mylady, hi hi.«

»Uns begleiten?«

»Ganz sicher — immer als Ihr gehorsamer Sklave zu Ihrer Verfügung stehend, — hi hi.«

»Und auf wie lange das?«

»Für immer, hi hi. Bis an mein Lebensende, hi hi. Ich darf Ihnen aber verraten, daß mir einst eine alte Zigeunerin prophezeit hat, daß ich auch noch nach meinem Tode als ganz moderner fliegender Holländer auf der Erde oder vielmehr auf dem Meere spuken werde. Weil ich nämlich nicht einmal in der Hölle Aufnahme finde, ein so verworfener Teufel bin ich, hi hi hi hi.«

Und als oh er einen ausgezeichneten Witz gemacht hätte, so brüllte die ganze Mannschaft des Teufelsschiffes mit.

Aber wehe, was unsere Patronin jetzt für einen Kopf bekam!

»Was, Sie wollen mich für immer begleiten?«

»Wie ich sage. Ich habe es bei meiner Großmutter in der Hölle geschworen, Sie immer zu begleiten, hi hi hi. Erstens, weil ich eben Ihr gehorsamer Diener sein will, immer zu Ihren Diensten stehen will, und zweitens, weil ich hoffe, bei dieser Gelegenheit, wenn ich immer in Ihrer dichtesten Nähe bin, doch ab und zu etwas von den wunderbaren Gauklerkünsten der Argonauten zu sehen zu bekommen, hi hi hi.«

So grinste der Kerl.

Na‚ nun wars ja gut.

Was wollten wir denn dagegen tun, wenn der Ernst machte?

Und der führte sein Vorhaben aus, daran war doch gar kein Zweifel. Nur um uns zu kujonieren. Nur aus teuflischer Schadenfreude, um uns das Leben zu verbittern. Und wir konnten es ihm nicht verbieten. Die See ist frei. Wir konnten uns seiner auch nicht so leicht entledigen, da gehörte eine ganz besondere List dazu, die aber erst ausgeheckt werden mußte.

Mit einem Male rannte die Patronin nach der Treppe der Kommandobrücke, sprang hinauf.

Sofort trat ihr Kapitän Martin entgegen, mit ausgestrecktem Arm, als wisse er schon, was sie beabsichtige, und so war es ja auch in der Tat.

»Was wollen Sie, Mylady?«

»In den Grund rammen dieses Teufelsschiff . . .«

Helene war außer sich, und es war begreiflich.

Aber Kapitän Martin vertrat ihr fest den Weg, ließ sie nicht vollends die Kommandobrücke betreten.

»An den Signalapparat und das Steuerrad kommen Sie nicht, in dieser Verfassung nicht auf meine Brücke! Nehmen Sie doch Vernunft an, Frau Patronin!« setzte er bittend leise hinzu.

Und zum Glück tat es auch Helene, hatte sich gleich wieder in der Gewalt, sah ein, was sie da für eine Torheit begehen wollte.

Ziemlich ruhig, freilich mit einem ihrer Gemütsverfassung entsprechendem Gesicht, kehrte sie an die Bordwand zurück.

»Ach, Sie wollen mich wohl in den Grund rammen?« erklang es drüben denn auch gleich mit genügendem Hohn. »Bitte, gnädigste Freifrau von der See, genieren Sie sich nicht, hi hi hi. Nur erlaube ich mir, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß mein ursprüngliches Kriegsschiff wirklich gepanzert ist, Ihres aber nicht.«

»Herr Kapitän, was habe ich Ihnen getan, daß Sie mir das Leben so verbittern wollen?« fragte die Patronin ruhig.

»Sie haben mir gar nichts getan — im Gegenteil, ich begleite Sie ja nur, um Sie in Ihrer Freiherrlichkeit zu bewundern, allergnädigste Freifrau von der See, hi hi.«

Es war ja einfach genug. Dieser Kerl revanchierte sich eben für das Briefchen, das damals der Kapitän Martin an die Patronin geschrieben, was unglücklicherweise der Wind auch jenem in die Hände geweht hatte.

Die Patronin hätte gleich gehen sollen, wir konnten doch beraten, wie wir den los wurden, aber sie blieb, kreuzte die Arme über der Brust und nagte an der Unterlippe.

»Aber wenn Ihnen mein ständiger Anblick doch vielleicht nicht lieb ist, hi hi‚« fuhr es unten fort, »so will ich Ihnen die Bedingungen nennen, zu welchen ich Sie sofort wieder verlassen werde.«

»Was für Bedingungen?«

»Lassen Sie Ihre Argonauten mir und meinen Leuten an Bord Ihres Schiffes eine zweistündige Vorstellung geben.«

Jetzt wenigstens wandte ihm die Patronin ohne weiteres den Rücken und verschwand in der Kajüte.

»Und dann bitte ich um Gelegenheit, daß ich der liebreizenden Madame Pompadour, die ich nun einmal in mein Herz geschlossen habe, einen Heiratsantrag machen kann, hi hi hi!« klang es ihr kichernd nach.

Ich will das Weitere kurz machen.

Den ganzen Tag begleitete uns der »Seeteufel« nicht nur immer dicht neben uns, sondern er fuhr immer spielend um uns herum, wie ein Haifisch um das Schiff, dem er nun einmal seine Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Was sollten wir denn dagegen tun?

Da war absolut nichts dagegen zu machen.

Der begleitete uns auch in jeden Hafen, fuhr mit uns wieder heraus.

In der Nacht die Lichter löschen und im Dunkeln davon fahren?

Jawohl, hat sich was! Nicht ein einziger an Bord dachte an so etwas. Auch die Nichtseeleute waren schon zu lange an Bord, um an so etwas zu denken.

Wohl war es auf diese Weise möglich, diesem Seestrolch so zu entkommen, und dann sollte er sich uns ja nicht so bald wieder anschließen können.

Aber das merkte der doch, wenn wir die Lichter löschten, dann zeigte er uns an, und Kapitän Martin verlor sein Patent, auch alle Offiziere, die sich durch Eid nicht von dem Verdachte reinigen konnten, daß sie nichts von diesem Vorhaben des Kapitäns oder sonst eines Menschen gewußt hatten.

Die Lichter löschen, des Nachts ohne die vorschriftsmäßigen Lichter fahren — ei, da lassen die internationalen Seegesetze nicht mit sich spaßen!

Nur ein Krieg hebt alle solche Vorschriften auf. Die kriegführenden Nationen müssen aber erst die betreffende Note, daß sie gegenseitig Krieg führen wollen, den übrigen Mächten durch ihre Gesandten überreicht haben, dann wird der Ausnahmefall anerkannt. Das ist alles bis ins kleinste geregelt!

So etwas galt doch nicht etwa für uns hier.

Ein Zufall sollte die Lichter auslöschen?

Das müssen Kapitän und Offiziere doch alles unter Eid aussagen. Und dann etwa des Meineids überführt werden und ins Zuchthaus kommen?

Die Freifrau von der See saß in der Kajüte. Ihre Gemütsstimmung läßt sich denken. Das nennt man nun eine Freiheit zur See. Von solch einem Schufte ständig umlauert zu werden.

»Georg, einen Rat, einen Rat, wie wir den los werden!«

Ich konnte ihr nicht helfen. Vielleicht fand ich noch einen Rat, eine List, aber jetzt wußte ich nichts.

Vogel ließ sich melden, Schiffsjunge, ehemals Handlungsbeflissener, in einem Kolonialwarengeschäft, einfach Häringsbändiger.

»Herr Waffenmeister, ich weiß einen Rat, wie wir den weglocken können.«

»Sprechen Sie, Vogel.«

So unter vier Augen behandelte ich die acht Turner doch nicht als gewöhnliche Schiffsjungen, duzte sie auch nicht. An Deck und überhaupt bei der Arbeit allerdings war das etwas anderes.

»Wir machen eine Seepost.«

»Seepost? Was verstehen Sie hierunter?«

Der schien sich zu wundern, daß ich das nicht wußte.

»Wir schreiben einen Zettel, mit einer geographischen Ortsbestimmung, da und dort an der Küste ist ein Schiff gescheitert, mit einer wertvollen Ladung — es wird so gemacht, als hätte es der Kapitän selbst geschrieben — der Zettel wird dann in eine recht auffallende Flasche gesteckt, gut verkorkt und versiegelt, heimlich über Bord geworfen, daß es die drüben auf dem Seeteufel nicht merken, aber die Flasche werden sie dann schon treiben sehen, sie fischen sie auf, und so ein Wrack mit kostbarer Ladung wird sie schon weglocken . . . «

Er berichtete noch ausführlicher, und ich ließ ihn ruhig aussprechen, sah ihn dabei nur immer fest an.

»So!« sagte ich dann, als er fertig war. »Mensch, haben Sie sich denn auch schon überlegt, was Sie da tun wollen. Wenn diese gefälschte Flaschenpost von höchster Seenot erzählend, nun von einem anderen Schiffe aufgefischt wird? Und wenn dieses nun zwischen die Klippen fährt? Haben Sie sich überlegt, was Sie da für Menschenleben auf Ihr Gewissen bekommen können? Was Sie da für Strafe erhalten können? Vieljähriges Zuchthaus?«

Ich will es hier in etwas anderer Weise erledigen, als wie ich es diesem Turner auseinandersetzte.

Solche Bubenstreiche mit gefälschten Flaschenposten sind schon wiederholt ausgeübt worden, von Passagieren, von Badegästen und so weiter. Das ist der nichtswürdigste Bubenstreich den man sich denken kann! Bestraft wird so etwas, wenn es herauskommt, unter allen Umständen, hart bestraft — und wenn es böse Folgen hat, dann kann es Zuchthaus dafür geben! Mag das genügen.

Ich muß diesem Turner die Ehre widerfahren lassen, daß er hieran gedacht, alles wirklich reiflich erwogen hatte.

»Wir passen gut auf, daß diese Flasche auch wirklich von dem »Seeteufel« aufgefischt wird, wenn sie ihm entgeht, so holen wir sie selber wieder . . . «

Er sprach noch weiter. Aber es nützte ihm nichts.

»Und wenn jener Kapitän nun erkennt, daß es nur eine gefälschte Flaschenpost ist? Und schließlich muß er es doch erkennen! Wenn die Sache auch ohne jede Gefahr für ihn abgegangen ist. Dann zeigt er uns an, daß wir diese falsche Flaschenpost in die Welt gesetzt haben. Und wir können es doch nicht abschwören. Und was meinen Sie wohl, was der Kapitän und die Offiziere für solch einen Streich bekommen? Die können nicht mehr zur See fahren. Nein, lieber Freund, das war nichts.«

Ganz unwirsch schlich Vogel davon.

Ich erkannte recht wohl an, wie der intelligente junge Mensch für uns seinen Kopf angestrengt hatte, um uns aus dieser fatalen Situation zu befreien.

Es war unsere eigene Schuld, daß jemand noch auf solch einen verbrecherischen Anschlag kommen konnte, ihn ganz harmlos findend, wir hatten die neuen Schiffsjungen über so etwas noch nicht genügend instruiert.

Nun könnte, um nichts zu vergessen, ein Leser auf den Gedanken kommen: aber das mit der Flaschenpost, die den Teufelskapitän von uns weglockte, konnte ja ein anderer Mann machen, ohne daß Kapitän und Offiziere etwas davon wußten, dann waren die doch auch straflos, überhaupt wirklich ganz unschuldig.

Dem kann ich nur sagen, was Pompejus dem Menas erwidert, in Shakespeares »Antonius und Kleopatra«, 2. Aufzug, 7. Szene.

Menas macht seinem Freunde Pompejus den Vorschlag, die drei Triumvirn, die sich auf seinem Schiffe befinden und gegen seine herrschüchtigen Pläne sind, in seine Gewalt zu bringen.

» . . . ich kappe jetzt das Tau,
Wir stoßen ab, ich greif an ihre Kehle -
Und Dein ist alles!«

Worauf Pompejus erwidert:

» . . . Ah! Hätt'st Dus getan,
Und nicht gesagt! Von mir ist Büberei,
Von Dir ist treuer Dienst! Vergiß es nie,
Mein Vorteil geht nicht meiner Ehre vor,
Die Ehre ihm! Bereu es, daß Dein Mund
So Deine Tat verriet. Tatst Dus geheim,
Dann hätt ich, wenns geschehen, als gut erkannt,
Doch nun muß ich verdammen.«

Herrliche Worte! Wie sie eben nur ein Shakespeare fertig bringt.

Und ich mußte nun alle meine Leute vornehmen und sie eindringlich warnen, daß sie nicht etwa irgend solch einen Unfug unternahmen! Mußte sie auf die ganze Strenge des Gesetzes aufmerksam machen — und auf unsere Ehre!

Sonst hätten wir doch auch gleich diesen Kapitän wegschießen oder auf sein Teufelsschiff eine Dynamitbombe werfen können.

Im übrigen aber waren alle meine Jungen schon so charakterfest, daß sie ihrem Unmut in keinem einzigen Fluche Luft machten. Wenigstens durfte er dort drüben nicht gehört werden. Das ganze Schiff war für uns einfach Luft, mochte der Haifisch nur ruhig um uns herum spielen, wir sahen ihn nicht.

Aber freilich — sitzen tat der Stachel doch in unserem Fleische!

Ja, wie sollten wir ihn aber nun los werden, diesen Teufelskapitän?

Klothilde war diejenige, die den besten Rat wußte.

»Kinder,« sagte sie, »gebt mir mal 'ne Reihe Zwiebeln her, ich will beten, daß ein tüchtiger Nebel kommt!«

Sie spielte auf den Zwiebelrosenkranz unseres Prospektadors an.

Zwar tat sie das nicht, so gotteslästerlich war unsere Klothilde gar nicht veranlagt, ich sah sie auch sonst nicht beten — aber in Erfüllung sollte ihr Wunsch dennoch gehen, der uns auch wirklich allein aus dieser vermaledeiten Patsche helfen konnte, daß wir mit Anstand dem aufdringlichen Begleiter entschwanden.

Da aber mußte erst noch eine ganze Nacht vergehen.

Also auch während dieser ganzen Nacht huschte der »Seeteufel« um uns herum. Wenn wir die Riesenzigarre selbst nicht mehr sahen, so doch immer seine farbigen Seitenlichter und die weiße Toplaterne. Immer um uns herum kreisend, uns verhöhnend. Sogar auch mit Worten, die wir genug zu hören bekamen.

Aber die Nacht war so beschaffen, daß wir schon hoffen durften.

Mondlos ganz windstill, der Himmel unbewölkt, eigentlich sehr finster und in anderer Hinsicht doch wieder ungemein hell. Die Sterne funkelten nämlich außerordentlich stark, ohne doch wirklich zu leuchten, ohne Helligkeit zu verbreiten, und sie schienen auch so nahe gerückt zu sein, viel näher als sonst, wie überhaupt alle Gegenstände.

Das ist immer ein sicheres Zeichen, daß man bald starken Nebel und wahrscheinlich auch Regen zu erwarten hat. Dann ist nämlich die Atmosphäre mit Feuchtigkeit gesättigt, jedes einzelne Wasserbläschen wirkt wie ein Vergrößerungsglas alle zusammen scheinen die Gegenstände näher heranzurücken. Das wissen auch die Gebirgsbewohner ganz genau. Wenn des Abends bei schönem Sonnenuntergang die Berge so scharfe Umrisse haben und so nah erscheinen, dann kommt am anderen Tage ganz bestimmt Regen.

Und so war es auch bei uns. Statt daß nach der herrlichen Nacht ein schöner Sonnenaufgang folgte, stieg es plötzlich von unten auf und senkte es sich von oben herab, wie ein weißer Schleier, und da waren wir auch schon in eine Milchsuppe eingehüllt.

So, nun mal los!

Zuletzt hatten wir die schwachen Umrisse des »Seeteufels« auf Steuerbordseite gesehen, also nach Backbord davongefahren und dann noch einige Bogen und Zickzacklinien gemacht.

Nebelsignale zu geben, dazu waren wir auf freiem Meere durchaus nicht verpflichtet, und daß wir versehentlich zusammenrammten, das wäre ein außerordentlicher Zufall gewesen, mit dieser Gefahr mußte man eben rechnen.

Als nach einer Stunde im dichtesten Nebel noch kein Zusammenstoß passiert war, da durften wir bestimmt hoffen, den aufdringlichen Gesellschafter nun für immer los zu sein. Ach Gott, wo der jetzt sein mochte!

Und so bald kriegen sollte der uns ja nicht wieder! Die Welt ist groß, wir hatten die Auswahl unter den Häfen in allen Erdteilen, und wir brauchten doch auch niemals ein Ziel anzugeben.

Und eine zweite Stunde verging im dichtesten Nebel.

Dann fing es an zu regnen, erst zu rieseln und dann in Bindfaden und Stricken, und es war nicht anders, als wenn ein starker Regen oder Hagel strichweise oder auch lochweise ein Getreidefeld niederlegt. Denn in einem hochstehenden Getreidefeld sieht man doch manchmal weite Mulden, die Halme sind aus irgend einem Grunde — wahrscheinlich weil der schlechte Boden gerade hier nur eine schwache Entwicklung der Halme gestattete gerade hier vom Regen niedergelegt oder gar umgeknickt worden.

So war es auch hier bei uns betreffs des Nebels. Plötzlich lagen wir wie in einem weiten, offenen Tale, ringsherum von einer undurchdringlichen Nebelwand eingeschlossen.

Und wer beschreibt nun unseren Schreck, wie da plötzlich ostwärts auf dieser nur für den Blick undurchdringlichen weißen Wand die lange Riesenzigarre herausschießt, der Torpedojäger, der »Seeteufel«!

War es ein Zufall, daß er uns wiedergefunden hatte? Oder hatte er wirklich ein Mittel gewußt, um uns auf den Hacken zu bleiben?

Wir wußten es nicht, und das war auch ganz gleichgültig.

Wir hatten seine Gesellschaft wieder, das war die Hauptsache!

Und nicht etwa, daß wir nun schleunigst selbst in die undurchsichtige Nebelwand kriechen konnten. Diese ganze Erscheinung war nämlich nur eine optische Täuschung, das freie Tal und die Nebelwand, das wußten wir von vornherein. Dieser scheinbar nebelfreie Kessel ging immer mit uns, wir konnten so schnell fahren wie wir wollten, also auch die Entfernung von der Nebelmauer blieb immer dieselbe. Die Sache war eben die, daß es eine besondere Nebelart war — Glasnebel nennt ihn der Seemann — der nur von weitem ganz undurchsichtig erscheint, in ihm selbst merkt man auf einige Entfernung gar nichts davon.

Also wenn wir auch weiter fuhren, um uns herum war es immer frei, und da natürlich hatte uns der Torpedojäger gleich wieder ein.

Die Teufelsmannschaft machte gar kein Hehl aus ihrer Freude, uns wieder zu sehen, sie winkten und schrien uns einen Gutenmorgengruß zu, auch Kapitän Satan schwenkte die Hand und salutierte dann.

»Stopp!« kommandierte da Kapitän Martin, die Maschine stand, und da lag auch der »Seeteufel« schon dicht neben uns.

Kapitän Martin trat an das Seitengeländer der Kommandobrücke. Zum ersten Male sprach er seinen englischamerikanischen Kollegen an.

»Herr Kapitän Satin!«

»Sie wünschen, Herr Kapitän Martin?« erklang die fette Fistelstimme zurück.

»Weshalb verfolgen Sie uns?«

»Ich Sie verfolgen? Die See ist doch frei, ich kann doch hinfahren, wohin ich will, hi hi!«

»Sie haben doch selbst schon gesagt, daß Sie uns ständig begleiten wollen!«

»Nun ja, wenn mir das Spaß, macht, wer will mir denn das verbieten, hi hi?«

Da richtete Kapitän Martin seine Reckengestalt noch höher auf, und wie dem seine grauen Augen blitzen konnten!

»Nein, Verbieten kann ich Ihnen diese Begleitung nicht. Aber meine Meinung über Sie kann ich Ihnen sagen. In meinen Augen ist solch eine unerwünschte Begleitung zu Land wie zu Wasser eine unfaire Handlung, ist in diesem Falle, wie Sie sich dabei betragen, sogar eine direkte Infamie! Also in meinen Augen sind Sie ein infamer Lump, der also kein Schiff als Kapitän fahren darf! Verstanden!«

Himmeldunnerwetter noch einmal!

Und mit einem Male fiel es uns wie Schuppen von den Augen.

Unser Kapitän Martin hatte allein wieder einmal das Richtige getroffen.

Ja, so hatte es kommen müssen, so!

»So, nun wissen Sie meine Meinung,« fuhr Kapitän Martin fort, »und nun begleiten Sie uns nur ruhig weiter, wir gehen jetzt nach Buenos Ayres, dort verklagen Sie mich wegen Beleidigung, ich werde wegen dieser Beleidigung wahrscheinlich bestraft werden — aber das Weitere tragen wir dann vor dem internationalen Seemannsehrengericht aus! Ich, Kapitän Martin, ich werde dafür sorgen, daß dies Ihre letzte Fahrt als Kapitän gewesen ist — Sie infamer Schuft!«

Himmeldunnerwetter noch einmal!

Mehr vermag ich nicht zu sagen, um unsere Stimmung zu schildern, wie wir dies hörten!

Famos, famos!

Dieser Kapitän konnte wegen solch eines unfairen, flegelhaften Benehmens zur See tatsächlich sein Patent verlieren, es mußte nur richtig gehandhabt werden!

Freilich war zu erwarten, daß es auch jetzt gleich zwischen den beiden zu einer Katastrophe kam.

Der dort drüben stehende Kapitän war plötzlich im Gesicht weiß wie eine Kalkwand geworden, seine Augen drohten die Höhlen zu verlassen, so glotzten sie herüber, und seine Finger krallten in der Luft herum, also vorläufig noch außerhalb der Taschen.

Und ich war wohl nicht der einzige, der bereit war, es zu verhüten, daß er schnell in eine seiner Taschen griff und irgend etwas Gefährliches zum Vorschein brachte, vor allen Dingen sah ich auch schon Peitschenmüllern bereit stehen, gefechtsbereit mit jenem Instrument, nach dem er eben diesen Spitznamen bekommen hatte, das er ja selten aus der Hand ließ, und mit dieser Peitsche langte er ganz bequem hinüber, so nahe lagen wir zusammen.

Doch es sollte nicht zu einer weiteren persönlichen Auseinandersetzung zwischen den beiden Kapitänen kommen.

»Schiff ahoi!« erklang da der Ruf. »Englischer Manofwar!«

Jetzt sahen wir ihn alle. In der nördlichen Nebelwand tauchte schattenhaft die Takelage eines Schiffes auf, gleich darauf aber war es auch schon völlig heraus, in dem nebelfreien Kessel, eine Kreuzerfregatte wie die unsere, aber am Top den Kriegswimpel, und jetzt wurde am Heck die englische Kriegsflagge gehißt, grüßend gesenkt und wieder gehißt.

»Achtung vor einem Manofwar — erwidert den Gruß, Ihr armseligen Pefferkästen, und zeigt mal Eure Visitenkarten!«

Dies bedeutet solch ein Gruß eines Kriegsschiffes. Davon habe ich ja schon früher einmal berichtet.

Jedenfalls ist mit solch einem freundlichen Gruß gar nicht zu spaßen, da muß man nur schleunigst die Mütze abnehmen.

Also dies legte im Augenblick auch die ganze Streitsache bei, beide Kapitäne hatten Befehle zu geben. Der Fall konnte dann ja wieder aufgenommen werden, selbstverständlich geschah das dann auch.

Zunächst aber kletterten die Flaggen hoch, die beiden Handelsschiffe, die sie doch waren, auch wenn sie keinen direkten Handel trieben, stellten sich vor.

Und nicht etwa, daß der Novascotiafahrer hier die Flagge von Halifax gezeigt hätte! Solch ein Späßchen konnte er sich wohl bei einem anderen Kauffahrer bei der gegenseitigen Vorstellung erlauben, aber bei einem Kriegsschiff gab es so etwas nun nicht!

Also der »Seeteufel« hißte gehorsam seine englischkanadische Handelsflagge, und wir vergaßen nicht, auch unsere Halbkriegsflagge zu zeigen, als die Standarte der englischen »Lady of the Sea«.

Das Kriegsschiff dankte und ließ jetzt seinerseits eine Reihe bunter Lappen hochklettern. Aber nicht etwa, daß sich dieses Kriegsschiff vorstellte. Es war ein Befehl.

»Seeteufel — streich die Segell«

Hallo!

Und da wurde dort drüben auch schon ein Boot ausgesetzt.

Also der Kapitän des Kriegsschiffes oder doch ein Offizier wollte dem »Seeteufel« einen Besuch abstatten. Und da denkt man immer gleich an eine Visitation, obschon die nicht durchaus notwendig zu sein braucht.

Na‚ uns ging es ja nichts an.

Nur dem »Seeteufel«, nur dem Kapitän Satin ging es etwas an.

Und dem schien dieser Besuch recht nahe zu gehen. Plötzlich stampft der mehrmals wie wütend mit dem Euße auf, und ehe wir uns versehen, schießt auch schon die schwarze Riesenzigarre mit voller Fahrt an uns vorbei, schneller und immer schneller, bis der Torpedojäger sicher seine 32 Knoten macht!

Drüben auf dem Kriegsschiff ertönen Schreie, dann ein Kommando, mehrere Kommandos.

»Fertig — Feuer!«

Bum!

Und es war ein scharfer Schuß; mindestens aus einem Zwanzigzentimetergeschütz, das hört man doch gleich heraus, ob blind oder scharf, und gerade bei solchem Nebel sieht man das Geschoß auch in dichter Nähe fliegen — und so sahen wir ganz deutlich, wie die Granate über das Fahrzeug wegflog, so dicht, daß sie vielleicht noch den Top des kurzen Signalmastes streifte.

Jedenfalls aber doch vorbeigeschossen! Wenn es nicht bloß ein scharfer Schreckschuß gewesen war, wonach es aber gar nicht ausgesehen hatte. Und ehe dasselbe Geschütz hätte wieder geladen werden können, obgleich das heutzutage affenartig fix geht, war die lange Riesenzigarre schon in der westlichen Nebelwand spurlos verschwunden.

Nun war jede Nachschießerei zwecklos, und in diesem Nebel hätte auch eine Verfolgung nichts genützt, ganz abgesehen davon, daß diese Kreuzerfregatte, so schnell sie sonst bei Volldampf vielleicht auch war, doch sicher keine 32 Knoten machte.

Wir waren zunächst einfach sprachlos!

Von einem Kriegsschiff die Aufforderung zu erhalten, die Segel zu streichen — was noch eine andere Bedeutung hat, als nur die Fahrt einzustellen, still gelegen hatten wir ja überhaupt — der Kauffahrer gehorcht, meldet sich, das Kriegsschiff setzt ein Boot aus. Und da plötzlich geht der Kauffahrer in voller Fahrt davon, sofort wird ihm ein scharfer Schuß nachgesendet, eine Zwanzigzentimetergranate, die ganz offenbar nur durch Zufall ihr Ziel verfehlt — ei die Dunnerwetter, so etwas kommt ja heutzutage selten vor, da kann man sich höchstens in die alten Flibustierzeiten zurückversetzt fühlen.

Ja, was lag denn hier eigentlich vor?!

Nun, wir würden es wohl gleich erfahren, das Boot, gleich mit drei Offizieren dekoriert, hielt direkt auf uns zu.

»Die Lady of the Sea zu sprechen, Patronin der »Argos«?« rief der am höchsten ausgezeichnete Offizier.

»Hier!« gab die an Deck stehende Patronin zurück.

»Fregattenkapitän Dorington von Seiner Majestät Schiff »Duke of Glocester«. Gestatten Sie mir, daß ich einmal an Bord komme?«

»Bitte sehr.«

»Danke verbindlichst.«

Die Falltreppe wurde herabgelassen, das Boot legte bei.

Ei, es ist doch etwas Schönes, wenn man so eine halbe englische Kriegsflagge führen kann! Und ebenso höflich hätte auch der Kriegsschiffskapitän jeder anderen Nation erst angefragt, ob er unser Schiff betreten dürfe, obgleich er es durchaus nicht nötig gehabt hatte.

Der Fregattenkapitän war heraufgekommen, in die Kajüte geführt worden, wo Siddy im Handumdrehen das Nötige zum Empfang vorgerichtet hatte.

Obgleich sonst sicher ein eiserner Mann, der auch im heftigsten Geschützfeuer mit keiner Wimper zuckte, suchte er jetzt doch seine Erregung nicht zu verbergen, vergaß alle weiteren Förmlichkeiten und machte gar keine Einleitung.

»Ja, weshalb ist denn der Kapitän Satan mit seinem »Seeteufel« so plötzlich auf und davon gegangen? Was haben Sie denn mit dem hier gehabt?!«

Zum Glück übernahm nicht die Patronin, sondern gleich Kapitän Martin die Erklärung, der machte es ja kurz genug.

Von den Schätzen des Flibustierschiffes brauchte natürlich kein anderer Mensch etwas zu erfahren.

»Well, ich habe mit dem Kapitän Satin einmal etwas Persönliches gehabt, was er mir übelgenommen hat, gestern früh trafen wir uns in der Magalhaesstraße wieder, er heftete sich uns an und wollte uns von nun an ständig begleiten, wohin wir auch führen, nur um uns zu schikanieren.«

Der Kapitän führte etwas weiter aus, wie jener eine Vorstellung und die Madame Pompadour hatte haben wollen, wie er uns sonst noch gehöhnt hatte — nichts weiter, und es genügte.

»Ja, ja, das sieht dem Burschen ganz ähnlich,« bestätigte Kapitän Dorington, »einem Menschen das Leben zu verbittern nur aus Lust an teuflischer Bosheit. Ja, aber warum ist der denn plötzlich davongeschossen?!«

»Wir dachten, diese Erklärung könnten Sie uns geben!«

»Ich? Ich weiß es nicht.«

»Weshalb ließen Sie denn den »Seeteufel« die Segel streichen?«

»Um ihn einmal zu visitieren.«

»Und weshalb das?«

Der Fregattenkapitän zuckte die Schultern.

»Ja, weshalb, weshalb . . . weil ich eben das Recht habe, jeden Kauffahrer und sonstiges Fahrzeug, das nicht unter Kriegsflagge fährt, anzuhalten und mir seine Schiffspapiere vorlegen zu lassen, es auch gründlich zu visitieren.«

»Und hatten Sie hierzu einen besonderen Grund, den »Seeteufel« zu visitieren?«

Wieder zögerte der Fregattenkapitän etwas.

»Ja und nein —— nein und ja. Über diesen Kapitän Satin, der sich selbst Satan nennt, der seinem Schiffe einen solch blasphemierenden Namen wie »Seeteufel« gegeben hat, zirkulieren die verschiedensten Gerüchte. Ganz unheimliche Gerüchte, ist Ihnen das bekannt?«

»Ja.«

Können Sie diesem Kapitän etwas Tatsächliches nachweisen, das ihn vor die Geschworenen bringt?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Also sind es nur Gerüchte die man gar nicht wiederholen darf, will man von diesem Menschen nicht selbst vor Gericht zur Verantwortung gezogen werden. Er hat doch schon solche Dinger gemacht, das wissen Sie doch auch.«

»Ich weiß es.«

»Nun gut. Also ich sage nichts. Aber da ich ihn hier sah, wollte ich ihn doch einmal visitieren. Er hat sich der Visitation oder überhaupt meinem Besuch durch Flucht entzogen. Wissen Sie, aus welchem Grunde er dies tat?«

»Das sah doch fast aus,« mischte sich die Patronin einmal ein, »als habe er ein böses Gewissen, als habe er eine Visitation durch ein Kriegsschiff zu fürchten.«

»Hm. Auf diese Vermutung muß man allerdings kommen. Aber ich habe mich nicht in Vermutungen zu ergehen. Ich habe nur meine Pflicht zu tun. Jenes Schiff hat sich meinen weiteren Befehlen und Anordnungen durch Flucht entzogen. So erkläre ich hiermit den »Seeteufel« von Halifax als Piratenschiff, Kapitän Satin zum Piraten. Bitte, tragen Sie es sofort in Ihr Schiffsjournal ein. Da ich persönlich anwesend bin, muß ich selbst mit unterzeichnen.«

Es war ausgesprochen, es war eingeschrieben!

Kapitän Satin war zum vogelfreien Piraten erklärt worden!

Ich habe schon früher einmal gesagt, daß nach der internationalen Seeordnung ein Pirat noch kein Seeräuber zu sein braucht.

Nach diesen Bestimmungen ist ein Pirat derjenige, der als vereidigter Schiffer sich gegen die internationalen Seegesetze vergangen hat und sich der Bestrafung oder auch nur der Verantwortung eigenmächtig entzieht.

Das ist die ganz einfache Definition.

Was er begangen hat, ob er nur versehentlicherweise die Seitenlichter nicht rechtzeitig bei Dunkelheit angesteckt oder ob er als Seeräuber Dutzende von Schiffen genommen und die Mannschaften hingeschlachtet hat, das ist dabei ganz gleichgültig! Sobald er sich der Verantwortung entzieht, stellt er sich außerhalb der Seegesetze und wird als vogelfreier Pirat verfolgt.

Erst wenn er sich selbst gestellt hat oder eingeliefert worden ist, stellt die Justiz die Art seines Vergehens fest, dann erst wird richtig die Anklage erhoben, die dann ja auf Seeräuberei lauten kann. Da die englische Sprache kein besonderes Wort für Seeraub hat, so unterscheidet sie zwischen »piracy« und »perfect piracy«: letzteres ist dann also Seeräuberei. So lange aber nur die Polizei in Betracht kommt, die das verfolgte Schiff den Behörden auszuliefern hat, gibt es nur Piraterie, und wenn ein Schiff beim Verlassen des Hafens auch nur ein unvorschriftsmäßiges Manöver ausgeführt hat. Daß der Kapitän sich einer Bestrafung, und habe er auch nur fünf Groschen zu bezahlen, entzieht, das gibt den Ausschlag, das stempelt ihn schon zum Piraten.

Es treiben sich immer Piratenschiffe herum. Die Sache ist ja auch höchst unschuldig. Einerseits. Anderseits furchtbar ernst!

Jedes Schiff und Fahrzeug, das erfährt, dies und jenes Schiff sei in die Acht der Piraterie erklärt worden, muß das in jedem Hafen melden und an jedes ihm begegnende Schiff weitergeben, auch wo das Piratenschiff zuletzt gesichtet worden ist.

Jedes Kriegsschiff ist verpflichtet, den Piraten festzunehmen und, wenn er sich durch Flucht entziehen will, zu vernichten.

Jedes Handelsschiff ist verpflichtet, das ihm begegnende Piratenschiff aufzufordern, sich sofort nach dem nächsten Hafen zu begeben und den Behörden zu stellen. Und jedes Handelsschiff kann dann das Piratenschiff, wenn es erklärt, der Aufforderung nicht Folge leisten zu wollen, ebenfalls mit Gewalt ins Schlepptau nehmen, kann es in den Grund rammen oder schießen.

Das Kriegsschiff ist hierzu verpflichtet, das Handelsschiff kann es tun. Das ist hierbei der einzige Unterschied zwischen Kriegs— und Handelsschiff, was aber auch für jede Privatjacht gilt. So stand es jetzt also auch mit dem »Seeteufel« und seinem satanischen Kapitän. In die Acht der Piraterie erklärt!

Wie wollte der sich denn da wieder freimachen? Wo wollte der denn Kohlen und Trinkwasser herbekommen? In jedem Hafen wurde er doch festgenommen und sah einer ganz exemplarischen Bestrafung entgegen, verlor auch auf alle Fälle sein Kapitänspatent.

Nun, das war uns ja alles ganz gleichgültig. Daß wir den unliebsamen Kerl auf diese Weise losgeworden, das war für uns die Hauptsache und wenn er uns nochmals auffand und sich uns anschloß, na‚ jetzt konnten wir ja anders mit ihm sprechen, mit diesem vogelfreien Piraten!


50. KAPITEL.
DAS GEHEIMNIS DER BEIDEN SCHWESTERN.

Kapitän Dorington war nach seiner Fregatte zurück gerudert, diese verschwand im Osten.

»So, jetzt wollen wir einmal nachsehen, was es mit den beiden Schwestern für eine Bewandtnis hat,« sagte ich.

Denn nach den beiden Schwestern wies uns die dritte der fünf geographischen Ortsbestimmungen, wie wir uns nun auf der Spezialkarte bereits überzeugt hatten, und es war uns gar nicht eingefallen, dem englischen Manofwar von diesem unseren Funde Mitteilung zu machen.

Was ging das denn den an?

Wenn wir nun dort Gold oder sonst etwas Wertvolles fanden?

Das wollten wir dann auch für uns behalten, keinen Mitfinder haben, mit dem wir hätten teilen müssen.

Also nach den beiden Schwestern, die sich östlich von den Falklandsinseln mitten im Meere die Hände zu reichen suchen.

Die Falklandsinseln liegen 600 Kilometer von der Südostküste Patagoniens entfernt, bestehen aus zwei großen und zirka 200 kleineren Inseln. Entdeckt wurden sie ungefähr im Jahre 1600 von englischen Seefahrern, waren dann abwechselnd im Besitz von Franzosen und Spaniern, die sie vergebens zu besiedeln versuchten. Denn es sind ja trostlose Inseln. Der Boden ist ganz fruchtbar, aber der jahraus jahrein fast ununterbrochen wütende Sturm duldet auch an den geschütztesten Stellen nicht das Aufkommen eines einzigen Bäumchens.

Zuletzt saßen Argentinier drauf und gruben nach Zinn und Kupfer. Da kam 1840 ein englisches Kriegsschiff, jagte die Argentinier zum Teufel, in die Mitte der Inselgruppe wurde ein imaginärer Zirkel eingesetzt mit 150 Kilometer Spannweite, ein Kreis geschlagen, und dann sagten die Engländer: Was innerhalb dieses Kreises von 300 Kilometer Durchmesser liegt, das ist englisches Gebiet, das hat uns der liebe Gott geschenkt. God save the Queen. Amen!

Nun, die Engländer haben aus den trostlosen Falklandsinseln etwas zu machen verstanden — und Rinderzucht wird ganz intensiv betrieben, besonders das Fleisch dieser Falklandsrinder, die lebendig nach England transportiert und dort noch einmal gemästet werden, gilt als das vorzüglichste der Welt, ist in London pro Pfund nicht unter zwei Schilling zu haben. Aber die Engländer haben auch unter enormen Kosten jahrzehntelang erst eine besondere Rasse von Rindern und Schafen züchten müssen, welche dieses böse Klima vertrugen! Außerdem wird ein besonderer, starkhalmiger Hafer massenhaft gebaut.

Das Kuriosum besteht hauptsächlich darin, daß die argentinische Regierung die Falklandsinseln noch immer als ihr Eigentum betrachtet. Es ist eine argentinische Kolonie. Und England bezeichnet sie als eine englische Kolonie. Solcher Kuriositäten gibt es aber noch eine ganze Menge, die nordische Bäreninsel wird gleich von vier verschiedenen Nationen beansprucht, von Rußland, Schweden, Dänemark und England, und der deutsche Jachtbesitzer Robert Braun ist es gewesen, der sich von dort jahrelang seine Kohlen geholt hat, ohne daß die Welt davon gewußt hat, bis es zufällig verraten wurde.

Nur die beiden großen Falklandsinseln kommen in Betracht, und die sind auch schon furchtbar schwer anzulaufen, nur in Port Stanley. Die anderen 200 Inselchen und Eilande, auf denen meist das unansehnliche, staudenähnliche Tunsokgras ebenfalls üppig gedeiht, sind für die Menschen wegen der schrecklichen Brandung einfach unerreichbar. Auch mag es ihnen wohl an Trinkwasser fehlen.

Ungefähr 50 Kilometer von diesem englischen Kreisgebiet, östlich entfernt stehen dann noch zwei mächtige Felsen einsam im Meere.

Sie sind nicht vom Himmel herabgefallen. Wohl sind die Falklandsinseln im großen und ganzen flach, aber hin und wieder erheben sich riesige Felsengebilde, jäh aus dem Boden sich emporreckend, bis zu 700 Metern. Dort hat es jedenfalls in prähistorischer Zeit einmal ganz anders ausgesehen, das war eine einzige große Steinmasse, die unterwaschen worden und zusammengestürzt ist, zu dieser haben auch noch die »beiden Schwestern« gehört, die jetzt weit draußen im Meere ganz einsam stehen.

Also es sind zwei Felsen, die sich unvermittelt jäh aus dem Wasser emporrecken. Ihre Höhe hat man trigonometrisch auf 340 Meter berechnet, unten mögen sie einen Durchmesser von 200 Meter haben, sie sind also höher als breit.

Von weitem meint man nur einen Felsen zu sehen, und überhaupt ist die Spalte, die sie voneinander trennt nur von Nordosten zu erblicken, ihr Abstand beträgt höchstens 30 Meter.

Diese Spalte scheint oben in schwindelnder Höhe früher einmal überbrückt gewesen zu sein, es recken sich hüben und drüben Felsvorsprünge vor, ungefähr wie Menschenarme aussehend, die sich gegenseitig die Hand reichen wollen.

»Die beiden Schwestern« haben die Seefahrer diese zwei Felsen getauft. Sonst will man von ihnen nichts wissen. Man ist froh, wenn man sie gar nicht zu Gesicht bekommt. An ein Herankommen ist natürlich gar nicht zu denken. Auch bei sonst stillster See, wenn schon wochenlang Windstille geherrscht hat, schäumt dort nocht immer die fürchterlichste Brandung.

Und gerade für diese Spalte, welche die beiden steinernen Schwestern voneinander trennt, galt die dritte jener Bestimmungen, für den nordöstlichen Teil, das war aus der Spezialkarte ganz deutlich zu erkennen.

Was sollte denn dort zu finden sein?

Nun, wir mußten eben sehen.

Und jetzt lagen die beiden Schwestern vor uns.

Ein ganz imposanter Anblick, diese beiden kolossalen Felsmassen, einsam und verlassen mitten im Meere. Natürlich hielten wir uns in respektvoller Entfernung, drei Seemeilen ab, denn die letzte Zeit war durchaus nicht windstill gewesen, vielmehr sehr stürmisch, auch jetzt wehte noch eine tüchtige Brise, und dort am Felsen schäumte und kochte es denn ganz fürchterlich. Alles ein einziger weißer Wogenschwall.

»Kiek, dort oben steht see, siehst De se?« hörte ich einen Matrosen zum anderen sagen.

»Jau, jau,« entgegnete der andere, dessen Wiege in Ostfriesland gestanden hatte, dicht bei Jever, »jau, jau. Is dat de Lowise?«

»Nee, dat is de Ida.«

»Was schwatzt Ihr da?« fragte ich.

Die beiden wurden etwas verlegen, packten dann aber aus.

Zum ersten Male hörte ich, daß über diese beiden Felsen auch eine Sage ging. Doch natürlich, zwei solche einsame Felsen mitten im Meere mußten unter den Seeleuten doch auch ihr Märlein haben. Ich hatte davon nur noch nichts gehört, es gibt deren Märlein und Gespenstergeschichten auch gar zu viele.

Die beiden Schwestern hießen diese Felsen nicht nur darum, weil sie so dicht nebeneinander standen und sich die Hand reichen wollten, sondern auf ihnen hausten auch wirklich zwei Schwestern, zwei verwunschene Schwestern.

Es war der Loreleifelsen des Meeres, gleich in doppelter Ausgabe. Was die beiden weiblichen Menschenkinder bei Lebzeiten ausgefressen hatten, daß sie nach ihrem Tode dort oben herumspuken und auch noch friedliche Schiffer ins Verderben locken mußten, darüber herrschten die verschiedensten Ansichten. Die verbreitetste war die, daß sie die Töchter eines holländischen Kapitäns gewesen, diesen immer auf seinen Seefahrten begleitend, und in ihrer ungemeinen Liebesbedürftigkeit hatten sie nach und nach die ganze Schiffsbesatzung totgemacht.

Dafür hatte der Himmel sie zur Strafe in diese beiden Felsen verwandelt, oder sie dort oben drauf gesetzt, da mußten sie als Geister spuken, immer noch herrliche Jungfrauen, und durch Winken und ihren Gesang die vorbeifahrenden Schiffer anlocken. Wer hinfuhr, der fuhr natürlich in sein Verderben, zerschellte an den Felsen.

Es gab also auch noch andere Lesarten, aber darin waren sich alle einig, daß die eine Luise und die andere Ida gehießen hatte und also noch hieß.

»Jawohl, jawohl, da sind sie, da sind sie, die Ida und die Luise!l« fing Oskar, der eben erst aus der Koje kam, jetzt zu schreien an. »Hört Ihr sie singen? Seht Ihr sie winken? Fix, Jungens, jetzt das Gegenzauberlied, sonst lassen wir uns betören, also los — erst den Zauber gegen die Ida, eins, zwei drei . . . «

Und er fing an zu singen, mit beiden Armen den Takt schlagend, und brüllend und doch gar nicht so übel fiel der ganze dreistimmige Männerchor der Argonauten, der unterdessen zusammengekommen war, mit ein:

»Und das ist die reizende iiiiiida,
Zeigt sie sich, ruft alles: ei siiieh da,
Nee so enne Ida wie diiiiieda,
Die war aber ooch werklich no niiiie da.«

Das war das Zauberlied gegen die Verlockungskünste der Ida, nun bekam auch die »Louise« das ihre ab. Das kann ich aber nicht wiedergeben, das ist zu unanständig.

Nein, diese Matrosen! Nichts weiter als Unsinn im Kopfe, nichts weiter als Unsinn! Diese deutschen Matrosen, muß man aber betonen.

Wie gesagt, ich hatte von diesen beiden Schwestern wohl schon gehört, aber noch nichts von dieser Sage und von den Zauberliedern, die deutsche Matrosen singen, wenn sie die beiden Felsen einmal zu Gesicht bekommen. Erst jetzt hörte ich davon. Die Welt ist eben gar zu groß, solcher Sagen und Märlein und Gebräuche sind gar zu viele.

Wir umdampften langsam die ganze Felsmasse, immer in vorsichtiger Entfernung.

Ja, wozu aber diese geographische Ortsbestimmung, die sich auf jene Spalte bezog?

Wir wußten es nicht. Und da sich in Vermutungen ergehen, das hatte doch gar keinen Zweck. Ich wenigstens tat es nicht, wollte da auch nichts hören.

So waren wir ungefähr aus unseren alten Punkt zurückgekommen, lagen nordöstlich von den Felsen.

»Dort ist sie, dort oben steht sie und winkt!« erklang da der Ruf.

Ja, wahrhaftig! Dort oben auf dem Felsenrand in schwindelnder Höhe stand ein winziges Menschlein. Sehr weitsichtige Augen konnten es schon so erkennen, und durch ein gutes Fernrohr sah man deutlich, daß es den weiten Gewändern nach ein Weib sein mußte, auBerdem flatterte im Winde ihr langes, blondes Haar.

»Und da eine zweite!«

Wahrhaftig, jetzt standen zwei Weiber dort oben.

Na‚ nun wars ja gut! Was sollte man denn zu diesem Rätsel sagen? Wie kamen denn die beiden Weiber dort oben hinauf? Denn mit solchen Gespenstergeschichten wollen wir hier doch nicht erst anfangen.

»Sie haben Fernrohre, sie semaphorieren!«

Die eine, die mit den schwarzen Haaren, begann jetzt, in jeder Hand ein Fernrohr, das erst auf uns gerichtet gewesen war, zu semaphorieren, ganz regelrecht in englischer Sprache.

»Hülfe, Rettung!« waren die beiden ersten Worte.

Ich war schon nach unserem Semaphorapparat gesprungen und gab das Verstandenzeichen.

»Wer seid Ihr?« fragte ich dann.

»Die — beiden — Töchter — des holländischen — Kapitäns — Pooteken.«

So hatten wir buchstabiert. Was die anderen dachten, ging mich nichts an, ich hatte nur den Semaphorapparat zu bedienen.

»Wie kommt Ihr dort hinauf?« war meine nächste Frage, zu der man gar nicht so lange Zeit braucht. Die beiden Flügel spielen schneller als die einer Windmühle, jede gedrehte Stellung ist also ein Buchstabe. Es geht schneller als ein langsames Schreiben.

»Wir — werden — von — Kapitän — Satan — hier — gefangen — gehalten.«

Hallo!

Deshalb also jene geographische Bestimmung für diese Felsen! Jetzt kam Licht in die Finsternis.

Auch ich war zuerst doch so bestürzt, daß ich das Verstandenzeichen vergaß.

Da wurde dort oben das fragende Zeichen gegeben, ob wir das Letzte verstanden hätten. Ich holte es schnell nach.

»Abholen, uns befreien!« fuhr es oben fort, natürlich immer möglichst lakonisch.

»Wie abholen?«

»In die Spalte hineinfahren.«

»Unmöglich.«

»Nein. Direkt hineinfahren.«

Die konnten von dort oben wahrscheinlich gar nicht den unteren Teil des Felsens sehen, wußten nichts von der Brandung, oder die Mädchen verstanden so etwas eben nicht zu würdigen.

»Unmöglich. Furchtbare Brandung. Alles zerschmettert.«

»Nein. Mächtige Ölquelle. Wasser ganz ruhig. Einfahrt ganz gefahrlos. Nur Mut.«

Da stutzten wir! Dort war irgendwo eine mächtige Ölquelle? Ja, dann allerdings konnten die Verhältnisse in Wirklichkeit ganz andere sein, als es von hier aussah.

Hierzu bemerke ich aber, daß es durchaus nichts genützt hätte, Petroleum oder anderes Öl auszugießen. Man hätte eine ganze Schiffsladung von 10 000 Tonnen auslaufen lassen können, die Brandung dort wäre nicht etwa verschwunden, hätte sich nicht im geringsten beruhigt. Gegen die Küstenbrandung versagt dieses Mittel vollständig.

Weshalb, das kann ich hier nicht ausführen. Das sind Verhältnisse, welche man einem Laien niemals schildern kann, in denen sich aber auch der Seemann oftmals vollständig irrt.

Aber dort selbst eine kontinuierliche Ölquelle? Das wäre etwas anderes gewesen!

»Eine kontinuierliche Ölquelle?«

»Ja. Zwischen den Felsen. Ganz still. Einfahrt ganz gefahrlos. Nur Mut.«

»Wir kommen.«

Meine Zusage war etwas übereilt. Ich hatte doch nicht den Ausschlag zu geben, selbst die Mannschaft war erst zu befragen, es handelte sich doch um ein Wagnis auf Tod und Leben.

Und da ereignete sich an Bord der »Argos« etwas sehr, sehr Merkwürdiges.

Ich will es ganz klar machen, mit Worten ist es auch kaum zu schildern, der Leser muß sich selbst in die Gemütsverfassung aller dieser Menschen zu versetzen suchen.

Es waren Seeleute, die meisten von ihnen abergläubisch, glaubten an den fliegenden Holländer und an andere Gespenster, ohne selbst zuzugeben, daß sie daran glaubten.

Verspotteten sich selbst, und glaubten dennoch daran.

Der Leser merkt wohl schon, daß so etwas nicht zu schildern ist.

Kurz und gut, die meisten dieser einfachen Männer zweifelten nicht daran, daß die beiden Weiber dort oben nur Trugbilder der Hölle waren, die uns zwischen diesen Felsen in das Verderben lockten wollten, und dennoch zögerte keiner auch nur einen Moment, in die kochenden Strudel hineinzufahren.

Es handelt sich hierbei um eine Art von Heroismus, für welche besondere Art der Mensch noch keine Bezeichnung erfunden hat.

Übrigens fällt mir hierbei ein tiefsinniges Wort Artur Schopsenhauers ein:

»Um sich nicht vor Geistern zu fürchten, muß man an Geister glauben.«

Mag der Leser sich dieses Wort selbst auslegen, ich vermag es nicht.

Aber mir ist einmal in einem lichten Moment meines Gedankenlebens die klare Erkenntnis gekommen, daß es so und nicht anders ist!

»Ja, wir steuern hinein, und wenn es auch Kinder der Hölle sind, die uns dort zerschmettern wollen.«

Das war die einstimmige Antwort auf die an alle gerichtete Frage, ob sie bereit wären, es zu riskieren oder nicht.

Das hatte doch einige Minuten in Anspruch genommen, und die beiden Weiber fürchteten wohl, wir könnten anderen Sinnes werden, sie riefen durch Winken wieder an, und sie sprachen das aus, was hier gedacht worden war, negierten es, hatten also die Gedanken erraten, die an Bord dieses Schiffes zum größten Teile herrschten.

»Wir — sind — keine — Sirenen — keine Gespenster. Wir sind hülflose Mädchen. Erbarmen.«

»Wir kommen!« semaphorierte ich zurück, und die letzten Vorbereitungen wurden getroffen, vor allen Dingen die Korkfänder klar gemacht.

Aber noch einmal wurde beraten. Oder es war doch Kapitän Martin, der einen Vorschlag machte.

»Wollen wir nicht zuerst einen Versuch mit einem Boote machen, mit der Dampfbarkasse?«

»Das könnten wir ja!« meinte ich. »Wer will es zuerst riskieren?«

»Ich — ich — ich — ich . . . «

Sie alle wollten das Versuchskaninchen spielen.

»Nun, dann können wir auch gleich alle zusammen bleiben, der Versuch wird gleich mit dem ganzen Schiffe gemacht!« sagte die Patronin, und sie allein hatte ja zu bestimmen.

Noch einmal mußte ich anfragen, ehe wir die Fahrt antraten.

»Wohin steuern?«

»Direkt in die Spalte hinein,« buchstabierten die geschwungenen Arme zurück.

»Mit welcher Fahrt?«

»Wieviel macht Ihr?«

»Bis zwölf Knoten.«

»Volle Fahrt.«

»Sonst noch Vorschriften?«

»Nein. Ganz gefahrlos.«

»Feinde dort?«

»Nein.«

»Wir kommen. Schluß.«

Also nun mal los!

Und wir legten los, Kapitän Martin selbst am Steuerrad. Was nämlich bei solch einer Gelegenheit betont werden muß, weil sonst der Kapitän das Steuerrad gar nicht anrührt, auch der Steuermann nicht. Wenn es in einer Erzählung heißt, die auf einem modernen Seeschiffe spielt: der Steuermann stand am Steuer, steuerte selbst . . . dann weiß man schon, daß der betreffende Erzähler noch gar kein Schiff gesehen hat, mindestens von den Verhältnissen gar keine Ahnung hat.

In was für einer Lage wir uns fünf Minuten später befanden, kann ich unmöglich schildern. Um uns herum alles eine weiße Gischt, mag das genügen.

»Na gute Nacht, Georg, lebt wohl Ihr alle.«

Und dann plötzlich, da . . .

Da dachte ich plötzlich an ein arabisches Märchen. Überhaupt prachtvoll, diese arabischen Märchen! Die Sinnparabeln meine ich.

Der Engel des Lebens begegnet dem eilenden Engel des Todes.

»Wohin gehst Du, mein Bruder?« fragt der erstere.

»Ich gehe nach Damaskus, um zehntausend Menschen mit der Pest zu schlagen.«

Vier Wochen später treffen sich die beiden wieder.

»Du sprachst die Unwahrheit,« sagt der Engel des Lebens, »Du hast in Damaskus fünfzigtausend Menschen an der Pest sterben lassen.«

»Mit nichten. Ich schlug nur zehntausend — die anderen vierzigtausend sind vor Angst gestorben.«

Wunderbar ausgedrückt! Ich glaube, so kurz, um eine tiefsinnige Wahrheit auszudrücken, kann nur der sonst so schwatzhafte Orientale sein.

Aber an diese Parabel dachte ich damals nicht. An eine andere.

Um eine Festung rotiert blitzschnell eine hohe Mauer Sie hat ein weites Tor, immer offen, aber dieses dreht sich doch mit so blitzschnell.

Ein Ritter will in die Festung hinein, muß hinein.

Doch wie da hineinkommen?

Nun, er stemmt einfach die Lanze ein, setzt sich fest, gibt dem Rosse die Sporen, sprengt los . . . und ist drin, in der Festung!

An dieses tiefsinnige arabische Märlein dachte ich, als wir urplötzlich in ganz stilles Wasser hineinschossen, dort aus den furchtbaren Wirbeln heraus.

Links und rechts himmelhohe ganz glatte Felswände, dazwischen ein spiegelglattes Wasser, und dieser friedliche Kanal an beiden Enden von schäumenden Wogenbergen ganz scharf begrenzt.

Man frage mich nicht, wie so etwas möglich ist. Der Physiker kann es im Laboratorium durch ein Experiment im Kleinen vorführen. Daß hier auf dem Wasser eine dicke Ölschicht schwamm, das machte es aus. Mehr noch aber, daß von irgendwoher ununterbrochen neues Öl hinzufloß.

Doch wollte man mich auch nicht weiter fragen, wohin denn nachher das Öl abfloß. Nach Südwesten zu dem Kanal hinaus, das kann ich sagen. Aber wohin dann weiter? Weshalb merkte man dann südwestlich von diesen Felsen nichts von solch einem Ölstrome?

Wenn ich das beantworten soll, so könnte man mich ebensogut fragen, wo denn die ungeheure Menge von Kohlensäure bleibt, welche die zahllosen Vulkane auf der Erde tagtäglich aushauchen, wo man doch mit Gewißheit konstatieren kann, daß seit Jahrhunderten der Kohlensäuregehalt in der Atmosphäre um kein tausendstel Prozent zugenommen hat, obgleich die Wälder, welche am meisten Kohlensäure schlucken, doch immer abnehmen.

Das sind eben nur ungeheure Mengen in den Augen von uns rechnenden Menschlein, im Haushaltungsbuche der Natur sind es verschwindende Nullen.

Und genau so war es hier. Wohl floß ständig massenhaft Öl ab, aber jenseits der Felsen war keine Spur nachzuweisen, wie sich später auch Doktor Isidor in seinem Laboratorium abmühte. Das unendliche Meer verschlang alles Öl. Oder vielleicht auch, daß in der furchtbaren Brandung eine mechanisch-chemische Zersetzung des Öles stattfand, von der wir noch gar nichts wissen, weil wir künstlich sie nicht nachahmen können.

Es war ein dickes, weißes, durchsichtiges, völlig geruchloses Erdöl, flüssigem Paraffin gleichend, das in einer Schicht von acht Zentimetern Dicke auf dem Wasser schwamm.

Solche Untersuchungen stellten wir jetzt zwar nicht an, aber die Dickflüssigkeit und völlige Geruchlosigkeit fiel uns doch sofort auf. Gewöhnliches Erdöl, Petroleum und dergleichen, hätte ja tüchtig gestunken.

Die hüben und drüben senkrecht aufsteigenden Felswände waren wohl glatt wie die Mauern, zeigten aber doch hin und wieder Öffnungen von Höhlen, und an einigen der unteren, wenige Meter über Wasser, verrieten Ringe und andere Vorrichtungen, daß dies Anlegeplätze für Schiffe waren.

»Kinder, wir sind in dem Räubernest des Seeteufels!« flüsterte ich mit einiger Erregung, als wir langsam und immer langsamer, das Schiff sich auslaufen lassend, durch den Kanal fuhren, der also etwa 30 Meter breit war.

»Räubernest?« wiederholte Kapitän Martin.

Er hatte Recht — Recht wie immer. Weil der Kapitän Satan hier solch einen Schlupfwinkel hatte, deswegen brauchte er noch keine Seeräuberei zu treiben. Aber . . . die Vermutung rückte doch immer näher.

»Wo sind denn nun die beiden verhexten Jungfrauen?«

Nun, wenn die innerhalb des Felsens Leitern oder Treppen benutzen mußten, um von dort oben hier herab zu kommen, da konnten sie ja eine Weile abwärts steigen. 340 Meter, das ist ungefähr die fünfzehnfache Höhe eines vierstöckigen Hauses; und in zehn Minuten, die wir nur gebraucht hatten, steigt man weder in die 60. Etage hinauf noch herab.

»Hoffentlich sind die Jungfrauen noch nicht gar zu alt!« meinte Oskar, der sein Maulwerk nun einmal nicht halten konnte, wenn er nicht unbedingt mußte. »Wann sind die denn damals vom Teufel geholt und hierher verpflanzt worden?«

»Am 29. Februar 1644 früh halb neun!« konnte Klothilde sofort angeben, die überhaupt in allen Seemannssagen durchaus firm war. Und nun der Schelm, den die im Nacken sitzen hatte, noch einen ganz anderen als unser Segelmacher. »Es war gerade ein Schaltjahr.«

»Nach Christi Geburt?« fragte Oskar noch.

»Nach Christi.«

»Na‚ dann sind sie ja noch keine 400 Jahre alt, dann können es auch noch keine ägyptische Mumien sein.«

»Wir kommen sofort!« erklang da von oben eine Frauenstimme.

Wir sahen in halber Höhe des rechten, westlichen Felsens einen schwarzhaarigen Kopf durch eine kleine Öffnung herausblicken.

Das heißt, es gehörten gute Augen dazu, um das sogleich unterscheiden zu können, die Frau mußte auch eine gute Lunge haben, um gehört zu werden.

»Legen Sie nur irgendwo an, wo es für Ihr Schiff paßt!« fuhr es oben fort. »Alle Wasserminen und sonstige Höllenmaschinen oder Selbstschüsse sind abgestellt.«

Der Kopf verschwand.

Oho!

Wasserminen und sonstigen Höllenmaschinen!

Also der Herr des Seeteufels hatte sich vor unerwünschten Besuch gesichert.

Hier unter uns lagen Seeminen, in einer Tiefe von nur neun Metern, wie wir schon sondiert hatten, es gab auch noch sonstige Höllenmittel.

Na‚ da wollten wir nur hoffen, daß die wackeren Mädchen all dieses hübsche Teufelszeug wirklich gut abgestellt hatten, daß wir nicht etwa in die Lust flogen und dann unsere Gliedmaßen einzeln zusammensuchen mußten.

Ich spreche so, um auszudrücken, in welcher Gemütsverfassung wir uns befanden. Wir sprachen damals nämlich wirklich so, dachten auch so, es war keine Blasphemie dabei.

Also nevermind, wir legten an. Entweder wir flogen, oder wir flogen nicht. Wir sind nicht geflogen. Und auch sonst tat es nirgendwo knallen. Nur absichtlich haben wir es später mehrmals knallen lassen, da hat es uns aber natürlich nichts geschadet.

Es war eine geräumige Höhle, vor der wir gerade so recht bequem festmachen konnten, dann mit einem großen Schritte an Land gehen.

Wenn es eine natürliche Höhle war, so hatte man sie mit Hilfe des Meißels wohl nur etwas viereckig gemacht. Darin lagen Taubündel und Korkfänder und andere Utensilien, die man beim Festmachen des Schiffes und ähnlichen Manövern bedarf, auch einige größere und kleinere Anker.

»Ei sieh da‚« sagte ich sofort, auf einen respektablen Anker deutend, auf dem beim Schmieden zwei Namen geschaffen worden waren, »ein Anker von der »Pennsylvania« aus Philadelphia, ein Dampfer, der vor zwei Jahren nach Singapore ging, zuletzt in der Nähe des grünen Kaps gesichtet wurde und dann spurlos verschwand, wie ich zufällig weiß — und hier, sein Buganker — ei, das läßt ja schon tief blicken!«

Ehe wir weitere Untersuchungen anstellen konnten, flatterte es durch eine Öffnung im Hintergrund herein, zwei Frauengewänder, und sie befanden sich in unserer Mitte.

»Gerettet, gerettet, endlich von dieser Gefangenschaft erlöst!« wurde zweistimmig gejauchzt; oder gejaukst, wie der Matrose sagt.

Aber die eine war blond, die andere schwarz — den Haaren nach, meine ich — und dieser Farbenunterschied war auch sehr gut, denn sonst sahen sich die beiden zum Verwechseln ähnlich, was besonders daher kam, weil es, wie ich gleich verraten will, Zwillingsschwestern waren, und weiter will ich, nur Oskars wegen, gleich erwähnen, daß sie die zwanzig noch nicht viel überschritten hatten und daß es zwei bildhübsche Mädels waren. Die blonde hieß Senta, die schwarze Nora — ebenfalls sehr leicht zu merken. Ich als Vater hätte die Hellblonde allerdings Blanca genannt. Wenn schon, denn schon.

Man konnte es den beiden armen Mädchen nicht verübeln, wenn sie erst ein bißchen weinten, ehe sie erzählen konnten, und das mußte schon deshalb in der Kajüte oder überhaupt an Bord geschehen, weil es Kapitän Martin doch mit anhören wollte und weil der ohne ganz triftigen Grund, wenn ihn nicht direkt die Pflicht dazu rief, doch niemals sein Schiff verließ, und wenn es auch an Land Goldstücke geregnet hätte — nein, sogar Kautabaksröllchen, brasilianische Sweetspions dulcissimi.

Ich gebe nun die Erzählung der beiden Schwestern wieder — den Bericht über ein fürchterliches Ereignis aus dem Seemannsleben.

Johann Pooteken hatte schon jahrzehntelang als Kapitän Schiffe einer Antwerpener Reederei über den Ozean geführt, zuletzt den »Helios«, einen Dampfer von 3000 Tonnen.

Wie mancher Kapitän hatte auch er seine ganze Familie ständig bei sich an Bord: seine Frau, die beiden Zwillingstöchter Senta und Nora und seinen einzigen Sohn Stephan, der zuletzt unter des Vaters Kommando als zweiter Steuermann fuhr.

Vor vier Jahren sollte der »Helios« seine letzte Fahrt machen, und mit ihm die ganze Besatzung.

Er war mit Kaffee, Zucker und Spirituosen nach Kapstadt bestimmt gewesen. Auf der Höhe von St. Helena trat das schreckliche Ereignis ein.

Nach dem zweiten Frühstück fühlten sich plötzlich alle an Bord befindlichen 38 Menschen von einem heftigen Unwohlsein befallen, mit Schwindel verbunden. Die beiden Schwestern konnten nur berichten, daß sie einen nach dem anderen hatten umfallen sehen — »der Tee war vergiftet!« hatten sie den Vater noch stöhnen hören, dann hatte auch sie das Bewußtsein verlassen.

Nora war die erste gewesen, die wieder zu sich gekommen. Da hatte vor ihr ein fremder Mann gestanden.

»Hallo, mein Täubchen, hast Du endlich ausgeschlafen?« hatte er gelacht.

»Wer sind Sie?«

»Kapitän Satan vom Seeteufel.«

Er berichtete, und auch die andere Schwester konnte es mit anhören, die sich ebenfalls bald wieder erholte. Bald nach ihren damaligen Begriffen.

Schon vor drei Tagen hatte der »Seeteufel«, der aber damals noch kein Torpedojäger, sondern ein normaler Frachtdampfer war, der aber eben auch schon diesen Lieblingsnamen des satanischen Kapitäns geführt hatte, den steuerlos treibenden »Helios« gesichtet.

An Bord begeben — alles tot gefunden! Mit entstellten Gesichtern hatte die ganze Mannschaft dagelegen.

»Ihr habt Euch einfach vergiftet,« sagte Kapitän Satan, »und zwar mit dem Tee beim zweiten Frühstück, von dem wir noch Reste vorfanden, die Frühstückstafel war ja noch gedeckt, die Matrosen lagen vor der Back im Mannschaftslogis. Der Tee enthielt Grünspahn, das haben wir dann gleich konstatiert, es wurde etwas davon unserer Schiffskatze eingeflößt, und die verreckte alsbald daran. So ist auch Euch ergangen. Nur Ihr beiden Mädels gabt noch schwache Lebenszeichen von Euch, und dank meiner unermüdlichen Bemühungen ist es gelungen, Euch ins Leben zurückzurufen, hä hä hä. Ihr habt wohl nur sehr wenig von dem Tee getrunken, eh?«

Sicher nicht weniger als die Mutter, die aber auch ihren Tod gefunden hatte und bereits wie alle anderen Toten über Bord gewandert war.

Doch was blieb denn den beiden armen Mädchen anderes übrig, als alles zu glauben, was der Unhold ihnen da vorschwatzte. Nun muß man sich überhaupt in ihre Verfassung hineindenken.

Sehr bald aber sollten ihnen die Augen aufgehen.

Natürlich war der »Helios« von der fremden Mannschaft besetzt worden, oder doch von der Hälfte. Der »Seeteufel« selbst aber hatte einen anderen Kurs eingeschlagen.

Da tauchte ein französisches Segelschiff auf, nannte Namen und Heimatshafen.

»Helios, Antwerpen,« gab dieses Schiff natürlich zurück, dann aber wurde hinzugesetzt: »Kapitän Pooteken.« Und sonst nichts weiter. Noch ein Flaggengruß, und der »Helios« dampfte weiter nach Süden.

Die beiden Schwestern waren zwar nicht an Bord geboren, aber doch auf dem Schiffe groß geworden, kannten alle seemännischen Verhältnisse, konnten auch solche Flaggensignale mitlesen.

Das war doch natürlich ganz inkorrekt gewesen, Kapitän Pooteken war ja tot! Und überhaupt, der ganze Vorfall hätte doch dem anderen Schiffe gemeldet werden müssen, das war direkte Vorschrift!

»Was soll denn das?! Weshalb verschweigen Sie dem Schiffe den schrecklichen Vorfall?!«

Ehe sie noch eine Antwort erhielten, sahen sie einen Mann, durch dessen Anblick ihnen die Augen aufgingen.

Den Koch, den man in Antwerpen auf den »Helios« neu angemustert hatte, und dessen teuflisches Grinsen, wie er nach den beiden Schwestern schielte, nach ihnen eine höhnische Verbeugung machte, sagte ihnen alles.

»Unser Koch ist mit Ihnen im Bunde, er hat uns vergiften müssen!« war Senta die erste, die das sofort rief.

»Endlich erraten!« grinste der Teufelkapitän. »Ich bewundere Ihren Scharfsinn, hä hä hä. Nun können Sie auch alles erfahren. Ja, dieser vortreffliche Koch gehört mit zu jener Bande, er hat den Tee vergiften, gleichzeitig aber auch dafür sorgen müssen, daß Sie, meine beiden jungen Damen, das Gegengift in Ihre Tassen bekamen, damit ich Sie dann noch am Leben fand. Denn ich kenne Sie schon lange, habe Sie bereits mehrmals gesehen. Sie haben mich schon immer entzückt und sollen mir fernerhin das Leben versüßen.

Also nun ohne Umschweife gesagt: ich bin Pirat, ein direkter Seeräuber, ein solches Vergiften von ganzen Schiffsbesatzungen ist meine Spezialität. Der Koch war beordert, das Vergiften auf einem bestimmten Breitenund Längengrade auf der Höhe von St. Helena zu besorgen, wir hielten uns hier schon in der Nähe auf, nur ein Wink, wir kamen heran, bemächtigten uns des Schiffes. Das ist aber nicht schon vor drei Tagen, sondern erst vor drei Stunden geschehen. Trotzdem sind die Leichen schon alle über Bord, Sie sind die einzigen Lebendigen. Aber einmal hätten Sie es schließlich doch erfahren müssen. Und nun erlauben Sie, daß ich Sie hier einstweilen in diese Kabine einsperre. Versuchen Sie nicht etwa einen Selbstmord, es gelingt Ihnen nicht, Sie werden ständig durch ein Löchelchen beobachtet. Auf Wiedersehen, meine holden Damen, entstellen Sie Ihre schönen Augen nicht durch zu viel Weinen, Sie sollen es herrlich bei mir haben — wenn Sie artig sind, hä hä hä.«

So sprach der Unhold und schloß die Tür zu.

»Wir wurden nach diesen beiden Felsen gebracht, die beiden Schwestern genannt, wo der Piratenkapitän ein regelrechtes Räubernest angelegt hat, und hier werden wir nun seit vier Jahren gefangen gehalten.«

So schloß Nora, die am meisten erzählt hatte, ihren Bericht, der vorläufig die Hauptsache enthalten hatte.

Es läßt sich denken, wie erschüttert wir Zuhörer waren, was für Gedanken auf uns einstürmten.

Also dieser Kapitän Satan war wirklich ein regelrechter Seeräuber, einer der scheußlichsten Unholde, den die Erde wohl je gesehen. Gegen den waren die alten Flibustierkapitäne ja die reinen Waisenknaben gewesen, trotz aller Untaten, die sie begangen. Die hatten aber doch wenigstens ritterlich gekämpft, beim Erbeuten der Schiffe ihr eigenes Leben aufs Spiel gesetzt.

Natürlich mußten wir noch viel mehr erfahren, und Kapitän Martin war es, der das Examen übernahm.

»Well, wie sind Sie sonst behandelt worden?«

»Ganz gut, das müssen wir trotzdem anerkennen. Nur daß uns die Freiheit fehlte.«

»Inwieweit die Freiheit?«

»Wir haben sechs große Zimmer zu unserer Verfügung gehabt . . . «

»Hier in diesen Felsen sechs große Zimmer?«

»O, wie diese Felsen ausgehöhlt sind, und was diese alles enthalten! Sie werden staunen, wenn Sie die Räume dunchwandern, wie wir gestaunt haben, obgleich wir doch ganz andere Gedanken im Kopfe hatten, und wir sind ja auch erst seit zwei Tagen frei, und während dieser Zeit sind wir noch längst nicht durch alle Felsen gekommen . . . «

»Erst seit zwei Tagen sind Sie frei?«

»Wir haben unsere fünf Wächter überwältigt, sie in eine Falle gelockt . . . «

»Wie, es sind fünf Männer hier?«

»Wir haben sie eingesperrt.«

Die Schwestern berichteten näher, wie sie das angefangen hatten. Ich will es ganz kurz wiedergeben.

Zu den sechs Räumen, die ihnen zur Verfügung gestellt, gehörte auch eine separierte Felsenkammer.

Natürlich hatten sich die beiden in den vier Jahren fortwährend mit Fluchtgedanken getragen, aber jeden Fluchtplan hatten sie wieder verwerfen müssen, es wäre auch nicht möglich gewesen, über die Leichen ihrer Wächter zu gehen.

Endlich war es ihnen doch geglückt. Senta hatte vorgestern ein Unwohlsein erheuchelt, Nervenanfälle, die sich bis zur Tobsucht gesteigert hatten, die beiden speziellen Wächter hatten sie nicht halten können, einer nach dem anderen war herbeigeeilt, trotzdem hatte sich das kräftige Mädchen losgerissen und war in jene Kammer gestürzt, alle ihr nachgerannt, zum zweiten Male sich losgerissen, zur Kammer hinaus, die Türe hinter sich zugeschmettert und zugeriegelt . . . da waren die fünf Mann gefangen gewesen!

Man sieht wohl, daß dies einfacher zu erzählen ist, als es in Wirklichkeit auszuführen gewesen war, und doch hatten es die beiden Mädchen nicht ausführlicher geschildert.

»Sind die fünf Männer dort auch wirklich ganz sicher aufgehoben, daß sie sich nicht etwa befreien können? mußte dann natürlich Kapitän Martins erste Frage sein.

»Sie sind es, ein Sprengen der schweren, eisernen Tür ist ganz unmöglich.«

»Ist eine Öffnung vorhanden, durch welche man sie beobachten kann?«

»Ja, zwei. Ein Fenster, das auf der Ostseite ins Freie führt, so eng, daß niemand auch nur den Kopf durchstecken kann, und eine zweite an der Decke, allerdings viel weiter, da könnte ein Mann durch, aber die Decke ist wohl zehn Meter hoch!

»Ist das Loch nicht zu erreichen?«

»Nein, es müßten sich denn alle fünf Mann übereinanderstellen, und auch dann würde der oberste wohl noch nicht hinaufreichen.«

»Indem sie Möbel übereinander bauen?«

»Es sind keine vorhanden, die Felsenkammer war immer ganz leer.«

»Haben die Leute Waffen bei sich?«

»Das wohl, aber sie nützen ihnen nichts, und wir hüteten uns, wenn wir durch die Deckenöffnung zu ihnen sprachen, wenn wir ihnen Essen und Wasser gaben.«

»Trotzdem, es muß unser erstes sein, diese fünf Männer vollends unschädlich zu machen. Herr Kollege, wollen Sie . . . halt! Was hat das mit den Seeminen und Höllenmaschinen, von denen Sie sprachen, für eine Bewandtnis?«

»Überall sind solche hier gelegt. Kapitän Satan selbst hat uns in alles eingeweiht, wie die Sprengminen funktionieren und wie sie abzustellen sind, tat es mit einem eitlen Behagen. Denn dieser Mann ist furchtbar eitel, renommiert gern.«

Ja, das hatten auch wir schon bemerkt.

»So waren Sie nicht immer in Ihre sechs Räume eingesperrt?«

»Nein, nicht wenn Kapitän Satan hier anwesend war, dann genossen wir viel mehr Freiheit, durften uns überall frei bewegen, allerdings immer unter Aufsicht. In des Kapitäns Abwesenheit aber wurden wir immer eingeschlossen gehalten. Jedenfalls aber stimmt das mit der Anstellung der Minen und sonstigen Sicherheitsmaßregeln, darüber haben wir uns, immer mit solchen Fluchtgedanken beschäftigt, ganz genau orientiert.«

Nun vorwärts, dann erst einmal die fünf Männer völlig unschädlich und in unsere Gewalt gebracht!« rief Kapitän Martin, sich dabei an mich wendend. »Eine der Damen wird Sie führen, die andere bleibt hier, um mir weiter zu berichten. Nehmen Sie genügend und geeignete Leute mit.«

In wenigen Minuten hatte ich diese ausgewählt und sich bereit machen lassen, alle Hauptpersonen kamen mit, denn das war jetzt doch das Interessanteste, also auch die Patronin und Klothilde. Nora führte uns, Senta blieb an Bord zurück.

Also wieder in die Höhle, durch den hinteren Ausgang kamen wir in einen Korridor, es ging eine Treppe hinauf. Hier und da brannte eines große Lampe, an Öl war hier ja kein Mangel.

Auch wir konnten uns ja von dem Mädchen weiter berichten lassen, aber jetzt war keine Zeit dazu, erst wollten wir uns der Hauptaufgabe erledigen. Wir befanden uns ja in einer äußerst gespannten Stimmung.

Auf diesem kurzen Wege bekamen wir nicht eben viel zu sehen. Nackte Korridore, hin und wieder eine eiserne Tür, nichts weiter.

»Wohin führen diese Türen?«

»Sie verschließen Wohnräume der Mannschaft oder Vorratsmagazine!l« lautete die Antwort. »Die können Sie nachher besichtigen. Hier wurden wir eingeschlossen gehalten.«

Nora hatte eine der eisernen Türen geöffnet. Es waren fünf sehr schön und zum Teil prächtig eingerichtete Wohn- und Schlafzimmer, die wir durchschritten. Die kostbarsten Teppiche, die künstlerischsten Möbel, ornamentaler Schmuck überall, auch ein Konzertflügel war vorhanden.

Doch jetzt war die schmiedeeiserne Tür für uns die Hauptsache, welche Nora als die betreffende bedeutete. Diese Felsengewölbe hier waren ja nicht von vornherein als Damenboudoirs bestimmt gewesen, sie waren auch sonst nicht durch Türen voneinander getrennt, die viereckigen Durchlässe waren nur durch schöne Portieren verhangen, nur hier diese letzte Kammer war mit solch einer eisernen Tür verschlossen, die Kapitän Satan wohl in einem Hafen hatte nach Maß fertigen lassen, um sie dann hier anzubringen.

»Hier drin sind die fünf Männer.«

Wir schoben natürlich nicht gleich den schweren Riegel zurück, sondern pochten erst gegen die Tür.

Aber wie wir auch dagegen donnerten und was wir auch für Fragen stellten, es erscholl keine Antwort, und ein Guckloch wie bei den Gefängnistüren war nicht vorhanden.

Weshalb antworteten sie nicht? Was ersannen die für eine List? Oder waren sie tot?

»So müssen wir uns noch eine Etage hinaufbegeben, von dort oben kann man also durch ein Deckenloch hineinsehen.«

Wir taten es, verließen diese Räumlichkeiten wieder, erstiegen auf Umwegen vom Korridor aus noch eine Treppe, kamen in diese Gegend zurück.

In einer Kammer, die einige Mehlsäcke und Proviantkisten enthielt, befand sich in der Mitte des Bodens eine eiserne Platte, sie konnte in Angeln emporgehoben werden, wir blickten durch eine Öffnung in jene verschlossene Kammer hinein.

Schauerlich war der Anblick, der uns erwartete. Dort unten war der ganze Boden eine einzige Blutlache, in dem fünf regungslose Menschen lagen. Tot. Sie alle hatten sich mit ihren Messern die Pulsadern aufgeschnitten, hatten sich verblutet. Sie mochten gehört oder sonstwie bemerkt haben, daß dieses Räubernest von einer fremden Macht besetzt worden war, oder vielleicht genügte auch schon die Erkenntnis, daß sie von den beiden Mädchen rettungslos hier gefangen gesetzt worden waren sie hatten sich geschämt, ihrem Kapitän wieder unter die Augen zu treten, wollten überhaupt allen Konsequenzen aus dem Wege gehen — da hatten sie einfach gemeinschaftlichen Selbstmord begangen.

»Wann haben Sie die fünf Männer zuletzt lebendig gesehen?«

»Heute früh, als wir ihnen zwei Krüge mit Wasser hinabließen.«

»Sie sprachen nicht von Selbstmord?«

»Nein, sie legten sich aber nicht mehr wie gestern aufs Bitten, machten auch keine Versprechungen mehr, schienen sich ganz in ihr Schicksal ergeben zu haben. Da gingen sie wahrscheinlich schon mit Selbstmordgedanken um.«

»Jedenfalls.«

Nun, zuerst mußten wir sehen, ob in einem nicht doch vielleicht noch Leben war, daß wir ihn noch zum Sprechen bringen konnten.«

Also schleunigst wieder hinab, in die Kammer eingedrungen. Nein, da war nichts mehr zu machen. Bei allen war schon die Leichenstarre eingetreten.

Ich sah einige Zeit zu, wie sich Doktor Isidor mit den starren Körpern beschäftigte. Er studierte wohl eben die Todesstarre.

»Ob es mir wohl erlaubt wird, daß ich die Leichen seziere?« meinte er.

»Da müssen Sie, wenn Sie dazu erst eine Erlaubnis brauchen, wohl die Patronin fragen!« entgegnete ich und verließ die Kammer.

Die Patronin hatte bei dem entsetzlichen Anblick nicht lange verweilt, hatte sich mit Nora gleich wieder entfernt, wahrscheinlich hatte auch Klothilde einen Wink bekommen.

Ich hörte die drei Damen hinter einer Portiere sprechen, mit etwas gedämpfter Stimme, aber doch noch für mich verständlich, und ich hatte keinen Grund, mich diskret zurückzuziehen. Wollten die drei nicht belauscht werden, dann hätten sie noch vorsichtiger sein müssen. Übrigens war es gar nichts so Schlimmes, worüber sie sich unterhielten, wenn allerdings auch nicht gerade in öffentlicher Männergesellschaft angebracht.

»Der Kapitän ist Ihnen wirklich mit keinem Worte zu nahe getreten?« fragte die Patronin.

»Niemals auch nur mit einem einzigen Worte, nicht mit einem Blicke!«

»Das finde ich seltsam. Auch keiner der anderen Männer?«

»O, wenn sich der Kapitän uns gegenüber so benahm, wie hätte das dann ein anderer wagen dürfen! Hier herrschte eine geradezu furchtbare Manneszucht!«

»Ja, weshalb eigentlich hielt er Sie hier gefangen?«

»Eigentlich nur, damit wir ihn, wenn er hier anwesend war, unterhielten.«

»Womit unterhielten?«

»Ganz harmlos. Wir mußten ihm etwas auf dem Klavier vorspielen, etwas vorsingen, oder wir spielten zusammen Karten, Whist oder Tarok oder dergleichen ganz harmlos. In dieser Hinsicht war der sonst so furchtbar blutige Seeräuberkapitän gar kein unrechter Mensch — ja sogar ein tadelloser Ehrenmann und Gentleman. Eben gerade in dieser Hinsicht, uns beiden Mädchen gegenüber, und dasselbe galt von allen seinen Leuten.«

»Das finde ich seltsam!« hörte ich die Patronin wieder sagen und sah sie im Geiste den Kopf schütteln. »Sie verzeihen doch und verstehen doch wohl auch, wenn ich da etwas seltsam dabei finde.

»Ich verstehe, und ich glaube, Ihnen dafür eine Erklärung geben zu können.«

»Was für eine?«

Eine Pause des Zögerns trat ein, und ich zog mich nicht zurück.

»Es ist . . . mir etwas fatal . . . aber es muß sein! Ich glaube fast, daß dieser Kapitän Satin ursprünglich ein geborener Russe ist. Oder doch seiner Abstammung nach. Ich habe mich mit Senta oft darüber unterhalten. Und mehr als die Hälfte seiner Mannschaft sind Russen, das wissen wir bestimmt.«

»Russen? Was wollen Sie hiermit andeuten?«

»Sie ahnen nichts?«

»Durchaus nicht.«

»Haben Sie noch nichts von der russischen Sekte der Proslewiten gehört?«

Die Patronin verneinte, ebenso Klothilde.

Mir aber ging plötzlich eine Ahnung auf.

Denn ich hatte schon von diesen russischen Proslewiten gehört.

Sie bilden eine religiöse Sekte, deren Mitglieder teils als Mönche in Klöstern leben, teils aber auch wie andere Menschen Berufsgeschäften nachgehen.

Woher der Name kommt, weiß ich nicht, es scheint nur die Verstümmelung eines russischen Wortes zu sein, und . . . diese Männer verstüummeln auch sich selbst!

Die Mönche haben natürlich die drei üblichen Gelübde abgelegt: das der Keuschheit, der Armut und des unbedingten Gehorsams gegen ihre Oberen.

Die außerhalb des Klosters lebenden Laienbrüder halten nur das erstere Gelübde, das der Keuschheit.

Von den in Rußland lebenden Deutschen werden sie infolgedessen einfach »Weiberhasser« genannt, es gibt auch einen entsprechenden russischen Namen dafür.

Da nun solch ein Gelübde nicht so einfach zu halten ist, zumal außerhalb eines Klosters und von Gefängnismauern, so verstümmeln sich diese Menschen in ihrem religiösen Wahnsinn selbst!

In Rußland ist das allgemein bekannt, auch in Amerika, besonders in Kanada, wo es mehrere solcher Proslewitensekten gibt, als die fleißigsten Ackerbauer und solidesten Bürger lebend, es steht auch im Konversationslexikon.

Da, wie mir dies noch durchs Herz zuckte, kam Doktor Isidor.

»Waffenmeister, ich habe bei Untersuchung der Toten eine Entdeckung gemacht! Es ist nicht nötig, daß sie Menschenfleisch essen, um alle so eine fette Fistelstimme zu bekommen. Haben Sie schon einmal von den russischen Proslewiten gehört?«

Also ich wußte es bereits.

»Wer hätte es für möglich gehalten, daß solche wahnsinnigen Brüder auch zur See fahren!« sagte ich nur.

»Nun, warum denn nicht. In Kanada gibt es ihrer genug, da hat solch eine Gesellschaft eben einmal ein Novascotiaschiff bemannt. Der Kapitän Satin ist einfach selbst Proslewite, hat sich solche Sektenbrüder zusammengelesen, sie als Matrosen ausgebildet, wenn es noch keine gewesen sind.«

Dasselbe hatten inzwischen die drei Damen dort hinter der Portiere unter sich abgemacht, mit noch leiserer Stimme.

»Geben sich diese Proslewiten auch dem Genusse von Menschenfleisch hin?« hörte ich jetzt Klothilde wieder lauter fragen.

»Ob es Menschenfresser sind? Davon habe ich niemals etwas gehört!« entgegnete Nora.

»Also auch bei der Mannschaft des »Seeteufels« haben Sie so etwas nicht gemerkt.«

»Daß die Menschenfleisch verzehren?!« erklang es im Tone des höchsten Staunens. »Um Gotteswillen, wie kommen Sie auf solch einen schrecklichen Verdacht?!«

»Nun,« erwiderte Klothilde ausweichend, »solchen Bluthunden, welche ganze Schiffsbesatzungen vergiften, um die Fracht zu erbeuten, die auch in anderer Weise Unnatürlichkeiten begehen, denen ist doch auch wohl so etwas wie Menschenfresserei zuzutrauen. Also Sie haben niemals so etwas bemerkt?«

»Niemals, niemals! Dort an Bord nicht und auch hier nicht in den vier Jahren.«

Schon vorher war Juba Riata zu uns getreten, hatte dieses Letzte noch gehört, mochte sich auch schon mit Doktor Isidor hierüber unterhalten haben.

»Dennoch bleibt mein Verdacht bestehen, daß diese Leute Menschen braten und verzehren!« sagte der jetzt.

»Ich täte meinem braven Harras geradezu unrecht, wenn ich glaubte, er hätte sich diesmal getäuscht, als er bei Witterung des Kapitäns so schrecklich heulte, wie immer, wenn er gebratenes Menschenfleisch riecht.«

Ich ließ es dabei bewenden, räusperte mich stark und schlug die Portiere zurück, die mich von den drei Weibern trennte.

»Verzeihen Sie, wenn ich störe und Ihrer Unterhaltung ein Ende mache. Miß Pooteken zeigt uns wohl erst einmal die Vorrichtung mit den Sprengminen, wie die an und abgestellt werden, das muß jetzt wohl unser Nächstes sein.«

»So begeben wir uns hinauf!« sagte das Mädchen, von ihrem Sitze aufstehend. »Es ist eine Wachtstube, die ganz oben direkt unter dem Plateau liegt. Wir können den Fahrstuhl benutzen, der freilich nur drei Personen trägt, und viel schneller als der Treppenaufstieg geht es auch nicht.«

»Wie, auch einen Fahrstuhl gibt es hier?«

»Ich werde ihn Ihnen zeigen.«

Nur ein kurzer Gang durch den Korridor, und wir standen vor einem Schacht, der seitwärts in der Felswand hinauf und hinablief. Sonst erblickten wir nur vier starke Drahtseile und ein dünneres Tau, an welch letzterem Nora kräftig zog, und nach kurzer Zeit kam von unten eine Plattform herauf, an den vier Drahtseilen hängend, auf der noch ein großes Wasserfaß stand.

Es war ein sehr primitiver Aufzug, die Plattform lief immer direkt von oben bis nach unten, konnte auf diesem Wege nicht angehalten werden, wer an anderer Stelle, das heißt in einer anderen Etage mitwollte, mußte eben schnell eintreten, und so taten auch wir drei Personen, Nora, die Patronin und ich.

Während der Auffahrt gab sie eine Erklärung, die ich hier in anderer Form wiederhole, auch gleich noch anderes hinzufügend.

Die beiden Felsen waren durchlöchert wie die Ameisenhügel. Ob es natürliche Höhlungen waren, oder ob sie von Menschenhänden geschaffen worden waren, das konnten die beiden Schwestern nicht sagen, darüber hatte ihnen Kapitän Satan keine Erklärung gegeben, wahrscheinlich weil er es selbst nicht wußte. Ebenso aber hatte er ihnen auch nicht gesagt, wie er in den Besitz dieses Geheimnisses gekommen war. Denn einmal mußte er es schließlich doch von anderer Seite erfahren haben, daß ein Fahrzeug es ohne Gefahr riskieren durfte, direkt in die furchtbare Brandung hineinzufahren, um zwischen die beiden Felsen zu gelangen.

Kurz und gut, sie waren durchlöchert wie die Ameisenhaufen, und eine Kammer hing immer mit der anderen zusammen, und wo das nicht der Fall war, da gab es doch Verbindungsgänge, also Korridore, wie wir sagen, von denen die Gewölbe wieder abgingen.

Ja, die beiden Felsen besaßen auch eine unterseeische Verbindung, ein Gang unter Wasser führte von einem zum anderen.

Oben zeigten die beiden gleichhohen Felsen ganz glatte Plateaus. Völlig eben waren sie nur scheinbar für das Auge, in Wirklichkeit neigte sich die Fläche von allen Seiten etwas nach der Mitte, wo sich ein großes, tiefes Bassin befand, das ganz sicher von Menschenhänden ausgearbeitet worden war, als Zisterne, in die also alles Regenwasser laufen mußte. Da nun jedes Plateau der beiden Felsen ungefähr 200 Meter lang und ebenso breit war und da in dieser regnerischen Gegend jährlich mindestens anderthalb Meter Höhe Regen fiel, so lieferten diese beiden Plateaus zusammen jährlich 120 000 Kubikmeter Wasser, welche nach runder Rechnung genügt hätten, um 50 000 Menschen jahraus jahrein den Durst zu löschen.

Allerdings hätten da, um kein Wasser zu verlieren, die Zisternen noch viel größer angelegt werden müssen. Wenn sie sich nach starken Regengüssen gefüllt hatten, so flossen sie über, das Wasser floß nach Süden ab, dann also ergoß sich bei starkem Regen dort von oben ein Wasserfall herab.

Aber das überschüssige Wasser, das man nicht zum Trinken und zu häuslichen Arbeiten gebrauchte, wußte man hier auch noch auf andere Weise zu verwenden, es mußte vorher eine Arbeitsleistung ausführen.

Nicht weit von der Zisterne — es gilt aber immer für alle beide Plateaus — war ein Loch durch die Felsendecke gebohrt, ein gebogenes Eisenrohr, als Heber dienend, führte in den Schacht, in dem der Fahrstuhl lief.

Nun war eine ganz einfache Vorrichtung vorhanden, durch einen Ruck an ein Seil wurde ein Hahn gedreht, ein in dem Rohr angebrachtes Ventil öffnete sich, das Wasser lief in ein auf der Plattform stehendes Faß, war dieses gefüllt, so schloß sich das Ventil von selbst, ein zweiter Ruck an dem Seil, jetzt war der Mechanismus gelöst, das Wasserfaß glitt herab und zog auf der anderen Seite seine zweite Plattform herauf, die das Gewicht von drei Menschen tragen konnte.

War das Faß unten, so entleerte es sich durch halbes Umkippen von selbst, wurde durchs das Gewicht der Hinabfahrenden wieder hinaufbefördert, füllte sich wieder, und das unten in eine zweite Zisterne geflossene Wasser konnte noch immer benutzt werden.

Man sieht, die ganze Vorrichtung ist nicht so leicht zu beschreiben. Aber der geneigte Leser wird mich wohl verstanden haben. Jedenfalls war alles ganz einfach und dennoch ganz ideal ausgedacht.

Wir hatten die oberste Etage erreicht, über die sich die noch mächtige Felsendecke wölbte. Nora führte uns in einen Raum, welcher der Hauptsache nach eine elektrische Akkumulatorenbatterie enthielt, von der sehr viele grünumsponnene Kupferdrähte ausgingen.

An der Wand war auf einer Leinwand von mehreren Quadratmetern die ganze Anlage im Grundriß und Aufriß aufgezeichnet, woraus man deutlich ersah, wo im Wasser des Kanals wie in den unteren Felsenkammern alle die Sprengmaschinen lagen, wie sie mit dieser Zündbatterie verbunden waren.

Nur dieser Kontakt braucht gelöst zu werden, dann sind sämtliche Minen ausgeschaltet!« erklärte Nora.

Die ganze Vorrichtung war so einfach, daß ich dies selbst sofort herausgefunden hätte. Wir durften uns wegen dieser Explosionsminen in Sicherheit fühlen.

»Was ist das hier für ein Rohr?«

»Ein Sprachrohr, das nach dem Plateau führt, auf dem sich immer ein Wächter befinden mußte. Ein zweiter Mann war ständig auf dieser elektrischen Station.«

»Wie gelangt man auf das Plateau hinauf?«

Das war nur von außen möglich. Dicht in der Nähe einer Fensteröffnung dieses Raumes war eine eiserne Leiter angebracht, noch sechs Meter hatte man zu steigen, dann befand man sich auf dem Plateau dieses Felsens.

Ich stieg sofort hinauf und hielt Umschau. Nichts als das endlose Meer war zu sehen, nur mit dem schärfsten Fernrohr konnte man gerade noch die höchsten Kuppen der Falklandsinseln erkennen.

Die beiden Schwestern, die auf einem Schiffe als Töchter eines Kapitäns groß geworden waren, erklärten dann ganz offen, wie wenig sie Hoffnung gehabt hätten, auch nach Überwältigung ihrer Wächter diese Felsen verlassen zu können.

Diese gefährliche Gegend hier wurde von allen Seefahrern wie die Pest gemieden, und auch das Feuer des größten Scheiterhaufens hier oben angezündet, hätte nicht von den Falklandsinseln aus erblickt werden können. Wohl strahlen die modernen Leuchttürme ihre Blinkfeuer noch viel weiter als 50 Kilometer aus, aber was meint man wohl, was hierzu für Einrichtungen gehören, diese ungeheuren Reflexspiegel, und dann das »Blinkfeuer«, das immer nur ab und zu aufzuckt, einen blendenden Strahl um sich schleudert, das ist eben die wirksame Hauptsache dabei.

»Was hätten Sie denn nun getan, wenn der »Seeteufel« zurückgekommen wäre?« fragte ich Nora, die mit wie die Patronin auf das Plateau gefolgt war.

Fest blickte mich das junge, schöne Mädchen an, und ebenso festen Tones erklang es:

»Eine von uns war immer hier oben, um die Rückkehr des »Seeteufels« zu erwarten. Wir hätten ihn in den Kanal einlaufen lassen. Dann ein Druck auf einen Knopf, und wir hätten die Welt von menschlichen Ungeheuern befreit. Unsere weitere Rettung hätten wir Gott überlassen. Er hat Sie uns gleich am zweiten Tage zugesandt. Ja, weshalb eigentlich haben Sie sich diesen unheimlichen Felsen so weit genähert?«

Ich erzählte ihr von dem Fund in dem hohlen Kolben des Revolvers, ohne mich jetzt auf Einzelheiten einzulassen. Aber vergebens hatte ich gehofft, die Schwestern könnten uns Näheres mitteilen, was die anderen vier geographischen Ortsbestimmungen zu bedeuten hätten.

Es war überhaupt sehr wenig, was sie uns jetzt und später über die Lebensweise dieser modernen Seeräuber mitteilen konnten.

Kapitän Satan hatte den beiden Mädchen gegenüber nur immer renommiert, daß er der größte und blutigste Pirat der Jetztzeit sei, hatte sie in alle hiesigen Einrichtungen eingeweiht, aber was er außerhalb dieses Schlupfwinkels trieb, welche Schiffe er erbeutete, was er mit dem Raub machte, darüber hatte er niemals gesprochen, auf solche Fragen hatte er immer nur sein höhnisches Kichern gehabt.

Wann und wie oft er hier einlief, das war gänzlich verschieden. Manchmal mehrmals im Monat, einmal war er länger als ein Jahr ausgeblieben.

»Wieder eine ganze Besatzung vergiftet und das Schiff eingebracht!« grinste dieser Teufel dann händereibend.

Aber was es für ein Schiff war, mit was befrachtet gewesen, wo es blieb, das erfuhren die Schwestern nie. Nun, das Schiff wurde dann eben, nachdem die wertvollste Fracht hier ausgeladen worden war, draußen im Meere versenkt. Dann blieb die Ladung einige Zeit hier liegen, alle verräterischen Zeichen der Verpackung wurden entfernt, vielleicht auch wurde sie ganz umgepackt — dann wurde sie auf den »Seeteufel« verladen und weiter verkauft, direkt oder indirekt durch Zwischenhändler, durch Helfershelfer, die dieser moderne Seeräuber jedenfalls in aller Welt besaß.

Sonst konnten uns die Schwestern nur noch berichten, daß der »Seeteufel« hier auch Öl einnahm, um es unter den Kesseln zu verfeuern. Die ganze Feuerungsanlage wird danach eingerichtet, daß sowohl Kohlen wie Öl benutzt werden konnte, welches einfach eingespritzt wurde. Solche doppelte Anlage gibt es schon auf vielen Dampfern, zumal auf amerikanischen, wir selbst aber hatten noch gar nicht gewußt, daß auch dieser Torpedojäger eine solche besaß.

Die mächtige Ölquelle befand sich innerhalb des östlichen Felsens, es brauchte nur ein mit dem Pumpwerk verbundener Schlauch eingelegt zu werden.

Dies zu wissen war uns sehr wichtig. Also der zum Pirat erklärte Kapitän hatte gar nicht nötig, wegen Kohlen einen Hafen anzulaufen. Aber hierher mußte er unbedingt ab und zu kommen, um seinen verbrauchten Ölvorrat zu ergänzen. Vorausgesetzt, daß er nicht noch anderswo geheime Kohlenlager oder Ölquellen kannte.

Die Mädchen konnten uns seine Räumlichkeiten zeigen, die er bei seiner Anwesenheit hier bewohnte, ein Schreibtisch und ein Panzerschrank waren vorhanden, wir verstanden alles zu öffnen, niemals erfolgte eine unheilvolle Explosion, wir fanden fremde Schiffspapiere und anderes Material genug, das dem Kapitän Satan einfach den Hals brach, aber nichts, was über sein sonstiges Treiben etwas verraten hätte, ebensowenig bares Geld oder sonstige Schätze, wenn man davon absehen will, was er zur Ausschmückung der Wohnräume für seine weiblichen Gefangenen verwendet hatte, natürlich alles von erbeuteten Schiffen zusammengeraubt, wie sich manchmal auch noch konstatieren ließ.

Was sich sonst noch alles an Waren der allerverschiedensten Art in den unteren Gewölben vorfand, mit deren Aufzählung will ich gar nicht erst anfangen, denn da würde man nie fertig. Jedenfalls aber war es genug, um ein halbes Dutzend großer Frachtdampfer damit zu füllen.

Einem trägen Leben hatten sich diese modernen Seeräuber nicht hingegeben, fleißig waren sie gewesen, das mußte man ihnen lassen.

Nachdem wir genügend Umschau gehalten hatten in den gefüllten Magazinen und sonstigen Räumen, woran sich auch Kapitän Martin beteiligt, weil dies seine Pflicht war, saßen wir wieder in der Kajüte zur Beratung zusammen, telephonisch mit dem Plateau verbunden, auf das wir natürlich Wachen gestellt hatten. Der »Seeteufel« konnte ja zurückkommen. Wegen der eventuellen Signale, die er von seinen eigenen Leuten erwartete, konnten uns die Schwestern freilich gar nichts sagen.

Der Leser dürfte sich wundern, was bei dieser Beratung herauskam

Ja, es wäre ja alles wunderschön gewesen.

Nämlich wenn wir uns selbst hier in diesem meerumbrandeten Felsennest festgesetzt hätten. Hier hätten wir ja erst recht die freien Seekönige spielen können, welche die andere Welt gar nicht mehr brauchten. Wasser war immer genug vorhanden, auch wir hätten eine Einrichtung für Ölfeuerung mit leichter Mühe anbringen können, dann hätte es sich nur noch um Proviant gehandelt, den wir uns schon verschaffen wollten. Auf ganz ehrliche Weise.

Wer wollte uns denn hier etwas anhaben? Die Kriegsschiffe mochten nur kommen! Das hier war bisher herrenloses Gebiet, wir hatten es besetzt, nun wollten wir es auch verteidigen, uns Anerkennung verschaffen.

Ja, das wäre alles ganz schön gewesen — wenn die internationalen Seegesetze nicht gewesen wären, diktiert von der Moral und dem Gewissen ehrenwerter Männer.

Wir waren ganz einfach verpflichtet, unsere Entdeckung so bald als möglich im nächsten Hafen den Behörden oder dem nächsten uns begegnenden Kriegsschiffe anzuzeigen!

Unterließen wir das, so machten wir uns selbst der Piraterie schuldig, wenn auch nur der einfachen, das heißt, wir stellten uns außerhalb der Gesetze und wurden deshalb, sobald die Geschichte herauskam, zur Verantwortung gezogen, wurden bestraft, dem Kapitän und den Offizieren wurde das weitere Befahren der sonst ganz freien See als verantwortliche, vereidigte Schiffer verboten.

Und uns fiel doch gar nicht ein, uns solchen Eventualitäten auszusetzen oder überhaupt wegen dieses Schuftes unser bisheriges, herrliches Leben aufzugeben. Man muß nur auch bedenken, daß jetzt doch ausgekundschaftet werden mußte, wem die abgenommenen Waren gehört hatten, die mußten den Besitzern, Reedereien und Handelsfirmen wiederzugestellt werden, was das für ungeheure Arbeit kosten würde!

I, uns fiel es ja gar nicht ein, uns mit allen diesen weiteren Sachen zu befassen! Nur schleunigst wieder fort von hier!

Also mit solchen romantischen Ideen oder geschäftlichen Angelegenheiten hielten wir uns gar nicht auf, sondern unsere Beratung galt nur der schnellsten Erledigung dieser ganzen Sache.

Ich fasse es kurz zusammen. Wir ließen zwei Dutzend unserer bewährtesten Leute als Wächter hier zurück, auch die beiden Schwestern blieben freiwillig, weil sie hier doch am besten Bescheid wußten, wir anderen steuerten mit dem Schiffe noch am Nachmittage wieder zu dem Kanal hinaus, mußten wieder solch eine schreckliche Höllenfahrt durchmachen und vermochten hinterher gar nicht zu begreifen, wie alles so gut ablaufen konnte.

Wir nahmen Kurs nach Port Stanley, um in diesem nächsten Hafen, ob er nun englisch oder argentinisch war, unsere Entdeckung zu melden.

Kam inzwischen der »Seeteufel« zurück, so blieb es ganz der Beratung der beiden Schwestern und des ersten Offiziers überlassen, ob sie ihn in die Luft sprengten oder nicht, ob sie sich einstweilen in den oberen Etagen bis zu unserer Rückkehr verschanzen wollten. Das einfachste war wohl, sie ließen das ganze Schiff mit diesen Bluthunden gleich von der Bildfläche verschwinden.

Wir hatten gar nicht nötig, Port Stanley anzulaufen. Angesichts der östlichen großen Insel erblickten wir eine englische Kreuzerfregatte, in der wir alsbald wieder den »Duke of Glocester« erkannten, dessen Ziel eben Port Stanley gewesen war.

Ich begab mich mit der Patronin unverzüglich an Bord hinüber, erstattete Bericht, der gleich protokolliert wurde.

Der englische Kriegskapitän glaubte natürlich anfangs, wir seien irrsinnig und erzählten ihm ein Märschen, mußte es aber zuletzt wohl glauben, und da schlug er die Hände über dem Kopfe zusammen.

Dann sofort, da er nicht unbedingt nach Port Stanley mußte, nach den beiden Schwesterfelsen zurück! Es waren ja nur 30 Seemeilen, die wir in noch nicht drei Stunden machten, so erreichten wir sie noch vor Dunkelheit, das verabredete Signal, daß alles in Ordnung sei, wurde von oben gegeben, die »Argos« machte die Einfahrt vor, das englische Kriegsschiff folgte nach, was freilich vorher viel Überredungskunst gekostet hatte.

Im Laufe der Nacht wurde dem englischen Fregattenkapitän alles übergeben, am anderen Morgen fuhr die »Argos« wieder hinaus, auch die beiden jungen Damen mitnehmend.

So, nun mochte das englische Kriegsschiff und überhaupt die englische Regierung sehen, wie sie mit alledem fertig wurden. Wir hatten unsere Pflicht getan, uns kümmerte das alles nichts mehr.

Da es sich hierbei um Waren handelte, die ihren Besitzern durch Menschengewalt, nicht durch Naturgewalten verloren gegangen waren, so gab es keinen Bergelohn, sondern nur einen Finderlohn, zwanzig Prozent des Wertes der Waren, und den hatten allein wir zu beanspruchen. Mit dem Fortschaffen der Waren mochten sich nur andere abmühen, wofür sie nur ihre Kosten beanspruchen durften.

Wir richteten den Schnabel unseres Schiffes nach Nordosten, um erst einmal zu untersuchen, was es mit der vierten geographischen Bestimmung, die sich auf die Westküste Afrikas bezog, für eine Bewandtnis habe.


51. KAPITEL.
AN BORD DES PIRATEN, UND DESSEN ENDE.

Es war am fünften Tage, nachdem wir die beiden Felsen hinter uns hatten.

Oder vielmehr in der fünften Nacht.

Eine fürchterliche Nacht!

Der Sturm heulte in der Takelage, daß es pfiff, und wenn es einmal nicht pfiff, dann klang es grade, als wenn dort oben ein Riesenbraten in der Pfanne schmore — es klingt wirklich immer so, einen anderen Vergleich für dieses Geräusch kann ich gar nicht finden — und wie das Schiff tanzte und bockte, will ich gar nicht zu schildern versuchen.

Gegen elf Uhr wurden alle Mann an Deck gepfiffen, um die Pardunen zu verstärken damit nicht etwa alle drei Masten über Bord gingen, obgleich wir auch das letzte Segel festgemacht hatten.

Eine furchtbare Arbeit, das Anbringen und Spannen der schweren Taue, bei diesem Wetter! Ich beteiligte mich daran als Matrose.

Plötzlich, wie ich in halber Höhe der Kreuzwanten stehe und mich gegen den Sturm kaum anklammern kann, erhalte ich einen Schlag gegen die Brust, eine unwiderstehliche Kraft reißt meine Hände los, ich sause durch die Luft, und da liege ich auch schon drin im Wasser.

Das ist so ziemlich das einzige, dessen ich mir bewußt bin. Von den Lichtern des Schiffes sah ich schon nichts mehr. Ich kann auch nicht sagen, ob ich stundenlang oder nur minutenlang mit den Wogen gerungen habe. Ich dachte noch einmal gleichzeitig an meinen Vater, an Helene und an Haifische, dann war ich plötzlich als Kind am heimatlichen Weihnachtstische, der Christbaum brannte — und dann wußte ich nichts mehr von mir. Aber das wußte ich, daß ich, als ich wieder erwachte, noch nicht im Jenseits war.

Das war die Kabine eines irdischen Schiffes, freilich keine von unserer »Argos«. Solche winzige Bollaugen gab es bei uns nicht, auch nicht ein solch konstruiertes Hängebett, in dem ich lag, nur im Hemd, aber nicht mein eigenes.

»Jedenfalls wieder einmal mit dem Leben davon gekommen. Aufgefischt worden. Gelobt sei Gott!«

Dann sah ich mich weiter um. Es war aber nichts weiter zu sehen, als neben dem Bett ein Tischchen, auf dem eine Flasche Wasser und ein Glas gehörig befestigt standen, was sehr nötig war, denn dieses Fahrzeug bockte noch ganz anders als die »Argos«, zur Zeit da ich unfreiwillig Abschied von ihr nahm.

Es war ein Dampfer, die Schiffsplanken zitterten ganz unheimlich, noch unheimlicher ratterte die aller Augenblicke aus dem Wasser schlagende Schraube.

Auch elektrische Glühbirnen waren vorhanden, nicht brennend, da es Tag war, wenn auch durch die wogengepeitschten Glasscheiben das Licht trübe genug hereinfiel, aber eine Klingel sah ich nicht, wenigstens nicht mir zur Hand.

Nun, da stand ich einfach auf. Weh tat mir nichts, ich fühlte mich überhaupt wie neugeboren.

Dazu mußte ich aber erst die Holzbedeckung aufklappen, welche sich über das Schwebebett spannte, mich bis zur Brust wie in einem grönländischen Kajak einschlieBend, sonst hätte der Schläfer bei solchem Wasser ja herausgeschleudert werden können —— und schon bei dieser ersten Bewegung merkte ich, wie ungemein schwach ich doch war.

Da ging die Schiebetür der Kabine auf und herein trat

Alle Heiligen!

Der Kapitän Satan!

»Nun, von den Toten erwacht, mein lieber Freund, hi hi?« grinste er mit seinem beliebten Händereiben.

Ich war fassungslos, doch nur für wenige Augenblicke, wenn die mir vielleicht auch eine Ewigkeit dünkten. Dann hatte ich mich wieder gesammelt.

»Sie haben mich aufgefischt?«

»Ja, ein wunderbarer Zufall, wie man ihn kaum für möglich hält, hi hi.«

Er klappte von der Wand ein Sitzbrett herab, ließ sich darauf nieder, stemmte sich fest, kreuzte die Arme über der Brust und betrachtete mich mit seinem liebenswürdigsten Hohngrinsen.

»Sie wollten wohl gerade aufstehen? Geben Sie sich keine Mühe. Sie krankes Männlein, Sie können die Holzdecke gar nicht öffnen, sind auch noch innen extra mit einem Gurt festgeschnallt, damit Sie mir ja nicht aus dem Bettchen fallen, hi hi.«

Ich nahm die Sache, wie sie nun einmal lag, wollte vor allen Dingen möglichst viel erfahren.

»Wie haben Sie mich gerettet?«

»Heute nacht gegen zwei wurde mir ein Mann über Bord gewaschen, wir leuchteten mit dem Scheinwerfer ab, sahen ihn treiben, warfen eine Zangenboje aus, sie erreichte ihn, er konnte sie nicht greifen, da ergriff die Boje ihn, wir zogen ihn an Bord — da hatten wir statt unseres Matrosen einen fremden Menschen erwischt, und der waren Sie. Ein kurioser Austausch was? Hi hi, was doch nicht alles in der Welt passiert.«

Im ersten Augenblick hatte ich als Seemann nur eines gehört.

»Eine Zangenboje?«

»Eine Zangenboje!« wurde bestätigt.

»Was ist denn das?«

»Eine Rettungsboje, die den Schwimmer, ob er nun bewußtlos ist oder nicht, auf elektrischem Wege von selbst ergreift und festhält.

»Habe noch nie von solch einer Zangenboje gehört, das muß ja ein ganz idealer Rettungsapparat sein.

»Ist es auch — meine eigene Erfindung — bin wirklich stolz darauf, — hi hi. O, wenn Sie bei mir bleiben, mein lieber Freund — von mir können Sie etwas lernen, als Seemann und überhaupt als wißegieriger Mensch — was ich alles für Erfindungen besitze, wovon die andere Welt noch gar nichts weiß, hi hi.«

»Also da wäre ich drei Stunden im Wasser gewesen!« sagte ich zunächst.

»Wann sind Sie über Bord gestürzt?«

»Es war gegen elf.«

»Ja, dann wären es drei Stunden gewesen.«

»War ich denn bewußtlos?«

»Das nicht, Sie schwammen, wußten aber nichts von sich, wehrten der Rettungsboje und den hülfreichen Händen immer ab, als hätten Sie im Wasser Liebschaft mit einer Seenixe gemacht, hi hi.«

»Wie lange habe ich hier gelegen?«

»Es ist jetzt gleich Mittag. Wie fühlen Sie sich?«

»Eigentlich ganz wohl.«

»Wohl ein bißchen schwach?«

»Ja, das merkte ich schon vorhin und jetzt erst recht.«

»Warten Sie, ich will Ihnen noch einmal Medizin einflößen, von mir selbst erfunden und gebraut, hi hi.«

Er stand auf, öffnete den unteren Teil des vollen Tischchens, brachte ein Fläschchen mit einer braunen Flüssigkeit zum Vorschein, füllte einen silbernen Löffel.

»Daß Sie nicht etwa nach mir greifen, um mich zu packen, Sie junger Held, hätte verdammt keinen Zweck, hi hi.«

»Ich denke nicht daran, ich möchte von Ihnen erst mehr erfahren.«

»Recht so, recht so, hi hi. Dann schlucken Sie erst einmal das, das wird Ihnen bald wieder auf die Sprünge helfen.«

Ich aber zögerte, das Zeug zu schlucken, aus guten Gründen.

»Sie denken wohl an Gift oder an sonst einen Höllenstoff, hi hi?« wurden meine Gedanken natürlich gleich erraten. »Nein, mein lieber Freund, wenn ich Sie töten oder Ihnen ein Betäubungsmittel einflößen wollte, so hätte ich das in Ihrer Bewußtlosigkeit doch viel einfacher gehabt.«

Er hatte recht — ich schluckte.

Wie Feuer fühlte ich den braunen Saft erst im Magen und dann auch gleich durch meine Adern rollen, es belebte mich wirklich wunderbar.

»Köstlich, nicht wahr? Jaaaa, was ich alles für Mittelchen habe — wenn ich nicht ein Teufel wäre, ich könnte zum Heiland der Menschheit werden, hi hi.«

»Weshalb sind Sie so ein Teufel?« fragte ich ernst.

»Weil ich es amüsanter finde, ein Teufel zu sein als ein Engel — im Himmel ist es mir zu langweilig, in der Hölle geht es fideler zu, hi hi.«

Er barg die Sachen und setzte sich wieder.

»Sonst noch etwas, was Sie wissen wollen, ehe ich meine Fragen stelle? Stehe Ihnen ganz zu Diensten, mein wertester Waffenmeister, hi hi.«

»Ja, ich habe erst noch einige Fragen. Sind Sie der »Argos« gefolgt?«

»Durchaus nicht.«

»Sie haben sie heute auch nicht gesehen?«

»Nein.«

»So weiß man dort nicht, daß ich von Ihnen gerettet worden bin?«

»Nein, woher soll man das dort wissen?«

Das war es, was mich augenblicklich mit tiefster Betrübnis erfüllte. Daß man dort um meinen Tod trauerte. Und wie trauerte!

Doch das ließ sich ja schnell ändern.

»Sie werden meine Rettung doch natürlich der »Argos« so schnell als möglich mitteilen, was ja leicht zu machen ist.«

»Natürlich natürlich!« kicherte der Kerl. »Aber nur unter einer Bedingung.«

»Unter welcher?«

»Daß Sie sich unserem Bunde anschließen.«

»Was für einem Bunde?« stellte ich mich unschuldig.

»Nun, daß die Argonauten sich mit uns verbünden, daß wir gemeinsame Sache machen.«

»Sie meinen, wir sollen mit Ihnen zusammen Seeraub treiben?« mußte ich jetzt wirklich lachen.

»Natürlich, natürlich hi hi.«

»Na‚ da können Sie ja lange warten, hahahaha!l«

»Na, so lange bleiben Sie dann eben bei uns, hihihihi!l«

»Ohne daß Sie die »Argos« von meinem Hiersein benachrichtigen?«

»Komm ganz darauf an, kommt ganz darauf an, das muß ich mir erst noch überlegen. Sind Sie fertig mit Ihren Fragen?«

»Ich bins. Nun fragen Sie.«

Er brachte ein Büchelchen zum Vorschein, in dem ich mein eigenes Notizbuch erkannte, das ich immer in der Innentasche meiner wasserdichten Weste trug.

Jetzt aber kicherte der Satan nicht mehr, sein Gesicht nahm vielmehr einen furchtbar drohenden Ausdruck an, als er die letzte beschriebene Seite aufschlug.

»Woher haben Sie hier diese geographischen Bestimmungen?!«

Aha‚ da war es!

Was sollte ich lügen? Ich erzählte von dem Funde in dem hohlen Revolverkolben.

»Dieser Schuft!« knirschte er mit den Zähnen. »Was aber sollen die anderen vier bedeuten?«

»Was für andere vier?«

»Nun, Sie haben doch hier fünf solche Ortsbestimmungen aufgeschrieben.«

»Jawohl, auf dem Pergamentstreifen standen diese fünf.«

»Und was sollen die bedeuten?«

»Wissen Sie das nicht? Dann ich erst recht nicht.«

»Nein, mir hat der Halunke nur die eine geraubt. Welche die beiden Schwestern betrifft. Kennen Sie die beiden in Frage kommenden Felsen bei den Falklandsinseln?«

»Gewiß!«

»Sie waren wohl etwa schon dort?« erklang es jetzt lauernd, schon wieder mit dem höhnischen Grinsen.

Im Augenblick war mein Entschluß gefaßt

»Jawohl, wir waren dort.«

»Weshalb?«

»Na‚ es interessierte uns doch zu erfahren, weshalb der Piratenkapitän sich solche Notizen gemacht und in einem hohlen Revolverkolben verborgen hatte.«

»Diese Notizen stammen nicht von mir.«

»Aber das mußten wir doch annehmen.«

»Stimmt. Wann waren Sie dort?«

»Vor fünf oder jetzt wohl vor sechs Tagen, wir kamen eben von dort.«

»Na und?«

»Ja was und?«

»Sie haben wohl die beiden Schwestern umkreist, was, hi hi?«

»Allerdings.«

»Und konnten sich nicht erklären, wie ich an diesen beiden steinernen Schwestern ein Interesse haben könnte, wie?«

»Allerdings nicht.«

»Hi hi —— mit diesen Felsen werden Sie noch etwas erleben — da werden Sie noch Ihr blaues Wunder erleben, hi hi.«

Er steckte das Buch wieder ein, wurde wieder ernst.

»Und was die anderen vier Bestimmungen bedeuten, das wissen Sie wirklich nicht?«

»Nein, wie soll ich es wissen. Wir waren eben auf dem Wege, der vierten Bestimmung auf den Grund zu gehen.«

»Die nach Annoben weist, der südlichsten der Guinea-Inseln an der Westküste Afrikas?«

»Jawohl.«

»Gut. Werde ich auch einmal hingehen. Leider aber habe ich einen großen Ölverlust gehabt, bin gezwungen, mich erst wieder mit Öl zu versehen, denn einen Kohlenhafen möchte ich doch lieber nicht anlaufen, hi hi.«

Au!

Also nach den steinernen Schwestern zurück!

Der »Seeteufel« konnte sich ja dort auf einen heißen Empfang gefaßt machen.

Und ich mit an Bord!

Da war mein Leben freilich nur vorläufig gerettet gewesen.

Denn mit solch einem notorischen Seeräuber wird doch kein langer Prozeß gemacht, der wird sofort in den Grund geschossen.

»Haben Sie Appetit, Herr Kapitän?«

»Ja sehr.«

»Sie werden gleich etwas erhalten. Und nicht etwa Menschenfleisch.«

»Was, Menschenfleisch?!« fuhr ich empor, so weit ich konnte.

»Na‚ es geht doch über uns allgemein das Gerücht, daß wir Menschenfleisch essen, und das beruht auf Tatsache.«

»Ungeheuer — Scheusal!l« stieß ich hervor.

Ich bedauerte alsbald, meinem Entsetzen solchen Ausdruck gegeben zu haben, denn der hatte dafür doch nur ein höhnisches Kichern.

»Haben Sie schon von der russischen Sekte der Proslewiten gehört?«

»Ja.«

»Wir gehören dazu.«

»Das dachte ich mir, habe aber noch nicht gewußt, daß deren Mitglieder Menschenfresser sind!« konnte ich schon wieder ganz ruhig entgegnen, nur gleich mit dem festen Vorsatze, hier an Bord nichts zu essen, und wenn ich auch verhungern sollte.

»Nein, nicht alle Proslewiten genießen Menschenfleisch, nur eine besondere Zweigsekte. Kennen Sie die Göttin Kali?«

»Die indische Göttin? Ja.«

»Wie heißen ihre Anhänger, die sie verehren?«

»Dugghs oder Pharsingers, Schlingenwerfer, weil sie ihre Opfer nur mit einer seidenen Schlinge erdrosseln dürfen.«

»Und weshalb erdrosseln sie möglichst viele Menschen?«

»Weil die Kali, die sie verehren, die Göttin der Vernichtung ist, alles Lebendige haßt.«

»Stimmt. Sie sind ganz gut beschlagen in dem indischen Sektenwesen. Und dasselbe gilt für uns Obiten, wie wir uns als eine Zweigsekte der Proslewiten selbst nennen. Wissen Sie, wer Obi ist? Nein, können Sie nicht wissen, oder Sie wären schon eingeweiht, gehörten dann schon mit zu uns. Obi ist nach altfinnischem Glauben der erste Obermeister der Hölle, der alles haßt, was Gott geschaffen hat, und da doch einmal alles zugrunde gehen muß was geschaffen worden ist, so ist es doch ganz logisch wenn man diesen Teufel mehr verehrt als den schaffenden Gott, nicht, hi hi?«

Ich verschmähte eine Antwort.

»Also,« fuhr der Teufelsanbeter grinsend fort, »wir selbst dürfen wie die Proslewiten nicht nur nichts Lebendiges erzeugen, sondern müssen auch möglichst viel Lebendiges vernichten. Und außerdem müssen wir an gewissen Tagen auch Menschenfleisch verzehren. Da ist aber dabei gar kein Muß, das tut man gar bald nur zu gern. O, Sie sollen schon noch merken, wie köstlich Menschenfleisch schmeckt.«

»Da können Sie lange warten, ich werde verhungern.«

»Nein, das brauchen Sie nicht. Was Sie vorgesetzt bekommen, können Sie ruhig essen. Es ist bei den Obiten strengste Vorschrift, daß niemand gezwungen werden darf, der Seite beizutreten, also auch nicht Menschenfleisch zu essen. Ganz freiwillig muß dies alles geschehen.«

»Da können Sie ja bei mir lange warten!« konnte ich nur wiederholen.

»O, wir haben schon Mittel, um jeden zum Übertritt zu bewegen, jeden!«

»Was für Mittel, Betäubungsmittel?«

»O nein, das wäre doch schon Zwang. Ganz, ganz freiwillig bei vollem Bewußtsein muß es geschehen.«

»Da bin ich doch gespannt, was das für Mittel sein sollten.«

»Einfach, indem wir Sie erst unser herrliches Leben beobachten lassen, bis Sie die größte Sehnsucht danach empfinden, da selbst mitmachen zu dürfen.«

»Was denn für ein herrliches Leben?«

»Sie werden schon sehen. Diese Orgien, die wir feiern!«

»Na‚ ich danke für Orgien!«

»Sie werden schon sehen. Wissen Sie auch, daß wir schon einen Argonauten verspeist haben, hi hi?«

»Einem Argonauten? Machen Sie doch keine Witze!l«

»Ich versichere es Ihnen.«

»Wen denn?«

»Ihren ersten Ingenieur, den Mister Kalthoff.«

Ich wußte mich zu beherrschen, nur um noch mehr zu erfahren.

»Wie sind Sie denn zu dem gekommen?«

»Er suchte mich in London auf, wo mein »Seeteufel« gerade lag.«

»Und?«

»Und da erzählte er mir, daß im Feuerlande die Schätze des Flibustierkapitäns lägen, hi hi hi.«

So kichterte der Satan, und in demselben Moment sah ich vor meinen geistigen Augen den ersten Ingenieur, mit dem Arm in der Schlinge, wie er hinter den Bäumen stand, uns nachblickend, aber schnell wieder verschwindend!

Und da wußte ich schon alles, ich hätte gar nicht weiter zu fragen brauchen.

»Der hat uns damals belauscht?«

»Alles, alles, was Ihre Patronin Ihnen damals auf dem Hügel erzählt hat, hi hi.«

»Und?«

»Na und da sind wir einfach nach Neuyork gefahren, haben in Sing—Sing den richtigen Mann zu finden gewußt, einen Beamten, der zu den versiegelten Sachen der Sträflinge gelangen konnte, der hat uns das Zeug des Kapitän Hartung gebracht, aufgemacht, die rote Brieftasche aufgetrennt, den Plan photographiert, die Tasche fein säuberlich wieder zugenäht, alles tadellos wieder versiegelt — na‚ und da haben wir uns die Schätze einfach abgeholt, hi hi hi.«

So kicherte der Teufel händereibend.

Nun war es also heraus!

»Es macht Ihnen wohl rechte Freude, mir das mitzuteilen?« konnte ich nur fragen.

»Natürlich, natürlich — wenn die Schadenfreude die reinste Freude eines jeden Menschen ist, so doch erst recht die eines Teufels, hi hi.«

»Eines jeden Menschen? Na‚ lassen wir das. Und dann also haben Sie wohl zum Danke diesen Mister Kalthoff aufgefressen?«

»Ganz freiwillig, ganz freiwillig ließ er sich verspeisen.«

»Was, ganz freiwillig ließ er sich fressen?« mußte ich lachen, wenn es auch sehr heiser klingen mochte.

»Ganz freiwillig ist er einer der Unsrigen geworden. Und Sie sollen nur erfahren, was es bei uns für eine Ehre, für ein Vergnügen ist, freiwillig in den Tod zu gehen, also Selbstmord zu begehen, wenn es einem von unserem Vorgesetzten nur erlaubt wird, was durch das Los geschieht. Und dann wird man von den anderen zu Ehren des Obi gebraten und verspeist. Sie werdens schon noch erfahren. Nicht wahr, der Kapitän Hartung der Bruder Ihrer werten Frau Patronin, kam doch ins Zuchthaus, weil er in dem Neuyorker Hotel einen Mann, ebenfalls einen Kapitän, ermordet haben sollte.«

»Jawohl!« konnte ich ganz ruhig bestätigen.

»Der eigentliche Mörder aber bin ich, hi hi hi. Mein Zimmernachbar, der Kapitän Hartung, hatte auf dem Korridor sein Messer verloren, ich fand es, führte mit ihm die Tat aus, hatte meinen Grund dazu. So nun wissen Sie es, und nun lassen Sie es sich gut schmecken hi hi hi.«

Und hinaus war er.

Statt seiner traten zwei herkulische Neger ein, von denen der eine mir eine dampfende Schüssel brachte, der andere diente jenem als Schutz.

Und ich speiste denn auch mit dem größten Appetit, trotz meines früheren Vorsatzes, der so felsenfest gewesen war.

Ich kann überhaupt nur eines sagen:

Und wenn ich bestimmt gewußt hätte, es wäre Menschenfleisch gewesen, was man mir vorsetzte, ich hätte es dennoch mit dem größten Appetit gegessen!

Denn wenn man leben will, muß man essen.

Und ich wollte leben, wollte meine Kraft behalten, wollte mit jenem Teufel in Menschengestalt noch einmal Abrechnung halten zu können.

Aber es war Hammelfleisch mit Curry und Reis, meine Lieblingsspeise, aus der Büchse.


Die Tage vergingen.

Ich zählte sie nicht.

Die Holzdecke hatte man von meinem Bett bald entfernt, aber in der Kabine war ich ein Gefangener, durfte sie nicht verlassen.

Gefüttert wurde ich sehr gut, und sicher nicht mit Menschenfleisch. Aber immer noch war es mir ganz gleichgültig, wenn es solches gewesen wäre.

Wenn ich nicht auf dem Bett lag, schritt ich in meinem Gefängnis rastlos auf und ab, finsteren Rachegedanken nachhängend. Oder Vergeltungsplänen, will ich lieber sagen.

Der satanische Kapitän stattete mir keinen Besuch mehr ab. Ich bekam niemand anders zu sehen als die beiden herkulischen Schwarzen, meine Gefängniswärter, die immer zusammen kamen.

An diesen mich zu vergreifen, daran dachte ich gar nicht. Hier an Bord hatte das keinen Zweck. Überhaupt war ich mir noch ganz im unklaren, wie ich meine Flucht und Vergeltung denn ausführen wollte. Ich mußte eben eine Gelegenheit abwarten.

»Massa Käpten sollen mit an Deck kommen!« sagte da eines Morgens der eine Neger zu mir.

Ich wurde nicht gefesselt. Nur daß hinter mir immer die beiden Schwarzen lauerten.

An Deck sah ich gleich, weshalb man mich gerufen hatte . . .

Dort im Süden erhoben sich wieder die beiden steinernen Schwestern.

Auf der niedrigen Kommandobrücke stand der Teufelskapitän, deutete nach ihnen.

»Erkennen Sie sie wieder, Herr Kollege?«

Ich blieb die Antwort schuldig, suchte mir auszumalen, was nun kommen würde, gab es aber bald auf.

Wir kamen näher, der Kapitän äugte durch das Fernrohr, gab ein Kommando.

An dem kurzen Signalmast begannen die Semaphorflügel zu spielen.

»Zum Teufel, was geben die denn keine Antwort, schlafen die Burschen denn?!« schrie wütend Kapitän Satan.

Ich hätte eine Erklärung geben können, weshalb von dort oben kein Gegensignal kam, aber ich hütete mich.

Jetzt waren wir nur noch eine Seemeile von der kochenden Brandung entfernt, und der Semaphorapparat spielte vergebens.

»Löst einen Kanonenschuß, daß die Schlafmützen aufwachen!«

Ehe es hier an Bord krachte, quoll dort oben aus dem vorderen Plateau ein Rauchwölkchen empor, auch ein schwacher Feuerschein war zu sehen gewesen, und noch ehe wir den Geschützdonner vernahmen, schmetterte es schon furchtbar gegen den hinteren Teil des Fahrzeuges, daß es sich auf die Seite zu legen drohte.

Die Engländer hatten ein großes Geschütz hinaufgebracht, es gut maskiert, und sie warteten nicht ab, ob der Pirat auch ohne Gegensignal, das sie ja nicht geben konnten, die Einfahrt wagen würde oder nicht, sie hatten gefeuert.

Und es war ein Meisterschuß gewesen, der das Hinterteil getroffen, genau über der Wasserlinie, und da halfen dem Torpedojäger keine Panzerplatten, so stark konnte der denn doch nicht gepanzert werden, die Granate hatte die Platten durchschlagen, und gerade dort hinten unter der Wasserlinie befand sich der Munitionsraum.

Die Wirkung war eine furchtbare, obgleich ich gar nicht viel davon gesehen habe.

Ich hörte nur einen ohrenbetäubenden Knall, oder eine ganze Reihe von schrecklichen Detonationen, sah vielleicht auch noch schwarze Massen durch die Luft fliegen — in derselben Sekunde aber flog ich schon selbst, gleichzeitig auch einen stechenden Schmerz in der Brust fühlend. Mehr wußte ich nicht von mir.

Mir ist es gewesen, als ob ich mehrmals zur Besinnung gekommen wäre, aber ein klares Verständnis meiner Lage hatte ich nie. Höchstens daß mich häufig heftiger Durst plagte, der immer schnellstens mit säuerlicher Limonade gestillt wurde.

Als ich aber endlich die Augen aufschlug und gleich mit ganz klarem Bewußtsein um mich schaute — Himmel, was erblickte ich da!

Nichts mehr und nichts weniger als die mir so wohlbekannte Einrichtung des kleinen Lazarettes der »Argos«. Und links neben meinem Patentkugelbett saß Helene und las in einem Buche, und rechts davon stand Doktor Isidor und drehte jener halb den Rücken, wohl aus dem Grunde, weil er gerade einen Kognak pfiff.

»Helene!«

Im Augenblick wunderte ich mich hauptsächlich darüber, daß meine sonst so kräftige, sonore Bruststimme nur so piepste.

Gleichzeitig in meiner unaussprechlich freudigen Überraschung streckte ich ihr die Hand hin, wollte die ihre ergreifen, und da erschrak ich wirklich. Nämlich weil mein rechter Hemdsärmel weit zurückgerutscht war, und weil ich in diesem nicht mehr einen fleischigen, muskulösen Arm erblickte, sondern nur noch einen Knochen.

Sie hatte ihr Buch sinken lassen, ein ebenso besorgter wie freudig erstaunter Blick traf mich.

»Herr Doktor, er ist wieder erwacht!« flüsterte sie ganz leise.

Schnell drehte sich Isidor herum.

»Na nu bleibt er ooch lähm.«

Dennoch wollten die beiden mich immer noch als Halbtoten behandeln, der nur einmal so vorübergehend wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, aber da gab es bei mir nichts, ich war plötzlich wirklich ganz lebendig geworden, und ich wollte nichts von Schonung wissen, wollte unbedingt sofortigen Bericht haben, ob ich nun 30 Pfund abgenommen hatte oder nicht.

Noch ein kurzes Sträuben, noch einiges Schluchzen mit Freudentränen, dann erfuhr ich alles.

Ich fasse es ganz kurz zusammen.

Der Schreck läßt sich denken, wie nach jener Sturmnacht der Waffenmeister vermißt wurde. Daß ich bei Befestigung der Hülfspardunen mitgearbeitet hatte, wußte man, aber abgehen hatte mich niemand sehen.

Wo war der Waffenmeister?

Über Bord gegangen, da gab es gar nichts weiter zu rätseln.

Und da gab es auch gar nicht mehr die tobende Wasserwüste abzusuchen.

Die Arbeit war nachts zwischen elf und eins geleistet worden, wohl nur da konnte es passiert sein, und erst um sieben zum ersten Frühstück wurde ich vermißt.

Nein, das war kein Schreck mehr, das war etwas ganz anderes, was die ganze Mannschaft erfaßte. Von Helene will ich nicht erst sprechen.

Gegen zehn war sie wieder aus ihrer Kajüte gekommen, ein ganz anderes Wesen.

»Kapitän Martin! Zurück nach den beiden Schwestern mit Volldampf!«

Hatte sie wieder eine Ahnung gehabt?

Sie konnte es hinterher nicht mehr sagen. Was man bei einer wahrhaftigen Vorahnung hinterher eigentlich auch niemals kann.

Sie selbst gab dann die Erklärung ab, daß sie jetzt nicht mehr planlos auf Abenteuer ausgehen, sondern sich erst an der Vernichtung oder am Abfangen des Piraten beteiligen wolle, der doch bestimmt einmal in seinem Schlupfwinkel zu erwarten sei.

Genug — es wurde nach den beiden Schwestern zurückgedampft.

Fünf Tage hatten wir uns also schon entfernt gehabt, in fünf Tagen bekam man die beiden Felsen wieder in Sicht.

Da trugen die Luftwellen einen dumpfen Knall herüber, dem noch ein ganz anderer folgte.

Also die »Argos« kam gerade dazu, wie der »Seeteufel«, der nur mit halber Kraft gedampft sein konnte, in die Luft flog.

Das englische Kriegsschiff kam herausgeschossen, um alles Lebendige noch zu retten, die »Argos« beteiligte sich an der Fischerei.

Aber lebendige Menschen sollten nicht aufgefischt werden können.

Es wiederholte sich hier fast genau dasselbe grausige Spiel, das wir an der chinesischen Küste mit den bezopften Piraten erlebt hatten.

Wohl schwammen noch genug Lebendige herum, aber lebendig wurde keiner herausgebracht. Regelmäßig schon erstickt, regelmäßig hatten sie ihre Zunge verschluckt.

Diese Übereinstimmung zwischen buddhistischen Chinesen und Novascotiamen war gar nicht so wunderbar, wenn man wußte, daß die letzteren russische Proslewiten waren, wenn auch vielleicht in Kanada geboren, germanischer Abstammung.

In dem ungeheuren Rußland leben zahllose Buddhisten, nicht nur im asiatischen. Auch in den Städten des europäischen Rußlands gibt es überall buddhistische Klöster und Tempel. Der Handel ist es, der diese Elemente hier vermischt.

Aber überhaupt, der griechisch—katholische Russe, hat mir immer einen mohammedanisch—buddhistischen Eindruck gemacht. Ich werde dieses Gefühl wenigstens nicht los, als ob hier eine Verschmelzung dreier Religionen vorläge. Besonders durch den Fatalismus des slawischen Russen. Wie er sich teilnahmslos auch in das schwerste Schicksal fügt, wenn es nun einmal nicht zu lindern ist. Der russische Soldat gleicht ganz dem türkischen — von fanatischer Tapferkeit, von apathischer Trägheit — der russische Bauer gleicht ganz dem indischen.

Doch wie dem auch sei — hier handelte es sich um eine religiöse Verbrechersekte, deren Mitglieder verpflichtet waren, ihre Zunge zu verschlucken — wozu also einige Vorübung unter sachgemäßer Leitung gehört — wenn sie jemandem in die Hände fielen, der sie zu einem Geständnis, zu einem Verrat zwingen konnte. Und die lebendig Herausgebrachten hatten sämtlich diesen Selbstmord begangen, auch der Schwerverwundetste, der durch die Explosion Verstümmelte, sobald er wieder zur Besinnung gekommen.

Nur einer hatte es nicht getan.

Und der war ich gewesen.

Na‚ diese Freude, wie ich aufgefischt worden war, gerade von der »Argos«!

Ich will sie nicht beschreiben.

Zwar war ich bewußtlos, hatte etwas davongetragen, aber es war gar nicht so schlimm. Eine Quetschung des Brustkastens, ohne daß eine Rippe gebrochen oder ein edlerer Teil verletzt worden war. Ich war bald wieder hergestellt, konnte Doktor Isidor mit Bestimmtheit versichern.

Aber ein anderes böses Symptom stellte sich ein. Ich bekam Nervenfieber. Genau sechzehn Tage hatte ich mich mit dem Tode herumgebalgt, ohne einmal zum Bewußtsein gekommen zu sein.

Gestern war der kritische Schweiß ausgebrochen, heute war ich Sieger über den Tod geblieben. Hatte ihm nur an die 30 Pfund Fleisch lassen müssen, obwohl ich doch sowieso nur ein magerer Häring gewesen war. Nur Schultern und Arm und Schenkel hatte ich immer gehabt. Das war jetzt auch vorbei. Nur noch abgenagte Knochen.

»Und Kapitän Satan?« fragte ich.

Der war nicht aufgefischt worden, weder tot noch lebendig mit verschluckter Zunge. Eben der Katastrophe zum Opfer gefallen, weggesackt.

»O, Helene, was dieser Mann mir gestanden hat,« flüsterte ich.

Sie war niedergekniet, immer meine Hände küssend.

»Ich weiß, ich weiß alles — wenigstens wenn es wahr ist, was Du in Deinen Fieberdelirien alles geredet hast — aber sprich nicht jetzt, Du darfst nicht, Du mußt Dich schonen, — und wenn sich nur Dich wiederhabe!«

Aber ich ließ mich nicht abhalten, ich mußte sofort berichten.

»Ob es wahr ist, was er mir da gestanden hat?«

Mit schmerzbewegtem Antlitz und doch von Glück ganz verklärt schaute sie mich an.

»Wenn ich nur Dich wiederhabe, Georg!« wiederholte sie, nichts weiter. Ich machte mich schnell wieder heraus.

Was ich in den sechzehn Tagen an Einnahme von Nahrungsmitteln versäumt hatte, wurde schnellstens nachgeholt. Ach, habe ich gegessen!

Und dann, ach, dieses Glücks wie sie alle nacheinander kamen, um mich zu sehen, alle meine Jungen und meine Kinder, große und kleine, grüne und rote, blaue und gelbe, schwarze und weiße, gerade und krumme, männliche und weibliche!

Wie ich dann als durchscheinendes Gerippe wieder an Deck mitten unter ihnen saß!

Ach das war ja die allerbeste Medizin für mich!

Doch überhaupt, dieses Nervenfieber, meine erste wirkliche Krankheit, schien mir sehr dienlich gewesen zu sein. Ich bekam einen ganz anderen Fleischansatz, mit dem mageren Häring schien es für immer vorbei zu sein.


52. KAPITEL.
RÄTSELHAFTE VORGÄNGE.

Es war in der Nacht vom 17. zum 18. November, am sechsten Tage, nachdem ich wieder zu den Lebendigen gehörte, mit welchem Termin an Bord unseres Schiffes eine neue Zeitrechnung begonnen hatte.

Während der 16 Tage, da es unentschieden gewesen, ob ich oder der Tod siegen würde, war die »Argos« immer zwischen dem 40. und 50. Breitengrad hin und hergekreuzt, so weit es der amerikanische und der afrikanische Kontinent gestattete, denn jetzt hatte nur Doktor Isidor das Kommando gehabt, und der hatte einen schnellen Klimawechsel nicht für gut befunden, hatte diese gemäBigte Breite für mich am besten gehalten.

Heute nach dem Abendessen hatte mir mein Tyrann die erste Pfeife erlaubt — ach, wie die schmeckte! — und dabei war beraten worden, wohin wir nun den Schnabel unseres wackeren Schiffes richten wollten.

»Nach Annobon, wohin die vierte geographische Bestimmung weist.

»Nicht daran zu denken!« rief Doktor Isidor sofort. »Nach so einer Fieberinsel unter dem Äquator, weiter fehlte doch nichts!«

»Das gebirgige Annobon ist ganz fieberfrei, ist sogar äußerst gesund!« konnte Kapitän Martin versichern.

»Trotzdem —— niemals erlaubte ich, daß sich mein Rekonvaleszent innerhalb der heißen Zonen an Land begibt!«

»Niemals wieder?« lachte ich.

»Bis Sie wieder ganz gesund sind.«

»Ach, Doktor, wenn Sie wüßten, wie gesund ich mich fühle!«

So war es in der Tat. Ich war schon am sechsten Tage völlig wieder hergestellt, nur mein ursprüngliches Gewicht fehlte noch, absolut nichts weiter.

Das wußte auch Doktor Isidor recht gut, aber er beharrte auf seinem Willen, 14 Tage müßte ich unhedingt noch als Rekonvaleszent gelten.

»Meine Herren,« sagte da die Patronin, »was mich anbetrifft, ich möchte überhaupt auf das weitere Aufsuchen dieser geographischen Punkte verzichten. Ich habe ein Haar in dieser Aufsucherei gefunden.«

Gut — wir waren alle damit einverstanden. Uns plagte die Neugier durchaus nicht.

»Wohin aber sonst, wenn wir nicht immer hier hin und her kreuzen sollen?«

»Nun,« fuhr die Patronin fort, »da schlage ich vor, wir verleben den Winter wieder auf Vancouver.«

Ja, das war ein Vorschlag, da stimmten wir alle jubelnd ein. Und diesmal sollte es noch anders werden als damals, Schneeballschlachten, Schneefestungen . . .

Ach, was wir uns schon alles ausmalten, wie unsere Jungen und vor allen Dingen die Kinder diesmal dort oben Weihnachten und den ganzen Winter feiern sollten.

Also sofort den Schnabel des Schiffes nach Nordwesten gerichtet, wieder der Magalhaesstraße zu, wenn wir diesmal nicht vorzogen, um Kap Horn zu segeln, wenn es auch nur denen zuliebe geschah, welche diese berühmte scharfe Seemannsecke noch nicht passiert hatten.

Dann bemerke ich noch nachträglich, daß die beiden Fräulein Pooteken gleich bei uns an Bord blieben, als die Unsrigen, ohne das Verlangen zu äußern, irgendwo einmal das Land zu betreten, um ein Lebenszeichen von sich nach der Heimat zu geben.

Die Sache war eben die, daß die beiden Mädchen in ihrer Heimat absolut keinen familiären Anhang und keine Freundschaft gehabt hatten, sie waren ja immer an Bord des Schiffes gewesen, und ihr Vater als angestellter Kapitän hatte nichts weiter als seine Heuer und Anspruch auf Pension gehabt, viel würde er sich wohl nicht erübrigt haben — und überhaupt, in den vier Jahren waren die beiden Mädchen doch sehr weltfremd geworden, und sie fühlten sich so überaus wohl bei uns, sie hatten deswegen schon genügend mit der Patronin gesprochen — kurz und gut, sie begannen als Argonautinnen ein neues Leben.

Um acht mußte ich mich zu Bett begeben, da half keine Widerrede, aber das Bett stand nicht mehr im Lazarettraum, sondern seit zwei Tagen schlief ich wieder in meiner Kabine, allein, so legte ich mich zur Koje und . . . rauchte wie schon gestern erst meine zwei Zigarren, auch ohne Doktor Isidors Erlaubnis.

Nachdem ich den letzten Stummel in der Spitze weggelegt hatte, schlummerte ich bald ein. Wie lange ich geschlafen hatte, wußte ich nicht, als mich die elektrische Klingel merkte, da brannte auch schon das elektrische Licht, Doktor Isidor war es, der eingetreten war. Meine Tür durfte ich während dieser Rekonvaleszentenzeit nicht verschließen, das war die einzige Vorsichtsmaßregel, die er bestimmt hatte.

»Sind Sie wach, Waffenmeister?«

»Wie Sie wohl merken.«

»Fühlen Sie sich wohl?«

»Lassen Sie doch endlich Ihre dumme Fragerei!l«

»Fühlen Sie sich kräftig genug, um ein wunderbares Naturphänomen zu beobachten? Daß Sie sich nicht etwa darüber zu sehr aufregen.«

»Ach, Quark!«

Schon war ich mit gleichen Füßen aus der Koje gesprungen, und auch bei einem kranken Seemanne dauert es nicht lange, um in die Oberkleider und in die Schuhe zu fahren, wenn er sich nur noch irgendwie rühren kann. Ich will damit sagen, daß man an Bord ja niemals besondere Toilette für die Nacht macht, unsereinem wenigstens kann es nicht passieren, daß man bei einem Schiffbruche im Hemd dasteht.

»Was für ein Naturphänomen?«

»Eine ganz, ganz rätselhafte Lichterscheinung. Machen Sie nur schnell, daß ich sie auch noch einmal zu sehen bekomme, sie kann ja jeden Augenblick wieder verschwinden! Ich hätte jemanden geschickt, um Sie holen zu lassen, aber ich hielt es für meine Pflicht, erst selbst nach meinem kranken Kindchen zu sehen. So, ziehen Sie noch eine warme Jacke an. Haben Sie nicht einen Kognak hier?«

Ja, den hatte ich, und während ich also eine warme Flausjacke äußerlich anzog, wattierte sich Doktor Isidor mit drei kalten »Konjacken« innerlich.

Dann waren wir unterwegs durch die Korridore.

»Welche Zeit ist es?«

»Gleich elf. Vor zehn Minuten hats angefangen. Wir waren alle noch an Deck, alles bat‚ Sie zu holen, ich erlaubte es nicht, es könnte Sie zu sehr aufregen, schließlich aber bracht ichs doch nicht übers Herz und ging selbst, um Sie zu holen.«

»Was ist es denn nur? Ein südliches Polarlicht?«

»Ach, Polarlicht! Eine Lichterscheinung an Deck unseres Schiffes, über die man den Verstand verlieren könnte, weil unsere ganze Schulweisheit wieder einmal in die Binsen geht. Kommen Sie nur, Sie werdens gleich sehen, wenns nur noch da ist! Kommen Sie nur, knöppen Sie Ihre Hosen morgen zu.«

Wir hatten das Deck erreicht. Alle waren versammelt, standen in großem Bogen enggedrängt vor der Kommandobrücke, wo das Phänomen am besten zu beobachten war. Auch die Kinder hatte man aus den Kojen geholt, daß auch sie die rätselhafte Erscheinung sahen.

Und in der Tat, das war ja etwas ganz, ganz Rätselhaftes!

Zunächst bemerke ich, daß es eine windstille, sehr finstere Nacht war, mondlos, der Himmel bedeckt, mit Regen drohend. Der Seegang war mäßig, das Schiff schilingerte nur wenig, stampfen tat es gar nicht.

Ich glaubte, wir hätten gesegelt, da ich doch nicht das Zittern der Schiffsplanken durch die Schraube vernahm, aber die Maschine war schon vor meinem Wecken abgestellt worden, einesteils, um das Lichtphänomen auch bei still liegendem Schiffe zu beobachten, andernteils, um auch den Heizern und Maschinisten Gelegenheit zu geben, das Wunder zu beobachten, denn in dieser Hinsicht ging es ja an Bord unseres Schiffes ganz anders zu als sonst auf irgend einem Fahrzeug, ganz familär. Wenn es einmal etwas Besonderes zu sehen gab, dann mußte alles heran, jede Arbeit konnte liegen bleiben. Natürlich alles mit Ausnahme.

Die Sache war nun folgende:

Genau dreiviertel elf war es gewesen, als der auf der Kommandobrücke stehende erste Offizier die Erscheinung zuerst gesehen hatte.

Vor der Kommandobrücke huschte an Deck ein kreisrunder Lichtschein herum.

Das klingt sehr harmlos.

Aber jeder Lichtschein muß doch irgend eine Lichtquelle haben. Wenn er nicht direkt von dieser kommt, so muß er von ihr durch Spiegelung reflektiert werden, durch einfache oder durch mehrfache.

Solch eine Lichtquelle gab es an Bord nicht, also war auch eine Reflexspiegelung ausgeschlossen. Es brannte die vorschriftsmäßige Laterne mit weißem Licht, an Backbord das rote und an Steuerbord das grüne Licht, dann noch in der Bussole die den Kompaß erleuchtende Doppellaterne, die man aber von außen gar nicht sah.

Andere Lichter waren an Decke nicht vorhanden, alle Türen und Luken geschlossen, die unter Deck befindlichen Lichtquellen kamen gar nicht in Betracht.

Außerdem war es ein ganz intensiv weißes Licht, höchstens mit elektrischem Bogenlicht zu vergleichen. Das Licht der Toplaterne, wohl als »weißes Feuer« bezeichnet‚ war dagegen gelb zu nennen, und elektrisches Bogenlicht, wie zum Scheinwerfer benutzt, brannte jetzt überhaupt nirgends. Oder nur ganz unten im Maschinenraum.

Nach einigem Besinnen kam der erste Steuermann zu der Ansicht, daß hier ein Naturphänomen oder doch irgendwie ein Rätsel vorliegen müsse, und dieser Ansicht waren auch schon der erste Bootsmann und einige Matrosen geworden, die sich unterdessen eingefunden hatten.

Die ganze Gesellschaft, worunter ich also die Hauptpersonen des Schiffes verstehe, saß hinter der Kommandobrücke, sie kamen hervor . . .

»Ja, das ist etwas ganz Merkwürdiges. Wo kommt denn dieser Lichtschein her?«

Der Kapitän, der schon schlief, weil er um Mitternacht die dritte Wache für den fehlenden Steuermann antrat, wurde geweckt und kam.

»Well, da finde ich keine Erklärung.«

Da sieht man also wohl, daß es wirklich etwas ganz Rätselhaftes sein mußte.

So stand alles noch, wie auch ich kam.

Der kreisrunde Lichtschein wanderte immer vor der Kommandobrücke hin und her, aber nicht regelmäBig, sondern einmal dahin, einmal dorthin, manchmal schnell, manchmal langsam, blieb stehen, drehte direkt um, wanderte im Kreise, und so fort.

Wenn er einmal stand, so konnte man mit dem Metermaß messen, daß sein Durchmesser genau 20 Zentimeter betrug.

Dabei konnte man mit absoluter Sicherheit konstatieren, daß das Hin— und Herwandern nicht etwa von den Schiffsbewegungen herkam. Nein, der Lichtschein machte ganz, ganz selbständige Bewegungen. Erstens war es ganz gleichgültig, ob das Schiff schnell oder langsam fuhr oder ganz stand. Die Lichtscheibe hielt sich immer vor der Kommandobrücke auf. Und wenn sich das Schiff stark nach Backbord überlegte, sich also auf Steuerbordseite hob, so hätte der Lichtschein doch auch diese Seite hinaufklettern müssen. Aber nein, er ging dahin, wohin es wollte, manchmal ging er dann gerade nach Backbord hinüber, allen optischen Gesetzen zuwider, bis auf die Reeling hinauf.

Es kam auch vor, daß er plötzlich auf der Treppe oder auf der Kommandobrücke selbst lag. Mit Vorliebe aber hielt er sich auf der großer Luke auf, die sich gerade vor der Kommandobrücke befand, eine erhöhte Fläche von 18 Quadratmetern.

Außerdem wurde noch etwas anderes ganz Merkwürdiges konstatiert.

Es kam ja oft genug vor, daß der Lichtschein unter die Menschen geriet, an ihnen hinaufkletterte oder huschte, daß er ihnen direkt ins Gesicht fiel.

Da nun wurde konstatiert, daß dieses Licht trotz seiner intensiven Weiße durchaus nicht blendete. Es war davon überhaupt gar nichts zu merken. Das Gesicht des Betreffenden wurde ganz hell, aber die Augen brauchte man nicht zu schließen. Aber es war auch dann die strahlende Lichtquelle nicht zu erblicken. Und da nützte es nichts, daß man sich an den Boden legte und wartete, bis der Lichtschein einmal gerade über das Gesicht fuhr. Keine Blendung, keine Lichtquelle.

Doktor Isidor hatte sich einen großen Spiegel bringen lassen, zwei, erst einen einfachen, dann einen Hohlspiegel, es gelang ihm, den Lichtschein mehrmals abzufangen.

»Wunder über Wunder, dieses intensive Licht läßt sich nicht reflektieren!«

Nein, es ging nicht. Der Lichtschein war auch in den Spiegeln zu sehen, gab aber keinen Widerschein.

Wie sollte man sich das erklären? Was für eine Art von Licht war denn das?

So war es schon zehn Minuten vor mir gegangen, so ging es auch noch einige Minuten in meiner Gegenwart fort.

Da aber plötzlich veränderte sich das Phänomen, in einer Weise, daß wir alle einen heftigen Schreck bekamen.

Immer mehr schien es, als habe es der Lichtschein auf die große Luke abgesehen, immer länger wanderte er nur auf dem Riesendeckel herum, selten einmal, daß er über den Rand hinauskam, er schlüpfte dann schleunigst auf den erhöhten Deckel zurück.

Da plötzlich gerade wie die Schiffsglocke mit drei Doppelschlägen elf Uhr glaste, blieb der Lichtschein für längere Zeit genau in der Mitte des Lukendeckels liegen, auch wieder ganz unnatürlich, er hätte sich doch wenigstens durch die Schwankungen des Schiffes bewegen müssen, aber das tat er nicht, er blieb wenigstens zehn Sekunden ganz still liegen, und dann plötzlich begann der Lichtschein zu schwellen.

Zu schwellen — anders kann ich mich nicht ausdrücken.

Die flache Scheibe, eben nur ein Schein, verwandelte sich in einen Körper.

Er wurde höher, bis es eine vollkommene Kugel war, auch wieder von 20 Zentimeter Durchmesser, die jetzt eben als Kugel hin und her zu rollen begann.

Man muß es gesehen haben, um unseren Schreck begreifen zu können.

»Vorsicht, ein Kugelblitz!« erklang es entsetzt, und alles prallte auseinander.

Linienblitze, Flächenblitze, Kugelblitze — so wird unterschieden.

Auch von den letzteren hat wohl jeder schon gehört, so selten sie auch beobachtet werden mögen. Am häufigsten auf dem Meere, an Bord des Schiffes. Ihre Entstehung ist noch gänzlich unbekannt, obwohl man sie schon künstlich erzeugen kann, zwischen zwei feuchten Metallplatten unter hoher elektrischer Spannung. In der Natur bilden sie sich bei gewitterschwangerer Atmosphäre plötzlich auf irgend einem Gegenstand, rollen darauf herum, mit Vorliebe auf Menschen oder überhaupt lebenden Wesen, seltsamerweise merkt man selbst gar nichts davon, plötzlich ein betäubender Knall — die Elektrizitätskugel hat sich irgendwohin entladen, das lebende Wesen aber, Mensch oder Tier, bleibt stets unbeschädigt. Diese Kugelblitze sind überhaupt nie so stark wie die anderen. Mit ihnen zu tun haben mag aber natürlich niemand.

Eigentlich hat es gar keinen Zweck, daß ich hier von Kugelblitzen erzähle, denn . . .

»I wo, das ist doch kein Kugelblitz, der sieht ganz anders aus und benimmt sich ganz anders!« rief Doktor Isidor sofort und ging der weißleuchtenden Kugel auch gleich zu Leibe.

Es war wieder dasselbe. Auch diese Leuchtkugel hatte genau dieselben Eigenschaften wie der Lichtschein, nur daß es bei der vollen Kugel noch viel deutlicher zu bemerken war. Hielt man eine Hand hinein, so war diese in der finsteren Nacht hell erleuchtet, selbst schwarzer Samt erschien intensiv weiß, aber das merkwürdigste dabei war, daß die Kugel außer sich selbst nicht den geringsten Lichtschein verbreitete.

»Auch sie rollte wieder auf dem Lukendeckel herum, kam gar nicht mehr herab. Trat jemand auf die Luke, so ging die Leuchtkugel natürlich durch ihn hindurch, obgleich sie sonst ohne den geringsten Eindruck auf dem Deckel herumrollte, als wäre es eine Kugel aus festem Material. Aber auch kein Hüpfen kam vor, wie dies der Kugelblitz immer tut.

Daß wir es aber hier mit keinem solchen zu tun hatten, davon waren wir nun schon längst überzeugt.

Auch ich betrat einmal die Luke, um mir das rätselhafte Phänomen durch die Füße laufen zu lassen, um meine Hände hineinzutauchen, wobei man weder etwas von Wärme noch von Kälte verspürte.

Nun aber geschah das Seltsame.

Ich zog meine Hände zurück, trat zurück, um die Luke zu verlassen. Die Kugel rollte mir nach.

Nun, das war eben Zufall, das hatte sie bei anderen wohl auch schon einmal gemacht.

Wie ich aber nun von der Luke herabgestiegen war, sprang auch sie herab, rollte vor meine Füße, blieb vor ihnen liegen.

Ich ging weiter zurück — die Kugel rollte mir nach.

Ich ging links — die Kugel folgte mir.

Ich ging rechts — die Kugel mir immer nach.

Ich ging bis vor an die Back, das erhöhte Vorderteil des Schiffes — die Kugel mir nach, entfernte sich zum ersten Mal von ihrer alten Stelle, die sie sonst immer einhielt.

Ich ging unter der Kommandobrücke durch — die Kugel blieb mir auf den Fersen.

Drehte ich mich um, so blieb sie mir vor den Füßen liegen.

Ging ich weiter, blieb stehen, wandte ihr aber den Rücken, so rollte sie um mich herum, oder ging wesenlos durch meine Beine und lagerte sich vor meinen Füßen.

Ich stieg die Treppe zur Kommandobrücke hinauf — die Feuerkugel hüpfte ebenfalls die Stufen hinauf. Und zwar hüpfte sie diesmal wirklich ging nicht wesenlos durch das Holz hindurch war plötzlich oben. Nein, wie ein beseelter Gummiball war sie die Treppe hinaufgehüpft.

Ich trat in das Kartenhaus — die Kugel mir nach.

Ich stieg wieder hinab — die Kugel hüpfte ebenfalls die Treppe hinab, immer dicht hinter mir.

Ich ging über Deck nach hinten — die Kugel rollte mir nach.

Ich trat in die Kajüte — die Kugel wich nicht von mir.

Ich ging durch verschiedene Korridore — die geisterhafte Kugel immer wie ein gehorsamer Pudel hinter mir her.

Ich wieder an Deck, nach der Kommandobrücke mein feuriger Kugelpudel hinter mir her.

Ich streckte die Hand aus, beugte mich etwas . . .

»Komm, mein Püppchen, hoppla auf meine Hand!«

Ich hatte nur Scherz gemacht — nein, faktisch, die Kugel schnellte empor und saß auf meiner Hand, blieb drauf sitzen, ich konnte die Hand bewegen wie ich wollte. Als wäre es eine leuchtende Kegelkugel. Freilich doch wieder in ganz anderer Weise. Erstens fühlte ich gar kein Gewicht, und zweitens, schloß ich die Hand zur Faust, dann saß sie eben oben auf der Faust.

Das Staunen der Leute, die mir zum Teil immer gefolgt waren, läßt sich denken.

Aber eines kann ich gleich behaupten: von einem Entsetzen war sicher bei keinem einzigen auch nur eine Spur vorhanden.

Das war wirklich etwas ganz Merkwürdiges, unsere Gemütsverfassung bei alledem.

Sehr erschrocken waren wir nur gewesen, als sich der flache Lichtschein plötzlich in eine volle Kugel verwandelt hatte, weil wir eben an einen gefährlichen Kugelblitz gedacht hatten.

Aber des Weiteren nun, wie die an sich schon so rätselhafte Feuerkugel sich noch viel rätselhafter benahm das grenzenlose Staunen verwandelte sich immer mehr in fröhliches Lachen.

»Das war wirklich etwas ganz Merkwürdiges dabei, diese unsere Gemütsverfassung.

»Well, das ist Zauberei!« sagte Kapitän Martin, die Meinung aller aussprechend.

Ja natürlich, an was sonst als an Zauberei sollte man denken? Aber von Furcht oder nur Bestürzung darüber gar keine Spur.

»Das ist auch die Bestätigung, daß das eine ganz reelle Erscheinung aus der vierten Dimension ist!« sagte da Doktor Isidor.

»Was meinten Sie da?!«

»Weil wir uns so gar nicht vor dem Phänomen fürchten.«

»Wir verstehen Sie nicht.«

»Schopenhauer sagt: eine reelle Geistererscheinung erkennt man stets daran, das man sich vor ihr nicht im geringsten fürchtet, sondern sie nur mit Interesse betrachtet.«

»Was, Doktor, Sie glauben doch nicht etwa an Gespenster?!« erklang es von mehreren Seiten, auch aus meinem Munde, der ich noch die Feuerkugel auf meiner Hand hielt.

»Ja, ich glaube, daß es außer uns noch Wesen gibt, in einer für unsere Sinnen unerkennbaren und auch für unser Gehirn unfaßbaren Welt, welche wir die der vierten Dimension nennen, im Gegensatz zu unserer dreidimensionalen.«

Mit einiger Feierlichkeit hatte es Doktor Isidor gesagt.

Sapperlot noch einmal!

Hatten wir doch noch nicht das geringste davon gemerkt, daß dieser krummbeinige Jude an so etwas glaubte!

Wir hatten immer gedacht, der glaube nur an seine verschiedenen Wissenschaften und an den Spiritus, was zwar auch »Geist« heißt, der aber doch ein ganz anderer ist.

Nie hatte er von so etwas gesprochen, hatte über den Sternkieker immer nur blutige Witze gemacht.

Und jetzt offenbarte der sich so!

»Ja, ich glaube an sogenannte Geister,« setzte er jetzt noch hinzu, »und wenn solche menschlichen Geister wie Kant und Schopenhauer an überirdische Geister geglaubt haben, so brauche ich mich dessen Geständnisses wohl nicht zu schämen.«

Bevor diese Unterhaltung weiter geführt werden konnte, geschah wieder etwas, was nun alles Vorhergegangene übertreffen sollte.


53. KAPITEL.
EINE BOTSCHAFT AUS UNBEKANNTER WELT.

Plötzlich sprang die Kugel von meiner Hand herab, auf den Lukendeckel, rollte genau nach der Mitte, hier blieb sie stehen, plötzlich zerfloß sie, aber in ganz eigentümlicher Weise, nach allen Seiten hin flossen und zuckten Lichtstreifen, die flossen und zuckten einige Sekunden durcheinander, dann wie ein Ruck, und da stand auf der schwarzen Teerleinwand leuchtend geschrieben, auf Deutsch in Kurrentschrift:

»Fürchtet Euch nicht!
Ich liebe Euch!«

Wieder nicht der geringste Schreck unsererseits von Entsetzen gar nicht zu sprechen — aber unser Staunen läßt sich denken.

»Nein, wir fürchten uns nicht!« rief ich dann schnellstens.

Sofort flossen die Buchstaben wieder zu Strahlen zurück, zuckten zu der vorigen Kugel zusammen — da aber gingen schon wieder neue Strahlen aus, und mit einem Ruck hatten sich andere Buchstaben und Zeilen gebildet, auf dem Lukendeckel stand ein ganzer Brief in leuchtenden Buchstaben, jeder zehn Zentimeter hoch, so daß auch Fernstehende mit Bequemlichkeit lesen konnten.

»Georg Stevenbrock! Ich will mit Dir sprechen. Aber ich kann mich Dir vorläufig auf keine andere Weise verständlich machen als auf diese. Und Du mußt mir vorläufig schreiben. Nimm einen Bogen Papier und Bleistift und schreibe deutlich Deine Fragen und Antworten auf.«

Die leuchtende Schrift blieb stehen.

»Well, das ist Hexerei!l« sagte Kapitän Martin und biß sich ein neues Stück Kautabak ab.

Andere Rufe des Erstaunens erklangen ja noch genug, ich aber sorgte vor allen Dingen dafür, daß schnellstens ein Tischchen mit Stuhl zur Stelle geschafft wurde, ferner Papier, wozu mir gleich ein ganzer Block Quartbogen gebracht wurde.

Also ich setzte mich ganz gemütlich in Positur, leckte gewohnheitsmäßig den Bleistift an und schrieb mit sehr großen Buchstaben.

»Kannst Du das lesen?«

Zusammen zuckten die Buchstaben, wieder eine einzige Kugel bildend, sie lief wieder auseinander:

»Ja,« stand jetzt aus der Luke, »Du brauchst nicht so groß zu schreiben.«

Und nun ging das Gespräch weiter. Ich schrieb mit Bleistift auf mein Papier, jenes andere Wesen mit Licht auf den schwarzen Lukendeckel, und zwar ganz bedeutend schneller als ich. Es war immer nur ein Zuck. Aber zwischen Verlöschen und Neuentstehen wurde stets erst die Kugel gebildet.

»Wer bist Du?«

»Ein irdischer Mensch wie Du.«

»Das glaube ich nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Das ist doch ganz geisterhaft.«

»So geisterhaft, wie es noch vor wenigen Jahren gewesen wäre, wenn plötzlich jemand drahtlose Telegraphie benutzt hatte.«

Well, mein Partner hatte recht, ganz recht! Nur nicht sich ins Boxhorn jagen lassen!

»Was ist das für ein Licht?« war meine nächste Frage.

»Ein besonderes Licht, für Euch so unverständlich wie noch vor wenigen Jahren die von Professor Röntgen entdeckten sogenannten X —Strahlen aller Welt noch unbekannt waren.«

Wiederum sehr wahr gesprochen!

»Wie heißt Du?«

»Nenne mich Schwester Anna.«

»Ah, Sie sind eine Dame?«

»Ein Weib — nenne mich Du.«

»Wo bist Du jetzt?«

»Das erfährst Du nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich nicht will.«

Dann war jede weitere Frage deswegen zwecklos.

»Wie bringst Du dieses Licht und diese Spiegelung zustande?«

»Es ist keine Spiegelung.«

»Sondern?

»Direkte Lichterzeugung.«

»Wie machst Du das?«

»Laß solche technische Fragen, ich darf sie nicht beantworten.«

»Wie Du befiehlst.«

»Ich befehle Euch nichts, darf Euch nichts befehlen, darf Euch nur immer bitten.«

»Das war auch nicht so von mir gemeint, wir lassen uns nichts befehlen!« mußte ich Starrkopf sogar in solch einer Situation niederschreiben. »Was hast Du uns zu bitten?«

»Daß Ihr mich liebt.«

»Da müssen wir Dich doch erst etwas näher kennen lernen.«

»Ihr sollt mich näher kennen lernen.«

»Los!«

»Ich liebe Euch weil Ihr Euch untereinander liebt.«

»Danke!« schrieb ich und was hätte ich auch weiter schreiben sollen. Dabei, bemerke ich erst jetzt, sprach ich das Geschriebene stets laut mit, daß es alle hören konnten, sonst weiter nichts.

»Seit zwei Jahren schon beobachte ich Euch.«

»So.«

»Noch nie habe ich einen begrenzten Raum gesehen, in dem sich so viele Menschen befinden, die sich gegenseitig ohne jeden Eigennutz so lieben.«

»Danke. Du kannst uns immer sehen?«

»Ja.«

»Auch unter Deck?«

»Ja.«

Bei solch einer Erklärung hat unsereins ja nun gleich merkwürdige, kniffliche und kitzlige Gedanken.

Und als ob diese erraten würden, so entstanden dort gleich neue Zeilen.

»Fürchtet Euch nicht. Nur einem reinen Wesen ist solche Macht gegeben.«

»Danke!l« antwortete ich wieder. »Und was hast Du nun zu bitten?«

»Daß Ihr mir vertraut.«

»Das kommt ganz darauf an!« war und blieb ich starrköpfig.

»Mir ist von Gott befohlen worden, daß ich Euch unter meine Führung nehmen soll.«

»Du verkehrst mit Gott?« fragte ich keck, und es war doch auch das einzig Richtige.

»Ja, so wie jeder Mensch mit Gott verkehrt.«

»Ich tu es nicht, kann es nicht.«

»Doch, Du tust es.«

»Wie denn?«

»Durch Dein Gewissen.«

»Na gut. Läßt sich hören. Und?«

»Ich bitte Euch innigst: forscht nicht den geographischen Ortsbestimmungen nach, die Euch durch Zufall in die Hände gefallen sind.«

Hallo!

Da freilich mußten wir stutzen.

Doktor Isidor brauchte mich nicht in den Rücken zu kuffen — ich wußte schon, was ich zu fragen hatte.

»Was weißt Du von diesen Ortsbestimmungen?«

»Ich weiß davon.«

»Du willst Dich nicht weiter darüber äußern?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich darf nicht.«

»Wer verbietet es Dir?«

»Gott.«

»Schwester Anna — das ist mir in diesem Falle zu weitläufig ausgedrückt.«

»So will ich sagen: eine innere Stimme warnt mich Euch hierüber mehr zu offenbaren, und diese innere Stimme trügt nie, nie‚ deshalb gehorche ich ihr.«

»Sokrates' Dämon!« flüsterte mir Doktor Isidor zu.

Ich wußte recht wohl, was er meinte.

Dieser alte Schwede aus Griechenland erzählt ja auch immer von seinem »Dämon«, der ihm rät und ihn warnt, womit er ja nichts weiter als die Stimme seines Gewissens meint, die sich ausbilden läßt, man muß nur immer recht genau lauschen. Das gebe ich alles recht wohl zu. Aber das ging mich jetzt gar nichts an.

»Kennst Du den Kapitän Satan?«

»Ich weiß, wen Du meinst.«

»Bist Du mit ihm verbunden?«

»O nein. Er ist ein Kind der Finsternis, ich bin ein Kind des Lichtes.«

»Schön. Weißt Du, was wir in den beiden Felsen bei den Falklandsinseln gefunden und erlebt haben?«

»Ich weiß alles.«

»Bist Du allwissend?«

»Nein. Aber diesen Fall kenne ich, ich habe Euch beobachtet.«

»Wie ist Kapitän Satan zu der Kenntnis dieser Felsenschwestern und ihrer Einfahrt gekommen?«

»Auch er hat durch Zufall davon Kenntnis bekommen.«

»Von wem?«

»Durch einen Mann unserer Gemeinschaft, der uns einige Geheimnisse geraubt hat.«

»Was für Geheimnisse?«

»Stelle nicht solche Fragen.«

»Was ist das für eine Gemeinschaft?«

»Eine Gemeinschaft von Gottesmenschen in Christi Namen. Ich bitte Euch innigst, diese angegebenen Punkte nicht aufzusuchen.«

»Weshalb nicht?« mußte ich doch immer wieder fragen.

»Überall droht Euch Gefahr.«

»Was für eine Gefahr?«

»Ihr würdet sie kennen lernen, wenn Ihr meiner Bitte nicht Gehör schenktet, Euch dennoch hinbegebt.«

»Wir sind nicht die Männer, die sich durch eine einfache Warnung vor irgend einer Gefahr zurückschrecken lassen, wenn einmal ein Entschluß gefaßt worden ist.«

Diesmal erschienen auf der Lake nur zwei Worte, aber auch riesenhaft geschrieben.

»Recht so!«

Nach einigen Sekunden rollten diese zwei Riesenworte wieder zur Kugel zusammen, es entstanden wieder Zeilen von früherer Buchstabengröße.

»Ich bitte Euch, meiner Warnung Gehör zu schenken. Da ich aber die Gründe Eurer Weigerung, wenn nicht Eures Mißtrauens anerkenne, so will ich Euch erst einen Beweis geben, wie ich nur Euer Bestes will, wie Ihr mir daher vertrauen dürft.«

»Nun?«

»Ja der zweiten Kajüte vorn im Zwischendeck, die Ihr noch nicht benutzt habt, liegt unter der Matratze der untersten Koje eine Korallenviper im erstarrten Zustande, aber lebend. Tötet sie.«

Wir starrten ja nicht schlecht auf die leuchtende Schrift.

Dann aber fragte ich nicht erst weiter, sondern nahm schnell ein paar Leute mit, ausgerüstet mit den nötigen Instrumenten.

Und wahrhaftig, wie wir in der betreffenden Kabine und Koje die Roßhaarmatratze mit der genügenden Vorsicht hochheben, da sehen wir dort drunter aus der zweiten Matratze die prachtvollste scharlachrote Korallenviper zusammengeringelt liegen!

Ein kräftiger Hieb, und aus war es mit ihr, aber wie sie sich im Todeskampf noch gewälzt hatte, zischend mit den furchtbaren Giftzähnen herumschnappend, das hatte gezeigt, wie lebendig sie noch gewiesen war!

Es ist eine brasilianische Schlange, eine der giftigsten. Wenn die einmal gebissen hat, da ist nichts mehr zu machen. Die hatte sich, wahrscheinlich als wir dort im Urwald gelegen, an Bord geschlichen. In den kälteren Breitengraden war sie in einen Winterschlaf gefallen. In der heißen Zone wäre sie schon wieder lebendig geworden.

Ja, und erst hatten die beiden Schwestern diese Kabine beziehen sollen, nur durch einen Zufall waren sie in eine andere gekommen. Und es war gar nicht so sehr gesagt, daß Siddy oder ein anderer Steward die Matratze erst gelüftet hätte. Und auch durch die Körperwärme der Schlafenden wäre die Schlange schon wieder lebendig geworden. Na‚ das hätte ja eine schöne Geschichte geben können!

Wir wieder hinauf und den anderen erzählt, unseren Fund vorgezeigt.

Wir konnten uns nur groß ansehen.

In der Mitte des Lukendeckels lag noch die feurige Kugel, und ich setzte mich wieder an das Tischchen, nahm den Bleistift zur Hand.

»Liest Du mit?«

Die Kugel floß auseinander, die Strahlen ordneten sich zu Buchstaben.

»Ich sehe Euch immer.«

»Wir haben die Schlange gefunden und getötet!« schrieb ich da noch unnötigerweise.

»Ich weiß es.«

»Wo ist sie zu uns an Bord gekommen?«

»Als Ihr an dem Eldoradoberge laget, ist sie über einen Ast des Euch nächsten Baumes an Bord geschlüpft.«

»Das wußtest Du schon immer?«

»Ja.«

»Weshalb hast Du uns da nicht schon früher oder überhaupt gleich gewarnt?«

»Weil ich noch nicht durfte. Stelle auch nicht solche Fragen.«

Mir zitterte das Herz mehr als die Hand, als ich die nächsten Worte schrieb:

»Edle Retterin, wir danken Dir von ganzem Herzen! So wollen wir Dich auch nicht erst fragen, ob Du in der Zukunft lesen kannst, wollen also nicht wissen, ob die Giftschlange ohne Dein Eingreifen noch Unheil angerichtet hätte oder nicht, sondern wir wollen uns fernerhin Deiner Führung anvertrauen!«

So hatte ich geschrieben und auch gesprochen, und ich glaube, ich hatte aus dem Herzen aller gesprochen.

Die meisten waren ja überhaupt mit meiner bisherigen Starrköpfigkeit auch gar nicht einverstanden gewesen, am wenigsten die Patronin.

»Für dieses Vertrauen danke auch ich Dir!« wurde leuchtend zurückgeschrieben. »Also Du versprichst mir, jene Punkte nicht aufzusuchen.«

»Ich verspreche es Dir hiermit.«

»Und ich weiß, daß Dein Wort für alle gilt.«

»Es gilt für alle!« durfte ich ganz bestimmt versichern.

»So will ich Euch einen Ersatz dafür geben, was Ihr verloren habt. Wißt Ihr, was Ihr verloren habt?«

»Die Schätze des Flibustiers?« fiel mir gerade nur ein, obgleich im Hintergrunde meines Gehirns vor allen Dingen eine alte, schmutzige, verkohlte Holzpfeife auftauchte, aus der ich aber am liebsten rauchte, und die ich schon seit vier Wochen vermißte.

»Nein, diese Schätze bedeuten für Euch keinen Verlust, das habt Ihr doch durch Euer ganzes Verhalten offenbart, und Menschen, die sich so untereinander lieben, wie Ihr es tut, brauchen auch kein Gold und Geschmeide, denn sie besitzen schon das Köstlichste was diese Welt bieten kann . . . «

Die Buchstaben mußten erst zur Kugel zusammen rutschen, weil schon der ganze Deckel vollgeschrieben war.

»Sondern?« fragte ich unterdessen.

Die Buchstaben ordneten sich wieder.

»Habt Ihr nicht bedauert, das Geheimnis der beiden steinernen Schwestern mitten im herrenlosen Meer nicht als das Eure behalten zu können, weil sich dort schon ein Pirat eingenistet hatte? Weil Ihr die vorgefundene Seeräuberbeute einem englischen Kriegsschiffe anzeigen mußtet?«

»In der Tat, das haben wir sehr bedauert.«

»Ihr hättet dieses Geheimnis lieber für Euch behalten.«

»Natürlich.«

»Um Euch dort festzusetzen.«

»Na‚ wenigstens um eine geheime Station für unser Schiff zu haben, von der die andere Welt nichts weiß.«

»Hierzu würde sich auch das Eldoradoplateau eignen.«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Erstens hat das schon seinen Besitzer, sogar gleich zwei, Brasilien sowohl wie Frankreich macht Anspruch darauf, und dann ist auch eine sechstägige Stromfahrt nötig, um erst hinzukommen.«

»Richtig! Aber wäre es Euch nicht lieb, solch ein herrliches Eldoradoplateau mitten im freien Meere zu haben, für jedes andere Schiff völlig unzugänglich, nur Ihr wißt einen geheimen Landungsplatz?«

»Na‚ und ob uns so etwas lieb wäre!« ließ ich meinen Bleistift jauchzen, welche etwas gewagte Redewendung der geneigte und mir wohlwollende Leser schon verstehen wird.

»So will ich Euch solch einen zugänglichen Felsen im freien, herrenlosen Meere anweisen, sehr ähnlich den beiden steinernen Schwestern, aber doch wieder ganz, ganz anders, oben darauf ein herrlich bewaldetes Plateau.«

»Wir danken verbindlichst!« antwortete ich nur, während die Patronin schon jubelnd in die Hände klatschte.

»Nur dadurch den steinernen Schwestern so ähnlich, daß auch dort nur eine mächtige Ölquelle die Fahrt durch die Brandung ermöglicht.«

»Herrlich!«

»Durch dieselbe Brandung, welche jedes andere Schiff, auch den verwegensten Schiffer abhält, eine Landung zu versuchen.«

»Ich verstehe.«

»Von der Einfahrt, die Ihr benutzen werdet, um in einen sicheren Hafen zu gelangen, ohne die geringste Gefahr, ist dort überhaupt gar nichts zu sehen.«

»Es wird immer schöner.«

»In einem gemäßigten Klima, nicht zu vergleichen mit der rauhen, sturmgepeitschten Zone der beiden Schwestern.«

»Wo liegt dieser Felsen?«

»Ihr werdet es erfahren.«

»Wann?«

»Wenn es Zeit dazu ist. Bitte, frage jetzt nicht weiter. Es müssen erst Vorbereitungen getroffen werden, daß Ihr diesen Felsen auch beziehen könnt. Gegenwärtig wohnen noch Menschen darauf.«

»O weh! Was für welche?«

»Welche von unserer Gemeinschaft.«

»Sie wollen ausziehen?«

»Ja.«

»Unseretwegen?«

»Ja.«

»Das tut uns leid . . . «

»Es ist beschlossen, genug! Ihr werdet dann ein so gut wie jungfräuliches Land dort vorfinden, mindestens keine Spur, daß Menschen dort schon gehaust haben.«

»Wir danken, und wir können warten.«

»Erst müßt Ihr mir aber noch eine Bitte erfüllen.«

»Befiehl.«

»Ich habe Euch nichts zu befehlen.«

»Aber ich habe schon gesagt, daß wir uns Deiner Führung fernerhin bedingungslos anvertrauen.«

»Gut. Ihr wolltet nach Vancouver fahren, um dort den nördlichen Winter zu verbringen?«

»Ja.«

»Ich bitte Euch, diesen Plan aufzugeben.«

»Ganz wie Du be . . . wünschest.«

»Fahrt jetzt zuerst nach Gibraltar.«

»Wir werden hinfahren.«

»Dort wird sich Euch ein Mann vorstellen, Euch mit einer Bitte angehen. Gewährt ihm diese Bitte, helft ihm, führt sein Vorhaben aus, so abenteuerlich es auch klingen mag.«

»Näheres darüber können wir noch nicht erfahren?«

»Ich weiß selbst noch nicht mehr.«

»Ich meine: daß nicht etwa eine Verwechslung passiert. Denn Bittende mit den abenteuerlichsten Vorschlägen nähern sich uns in jedem Hafen immer massenhaft.«

»Ich werde Euch ein Zeichen geben, wenn der richtige Mann kommt.«

»Schön. Du bleibst mit uns fernerhin immer in Verbindung?«

»Nein. Es kann nicht sein. Auch ich habe einem anderen zu gehorchen, und dies erlaubt er mir nicht — noch nicht.«

»Schade. Was für ein Zeichen wirst Du uns geben? Daß wir darauf achten.«

»Ich werde, wenn ich mit Euch sprechen will, Eure Schiffglocke ertönen lassen.«

Wir blickten nach der unter der Kommandobrücke hängenden Glocke, an welcher die Glasen geschlagen wurden, die Zeit durch einfache und doppelte Schläge.

Auch das brachte jenes geheimnisvolle Wesen fertig, diese Glocke nach Belieben ertönen zu lassen?

Das wurde ja immer mysteriöser!

»Darf ich Dich anrufen?« fragte ich weiter.

»Nein, es darf nicht sein.«

»Schade. Unter keinen Umständen?«

»Nein. Es darf nicht sein. Aber ich bin bei Euch alle Zeit.«

»Danke, Du bist unsere Schutzgöttin . . . «

»Halt!« wurde mein Schneiden sofort durch neue Lichtbuchstaben unterbrochen. »Ich bin ein irdischer Mensch wie Ihr alle! Daß Ihr mir nicht etwa göttliche Verehrung zollt!«

»Nein. Es war nur eine Redensart von mir gewesen. Aber daß wir Dir herzlichst danken, das erlaubst Du doch wohl.«

»Ihr könnt mir Euren Dank auch durch eine Erkenntlichkeit erweisen.«

»Durch welche?«

Die zusammengerollte Kugel zögerte einige Zeit, ehe sie wieder Lichtstrahlen zu Buchstaben formte, und dann mußte der schwarze Lukendeckel mehrmals beschrieben werden.

»Hört mich an, Ihr Argonauten!

Die höchste Vollkommenheit kann der Mensch nur durch Liebe erringen.

Durch jene Liebe welche das ganze Universum umfaßt.

Dieses ganze Universum heißt Gott.

Wer Gott über alles liebt, der wird selbst Gott, indem er in ihm aufgeht.

Der Anfang dazu ist, daß man durch Aufgabe jedes Eigennutzes sich selbst besiegt.

Das geht dann Schritt für Schritt weiter, was man aber nicht beschreiben, was man nur erleben und dann fühlen kann.

Auch Ihr habt diesen Weg schon betreten, wenn auch Euch zuerst wohl unbewußt.

Ich, ein irdisches Weib, bin auf diesem Wege schon weit vorgeschritten.

Weit für Euch.

Ja, mir sind bereits Kräfte gegeben, von denen die andere Welt nichts weiß, noch nicht einmal etwas ahnt.

Ich könnte Euch . . . Kunststückchen vormachen, daß Ihr aus einem Staunen ins andere fallen würdet, wenn Ihr Euch nicht entsetztet.

Aber wir, die wir so weit sind, machen keine Kunststückchen.

Trotzdem — Ihr könnt Euch nicht mit mir messen.

Und trotzdem — in vielen Hinsichten seid Ihr mir himmelhoch überlegen.

Ihr könnt etwas, was ich nicht kann und was, glaube ich, alle anderen Menschen nicht können.

Wißt Ihr, was das ist?

Wollt Ihr mir einen Wunsch erfüllen?

Ihr habt es mir schon zugesagt.

So singt mir jetzt noch einmal die Seligpreisungen vor, auf meinen besonderen Wunsch, also extra für mich.

Darum bitte ich Euch, und ich werde es Euch vergelten.

Lebt wohl, Ihr meine Freunde und Freundinnen, bis Ihr wieder von mir hören werdet.

Schluß!«

Die leuchtenden Buchstaben schossen zur Feuerkugel zusammen, und diese verschwand plötzlich, wie eben eine Lichterscheinung plötzlich verschwinden kann. Ich habe zu dieser wundersamen Episode nicht mehr viel hinzuzufügen.

Wir traten in der schönen, windstillen Nacht unter jetzt sternenfunkelndem Himmel an Deck zusammen und sangen die von Hämmerlein komponierten Seligpreisungen, und ich kann nur eines sagen: so herrlich hatte Albert den Christus noch nie gesungen, wir anderen noch nie so inbrünstig den Chor der Gläubigen, und so schön hatte Meister Hämmerlein die Orgel wohl noch niemals gespielt.

Wenigstens meiner Meinung nach.

Und wie der letzte Satz — »Seid fröhlich und getrost, es wird Euch im Himmel wohl belohnet werden« — und der letzte Orgelton verklungen war, da ertönte einige Sekunden die unter der Kommandobrücke hängende Schiffsglocke!

Ohne daß der am langen Riemen herabhängende und befestigte Klöppel dazu benutzt wurde!

Sie ertönte von ganz allein. Es machte uns gar nichts mehr weiter aus.

Unsere Beschützerin hatte nur ihren Dank ausgedrückt.

Ein weiteres Zeichen folgte nicht nach.


54. KAPITEL.
, »IN DER REITZENBAINER STRASZE HAT'CH NE KAFFEEFRAU ERHÄNGT.«

Eine merkwürdige Kapitelüberschrift, nicht wahr, lieber Leser?

Ich will hiermit von vornherein andeuten, daß durch dieses rätselhafte Erlebnis die an Bord herrschende Fröhlichkeit nicht im geringsten gestört wurde.

Weshalb auch?

Wir unterhielten uns ja noch oft genug über diese Vorfälle, alle Möglichkeiten erwägend, und kamen doch immer wieder zu demselben Schluß:

Weshalb soll es denn nicht hin und wieder einen Menschen oder einen ganzen Verein von Menschen geben, der durch Erfindungen oder überhaupt durch Kenntnisse aller anderen Welt, das heißt der anderen Menschheit, weit voraus ist, seine Entdeckungen aber aus irgend einem Grunde geheim hält?

In bezug auf die leuchtende Schrift hatte »Schwester Anna« schon selbst die beste Äußerung getan.

Mit der drahtlosen Telegraphie und Telephonie haben wir wohl überhaupt erst einen Anfang gemacht. Wie sich das in hundert Jahren entwickelt haben wird, das kann noch kein Mensch voraussehen.

Aber auch die Fernphotographie ist ja jetzt schon recht gut möglich, sie vervollkommnet sich immer mehr.

Und das Fernsehen, daß man etwa im Theater der Bühne gegenüber einen großen Spiegel anbringt, und jeder, der Anschluß hat, stöpselt zu Hause seinen Apparat und sieht alles mit, diese Erfindung ist nur noch eine Frage der Zeit, daran wird schon tüchtig gearbeitet.

Und wenn wir schon ein Boot, ein ganzes Schiff ohne Besatzung durch elektrische Wellen über Wasser lenken können, weshalb soll man denn da nicht auch eine Glocke ertönen lassen? Ist dies denn nicht schon überhaupt bei der drahtlosen Telegraphie der Fall, wenn der Wecker ruft?

Also bei alledem, was wir da erlebt hatten, brauchten wir durchaus nicht an Zauberei zu denken.

Wir hatten eine Beschützerin gefunden, die bedeutend mehr konnte als wir — damit wollten wir recht wohl zufrieden sein, — basta!

Ob sie auch prophezeien, in der Zukunft lesen konnte und danach uns schützend zur Seite stand, das würde sich ja später zeigen.

Darüber zerbrachen wir uns nicht den Kopf. Ich wenigstens tat es nicht.

Es wurde ja bei Gelegenheit noch viel darüber gesprochen, besonders zwischen Doktor Isidor und der Patronin, natürlich waren auch alle anderen Frauenzimmer mit Feuereifer dabei, ich aber hielt mich solchen Unterhaltungen immer fern.

Mir ganz gleichgültig, ob oder ob nicht. Wenn nur zum Schlusse alles gut geht, wenn nur alles klappt. Das ist immer die Hauptsache. Das heißt aber: wenn mir ein Geist aus der vierten oder ixten Dimension in den Weg tritt und will sich in meine irdischen Verhältnisse mischen, will mir Vorschriften machen — den Kerl packe ich, so oder so, und schmeiße ihn aus unserer irdischen Welt hinaus, daß er sich drüben in seinem Geisterreiche seine ätherischen Knochen zusammenlesen mag! Das ist bei mir ausgemachte Sache.

Und, dessen bin ich mir gewiß, so dachten auch alle meine Jungen. Ohne Ausnahme. Also auf unser bisheriges Leben hatte dies alles nicht den geringsten Einfluß gehabt, während dieser Fahrt nach Gibraltar wurden mehr Tollheiten und gute Witze denn je ausgeheckt, wovon ich aber hier nicht erst anfangen will, denn sonst müßte ich allein über diese drei Wochen ein dickes Buch schreiben.

Am 9. Dezember liefen wir im Hafen von Gibraltar ein.

Wir hatten uns Zeit genommen, waren fast immer gesegelt. Wenn die Schwester Anna uns zur Eile antreiben wollte, so mochte sie nur die Glocke läuten. Aber die schwieg, kein anderes Zeichen kam.

Die Stadt Gibraltar liegt auf der Westseite des Felsens, steigt direkt vom Wasser terrassenartig an, hat 20000 Einwohner, meist Italiener, die nämlich noch von den alten Festungsarbeiten herstammen, weil man da doch keine Spanier gebrauchen konnte, und 6500 Mann englische Besatzung.

Der großartige Hafen ist ganz künstlich angelegt, nur durch Molen eingedämmt, was bis zum Jahre 1900 schon 60 Millionen Mark gekostet hat. Übrigens ist es der einzige vollständige Freihafen Europas. Das ist ganz famos von den Engländern! Das muß man anerkennen!

Im Laufe der Tage besichtigten wir die Festung, so weit sie zugänglich ist, was ich nicht weiter beschreiben will, da kann man nur Maul und Nase aufsperren. Nämlich wie die Engländer da in den Felsen sich hineingepaddelt haben, und das Interessanteste bekommt man doch gar nicht zu sehen — dann ergänzten wir mit 400 Tonnen unseren Kohlenvorrat, sei es auch nur als Ballast, und dann gaben wir an drei Abenden hintereinander Vorstellungen, an Bord, wofür wir zusammen rund 2300 Pfund Sterling einnahmen, 46 000 Mark, die an wohltätige Anstalten in aller Welt verteilt wurden.

Unter zehn Mark war keiner der tausend Plätze zu haben gewesen, die wir aufstellen konnten. Diese englischen Söldner haben ja auch Geld wie Heu, können es in dem Städtchen ja gar nicht verhauen, über die Grenze, über die Punta de Europa, dürfen sie ja nicht.

Nun gibt es dort aber doch auch viele Offiziere, meist Aristokraten, die nicht wissen, wohin mit ihrem schweren Mammon, mit ihren Familien, es gibt sonstige reiche Leute, die sich in dem abgeschlossenen Neste vor Langeweile totgähnen — na‚ die hatten ja für die besseren Plätze tüchtig bluten müssen!

Es war gut, daß wir alles, was wir an Land zu suchen gehabt, vor diesen Vorstellungen erledigt hatten. Sonst wäre ein jeder von uns immer auf den Schultern durch die Straßen getragen worden, oder sie hätten uns überhaupt einfach totgemacht.

Weshalb? Weil wir auch hier wieder unser gewiß sauer verdientes Geld eben den Armen gaben. Das wirkt eben, das löste den Enthusiasmus erst richtig aus. Das ist auch ganz anerkennenswert, aber . . . wir wollten mit solchen Ovationen doch lieber nichts zu tun haben.

Ferner war nun hier auch schon die Seeräuberaffäre bekannt geworden, nun drängten sich die Neugierigen erst recht heran, wir bekamen Einladungen über Einladungen — aber — da gab es nichts bei uns, wir nahmen prinzipiell keine an, und wäre auch der englische König in Gibraltar gewesen.

So legte sich der Sturm nach und nach. Die Menge drängte sich nur noch Tag und Nacht am Kai und starrte unser Schiff an, ohne uns weiter zu inkommodieren.

Da aber sollten wir etwas erleben!

Es war am zweiten Morgen nach der letzten Abendvorstellung, zwischen zehn und elf. Auch in dieser Vormittagsstunde standen schon wieder etliche hundert Menschen auf der Mole und begafften uns, in der Hoffnung, nur wenigstens den Anblick eines Affen erhaschen zu können, obgleich die dort oben auf dem Felsen noch wild vorkommen, die einzigen in Europa, allerdings gehegt und gepflegt. Unsere Affen waren aber eben ganz besondere, die konnten ein Quartett spielen, sogar sechzehnhändig.

Das Laufbrett mußte ausgelegt sein, das gehört im Hafen, wenn man nun einmal am Kai liegt, zur Bordroutine, ist sogar direkte Vorschrift, wenigstens muß jeder Mensch die Möglichkeit haben, an Bord zu gelangen, indem im Hafen das Schiff als Wohnung der Mannschaft gilt, und jeder Mensch darf in seiner Wohnung Besuch empfangen, worüber ich wohl schon einmal gesprochen habe. Ob man diesen Besuch empfängt, das ist ja etwas anderes.

Auf dem Laufbrett standen als Portiers — bei uns aber »Läufer« genannt — vier handfeste Matrosen, und zwar wählte ich dazu immer die rücksichtslosesten, oder doch die energischsten, will ich sagen. August der Starke hätte sich zum Beispiel dazu nicht geeignet, auch nicht Oskar, die hätten sich durch ein süßes Stimmchen und ein liebliches Frauenantlitz zu leicht betäuben lassen, das kannte ich schon — aber bei dem sangeskundigen Albert zum Beispiel gab es so etwas nicht, dieser Heiland in Matrosenausgabe setzte, wenn es sein mußte, auch der heiligen Madonna den Seestiefel gegen den Leib, und solcher Charaktere gab es noch mehrere.

So lange es noch Platz an den Molen gab, mußten die Schiffe daran anlegen, das war Vorschrift, sie durften nicht in der Mitte des Hafens vor Anker gehen — dagegen war nichts zu machen.

Die Morgenpost hatte uns auch heute wieder zwei ganze Säcke voll Briefe gebracht, im Gesamtgewicht von 56 Pfund, netto, ohne Säcke. Und dabei waren die von gestern noch nicht einmal gelesen worden, noch nicht einmal sämtliche von vorgestern!

Ei die Dunnerwetter! Ich glaube, alle 27 000 Einwohner von Gibraltar machten nichts anderes mehr, als an uns Briefe zu schreiben. Es mußte tatsächlich so sein.

So ging es ja in jedem Hafen, ob wir nun eine Vorstellung gaben oder nicht, ich habe mich nur niemals dabei aufgehalten, tue es jetzt zum ersten Male.

Was uns alles geschrieben wurde, das kann ich gar nicht sagen. Alles, alles, alles, was überhaupt in der Welt nur möglich ist. Der hatte Zahnschmerzen, keine Zange konnte den Stummel fassen, und fragte uns nun an, ob unser chinesischer Zahnkünstler, von dem er gehört, ihm nicht zu Hülfe kommen könne — die brauchte 10 000 Franken, um sich von ihrem Gatten scheiden lassen zu können.

Das sind so aus der Luft gegriffene Grenzen, nun mag der Leser selbst nachdenken, was zwischen diesen beiden Grenzen alles für Möglichkeiten liegen können.

Von den Vorschlägen, wie wir unser Schiff und unsere Kraft verwenden könnten, will ich gar nicht erst sprechen.

Nur noch eine kleine Andeutung: Wenn jedem Mohammedaner statt nur vier Frauen ihrer vierzig erlaubt wären, und ich hätte hundert Leute gehabt, und sie wären Muselmänner geworden — ein jeder von ihnen hätte seine Häuslichkeit mit den nötigen Ehehälften ausstatten können, ganz kostenlos, gleich hier in Gibraltar.

Ei diese Liebesbriefe, diese Anträge!

Und nun diese Adressen!

Die Frauenzimmer wußten doch gewöhnlich nicht, wie der Betreffende hieß, dem sie ihre Huldigung darbringen wollten. Nun, die Hauptsache war ja dabei der Bestimmungsort, »an Bord der Argos«, den lieferte die Post dann einfach ab, das Weitere war unsere Sache, und wenn die Betreffende nun nicht den Namen kannte, was ja fast immer der Fall war, so hatte sie den Betreffenden eben auf dem Kuvert näher beschrieben.

Ei, was wir da erlebt haben, diese Beschreibungen!

In Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und in anderen Sprachen, uns zum Teil noch ganz unbekannt, selbst unserem Doktor Isidor — und nicht zum mindesten in Deutsch.

Schon in Rio de Janeiro, wo es ja Deutsche haufenweise gibt, hatten wir uns den Spaß gemacht, alle die Variationen, in denen das Wort »Schnurrbart« geschrieben worden war, in seiner Liste zusammenzustellen.

Bis 26 verschiedene Schreibarten hatten wir zusammengebracht. Es wären noch mehr geworden, aber die Sache wurde uns zuletzt zu langweilig.

»Snuhbad« war wohl die schönste Variation gewesen.

Oder der Adressat wurde auch gleich auf dem Kuvert porträtiert. Ei, diese Konterfeie, die wir da manchmal zu sehen bekamen! Zum Totschießen!

Besonders August der Starke wurde mit Vorliebe gemalt, der war ja auch am leichtesten zu charakterisieren, auch durch Beschreibung. Der war überhaupt am meisten umschwärmt. Merkwürdigerweise — wenigstens für mich merkwürdig — aber zum Beispiel auch der klapperdürre Siddy.

»An den ganz dünnen Herrn, der gar keine Knochen hat und sich mit den Zehen am Halse kratzen kann, Hochwohlgeboren.«

Und so weiter und so weiter.

Aber das hatte für uns schon längst alles Interesse verloren.

Es gab wohl gar keinen Brief mehr, der durch Adresse oder Inhalt an Originalität noch hätte übertroffen werden können.

Und doch, jeder Brief mußte geöffnet und gelesen werden. Es konnte ja doch einmal einer darunter sein, der höchst wichtig für uns war, und vielleicht trug der gerade eine ganz unsinnige Adresse.

Sie wurden an die Empfänger verteilt, so weit sich das gleich erkennen oder doch erraten ließ, an dem Lesen der übrigen, und das waren noch die allermeisten, beteiligten sich alle Matrosen und Heizer und sonstigen Personen, so weit sie Lust dazu hatten. Kommandiert konnten sie doch zu so etwas nicht werden.

Nun — wir lebten einander zu Liebe — da ging dieses Geschäft immer schnell von statten. Nur vorgestern und gestern war diese Arbeit aus besonderen Gründen einmal vernachlässigt worden, das rächte sich heute bitter.

So saßen wir Hauptpersonen auch heute früh in der Kajüte und lasen die Briefe, die uns ab und zu als wissenswert aus dem Mannschaftslogis zugestellt wurden. Dort waren sie also bereits geöffnet und gelesen worden, von Matrosen und Heizern!

Eine nette Wirtschaft, diese Administration, was?

Na‚ gehts aber denn im Sekretariat eines königlichen Hofstaates etwa anders zu?

Sogar Doktor Isidor beteiligte sich daran, Briefe zu lesen, die so ein Matrose für lesenswert gefunden hatte, oftmals von den höchsten Würdenträgern geschrieben, von männlichen und weiblichen Herrlichkeiten — ja sogar Mister Tabak drückte manchmal auf einen englischen Brief seine zehn fettigen Finger ab.

»Hier,« sagte jetzt die Patronin zu mir, »schreibt eine Lady Evelyn Suffolk, Peereß of England, eine Herzogin, zwölf Jahre alt, mit ihrem Onkel gegenwärtig in Gibraltar — will bei uns als Schiffsjunge eintreten. Wenn wir sie nicht nehmen, vergiftet sie sich.«

Helene wies mir den Brief hin, geschmückt mit einer goldenen Herzogskrone.

Es ließ mich kalt, ich stand auf. Ich war schon zu sehr abgebrüht.

»Mag se sich vergiften!« sagte ich und ging hinaus, zu einer Erholungspause.

Gerade hatten die vier Laufbrückenwächter ein heftiges Renkontre mit einem Weibsbilde, das durchaus an Bord wollte.

Es war eine sehr korpulente Dame mittleren Alters mit einem knallroten, höchst energischen Gesicht, unter der Nase einige Haare, auf der Nase ein ansehnliches Haarbüschel, in einem pompösen Spitzenkleide, das aber, zumal sie offenbar kein Korsett trug, wie ein Sack an ihrem massigen Körper schlotterte.

»Und ich muß die Schiffpatronin sprechen!« schrie sie mit Stentorstimme, dabei mit einem Spazierstock in der Luft herumfuchtelnd, der schon mehr den Namen »Knüppel« verdiente, wenn er auch einen goldenen Griff hatte.

»Die Patronin ist für niemand zu sprechen,« wurde ihr kalt entgegengesetzt, »Sie müssen ihr schreiben.«

»Ich habe bereits an sie geschrieben!«

»Dann werden Sie Antwort bekommen.«

»Ich habe keine bekommen!«

»Dann war Ihre Sache nicht wichtig genug.«

»Unerhört, unerhört!« keuchte die Puderhenne. »Wissen Sie, wer ich bin?«

»Nee.«

»Ich bin die Lady Diggeldy!«

»So. Ich bin der Matrose Pieplack.«

»Ich bin die Gattin des Obersten Sir Diggeldy, Regimentskommandeur und Festungskommandant von Gibraltar!«

Au weh!

Das war also hier die höchste Persönlichkeit von Gibraltar, zumal wenn man annahm, daß die Frau Kommandeuse die Hosen anhatte, denn sonst wäre es doch keine echte Engländerin gewesen.

Ja, die hatte schon zwei— oder dreimal geschrieben, sie müsse die Patronin unbedingt in wichtigster Angelegenheit sprechen.

Aber was halfs? Wenn wir die empfingen, dann wäre der Bann gebrochen gewesen. Nur keine Ausnahme machen! Selbst nicht bei der Frau Kommandeuse. Und wenn sie eine schriftliche Antwtort haben wollte, so mußte sie auch ausführlich oder doch ganz bestimmt schreiben, um was es sich denn eigentlich handele. Auf solche unbestimmte Briefe, man wolle uns in irgend einer dringenden Angelegenheit sprechen, ließen wir uns absolut nicht ein, und wenn, wie gesagt, der König von England selbst uns so geschrieben oder so gekommen wäre.

Fatal wars ja freilich doch.

Wir müssen unbedingt auf Reede hinaus, faßte ich jetzt den energischen Entschluß, es ist auch schon wegen der Tiere, die nicht mehr so lange eingesperrt sein können, und der Mann, den wir hier erwarten sollen, wird uns auch draußen zu finden wissen.

Auf den Matrosen Franz, der aber auch häufig mit seinem Vatersnamen Pieplack gerufen wurde — denn wer so einen schönen Namen hat, das darf nicht unberücksichtigt gelassen werden — machte es nicht den geringsten Eindruck, daß er die Frau Kommandeuse, die Stadtgewaltige von Gibraltar vor sich habe.

»Das ist mir piepschnuppe.«

Wenigstens gebrauchte er einen entsprechenden englischen Ausdruck. Aber ich kann doch hier nicht in englischer Sprache erzählen.

»Unerhört, unerhört!« kollerte wieder die rote Puderhenne. »Und ich muß die Patronin, die Lady of the Sea, unbedingt sprechen!«

»Nee, gibts nicht.«

»Und wenn ich Gewalt brauchen muß!«

»Gewalt? Probieren Sies mal, Madam oder Mylady.«

»Sie glauben nicht, daß ich an Bord komme, wenn ich nur will?«

»Nee.«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Sie habens ja schon gesagt.«

Der rote Puder mit den Haaren unter und auf der Nase richtete sich noch kampfbereiter empor.

»Ich bin der General der Suffragetten von Gibraltar!«

Oho!

Von den Suffragettes — sprich, wenn es englisch sein soll, söffräddschetts — hat wohl schon jeder meiner Leser gehört. Das lateinische »Suffragium« heißt Stimme. Sie wollen also Stimmrecht haben, Wahlberechtigung.

Schon damals war diese Frauenbewegung im Gange, nicht zum wenigsten in den englischen Kolonien, von wo sie überhaupt ausgegangen zu sein scheint, besonders in Australien gab es schon immer sogenannte »Suffragettes«. Man hörte nur nicht so viel von ihnen, weil sie sich eben wenig bemerkbar machten, noch nicht solche Tollheiten und Ausschreitungen begingen, eben noch nicht solche Propaganda für ihre Sache machten.

Nebenbei bemerkt: wenn ich ein Frauenzimmer wäre, so würde ich auch unbedingt eine Suffragette sein! Da würde ich unter allen Umständen aus Leibeskräften mitmachen! Wer Steuern zahlt, der muß auch seinen Vertreter im Parlament wählen können. Das ist recht und billig, das ist ganz klipp und klar, daran gibt es gar nichts zu deuteln! Diese jetzt verspotteten und verhöhnten Engländerinnen sind die Märtyrerinnen für eine große Sache, dereinst wird ihnen die ganze weibliche Welt Dank wissen, und nach 100 Jahren wird man ebensowenig verstehen, wie früher ein steuerzahlendes Weib nicht wahlberechtigt war, wie wir heute kaum noch fassen können, wie man vor 200 Jahren noch Hexen verbrannte.

Der Mann, der hierüber anders denkt, mag der beste Mensch, Bürger und Hausvater sein, aber das rechte Verständnis für das Weltgetriebe spreche ich ihm ab.

»Ich bin der General der Suffragetten von Gibraltar!«

»Söff . . . Söff . . . wuoat?«

»Rufen Sie Ihre Patronin!«

»Nee.«

»Ich muß sie sprechen!«

»Ist nicht zu sprechen, für keinen Menschen.«

»Ist sie krank?«

»Nee.«

»Wo befindet sie sich?«

»In der Kajüte.«

»Rufen Sie sie.«

»Nee.«

»Dann erzwinge ich mir den Zutritt.«

»Probieren Sies mal.«

»Sie glauben nicht, daß ich das kann?«

»Nee.«

Da setzte das rote Weib den goldenen Griff des Spazierknüppels an die behaarten Lippen und pfiff wie eine Lokomotive.

Und dann setzte sie den Stock wieder ab und fing dafür zu brüllen an:

»Tohuuuu — tohuuuuu . . . «

Die Wirkung dieses Signals und Schlachtgeschreis war eine wunderbare.

Nein, nicht wunderbar, sondern einfach entsetzlich.

»Tohuuuu, tohuuuu, tohuuuu . . . « fing es mit einem Male so hundertstimmig an, brüllend und schreiend und quiekend, und da kamen sie auch schon angestürzt.

Eine ganze Rotte wilder Frauenzimmer, teils hochelegant gekleidet, mit fabelhaft großen und federgeschmückten oder sonstwie herausgeputzten Hüten, teils auch solche sackartige Erscheinungen, alte und junge, hübsche und häßliche — ich hatte gar nicht gemerkt, daß sich dort unter dem neugierigen Publikum so viele Damen befunden hatten — und ehe wir uns versahen, waren sie schon da, waren an Deck.

Da war gar nichts zu machen. Auf solch einen Ansturm war niemand vorbereitet gewesen. Die vier Matrosen waren einfach überrannt worden.

Ja, wir hätten sie zurücktreiben können, wären zweifellos Sieger geblieben, aber . . .

»Hallo, hallo, das gibts hier nicht!« schrie ich und packte so ein zierliches Dämchen, das einen ganzen Gemüsegarten auf dem Kopfe hatte, beim durchbrochenen Gacearm.

Ich wollte sie kräftig zurückschleudern.

Da aber fängt doch das Dämchen an zu quieken und zu gietschen, wie — wie . . . wie eben nur so ein Frauenzimmer quieken und quietschen kann.

Ja zum Teufel, was soll man denn da machen?

Ganz gleichgültig, ob es eine junge, schöne Dame ist mit einem ausgeschnittenen Atlaskostüm aus Paris, oder ob eine alte, häßliche Negerin, deren ganze Bekleidung aus einigen Fransen besteht — da ist Weib eben Weib, und wenn solch ein Weib so quiekt und quietscht, da ist unsereiner ganz einfach vollkommen machtlos, da hört der Mann auf, ein Mann zu sein.

Also ich ließ das Dämchen schleunigst wieder los!

Das Getobe rief die weiblichen Mitglieder unseres Schiffes an Deck, sie kamen angestürzt, die Patronin und die beiden Schwestern und Klothilde.

Ja, die hätten ankämpfen können — Weib gegen Weib, das war ja etwas ganz anderes, die hätten raufen können, daß die Haare flogen, und sich gegenseitig die Augen auskratzen, — aber was wollten denn die vier Damen gegen dieses mindestens halbe Hundert weiblicher Bestien ausrichten!

Und doch . . . Klothilde war diejenige, die sofort den einzig richtigen Gedanken erfaßte. Das war eine Strategin auf weiblichem Schlachtfelde.

»Die Pumpe — schnell die Dampfpumpe angestellt!«

Der Schlauch mit Mundstück lag vom Deckwaschen noch da, der Donkey hatte noch vollen Dampf, sofort sprang ein Matrose hin, das Ventil aufgedreht, Klothilde hatte schon den Schlauch in den Händen . . .

Jawohl, Klothilde, Du hattest das einzig Richtige sofort erfaßt!

Nur schade, daß Du zuerst den kalten, dicken Wasserstrahl gerade mir direkt wuchtig ins Gesicht klatschen ließest und dann, wie ich mich schnell wandte, schoß der mächtige Strahl direkt in mein rechtes Ohr, daß ich drei Tage lang darauf nur undeutlich hören konnte.

Dann aber wurde der kalte Strahl richtig dirigiert, und . . . probatum est!

O, Ihr Londoner Polizisten, die Ihr Euch ständig mit diesen weiblichen Hyänen in Menschengestalt herumbalgen müßt, lernt doch etwas von unserer Klothilde!

»My new hat! Mein neuer Hut!«

So erklang es mindestens fünfzigstimmig, und mindestens fünfzig Händepaare fuhren nach den feder und blumengeschmückten Hüten, und ihre Besitzerinnen machten schleunigst, daß sie wieder über das Laufbrett an sicheres Land kamen.

Aber es waren mehr als mindestens fünfzig, und der Hauptzweck wurde doch noch erreicht, wir waren schließlich doch die Besiegten.

Einige wußten dem Wasserstrahle auszuweichen oder sie trotzten ihm keck, und wenn sie auch der Nymphe auf dem Pariser Montmartreplatz glichen, die gleichzeitig von 36 Wasserstrahlen bespritzt wird, von oben und unten, von vorne und hinten — die wackeren Nymphen arbeiteten sich durch nach dem Kajüteneingang, ein halbes Dutzend, an der Spitze die Generalin und Kommandeuse, drangen ein in die Kajüte.

Nun hätte Klothilde ja allerdings weiter spritzen können, aber den Siegerinnen machte das nun nichts mehr aus, die waren schon wie aus dem Wasser gezogen und um unsere schöne Kajüteneinrichtung wäre es doch schade gewesen.

Also die Schlacht war verloren, die Pumpe wurde abgestellt.

Das Parlamentieren mit den sieben triefenden Nymphen begann in der Kajüte. Na‚ wie die aussahen! Schon allein diese aus dem Leim gegangenen Frisuren!

»Unerhört, unerhört!« war es diesmal unsere Patronin, die das sagte, mußte sich aber dabei das Lachen verbeißen.

»Ich mußte Sie unbedingt sprechen!« keuchte die Frau Kommandeuse, deren üppige Körperformen man jetzt wie in natura bewundern konnte, denn das nasse Spitzenkleid klebte wie ein Trikot an dem taillenlosen Leibe.

»Das ist Hausfriedensbruch!«

»Ich werde mich dafür verantworten, dafür bestrafen lassen — aber sprechen mußte ich Sie unbedingt!«

»Nun gut — was wünschen Sie denn nur?«

Die Unterhaltung wurde gemütlicher. Die Brunnennymphen setzten sich, verdarben unsere ganze Möbelgarnitur, wofür sie sich später allerdings großartig revanchierten, die Kommandeuse trug ihre Wünsche vor.

Ich fasse es summarisch zusammen. Die Sache war folgende:

Das ganze gesellschaftliche Leben dieser englischen Festungskolonie spielte sich natürlich in den Klubs ab.

Auch die Damen der Offiziere und Beamten und sonstigen hochstehenden Persönlichkeiten hatten ihren eignen Klub — und was für einen, ein ganzes Klubhaus, einen richtigen Palast!

Da gingen die Einladungen immer hin und her, keine Woche ohne glänzendes Fest, wobei natürlich auch getanzt wurde.

Nun war es die alte Geschichte. Alle die Herren hatten keine Lust mehr zu tanzen. Sie engagierten nicht. Ob in Frack oder Uniform — sie alle lungerten gähnend an den Wänden herum, die Hände gentlemanlike in den Hosentaschen, auch die Herren Offiziere, und suchten sich möglichst bald wieder zu drücken, nach dem Büfett, an den Spieltisch oder sonstwohin. Nur nicht tanzen.

Wenn sich einmal ein Paar drehte, das war eine große Ausnahme, da mußte eine starke Pflicht dahinter stecken.

»Das ist ein Skandal!« lasse ich die nasse Puderhenne jetzt selbst sprechen. »Unsere jungen Damen sollen tanzen, müssen tanzen! So spreche ich als General der Suffragetten. Da sehen Sie wieder, wie freidenkend wir sind. Das Tanzen hat mit dem weiblichen Wahlrecht gar nichts zu tun. Wir sind Frauen und wollen Frauen bleiben! Wir sind auch einmal junge Mädchen gewesen und haben gern getanzt, deshalb sollen auch die heutigen jungen Damen tanzen! Ich tanze noch heute für mein Leben gern, könnte zwei Stunden hintereinander aushalten. Aber nicht zu machen bei diesen heutigen jungen Herren! Das ist ein Skandal!«

Sie wischte sich die Mischung von Seewasser und Schweiß aus dem knallroten Gesicht — die Patronin war schon immer während des langatmigen Berichtes unruhig auf ihrem Stuhle herumgerutscht.

»Ja, Mylady, was soll ich dabei tun?« fragte sie jetzt.

»Hören Sie mich an, verehrteste Mylady. Hier muß einmal ein Exempel statuiert werden. Diese Herrchen sollen eine Lektion bekommen, eine fürchterliche Lektion! Morgen abend hat unser erster Damenklub seinen speziellen Tanzabend; also einen speziellen Ball, wie jeden Monat einmal. Daß die Herren diesmal nicht eingeladen werden, das war bei uns bereits abgemachte Sache. Eine Bestrafung ist das allerdings nicht für diese Schlappsäcke . . . pardon, ich habe manchmal etwas starke Ausdrücke — aber eine grenzenlose Blamage ist es für sie doch, und es wird ja auch eine Skandalaffäre daraus werden. Nevermind, wir wissen immer, was wir tun.

So wollten wir Damen also zusammen tanzen. Aber ganz das Richtige ist das doch noch nicht. Wenn wir nur andere Tänzer hätten. Aber wen? Daß wir hiesige Männer oder Herren einladen, die dem ersten Klub nicht angehören, das ist aus besonderen, aus politischen Gründen ganz ausgeschlossen — wegen der nächsten Parlamentswahlen, Sie verstehen wohl. Es müssen Fremde sein.

Da, wie Ihr Schiff hier ankam, ging mir die grandiose Idee auf. Ob unsere Tänzer wohlgepflegte Fingernägel oder harte Arbeitshände haben, darauf kommt es uns gar nicht an, da sind wir nicht so. Wir sind ganz moderne Weiber mit starken Weltansichten. Anständig müssen die Männer natürlich sein. Und da dachte ich . . . nevermind, ich fasse mich ganz kurz: Mylady, pumpen Sie uns Ihre Matrosen für morgen abend zum Tanzen!«

Die Frau Kommandeuse hatte gesprochen.

Und das Gesicht unserer Patronin war immer länger geworden.

Ach, hatte die ein langes Gesicht bekommen!

Weshalb, das läßt sich wohl leicht denken.

Ihr Volk, ihre Argonauten, ihre Helden — die sollten für diese faulen englischen »Schlappsäcke« einspringen, sollten diese englischen Dämchen herumschwenken — Tanzmatrosen!

Na‚ da kam die ja bei unserer Patronin schön an!

»Mylady . . .«

Weiter kam Helene nicht.

Da war mir plötzlich ein grandioser Gedanke durch den Kopf geschossen.

»O ja, Mylady, Sie können unsere Matrosen bekommen, gewiß doch.«

Ein mehr entsetzter als erstaunter Blick der Patronin traf mich, aber ehe sie ein Wort sagen konnte, hatte ich ihr schon unter dem Tische auf den Fuß getreten, und auch von meiner Seite ein Blick — und Helene war nicht auf den Kopf gefallen, die wußte jetzt sofort, daß ich etwas Besonderes vorhatte — ihr langes Gesicht wurde gleich wieder normal.

»Bitte, sprechen Sie darüber mit diesem Herrn, mit dem Waffenmeister, das ist dessen Sache — über die Mannschaft hat nur dieser zu bestimmen.

»Aaaah, der Herr Waffenmeister! Der berühmte Waffenmeister der Argonauten, der sie so phänomenal ausgebildet hat! Es gereicht mir zur Ehre.«

»Dito.«

»Also Sie gestatten, daß Ihre Matrosen für uns Tänzer abgeben?«

»Nu sicher.«

»Sie können doch tanzen?«

»Nu allemal.«

»Denn, wie ich weiß, die meisten sind doch Deutsche.«

»Nu freilich.«

Hierzu bemerke ich, daß die Engländer und Engländerinnem sonst in allen Körperübungen so bewandert, durchweg herzlich schlechte Tänzer sind. Einfach deshalb, weil ihnen die Gelegenheit, also die Übung fehlt. In England kommen da überhaupt nur die sogenannten »besseren Kreise« in Betracht. Im Volke, das seiner Arbeit nachgeht, ist das Tanzen so gut wie unbekannt. Öffentliche Tanzlokale gibt es überhaupt nicht, und die Klubs müssen doch immer nur als Ausnahme betrachtet werden. Dennoch tanzt der Engländer leidenschaftlich gern, eben gerade deshalb, weil ers nicht kann. Und das Ideal eines Tänzers für ihn ist jeder Deutsche. In England ist man im allgemeinen nicht gut auf den Deutschen zu sprechen, aber im Tanzsaal ist er der vergötterte Held, da muß er ran. Also wer nach England geht, mit der Aussicht, in die »besseren Kreise« zu kommen, zu großen Gesellschaften eingeladen zu werden, in die Klubs — der schmiere sich vorher nur seine Tanzbeine ein! Und nicht zu vergessen: seine deutschen Volkslieder muß er vorsingen! Und da kann er gröhlen wie er will, er wird einen enthusiastischen Beifall ernten! Das ist etwas ganz Merkwürdiges.

»Wieviel Matrosen können Sie stellen?«

»Ja, wieviel Damen sind es denn?«

»Genau 47. Ich mit einbegriffen. Nicht eine mehr und nicht weniger. 47 können kommen, und da müssen sie kommen. Ich bin Präsidentin des ersten Damenklubs von Gibraltar, und da halte ich auf strengste Ordnung. Nur Tod oder schwerste Krankheit könnte entschuldigen. Können Sie 47 Mann stellen?«

»O gewiß. Es müßten allerdings einige Heizer hinzugezogen . . . «

»Tut gar nichts zur Sache. Wenn es nur anständige Menschen sind.«

»Sicher.«

»Und natürlich sauber gewaschen.«

»So wie . . . «

Na‚ ich hätte beinahe etwas gesagt, unterdrückte es noch rechtzeitig.

»Tadellos in Kleidung und Manieren.«

»Sie können auch mehr bringen.«

»Kann gemacht werden. Und auch die Kapelle werden wir . . .«

»Es spielt wie immer unsere ausgezeichnete Garnisonskapelle.«

»Ach bitte, die Musik möchten wir lieber selbst übernehmen.«

»Weshalb?«

»Weil wir nun einmal . . .«

»Gewiß, gewiß, ganz wie Sie bestimmen. Und wie herrlich Ihre Leute musizieren können, das haben wir ja schon erfahren.«

»Wir werden nur die neuesten Tänze blasen . . .«

»Ganz wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen. Wir tanzen jede Tour.«

»Jede Tour, schön. Und wann beginnt der Rumm . . . der Tanz?«

»Punkt acht Uhr. Wenn Sie nur um acht Uhr da sind. Eine Vorstellung gibt es bei solch einer Gelegenheit nicht, nicht im allgemeinen und nicht im besonderen, also auch der Herr stellt sich nicht der Tänzerin vor, das wissen Sie wohl. Um zehn Uhr findet eigentlich ein Souper statt, da wird erst, vorgestellt, aber — aber . . . «

»Sie möchten dieses Souper wohl lieber ausfallen lassen?«

»Ja, in diesem Falle — in diesem Falle . . . «

»Bitte, sprechen Sie ganz ungeniert. Also kein Souper, keine Tafel.«

»Nein. Bitte nicht. Es wird ein kaltes Büfett aufgestellt werden, das natürlich nichts zu wünschen übrig lassen wird . . . «

»Selbstverständlich, selbstverständlich.«

»Und Getränke, auch Champagner — Sie haben doch Ihre Leute genügend in der Zucht, daß sie sich nicht etwa besaufen?«

Wir sprachen englisch, und sie hatte das Wort »boos« gebraucht, das man nicht anders als mit »saufen« übersetzen kann. Obgleich man es in der besten Gesellschaft aussprechen darf. Sonst läßt ja bekanntlich der Engländer selbst die Tiere nur »trinken«, für ihn kann nur ein Mensch saufen — gar nicht so mit Unrecht.

»Aber ich bitte Sie, Mylady, meine Argonauten, was meinen Sie . . . «

»I beg your pardon.«

»Und bis wann dauert es?«

»Eigentlich bis zwei. Da sind aber diese Schnupfsäcke von Herren schon regelmäßig alle verschwunden. Es kann auch länger dauern.«

»Bis vier, wollen wir sagen?«

»Das kommt ganz darauf an, wie lange es Ihre Leute aushalten. Die werden das Tanzen doch nicht sehr gewöhnt sein.«

»Allerdings nicht.«

»Aber unsere jungen Mädchen wollen sich einmal austanzen, und ich auch, das muß ich offen gestehen.«

»Meine Leute werden schon ihr Bestes tun. Ist dann sonst alles in Ordnung?«

»Ich wüßte nichts mehr, was zu besprechen wäre.«

Die sieben klitschnassen Nymphen verabschiedeten sich mit herzlichstem Danke, stiegen in unterdessen herbeigeholte Wagen.

»Ach, das wird ja himmlisch!« hörte ich sie noch flöten.

Ja, es sollte himmlisch werden.«

Wartet, Ihr Luders, meine Argonauten als Tanzmatrosen gebrauchen zu wollen!


Dieser und der nächste Tag verging.

Niemand kam, dessentwegen die Schiffsglocke geisterhaft geläutet hätte.

Einmal kam ein Diener, auch die Frau Kommandeuse selbst, um sich zu vergewissern, daß wir nicht etwa unseren Entschluß geändert hätten.

I Gott bewahre!

Ein Mann, ein Wort!

Da gabs doch gar nichts zu fackeln!

Im Mannschaftslogis wurde schon nichts anderes gemacht als weiße Handschuhe zusammenzuflicken und Lackschuhe herzustellen, bei denen niemand vermutet hätte, daß der Untergrund aus Segeltuch bestand.

Der Abend kam, punkt halb acht rückten wir ab, in Gala tadellos aufgetakelt, 68 ausgewachsene Männer mit zehn Trompeten und Posaunen und zwei großen Pauken.

Fünf Minuten vor acht waren wir klar zum Gefecht.

Rinn in den Saal!

Da saßen abgezählte 47 Damen im strahlenden Halbkreis und wedelten mit den Fächern.

Ei die Dunnerwetter!

Erstens dieser Saal, zweitens diese Damen!

Denn die wollten sich nicht Ilumpen lassen, wollten ihre Tänzer nicht lumpen, weil es nur Matrosen waren!

Alles genau wie sonst!

Die prachtvollsten Toiletten, die oben nicht anfingen und unten nicht aufhörten, alles ein Gefunkel von Diamanten und Perlen.

»Hört, Kinder,« sagte Doktor Isidor beim Eintreten, »mehr beim Tanzen nischt maust!«

Dann mußte ich schinellstens unseren Mister Tabak beim Schlaffittchen nehmen, denn der hatte schon das im Nebensaal aufgebaute ungeheure Büfett erblickt, wollte gleich drauf los, um es abzugrasen.

Die zwölf abgeteilten Mann hinan aufs Orchester, ein furchtbarer Tusch, wir mit zierlichen Schrittchen losgehüpft auf die Damen, eine Verbeugung gemacht und

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

So begannen zehn Posaunen und Trompeten und zwei Pauken loszuschmettern.

Kennst Du, geneigter Leser, dieses schöne Lied, als Tanzmelodie unvergleichlich?

Es ist sehr zu bedauern, wenn Du es nicht kennst. Dann hast Du etwas versäumt. Das mußt Du nachholen.

Es ist ein Hopser.

Die Engländer hopsen nämlich überhaupt alles. So wird aber auch bei Hofe getanzt, auch am deutschen, an allen Höfen. Da wird nur gehopst. Mächtig gehopst. Immer so hoch als möglich. Schleifende Walzer gibt es gar nicht. Immer nur recht hoch gehopst.

Die Matrosen hingegen schleifen mit Vorliebe, und zwar auf den Hacken, aber sie können auch hopsen, wenn sie nur wollen.

Und meine Jungen hopsten. Ich hatte sie doch instruiert. Na und wie die hopsten!

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Ich will es kurz machen, es wenigstens versuchen.

Acht geschlagene Stunden lang, bis morgens früh um hier, haben wir keine einzige Dame auch nur eine einzige Minute aus den Klauen gelassen!

Nicht eine Viertelminute lang!

Keine hat sich einmal setzen dürfen!

Immer aus einem Arm in den anderen!

Und acht geschlagene Stunden lang schmetterten und tobten ununterbrochen die zehn Trompeten und Posaunen und zwei Pauken:

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt . . . «

Ununterbrochen immer ein und derselbe Hopser!

Jeder Musikant, der einmal abtreten wollte, um zu tanzen oder ans Büfett zu gehen, wurde sofort durch einen anderen ersetzt.

Aber bei den Damen gab nichts. Die durften nicht ans Büfett gehen!

Die hatten nicht mit uns soupieren wollen, die hatten nur tanzen wollen . . . schön, mein Püppchen, tanze, immer tanze!

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Daß jeder seine Tänzerin, wenn sie die Zunge gar zu lang aus dem Hals reckte, schnell einmal tränkte, das war alles.

Aber freigegeben wurde sie nicht, immer aus einem Arm in den anderen!

Und auch zu essen bekamen sie nichts!

»Na was denn? Das waren doch Suffragettes. Die wollten doch mit den Männern gleich Wahlberechtigung haben. Und mit dem Steuerzahlen ist es da doch nicht abgetan. Da muß man auch mit Gott für Fürst und Vaterland in den Krieg. Und da gibts manchmal noch viel länger als acht Stunden keinen Bissen.

Das hier war also eine gute Vorübung, demnach . . .

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

War das etwa fürchterlich? War das Tierquälerei?

Ich kann nur eines sagen: oben in den Logen befand sich die Patronin mit unseren Bordweibern, es gesellten sich als Zuschauer auch immer mehr Herren hinzu, obgleich die ja gar keinen Zutritt hatten. Heute war ja aber alles außer Rand und Band, sie hatten sich einzuschleichen gewußt.

Und dort oben kugelte man sich vor Lachen!

Im übrigen ging es durchaus anständig zu. Nicht das geringste fiel vor.

Nur Doktor Isidor hatte sich am Likörbüfett wieder einmal wie ein Stint bezecht, machte aber weiter keinen Unsinn, tanzte nicht mehr, klammerte sich hübsch fest und saugte weiter aus den Schnapsflaschen wie eine Biene aus Blumenkelchen.

Und dann allerdings unser Mister Tabak! Der war nicht sehr fürs Tanzen, was man ihm bei solchen krummen Beinen auch nicht verdenken konnte, der weidete nur immer das Büfett ab. Na‚ da war ja nichts weiter dabei, wenn er nun einmal solchen Hunger hatte. Aber nicht hübsch von ihm war, daß er dann einmal, weil der Büfettisch ungemein breit war, er nicht überall hinlangen konnte, tatsächlich auf allen vieren zwischen den Schüsseln darauf herumkroch und aus den Sardinenbüchsen das Öl aussoff.

Gegen zwei Uhr erlosch plötzlich das elektrische Licht. Spinnenduster war es. Ich glaube sicher, so ein Herr dort oben hatte für diese Finsternis gesorgt.

Aber sie irrten sich. Es wurde ruhig im Finstern weiter getanzt.

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Es gab einige mächtige Karambolagen, weiter nichts.

Und dann gab es auch noch einen gewaltigen Krach mit Gläsersplittern.

Schon nach wenigen Minuten, während welcher keine einzige Dame aus den Klauen gelassen worden war, flammte das elektrische Licht wieder auf, und da sahen wir die Bescheerung.

Doktor Isidor war nur zwischen die Likörflaschen gefallen.

Hatte sich nicht weiter beschädigt, nur in die Zunge hatte er sich geschnitten, weil er die Scherben ausleckte.

Und ferner war Oskar, der wie ein angeschossener Floh herumhopste, die Füße wirklich meterhoch warf, während der Finsternis in einen Rohrstuhl getreten, gleich durch, hatte den Stuhl am rechten Beine hängen, und er streifte ihn nicht etwa gleich ab, das gabs bei dem nicht, der tanzte erst seine Kaffeefrau zu Ende, und dann erst, als er seine Dame einem anderen überliefert hatte, stieg er aus dem Stuhle heraus, rannte nach dem Büfett, bohrte sich in aller Schnelligkeit wie eine verhungerte Ratte in einen holländischen Käse ein, dann mit noch kauendem Munde auf eine andere Dame losgeschossen, die gerade frei wurde, und . . .

»Auf der Reitzenhainer Straße hat'ch ne Kaffeefrau erhängt!«

Um vier marschierten wir in geschlossener Kolonne ab, unsere Damen den Dienern und barmherzigen Schwestern überlassend.

Wie es in dem Saale aussah, will ich nicht zu beschreiben versuchen. Alles eine Nässe. Die Atmosphäre war, wie der stereotype Ausdruck lautet, mit Feuchtigkeit geschwängert. August der Starke zog noch auf der Straße wie eine Schnecke eine nasse Spur hinter sich. Ich will es gleicht kurz erledigen, was noch damit zusammenhängt.

So hatte ich den Damen, die meine Argonauten als Tanzmatrosen gebrauchen wollten, eine Lektion erteilt.

Aber der Erfolg war eigentlich doch ein recht negativer.

Man denkt wohl, die hätten uns das übelgenommen, uns wegen Tierquälerei verklagt?

I Gott bewahre!

In den nächsten Tagen regnete es geradezu Briefchen, die uns meist auf geheimnisvolle Weise zugestellt wurden.

Wir wurden mit Geschenken überschüttet, deren anonyme Absender sehr leicht zu erraten waren.

Ich zum Beispiel erhielt ein Zigarrenetui zugestellt, inwendig mein Monogramm aus Diamantsplitterchen, das genau so nacht Ylang—Ylang und Patschuli stank, wie die Kommandeuse danach gestunken hatte. Habe das Ding niemals gebrauchen können.

Wir bekamen es auch noch direkt zu hören, wie köstlich sich die Damen amüsiert hätten. So etwas sollte recht bald wieder gemacht werden.

Ja, dort in Gibraltar ist mir zum ersten Male aber auch ganz deutlich zum Bewußtsein gekommen, daß an der stereotypen Redensart alter, ausgedörrter Lebemänner, die sie in Romanen und auf der Bühne so gern tun, doch etwas Wahres ist: nämlich daß die Weiber einfach ganz unberechenbar sind!


55. KAPITEL.
DIE GLOCKE LÄUTET!

Wieder waren vier Tage vergangen, und die Schiffsglocke war noch nicht von Geisterhand geläutet worden, kein anderes Zeichen hatte unsere unsichtbare Gönnerin von sich gegeben.

Ich stand neben dieser Glocke unter der Kommandodrücke und überlegte mir, was für ein Mittel ich nun noch probieren könnte, um den ekelhaften Moschusgeruch endlich wieder loszuwerden. Alle Waschungen mit greuner Seep, Soda, Sand und die verschiedensten Räucherungen hatten bisher nichts genützt. Vielleicht existierte der schreckliche Geruch nur noch in meiner Einbildung, aber das half nun nichts, auch das schärfste Paprikafleisch schmeckte mir nach Ylang—Ylang und Patschuli, es war gar nicht mehr zu ertragen.

Selten habe ich so viel geflucht wie damals in Gibraltar, und immer mehr kam ich zur Überzeugung, daß nur ich derjenige gewesen, der bei dieser Geschichte hereingefallen war. Die Frau Kommandeuse hatte mir da einen Denkzettel angehangen, den ich vielleicht Zeit meines Lebens nicht wieder los wurde, und daß die anderen, die ebenfalls mit dieser Dame getanzt hatten, nichts von dem nachträglichen Parfümgestank wissen wollten, das konnte mich nicht trösten.

Und weiß der Teufel, während dieser Zeit, die ich meine Moschusperiode nenne und die mich tatsächlich sehr unglücklich machte, surrte mir fort und fort ein Gedicht durch den Kopf, das ich irgendwo einmal gelesen oder gehört hatte, den poetischen Erguß eines ganz modernen Rinnsteindichters, und für mich hatte diese Sache damals so große Bedeutung, daß ich die geistreichen Verse meinem Leser nicht vorenthalten möchte:

Ich kenn ein glücklich Hundevieh,
Das wäscht man nur mit Patschuli Und wohlriechender Seife.
Des Mittags kriegt es nur Filet,
Kriegt es was andres, sagt es: »Nee, Solch Fressen, das ist treife.«
Dich aber lebe wie ein Schwein,
Der Wind pfeift mir durchs Hosenbein.
Ich habe keine Decke -
Ich friere an der Ecke.

Das ist eine Probe der allermodernsten Poesie.

Trotz der frühen Morgenstunde drängten sich die Menschen schon und noch immer auf der Mole, um uns zu bewundern.

Heute war allerdings auch ein besonderer Grund dazu vorhanden.

Gestern nachmittag hatten wir einer Herausforderung der Garnison zu einem Fußallmatch Folge geleistet. Die Garnison von Gibraltar, wenn sie auch manchmal wechselt, ist selbst in der englischen Heimat als unüberwindliche Fußallmannschaft gefürchtet. Die Kerls haben ja in dem Felsennest nichts weiter zu tun.

Wir hatten uns ihren besten Kämpfern gestellt. Aber mit uns war nichts zu machen gewesen. Innerhalb von 20 Minuten hatten wir acht Tore geschossen, und nicht aus Leichtsinn, sondern wirklich nur aus Großmut hatten wir auch dem Gegner einen Schuß durch unser Tor gestattet.

Da war es kein Wunder, wenn sich die Menge schon bei Sonnenaufgang auf dem Kai staute, um uns Ovationen zu bringen. Denn Fußall ist dem Engländer Fußall, da geht ihm nichts drüber.

Briefe bekamen wir nach wie vor in unverminderter Zahl, aber auch noch immer versuchte ab und zu ein naives Menschenkind, persönlich Einlaß zu finden.

So auch jetzt, in der neunten Morgenstunde. Auf dem Laufbrett stand ein Mann, verhandelte mit den Wächtern.

Es war ein noch junger Mensch, der mir einen ganz verdächtig deutschen Eindruck machte. Außerdem offenbar ein blondlockiger Künstlerkopf, der von dem breitrandigen Sombrero geschmückt wurde.

»Tut mir leid, die Patronin ist prinzipiell nicht zu sprechen!« sagte denn jetzt auch der Matrose auf Deutsch. »Nein, auch der Waffenmeister nicht, nicht der Kapitän, niemand. Sie müssen schreiben, kurz, aber doch ganz bestimmt, was Sie wollen. Ist die Sache eine Antwort wert, dann bekommen Sie eine, sonst nicht.«

So hörte ich den Matrosen sprechen.

Da schrak ich furchtbar zusammen.

In diesem Augenblick begann plötzlich neben mir die Glocke zu tönen, ohne daß der herabhängende und befestigte Klöppel benutzt wurde, ohne daß die große Glocke schwang.

Da muß man wohl erschrecken, wenn man kein blödsinniges Tier ist. Nach Schopenhauers Theorie soll man ja nur über relle Geistererscheinungen nicht erschrecken.

Wenn ich erschrak, so mußte also die Glocke durch eine irdisch—physische Kraft in Schwingungen versetzt werden, so rätselhaft diese auch sein mochte.

Es mochten ungefähr 20 Schläge gewesen sein, laut und deutlich genug, um das ganze Schiff rebellisch zu machen, wenn auch nicht zu verwechseln mit dem Feueralarm, der übrigens bei uns gar nicht mit der Glocke signalisiert wurde, sondern durch die Sirene mit komprimierter Luft.

Bei den letzten Tönen legte ich die Hand an die Glocke. Die Vibrationen der Metallwände wurden ganz regelrecht gehemmt.

Dann ließ ich Glocke Glocke sein und ging schnell hin nach der Laufbrücke.

»Sie wünschen?«

»Ich möchte gern die Patronin sprechen, die Freifrau von der See Helene Neubert. Bitte, bitte, machen Sie es doch möglich!«

Es war ein männliches, äußerst sympathisches Künstlergesicht, in das ich blickte. Der Ausdruck einer gewissen Melancholie gehört meiner Meinung nach zum echten Künstler — da hatte ich schon in meiner Jugend einige Erfahrungen gesammelt — wenn er auch nicht gerade so stark zu sein braucht wie in diesem Antlitz.

»Sie sind wohl Maler?«

»Ja.«

»Ihr Name?«

»Reinhold Gerlach.«

Da fing die Glocke abermals zu läuten an.

»Schon gut, schon gut, weiß schon!« mußte ich Brummbär nach der Glocke abwinken.

Alles war bereits an Deck gestürzt, denn was es mit diesem Glockenläuten ohne Klöppel für eine Bewandtnis hatte, wußten sie ja alle.

»Kommen Sie mit.«

Ich führte ihn in die Kajüte, die Hauptpersonen kamen zusammen, die Patronin nahm schnell den letzten Lockenwickel aus den Haaren. Klothilde hatte noch einige Haarnadeln zwischen den Zähnen.

Kennt man das — mir fällt immer einmal so etwas ein, und dann muß es auch heraus — wie dem Mark Twain, dem berühmten amerikanischen Humoristen, nun leider auch schon im Jenseits, die Marmorstatue gezeigt wird?

Es ist so eine berühmte antike Figur, ein nacktes Weib, das sich mit kokett zurückgeneigten Armen die Haare frisiert, dabei offenbar in einen Spiegel blickend.

»Wie gefällt Ihnen das?« fragt der Besitzer der Statue.

Mark Twain mustert mit kritischen Augen.

»Ganz unnatürlich, ganz unnatürlich.«

»Was?«

»Die hat ja keene Haarnadeln im Munde.«

Das ist Mark Twain! Auch ein ehemaliger Seemann, als Pilot und als Heizer gefahren.

Wir hatten uns gesetzt.

»Nun, mein junger Freund, was bedrückt Sie?«

Ja, ganz gedrückt saß er da. Die feinen Hände gefaltet, mit einem unsäglich traurigen Gesicht.

Dann kam es heraus.

»Meine Schwester ist verschleppt worden.«

»Verschleppt?! Wo denn? Wohin denn?«

»In Konstantinopel — in das Serail des Sultans.«

Ich erzähle es anders, als wie wir es nach und nach erfuhren.

Eine romantische Geschichte, die manchem vielleicht unglaublich klingen mag, und doch passiert so etwas alle Tage, und kein Hahn kräht danach.

Reinhold Gerlach war ein akademisch geschulter Maler, ein talentvoller, ein gottbegnadeter Maler.

Wer einigermaßen Einblick in solche Verhältnisse gewonnen hat, der weiß ja, was es mit der Malerei als Erwerb auf sich hat. Wer kauft denn Gemälde?

»Was soll ich denn mit dem Bilde,« sagt der reiche Parvenu zu dem Künstler, der ihm seine neueste Schöpfung zeigt, ein schönes Weib, nur mit dem Gürtel der Venus bekleidet. »Hundert Taler soll das Ding kosten? Was soll ich denn mit dem Bilde. Nach Modell gemalt? Wissen Sie was — geben Sie mir die Adresse von dem Mädel, geben Sie mir eine Empfehlung mit — dann kriegen Sie hundertfünfzig Taler.«

Ich persönlich kenne einen Maler, der — es ist noch gar nicht so lange her — die Familie eines regierenden Fürstenhauses porträtierte. Natürlich auf Bestellung. Da muß er also doch schon einen Namen gehabt halten, auf den eben alles ankommt. Und während dieser langen Zeit hat der Mann bunte Bilder für die Innenseite von Zigarrenkistendeckeln gemalt, entworfen! Um nicht zu verhungern!

Man hält es kaum für möglich. Der mußte doch Vorschuß bekommen. Nein, eben nicht! Auch der spekulanteste Jude gab ihm auf die Porträts der Königskinder hin keinen Pfennig! Denn die Bilder konnten ja mißfallen, brauchten nicht abgenommen zu werden. Da malte der Künstler nebenbei federgeschmückte Indianerinnen auf Zigarrenkisten, um nicht zu verhungern. Die Porträts fanden Beifall — jetzt freilich ist der fein 'raus, jetzt will jeder Isaak Levisohn von ihm konterfeit sein, jetzt wälzt der sich auf Gold.

Kurz, obgleich schon mehrere seiner Werke in verschiedenen Gemäldegalerien ausgestellt waren und enthusiastisch bewundert wurden, pries sich der giottbegnadete Reinhold Gerlach glücklich, als er endlich in einer Ansichtspostkartenfabrik als technischer Leiter der Farbenharmonie mit monatlich 150 Mark fest angestellt wurde. Nun brauchte er wenigstens seiner Schwester Hildgard, die für einen Hungerlohn in einem photographischen Atelier tätig war, nicht mehr zur Last zu fallen.

Es kam noch besser. Auch Hildgard wanderte hinüber in die Ansichtspostkartenfabrik. Und die beiden bekamen zusammen den ungeheuren Gehalt von monatlich 500 Mark. Freilich mußten sie dafür auch die ganze Welt bereisen. Um Sujets für Ansichtspostkarten zu finden. Ohne weitere Reisespesen. Einen Gehilfen hätte Reinhold, wenn er auch photographieren konnte, so wie so mitnehmen müssen, weil er immer eine auseinanderschiebbare Feuerwehrleiter mitzuschleppen hatte, von deren Spitze Gebäude und so weiter photographiert werden mußten na‚ da nahm er gleich die Schwester mit.

Die Geschwister merkten ja bald, daß der ungeheure Gehalt hinten und vorn nicht langte, aber sie wußten sich einzurichten, sie kamen durch, und sie sahen dabei doch die Welt.

Als erstes war ihnen die sogenannte Hundelinie vorgeschrieben, die Route von Budapest nach Konstantinopel. Hauptsächlich sollten sie alle interessanten Moscheen mitnehmen, das Innere wiedergeben, und da darf man nicht viel photographieren, da kann man leicht gesteinigt werden. Deshalb eben der gottbegnadete Künstler mit seinem Tuschkasten.

Also Belgrad, Sofia, Philippopel, Adrianopel, Dadscharopopel — und so opelten und popelten die beiden weiter bis nach Konstantinopel.

Sie wohnten in der christlichen Vorstadt Pera, wo es aber noch muselmännisch genug zugeht. Ich war auch schon dort gewesen. Auch dort kann man des Nachts vor dem Geheul der wilden Straßenhunde nicht schlafen, und nach jedem Regen bleibt man im Kote stecken. Sie wohnten bei einer armenischen Familie. Die Armenier sind gar keine unrechten Menschen, in Kleinigkeiten sind sie ehrlich.

Eines Tages war Reinhold auf der Kunstfahrt, Hildgard entwickelte zu Hause die Platten.

Als er heimkam, war sie gerade fortgegangen, hatte etwas beim Drogisten holen wollen.

Sie kam nicht wieder. Zur Polizei gelaufen, zum deutschen Konsul — ja, was sollte da gemacht werden.

Hildgard kam nicht wieder.

Aber am dritten Tage mußte Reinhold Strafporto für einen unfrankierten Brief bezahlen. Er tat es gern, denn er erkannte doch gleich die Handschrift seiner Schwester. Stutzig machte ihn nur, daß das Kuvert selbst hergestellt und zusammengeklebt war.

»Reinhard, ich bin verschleppt worden — ich bin als Odaliske im Harem des Sultans — im Serail, mehr weiß ich nicht — ich werde ganz gut . . . «

Nichts weiter. Vorzeitig abgebrochen.

Der junge Mann machte den großen Fehler, daß er zuerst zur türkischen Stadtpolizei ging und dort auch noch das Zettelchen aus den Händen gab.

Er sah es nie wieder. Wurde nur wegen dieses Zettelchens von Pontius zu Pilatus geschickt und gab seine diesbezüglichen Bemühungen erst auf, als er seine neuen Stiefelsohlen durchgelatscht hatte.

Konsulat, Gesandtschaft, wohlwollende, einflußreiche Persönlichkeiten, die ihn wirklich einmal anhörten — immer nur ein bedauerndes Achselzucken.

Ich will es nicht weiter schildern, mir steigt noch immer das Blut siedend heiß zu Kopfe, wenn ich nur daran denke, was ich damals zu hören bekam. Der junge Mann besaß den unverzeihlichen Fehler, daß er kein Geld hatte. Nicht einmal ein »von« vor seinem Namen. Keine vornehme Verwandtschaft.

Und auch dies alles hätte ihm wohl nichts geholfen. Ja, wenns eine Prinzessin gewesen wäre, die aus Versehen abhanden gekommen und die man im Serail des Sultans vermutet hätte.

Aber wegen solch eines armseligen Malermädels.

Wohl deswegen politische Verwicklungen einleiten? Weiter fehlte nichts!

Diese dreckigen Türkenhunde lachen uns doch aus!

Und die Türken verhöhnen und verachten uns eingeborenen Europäer mit vollkommenem Rechte.

Christliche Generationen haben die herrliche Sophienskirche gebaut, die asiatischen Türken pflanzen den Halbmond darauf, und wir dulden es ruhig. Wir borgen unseren alten Erbfeinden auch noch Geld, um recht viel »Proßentche« zu bekommen.

Doch genug davon.

Der Tag der Abrechnung wird schon noch einmal kommen.

Am 11. Januar dieses Jahres war es gewesen, als Hildgard verschwand.

Zwei Wochen später gehörte Reinhold mit zu denen, die täglich des Mittags vor dem Tor des deutschen Hospitals sitzen und darauf warten, ob für sie von der Krankenkost ein Schüsselchen übrig geblieben ist.

Sein Geld war verbraucht. Ach, was hatte der für Hände füllen müssen! Bakschisch! Ohne irgend etwas dafür zu haben. Alle seine Habseligkeiten schon verkauft. Auch was er noch zu Hause gehabt, hatte er sich schon schicken lassen.

Er selbst aber hatte seiner Fabrik keine Ansichten mehr schicken können, zu fordern hatte er nichts weiter, Vorschuß gab es nicht. Alle wars. Und die Schwester war weg.

Na‚ schließlich fand er doch noch jemanden, der ihn wenigstens wieder in die Heimat expedierte.

Aber wenn er in Konstantinopel an Ort und Stelle nichts hatte machen können, hier erst recht nichts.

Es war die alte Geschichte: wohl sahen alle, alle, an die er sich hilfeflehend wandte, das himmelschreiende Unrecht ein — »das ist ja unerhört, hier muß unbedingt etwas geschehen, Ihre Schwester muß doch wieder heraus!« — aber diejenigen, die ihm wirklich aus ganzem Herzen helfen wollten, die hatten kein Geld und keinen Einfluß, und die die Macht dazu hatten, die speisten ihn mit schönen Redensarten ab und ließen sich dann gar nicht mehr blicken.

Es ist die alte Sache! Habe selbst persönlich etwas ganz Ähnliches erlebt, was aber nicht hierher gehört.

Die Schwester war für den Bruder einfach tot.

Endlich mußte er es glauben. Er spie auf die Menschen und wurde selbst ein anderer Mensch. So glaubte er wenigstens.

Da er seine Sache ja sonst sehr gut gemacht hatte, nahm ihn die Ansichtspostkartenfabrik wieder an, schickte ihn nochmals auf Kunstreisen, diesmal nach Spanien.

Zuletzt von der Alhambra nach Gibraltar.

Und nun hatte die Glocke geläutet, nun saß er hier vor uns.

»Well,« war es natürlich Kapitän Martin, der mit diesem Worte anfing, als jener schwieg, »wir sollen Ihnen also helfen. Wie stellen Sie sich das nun vor? Was könnten wir für Sie tun?«

Nein, der junge Mann war durch Menschenverachtung kein anderer Mensch geworden.

Oder diese seine Erzählung hatte noch einmal den ganzen Jammer in seinem Bruderherz aufgerührt.

Ach, Geschwisterliebe! Welch herrliches Wort! Wo ist sie denn zu finden?

Ich habe die Augen immer offen gehabt, habe gar scharfe Augen, aber bisher in der Welt verdammt wenig von wahrer Geschwisterliebe bemerkt.

Aber Geschwister, die sich als Kinder zu Hause verklatschen und prügeln und beißen und kratzen, und die dann später als »gesetzte Menschen« beim Teilen der Erbschaft mit Knüppeln dreinschlagen möchten, wenn es anständig wäre, deshalb lieber die Sache vor Gericht austragen — ja, die habe ich genug kennen gelernt. Bei uralten Jungfern und Brüdern, die den Tadderich haben und sich allein nicht mehr anziehen können, zählt die Geschwisterliebe nicht mehr mit.

Noch niedergeschlagener denn zuvor saß der junge Mann da. Die einleitenden Worte, die unser Kapitän da getan, hatten ihn doch auch nicht eben ermutigen können.

»Ich dachte — ich hatte hier von Ihnen gehört — auch schon früher — und weil Ihr Schiff gerade hier lag — da dachte ich — dachte ich — weil Sie doch so viel den Armen geben — daß Sie — Sie ein mitleidiges — Herz — und — Sie haben doch auch Verbindungen — die Lady of the Sea mit England — und — und — ein mitleidiges Herz —«

»Gott verdamme mich ewig!«

Alles blickte erschrocken nach mir.

Denn das hatte ich gesagt.

Ich war schon vor einiger Zeit aufgestanden, marschierte in der Kajüte auf und ab.

Und ich bat nicht etwa um Entschuldigung, in Gegenwart von Damen so geflucht zu haben. Auch die beiden Schwestern waren zugegen.

»Ja, Gott verdamme mich ewig! Da brauchen wir gar keine englischen Verbindungen, da segeln wir ganz einfach hin und holen das Mädel wieder heraus, und wenn man sie uns nicht gutwillig geben will, dann . . . «

Und ich ließ eine der Hundepeitschen durch die Luft pfeifen, die bei uns überall herumlagen.

Alsbald heulte Doktor Isidor wie ein Kettenhund auf.

Die Schwippe mußte versehentlich seinen Schenkel gestreift haben — der vielmehr sein Bein, so etwas wie Schenkel hatte das dürre Kerlchen ja gar nicht.

»Auuuuu! Was fällt Ihnen denn ein?!«

»Scheeren Sie sich hinaus, wenn Ihnen das nicht paßt!« schnauzte ich ihn auch noch an. »Sie sind überhaupt ooch so'n orientalisches Brechmittel!«

Er ging nicht. Es konnte auch nicht schlimm gewesen sein.

Dieser Zwischenfall aber charakterisiert meine damalige Stimmung.

Eine wilde Fröhlichkeit war plötzlich über mich gekommen.

Ich war damals ein gar wilder Gesell. Es mußte nur einmal Gelegenheit sein, daß es zum Durchbruch kam.

Obgleich sonst ein gutes Luder! Das Gefühl von Rache und Haß war mir, wie schon einmal erwähnt, ganz fremd. Ich kenne diese Gefühle eben nicht, sie sind mir nicht mit in die Wiege gelegt worden. Vielleicht ist das sogar eine Schwäche. Dann kann ich aber eben nichts dafür.

Aber manches gab es, was ich nicht leiden konnte. Ungerechtigkeit, Vergewaltigung. Da konnte ich böse werden. Da konnte ich außer mir geraten. Um dem entgegenzutreten, einer brutalen Ungerechtigkeit, da riskierte ich sofort meine Existenz, da kam es mir auch auf ein paar Jahre Zuchthaus nicht an, und da hätte es hinterher auch kein Bereuen gegeben.

Und ich hatte sofort einen Bundesgenossen auf meiner Seite.

Jetzt sprang auch die Patronin mit blitzenden Augen auf.

»Na sicher, die holen wir aus dem Serail heraus!«

»Well, wie denken Sie sich das?« fragte Kapitän Martin kaltblütig wie immer zurück.

Da wurde die Patronin gleich wieder etwas unsicher, so blickte sie nach mir hin.

Mein Plan aber war sofort gefaßt.

»Das ist doch höchst einfach!« lachte ich noch immer mit wilder Lustigkeit. »Wir kitschen einfach einen hohen türkischen Würdenträger, so einen Pascha oder etwas ähnliches, von der Straße weg, oder holen ihn, wenn es sein muß, aus seinem Hause heraus, gleich einen türkischen Prinzen, den Thronnachfolger selbst — und dann heißt es: haust Du meinen Juden, hau ich Deinen Juden heraus mit der Odaliske, die sich schon melden wird, Ihr braucht alle die Weiber nur antreten zu lassen und zu fragen, eher bekommt Ihr Euren Kronprinzen nicht wieder! Na‚ Kapitän, was machen Sie denn da für ein Gesicht? Sie meinen, das ginge nicht? Oder da machten Sie nicht mit? Weil wir da zu Piraten werden würden? O, die »Argos« braucht damit auch gar nichts zu tun zu haben, da chartern oder kaufen wir einstweilen ein anderes Fahrzeug, die Führung übernehme ich — jawohl, da bin ich bereit, einmal den Piratenkapitän zu spielen, unter einer Maske, und ich versichere Ihnen, daß sich von unseren Jungen genug melden werden, die da mitmachen wollen.«

So hatte ich gesprochen.

Ja, dieser Plan war gut und ausführbar, da hatte auch Kapitän Martin nichts mehr dagegen einzuwenden.

Vorläufig hatte es gar keinen Zweck, weiter darüber zu sprechen, erst mußten wir in Konstantinopel sein, und dazu mußten wir erst Gibraltar verlassen, uns erst vorschriftsmäßig auf dem Hafenamt abmelden.

Das besorgte ich selbst, ich ging sofort an Land, nur Gerlach kam noch mit, um seine Siebensachen zu holen.

Und jetzt war der junge Mann wirklich ein ganz anderer Mensch geworden.

Er strahlte vor Seligkeit.

Daß wir seinen Wünschen gleich so entgegenkamen, die ganze Sache gleich so einfach auffaßten, das hatte er ja nun freilich nicht erwartet, nicht im kühnsten Traume zu hoffen gewagt.

»Wie soll ich Ihnen nur danken — wie soll ich nur . . . «

»Na‚ halten Sie die Luft an, holen Sie Ihre Sachen. In einer Stunde müssen Sie zurück sein, dann haben wir vollen Dampf, dann geht es sofort ab!l«

»In einer halben Stunde bin ich zurück!«

»Und daß Sie natürlich zu niemandem davon sprechen!«

»Gott bewahre! Ich weiß schon, um was es sich hierbei handelt. Auch an meinem glücklichen Gesicht soll niemand etwas merken.«


56. KAPITEL.
DER STOWAWAY.

Als ich nach einer halben Stunde an Bord zurück kam, hatte sich auch Gerlach wieder eingefunden, bereits eine Kabine bezogen.

Es wäre ja vielleicht besser gewesen, wenn wir den jungen Mann, ob er nun hier in Gibraltar von der Entführung seiner Schwester erzählt hatte oder nicht, heimlich an Bord genommen hätten, daß überhaupt niemand von seiner Anwesenheit wußte — aber wenn man so vorsichtig sein will, da wird man ja überhaupt niemals fertig, da verbittert man sich ja das ganze Leben.

Dann hätten wir auch bei jedem Fäßchen Wein und bei jedem Frühstückskorb, der uns als Präsent geschickt wurde, daran denken müssen, daß vielleicht Konkurrenzneid oder sonst irgend eine gelbe Eifersucht durch Gift unserer Argonautenherrlichkeit ein Ende bereiten wolle.

Aber obgleich wir schon einmal mit vergiftetem Büchsenfleisch eine böse Erfahrung gemacht hatten, so dachten wir ja an so etwas gar nicht, und nicht etwa, daß Doktor Isidor, wenn uns Getränke oder Fressalien geschickt wurden, erst eine Analyse gemacht hätte.

Wenn etwas nicht in Ordnung gewesen wäre, das hätten wir schon bald genug im Magen gemerkt, oder wie damals bei dem Strychnin im Kreuze, und damit basta!

Ich erwähne erst jetzt, daß wir hier in Gibraltar wie in jedem englischen Hafen, in dem wir uns angenehm bemerkbar machten, mit solchen Präsenten, die man trinken oder verspeisen kann, geradezu überschüttet wurden.

Es ist dies eine englische Eigentümlichkeit, hängt mit dem uralten Picknick zusammen. Das ist ein keltisches Wort und heißt nichts weiter als Gastfreundschaft. In den englischen Volkskreisen wird das alte, echte Picknick noch heute ganz streng gehandhabt. Es ist gerade umgekehrt wie bei uns. Dort wird man beim Besuch nicht bewirtet, sondern der Besuchende bringt Speisen und Getränke mit, oder läßt letztere auf seine Kosten aus dem nächsten Wirtshause holen. Infolgedessen werden in England gerade Familien, deren Ernährer einmal keinen Verdienst hat, von den Nachbarn des Abends recht häufig besucht. Jeder bringt etwas zu essen mit, so viel, daß die arme Familie gleich für einige Tage versorgt ist. Das ist dort eine ganz herrliche Sitte!

In den höheren Kreisen wird das heilige Picknick wenigstens noch der Form nach gewahrt. Wir bringen, wenn wir eingeladen sind oder einen Besuch machen, der Hausdame ein Bukett, den Kindern eine Bonbonniere mit. Der feine Engländer schickt seinem Besuche einen Picknickkorb voraus, mit Delikatessen und Wein und Likör. Der deutsche Kaiser, wenn er dem englischen Königshof einen Besuch macht, bringt regelmäßig einen gefüllten Wildschweinskopf mit. Wer das schon manchmal in der Zeitung gelesen und sich vielleicht gewundert hat, der weiß nun, daß dies mit der uralten, heiligen Sitte des Picknicks zusammenhängt.

Also in jedem Hafen, in dem sich Engländer befanden. denen wir es angetan hatten, bekamen wir immer massenhaft solche Picknickpräsente zugeschickt, Frühstückskörbe und ganze Kisten oder Fässer mit Wein, wenn der Sendung auch kein Besuch nachfolgte. Da hat das Picknick seine eigentliche Form, seinen ursprünglichen Zweck geändert. Das hängt nun wieder mit den Verhältnissen in den Kolonien zusammen. In den heißen Gegenden halten sich doch frische Lebensmittel und auch geräucherte Fleischwaren nicht lange. Dort sieht man, auch in großen Städten wie Kairo oder Bombay, keine solche Delikatessenläden wie bei uns. Es ist nämlich auch gar nicht möglich, dort solche feine Fleischwaren herzustellen. Weshalb nicht — das kann nur der Fachmann erklären. Das ist genau so, wie es schon in dem benachbarten Frankreich durchaus nicht gelingen will, ein wirklich gutes Bier zu brauen. Da nützt es nichts, bayrische Bierbrauer hinkommen zu lassen. Mit solchen Experimenten hat man schon Millionen verpulvert, bis man die Unmöglichkeit eingesehen hat. Ebenso wie es unmöglich ist, dem echten Schweizerkäse irgendwie Konkurrenz zu machen.

Nun sind aber gerade im Auslande, eben weil man sie dort nicht so leicht bekommt, solche »Fressalien« ungemein geschätzt. Dort gibt es Geschäfte, große Agenturen, die nichts weiter als Bestellungen auf Picknickkörbe entgegennehmen. Die will der Engländer aus seiner Heimat haben, wenn sie auch vielleicht in Braunschweig oder sonstwo in Deutschland gefüllt werden. Das ist ein gar schwunghafter Handel, und das ist auch gar nicht so einfach, dazu gehört viel Erfahrung, die Schiffe müssen genau bestimmt werden, nicht jedes hat einen Eisraum, und da muß man auch genau den Eisenbahnfahrplan kennen, das muß alles Hand in Hand gehen, sonst schlägt einem, wenn man so einen Korb öffnet, nur ein fürchterlicher Gestank entgegen.

Man soll prinzipiell keine Geschenke annehmen, für die man sich nicht revanchieren will oder kann. Wie wir es damit hielten, das habe ich schon geschildert, wie wir damals den Scheck des Mister Carlistle zurückwiesen.

Aber alles mit Ausnahme! Ganz abgesehen von Geburtstagsgeschenken und dergleichen. Man kann auch einer am Wege stehenden Blumenfrau eine Rose abkaufen und sie der ersten besten fremden Dame überreichen. Nimmt die sie nicht an, hat ihr Begleiter etwas dagegen, so stehen die beiden eben nicht auf gesellschaftlicher Höhe. Aber eine Leberwurst kann man ihr nicht plötzlich in die Hand drücken. Das ist jedoch in England erlaubt. Wenn auch etwas bildlich gemeint. Es hängt eben wieder mit dem Picknick zusammen.

Kurz, wenn wir solche Picknickpräsente zurückgewiesen hätten, das wäre für den englischen Absender eine grenzenlose Beleidigung, eine durch nichts wieder gutzumachende Kränkung gewesen. Und wir wollten doch niemanden kränken.

Die Kunde, daß unser Schiff in allerkürzester Zeit abdampfen würde, hatte sich mit Blitzesschnelle in der ganzen Stadt verbreitet. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß unser Schornstein so mächtig qualmte. Dafür hatten schon die Hafenbeamten gesorgt.

Noch einmal wurden wir mit Picknickpräsenten überschüttet. Meist waren es Diener und Dienstmänner und Offiziersburschen, die kleine und große Körbe von gefälligem Aussehen brachten, aber auch ganze Flaschenkörbe mit Wein, dazu eine Karte oder ein Briefchen abgebend.

Alles wurde angenommen. Einen Dank schließt diese Art von Schenkerei aus. Die Begleitschreiben, wenn überhaupt welche dabei waren, kamen gleich so durcheinander, daß wir später gar nicht mehr kontrollieren konnten, von wem die einzelnen Sachen waren.

Schon wollten wir die Laufbrücke einziehen, als noch ein Rollwagen vorgefahren kam, auf dem ein stattliches Faß von bekanntem Aussehen lag, ein englisches Oxhoft, eine halbe »Pipe«, nämlich wenn Portwein in Betracht kam, 238 Liter gleich 64 englische Gallons, gesetzlich vorgeschrieben.

Und echter Douroport war es denn auch, den uns eine Weinfirma im Auftrage eines Lords Harlin schickte.

Wurde dankbar angenommen. Man kann froh sein, wenn man einmal echten Portwein von Douro bekommt. Der geht nur durch englische Hände, und die saufen dort drüben ja alles, was gut ist, selber. Dann setzen sie gequetschte Rosinen mit Zuckerwasser an, Spiritus hinein, füllen dieses Gebräu in die von ihnen geleerten Pipen und verkaufen es ihren Nachbarn als echten Portwein.

Also das schwere Faß mehr als fünf Zentner wiegend, wurde an Deck gerollt, einstweilen, da alle Luken schon geschlossen waren, mit Klampen festgelegt, die Laufbrücke eingeholt, die letzte Verbindung mit dem Lande gelöst — und fort ging es.

Dort am Kai wurden die Taschentücher und Mützen und Hüte geschwungen unsere Kapelle spielte noch einmal ein Abschiedslied, ganz selbstverständlich »Muß i denn, muß i denn«.

Zwei Stunden vergingen. Den Felsen von Gibraltar hatten wir schon hinter uns, nun ging es ins Mittelländische Meer hinein. Unser Ziel wußte niemand, das braucht man ja nicht anzugeben.

In der Kajüte unterhielt sich die Patronin mit dem jungen Maler. Nicht über seine Schwester, sondern über seine Kunst. Sie wollte ihn auch sonst in ihre Dienste stellen. Gar kein so übler Gedanke. Unsere Kajüten und sonstigen Wohnräume mit solchen Bildern zu schmücken mit schönen Landschaften mit Szenen aus unserem Argonautenleben und so weiter. An so etwas hatten wir noch gar nicht gedacht. Doktor Isidor hatte einen guten Photographenapparat, konnte auch photographierent, war aber viel zu faul dazu, erhielt auch keine Aufforderung. Es war bei uns niemand für so etwas eingenommen. Wir erlebten alles Schöne lieber und behielten es dann einfach in der Erinnerung. Ansichtspostkarten und dergleichen hatten wir nicht nötig. Aber immerhin, wenn der junge Mann etwas konnte — o ja, solche Ölgemäldchen, das mußte ja ganz hübsch sein.

Ich hatte einige Zeit zugehört und war dann an Deck gegangen. Da unsere Abreise so plötzlich geschehen, gab es noch viel zu tun, was gerade meine Sache als die des Kargokapitäns war.

»Nun hier das Portweinfaß in den großen Proviantraum!«

Die betreffende Luke wurde geöffnet, neben der das Faß schon lag, der Krahn der Winde darüber geschwungen, die Zangenhaken klargemacht.

Weiter kamen wir nicht.

In dem Fasse erscholl ein deutliches, kräftiges Klopfen.

So klopft kein Portwein, auch kein Rosinenwasser. Wir wußten ja sofort, was hier los war.

»Ein Stowaway!« erkläng es von den Umstehenden einstimmig.

Ein blinder Passagier, der sich verstaut hat. Dieses englische Wort ist auch in deutschen Seemannskreisen nun einmal allgemein eingeführt.

»Ein Stowaway!«

Wir stellten nicht erst lange Fragen, sondern das Faß wurde gleich hochgekippt, wozu drei starke Männer gehörten, und mit dem Stemmeisen aufgebrochen.

»Ja, wie kann denn aber nur das Faß so schwer sein?!« fragte jemand.

Das war eben das Geheimnis, das ich schnellstens gelöst haben wollte, weswegen ich den Insassen nicht erst anrief.

Denn unsereiner hat doch seine Erfahrung, mir kann doch niemand etwa ein volles Weinfaß abliefern, und wenn man es öffnet, dann kauert nur ein Mensch drin.

So etwas kann man sehr schön in Jugendschriften erzählen, aber in Wirklichkeit ist so etwas ganz ausgeschlossen.

Hier lag wirklich ein großes Rätsel vor, das wir durch eigene Untersuchung schnellstens lösen wollten.

Das Rätsel war bereits zur Hälfte gelöst, als mit dem Holzdeckel zugleich eine dicke Bleiplatte herausgehoben wurde, wobei zwei Männer tüchtig zufassen mußten, so schwer war sie.

Und ehe ich noch in das Faß blicken konnte, da schnellte schon wie aus dem bekannten Kasten das Teufelchen an der Spiralfeder heraus, aber keine rote Fratze mit Hörnern, sondern ein liebliches Mädchenantlitz oder zuerst wäre mir beinahe ein großer Samthut an die Nase gefahren, dann erst folgte das liebliche Gesichtchen wie Milch und Blut, dann folgte ein weißer Spitzenkragen nach, dann ein dunkles Kleidchen, und dann machte das, was in dem Kleidchen steckte, über den Faßrand mit gleichen Füßen eine kunstgerechte Hocke, und neben dem Fasse stand ein allerliebstes Mädel von etwa 12 Jahren im kurzen Kleidchen, das aschblonde Haar offen und vorn über beide Schultern fallend — so stand das Mädel da, den einen Fuß im Schnallenschuhchen etwas vorgesetzt, die Arme in die Hüften gestemmt — so stand es da, öffnete das rote Mündchen und sagte ganz einfach:

»Lady Evelyn, Duchesse von Suffolk, Peeresse.«

So, nun wußten wir es.

Also eine englische Herzogin. Aber nicht eine, die es durch Heirat wird, sondern eine geborene Herzogin, eines Herzogs Tochter, die keinen Bruder hat, die also nach des Vaters Tode die Herzogswürde erbt und fortpflanzen soll, die also auch die Peerswürde mit allen Rechten und Pflichten übernimmt, die auch einen Sitz im Oberhaus haben müßte, wenn dort Weiber Sitze hätten.

Also eine Peeresse, welche, wenn die englische Königsfamilie ausstürbe, eine neue Königsdynastie begründen könnte.

Und ehe wir noch etwas sagen kannten, fuhr das rote Mündchen schon zu plappern fort, im schönsten Deutsch:

»Denken Sie nicht etwa, daß Sie mich wieder los werden! Drehen Sie nicht etwa um! Lebendig bringen Sie mich nicht an Land! Ich will bei den Argonauten aufgenommen werden, will als Schiffsjunge anfangen, und damit fertig!«

So, wenn die mit allem fertig war, dann wars ja gut!

»Bitte, Mylady, folgen Sie mir in die Kajüte.«

Vor der Patronin legte sie offene Beichte ab, nur ich war noch zugegen. Es hätte doch vielleicht etwas dabei herauskommen können, was sonst niemand zu erfahren brauchte. Aber es war gar nicht der Fall.

Die kleine Waise — denn das mußte sie wohl sein, sonst hätte sie ja keine regelrechte Peereß sein können — stand unter der Vormundschaft ihres Onkels mütterlicherseits, des Lordes Eugen Harlin, der wegen eines Brustleidens, das aber nach Behauptung seiner liebenswürdigen Nichte nur eine eingebildete Schrulle von ihm sein sollte, jeden Winter in Gibraltar verbrachte, das ein so mildes, glückliches Klima besitzt, daß dort sogar Affen in Freiheit leben können, ohne die Schwindsucht zu bekommen.

Auch die kleine Peereß mußte immer mit, sie hatte in der palastähnlichen Villa ihren Hofstaat.

Jawohl, ihren eigenen Hofstaat. Man muß nur wissen, was so eine Persönlichkeit zu bedeuten hat. Wenn so ein vollblütiger englischer Lord, der nicht inkognito reist, nach Berlin kommt, so kann der nicht etwa in einem Hotel absteigen, sondern der wird als Gast des Kaisers empfangen. Das ist gar nicht anders möglich. Oder er muß inkognito reisen. Jeder Lord, der zugleich Peer ist, ist thronberechtigt.

Doch davon abgesehen. Oder auch nicht so abgesehen. Ich hätte bei der ja nicht den Oberhofmeister spielen mögen. Das war ein ganz böser Racker.

Sie hatte schon viel von den Argonauten gehört, hatte schon immer die Absicht gehabt, in diese seemännische Gesellschaft mit einzutreten. Wenn sie nur gewußt hätte, wo dieses rastlose Schiff zu erreichen gewesen, dann wäre sie schon längst durchgebrannt.

Das vertraute sie natürlich nicht ihrem Onkel und auch keiner Ehrendame an — so dumm war die doch nicht sondern nur ihrem Freunde Jimmy.

Jimmy, ein in den Kolonien ergrauter Soldat, hatte den Stall unter sich. Aber nicht etwa als Oberstallmeister, hatte überhaupt eigentlich gar nichts mit den Pferden zu tun, nur mit dem Miste. War einfach ein Stallknecht. Aber, wie das nun manchmal so kommt, gerade der war der kleinen herzoglichen Herrlichkeit intimster Freund und Berater. Er mußte übrigens, was sie dann alles von ihm erzählte, ein ganz kapitaler Bursche sein. War schuß— und stichfest, konnte Freikugeln gießen, Warzen versprechen, und wenn er Karten gab, so hatte er regelmäßig die höchsten Trümpfe. Eben so ein alter Soldat, der sich in aller Welt herumgeschlagen hatte.

Natürlich konnte Jimmy auch wahrsagen. Nicht aus den Karten, sondern aus alten Bleikugeln, da hatte er sein eigenes System. Und da prophezeite er mit untrüglicher Gewißheit heraus, daß jetzt für seine kleine Herrin noch nicht die Zeit zum Durchbrennen gekommen sei, um sich den Argonauten anzuschließen, sie müsse noch warten, bis es das Schicksal oder seine Bleikugeln bestimmten.

Mir schien, daß der Alte selbst ein bißchen das Schicksal gespielt hatte, er wollte das Herzogskind von solch einem Streiche abhalten.

Da aber kam die »Argos« selbst nach Gibraltar, und nun ließ sich Evelyn durch nichts mehr abhalten, und wollte ihr alter Freund nicht ihre ganze Gunst verscherzen, so mußte er jetzt behilflich sein, sie an Bord zu bringen.

Dem Onkel den Wunsch als Bitte vorzutragen, daran war natürlich gar nicht zu denken. Zuerst wurde einige Male an die Patronin geschrieben, es konnte ja doch sein, daß sie so romantisch war, um die kleine romantische Peeresse gleich anzunehmen, die Briefe wurden immer drohender, als aber gar keine Antwort kam, da mußte Jimmy seinen Rat erteilen, wie sie dennoch an Bord kam.

Es war ja schließlich einfach genug. Es ist ja so leicht, auch ohne Geld und Erlaubnis an Bord eines Schiffes zu kommen und eine Seereise mitzumachen.

Jedes Schiff ist ja, wie gesagt, im Hafen immer zugänglich und da kann man schon eine Gelegenheit erspähen, sich in den Kohlenbunkers oder im Laderaum zu verstecken, und auf hoher See kriecht man dann hervor, wegen solch eines blinden Passagiers dreht das Schiff nicht etwa um oder läuft einen Hafen an.

Jawohl! Um Gottes willen, daß kein unternehmender Jüngling so etwas machen will! Von hundert, die das riskieren, kommt kaum einer lebendig wieder zum Vorschein. Die Leichen, die immer einmal beim Löschen des Schiffes, beim Ausladen, gefunden werden, erzählen davon. Auf den Stowaway werden noch Kohlen geschüttet, Kisten und Säcke geladen, und aus ist es mit ihm! Er mag schreien und pochen wie er will, in den seltensten Ausnahmefällen wird er gehört. Wohl ihm, wenn er erstickt, ehe er verhungert und verschmachtet.

Das alles war dem alten Jimmy bekannt, der als englischer Kolonialsoldat Seereisen genug gemacht hatte.

Und selbst wenn es während einer unserer Vorstellung dem Stowaway gelang, ein sicheres Versteck zu finden, wo ihm so etwas nicht drohte, etwa in einer Kabine unter einer Koje, so war doch mit unseren vielen Hunden zu rechnen, und da hatte der alte Jimmy allerdings auch ganz recht. Denn da wir ja in jedem Hafen mit Anträgen von Männern und auch genug von Weibern überschüttet wurden, die zu uns an Bord wollten, so waren wir vor Stowaways immer auf unserer Hut, vor dem Verlassen eines Hafens suchte regelmäßig die ganze Hundemeute unter Peitschenmüllers Leitung alle Innenräume des Schiffes ab, auch nach jeder Vorstellung, und wir hatten auch schon mindestens zwei Dutzend Stowaways gefunden, wovon ich nur nicht gesprochen habe, weil es eben nicht am Platze war. Jedenfalls entging diesen Nasen unserer Hunde, die daraufhin nun schon scharf gemacht worden waren, keine fremde Person mehr, die sich nach einer Vorstellung oder gar bei Abfahrt des Schiffes noch an Bord aufhielt, der Betreffende mochte sich auch noch so gut und noch so tief im Schiffe versteckt haben. Dann waren immer alle Durchgänge geöffnet, die Hunde durchstrichen ganz von selbst das ganze Schiff — sie fanden jeden!

Sollte Evelyn mit List an Bord gebracht werden, woran der alte Sünder jetzt wirklich mit Enthusiasmus einging, so konnte das nur in der letzten Minute vor der Abfahrt geschehen, in Verpackung.

Als solche kam eine große Kiste oder ein Champagnerkorb oder ein Faß in Betracht.

Aus verschiedenen Gründen entschloß sich Jimmy für ein genügend großes Faß für eine halbe Pipe.

Die Vorbereitungen wurden schnellstens getroffen. Es war ja ganz unbekannt, wann wir Gibraltar wieder verlassen würden.

Das Oxhoft war schnell besorgt. Daß dies alles in größter Heimlichkeit geschah, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen. Nun handelte es sich vor allen Dingen darum, dem Fasse die nötige Schwere zu geben. Denn so dumm war Jimmy nicht, so eine Erzählung zu glauben, daß etwa ein Faß mit Salzfleisch geöffnet wird, und zum Vorschein kommt ein Mensch. Da müßte sich ein Mensch so in das Faß pressen, daß der Innenraum vollkommen ausgefüllt wird, eben als wäre zusammengepreßtes Salzfleisch drin. Und selbst wenn hundert Fässer übergenommen werden, die Matrosen merken doch sofort, wenn statt des deklarierten Salzfleisches lebendiges drin ist, der Unterschied im Gewicht ist eben gar zu groß, das Faß würde sofort untersucht werden, nur um sich von dem Lieferanten nicht prellen zu lassen.

Nein, so einfach ist das nicht, wie man sich das manchmal denkt.

Aber der alte Haudegen wußte Rat.

An das Grundstück der herzoglichen Villa oder des Palastes grenzte eine Niederlage der Garnison, auch alte und neue Bleiplatten waren darin massenhaft vorhanden. Die Felsenkammern, in denen die Geschütze in Lafetten stehen oder in Ketten hängen, sind nämlich mit Bleiplatten ausgepolstert, weil Blei den Schall außerordentlich dämpft, besser wie das weichste Holz, so gut wie Filz, ohne wie dieser den Pulvergeruch anzunehmen, der sich nach und nach bildende Pulverschleim kann abgewischt werden.

Dort hinten hatte Jimmy schon seine Freunde, alte Veteranen, die besorgten ihm so viel Bleiplatten, wie er haben wollte. Wie es in solchen Militärniederlagen eben manchmal zugeht, nicht nur in englischen.

Um das nötige Gewicht auszurechnen, dazu waren keine besonderen mathematischen Kenntnisse nötig. Ungefähr vier Zentner waren noch nötig. Also einige Bleiplatten wurden zugeschnitten und zu Zylindern gebogen, andere bildeten den Boden und Deckel. Dann war für das Kind noch immer Platz genug drin, es konnte sich auch umdrehen, falls es mit dem Fasse einmal auf den Kopf gestellt wurde. Boden und Deckel ruhten fest auf den Bleizylindern, konnten unmöglich herabfallen, weder nach innen noch nach außen, wohl aber konnte Evelyn, wenn sie sich mit Füßen und Händen stemmte, ohne besondere Kraftanstrengung den oder jenen Deckel herausdrücken. Das war alles ganz vortrefflich arrangiert. Wenn Jimmys Erfindungskraft dazu nicht ausreichte, so wußten seine Freunde besseren Rat, denn die hatte er eingeweiht, und die alten Soldaten machten ja nur zu gern so etwas mit.

Dann noch genügend Luftlöcher gebohrt, von außen kaum bemerkbar, und die Sache war allright. Eine mehrstündige Probesitzung hielt Evelyn ganz vortrefflich aus.

Nun handelte es sich nur noch darum, die Abfahrt der »Argos« zu erfahren. Die Abmeldung des Schiffes mußte unbedingt auf dem Hafenamt geschehen, und auch dort fand Jimmy seine verschwiegenen Helfershelfer. Fünf Minuten später, nachdem die Abfahrt gemeldet wurde, erfuhr auch Jimmy davon, bei Tage wie bei Nacht. Nach dieser Abmeldung hat, wenn nicht ganz zwingende Ausnahmen vorliegen, mindestens noch eine Stunde zu vergehen, ehe das Schiff den Hafen oder vielmehr seinen Anlegeplatz verlassen darf, und dicht daneben war eine Speditionsfirma, bei der ein Kutscher und ein Rollfuhrknecht auch schon ins Vertrauen gezogen waren.

Kurz und gut, nicht das geringste war vergessen worden, und wie alles geklappt, hatte ja das Resultat gezeigt.

So hatte uns die kleine Prinzeß berichtet. Denn das war sie. Sie konnte aber nicht so angeredet werden, weil eine Peereß noch viel mehr ist. Die wird auch nicht mit »Mylady« angeredet, wie ich es getan, sondern mit »Your Ladyship«. Doch davon abgesehen — sie wurde dann unsere Prinzeß.

Sie hatte zu ihrem Bericht viel kürzere Zeit gebraucht als ich hier.

Helene blickte mich an und ich sie, und dann betrachteten wir wieder das reizende Kind, das auch als Arbeitermädel in die ordinärsten Kleider gehüllt sein konnte, um ebenso reizend zu sein.

»Ja, Mylady — oder Prinzeß — was soll denn nun daraus werden?« begann dann die Patronin.

Zunächst klatschte die Prinzeß die vorgeworfenen Hände zusammen, als ob sie eine Fliege fangen wolle, und dann wußte sie gleich Bescheid.

»Na ich bleibe eben hier an Bord.«

»Wir bringen Sie sofort nach Gibraltar zurück.«

»Probieren Sies mall« lachte sorglos das Rosenmündchen.

»Was wollen Sie denn dagegen tun?«

»Lebendig bekommen Sie mich nicht wieder von Bord.«

»Ach Prinzeß, reden Sie doch keinen Unsinn. Ich kann mich wirklich nicht anders ausdrücken.«

»Sie werdens schon sehen. Sobald Sie mich mit Gewalt von Bord entfernen wollen, werden Sie etwas ganz fürchterlich Entsetzliches erleben. Und wenn es Ihnen durch eine List gelingt, mich an Land zu bringen, etwa wenn ich schlafe, daß Sie mir etwa erst einen Schlaftrunk eingehen, dann . . . haben Sie mein Leben auf Ihrem Gewissen. Ich begehe Selbstmord, verlassen Sie sich nur darauf.«

Durchaus nicht theatralisch hatte sie es gesagt, sogar mit lachendem Munde.

Aber . . . wir lachten durchaus nicht mit. Man weiß ja, wozu solch verrückte Mädels fähig sind, gerade aus solchen Kreisen.

Ehe wir jedoch etwas sagen konnten, lag die kleine Herzogin schon vor der Patronin auf dem Teppich umklammerte ihre Knie, und jetzt klang ihre Stimme ganz anders.

»Bitte, bitte, allerliebste Mylady, behalten Sie mich doch bei sich! Ach, wenn Sie wüßten, wie ich mich danach sehne, hier dieses Leben mitmachen zu können!Und Sie haben ja auch noch viele Jungen und auch ein kleines Mädchen bei sich! Ich will ja alles, alles tun, was Sie von mir verlangen, die schmutzigste Arbeit und die schwerste Arbeit, ich will waschen und scheuern und putzen! Und wenn Sie wüßten, was ich in den letzten Tagen alles gemacht und ausgestanden habe, um meinen Plan auszuführen, ich habe keine Nacht mehr geschlafen, denn die Meldung konnte ja auch des Nachts kommen, daß Sie gleich abfahren, und ich mußte mich immer bereit halten . . . «

Sie sprach und flehte noch weiter. Für mich war nichts weiter nötig.

Mir stieg es wieder einmal so siedend heiß zum Herzen empor, ich war aufgesprungen.

»Genug, die bleibt an Bord!«

Die sonst so romantisch und phantastische Patronin war diesmal vernünftiger als ich.

»Ja, um Gottes willen, das geht aber doch nicht! Und wenn sie schließlich auch bei uns bleiben könnte . . . denken Sie doch nur an den Lord, an ihren Onkel, die Prinzeß wird doch bereits vermißt . . . «

Mit einem Jubelschrei, wie ihn der gefangene Vogel ausstößt, wenn er durch die geöffnete Tür seinem Käfig entflieht, war das Mädel aufgeschnellt und hing an meinem Arme. Denn jetzt war natürlich ich es, an den sie sich zu halten hatte.

»Das habe ich mit meinem Jimmy doch schon alles verabredet!« jauchzte sie.

»Was denn verabredet?« mußte ich ob dieses Glückes lachen.

»Na‚ der erzählt doch nun gleich, wo ich mich befinde, drei Stunden später, nachdem das Schiff abgefahren ist, das haben wir natürlich ausgemacht, so in Angst will ich meinen guten Onkel doch nicht lassen.«

»Aber auch Jimmy weiß doch gar nicht, ob wir Dich auch wirklich gefunden haben, Du konntest ja dennoch verunglücken, nur als Leiche gefunden werden.«

»Ja, das mußte natürlich riskiert werden, wer nichts wagt, gewinnt nichts, aber Jimmy hielt die ganze Geschichte für totsicher, und auch das Weitere haben wir ja ausgemacht.«

»Was denn?«

»Sobald ich zum Vorschein komme und alles in Ordnung ist, berichten Sie dem ersten Schiffe, das durch die Straße von Gibraltar geht, daß ich hier an Bord bin und bleibe, das meldet das Schiff dann nach der Festung hinauf . . . «

»Aber Kind, mein Kind, das hättest Du doch gleich sagen sollen!«

»Kind, mein Kind — ach, wie herrlich das klingt!« jauchzte sie sofort, nicht etwa unverständlich für mich.

Es machte der kleinen Peereß, vor der doch jedenfalls alles kroch, eben den größten Spaß, von einem Fremden so familiär angeredet zu werden, und ob nun englisch oder französisch oder deutsch, das macht für derartige Kinder ja gar keinen Unterschied, die lernen die Hauptsprachen doch gleich von kleinauf, haben danach ihre Umgebung.

»Wo fahren Sie hin?«

»Nach Konstantinopel!l« durfte ich jetzt verraten, wenn es da überhaupt etwas zu verraten gab.

»Na‚ da kommt mein Onkel einfach nach Konstantinopel nach!«

»Und dann?«

»Na‚ dann bleibt er natürlich mit an Bord.«

»Was, dann bleibt er an Bord?« stutzte die Patronin wie ich.

»Ja natürlich, wenn ich an Bord bleibe, dann muß der auch hier sein, das geht doch nicht anders. Was meinen Sie denn wohl, was der als Vormund für eine Verantwortung für mich hat! Und Sie erlauben doch, daß mein Onkel auch mit an Bord bleibt, bitte, bitte von dem alten Herrn merken Sie ja überhaupt gar nichts!«

In aller Schnelligkeit teilte sie uns etwas von der Lebensweise ihres Onkels mit. Der alte Herr war ein Sonderling, ein ganz großer. Nur wegen seiner herzoglichen Nichte mußte er viele Dienerschaft oder sogar einen ganzen Hofstaat unterhalten, er selbst hatte gar keine Bedienung nötig, wollte keine haben, hätte am liebsten sich selbst sein Essen gekocht und selbst sein Bett gemacht, teils aus philosophischen, aus stoischen Gründen, teils eben aus Schrullenhaftigkeit. Man findet so etwas sehr oft in solchen Kreisen. Ich will nur er wähnen, daß Rockefeller, der amerikanische Petroleumkönig, der reichste Mensch auf diesem Planeten, ebenfalls nur von Brot und Früchten lebt und tatsächlich sein Bett in seiner Kammer selbst macht. Das sind Ansichten. Er will von aller Welt möglichst unabhängig sein. Da muß man wohl selbst erst einmal so viel Millionen und Milliarden zusammengescharrt haben, um auf solche Ideen zu kommen. Für den aber, der ernster darüber nachdenkt, ist das alles ganz begreiflich.

»Er wird sicher keinen einzigen Diener haben wollen, wenn er nun einmal hier bleibt. Wenn er nur Schach spielen kann.«

»Schach?!«

Wir erfuhren, daß des alten Herrn ganzer Lebensberuf darin bestand, selbstgesetzte Schachprobleme zu lösen.

Na‚ da konnte er ja bei uns allerdings an Doktor Isidor einen Gesellschafter finden, der würde ihn schon zu fesseln wissen.

»Und Jimmy kommt dann noch an Bord, nicht wahr?« schmeichelte sie weiter.

Denn für die war das nun eben alles schon ganz ausgemachte Sache.

»Ja, dann können wir aber doch gleich wieder nach Gibraltar zurückfahren und den Lord Harlin abholen, wenigstens erst einmal mit ihm sprechen.«

»Ja, das können wir. Nur nicht in den Hafen hinein.«

»Warum nicht?«

»Weil sonst das Schiff unter englischen Hafengesetzen steht und festgehalten werden kann.«

»Was sollen wir sonst tun?«

»Natürlich in neutralem Wasser liegen bleiben.«

»Weshalb das?«

»Na‚ da kann Ihnen doch auch kein Kriegsschiff etwas anhaben, darf Ihnen nicht befehlen, in den Hafen zu kommen?«

»Weshalb denn nicht?«

»Nu, weil Sie doch die englische Halbkriegsflagge führen.«

Wir staunten ja nicht schlecht.

Die beiden hatten eben absolut nichts vergessen, konnten ja auch die Verhältnisse recht wohl kennen.

Es kam nur alles so altklug und siegessicher aus dem Kindermunde heraus!

»Wenn Ihr Onkel Sie aber nun wieder mitnimmt?«

»Ja, wie soll er denn nur?! Ich gehe einfach nicht. Und wenn Sie mich nun gar unter Ihren Schutz nehmen, was Sie doch ganz selbstverständlich tun. Und wenn mein Onkel auch auf einem Kriegsschiffe kommt, das hat Ihnen doch gar nichts zu sagen.«

Es war nichts zu machen, die hatte sich mit ihrem Freunde alles klipp und klar überlegt.

Nur um das An—Bord—Kommen hatte es sich gehandelt, und dieses Problem hatten sie eben zu lösen gewußt.

Es wurde nur noch mit Kapitän Martin gesprochen der hatte nichts dagegen einzuwenden.

Also wieder umgedreht, und als wir die Signalstation auf der Felsenfestung wieder in Sicht hatten, das Signal gegeben, daß wir zu sprechen wünschten.

Da aber wurde dort oben auch schon die »Argos« angerufen.

»Ist die Duchesse von Suffolk an Bord?«

»Ja.«

Jimmy hatte also bereits gebeichtet. In Gibraltar mochte ja eine schöne Aufregung herrschen. Eine englische Herzogin und Peereß läßt man nicht so ohne weiteres verschwinden.

Es wurde weiter signalisiert.

»Ist sie wohl?«

»Alllright!«

»Sofort zurück!«

Waren die verrückt, wurden die Engländer vom GröBenwahnsinn geplagt?

Diesem Befehle brauchten wir durchaus nicht nachzukommen, wir befanden uns in internationalem Wasser und ließen lustig die halbe englische Kriegsflagge flattern.

Dort oben kletterten weiter die bunten Lappen hoch.

»Warten! Ein Kanonenboot schon unterwegs!«

Ja, warten wollten wir. Obgleich wir auch das nicht nötig gehabt hätten.

»Lord Harlin an Bord?«

»Ja.«

Das Gespräch war beendet.

Eine halbe Stunde später kam das Kanonenboot, schon mehr ein Torpedojäger, angerauscht, angebraust.

Die See war so ruhig, daß es an Bord beilegen konnte, wozu der Kommandant aber erst um Erlaubnis gefragt hatte.

Dem alten Herrn, der alsbald das Fallreep heraufkletterte, sah man durchaus nichts von seiner eingebildeten Lungenschwindsucht an, und nicht etwa, daß er »geblüht« hätte.

»Ach, daß man mir die Vormundschaft über solch einen Wergel aufgehalst hat!«

Das war sein erstes Wort, als er das Deck betrat. Dann wurde er wieder ganz steife Würde.

»Wo befindet sich Ihre herzogliche Herrlichkeit, die Peereß von Suffolk?«

»In der Kajüte.«

»Ich möchte Ihre Ladyschaft sprechen.«

»Bitte sehr.«

Gott sei Dank, daß der nicht erst mit uns anfing, es gleich mit der Durchbrennerin persönlich abmachen wollte.

Was die nun ausmachten, das ging uns ja nichts mehr an.

Drinnen in der Kajüte ging es äußerst lebhaft zu, reichlich eine Viertelstunde lang.

Manchmal quietschte eine Stimme, wie eben nur so ein Mädel quietschen kann, der alte Lord konnte seiner fürstlichen Nichte gegenüber auch brüllen. Aber immer leiser wurde seine Stimme, immer demütiger, und dann hörten wir auch etwas wie Schluchzen.

Es tat uns leid, herzlich leid, aber wir konnten es nicht ändern.

Das junge Dämchen mit Gewalt zu entfernen, das durften wir gar nicht wagen, das wußten wir nun schon.

Die Kajütentür öffnete sich wieder, die Prinzeß flog mir direkt an den Hals — mir, nicht der Patronin. Ich hatte ja aber auch zuerst die Entscheidung gegeben.

»Ich darf bleiben, ich darf bleiben!« jubelte sie an meinem Halse.

»Nur bis nach Konstantinopel, nur bis nach Konstantinopell« setzte der ihr folgende Onkel hinzu, sich schnell noch einmal die Augen wischend. »Es ist nur einmal eine kleine Vergnügungsfahrt bis nach Konstantinopel. Ja, gestatten Sie aber, daß auch ich die an Bord Ihres Schiffes mitmache?«

»Aber selbstverständlich Mylord, es gereicht uns zur höchsten Ehre!«

»Und Ihre Ladyschaft möchte gern auch den Jimmy mitnehmen . . . «

»Bitte sehr.«

»Nun haben wir aber gar keine Garderobe . . .«

Doch, dafür war ebenfalls schon gesorgt.

An Deck des niedrigen Kanonenbootes hatte sich schon immer ein weißhaariger Bursche bemerkbar gemacht, pfiffig zu uns heraufblinzelnd.

Es war Jimmy, der die Fahrt hatte mitmachen müssen, um gleich hier an Ort und Stelle weitere Rechenschaft zu stehen.

Aber Jimmy hatte auch, ohne dazu eine Aufforderung zu bekommen, zwei große Koffer packen lassen, einen für den Lord, einen für die Duchesse, hatte sie mitgenommen, ohne daß sein Herr etwas davon gewußt hatte.

Sie brauchten nur heraufbefördert zu werden.

»O dieses Komplott, dieses Komplott!« stöhnte der alte Herr, als er Einsicht in die ganze Sache bekam. »Daß mir so etwas noch passieren muß! Sagen Sie mal, Herr Waffenmeister —— nicht wahr, Sie sind doch der Waffenmeister — Ihr Schiffsarzt soll doch ein so ausgezeichneter Schachspieler sein? Beschäftigt er sich auch mit Problemen, damit ich mir bis nach Konstantinopel die Zeit etwas vertreiben kann?«

Das konnte ich ihm versichern — und das Kanonenboot konnte wieder zurückdampfen, wir unseren Weg nach Osten fortsetzen.

So hatten wir wieder drei neue Personen an Bord bekommen, ohne daß es irgendwie in unserer Absicht gelegen hätte, und die wir in Konstantinopel natürlich nicht wieder los werden sollten.

Und was es für uns bedeutete, eine englische Peereß an Bord zu haben und vielleicht noch mehr den Lord Eugen Harlin, den ehemaligen englischen Kolonialminister, das sollte uns später noch klar werden.


57. KAPITEL.
DIE TAUBE DER ARGONAUTEN.

Drei Tage später, aber schon am Abend, wir hatten genau die Hälfte des Weges nach Konstantinopel hinter uns, saß ich in meiner Salonkabine am Schreibtisch und stellte für den nächster Tag die Sportroutine auf, den Stundenplan für die obligatorischen Sportübungen, an denen sich nun auch die kleine Prinzeß schon wacker beteiligte.

Diese mußte dabei freilich besonders berücksichtigt werden, das zwölfjährige Mädchen konnte noch nicht wie die gleichaltrigen Kinder, die nun seit einem Jahre unter meiner Fuchtel standen, mit spielender Leichtigkeit Gewichte von einem halben Zentner und noch mehr stemmen, konnte an Körperkraft auch der nunmehr achtjährigen Ilse bei weitem nicht das Wasser reichen, nicht einmal den sechsjährigen Jungen. Aber wenn die kleine englische Herzogin auch nur sieben Tage an Bord blieb, uns in Konstantinopel wieder verließ, und sie behielt diese Zeit in ihrer Erinnerung, wahrscheinlich als die schönste aus ihrer Kinderzeit, und sie befolgte meine einmal gegebene Anleitung prinzipiell systematisch weiter, so würde sie es mir dereinst wohl Dank wissen.

Wie mir vielleicht auch mancher Leser Dank wissen wird. Ich werde über diese meine Erziehungsmethode zur Ausbildung der höchstmöglichsten Körperkraft später noch einmal ausführlich sprechen. Obgleich die im 4. Heft auf Seite 239 und folgenden gegebenen Andeutungen schon genügten.

Und dann möchte ich das sagen, was Johann Georg von Zimmermann, der Leibarzt der Kaiserin Katharina von Rußland, der auch an Friedrich des Großen Sterbebett gestanden hat, in der Einleitung zu seinem berühmten Werke »Über die Einsamkeit« gesagt hat: »Herzlich will ich mich freuen, wenn auch nur ein einziger für mein Buch mir dankt und mir sagt, es habe ihn aufgeklärt, gebessert und beruhigt.«

Es mag ja sein, daß diese Methode der systematischen Körperausbildung gar nicht meine eigene Erfindung ist, daß sie schon vor mir ausgearbeitet und ausgeprobt wurde. Damals aber ist dies alles meinem Kopfe entsprungen. Und übrigens ist das ja ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß so etwas weiteren Kreisen bekannt wird.

Da, wie ich so den Stundenplan aufstellte mit einer Fröhlichkeit im Herzen, die mich jetzt nimmer verließ, huschte plötzlich über das Papier ein Lichtschein, blieb dort liegen, wo gerade meine Feder schrieb.

Ein Blick nach der Decke, einer nach der elektrischen Glühbirne, einer nach dem mir gegenüber hängenden Wandspiegel — und ich wußte, daß dieser Lichtschein seine Quelle nicht in dieser Kabine haben könne.

Schwester Anna meldete sich wieder! Gar kein Zweifel!

Und der kreisrunde Lichtschein glitt langsam über das Papier hin, über den Schreibtisch verschwand für einige Sekunden, und dann sah ich ihn wieder an dem Wandspiegel emporklettern, sich hier immer mehr verbreiternd, bis er den ganzen Spiegel überspannte.

Dieser Spiegel war in der Glasfläche ungefähr ein Meter hoch und dreiviertel Meter breit. Ich sah in ihm mich am Schreibtisch sitzen, alles was sich darauf befand und was hinter mir war.

Plötzlich aber, wie der weiße Lichtschein die ganze Spiegelfläche bedeckte, sah ich nichts mehr von einer Spiegelung, mich nicht mehr und gar nichts.

Obgleich es doch ein heller Lichtschein war, der alles in noch stärkerem Lichte hätte erscheinen lassen müssen.

Es war aber nicht anders, als wenn über den Spiegel plötzlich ein weißes Laken gehängt worden sei. Oder, will ich sagen, als ob das Glas mit Schlemmkreide bestrichen sei.

Und plötzlich entstanden auf dieser weißen Fläche schwarze Buchstaben, mit einem Male standen sie da.

»Schwester Anna möchte Dich telephonisch sprechen.«

Gelassen griff ich nach dem auf dem Schreibtisch liegenden Telephon, das mich mit allen Räumen verband, in denen sich Telephone befanden, sonst wie jetzt ständig für die Kommandobrücke und für die Patronatskajüte gestöpselt war.

»Guten Abend, mein lieber Freund!« sagte mir eine weiche Frauenstimme ins Ohr.

Über diese Stimme mußte ich mich zunächst baß wundern.

Unsere Telephonanlage funktionierte tadellos, man hörte jedes Wort ganz deutlich, aber alle die Apparate schnarrten wie die Kaffeemühlen, das war auch aus irgend einem Grunde durchaus nicht zu ändern.

Und jetzt hörte ich die leise, weiche Frauenstimme so sprechen, als säße mir die Dame mit dem glockenreinen Organ gegenüber!

Na‚ nevermind.

»Guten Abend, Schwester Annal« erwiderte ich also den Gruß und konstatierte, daß in diesem Augenblick die Schrift an dem Spiegel verschwand, dieser wieder so funktionierte, weshalb man ihn dort hingehängt hatte. Also auch von dem Lichtschein war nichts mehr zu bemerken.

»Ich kann mich,« fuhr die leise und doch so deutliche Frauenstimme fort, »jetzt auch auf diese Weise mit Dir unterhalten. Aber bitte, sprich nicht so laut, Du brauchst nur im leisesten Tone zu flüstern, ich höre Dich schon, wie Du doch auch mich verstehst.«

»Ganz deutlich. Soll unser Gespräch niemand anders hören?«

»Es ist nicht nötig, nur mit Dir will ich sprechen.«

»Aber mein Telephon ist mit der Kommandobrücke und der Patronatskajüte verbunden, ich werde abstöpseln . . . «

»Es ist nicht nötig.«

»Nicht?«

»Nein. Es sind ganz andere Schallwellen, die ich Dir zusende. Wohl muß ich dabei ein Mikrophon benutzen, um mich Dir verständlich zu machen, und Du Dich mir, aber diese Schallwellen werden von den Kupferdrähten nicht fortgeleitet.«

Na‚ dann war es ja gut. Eine ganz vortreffliche Erfindung, die könnten unsere Ingenieure auch bald machen.

»Und Du kannst nach wie vor von anderer Seite angerufen werden, Dich mit dem Betreffenden unterhalten. Das merke auch ich sofort, und dann hören wir eben mit unserem Gespräch einstweilen auf.«

»Ich verstehe.«

»Nur daß Du jetzt allein bist und nicht belauscht wirst.«

»Ich bin allein und kann nicht belauscht werden.«

»Hast Du mich etwas zu fragen?«

»Nein.«

»Wirklich gar nichts?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Das wundert mich.«

»Und mich wundert höchstens, daß Du Dich darüber wunderst.«

»Weshalb?«

»Weil Du mich dann noch nicht genügend kennst, was ich voraussetzte.«

»Recht so!«

Das hatte sie schon damals auf den Lukendeckel geschrieben, in ganz auffallender Weise, in ausnahmsweise großen Buchstaben, und jetzt hatte ihre Stimme bei diesen Worten einen besonderen Klang, sie hatte es in einem besonderen Tonfalle gesagt, daß ich gleich auf die Vermutung kam, die »Schwester Anna« müsse eine ausgebildete »Seemännin« sein.

Dieses »Recht so!« bekommt man nämlich an Bord des Schiffes fortwährend zu hören.

»Was liegt an?« fragt der Kapitän oder Offizier aller paar Minuten den steuernden Matrosen. »Nord Nordost dreiviertel Ost!« lautet etwa dessen Bescheid. »Recht so!l« erklingt es dann, wenn an dem Kurse nichts zu ändern ist.

Das ist aber nicht etwa eine beliebige Redensart, sondern das ist eine von den Seebehörden vorgeschriebene Kommandoformel der Bestätigung, die man also auch bei anderen Gelegenheiten, wenn etwas bestätigt werden soll, an Bord fortwährend zu hören bekommt.

»Sprechen die anderen nicht über ein großes Rätsel?«

»Na und ob! Besonders die Patronin und unser Schiffsarzt stecken deshalb immer zusammen, nicht minder auch unsere anderen Damen.«

»Worüber sprechen sie?«

»Als Du uns damals sagtest, wir sollten nach Gibraltar fahren und dort einen Mann erwarten, dem wir helfen könnten, wußte Gerlach noch gar nicht, daß er von seiner Firma nach Gibraltar geschickt würde, er hat auch sonst niemals eine Aufforderung dazu erhalten. Stimmt das nicht?«

»So ist es.«

»Demnach muß es auch ein Schauen in die Zukunft geben.«

»Das gibt es auch. Der, dem Gott die Augen öffnet, kann es.«

»Demnach muß es aber auch eine unvermeidliche Schicksalsbestimmung geben.«

»Gibt es ebenfalls, und dennoch ist jeder Mensch ganz freier Herr seines Willens. Glaubst Du mir, daß es so ist?« »Ich bin gar nicht so abgeneigt, es Dir zu glauben.«

»Und Du fragst mich nicht, wie das möglich ist?«

»Kannst Du es erklären?«

»Ich könnte es.«

»Würde ich es auch verstehen?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil Du noch nicht so weit in Deiner Entwicklung bist.«

»Dann will ich so lange warten, bis ich so weit bin.«

»Recht so!« erklang es wiederum. »Und eben deshalb, weil Du solch einen Charakter besitzest, will ich fernerhin immer nur mit Dir sprechen.«

»Das habe ich mir gleich gedacht!« konnte ich nur erwidern.

Wie ich über so etwas denke, habe ich dem Leser ja schon mehrmals gesagt. Ich bin schon als Kind gern in eine Zauberbude gegangen, habe aber schon damals nie Neigung verspürt, hinter die Kulissen zu blicken, um zu erfahren, wie der Tausendkünstler seine Illusionen fertig bringt. Jetzt bin ich ein Mann. Ich glaube zwar nicht, daß mit dem Tode die individuelle Persönlichkeit erlischt — weshalb ich das nicht glaube, das kann ich nicht sagen, das ist eben so eine unkontrollierbare Ahnung, die zur Gewißheit werden kann — aber was sonst nach dem Tode aus mir wird, das ist mir ganz verdammt schnuppe. Es wird genau so kommen, wie es kommen muß. Darüber mache ich mir jetzt keine Sorge. Ich werde manchmal von Wißegierden anderer Art geplagt — aber betreffs solcher Sachen kenne ich keine Neugierde.

Da also hatte die Schwester Anna meinen Charakter ganz genau erkannt.

»Ich habe Deinen Plan gehört,« fuhr das Telephon fort, »auch wenn ich Euch nicht etwa belauschte.«

»Ich glaube es, und kann mir den scheinbaren Widerspruch recht wohl zusammenreimen. Doch was für einer Plan meinst Du?«

»Du willst Gerlachs Schwester dadurch aus dem Serail befreien, daß Du einen vornehmen Türken wegfängst und ihn dann gegen das Mädchen austauschst.«

»Ja.«

»Es wäre nicht nötig.«

»Weißt Du etwas anderes?«

»Ja. Aber Du und Ihr alle sollt immer ganz Euren freien Willen haben.«

»Wenn Du einen besseren Plan hast, so werde ich ihn selbstverständlich ausführen.«

»So fahre direkt nach Konstantinopel, aber nicht in den Hafen, nicht um das goldene Horn herum, sondern gehe südöstlich davon vor Anker, an einer Stelle, die ich Dir dann noch näher bezeichnen werde. Es ist dort eine Untiefe mit Muschelgrund, wovon aber nichts in Deinen Seekarten steht, weil diese für den Anker erreichbare Untiefe eben der anderen Welt noch gar nicht bekannt ist.

Du wirst diese Stelle in der Nacht vom 23. bis zum 24. erreichen. In dieser Nacht punkt zwölf Uhr nach Ortszeit wird sich dem Bug Eures Schiffes ein weißer Lichtschein zeigen. Diesem folgt. Und dort, wo sich der weiße Lichtschein in einen roten verwandelt, was ungefähr zwei Uhr nachts geschehen wird, dort laßt den Anker fallen. So ganz genau auf den Punkt kommt es dabei nicht an. Hast Du mich verstanden?«

»Ich habe Tisch verstanden, o, Du unsere dodonäische Taubel«

Dem Leser, der in der griechischen Mythologie nicht bewandert ist, werde ich später erklären, was hiermit gemeint ist. Übrigens gingen meine Kenntnisse in solchen Spezialitäten auch nicht so weit, ich hatte es erst von Doktor Isidor.

Jene Schwester Anna aber wußte sofort, was ich hiermit gemeint hatte.

»Ja, ich will Euch modernen Argonauten die weissagende Taube sein, wenn mich auch nicht die Göttin Athene als Holzspan in Euren Schiffsmast eingesetzt hat. Also nun weiter: dort bleibt Ihr liegen und erwartet das Weitere. Jedenfalls aber wird sich noch an demselben Tage, am Geburtstage unseres Herrn, das erfüllen, weshalb Ihr nach Konstantinopel gefahren seid. Reinhold Gerlach wird seine Schwester wiederfinden.«

»Auf welche Weise?«

»Bitte, das frage nicht!«

»Ganz wie Du wünschest.«

»Mir ist die Zukunft enthüllt, danach darf ich Euch führen, Euch zum Heile, das ist mir erlaubt. Aber ich darf Euch nicht die Zukunft enthüllen, das ist mir verboten.«

»Das ist mir auch viel lieber so, da hat man öfters angenehme Überraschungen, wenigstens bei solch sicherer Führung.«

»Recht so! Dann werde ich Euch südwärts nach Eurem aller anderen Welt unbekannten Asyl führen, das ich Euch versprochen habe.«

»Dann, wenn Du hiervon anfängst, habe ich doch noch einige Fragen.«

»Stelle sie.«

»Es handelt sich dort also auch wieder um so eine geheime Einfahrt wie bei den steinernen Schwestern.«

»Ja, um ganz das gleiche Geheimnis, nur ist es noch viel unkenntlicher.«

»Auf meine Argonauten kann ich mich ja verlassen. Nun haben wir aber wieder vier Fremde an Bord bekommen, die Schwester Gerlachs soll auch noch hinzukommen, und es scheint ganz, als ob alle bei uns bleiben sollten. Es handelt sich auch nur um den Lord Harlin, um den ehemaligen englischen Kolonialminister . . . «

»Vertraut ihm!« wurde ich kurz unterbrochen.

»Wir dürfen ihn als einen der unsrigen betrachten?«

»Vollkommen. Er wird niemals zum Verräter werden, er steht, was Ihr auch tut, immer ganz auf Eurer Seite. So steht es im Buche des Schicksals geschrieben, das wenigstens darf ich Dir sagen.«

»Dann ist es ja gut. So dürfen wir ihn und die andere also auch über unsere dodonäische Taube einweihen?«

»Tut es.«

»Soll ich den anderen auch unser jetziges Gespräch mitteilen?«

»Du sollst es. So weit Du es für gut findest.«

»Wie meinst Du das?«

»Ich meine, daß Du ja nicht alle Mann zusammenzurufen brauchst, um ihnen darüber einen Vortrag zu halten.

Teile es nur denen mit, die als Hauptpersonen dabei in Frage kommen.«

»Ich verstehe.«

»Hast Du sonst noch eine Frage?«

»Ja, jetzt möchte ich allerdings noch etwas wissen.«

»Nun?«

»Es könnte ja sein, und der Fall wird doch sicher auch noch einmal eintreten, daß wir noch einen anderen Mann und noch viel mehr an Bord nehmen. Wenn sich nun darunter ein Verräter befände, würdest Du uns vor ihm warnen?«

»Ich würde es tun.«

»So kannst Du im Herzen der Menschen lesen?!« fragte ich mit einiger Erregung.

»Ja, im Herzen der Menschen wie im Buche des Schicksales. Nun lebe wohl bis ich mich vor Konstantinopel wieder bemerkbar machen werde. Und wenn ich Dich vielleicht schon vorher sprechen will, so werde ich die Schiffsglocke ertönen lassen, dann tritt an irgend ein Telephon, und Du wirst meine Stimme vernehmen. Schluß.«

Die weiche Frauenstimme war verklungen.

Ja, ich war nicht nur etwas, sondern sogar sehr erregt. Fröhlich erregt.

Nur über das, was ich da zuletzt vernommen hatte.

Nämlich daß wir fernerhin vor verräterischen, treulosen Charakteren gewarnt werden sollten, die sich etwa in unsere Gemeinschaft schleichen kannten, und doch auch mein Auge konnte sich da einmal irren.

Das dünkte mir köstlicher als alles, alles andere, diese Sicherheit, die uns hierin garantiert wurde.

Ich begab mich sofort in die große Kajüte, in der alle Hauptpersonen versammelt waren, auch unsere Gäste, als die sie vorläufig noch gelten mußten, waren zugegen.

Ich berichtete mein Gespräch mit der geheimnisvollen Unbekannten, und das Staunen derer läßt sich denken, die davon noch gar nichts gehört hatten.

»Das ist ja die reine dodonäische Taubel« war es jetzt Lord Harlin, der dies sofort rief.

Ich will nun erklären, was es hiermit für eine Bewandtnis hat.

Wer in einem neueren Konversationslexikon nachschlägt, um über die Argonautensage nachzulesen, wird von der dodonäischen Taube gar nichts erwähnt finden, wahrscheinlich aber in einem älteren. Diese älteren Lexikas hatten eben mehr Platz für derartige Ausführungen, die hatten sich noch nicht so viel mit den letzten Errungenschaften der Technik zu beschäftigen.

Am besten ist es natürlich, man liest gleich die Quellen. Freilich gibt es da verschiedene klassische Werke, Epen, welche die Argonautensage auch ganz verschieden behandeln. Am ausführlichsten berichtet über die dadonäische Taube das Epos des Valerius Flaccus.

Der bekannte Jason erhält von seinem Oheim Pelias den Auftrag, das goldene Vließ des Widders, auf welchem Phrixus und Helle entflohen waren, aus dem Haine des Ares zu Colchis zu holen, wo Phrixus den treuen Hammel geschlachtet und sein goldenes Fell an einer Eiche aufgehängt hatte, dort bewacht von einem Drachen.

Zunächst mächte ich etwas einschalten. Jede Sage muß doch einen symbolischen Hintergrund haben, muß irgend etwas bedeuten. Es ist eine von unseren gelehrten Mythologen heiß umstrittene Frage gewesen, was man sich denn unter dem goldenen Vließ vorzustellen habe. Wenn es einfach ein goldenes Schafsfell gewesen wäre, so hätten sich doch wohl nicht fünfzig der ersten Helden Griechenlands, darunter Könige und Königssöhne, aufgemacht, um unter den größten Strapazen dieses Fell zu suchen. Da muß irgend etwas anderes dahinterstecken.

Die modernen Okkultisten legen diese Sage so aus, daß auf dem Widderfell ein alchymistisches Rezept geschrieben war, wie man Gold machen könnte. Daher »goldenes Vließ«. Dies nur nebenbei.

Zu dieser Fahrt läßt Jason von Argus, dem Sohne des Phrixus, ein fünfzigrudriges Schiff bauen, so groß, wie es die damalige Welt noch nicht gesehen hat, das nach seinem Erbauer den Namen »Argo« bekommt.

Hier ist also zwischen uns und den alten Argonauten ein kleiner Unterschied vorhanden. Unser Schiff hieß »Argos«, nach jener griechischen Insel so benannt.

Jason fordert die berühmtesten Helden Griechenlands zur Mitfahrt auf, und ihrer fünfzig kommen. Nach anderen Schriftstellern sollen es freilich noch viel mehr gewesen sein, bis zu hundert.

Herkules, Theseus, Kastor und Pollux, und so weiter, sie alle kommen mit. Auch ein Weib war darunter: Atalanta, die unbesiegbare Schnelläuferin, welche Kaledonien von dem furchtbaren Eber befreite.

Was nun diese alten Argonauten für Abenteuer erlebten, darüber mag man anderswo nachlesen. Ich will hier nur von der dodonäischen Taube sprechen.

Dodona war ein im alten Griechenland hochberühmtes Orakel, überhaupt das älteste. Dort stand ein mächtiger, dem Zeus geheiligter Eichbaum, aus dessen Rauschen Priesterinnen weissagten. Diese Priesterinnen wurden Peleiades genannt, d. i. Tauben. Weshalb sie so hieBen, weiß ich nicht.

Nun interessierte sich auch die Göttin Athene so sehr für diesen Argonautenzug, daß sie von dieser prophetischen Eiche einen Span abschnitt, der ebenfalls weissagte, also auch sprechen konnte, und ihn in den Mast der »Argo« einfügte. Der Span selbst wurde dodonäische Taube genannt.

Wenn die Argonauten nun einmal irgend etwas wissen wollten, so brauchten sie nur ihre hölzerne Taube zu befragen, und außerdem, nach Valerius Flaccus, schickte dieser prophetische Holzspan bei schwierigen Passagen von ganz allein einen Lichtstrahl voraus, dem die Argonauten einfach nur zu folgen brauchten, um überall glücklich durchzukommen.

Mit diesem prophetischen, den Weg anzeigenden Span ist zweifellos schon der Kompaß angedeutet, den damals erst die Chinesen besaßen.

Ende des Dritten Teils