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Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.

   

Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.

Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.

Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.

 

Inhaltsverzeichnis


58. KAPITEL. VOR KONSTANTINOPEL.
59. KAPITEL. DIE MYSTERIEN VON SEELAND.
60. KAPITEL. VERIRRT.
61. KAPITEL. DER ZAUBERSPIEGEL.
62. KAPITEL. PROFESSOR BEIREIS.
63. KAPITEL. EINE VERUNGLÜCKTE WALFISCHJAGD.
64. KAPITEL. IN DEN HÄNDEN VON SEELENVERKÄUFERN.
65. KAPITEL. IN EINEM RÄTSELHAFTEN LANDE.
66. KAPITEL. BEIM MÄUSEKÖNIG.
67. KAPITEL. ARABISCHE MAGIE.
68. KAPITEL. EINE TOTENBESCHWÖRUNG.
69. KAPITEL. WAS MIR DIE »TOTEN« ERZÄHLEN.
70. KAPITEL. DER SPIEß WIRD UMGEKEHRT.
71. KAPITEL. AUF DEM RÜCKWEG.
72. KAPITEL. AUF DER FAHRT NACH WESTEN.
Fräulein Seutbeers Geist.
73. KAPITEL. DAS SCHWERT DES CID.
74. KAPITEL. DER UNTERGANG DER ARGOS.
75. KAPITEL. DER FÜRST DES FEUERS.
76. KAPITEL. AN BORD DER »SCHWESTER ANNA«,
77. KAPITEL. EIN UNBEGREIFLICHER HANDSTREICH.

Vierter Teil

58. KAPITEL. VOR KONSTANTINOPEL.

Wieder waren drei Tage vergangen, ohne daß sich Schwester Anna nochmals gemeldet hätte.

Es war eine stockfinstere Nacht, die dem heiligen Christfest vorausging, zu dem wir schon längst unsere verschiedenen Vorbereitungen trafen.

Man konnte die Hand nicht vor den Augen erkennen. Wir steuerten nach den verschiedenfarbigen Leuchtfeuern, die hier und da an der türkischen Küste aufflammten, alle in den Seekarten eingetragen.

Aber es war eine sehr schöne Nacht, mild wie im Frühling. Denn hier unten kann es im Dezember manch mal schon bitter kalt sein. Die See war fast ganz glatt.

Wir Hauptpersonen hatten uns auf der Bank versammelt, dem erhöhten Vorderteil des Schiffes, unter dem sich fast immer, wie auch bei uns, das Mannschaftslogis befindet.

»Gleich ist es Mitternacht!« meldete jetzt Doktor Isidor der unsere Greenwicher Zeit nach der Ortszeit umgerechnet hatte.

Nach den Leuchtfeuern wußten wir ja immer genau, wo wir uns befanden.

»Da — da — da — da ist es!«

Plötzlich lag mehrere Meter vor dem scharfen Bug an dem stillen Wasser, das sich erst hinter uns rauschend schloß, ein heller, weißer Lichtschein, derselbe kreisrunde, den wir schon damals gesehen hatten, und wir holten ihn nicht ein, er war uns immer in derselben Entfernung voraus.

Für uns war das wohl ein Phänomen, aber ein anderes Schiff hätte dicht vorüber fahren können, oder auch an Deck unseres Schiffes hätte ein Uneingeweihter den Lichtschein sehen können, er hätte daran nichts Bemerkenswertes gefunden.

Für den wäre das einfach ein Lichtschein gewesen, der vorn aus einem Bollauge herausfiel, und es hätte ein Physiker oder ein sehr scharf beobachtender Mensch sein müssen, um sich darüber zu wundern, daß der Lichtschein vorher durch die Finsternis ja gar keinen Strahl zog. Denn der fehlte, und das war es eben!

Der Lichtschein führte uns ganz beträchtlich vom Kurse ab, immer weiter nach Norden. Dadurch näherten wir uns so weit der Küste, wie wir allein es niemals gewagt hätten. Aber diesen leuchtenden Piloten durften wir wohl trauen. Es war die dodonäische Taube, die ihn uns voraussandte.

Zwei Stunden vergingen. Ach was die anderen über den Lichtschein alles für Spekulationen aufstellten. Ich aber machte da nicht mit, ich war der Odysseus, der seine Ohren verstopfte.

Da begann die Schiffsglocke zu läuten, aber nicht von Menschenhand in Schwingungen versetzt, und gleichzeitig verwandelte sich das weiße Licht in ein blutrotes.

Kapitän Martin war auf seinem Posten, das war die Hauptsache, auf der Kommandobrücke, von wo aus er den Lichtschein auch noch sehen konnte.

Der Signalapparat klingelte, die Schraube stoppte, machte einige Schläge rückwärts, in wenigen Sekunden war die Fahrt gebremst, und gleich beide Buganker rasselten herab, faßten sofort in neun Meter Tiefe.

Jetzt freilich konnte auch Kapitän Martin verwundert den Kopf schütteln.

Nach den farbigen Küstenfeuern konnten wir genau auspeilen, wo wir uns befanden, danach die Seekarten befragen.

Diese ganzen Küstengegenden hier sind von den Russen aufs genaueste ausgelotet worden. Die Russen sind überhaupt nach den Engländern die fleißigsten Seeforscher und Meridianvermesser immer gewesen und sind es heute noch, das muß man ihnen lassen — auch so ziemlich das einzige Gute, was ich von den Russen kenne. Es hängt mit der Petersburger geographischen Gesellschaft zusammen, die durch Legate überaus reich dotiert ist, und wo Tauben sind, da fliegen Tauben zu, jeder reicher Mann, der sich auch noch nach seinem Tode bemerkbar machen will, setzt dieser Gesellschaft immer noch ein Legat aus.

Die hiesige Seekarte, die an Genauigkeit kaum noch übertroffen werden kann, zeigte hier überall eine Tiefe von über hundert Metern an. Und wir ankerten auf einer Muschelbank, die sich, wie wir dann später auspeilten, über vier Quadratkilometer erstreckte, bei nur neun Meter Fluttiefe.

Wir lagen sicher vor Anker, ich legte mich schlafen. Das nächste Mal, wenn sich Schwester Anna bemerkbar machte, wollte ich sie fragen, ob ich sie denn nicht anrufen könne. Bisher hatte sie den Schluß immer so kurz gemacht.

Als es zu dämmern begann, erwachte ich. Die aufgehende Sonne beleuchtete das amphitheatralisch aufsteigende Konstantinopel, ließ die vergoldeten Dächer und Kuppeln der Moscheen und Minaretts erglänzen — ein herrlicher Anblick, viel herrlicher als der innere Anblick.

Der Gebäudekomplex dort oben auf dem felsigen Vorgebirge, dem eigentlichen »goldenen Horn«, das war das berühmte Serail des Sultans, ein ganzes Stadtviertel bildend, aber durch Mauern von der anderen Welt abgeschlossen.

Serail heißt nichts weiter als Palast, für Konstantinopel hat es aber eine besondere Bedeutung, es ist eben die Residenz des Sultans, in dem sich natürlich auch sein Harem befindet, so daß man hier das Wort Serail gleichbedeutend mit Harem gebraucht.

In diesem Serail gibt es nur einen einzigen Mann, der diesen Namen wirklich verdient, und das ist der Sultan selbst. Alle anderen sind Eunuchen.

Damals zu unserer Zeit war noch Abdul Hamid Herrscher aller Rechtgläubigen, damals war das ganze Serailwesen noch in seiner vollsten Blüte.

Aber wie viele Eunuchen und Weiber und Odalisken und Sklavinnen der in seinem Serail gehabt hat, das hat man auch bei der Auflösung des ganzen Hofstaates durch seinen Nachfolger niemals richtig erfahren. Sieben Frauen oder Khadunas durfte er sich halten, das weiß man ja bestimmt, aber selbst die Angaben der ehemaligen Insassen des Harems schwankten zwischen 500 und 5000 Odalisken und Sklavinnen.

Selbst die höchsten Würdenträger waren in dem Serail ebenso abgesperrt, daß sie niemals einen völligen Überblick bekamen, und dann kommt auch noch die türkische Lügerei und Aufschneiderei hinzu.

Also dort oben war Reinhold Gerlachs Schwester als Odaliske.

Odaliske heißt wörtlich übersetzt Stubenmädchen. Jedes türkische Mädchen, das sich im Hause nützlich macht, heißt denn dort auch wirklich Odaliske. Im Serail des Sultans hat sie nun freilich eine andere Bedeutung, dort braucht sie nicht zu scheuern und zu putzen und Staub zu mischen. Diese Odalisken müssen vor allen Dingen tanzen, um den Sultan zu erheitern. Zwar kann er auch sonst über sie verfügen, aber das soll gar nicht so einfach sein. Nur während des Beiramfestes führt ihm die Walide, die Sultansmutter, eine Jungfrau zu, die trifft die Auswahl, nicht etwa der Sultan, und da deren größter Ehrgeiz darin besteht, einen prinzlichen Enkel zu bekommen, so sucht sie die Betreffende nur unter ihrer eigenen Verwandtschaft aus. Und bei dem schon damals alten Sultan war diese ganze Sache ja überhaupt sehr mau.

Wenn also sonst alles klappte, dann konnte der junge Maler über das Schicksal seiner Schwester ganz beruhigt sein. Nur eben wie sie aus dem heiligen, unantastbaren Serail wieder herausbekommen, das war die Hauptfrage, die kein Diplomat zu lösen verstanden hätte.

Es wurde Mittag, und nichts war passiert.

Einige kleine Fahrzeuge strichen an uns vorüber, meist unter Segel, größere Schiffe hatten keinen Grund, sich so weit der Küste zu nähern.

Da läutete unsere Schiffsglocke ohne Menschenhand. Ich schnell auf die Kommandobrücke, deren Telephon mir am nächsten war.

»Hier, Waffenmeister, wer dort?«

»Schwester Anna. Anker auf und Dampf! Aber bleibt dort liegen, geht nur etwas gegen die Strömung an. Um das Horn geht soeben ein kleiner Raddampfer unter türkischer Flagge. Auf diesem macht die fünfte Khaduna eine Spazierfahrt, in Gesellschaft einiger Odalisken, darunter ist auch Hildgard. Der Dampfer kommt an Euch vorüber. Beobachtet ihn ruhig. Wenn es so weit ist, werdet Ihr wissen, was Ihr zu tun habt. Hast Du mich verstanden?«

»Das wohl, aber . . .«

»Schluß.«

Ja, da gab es nun weiter nichts, als vollen Dampf aufzumachen, was in zwei Minuten geschehen war, die Anker zu hiven und mit Viertelkraft der von Osten kommenden Strömung entgegenzugehen.

Richtig, dort hinter dem Vorgebirge tauchte ein kleiner Raddampfer auf, am Heck die türkische Handelsflagge. Von der Strömung getrieben, näherte er sich uns schnell. An Deck lungerten einige zerlumpte Matrosen herum, lagen in der Sonne, sonst war nichts Bemerkenswertes zu sehen.

Aus gewissen Anzeichen erkannten wir gleich, daß es ein alter Holzkasten war, und die fünfte Khaduna die sieben Frauen des Sultans werden wirklich nur nach Nummern bezeichnet — mußte viel Mut haben, sich solch einem alten, durch Schaufelräder getriebenen Holzkasten anzuvertrauen. Doch schließlich waren früher ja alle Dampfer aus Holz gebaut, auch die »Loreley«, das in Konstantinopel stationierte deutsche Kriegsschiff ist ein hölzerner Radkasten.

Das Fahrzeug war vielleicht nur noch einen halben Kilometer von uns entfernt, wir hörten schon die Maschine mächtig keuchen, als plötzlich die herumlungernden Matrosen aufsprangen und durcheinander liefen, aus dem Kajüteneingang stürzten Türken in alter Nationaltracht hervor, wir konnten schon mit bloßen Augen ihre in den Gürteln steckenden Pistolen und Dolche erkennen, aus den Luken schossen schwarze Heizer empor.

Da war etwas passiert! Solch ein alter Bretterkasten, bei dem manchmal nur noch die Farbe dicht hält, kann ja leicht einmal aus den Fugen gehen.

Jetzt wurde auch mit Ball und Wimpel das Zeichen der höchsten Seenot gegeben, an Deck begann es noch viel mehr zu wimmeln, die vermummten Gestalten waren offenbar Frauen, die Matrosen wollten ein Boot aussetzen und brachten es nicht aus den Davits heraus, man winkte uns eifrigst . . .

Nun, wir waren schon mit Volldampf unterwegs, hatten in drei Minuten das Fahrzeug längsseit.

»Wir sinken, wir sinken!« wurde uns außer in Türkisch auch in französischer Sprache zugerufen.

Ja, das hatten wir in den drei Minuten auch schon gesehen, der Backtrog mußte sich ganz rapid mit Wasser füllen.

Der hölzerne Zwerg lag dicht neben dem eisernen Riesen. Schon hatten wir die Krahne ausgeschwungen und Bootsbäume ausgeschoben, Taue hinabgeworfen, unser Kapitän brüllte wie ein französischer Schiffer, aber die türkischen Matrosen wurden nicht fertig, unsere Jungen jumpten hinab und legten die Taue um die Boller oder wußten sie sonstwie solid zu befestigen, und wir hatten das Ding fest, sinken konnte es nicht mehr.

»Was hat es denn gegeben?«

Aus dem allgemeinen Schnattern war nichts zu verstehen.

Jedenfalls aber entstand zwischen zwei türkischen Fettwansten ein Streit. Der eine wollte, daß alle die herabgelassene Treppe benutzten, um zu uns an Deck zu kommen, der andere wollte es nicht zulassen.

»Herauf mit Euch, Euer Dampfer sinkt, in der nächsten Minute liegt er auf dem Grund!« schrie ich.

Das gab den Ausschlag, jetzt war der zweite Türke der erste, der eiligst die Falltreppe benützte.

Das Heraufklettern ging ziemlich glatt von statten. Es waren etwa drei Dutzend Männer, die meisten sehr dick und alle mit Fistelstimmen, und ein Dutzend vermummte Weiber, darunter einige wie die Kugeln, die nach und nach an Deck kamen.

»Wo ist der Monsieur Kapitän?« fragte so ein waffengespickter Dickwanst.

»Hier.«

»Ich möchte Sie unter vier Augen sprechen.«

»Reinhold, Reinhold!« erklang es da jauchzend, und eine der schlankeren vermummten Weiber warf sich an des jungen Malers Brust.

»Hildgard, meine Schwester, endlich habe ich Dich wieder!« jubelte der nicht minder, das jetzt unverhüllte Gesicht der Schwester küssend.

Mit dieser Jauchzerei und Küsserei aber war jener waffengespickte Fettwanst nicht einverstanden, er stürzte gleich drauf zu und wollte die beiden auseinanderreißen.

Erstens aber war das gar nicht so leicht, und zweitens stand daneben Kapitän Martin, und der war gerade der richtige, um an Bord seines Schiffes so eine fremde Gewalttat zu dulden.

Er nahm die eine Hand aus der Hosentasche und drängte den Türken zurück, ich glaube sogar, er hob ihn dabei wie eine Puppe empor.

»Halt, halt, halt, halt, wir sind an Bord eines deutschen Schiffes!«

»Das ist eine Odaliske des Padischahs!« quiekte der Türke.

»Diese Dame ist die Schwester von einem meiner Leute.«

Ich will es nicht so wiedergeben, wie es sich abwickelte, will es ganz kurz machen.

Es war ja auch einfach genug. Wir ließen uns nicht erst in diplomatische Verhandlungen ein, noch weniger dachten wir daran, erst in den Hafen zu gehen. Dort wären wir ja doch die Schwächsten gewesen, hier aber hatten wir die Macht.

Die Khaduna hatte eine Morgenspazierfahrt machen wollen, das geschah immer unter einer Handelsflagge, eben um jedes Aufsehen zu vermeiden. Vielleicht war auch eine Kriegsflagge an Bord, aber die war doch nicht gehißt gewesen.

Was wollten sie denn da gegen uns machen. Als der Kislar Agasi, oder wie der Kerl hieß, der Hauptmann der Verschnittenen, dem die Sicherheit der Khaduna und ihrer Dienerinnen anvertraut worden war, nur einen einzigen Griff nach einem seiner vielen Dolche machte, wohl nur so eine theatralische Bewegung, wurden ihm seine sämtlichen Waffen sofort abgenommen.

»Noch solch eine drohende Bewegung, und ich lasse Sie sofort in Arrest setzen!« donnerte ihn Kapitän Martin im besten Französisch an. »Alle Ihre Waffen abgeben!«

Sie mußten es, da gab es keinen Widerstand. Diese Forderung war hier auch unser gesetzliches Recht.

Ich will hier nicht anführen, was uns der türkische Hauptmann alles androhte. Schwatzen konnte er, so viel er wollte. Aber ein türkisches Kriegsschiff durfte er nicht anrufen, dafür sorgten wir.

Wir richteten unseren Kurs nach den Dampferlinien, riefen den ersten ostwärts fahrenden Frachtdampfer an, einen englischen, der sich nur zu gern bereit erklärte, sich den Bergelohn verdienen zu wollen.

Also er nahm uns den sinkenden Kasten ab, befestigte ihn ebenfalls an Auslegebäumen, die ganze Türkengesellschaft wanderte hinüber, zuletzt folgte das schon versiegelte Paket nach, alle Waffen enthaltend.

»Das sollt Ihr ja büßen, Ihr räudigen Christenhunde!« quälte drüben der Eunuchenhäuptling, drohend seine fette Faust schüttelnd.

Vergebens hatte ich — und vielleicht noch manch anderer mit mir — gehofft, daß die Türken so etwas ähnliches einmal an Bord unseres Schiffes gesagt hätten. Sie hatten sich gehütet, kein einziges Schimpfwort war gefallen. Drohungen hatten sie ja ausstoßen können, das war etwas anderes gewesen.

Erst jetzt, da sie sich in Sicherheit wähnten, ging es drüben los.

Der Eunuchenhäuptling blieb nicht der einzige, der seinem Herzen jetzt Luft machen mußte.

»Ungläubige Hunde, mit stinkender Jauche gefüllte

Weiter ging es vorläufig von anderer Seite nicht. Ein Blitz fuhr hinein.

Unser Windenkrahn war noch ausgeschwungen, das Seil hing noch herab, zwischen uns und dem englischen Schiffe, aber frei, nicht mehr um einen Boller des darunterliegenden Fahrzeugs geschlungen — und im nächsten Augenblick sprang ich an dieses Seil, hatte ja sowieso genügenden Schwung, sauste hinüber, stand an Deck des englischen Dampfers und setzte dem Eunuchenkäuptling die Faust zwischen die Augen, daß er wie ein Sack hinstürzte.

»Da, das ist ein christliches Weihnachtsgeschenk!«

Nun hatten aber auch schon die anderen uns Christenhunde beschimpft, und der zweite war ein englischer Matrose, der solch einen Türken mit einem Fausthieb niederschmetterte.

Das ging mich nichts weiter mehr an, ich hatte meine Pflicht als Mensch deutscher Staatsbürger und europäischer Christ getan, schwang mich an dem Seile wieder zurück, ignorierte das jubelnde Hallo meiner Jungen, faßte sofort einen ganz kaltblütigen Gedanken.

Die beiden Geschwister hatten sich ja gar viel zu erzählen, jetzt aber fiel mir etwas ein, weshalb ich die beiden stören mußte, es war schleunigst noch etwas nachzuholen.

»Haben Sie Schmuck an sich, der Ihnen nicht gehört?«

Ja, das wirklich außerordentlich schöne Mädchen war als Odaliske mit einer ganzen Menge von Armbändern und Ringen und Ohrglocken behangen.

»Her damit! Damit die uns nichts nachsagen können.«

Das ganze Gelumpe schnellstens zusammengepackt, ich selbst warf es mit erklärenden Worten hinüber. Ohne aber beleidigend zu werden.

Dann wurde die Verbindung gelöst, der englische Dampfer setzte seinen Weg ostwärts, wir den unsere westwärts fort.

Alsbald ertönte die Schiffsglocke, ich eilte an das nächste Telephon.

»Bist Du zufrieden, wie ich das arrangiert habe?«

»Ja, sehr, Schwester Anna. Wie hast Du denn den türkischen Dampfer zum Sinken gebracht?«

»Bitte, stelle nicht solche Fragen.«

»Wie Du befiehlst, verzeihe mir meine Neugierde.«

»Er wäre auch ohne mein Zutun seinem Schicksale nicht entgangen, nur das darf ich Dir noch sagen.«

»Es genügt für mich.«

»Wohin wollt Ihr jetzt?«

»Wir haben kein Ziel.«

»Nach Konstantinopel dürft Ihr nicht. Man würde Euch doch noch etwas anhaben können.«

»Das glaube ich schon.«

»Seid Ihr bereit, den herrenlosen Besitz im Meere, den ich Euch anweisen will, anzutreten?«

»Wir sind immer bereit.«

»So erfahre es jetzt: es handelt sich um die fünfte geographische Bestimmung, welche nach Neuseeland oder richtiger nach den Chathmainseln, weist.«

»Aha! Also der sogenannte Seelandfelsen.«

»Du sagst es. Er ist von den Unsrigen für Euch geräumt worden. Wenigstens zum Teil. Einiges hat sich doch geändert. Wir müssen ihn uns teilen. Aber wir werden Euch nicht belästigen, Ihr braucht, wenn Ihr nicht wollt, gar nichts von uns zu bemerken.«

»Schon gut, schon gut — wir werden uns schon zusammen vertragen!« lachte ich.

»Alles Weitere teile ich Dir später mit.«

»Ich warte.«

»Habt Ihr Euch noch mit etwas für diese weite Reise zu versehen?«

»Nicht daß ich augenblicklich wüßte. Wir sind für reichlich ein Jahr noch mit allem versehen.«

»So segelt zuerst nach Sydney. Dort werdet Ihr sofort Gelegenheit haben, eine ganz neue Ölfeuerung billig zu erstehen, die nach einer ganz kleinen Abänderung genau für Eure Kesselheizung paßt, Ihr könnt das Einbauen unterwegs selbst besorgen.«

»Wie Du befiehlst, o dodonäische Taube.«

»Ich habe Euch nichts zu befehlen.«

»Dann wie Du uns ratest. Von unserem Danke will ich schweigen, so etwas ist mit Worten gar nicht auszudrücken. Werden wir auf dem Seelandfelsen vielleicht Gelegenheit haben, Dich selbst zu sehen?«

»Vielleicht — ich weiß es noch nicht.«

»Wir hoffen es.«

»Welcher Weg würdest Du nach Sydney nehmen?«

»Nun — ich denke doch ostwärts herum. Das ist nach Sydney der nähere Weg.«

»Um das Kapland?

»Nein, dann schon durch den Suezkanal. Auf die paar lumpigen tausend Franken kommt es uns dann auch nicht an.«

»Dann würdet Ihr Sydney und den Seelandsfelsen wohl niemals erreichen.«

»Weshalb denn nicht?!«

»Ihr würdet in Port Said festgehalten werden. Bis dahin hätten die türkischen Behörden dann schon gesorgt. Und man würde Euch nicht eher wieder freilassen, als bis Ihr die Odaliske wieder ausgeliefert hättet.«

»Festgehalten? Wie will man denn das machen?«

»Indem man Euch in Quarantäne nimmt.«

»In was denn für eine Quarantäne? Wir sind alle kerngesund.«

»Aber man würde Euch beim Passieren des Suezkanals oder schon in Port Said einen Pestfall aufhängen. Das verstehen diese Türken schon zu arrangieren. Kurz, man würde Euch nicht eher freigeben, als bis Ihr die Odaliske wieder ausgeliefert habt — und auch sonst würde man Euch natürlich zu kujonieren wissen.«

Auweh!

Ich sprach es gleich aus, was ich dachte.

»Na‚ wenn das im Buche des Schicksals steht, falls wir den Suezkanal passieren, dann wollen wir lieber um die Gute Hoffnung fahren.«

»Recht so! Sonst noch etwas?«

»Ja, diesmal habe ich noch etwas zu fragen.«

»Nun?«

»Darf ich nicht auch Dich einmal anrufen?«

»Nein, das darfst Du nicht!« erklang es rasch. »Das verbiete nicht ich Dir, sondern ich selbst stehe unter den Befehlen eines Höheren, dem ich zu gehorchen habe. Und dieser erlaubt nicht — noch nicht — daß Ihr mich zu jeder Zeit anrufen könnt. Aber seid guten Mutes, ich bin bei Euch und schütze Euch vor jeder Gefahr, und kommt Ihr doch einmal in Not‚ in größte Todesnot, und ich greife nicht helfend ein, so seid versichert, daß dies dann nur zu Eurem Besten dient, auch wenn Ihr es nicht begreifen könnt, so wie auch ich es vielleicht nicht begreifen kann. Aber der, dem ich diene, weiß es besser. Schluß.«


59. KAPITEL. DIE MYSTERIEN VON SEELAND.

Am 12. Februar liefen wir im Hafen von Sydney ein, wir hatten eine siebenwöchige Fahrt mit sehr viel Lust und ein wenig Leid hinter uns.

Dem Matrosen Edmund war von einer Rahe das linke Bein abgequetscht worden, er stelzte bereits auf einem hölzernen umher, und der Heizer Franz hatte sich im Kesselraum durch eigene Unvorsichtigkeit furchtbar verbrüht, er war in wenigen Minuten tot gewesen.

Weshalb waren die beiden von unserer dodonäischen Taube nicht gewarnt worden, zur Zeit nicht dort zu sein, wo sich das Unglück zutrug?

Oder wäre ihnen dann noch ein schlimmeres Schicksal beschieden gewesen?

Mochten die anderen in der Kajüte dieses Gewirr der Schicksalsräder zu enträtseln versuchen, ich kümmerte mich nicht darum.

Jedenfalls aber hatte uns diese siebenwöchige Fahrt viel mehr Lust als Leid gebracht.

Schwester Anna hatte nichts wieder von sich hören lassen, und es wäre auch gar nicht nötig gewesen. Wie wir in Sydney zu der Ölfeuerungsanlage kamen, da war gar nichts Wunderbares dabei, das war die einfachste Sache von der Welt.

Sie wurde einfach in einer Sydneyer Schiffszeitungen annonciert, war dort und dort zu besichtigen.

Freilich wurde dann konstatiert, daß sie damals, als Schwester Anna davon gesprochen, noch nicht verkäuflich, überhaupt noch gar nicht in Sydney gewesen und nicht einmal nach hier bestimmt war, aber das ließ mich alles ganz kalt.

Ich ging hin und kaufte sie, und es brauchten auch wirklich nur einige Rohre gekürzt zu werden, dann paßte die Anlage ganz famos in unser Schiff, das Einbauen konnten wir unterwegs selbst besorgen.

Noch einmal unseren Eisraum mit frischgeschlachtetem Ochsen, Hammel— und Schweinefleisch gefüllt, und wir dampften wieder ab.

Nachträglich erwähne ich, daß wir beim Verlassen des Mittelmeeres noch einmal Gibraltar angelaufen hatten, wegen Lord Harlins, der uns mit seiner Nichte wenigstens bis nach Sidney hatte begleiten wollen. Wenn er wegen seines Mündels auch niemandem Rechenschaft schuldig war, so hatte er für solch eine lange Reise doch erst verschiedene Sachen erledigen müssen, auch Garderobe und besonders Evelyns Schulbücher mußten mitgenommen werden. Den Schulunterricht aber konnte er selbst und ganz besonders unser Doktor Isidor übernehmen. Allerdings war ich derjenige, der dafür sorgte, daß der Kopf des armen Mädels nicht gar zu sehr angestrengt würde.

Nun waren wir in Sydney, und Lord Harlin dachte noch immer nicht daran, uns zu verlassen. Doktor Isidor wußte dem leidenschaftlichen Schachspieler immer neue Probleme zu stellen, und dann vor allen Dingen war Lord Harlin, ein ausgezeichneter Kenner der alten indischen Sprachen, über das Pergament gekommen, das wir damals in der Wüstenruine in dem Schiffsmodell gefunden und das uns Mister Carlistle als ganz selbstverständlich zurückgelassen hatte, da seine Entchifferung nur an Bord unseres Schiffes gelingen sollte, und Lord Harlin glaubte in den Hieroglyphen eine Ähnlichkeit mit dem Pakrit zu finden, einer Zweigsprache des Sanskrits, und so hatte Doktor Isidor nach langer Pause die Lösung dieses Rätsels mit seiner Unterstützung wieder aufgenommen.

Wir passierten die Cook—Straße, welche Neuseeland durchschneidet, ließen die Chatham—Inseln rechts liegen, und am 23. Februar tauchte vor uns der Seelandfelsen auf, das australische Helgoland.

Er hat eine ziemlich quadratische Basis, deren Durchmesser man trigonometrisch auf zwei ein halb Kilometer berechnet hat; seine Höhe auf 1400 Meter.

Oben scheint ein Plateau zu sein, und bei solcher Höhe wird wohl auch auf dieser südlichen Breite in den Wintermonaten, hier also im Juni, Juli und August, der atmosphärische Niederschlag als Schnee liegen bleiben.

Es ist sehr wohl möglich, daß sich dieses Plateau zur Kultur eignen würde, einige hundert Menschen ernähren könnte, aber dieser Felsen gehört zu denjenigen Punkten der Erde, welche für die Menschheit wohl für immer unerreichbar bleiben werden. Nur Seevögel können erzählen, wie es dort oben aussieht.

Denn erstens steigen die ungeheuren Felswände überall ganz steil aus dem Meere empor, nur unten ausgewaschene Höhlen enthaltend, sonst ohne den geringsten Riß — und zweitens herrscht dort auf allen Seiten zu jeder Zeit eine furchtbare Brandung. Und wenn auch wochenlang völlige Windstille geherrscht hat, das ganze Meer glatt wie ein Spiegel ist, in diesen Höhlen und überhaupt am ganzen Felsenrande schäumt und kocht und spritzt es dennoch ständig auf fürchterliche Weise.

Das ist eben die Kraft des Meeres, die empört ist, hier auf freiem Gebiet plötzlich solch einen festen Widerstand zu finden. Denn die absolute Ruhe der See ist nur eine scheinbare, in Wirklichkeit ist das Meer immer in Bewegung. Der Physiker kann es berechnen, weshalb auch das in der weiteren Umgebung stillste Meer dort so spritzen und branden muß, aber das muß man gesehen haben um es glauben zu können. An der portugiesischen Küste oder an der Westküste Englands kann man ja dasselbe beobachten. Wo Dünen sind oder überhaupt flacher Strand, da spült das Wasser kaum. Aber gegen Felsen tobt die Kraft des ganzen Ozeans mit furchtbarer Gewalt an. Das ist genau so, wie wenn man im Parterre den Hahn der Wasserleitung aufdreht. Das Wasser läuft doch ganz harmlos heraus. Schraubt man aber an das Mundstück einen Schlauch mit enger Mündung, so spritzt es bis zur vierten Etage empor.

Es ist also ganz ausgeschlossen, daß dort ein Schiff oder auch nur ein Boot anlegen kann. Es würde sofort zersplittern. Ja, wenn das möglich wäre, dort hinauf zu gelangen — dann hätte natürlich England schon längst dieses australische Helgoland im Besitz und es befestigt. Aber es ist gar nicht daran zu denken. Und es ist auch nicht so einfach, solch einen einsamen Felsen mitten im Meere ohne weiteres in Besitz zu nehmen. Da muß erst die Flagge aufgepflanzt werden, und dann hätte die betreffende Macht sicher auch die Verpflichtung, dort oben einen Leuchtturm zu unterhalten.

Dieser Felsen, der oben vielleicht kulturfähiges Land hat, ist also noch herrenlos, wie es solcher Felsen und auch ganzer Inseln ja noch massenhaft gibt.

Die Schiffer gehen in weitem Bogen um den Felsen herum, überhaupt kommen nur Segler in Betracht, von Dampferlinien führt keine vorbei, und auch in finsterster Nacht kann er nicht besonders gefährlich werden, denn das Toben der Brandung ist schon kilometerweit zu hören. Vorgelagerte Klippen scheinen ganz zu fehlen.

So standen wir an Deck und beobachteten, wie auf der Südwestseite in den ausgewaschenen Höhlen das Meer furchtbar kochte und spritzte, obgleich sonst die See glatt wie ein Spiegel war, und so war es auch auf allen anderen Seiten.

Da wurde die Schiffsglocke von unsichtbarer Hand geläutet.

Das Telephon aus dem Kartenhaus wurde mir am verlängerten Draht herabgelassen, damit alle an Deck hören konnten, was mir Schwester Anna zu sagen hatte. Denn es hatte keinen Zweck, an andere Telephons zu treten. Nur dasjenige Telephon, das ich in die Hand nahm, sprach kein anderes. Wenn sie aber laut sprach so war auch ihre Stimme immer in größerem Abstande zu hören.

»Hier, Waffenmeister. Schwester Anna?«

»Ja!« bestätigte die so überaus wohltönende, weiche Frauenstimme. »Dies ist der Seelandsfelsen, den ich Euch als Euer festes Heim mitten im Meere anweise.«

»Wie sollen wir unser Heim nun in Besitz nehmen?«

»Einfach indem Ihr direkt hineinfahrt. Peile mit dem Kompaß nordost zwei Striche Ost, richte dorthin das Fernrohr.«

Wir taten es, ich brauchte dazu nicht das Telephon aus der Hand zu legen, von Mund und Ohr zu entfernen.

»Was erblickst Du?«

»Wie mit bloßen Augen den massigen Felsen mit schäumenden Höhlen, nur alles bedeutend näher gerückt.«

»Siehst Du den weißen Fleck, der sich über einer der Höhlen befindet?«

In der Tat, den erblickten wir, und der weiße, kreisrunde Fleck war so groß und so auffallend, an der fast schwarzen Felswand, daß wir ihn eigentlich schon vorher hätten sehen müssen.

»Es ist ein Lichtschein, den ich gegen die Felswand werfe.« erklärte das Telephon. »Er bezeichnet die Höhle, in die Ihr zu steuern habt. Sie ist der einzige Ein- und Ausgang.«

»In diese Höhle sollen wir fahren?« mußte ich erst nochmals fragen.

»Wie ich sage.«

»Mit dem ganzen Schiffe?«

»Natürlich.«

»Mit vollen Masten?«

»Gewiß.«

»Unser Großmast hat 30 Meter absolute Höhe.«

»Und diese Höhle ist mehr als 50 Meter hoch und so breit, daß drei solcher Schiffe nebeneinander bequem einfahren können.«

Wir wollten es glauben. Nach unseren eigenen Augen hätten wir es nicht geglaubt. Diese Höhle, die sich von den benachbarten durch nichts unterschied, in der es ebenso fürchterlich kochte, sah aus, als könne sie nicht einmal einen kleinen Segelkutter aufnehmen.

Da aber kann sich eben auch unsereiner sehr täuschen. Wir wußten noch gar nicht, wie weit wir noch von dem Felsen entfernt waren, ob drei oder sechs Seemeilen.

»Vertraut Ihr mir?«

»Gewiß doch, Schwester Anna, ganz bedingungslos.«

»So dampft mit voller Kraft in diese Höhle hinein, und wenn das Meer auch noch so tobte unter einem Orkan, Ihr werdet immer ungefährdet hineinkommen, wenn Ihr nur ungefähr die Mitte des Höhleneingangs zu treffen wißt.

Dann, sobald Ihr durch die Brandung seid, in stillem Wasser, stoppt sofort ab und gebt etwas Gegendampf. Das ist die einzige Sicherheitsmaßregel, die ich Euch zu geben brauche.

Merkt Euch die Höhle gut, daß Ihr sie immer wiederfindet, wenn ich sie auch einmal nicht durch einen Lichtschein kenntlich mache, obgleich ich dies wohl zur Vorsicht immer tun werde.

Sonst werdet Ihr fernerhin wohl nicht mehr viel von mir zu hören bekommen, und so will ich gleich jetzt erledigen, was ich Euch sonst noch zu sagen habe.

Unser Plan hat sich unterdessen, wie ich schon einmal erwähnte, etwas geändert.

Ich wollte Euch doch zuerst ein ganz jungfräuliches Eiland anweisen. Ob wir nun diesen Felsen oder ein anderes Versteck im Auge hatten, bleibt für Euch gleichgültig.

Wir wären willens gewesen, auch in und auf diesem Felsen jede Spur von unserem bisherigen Aufenthalt zu verwischen, aber auf Wunsch eines Höheren, dem wir zu gehorchen haben, soll dies nicht geschehen.

Ihr werdet also mancherlei vorfinden, oder sogar sehr, sehr viel. Es erwarten Euch die größten Überraschungen.

An Euch liegt es, nach und nach die Entdeckungen zu machen, was Euch ja nur gefallen wird.

Alles, was Ihr vorfindet, gehört Euch, Ihr könnt es benutzen, frei darüber verfügen, könntet es sogar, wenn Ihr wolltet, veräußern. Es ist eben Euer Eigentum.

Und alles dies ist rechtmäßig erworben, kein anderer hat Anspruch darauf zu machen. Daß Ihr also nicht etwa glaubt, wie in den beiden steinernen Schwestern zusammengepferchte Seeräuberbeute zu finden. Wir haben alles dereinst gekauft oder selbst angefertigt, wir schenken es Euch, den Argonauten, die wir lieben.

An Euch ist es, Euer Geheimnis zu wahren. Fahrt also nicht aus und nicht ein, wenn ein anderes Schiff in der Nähe ist, das Euch beobachten könnte. Ihr könnt ja von oben immer Umschau halten.

Zwar würde kein anderes Schiff das Wagnis so leicht nachmachen, Ihr habt auch die Mittel, die beruhigende Ölquelle abzustellen — wie das gemacht wird, das müßt Ihr eben selbst erforschen — aber es ist doch besser, wenn die andere Welt gar nichts von Eurem Geheimnis erfährt.

Sollte dasselbe aber doch einmal entdeckt werden, wollte Euch jemand diesen bisher herrenlosen Felsen streitig machen, so habt Ihr nach unserer Ansicht, worüber wir uns lange beraten haben, das Recht, ihn zu verteidigen, auch mit blutiger Waffengewalt. Doch das müßt Ihr dann mit Eurem eigenen Gewissen ausmachen. Wir aber heißen es jedenfalls gut, wenn Ihr wegen dieses Felsens auch gegen alle vereinten Mächte und Nationen den Krieg eröffnetet.

Weiter habe ich Euch nichts zu sagen. Ihr könnt in und auf dem Felsen hausen, wie Ihr wollt, absolut wie Ihr wollt. Ihr könnt Euch neue Räume schaffen, könnt bohren und sprengen. Könnt auch, wenn es Euch Vergnügen macht, Eure Mitbewohner suchen. Denn Mitbewohner habt Ihr in dem Felsen. Aber Ihr werdet nichts von ihnen bemerken, sie auch nicht finden, und wenn Ihr auch den ganzen Felsen wie ein Sieb durchlöchert. Das kann ich Euch gleich versichern.

Nun dampft hinein und amüsiert Euch. Schluß!«

Das Letzte hatte recht humoristisch geklungen. Diese wunderbare Schwester Anna schien überhaupt durchaus keine Betschwester und Kopfhängerin zu sein, ich hatte es schon manchmal so aus ihrer Stimme herausgehört. Daß sie Witze riß, das freilich konnte man ja nicht verlangen.

Ja, also dann man los. Weit und breit war kein Schiff und nichts zu sehen, wovor wir uns hätten zu genieren brauchen.

Auf das Loch zugehalten und mit Volldampf hinein.

So einfach, wie ich es hier sage, war es ja auch in Wirklichkeit — nur uns selbst war es dabei nicht so einfache zumute gewesen.

Fürchterlich hatte es in der riesigen Höhle ausgesehen, alles ein einziger Wassergischt, bis zur Mastspitze hinaufspritzend.

Allerdings wurde unser Schiff ja kaum merklich in Bewegung gesetzt, aber ich kann nur sagen, daß auch ich ein Stoßgebetlein stammelte oder doch dachte, und ich glaubte sicher, es sei mein letztes, als uns die Wassergischt umtobte. Nämlich auch mit einem Höllenspektakel. Ganz unbeschreiblich. Jedenfalls war es hier noch weit, weit schlimmer als dort bei der Einfahrt zwischen die beiden steinernen Schwestern, wo wir doch noch immer den freien Himmel über uns gehabt hatten, während wir hier in ein schwarzes Loch hineinfahren. Und überhaupt auch sonst war es noch weit fürchterlicher.

Noch stand ich halb oder wohl mehr ganz betäubt da, mit geschlossenen Augen, mich an der Nagelbank des Fockmastes anklammernd, obgleich das gar nicht nötig gewesen war, weil das Schiff also kaum in Schwingungen gekommen war, als ich den Signalapparat klingeln hörte.

»Stopp! Halbe Kraft rückwärts! Volle Kraft rückwärts! Stopp!«

Ja, unser Kapitän Martin hatte mit offenen Augen auf seinem Posten gestanden, und die Maschinisten und Heizer unten merkten ja gar nichts von der Situation.

Als ich die Augen aufmachte, war das erste, was ich sah, daß Doktor Isidor neben mir gerade einen Schluck aus seinem Pullchen nahm.

»Kathodenlicht!« sagte er dann, sich die Mischung von Kognak und Salzwasser von den Lippen leckend.

Ja, hell war es hier drin.

Wir befanden uns in einer ungeheuren Höhle, wenigstens 300 Meter im Durchmesser und fast ebenso hoch in runder Wölbung, so daß hier drin bequem ein Dutzend der mächtigsten Ozeandampfer hätten nebeneinander liegen können.

Wir staunten ja nicht schlecht. Zunächst darüber, das diese ganze Höhle mit hellem Tageslicht erfüllt war.

Wo kam das her? Hinter uns lag der Eingang, von dem Wassergischt wie mit einem weißen Schleier verhangen, Fensteröffnungen gab es nicht, keine Lichtquellen.

Es war nicht anders, als wenn das weiße Tageslicht von den Felswänden selbst ausginge, von überall her, so daß also auch kein Schatten geworfen wurde.

Kathodenlicht hatte Doktor Isidor gesagt. Mochte sein. Das ist eine besondere Art von elektrischem Licht, das man in den sogenannten Geißlerschen Röhren erzeugt. Es soll das kalte Licht der Zukunft sein, man schmiert es gewissermaßen, wenn ich mich so ausdrücken darf, an die Wände der Räume, die man erleuchten will. So weit sind wir heute freilich noch nicht, die Sache geht zunächst nur im Laboratorium.

Nun, hier war dieses Problem eben schon gelöst. Also Kathodenlicht, wollten wir sagen, ob es nun stimmte oder nicht.

Das nächste, was wir konstatiertem war, daß auf dem glatten Wasserspiegel keine Spur von Öl zu bemerken war, obgleich solches doch auch hier die Ursache der Wasserstille sein sollte. Woher das kam, werde ich später erklären. Jedenfalls waren wir sehr zufrieden, daß die Ölschicht hier drinnen fehlte, denn angenehm ist das doch schließlich nicht.

Um das ganze Wasserbassin zog sich eine sechs Meter breite Galerie herum, von der in die Felswand viele viereckige Öffnungen hineingingen, also Türen, nur daß sie unverschlossen waren. Aber sonst konnte man nicht viel sehen, das Licht, so hell dieses auch war, drang nicht weit ein.

Wieder etwas die Schraube in Bewegung gesetzt, und wir legten an, ohne jede Vorsicht zu gebrauchen, besonders ohne erst die Tiefe auszuloten. Hätten wir deswegen vorsichtig sein müssen, so hätte uns Schwester Anna schon davon gesagt, davon waren wir nun felsenfest überzeugt.

Dann erst ergab eine Peilung, daß wir dicht an der Galerie noch immer eine Wassertiefe von mehr als 30 Metern hatten. Die Decke war trotz ihrer Wölbung hier noch immer hoch genug für unsere Masten, auch die Rahen brauchten nicht erst gedreht zu werden.

Boller und Ringe und alles war vorhanden, um das Schiff zu befestigen, und nicht nur hier an dieser Stelle, sondern überall. Aber auch hinabführende Treppen, falls Boote anlegen sollten. Sonst war die Galerie so hoch, daß man nach Beseitigung der Bordwand gerade an Land gehen konnte, alles, als wäre es gerade für unsere »Argos« eingerichtet worden, und ein Unterschied zwischen Ebbe und Flut ist in diesem Teile des Stillen Ozeans kaum bemerkbar.

Die Patronin war, wie es sich gehörte, die erste, die ihren Fuß auf den Steinboden setzte. Dann folgte als zweite Person ich nach.

»Was ist denn das?« fragte die Patronin da, schon vor einer Nische stehend, die ganz mit Ventilrädern und Hähnen und Metallstöpseln gefüllt war.

Ja, das mußten wir eben erst ausprobieren, was da angestellt und abgestellt werden konnte, und solcher Nischen mit geheimnisvollen Drehvorrichtungen gab es noch mehrere.

Drehen konnten wir ja jedenfalls alles, passieren würde nichts, sonst hätte uns doch unsere geheimnisvolle Gönnerin gewarnt. Aber es sollte nicht jeder Matrose hier nach Belieben herumleiern können. Das mußte nach und nach von kundiger Hand untersucht werden, man mußte es sich doch auch merken, was für einen Zweck die verschiedenen Räder und Hebel und Stöpselungen hatten. Sonst allerdings konnten die Leute nach Belieben auf eigene Faust auf Entdeckungsreisen ausgehen.

»Hier ist ein Telephon!«

»Hier ist ein Aufzug!«

»Hier steht ein Automobil!«

So und anders erklang es denn auch alsbald durcheinander.

Ich besichtigte zunächst diese letzte Entdeckung. Da aber hatte auch ich schon herausgefunden, daß sich an der Tür eines jeden Felsenraumes ein im Finstern leuchtender Griff befand, den man nur zu drehen brauchte, um das ganze Gewölbe in hellem Lichte erstrahlen zu lassen, das auch wieder ohne erkennbare Quelle direkt von den Wänden ausging.

Es war ein Lastautomobil, einfach ein großer Tafelwagen. Meine Jungen waren aber doch nicht auf einem weltverlassenen Dorfe ausgewachsen, die wußten doch gleich was vorn die Steuervorrichtung zu bedeuten hatte, ihr nächster Blick war unter die Plattform gewesen, und da hatten sie zwischen den Rädern die Maschinerie gesehen. Also konnte es nichts weiter als ein Automobil sein, wenn auch von einer Konstruktion, nämlich einer äußerst einfachen, wie wir alle eine solche noch nicht gesehen hatten.

Nun, ich schwang mich hinauf und machte mir an der Steuervorrichtung zu schaffen.

»Vorsicht, Vorsicht!« warnte gleich der erste Ingenieur. »Solch ein Ding kann plötzlich furchtbar losschießen.«

»Kannst Du denn ein Automobil steuern?« fragte auch Helene besorgt.

»Ich? Nee. Keine Ahnung davon. Aber wenn das Ding schießen oder sonstwie gefährlich werden könnte, so wäre es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit der Schwester Anna gewesen, uns davor zu warnen. Also ich fahre los — Beene weg, Hiehneroogen weg — da da da . . .«

Ja, ich fuhr schon los. Hatte nur den langen Hebelarm ein wenig niederzudrücken brauchen, ich fuhr sofort zurück gerade direkt gegen die Wand, daß es krachte. Aber dann hatte ich auch gleich den Rückwärtsgang heraus, fuhr noch einmal hinten gegen die Wand, dann aber war mir auch die Lenkung klar. Viel passieren konnte schon deshalb nichts, weil sich der Hebel immer nur ruckweise niederlegen ließ, die Geschwindigkeit sich also nur ganz nach und nach beschleunigen ließ.

Ich fuhr hinaus auf die Galerie, wäre mit dem ganzen Automobil beinahe ins Wasser gepurzelt, brachte nur im letzten Moment das Ding noch zum Stehen, was mir aber nun auch nicht wieder passieren sollte, lenkte in elegantem Bogen um, fuhr, um meine absolute Sicherheit als Automobilchauffeur zu beweisen, wieder in den Raum hinein, aus dem ich gekommen und . . . prallte wiederum gegen die Wand an!

Diesmal aber war die Anprallerei nicht so einfach. Nicht, daß ich mich oder das Automobil oder die Wand beschädigt hätte, sondern diesmal lag etwas wie Hexerei vor.

Aus diesem Loche war ich herausgekommen, da gab es ja nun gar keinen Zweifel, also mußte ich durch den kurzen Tunnel doch wieder in den Raum hineinkommen, in dem das Automobil gestanden hatte, ob er nun erleuchtet oder dunkel war.

Aber nichts wars, ich rannte eben gegen eine Wand, die sich da am Ausgange des Tunnels plötzlich gebildet hatte.

Wie ich mich noch so staunend fragte, wo denn diese Felsenwand plötzlich hergekommen sei, kam sie schon wieder herab, und jetzt sah ich auch wieder in dem erleuchteten Raume die Patronin und den ersten Ingenieur nebst einigen Hunden stehen.

Nun war das Rätsel auch für mich gelöst. Der ganze Raum, mehr als zehn Meter im Durchmesser, so daß er also die ganze Schiffsbesatzung aufnehmen konnte, war eben ein Fahrstuhl. Man brauchte nur den Hebel an der Wand zu drehen, dann ging's hoch oder hinab, ganz, wie man wollte.

Wie sich dieser Fahrstuhl eigentlich bewegte, das haben wir nie erfahren können, und ich glaube, es hätte nichts genützt, auch wenn wir alle Felswände in Trümmern geschlagen hätten. Ohne Zweifel elektrisch, aber von Seilen oder Rädern oder Kugeln und dergleichen war nichts zu bemerken. Also schon die Führung war ganz rätselhaft.

Na nevermind, wenn das Ding nur auf Kommando rutschte, was es denn auch immer willig tat.

Nur das möchte ich noch bemerken, daß alle Fahrstühle so praktisch eingerichtet waren, daß man unmöglich verunglücken Konnte. Ich meine nämlich, daß einmal nicht jemand zwischen Plattform und festen Boden geraten konnte. Wie das arrangiert war, will ich nicht weiter beschreiben, sondern nur sagen, daß man dann, wenn man durchaus will, auch auf der Eisenbahn verunglücken kann, nämlich indem man sich einfach auf die Schienen vor die Lokomotive legt.

Wir fuhren gleich einmal hinauf, alle, die gerade in dem Raume standen, ungefähr ein Dutzend so nach und nach zusammengekommen. Das Automobil blieb einstweilen draußen.

Die schwarzen Felswände rutschten schnell herab, wenigstens mit unseren Augen betrachtet von nach wenigen Sekunden aber färbten sie sich weiß, dann gleich wieder schwarz, dann kam wieder ein weißer Streifen, den wir im Flug passierten.

Was sollte das bedeuten?

Nun, das hatten wir Pfiffköpfe bald heraus.

Man brauchte nur einen zweiten Hebel zu drehen, so blieb der Fahrstuhl an der nächsten weißen Wand von selbst stehen, und gleichzeitig senkte sich auch diese Wand herab, wir blickten in einen Korridor, der hier aber schon mit einem Teppich belegt war, sahen auch weiter schon in einen komfortablen Salon hinein.

Die weißen Wände bezeichneten also immer die Etagen, wo man aus— und einsteigen konnte.

»Weiter, nicht aufhalten, erst einmal immer höher hinauf!«

Eine Hebeldrehung, die offene Wand schob sich wieder zu, die Fahrt wurde fortgesetzt.

»Die Etagen müßten aber nummeriert sein, daß man immer weiß, wo man sich befindet, daß man nicht immer die weißen Felder zu zählen braucht!« meinte Helene.

»Hier ist eine Zahnstange, an der ein Zeiger emporklettert!« sagte ein Matrose.

So war es. In einer Nische befand sich eine Zahnstange, an der sich ein Zeiger bewegte. Jeder Zahn trug eine kleine Nummer, jetzt ging der Zeiger von der Fünf zur Sechs, also passierten wir jetzt diese Höhe.

Die letzte Nummer am obersten Zahn war 200. Also 200 Etagen. Donnerwetter! Aber wenn der Felsen 1400 Meter hoch war, so konnte man jeder Etage eine Höhe von 6 bis 7 Metern geben. Wobei eben die Decken und besonders das oberste Plateau abgingen.

Dann war noch ein zweiter Zeiger vorhanden, der sich an einer Feder einschnappen ließ, und als ich den nun, als der rutschende Zeiger die Acht passierte, auf die Elf einstellte, blieb der Fahrstuhl richtig nach drei weiteren Etagen stehen, also in der elften.

Überaus genial ausgedacht! So konnte man den Fahrstuhl in jeder beliebigen Etage automatisch halten lassen, brauchte nicht erst auf angemalte Nummern zu achten.

Wenn wir nur gewußt hätten, auf welche Weise diese ganze Sache funktionierte. Da wurde doch auch ich etwas neugierig — oder vielmehr wißbegierig. Aber dieses Rätsel sollten wir nicht lösen können. Und es war das allerkleinste von vielen hunderten, die wir hier noch finden sollten.

In der 30. Etage ließ, ich den Fahrstuhl noch einmal halten, nur aus Wissenstrieb, ob sich die Felswände auch hier als Türen so senkten. Sie taten es. Das Innere des Felsens wollten wir jetzt noch nicht erforschen, erst einmal hinauf auf das Plateau!

Anders freilich dachten wir, als wir bei geöffneten Wänden plötzlich Stimmen vernahmen.

Jauchzende und gröhlende Stimmen!

Wer konnte das sein?

Das mußte natürlich untersucht werden.

Wir verließen den Fahrstuhl, nur zwei Mann zurücklassend, drangen in die Korridore, die hier überall erleuchtet waren, ein, folgten dem Spektakel. Denn ein solcher war es, von Männer— und wohl auch von Weiberstimmen ausgeführt. Ein allgemeines Gröhlen und Quieken.

»I, das sind ja unsere eigenen Jungen und Kinder!« sagte da Juba Riata.

So war es. Nur der veränderte Schall und die Akustik zwischen den Felswänden hatte uns die sonst so wohlbekannten Stimmen nicht gleich erkennen lassen. Jetzt aber hörte auch ich es, auf diese Weise zum Beispiel konnte nur Oskar gröhlen

Ein Dutzend Leute hatten mit einigen kleinen Blaugelben einen anderen Fahrstuhl benutzt, waren unterwegs einmal ausgestiegen, hatten hier in dieser Etage etwas gefunden, was ihnen den größten Spaß bereitete.

Ja, wie soll ich den Raum nun beschreiben, den wir erblickten, in dem sich die Bande auf ihre Weise amüsierte.

Ein mächtiger Saal von ungefähr 20 Meter Höhe, das ist die Höhe eines vierstöckigen Hauses, kreuz und quer angefüllt mit Stangen, aber systematisch geordnet.

Jede Stange war genau zweieinviertel Meter lang und eine jede auch so weit von der anderen entfernt. Auf diese Weise wurden lauter offene Quadrate gebildet, die also den ganzen Saal füllten, vom Boden an bis zur Decke.

Nun versuche man sich dieses ungeheuerliche Holzgerüst vorzustellen.

Was sollte das bedeuten? Was mochte das für einen Zweck haben?

Nun, ich hatte einen ganz ähnlichen Raum, allerdings bei weitem nicht so groß, schon einmal in einer holländischen Gerberei gesehen. Es war der Trockenraum gewesen, wo die Felle aufgehängt wurden, auch da waren die Stangen, um den Platz möglichst auszunützen, so angeordnet gewesen.

Was waren denn hier für Felle zu trocknen, in solch ungeheurer Menge?

Nun, sei dem, wie es wolle — unsere Jungen hatten sofort erkannt, wie dieses Gerüst in besonderer Weise zu benutzen sei, nachdem sie sich überzeugt, daß die Stangen aus bestem Eschenholz bestanden, genau so dick, wie eine Reckstange, und daß sie ausgezeichnet zusammengefalzt und sonstwie befestigt waren. Das kolossale Gerüst bildete ein einziges Ganzes, mit einfacher Menschenkraft war es gar nicht möglich, solch eine Stange herauszureißen.

Und die Entfernung von Stange zu Stange war genau so, daß auch ein großer Mann an der Stange die Riesenwelle machen konnte, ohne die andere zu berühren, und dennoch war sie im Sprunge leicht zu erreichen. Und dann kam noch hinzu, daß das systematische Gerüst doch hin und wieder mit freien Stellen unterbrochen war, und an diesen Stellen hing dann immer von der Decke ein recht langes Tau herab, gerade so ein recht günstiges Klettertau.

Kurz und gut — die großen und kleinen Jungens spielten »Affens«, haschten sich gegenseitig in dem Gerüst herum und trieben andere Allotria. Gerade wie wir eintraten, sauste Kretzschmar, der ehemalige Damenkonfektionär, an solch einem Seile in weitem Bogen durch die Luft, nahm im Vorbeisausen einem Matrosen die Mütze vom Kopfe, saß im nächsten Augenblick hoch oben auf einer Stange, betrachtete mit behaglichem Grunzen seinen Raub, suchte in der Innenseite nach Tierchen, kratzte sich schnatternd — nun aber war schon der Matrose hinter ihm her, also Kretzschmar die Mütze zwischen die Zähne genommen und von Stange zu Stange gesprungen, sich auch einmal an einem Seile mächtig durch die Luft geschwungen — und als der Matrose nun sah, daß er, ein so ausgezeichneter Turner er auch selbst war, diesem klapperdürren Menschenaffen doch nicht folgen konnte, nahm er schnell einem anderen Matrosen die Mütze vom Kopfe, und nun wieder dieser hinter ihm her nun aber erbeutete Kretzschmar schon eine zweite Mütze, eine dritte — jetzt also die ganze Bande hinter ihm her, immer Affen markierend, kratzend und schnatternd und quiekend und brüllend und jauchzend — ein unbeschreibliches Tohuwabohu. Das aufgeregteste Affenhaus war nichts dagegen. Und man vergaß auch wirklich ganz, daß es Menschen waren, man sah nur die gewandtesten Affen, eine Maskierung war dabei gar nicht nötig. Es war aber auch wirklich fabelhaft, was besonders Kretzschmar und Günther und Vogel, die anwesenden Meisterschaftsturner, an Sprüngen leisteten. Denn da konnten meine Jungen schließlich doch noch nicht mitmachen, so sehr sie sich unterdessen auch ausgebildet hatten.

Ich kann nur sagen, daß wir Zuschauer lachten, daß uns die Tränen über die Backen kugelten. Stundenlang hätten wir zusehen können. Oder lieber hätten wir mitgemacht. Wenn wir vor Lachen dazu fähig gewesen wären. Die Mitspielenden brauchten ja nicht zu lachen, die hatten sich ganz in ihre Affenrolle versetzt.

»Hier Zuckerchen!« rief die Patronin, die für ihre besonderen Lieblinge aus der Menagerie immer Zucker in der Tasche hatte, warf ein ansehnlicher Stück in die Mitte des Saales.

Der Heizer Peter hatte es zuerst erwischt, steckte es sofort in den Mund, schwang sich weiter. Nun aber sofort die ganze Affenbande hinter ihm her. Und da half es Petern nichts, daß er von meinen ursprünglichen Leuten wohl der beste Turner war, Schneider-Günther hatte ihn doch bald eingeholt und gefangen, und eben immer den Affen spielend, keinen Spaß verderbend — Peter gab sich denn auch gefangen, und Günther quetschte ihm die Kinnbacken zusammen, griff mit den Fingern in Peters Maul — und was der Kerl nun dabei für eine Grimasse schnitt! — zog den Zucker heraus, steckte ihn in den eigenen Mund, setzte die Flucht fort, die ganze Affenbande tobend hinter ihm her . . .

»Ich kann nicht mehr, ich sterbe, mein Kopf platzt!« heulte die Patronin.

Ich nahm sie unterm Arm und schleifte sie davon, wieder dem Fahrstuhl zu.

Dieses Spiebchen wurde ja natürlich fortgesetzt. Und wenn erst unsere richtigen Affen mit meinen Jungen in dem Gerüst in Konkurrenz traten, darauf war ich doch wirklich gespannt!

Jetzt aber wollten wir erst einmal auf den Felsen hinauf.

Zu der Fahrt vom Meeresniveau an bis hinauf auf das Plateau brauchte man, wie dann konstatiert wurde, genau 20 Minuten. Also machte der Fahrstuhl in der Sekunde etwas mehr als einen Meter. Dieser hier. Es gab noch eine andere Menge Liftzüge, kleinere, die es bedeutend schneller machten, in der Hälfte dieser Zeit. Das hier war ja ein Lastaufzug, zur Aufnahme des schweren Automobils bestimmt, auf dem aber auch wieder einige Dutzend Menschen stehen konnten.

Jetzt hielten wir prinzipiell nicht mehr an. Da aber stand der Fahrstuhl von allein. Der kletternde Zeiger hatte den 200. Zahn erreicht.

Wir befanden uns in einem Raume — in einer Grotte, will ich gleich sagen — denn von außen gesehen war es eine Felsformation und durch die offene Tür sahen wir grünes Laubwerk.

Als ich hinaustrat, war das erste, daß ich einen tüchtigen Schlag auf den Schädel bekam. Ein großer, rotwangiger, prachtvoller Apfel, einer von der Tiroler Sorte, war mir auf den Kopf gefallen. Ich will es beschreibend zusammenfassen.

Das völlig ebene Felsenplateau bildete einen einzigen Park von etwas mehr als sechs Quadratkilometern. Die Vegetation war die des südlichen Europa — oder die der besten Rheingegend, will ich sagen.

Unter den Laubbäumen herrschte die Eiche vor, aber die italienische, und zwar ist dies die echte, die eigentliche Steineiche, alle anderen an Größe übertreffend, das beste, härteste Holz liefernd, und süße, eßbare Eicheln dazu. Ferner die Edelkastanie. Alle europäischen Obstbäume massenhaft. Der Pfirsichstrauch hatte sich zu einem ansehnlichen Baume entwickelt, bildete ganze Wälder. Wo diese nicht zu viel Schatten spendeten, gedieh die Weinrebe mit den herrlichsten Trauben als wilde Schlingpflanze.

Also einfach ein Paradies! Und das Paradies war auch ummauert. Rings um das ganze Plateau zog sich eine fast 15 Meter hohe Mauer. Außen bildete sie mit der Felsenwand eine Fläche, nach innen stufte sie sich terrassenförmig ab. Also man konnte überall zu ihr hinaufsteigen, auf der obersten Stufe hatte man noch eine Brustwehr vor sich, nur noch einen halben Meter stark.

Ob diese Mauer künstlich aufgeführt oder aus dem Felsen herausgehauen worden war, das haben wir niemals unterscheiden können. Es war derselbe Basalt wie der ganze Felsen, alles aus einem Guß. Jedenfalls war diese Mauer ein vorzüglicher Windschutz für den ganzen Park. Denn hier oben konnte es ja manchmal tüchtig pfeifen.

Am Rande der untersten Stufe zog sich an dieser Mauer, also rings um das ganze Plateau, ein breiter Weg hin, nackter Steinboden, aber doch so eigentümlich gekörnt, daß man gleich an eine künstliche Zementierung dachte.

Solche Wege, breit genug, um zwei Wagen ausweichen zu lassen, durchzogen den ganzen Park kreuz und quer, aber doch in einer Weise, daß es den Eindruck der Wildnis, des englischen Naturparkes will ich sagen, durchaus nicht störte. Wenn man den Park erst richtig kannte so brauchte man überhaupt auf solche Wege gar nicht zu stoßen, dafür sorgten Überbrückungen und Untertunnelungen, die aber einen ganz natürlichen Eindruck machten, Felsenbrücken, natürliche Felsengänge und dergleichen.

Für den Eindruck der Natürlichkeit, der urwüchsigen Wildnis war überhaupt aufs Beste gesorgt. Keine Lauben, keine Kioske. Obgleich sie dennoch massenhaft vorhanden waren. Aber stets in einem natürlichen Felsen verborgen. Niemand konnte von außen ahnen, daß sich da drin regelmäßig ein in die Tiefe führender Fahrstuhl befand.

Ziemlich in der Mitte des Parkes, teils von Wald, teils von blumigen Wiesen, teils von sandigem Strand begrenzt, befand sich ein Teich von 200 Meter Durchmesser, also schon mehr ein kleiner See. Mehrere Bäche, darunter sogar solche, die mit Booten befahrbar waren, ergossen sich in diesen See, und die meisten entsprangen als Quellen Felsformationen, bildeten sogar ansehnliche Wasserfälle.

Bäche? Die als Quellen entsprangen? Wie war denn das hier oben möglich?

Regen fiel ja hier allerdings genug. Er versickerte im Boden, kein Tropfen brauchte verloren zu gehen, was nicht die heiße Sonne schnell verdunstete.

Aber wie konnten denn hier oben Quellen entspringen?!

Nun, die ganze Geschichte wurde ganz einfach künstlich gemacht. Das im Boden versickernde Regenwasser wurde in mächtigen Reservoirs aufgefangen und durch irgend eine Kraft wieder hochgedrückt, so bildete das fließende Wasser einen ununterbrochenen Kreislauf.

Ja, es genügte schon, nur solche geheimnisvolle Fahrstühle gesehen zu haben, um auch das ganz einfach zu finden.

So durchstreiften wir den Park, immer größere Überraschungen erlebend.

Übrigens waren wir nicht die ersten hier oben, noch vor uns waren andere Fahrstühle benützt worden. Ich war noch gar nicht weit gekommen, als ich Mister Tabak stehen sah, starr in die Ferne blickend und dabei immer mit seiner kulbigen Zunge über die Lippen leckend.

Ich brauchte nur der Richtung seines Blickes zu folgen, da wußte ich, weshalb er so die Lippen leckte.

Dort auf einer Wiese weidete ein Rudel Pferde, prächtige Tiere.

Der Eskimo hatte gleich Appetit bekommen, wollte sie fressen.

»Pferde,« murmelte er jetzt, immer noch mit geisterhaftem Sehnsuchtsblick, »Kühe sind auch da, lauter milcherne — aber Pferde, solche schöne, edle, gutdurchwachsene Tiere . . .«

Er brach ab, wandte sich, gar nicht sich um mich kümmernd, wie es so seine Weise war, zog aus einem Busche neben dem Bache, an dem wir gerade standen, ein Kajak hervor, so ein einsitziges grönländisches Boot, mit einem doppelten Paddelruder zu bewegen, stieg hinein, ruderte davon, verschwand zwischen den Bäumen.

Wir staunten ja nicht schlecht. Nämlich über das Benehmen dieses Eskimos. Er hatte eben dieses Kajak zufällig gefunden — aber wie der nun tat‚ als ob er hier völlig zu Hause war — ein ganz, ganz merkwürdiges Benehmen. Dann mußte ich schleunigst zur Seite springen, um nicht von einem Automobil überfahren zu werden, das auf dem Wege dahergebraust kam, aber ohne jedes Knattern, ohne jedes andere Geräusch, und kein Lastautomobil, sondern ein eleganter Personenwagen.

Ein Heizer, gelernter Schlosser, der schon auf Automobile gearbeitet hatte, steuerte, einige Matrosen als Passagiere belustigten sich damit, im Vorbeisausen Orangen und andere Früchte von den Bäumen zu pflücken.

»Mensch, kannst Du denn gar nicht tuten?!« rief ich wirklich böse, denn ich wäre faktisch beinahe überfahren worden, und ich kann diese stinkigen Teufelsdinger überhaupt nicht leiden. »Komm mal her — hierher zurück!«

Max, wie der Kerl hieß, gehorchte, bremste überraschend schnell, lenkte geschickt um und kam zurück.

»Kannst Du denn nicht tuten?!« schnauzte ich ihn noch einmal an.

»Nee, is nich nötig!« grinste der Kerl.

»Was, nicht nötig?! Du hättest mich beinahe überfahren.«

»Nee, ausgeschlossen.«

»Was? ausgeschlossen?!«

»Wenn Ihr nicht zur Seite gesprungen wärt, dann hätte ich direkt vor Euch gehalten. Das Auto hält sofort auf der Stelle. Da, seht mal.«

Er machte eine Wendung, war sofort in sausender Fahrt, direkt gegen eine Eiche, schon sah ich den ganzen Kasten in tausend Splittern herumfliegen — aber nein, nur ein Hebeldruck und die Kutsche stand regungslos vor dem Baume.

»Wie ist denn dieses schnelle Bremsen möglich?« mußte ich staunen, denn es war wirklich ganz frappant gewesen.

»Weiß nicht.«

»Du bist doch Automobilschlosser.«

»Ja, aber solche Dinger habe ich nicht unter den Händen gehabt, das ist ganz rätselhaft.«

»Was ist denn die treibende Kraft?«

»Weiß ich auch nicht, Waffenmeister.«

»Doch Elektrizität.«

»Vielleicht. Ich finde aber nichts von Elektrizität, keine Akkumulatoren und kein Motor und gar nix.«

»Wo stand denn das Automobil?«

»Nu, im Automobilschuppen, was man auch eine Garage nennt.«

»Was, ein ganzer Automobilschuppen?«

»Jawohl, von außen ist eine Grotte, in der eine ganze Menge Automobile stehen.«

»Eine ganze Menge?!«

»Wenigstens ein Dutzend, darunter ganz, ganz kleine, wie ich sie noch nie gesehen habe, wie die Großvaterstühle. Ein paar von uns sind schon damit losgefahren.«

»Wo ist denn diese Automobilgrotte?«

Max deutete mit der Hand.

»Wenn Sie hier gerade ausgehen und dann links an der Terrassenmauer hin, erst kommen Sie an der Munitionskammer vorbei . . .«

»Was, Munitionskammer?!«

»Nu ja, wo die Granaten und Pulverkartuschen drin sind . . .«

»Was, Granaten und Kartuschen?!«

»Nu ja, für die Geschütze.«

»Was denn für Geschütze?«

»Die ganze Mauer ist doch mit Kanonen gespickt.«

Ich ließ das Automobil weiter fahren, um selbst zu inspizieren. An dieser Mauer waren wir ja noch gar nicht gewesen.

Wir erreichten sie, stiegen die steilen Stufen hinauf.

Herrlich von unbeschreiblicher Erhabenheit war der Anblick, den man von hier oben genoß. Wenn man auch nichts weiter sah als das unendliche Meer. Aber das war es eben! Aus dieser Höhe von 1400 Metern!

Mit meinem ausgezeichneten Taschenfernrohr konnte ich im Westen gerade noch einige dunkle Punkte erkennen — die Chataminseln. Sonst nichts als Wasser und Wasser, sich spiegelnd im Sonnenschein.

Doch von Geschützen war nichts zu bemerken.

Nun, die Sache war anders, als ich sie mir nach des Heizers Beschreibung gedacht hatte.

Ab und zu wurden die unteren Stufen unterbrochen, dann befand sich dort eine Tür, ein offener Zugang.

Die ganze Terrassenmauer war nämlich hohl, wurde nur hier und da durch Quermauern abgestützt, so daß lauter einzelne Kammern entstanden, natürlich durch Zugänge miteinander verbunden. Ich will es gleich zusammenfassen, was wir im Laufe von vielen Stunden konstatierten und zählten.

Es war sein großartiges Befestigungswerk. Genau aller hundert Meter stand in einer Nische ein Geschütz, und da die Länge der ganzen Umfassungsmauer zehn Kilometer betrug, so waren es hundert Geschütze, die wir dann zählten.

Kanonen von allen Kalibern, von 8 Zentimetern an bis zu 40.

Aber Kanonen von ganz besonderem Aussehen, wenn sie auch sonst ungefähr unseren Geschützen glichen. Die Hauptsache dabei ist doch eben immer das Rohr und der Verschluß.

Ich blieb über das System nicht lange im unklaren, denn ich hatte in Neuyork schon einmal ein pneumatisches Geschütz gesehen, die letzte Errungenschaft des amerikanischen Kriegswesens.

Es waren samt und sonders pneumatische Geschütze, das Projektil wurde also durch komprimierte Luft herausgeschleudert.

Diese wurde ohne Zweifel durch das mächtige Vertikalrrohr zugeführt, auf dem jedes Geschütz lagerte. Auf welche Weise, wo und wie die Luft komprimiert wurde, so schnell, wie man eben wieder laden konnte, bei den größeren Geschützen auch wieder durch eine pneumatische Vorrichtung, das haben wir niemals erforschen können.

Die Hauptsache war, daß die Bedienung eine ganz einfache war, man konnte an den Vorrichtungen alles gleich erkennen.

Das Visier konnte für jedes Geschütz einzeln eingestellt werden, es war aber auch noch auf jeder Seite ein komplizierter Spiegelapparat mit Netzvorrichtung vorhanden, um automatisch die ganze Breitseite zugleich abfeuern zu können.

Wer in diesem Artilleriewesen bewandert ist, der weiß, was hiermit gemeint ist, sonst kann ich das nicht näher beschreiben.

Die Visiere der größeren Geschütze konnten bis zu 23 Kilometer eingestellt werden, würden also wohl auch so weit reichen.

Hierzu möchte ich eine Bemerkung machen. Wenn unsereiner, der bei der Marine gedient hat, von solchen Schußweiten Feld— oder Festungsartilleristen erzählt, dann kann es passieren, daß man ausgelacht wird. Von anderen Leuten gar nicht zu reden. Weil die sich um so etwas nicht kümmern, gar nicht ahnen, was unsere heutigen Schiffs- und Küstengeschütze leisten.

Ich selbst war dabei, wie im April 1892 auf dem Schießplatze bei Meppen die Flugbahn einer Panzergranate aus einem Kruppschen 24 Zentimeter—Schiffsgeschütz berechnet wurde. Gewicht der Granate 215 Kilo, Pulversatz 120 Kilo. Bei 44 Grad Rohrwinkel ging das Geschoß 20 226 Meter weit, erreichte dabei eine Höhe von 6540 Metern, brauchte dazu 70,2 Sekunden.

Das ist aber nicht etwa die Höchstleistung. Die größeren Geschütze erreichen noch ganz andere Weiten. Für Italien hat Krupp ein 45 Zentimeter—Geschütz geliefert, die Granate wiegt 1000 Kilo, die Pulverkartusche 220 Kilo, hier wird noch bei 20 Kilometern auf Treffsicherheit garantiert. Jeder Schuß kostet 8000 Mark.

In anderen Kammern waren die Geschosse massenhaft aufgespeichert, Granaten, Schrapnells und Spitzhartgußkugeln. Aber auch Pulverkartuschen waren vorhanden. Diese Geschütze konnten auch regelrecht abgefeuert werden. Oder man konnte doch Salut oder Warnungsschüsse abgeben. Denn solch ein donnernder Knall macht bei dem Feinde doch einen ganz anderen Effekt als das Zischen der komprimierten Luft.

Dem Feinde?

Nun, jedenfalls war dieses Paradies genügend geschützt.

Ja, es schadet gar nichts, wenn auch solch ein Paradies mit Kanonen gespickt wird.


60. KAPITEL. VERIRRT.

Die Patronin und ihre Begleitung inspizierte die Innenräume der Terrassenmauer weiter, ich entfernte mich, wollte erst wieder einmal hinab nach unserem Schiff, wollte den Kapitän Martin sprechen.

Was ich da zuletzt gesehen, hatte mich doch sehr erregt.

Man hatte uns da etwas in die Hand gegeben, was doch nicht so einfach zu bewerten war.

Das hier war nicht ein australisches Helgoland, sondern das war ein australisches Gibraltar!

Wenn wir uns hier festsetzten, dann konnten wir der ganzen Welt . . .

Genug, ich mochte es mir gar nicht weiter ausmalen.

Aber aussprechen mußte ich mich gegen jemanden. Und da konnte nur Kapitän Martin in Betracht kommen, der war doch der Vernünftigste von uns allen.

Ich wollte mit dem nächsten Fahrstuhl in die Tiefe rutschen. Es wimmelte hier ja alles von solchen Fahrstühlen, jede Grotte enthielt einen, jetzt aber fand ich nun gerade keinen.

Ich hatte meinen Gedanken nachgehangen, war aufs Geratewohl durch den Park gegangen, in der Meinung, wieder nach jener Grotte zu kommen, in der wir gelandet‚ und wie ich aus meinen Träumen erwachte, merkte ich, daß ich mich verlaufen hatte.

Bäume, Wiesen, Wasser —— aber keine Grotte sah ich. Übrigens wußte ich damals noch gar nicht, daß jede Felsformation hohl war und einen Fahrstuhl enthielt. Aber da kam mir schon ein Fahrstuhl entgegen. Allerdings kein Liftzug, sondern eben ein richtiger Fahrstuhl.

In einem bequemen Großvaterstuhl, das eine Bein über der Lehne, fläzte sich behaglich der Matrose Jochen, rauchte behaglich seine kurze Pfeife. So kam das seltsame Vehikel auf kleinen Rädern angerollt. Nur daß der Großvaterstuhl unten ausgefüllt war.

Mir war das nicht gerade etwa Neues. Auf der Weltausstellung in St. Louis hat man solche Autostühle gehabt, um eben in möglichst bequemer Weise überall herumkutschieren zu können. Es war für eine mäßige Geschwindigkeit gesorgt worden, sie konnte nicht gesteigert werden, damit die Entleiher solcher Autostühle nicht etwa ein Wettfahren machten.

Auch Jochen kam ziemlich langsam einher. Sonst hätte er sich auch nicht so hinfläzen und behaglich mit den Augen zwinkern können.

Auf meinen Ruf hielt er an, brauchte dazu nur einen der kleinen Hebel zu drehen, die sich vorn an den Armlehnen befanden.

»Wo hast Du das Ding her?«

»Dort hinten steht eine ganze Grotte voll.«

»Dann hole Dir dort einen anderen, jetzt lasse mich einmal in den Stuhl.«

Ich nahm Platz, Jochen zeigte mir überflüssigerweise noch die Handgriffe, auch wie man vorn eine Stellage aufschlagen konnte, um eine Tasse Kaffee draufzusetzen, dann fuhr ich los.

Ja, es machte mir großes Vergnügen, so herumzukutschieren. Über den selbstfahrenden Großvaterstuhl hatte ich im Augenblick die ganzen Kanonen vergessen.

Als ich um eine Felsformation fuhr, erblickte ich einen Eingang, oder für mich vielmehr eine Spalte, ich fuhr direkt hinein, und, da ich dies alles ja noch nicht wußte, wunderte ich mich, eine wohnlich eingerichtete Grotte vorzufinden, mit Tisch, Stühlen, Sofa und allem anderen, was eben zur Wohnlichkeit gehört.

Es war aber noch verschiedenes andere vorhanden, was mir zu denken gab.

Ein Wandschränkchen, das ich öffnete, enthielt mehrere Hähne, aus der Wand hervorragend, richtige Bierhähne. Unsereins hat doch gleich so etwas im Kopfe. Ich dachte aber auch gleich an ein Automatenrestaurant. »Bediene Dich selbst.« Dazu war auch nicht besonders viel Scharfsinn nötig, denn über den Hähnen standen auf einem Regal Porzellantassen und Gläser, alles nur aufs Feinste, feinstes Porzellan und die Gläser schön geschliffen.

Sechs Hähne zählte ich, alle verschiedenfarbig. Weiß, gelb, braun, schwarz, rot, grün. Daneben noch eine Art Trichter mit kleinem Hähnchen. Und darunter ein Ausguß.

Also ohne Zweifel ein Automatenrestaurant. Ob aber die Sache auch funktionierte? Auch ohne Geldeinwurf? Der überhaupt gar nicht zu sehen war, ins Paradies auch schlecht gepaßt hätte.

Ich drehte den weißen Hahn nach links. Es floß kaltes Wasser heraus, das schnell eiskalt wurde. Beim Zurückdrehen merkte ich, daß man ihn auch nach rechts drehen konnte, tat es, und schnell erwärmte sich das Wasser, bis es kochend heiß wurde.

Dann drehte ich den nächsten Hahn, den gelben. Gelb war auch die Flüssigkeit, die alsbald herauskam, aber doch erst nach einiger Zeit, dann aber auch gleich kochend heiß und schon der Geruch sagte mir, daß es Tee war. Sehr starker, den man aber je nach Belieben verdünnen konnte. Der braune Hahn spendete einen vorzüglichen Mokkakaffee, Schokolade der schwarze, Zitronenlimonade der rote, eine Art Mandelmilch der grüne. Was der Trichterapparat bedeutete, hatte ich auch bald heraus, man brauchte ihn nur zu drehen, so fielen von oben einige Stückchen Zucker hinein.

Ich nahm mir eine Tasse Tee, verdünnte sie mit etwas Wasser, sah mich nach dem Hahne um, der den dazu nötigen Kognak oder Rum spendete.

Der fehlte aber.

Also durchaus unvollkommen, diese Einrichtung im paradiesischen Schlaraffenland.

Dann mußte ich mich nach einer besseren Kneipe umsehen, wos Schnaps gab.

So räsonnierte ich, während ich auf dem Sofa saß und den Tee schlürfte. Nach einigem Teegebäck oder einem Dutzend belegter Brödchen hätte ich übrigens jetzt auch Appetit gehabt. Aber nichts gabs! Eine ganz mangelhafte Bewirtschaftung hier!

So ist der Mensch immer unzufrieden. Und Doktor Isidor zum Beispiel würde ja noch ganz anders schimpfen, wenn er hier keinen Hahn mit Kognak fand.

Das heißt, als ich so auf dem Sofa saß und den Tee schlürfte, dachte ich eigentlich doch an etwas anderes.

Das heiße Wasser ließe sich ja durch eine heiße Quelle erklären.

Aber wo kamen die anderen Getränke her?

Die mußten doch erst in einer Küche zubereitet werden. Wo befand sich diese Küche?

Wats waren das für Menschen oder sonstige Wesen, die immer auf frisch gekochten Kaffee und Tee hielten?

Nevermind — durch solche Grübeleien konnte ich das Rätsel ja doch nicht lösen.

Ein meterhohes Gitterwerk, das in einer Ecke eine quadratische Fläche umgab, fesselte meine Aufmerksamkeit.

Das sah gerade so aus wie eine Schutzvorrichtung, die auf Bahnhöfen den in die Tiefe führenden Fahrstuhl umgibt, damit niemand hinabpurzelt.

Hebel und wieder so eine Zahnstange sagten mir vollends, daß es wirklich ein Liftzug sei. Das war es ja, was ich gesucht hatte, ich dachte wieder an die Kanonen und an Kapitän Martin.

Ich hin, klinkte die Gittertür auf, trat ein, drehte den Haupthebel. Der Boden senkte sich, der Zeiger an der Zahnstange kletterte hinab.

Die schwarzen Felswände rutschten vorbei, in regelmäßigen Zwischenräumen von weißen Feldern unterbrochen. Die bezeichneten also die Etagen, wo man den Fahrstuhl verlassen konnte, das hatte ich nun doch schon heraus.

Nur der Wissenschaft halber stellte ich einmal den zweiten Zeiger in mittlerer Höhe ein, also in den hundertsten Zahn.

Als der automatische Zeiger diesen erreicht hatte, blieb denn auch der Fahrstuhl gehorsam stehen, statt des weißen Feldes war hier eine Öffnung, die Wand hatte sich eben bereits verschoben.

Ich hatte eigentlich weiter fahren wollen, nun aber trat ich doch einmal hinaus, um zu sehen, wie es hier in der mittleren Höhe des Felsens beschaffen war.

Ich staunte ja nicht schlecht. Das rätselhafte Licht mit dem hier nicht gespart wurde — nur unten hatten wir es andrehen müssen, sonst war alles erleuchtet — zeigte mir die prachtvolle Wandverkleidung der Korridors. Mosaik, aus lauter kleinen Steinchen von den verschiedensten Farben zusammengesetzt. Eine prachtvolle Farbenzusammensetzung, prachtvolle Muster. Jedenfalls, meiner Ansicht nach, maurische Ornamentik, wie ich sie schon in der Alhambra gesehen hatte.

Wer hatte denn dies alles hier nur geschaffen?!

Nevermind.

Nun vergaß ich aber doch wieder die Kanonen und den Kapitän Martin, ging noch weiter.

Von dem Korridor ging ab und zu links und rechts eine Tür ab, immer unverschlossen, aber stets mit einer verschiebbaren Portiere versehen. Die schwersten Seidenstoffe, prachtvoll gestickt.

Von der Einrichtung aller der Räume will ich nur sagen, daß sie etwa der eines königlichen Palastes glichen, die man manchmal besichtigen darf. Ich habe freilich nicht viel solche Häuser besucht, bin nicht in das königliche Schloß von Berlin gekommen. Aber im Schlosse des Fürsten von Monako bin ich gewesen, es soll eines der großartigsten sein, was der da alles zusammengeräubert hat, und es ist ja auch wirklich staunenswert, dieser Glanz und Luxus.

So war es auch hier. Also weiter will ich darüber nichts sagen. Mag es sich jeder selbst ausmalen.

Nachdem ich mindestens ein Dutzend solcher Gemächer und Prunksalons durchwandert war, alle hell erleuchtet, ohne daß die Lichtquelle zu sehen war, ließ ich mich in einen Eriman fallen. Es war wohl ein Schlafzimmer. Wenigstens stand dort ein zweischläfriges Himmelbett. Für mich war es ja ein Prunksalon.

Ich wollte wieder ins Grübeln verfallen.

Wer konnte nur dies alles . . .

Ach zum Teufel noch einmal, was ging denn das mich an!

Sehr viel aber ging mich an, daß jetzt mein Magen zu knurren begann.

Gegen zehn Uhr waren wir hier hereingefahren, jetzt war es gleich zwei, also schon vier Stunden waren vergangen, ich hatte wie wohl die meisten, das Mittagsessen versäumt. Die anderen gingen mich nichts an, ich aber merkte jetzt meinen mörderlichen Hunger. Zu dem Tee vorhin hatte eben das Gebäck gefehlt.

Also nun definitiv zum Schiffe hinabgerutscht.

Aber schon wie ich aufstand, bekam ich gleich so eine Ahnung, daß ich vielleicht den Rückweg zum Schiffe gar nicht so leicht wiederfinden könnte.

Ich wußte ja gar nicht, in welchem Teile des Parkes ich mich befunden hatte, als ich die Grotte betrat und den Fahrstuhl benutzte, und dieses quadratische Plateau hatte zweieinhalb Kilometer im Durchmesser!

Wenn ich nun unten ankam, und auch dort war der ganze Felsen ausgehöhlt, wie sollte ich denn da den Hafen mit dem Schiffe finden? Mein Taschenkompaß sagte da gar nichts, den hatte ich vorher überhaupt gar nicht befragt. Da konnte ich ja vielleicht lange herumirren, ehe ich die Wasserhöhle zufällig fand.

Na‚ erst einmal den Fahrstuhl wieder aufgesucht und hinabgerutscht, dort immer gut die Richtungen gemerkt, und fand ich das Schiff nicht, dann eben wieder mit diesem oder einem anderen Fahrstuhl hinaufgerutscht, bis in den Park, dort wollte ich die große Grotte mit dem Lastaufzuge schon wiederfinden.

Ja, wo war ich denn eigentlich hergekommen? Aus diesem Zimmer?! Nein, aus jenem. Oder aus dem Saale dort?

Kurz und gut, ich wußte weder aus noch ein. Eine Viertelstunde verging, ich pilgerte durch die Zimmer und durch Korridore, ohne meinen Liftzug oder einen anderen zu finden.

Hatte sich die Öffnung hinter mir wieder geschlossen? Ich wußte es nicht. Jetzt jedenfalls fand ich keine, durch die ich in einen Raum gekommen wäre, wo man einen Fahrstuhl vermuten konnte. Immer nur neue Prunkzimmer und neue Korridore. Treppen gab es gar nicht. Auch keine Küchen und Speisekammern, die mir, wenn sie gefüllt, jetzt am wünschenswertesten gewesen wären. Denn mein Magen knurrte immer mächtiger.

Eine Stunde war vergangen, und ich irrte immer noch kreuz und quer herum, aus einem Prunkgemach ins andere, manchmal einen Korridor passierend.

Den Glauben an das Auffinden eines Fahrstuhls hatte ich schon längst aufgegeben, ich suchte nur noch nach einer gefüllten Speisekammer oder nach einem Automatenrestaurant. Aber nichts wars!

Und doch, da fand ich einen Fahrstuhl! Aber wiederum keinen solchen, wie ich ihn mir gewünscht hatte, mit senkrechter Beförderung, der mich hinab oder jetzt besser wieder hinaufgebracht hätte. Sondern einen mit horizontaler Bewegungskraft. In der Nische eines Korridors stand wieder so ein Großvaterstuhl mit Hebeln an der Armlehne, und er funktionierte auch sofort.

Also jetzt konnte ich beim Suchen nach etwas Eßbarem wenigstens meine Beine schonen, konnte dabei fahren. Und ich kutschierte los, in der hundertsten Etage dieses Riesenlabyrinth, immer aus einem Zimmer ins andere — ohne das zu finden, was ich jetzt am meisten brauchte.

Ich wurde immer ärgerlicher, begann zu fluchen.

War denn das eine Sache?

Hatte Schwester Anna nicht gesagt, hier bestände nirgends die geringste Gefahr?

Und ist das etwa keine Gefahr, sich in der hundertsten Etage eines zweihundertstöckigen Hauses von zehn Kilometern Umfang total zu verirren, mit einem seit nunmehr als fünf Stunden leeren Magen?!

Mein Fluchen nützte nichts.

Ich begann nähere Umschau nach anderen Sachen zu halten.

Schränke gab es gar nicht, die ich hätte visitieren können. Denn ich dachte ja immer an so einen Automatenschrank.

Doch da war ein Schrank, einer mit Glastüren. Dahinter waren die herrlichsten Silbersachen aufgebaut, Teller und Schüsseln und Krüge und dergleichen. Ein Schubkasten enthielt Messer und Gabel und Löffel, alles vom schönsten Silber, ein zweiter Kasten dasselbe in kleinerer Ausgabe, wohl fürs Dessert. Also befand ich mich wohl in einem Speisezimmer.

Teufel aber noch einmal, was nützten mir alle dieses herrlichen Silberspeisegerätschaften, wenn ich sie nicht gebrauchen konnte?!

Ich wendete meine Aufmerksamkeit einem besonderen Apparate zu, der sich fast in jedem Raume befand, auch hier und da in den Korridoren aufgehängt war.

Es war eine dünne, schwarze Metallplatte ungefähr 30 Zentimeter im Quadrat, mit zahllosen Löchelchen dicht nebeneinander versehen, also wie ein Sieb.

Oder nein, die Löcherchen waren nicht zahllos. Sie waren sogar nummeriert. Oben ging die Zahlenreihe bis 300, links von unten nach oben bis 202.

Dann hingen an festen Seidenfäden zwei Metallstiftchen, die genau in die Löcherchen paßten.

Also doch offenbar eine elektrische Schaltvorrichtung. Was konnte hier gestöpselt werden? Das Licht? Dafür befand sich an jeder Tür ein besonderer Hebel, jetzt alle angedreht.

Nein, ich mußte gleich an ein Telephon denken. Wenn auch nichts von Mikrophonen und sonstigen Trichtern zu sehen war. Aber etwas Telephonartiges mußte doch dabei sein. Die Höhenreihen bezeichneten doch zweifellos die einzelnen Etagen.

Also ich begann zu stöpseln. Ohne eine Ahnung, was dabei herauskommen würde. Ach, was habe ich gestöpselt, an der Platte herumgefingert. Nicht nur in dieser, sondern noch an vielen anderen.

Immer wieder den zwecklosen Versuch aufgebend, immer wieder an einer anderen Platte herumstöpselnd!

Wieder einmal, meine Uhr zeigte nun schon die vierte Stunde, verließ ich solch eine Platte, um seufzend davonzufahren.

Da plötzlich klingelte es hinter mir.

Wie ich anhielt und mich umdrehte, sah ich, daß die schwarze Platte plötzlich weiß geworden war, auch ein intensives Licht ausstrahlte. Und das Klingeln schien aus der Platte herauszukommen.

Ich schnell wieder hin.

»Ist jemand dort?!« schrie ich aufs Geradewohl auf die Platte, das Klingeln überbrüllend.

Alsbald verstummte das Klingeln.

»Ja, Kurt ist hier!« erklang es ganz deutlich.

Also wirklich ein Telephon! Nur ein ganz anderes als wir kennen. Die ganze Platte wirkte als die Schallwellen empfangende und wiedergebende Membrane, oder wie daß Teufelsding nun sonst funktionierte.

Gott sei Dank, ich hatte wenigstens mit einem Menschen Verbindung erlangt, konnte mit ihm sprechen! Obgleich es etwas kühn von mir war, glaubte ich mich dadurch doch schon gerettet.

»Du bists, Kurt?«

»Ja. Der Waffenmeister, nicht wahr?«

»Jawohl.«

»Ach, Herr Waffenmeister,« fing da mit einem Male der sonst so resolute Matrose mit ganz kläglicher Stimme an, »ich weiß gar nicht mehr, wo ich bin, ich habe mich verirrt.«

Ach Du großer Schreck! Ich fühlte gleich etwas in meine Stiefeln rutschen!

Ich denke doch, ich finde hier jemanden, der mich aus diesem Labyrinthe wieder herauslotsen kann, dabei hat sich der Kerl selber verirrt, verlangt Hülfe von mir!

»Wo bist Du denn?«

»In der hundertdreiunddreißigsten Etage. Mehr aber weißt ich nicht. Ich wollte hinunterfahren, habe unterwegs den Fahrstuhl einmal verlassen und kann ihm nun nicht wiederfinden. Auch keinen anderen. Seit wenigstens zwei Stunden irre ich hier nun schon herum.«

»Ja, mein lieber Kurt, da kann ich Dir nicht helfen, da mußt Du mich erst einmal aus der hundertsten Etage herausbugsieren, dann will ich Dich aufsuchen und befreien.«

»Ich habe ganz mächtigen Hunger . . .«

»Ich auch.«

»Finde nichts zu essen . . .«

»Ich auch nicht.«

»Können Sie mir nicht wenigstens sagen, wo ich . . .«

»Herr Waffenmeister, sind Sie das?« wurde da der Sprechende von einer anderen Stimme unterbrochen, die ich gleich erkannte.

»Sie wünschen, Frau Patronin?«

»Ach, Georg,« fing die jetzt auch ganz kläglich an, »ich wollte hinunterfahren, allein, schon vor einer Stunde, habe den Fahrstuhl in der vierundachtzigsten Etage verlassen, und jetzt finde ich keinen Fahrstuhl wieder, irre nun schon seit einer Stunde hier herum.«

So, nun wars ja gut! Es konnte aber schließlich auch noch besser kommen.

Wir waren rund hundert Personen, und zweihundert Etagen hatte dieses Felsenhaus! Also standen jedem zwei ganze Etagen von je zehn Quadratkilometern zur Verfügung, in denen er herumirrend verhungern konnte.

»Ja, Helene, ich bin ganz genau in der gleichen Lage . . .


61. KAPITEL. DER ZAUBERSPIEGEL.

Ein schrilles Klingeln unterbrach mich, und gleichzeitig färbte sich die weiße Platte wieder schwarz.

Doch nur wenige Sekunden, dann nahm sie wieder die weiße Farbe an.

»Georg Stevenbrock?« wurde ich jetzt von einer weichen Frauenstimme angerufen, die ich nun schon zur Genüge kannte.

»Schwester Anna?« durfte ich mit Recht erleichtert aufatmen.

»Verzeihe mir, daß ich Dich und Deine Gefährten in eine so unangenehme Situation gebracht habe. Es geschah natürlich unabsichtlich. Wir sind eben auch noch unvollkommene Menschen, haben mancherlei vergessen, als wir Euch diesen Felsen zur Verfügung stellten, in der Meinung, Euch nun darin gänzlich selbst überlassen zu können. Jedem Telephon auf dem Korridor gegenüber ist ein Fahrstuhl, und es braucht nur daß letzte Loch gestöpselt zu werden, so öffnet sich die Wand, an den sofort sichtbaren Hebeln kann der Fahrstuhl, wenn der Hebel weiß ist, hinauf oder herab dirigiert werden. Ist er schwarz, so wird der Fahrstuhl zur Zeit gerade benutzt, dann muß eben so lange gewartet werden, bis sich der Hebel wieder weiß färbt.«

»Aha! Erfahren das jetzt auch die anderen, daß sie davon Gebrauch machen können, ehe sie verhungern?«

»Sie erfahren es gleichzeitig mit Dir, nur in anderer Weise, ich möchte jetzt, wie immer, mit Dir allein sprechen.«

»Bitte.«

»Kannst Du mir noch einige Stunden schenken?«

»Zunächst muß ich unbedingt einmal an Bord unseres Schiffes.«

»Wozu, wenn ich fragen darf?«

»In einigen Stunden könnte ich schon verhungert sein.«

»Ist das der einzige Grund, daß Du an Bord willst?« erklang es in einem Tone, aus dem ich ganz sicher schließen konnte, daß die Schwester Anna jetzt belustigt lächelte.

»Eigentlich ja, das ist jetzt der einzige Grund!«

»Deinen Hunger kann ich auch sofort stillen.«

»Das wäre mir sehr angenehm. Dann stehe ich Dir auch sofort für einige Stunden oder auch für einige Tage zur Verfügung.«

»Folge dem Lichtschein zu Deinen Füßen, er wird Dich an das Ziel Deiner Wünsche führen.«

Wie ich niederblickte, lag zu meinen Füßen wirklich ein kreisrunder Lichtschein, wie eben ein Sonnenfleck in einem tageshellen Zimmer, und als ich einen Schritt nach ihm hin tat, zog er sich vor mir zurück, und so immer weiter.

Also ich folgte meinem seltsamen Lotsen, der mich durch mehrere Zimmer bugsierte, bis in einen kleinen Saal, in dem vor einem Sofa ein mit dampfenden Schüsseln besetzter Tisch stand.

Zufällig wußte ich einmal ganz bestimmt, daß ich diesen selben Saal erst vor fünf Minuten passiert hatte, von hier war ich direkt an jenes Telephon gekommen, und da war dieser Tisch noch nicht gedeckt gewesen, das hätte ich mir ganz sicher nicht entgehen lassen.

Nun, ich zerbrach mir nicht weiter den Kopf, setzte mich und langte zu.

Es waren mehrere warme Fleischgerichte mit Gemüsezutaten, über deren Ursprung ich mir nicht ganz klar werden konnte. Es war Fleisch und doch kein Fleisch, mehr eine Art von Kloß, oder man hätte an ganz fein gehacktes Fleisch denken können, und am meisten fiel mir auf, daß alle Speisen, so angenehm würzhaft sie auch schmeckten, doch absolut geruchslos waren. Dasselbe galt von den Gemüsen, wenn man das Zeug so nennen durfte. Immer war es ein Brei, aber der eine schmeckte wie junge Erbsen, der andere genau wie Spargel. Das Weißbrot aber war ein ganz natürliches und der Rotwein ganz vorzüglich.

Bald war ich gesättigt, das dauert ja auch bei unsereinem nicht lange, wenn man nur ungeniert essen kann. Vor Antritt der Wache hat man ja niemals länger als zehn Minuten Zeit zum Mittagsessen. Trotzdem war auf den silbernen Platten nicht mehr viel.

Zigarren und Feuerzeug hatte ich bei mir, ich steckte mir eine an, lehnte mich behaglich zurück, und erwartete das Weitere. Dort war ja auch so eine Telephonplatte, Schwester Anna würde mich schon rufen, wenn es so weit war.

Da setzte sich vor mir die Tischplatte in Bewegung, ging in die Höhe. Aber da war gar keine Zauberei dabei. Sie ruhte einfach auf fünf Beinen, die vier Eckbeine blieben stehen, nur das mittelste schob sich hoch; nahm die Tischplatte mit, oben an der holzgetäfelten Decke klappte eine doppelte Tür auf, die Tischplatte verschwand in der Öffnung, die Falltür ging wieder zu. Natürlich ragte nun vom Boden bis zur Decke empor eine dünne Säule, das verlängerte mittelste Tischbein.

Ich staunte das nicht etwa als eine besonders ingeniöse Erfindung an. Besonders auf Schiffen, wo man mit jedem Quadratfuß Raum geizen muß, ist die Speisetafel, ihr Decken, das Servieren und Abräumen immer ein Problem gewesen. Man konstruiert ein Tischchendeckdich, es steigt mit Speisen bedeckt aus einer Bodenversenkung empor, senkt sich dann wieder hinab, um abgeräumt oder neu besetzt zu werden.

Hiervon ist man aber bald wieder abgekommen. Da sind nämlich schon böse Zwischenfälle passiert. Es ist gar nicht so einfach, da eine Schutzvorrichtung anzubringen. Da ist schon manchem Bein und Fuß von der Tischplatte eingeklemmt worden oder er hat gar einen Sturz in die Tiefe getan. Denn es muß doch über der verschwindenden Tischplatte erst eine Öffnung entstehen, und die ist eben gar nicht so leicht schnellstens zu schützen, oder auch die Schutzvorrichtung kann gefährlich werden.

So verlegt man die Pantry (den Anrichteraum) jetzt lieber über das Speisezimmer, läßt sich den Tisch heben, oben verschwinden und wieder herabkommen.

Es dauerte denn auch gar nicht lange, so gingen die Klapptüren an der Decke wieder auf, jetzt aber nach unten, die Tischplatte kam wieder herab, besetzt mit einer neuen Flasche Wein, mehreren Zigarrenkisten und Feuerzeug.

Die Havannas waren nicht besser als die meinen, ich gab mich weiter deren Genusse hin, dazu noch einige Gläser des wirklich großartigen Rotweines schlürfend, dessen Flasche keine Etikette zeigte. Man schien hier schon zu wissen, daß ich Rotspon jedem anderen Weine vorziehe, ich liebe den Gerbsäuregeschmack, sonst hätte man mir wohl sicher auch Weißwein und andere Sorten vorgesetzt, davon war ich fest überzeugt, ohne von GröBenwahnsinn geplagt zu werden.

Da aber ereignete sich etwas, daß ich mich fragte, ob ich nicht vielleicht von einer anderen Art Wahnsinn geplagt würde!

Etwa zehn Schritte entfernt mir gegenüber war ein großer Wandspiegel. Oder überhaupt die ganze Wand war ein einziger Spiegel. Es war überhaupt ein recht merkwürdig eingerichtetes Zimmer, bei diesen Dimensionen schon mehr ein Saal zu nennen. Auf der einen Seite stand nur dieses Sofa mit dem Tisch davor, dann weiter und auch an den anderen zwei Wänden zog sich nur ein breiter Diwan hin, sonst war der ganze Raum leer, nur daß auf dem kostbaren Teppich der den Boden völlig bedeckte, noch eine Menge Kissen und Polster verstreut lagen, wie dazu bestimmt, daß sich eine größere Gesellschaft gleich auf dem Boden lagern konnte, wie es die Orientalen machen. Und die vierte, türlose Wand, mir gerade gegenüber, war also ein einziger Spiegel.

Ich bin gewiß kein Spiegelaffe, aber es konnte ja nicht anders sein, ich mußte mich immer oder doch öfters, sobald ich die Augen hob, im Spiegel sehen. Ich hatte beobachtet, wie es mir geschmeckt, und jetzt sah ich, wie ich in den Polstern fläzte und mit behaglich blinzelnden Augen die blauen Rauchwölkchen steigen ließ.

Da plötzlich . . . ja, was war denn das?!

Da sitzt mit einem Male ein Mensch neben mir auf dem Sofa.

Ein altes Männchen mit schneeweißen, etwas langen Haaren, das bartlose Gesicht ganz durchrunzelt, patent gekleidet in einen schwarzen Frackanzug, mit schlohweißem Oberhemd, Stehkragen und weißem Schlips.

Daß heißt, ich sehe den Kerl nur im Spiegel! Neben mir war nichts. Ich greife mit der Hand, welche Bewegung ich auch im Spiegel mache, fahre durch die Luft und dort durch das Spiegelbild meines Nachbars.

Jetzt greift das Männchen nach dem zweiten auf dem Tische stehenden Glase, nimmt die Rotweinflasche, füllt sich das Glas, hebt es mit einer Verbeugung gegen mich und trinkt.

Das alles vollzieht sich aber nur im Spiegel. Vor mir in Wirklichkeit ändert sich natürlich nichts.

Ja, wie der Mann aber nun sein Glas wieder hingesetzt hat, da stehen dort im Spiegel auf dem Tische drei Gläser und zwei Flaschen!

Wie war das möglich?

Nun, eben irgend eine Illusion, die mir da vorgemacht wurde. Es regte mich durchaus nicht auf. Wenn ich vorhin sagte, ich hätte mich gefragt, ob ich nicht vielleicht wahnsinnig geworden sei, so war das nicht so gemeint.

Jetzt stand der Mann auf, quetschte sich zwischen Sofa und Tisch hervor, während er also ein Hereinquetschen nicht nötig gehabt hatte, machte wieder eine Verbeugung gegen mich sprach zu mir, bewegte wenigstens die Lippen, zu hören war ja nichts, deutete nach den auf dem Boden liegenden Polstern, machte wie einladende Handbewegungen.

Und da kamen durch die Tür, die ich auch im Spiegel sehen konnte, Gestalten herein, türkisch und indisch gekleidet, überhaupt orientalisch bärtige Männer mit Schwertern umgürtet, herrlich geschmückte Weiber

Da, noch ehe ich es etwas näher hatte unterscheiden können, während mein Gehirn noch diesen ersten orientalischen Eindruck verarbeitete, erscholl ein Klingeln, und im Nu war dieser ganze Spiegelspuk wieder verschwunden, auch das alte Männchen.

Die Telephonplatte hatte geklingelt, hatte sich auch weiß gefärbt. Ich stand auf, begab mich hin, wo sie über einer Lücke des Diwans hing.

»Hier Waffenmeister!« meldete ich ganz gewohnheitsgemäß meinen Titel.

»Hier Schwester Annal« entgegnete deren weiche Stimme. »Ich muß schon wieder um Verzeihung bitten.«

»Weshalb denn? Das Essen war ganz ausgezeichnet.«

»Wegen der Gaukelei, mit der man Dich belästigt hat. Kaum ist bekannt geworden, daß man Euch einen persönlichen Berater geben, also mit Euch in näheren Verkehr treten will, so hält man sich schon für berechtigt, Dir im Illusionsspiegel eine Gaukelei vorzumachen. Es war nicht bös gemeint.«

»Das glaube ich schon, und sie hätte ruhig fortgesetzt werden können.«

»Du liebst solche Illusionen?«

»Wer liebst das nicht? Das müssen doch sehr große Sauertöpfe sein, die von so etwas nichts wissen wollen. Wir sind keine solche Mucker. Wir sind ja selbst professionsmäßige Gaukler. Bitte, laß Deine Leute nur nach Herzenslust solche Illusionen vorführen, sie werden an uns ein vergnügtes Publikum haben. Nur darfst Du nicht verlangen, daß wir den Illusionen auf den Grund gehen werden, uns darüber die Köpfe zerbrechen. Ich wenigstens für mein Teil werde das nicht tun.«

»Gut, wenn es so ist, dann könnt Ihr hier noch mehr davon zu sehen bekommen. Nun aber die Hauptsache, weswegen ich Dich sprechen wollte. Es ist also doch wohl besser, wenn Ihr einen Berater bekommt, der Euch näher in die Eigentümlichkeiten dieses Felsenlabyrinthes einführt.«

»Ganz wie Du willst.«

»Nein, nur Du hast zu bestimmen. Ihr würdet doch mancherlei nicht finden, was Euch sehr angenehm sein dürfe. So wäre es schon der größte Zufall, wenn Ihr die im untersten Geschoß befindlichen Bäder entdecken würdet. Ist Dir also solch ein Berater angenehm?«

»Er ist mir und uns allen angenehm!« entgegnete ich einfach.

»Gut. Er wird sich Dir dann gleich vorstellen. Du hast ihn übrigens schon gesehen, vorhin im Spiegel. Es ist derselbe alte Herr. Er faßte die Mitteilung falsch auf, wollte Dir gleich etwas vorgaukeln. Jetzt wird er selbst zu Dir kommen. Es ist die einzige Person, die wir in Fleisch und Blut zu Euch senden dürfen. Wir sind an strenge Gesetze gebunden. Mit diesem alten Herrn dürfen wir eine Ausnahme machen. Nun ist es freilich mit diesem alten Herrn eine eigentümliche Sache. Er ist nicht . . . ganz geistesnormal, will ich mich zart ausdrücken.«

»Irrsinnig?«

»Nein, das ist er nicht. Oder das ist doch ein zu weiter Begriff. Er befindet sich nur in einem Wahne, hat eine fixe Idee. Er glaubt an Seelenwanderung. Er hält sich gegenwärtig für den Professor Gottfried Beireis. Hast Du von diesem schon gehört?«

»Du meinst den gelehrten Sonderling, der in der Mitte des 18. Jahrhundert von Helmstedt aus die damalige Welt veralberte?«

»So ist es. Und Du gebrauchst gleich den richtigen Ausdruck. Für diesen hält sich der alte Herr. Ich habe nichts weiter hinzuzufügen. Du wirst ihn selbst kennen lernen. Also ein ganz harmloser, durchaus ehrenwerter Charakter. Gedulde Dich einige Minuten, dann wird er sich Dir zur Verfügung stellen, als Dein gehorsamer Diener. Schluß.«


62. KAPITEL. PROFESSOR BEIREIS.

Die Telephonplatte färbte sich wieder schwarz.

Ich setzte mich wieder hin, erwartete den Besuch.

Was ich nun über jenen Professor Beireis sage, entnehme ich der zweiten Auflage von Meyers Konversatixonslexikon, erschienen 1870, wo solche Biographien ausführlicher behandelt worden sind. In neueren Lexikas wird dieser Mann mit wenigen Zeilen abgetan.

Beireis, Gottfried Christoph, Polyhistor und gelehrter Sonderling, geboren am 2. März 1730 zu Mühlhausen in Thüringen, wo sein Vater, ein städtischer Beamter, sich mit Pharmacie beschäftigte, zeichnete sich schon als Knabe durch ungewöhnlichen Ernst, außerordentliche Reizbarkeit, glühende Einbildungskraft und Lebhaftigkeit des Geistes, sowie durch das treueste Gedächtnis und große Wißbegierde aus. Als er 1750 die Universität zu Jena bezog, hatte er es bereits in alten und neuen Sprachen, in Mathematik, Physik, Geschichte, Musik und selbst in gymnastischen Übungen aller Art ungemein weit gebracht. In Jena studierte er drei Jahre lang die Rechte, zugleich aber aus Neigung Mathematik, Physik, Chemie und Medizin. Nach beendigter Studienzeit ging er auf Reisen, teils um seine Kenntnisse zu erweitern, teils aber auch, um seine in der Chemie gemachten Entdeckungen zu verwerten. Die Reisen, welche ein undurchdringliches Dunkel deckt‚ das der mysteriöse Mann nie aufzuhellen geneigt war, gingen wohl nicht, wie er vorgab, nach Indien, sondern wahrscheinlich durch Frankreich, Italien, die Schweiz, Holland und mehrere Teile von Deutschland. Im September 1756 kehrte er unvermutet nach Thüringen zurück und brachte bedeutende Geldsummen mit, wodurch er zuerst den Ruf von seinem Reichtum begründete, von welchem in der Folge viel Übertriebenes verbreitet wurde. Im Oktober desselben Jahres ging er nach Helmstedt, ließ sich als Student inskribieren und studierte unter Heister, dessen Praxis nach seinem Tode meist auf Beireis überging, mit dem größten Eifer Medizin und Chirurgie. Schon 1759 wurde er ordentlicher Professor der Physik an der Universität zu Helmstedt. 1762 Professor der Medizin, 1767 Hofrat, 1768 Professor der Chirurgie, 1802 Leibarzt des Herzogs Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig und starb am 17. September 1809, nachdem er kurz zuvor noch den Jubeltag der Doktorwürde und der fünfzigjährigen Amtsführung als Professor mit jugendlicher Kraft und Munterkeit gefeiert hatte. Beireis gebot über einen ungemeinen Reichtum von Kenntnissen; er war ein uneigennütziger, sorgfältiger Arzt und hatte eine große Praxis. Seine Tätigkeit als akademischer Lehrer, die bis ins höchste Alter ununterbrochen fortdauerte, war ebenso umfassend wie verdienstlich, er trug die Naturlehre in ihrem ganzen Umfange vor und erläuterte sie durch Experimente, las über Naturgeschichte im allgemeinen und ihre verschiedenen Zweige, lehrte namentlich auch Botanik in Verbindung mit Exkursionen, hielt mineralogische, insbesondere metallurgische Vorlesungen, gab Unterricht in der theoretischen und Experimental-Chemie, der Ökonomie, Gartenkultur und Forstwissenschaft und so weiter, und wußte daneben noch Zeit zu gewinnen zu Vorträgen über Musik, Ästhetik, Malerei, Numismatik und so weiter, und zwar zeichneten sich alle diese Vorlesungen durch Gründlichkeit und Genauigkeit aus und wurden durch seine wertvollen Sammlungen von Natur— und Kunstschätzen und seine ansehnliche Bibliothek bedeutend unterstützt. Bei allen diesen Vorzügen aber waren Eitelkeit und Bigotterie vorherrschende Züge seines Charakter und die eigentlichen Triebfedern seiner Handlungen. Er lebte fast ohne allen Umgang, blieb unverheiratet und war bemüht, sich ein geheimnisvolles Ansehen zu geben. Sein ganzes großes Haus, das er allein mit einem Bedienten bewohnte, dessen Frau seinen einfachen Haushalt besorgte, war mit Gegenständen der Natur und Kunst angefüllt, die teils wirklich selten und kostbar waren, teils von ihm dafür ausgegeben wurden. Er besaß die Bahnsche Rechenmaschine, die drei berühmten Vaucansonschen Automaten, die von Droz verfertigte Zauberuhr und andere Kunstwerke. Von großer Wichtigkeit waren seine physiologischanatomischen Präparate, und unter diesen namentlich die von dem berühmten Lieberkühn injizierten. Unter seinen astronomischen, mathematischen und physikalischen Instrumenten befanden sich die für die Geschichte der Erfindungen merkwürdigen Instrumente Ottos von Guericke. Bedeutend war auch seine Naturalien—, besonders seine Mineraliensammlung, sowie der chirurgische Apparat, der größtenteils aus dem Heisterschen Nachlasse stammte. Sein Münzkabinett enthielt viel schöne, wohlerhaltene Exemplare aus dem Altertume, auch viele alte Goldmünzen, und war von einem ansehnlichen Werte. Seine Gemäldesammlung zählte manches seltene Original, vorzüglich aus der deutschen Schule. Beireis zeigte der Menge von Besuchenden, unter denen oft auch fürstliche Personen waren, seine Kunstschätze mit vieler Gefälligkeit, pflegte sie aber mit auffallender Scharlatanerie selbst zu rühmen und als einzig, unübertrefflich und unbezahlbar zu preisen. Dies war besonders der Fall mit einer durchsichtigen Masse, die größer als ein Hühnerei war und von der er behauptete, daß sie ein Diamant von 6400 Karat Gewicht sei, den alle Fürsten der Erde nicht zu bezahlen imstande wären. Er erzählte, daß der Kaiser von China dieses kostbare Juwel bei ihm versetzt habe und wußte diese Fabel mit allen Einzelheiten auszuführen. Der Obermedizinalrat Klapproth aus Berlin erkannte indes bei näherer Besichtigung nichts weiter in dem Steine als einen durch seine Größe ausgezeichneten Kiesel von Madagaskar. Die Mittel zur Anschaffung seiner vielen und kostbaren Natur— und Kunstschätze verdankte Beireis vorzüglich seinen chemischen Erfindungen. Zu diesen gehörte eine schöne, rote, karminähnliche, aber dem Mineralreich angehörende Farbe, deren Bereitung er den Holländern gegen bedeutende Summen mitteilte; ferner eine den Indigo ersetzende blaue Farbe auf Tuch; dann ein chemischer Prozeß, den er auf Kobalt anwendete und für dessen Mitteilung eine sächsische Bergwerksbehörde ihm mehrere tausend Taler bot; eine Methode, ohne Pottasche blau zu färben, wofür ihm ähnliche Anträge gemacht wurden; endlich ein vorzüglich schönes, rotes und blaues Siegellack. So lehrte er auch anderen die Kunst, aus bisher unbekannten Mitteln Essig zu bereiten, aber nur unter der Bedingung, daß er jahrelang gewisse bedeutende Prozente von ihrem Gewinn zog, und dergleichen mehr. Beireis selbst gab sich gern das Ansehen, als ob er die Kunst, Gold zu machen, besitze. Seine chemischen Erfindungen gingen größtenteils mit ihm zu Grabe; seine mathematischen, astronomischen und physikalischen Instrumente vermachte er der Universität Helmstedt, seine übrigen Sammlungen und seine große Bibliothek wurden zerstreut.


So weit das Konversationslexikon.

Ich aber kann von diesem Manne noch mehr erzählen, was meines Wissens sonst nirgends zu lesen ist.

Im Hause meines Vaters verkehrte manchmal ein alter Professor, geboren in Helmstedt, und in dessen elterlichem Hause fand später die Frau Schwennicke eine Unterkunft, die mit ihrem Manne bei Beireis die Wirtschaft geführt hatte. Die hatte natürlich viel von dem alten Herrn erzählt, wunderliche Sachen.

Alles in seinem Hause mußte automatisch funktionieren. Das fertigte er sich alles selbst. Das ganze Haus war mit Röhren durchzogen, die mit komprimierter Luft oder Wasser arbeiteten. Wenn er Gäste bewirtete, was er besonders gern tat, so setzte man sich an einen ungedeckten Tisch, mußte sich freilich darauf gefaßt machen, daß der Stuhl, auf dem man saß, plötzlich im Boden verschwand. Dann kam eine leere Flasche, Beireis füllte sie mit Wasser und schenkte aus ihr köstlichen Wein ein, immer andere Sorten, ganz wie man wünschte. So verwandelte er Steine in Brot und andere Speisen, zauberte sie aus nichts hervor. Und wenn man ihn deswegen für einen wirklichen Zauberer hielt, für einen mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestatteten Magier, so fühlte er sich geschmeichelt, freute sich hinterher darüber königlich.

Die Menschen zu veralbern, ihnen Streiche zu spielen, das war seine Lust. Wenn sich der Gast nach dem Essen wusch, so durfte er sicher sein, beim Abtrocknen an dem weißen Handtuch ganz schwarz zu werden. Und ähnliches mehr.

Dabei aber war Beireis eine Seele von einem Menschen! Unbemittelte Studenten hatten bei ihm nichts zu zahlen, er gewährte ihnen Freitische, unterstützte sie in jeder anderen Weise, seine ärztliche Praxis übte er überhaupt ganz umsonst aus, gab auch noch das Geld für die Arznei.

Wenn man da noch davon spricht, die Haupttriebe jeder aller seiner Handlungen sei Eitelkeit und Prahlerei gewesen — gut, mag man so sprechen. Ich meinerseits denke da anders.

Aber ich sollte das alte Männchen, das ich also schon im Spiegel gesehen hatte und das sich in seinem Wahne für diesen Professor Beireis hielt, nicht so bald persönlich kennen lernen, darüber sollte erst noch eine lange Zeit vergehen.


63. KAPITEL. EINE VERUNGLÜCKTE WALFISCHJAGD.

Wieder schrillte die weißgefärbte Telephonplatte.

»Hier Waffenmeister!« meldete ich mich. »Schwester Anna?«

»Nein, ich bin's, Juba Riata!« ließ sich dessen Stimme vernehmen. »Im Süden zeigt sich eine große Herde Walfische, Meister Tabak will auf sie Jagd machen, die Patronin hat ihre Erlaubnis dazu gegeben, wir sind schon alle unten, treffen die Vorbereitungen dazu — kommen Sie mit?«

Nu natürlich, da mußte ich doch dabei sein! Ich bin sonst gar kein so leidenschaftlicher Jäger, das heißt ich muß nicht jedes von der Polizei ungeschützte Tier unbedingt tot machen, aber eine Walfischjagd, bei der ich einmal dieses grönländischen Harpuniers Kunst bewundern konnte, ließ ich mir doch nicht entgehen! Während unserer nun schon zweijährigen Seefahrerei hatten wir noch keinen einzigen Walfisch erblickt.

»Ich komme sofort!« rief ich also, im Augenblick gar nicht mehr an den Professor Beireis denkend, eilte auf den Korridor, steckte in der nächsten Telephonplatte einen der beiden Metallstöpsel in das letzte Loch, und wirklich ging sofort ein Stück der gegenüberliegenden Wand herab, in der Öffnung zeigte sich ein weißgefärbter Hebel, ich drehte ihn, und zwei Minuten später senkte sich von oben eine Plattform herab, die ich bestieg, um die Fahrt nach unten weiter fortzusetzen.

Schon während dieses kurzen Wartens und dann natürlich noch mehr während des längeren Hinabfahrens dachte ich daran, ob ich nun unten auch gleich die Wasserhöhle mit unserem Schiffe wiederfinden würde, daß ich nicht etwa wiederum herumirrte. Juba Riata schien es nun schon herauszuhaben, wie man die einzelnen Etagen telephonisch anrief, ich war mir darüber immer noch nicht klar, und die Schwester Anna schien nur ein Lebenszeichen von sich zu geben, wenn es ihr gerade einmal paßte.

Meine Erwägungen waren unnötig gewesen. Nach noch nicht zehn Minuten Fahrt landete der nur kleine Fahrstuhl in einer Kammer, wo ich schon das Lärmen meiner Jungen vernahm, und ich brauchte nur herauszutreten, da sah ich unser Schiff schon in dem Wasserbecken liegen.

In aller Schnelligkeit wurde mir das Nötigste mitgeteilt. Man hatte eben vom Plateau aus im Süden eine »Schule« Walfische erblickt, still liegend, also sich dem Schlafe hingebend. Sofort war mit Einverständnis der Patronin die Jagd beschlossen worden. Als ich ankam, war alles schon fix und fertig. Die Motorbarkasse sollte das Walfischboot mit der Mannschaft hinausbringen. Denn unter den Kesseln des Schiffes war seit fünf Stunden nur noch das übliche, ganz schwache Feuer unterhalten worden, mindestens einer halben Stunde hätte es bedurft, um wieder vollen Dampf aufzumachen.

»Wird aber die Barkasse auch glücklich hinauskommen?«

»Sollen wir deshalb nicht erst einmal die Schwester Anna anfragen?«

»Ja, wie ist sie denn anzurufen?«

So und anders klang es durcheinander, dabei aber war das vollständig ausgerüstete Walboot schon in der Barkasse verladen worden, es ging gerade hinein, die von dem Eskimo eingepulte Monnschaft saß schon drin, überhaupt alles war schon fertig, als ich ankam, ich konnte gerade noch hineinspringen, dann ging es schon fort. Ich wußte noch nicht einmal, daß auch die Patronin mit drin saß, hatte sie, weil sie ein vollständiges, mir ungewöhnliches Männerkostüm trug, nicht gleich erkannt. Es ging eben alles drunter und drüber, obgleich dennoch in vollster Ordnung.

Also den Motor angekurbelt und hinein in den Höllenstrudel! Ein tosendes Wirrwarr, wir wurden pitschnaß, das war aber auch das einzige, was uns passierte.

Mit einem Male schwammen wir im schönsten Sonnenscheine auf dem stillsten Wasser.

Sofort wurde, wie Mister Tabak wollte, der jetzt allein zu befehlen hatte, das schmale Walboot ausgesetzt, die zwölf eingepulten Matrosen kletterten hinein. Nun handelte es sich nur noch um den Steuermann. Als solcher waren, da es sich hierbei doch um etwas ganz Besonderes handelte, von dem Eskimo nur ich und unser Hahn ausgebildet worden. Hahn war Oberhaupt ein ganz vorzüglicher Bootssteuerer, auch so eine Art von genialer Kunst, die man eigentlich nie richtig erlernen kann, die einem angeboren worden sein muß, weshalb Hahn auch in der Marine beim Wettracen immer Kuttersteuerer gewesen war. Auch jetzt hatte er die Barkasse durch die Brandung gesteuert.

So wollte ich jetzt schnell in das Walboot klettern, um die Steuerung zu übernehmen, aber Hahn war noch schneller als ich, er hatte auch besser gesessen, war mit einem Sprunge drüben am Ruder.

Da aber stieß er bei dem Eskimo auf Wiederstand.

»Raus da mit dem Hahn, der Waffenmeister ans Ruder!« kommandierte er.

Und als diesmal Hahn nicht wieder so schnell war, hatte Mister Tabak den stämmigen Matrosen mit einer Fixigkeit und Kraft aus dem schwankenden Boote in die Barkasse zurückbefördert, mit einem Doppelgriff am Kragen und Hosenboden, wie man solche dem kleinen, krepligen und eigentlich sogar schwächlich gebauten Eskimo nimmer zugetraut hätte.

Ich aber konnte stolz daran sein, daß der mich als Steuermann bevorzugte. Denn hier gab es nicht etwa einen Rangunterschied und dergleichen, hier entschied allein die Tüchtigkeit und hierüber hatte allein wieder der Harpunier zu entscheiden.

Es sollte aber noch anders kommen! Der Eskimo bewies noch ganz anders, daß er der Harpunier war, gegen den, wenn es nun einmal die Erbeutung eines Walfisches gilt, auch der Kapitän ein Nichts ist. In dieser Situation ist allein der Harpunier unumschränkter Befehlshaber.

Auch die Patronin wollte schnell in das Boot hinüberklettern.

»Nix da!« schrie aber Mister Tabak, setzte ihr die Hand vor die Brust und gab ihr einen Stoß, daß sie gleich wieder in die Barkasse zurückpurzelte. »Alles klar! Riemen hoch! Setzt ab! Laßt fallen! Ruder . . . an!«

Und fort schossen wir schon wie ein abgeschnellter Pfeil.

Hinter mir knatterte alsbald der Motor Barkasse.

»Zurück die Barkasse bis ich winke!« schrie aber der Harpunier, und das Knattern verstummte gehorsam.

Ich, der ich ihr beim Steuern den Rücken zukehrte, sah sie ja überhaupt nicht. Und ich ahnte nicht, daß ich sie und Helene und alle meine Gefährten nicht so bald wieder sehen sollte — ahnte nicht, daß dies eine Abschiedsfahrt für eine gar lange Trennung sein sollte!

Wir schlossen über das glatte Wasser. Der Eskimo gab mir einmal mit ausgestrecktem Arm die Richtung an, ohne ein Wort zu sagen, dann traf er seine weiteren Vorbereitungen, die zunächst darin bestanden, daß er sein Hemd, daß er außer der Hose nur noch trug, auszog und seinen gelben Affenleib aus einem Topfe mit Fett einsalbte. Dann prüfte er einige Harpunen, die im Boote lagen, wog sie in der Hand, legte sie wieder hin, prüfte die Rolle mit der aufgewickelten Leine, an welche die Harpune befestigt wird, goß einige Pfützen Wasser drüber, dann richtete er sich auf, blickte zurück, winkte.

Die Barkasse sollte uns folgen.

Auch ich blickte einmal zurück. Der Felsen ragte natürlich noch mächtig empor, wir schienen uns noch gar nicht viel entfernt zu haben, die Barkasse aber war bereits nur noch als ein Punkt zu erkennen.

»Himmelhund, willst Du gleich Deine blutig verdammten Augen nach vorn auf mich richten?!« wurde ich da belehrt, daß mit Mister Tabak jetzt nicht gut Kirschen essen war.

Ich gehorchte, aber eine Frage mußte ich doch noch stellen.

»Was sind es denn für Walfische?«

»Potwale!« entgegneten einige Matrosen gleichzeitig.

»Mister Kabat,« mußte ich da doch noch bemerken, »wissen Sie auch, was Potwale zu bedeuten haben? Grönlandswale sind keine Potwale.«

»Maul gehalten!« wurde ich angedonnert. »Oder meint Ihr, ich hätte noch keinen Potwal harpuniert? Jedenfalls mehr schon, als Ihr solche gebratenen Sardinen in dem Marseiller Speisehaus auf einen Sitz in Euren Zwergmagen stopfen könnt.«

Na‚ dann war es ja gut.

Also wir hatten es mit Potwalen zu tun, welche die tropischen Meere bevölkern, vom 40. Grad nördlicher Breite an bis zum 40. Grad südlicher Breite herab. So sagt man im allgemeinen, weil der Mensch in seiner Allweisheit und Ordnungsliebe nun einmal jeder Tiergattung seine Grenze vorschreiben will. Im allgemeinen mag das ja auch stimmen. Aber man hat eine ganze Schule Potwale auch schon auf dem 56. südlichen Breitengrade beobachtet, und die grönländischen Eskimos wissen noch heute von diesen Tieren zu erzählen, die einst an ihren vereisten Küsten ganz heimisch waren. Und von ihrer Gefährlichkeit wissen sie auch noch zu erzählen.

»Wenn ein Grönlandswal ein Schiff mit aller Gewalt anrennt oder das Jagdboot mit einem Schwanzschlage zertrümmert, es in die Luft schleudert, so ist das ein Zufall bei dem in seinem Schmerze blind gewordenen Tiere. Daß aber ein Potwal ein friedlich einhersegelndes oder dampfendes Schiff ohne weiteres annimmt, das ist in zahllosen Fällen erwiesen. Von 1830 bis heute sind die Namen von vier Schiffen bekannt, die von Potwalen, ohne daß diese selbst angegriffen wurden, in den Grund gerammt wurden. Allerdings muß man dabei an hölzerne Schiffe mit geringer Tonnenzahl denken. Einen eisernen Dampfer oder Segler kann kein Potwal leck rammen, da rennt er nur seinen eigenen Kopf ein.

Aber immerhin, die Gefährlichkeit dieses Meeresriesen, der dem Grönlandwal nicht im geringsten an GrößBe nachsteht, bis zu 30 Meter Länge, ist zur Genüge bekannt. Dabei steht die Gefahr seiner Jagd in gar keinem Verhältnis zum Gewinn. Die Barten sind spärlich noch weniger liefert er Tran.

Etwas anderes ist es, was den habgierigen Menschen immer wieder zur Jagd auf dieses Meeresungeheuer anreizt. Der Potwal birgt unter Umständen etwas gar Köstliches in seinem Inneren: Ambra, eine weißgelbe Masse, die sich manchmal in der Harnblase dieses Seesäugetieres vorfindet. Es ist ein Krankheitsstoff, ein Harnstein. Für die Orientalen bis heute unentbehrlich bei der Fabrikation von Parfümen und Räuchermittel und noch mehr als Aphrodisiakum. Sein Preis ist noch ständig im Steigen begriffen. Heute wird ein Kilo Ambra vom Engroshändler mit 7000 Mark bezahlt, ist also, dem Gewicht nach mehr als dreimal so teuer als Gold,

Am meisten Ambra findet man zufällig auf dem Meere schwimmen. Meist nur in kleinen Stücken, es sind aber schon Blöcke bis zu einem Zentner gefunden worden. Das sind dann zweifellos zusammengeklebte Stückchen. Aber mit diesem Zufall, der sich auch sehr selten ereignet, begnügt sich der Mensch nicht. Doch sind es ausschließlich nordamerikanische Schiffe, welche wegen dieses Ambras dem Pottwal direkt zuleibe gehen. So etwas bringt eben nur der Yankee fertig. Nämlich mit seiner brutalen Rücksichtslosigkeit. Die Mannschaft muß »gepreßt« werden, in irgend einem Hafen werden bei nächtlicher Weile Matrosen betrunken gemacht oder gleich mit Gewalt auf das Schiff geschleppt. Die sieht man dann nicht wieder. Die nicht beim Einpulen totgeprügelt werden, die verlieren ihr Leben bei der gefährlichen Jagd.

Nun, wenn Mister Tabak um diese Gefährlichkeit wußte und sogar schon selbst Potwale harpuniert hatte, dann war es ja gut. Von uns wäre deswegen natürlich keiner zurückgetreten.

»Halber Schlag!«

Da sahen wir sie vor uns liegen, wie schwarze, langgestreckte Inseln aus der blauen Flut emportauchend. Freilich immer noch wenigstens zwei Seemeilen von uns entfernt.

Spritzen oder »blasen« taten sie nicht. Sie schliefen oder ruhten doch, hatten dabei den ungeheuren Kopf, den ungeheuerlichsten aller Walarten, weit aus dem Wasser ragen. Nur hin und wieder sah man eine Wassersäule emporsteigen.

Mit halbem Schlage näherten wir uns der »Schule«, die aus mindestens 40 Mitgliedern bestand. Kabat deutete mir die Richtung an. Offenbar hatte er es auf ein etwas abseits schwimmendes Tier abgesehen, das ein außerordentlich großer Fettwanst sein mußte.

In noch nicht einer halben Stunde hatten wir unser Ziel erreicht, hatten da aber schon andere Tiere passiert, befanden uns mitten unter der Herde.

Schauerlich war es, was wir da erblickten. Diese Riesenleiber, und nun erst diese ungeheuren walzenförmigen Köpfe, vorn aber ganz scharf abgeschnitten, und diese fürchterlichen Rachen, von schrecklichen Zähnen starrend — auch ganz besonders durch diese Zähne unterscheidet sich der Potwal vom Bartenwal, und er weiß sie auch als Waffe zu gebrauchen — und fabelhaft war es, mit welcher Geschwindigkeit diese Rachen auf und zu geklappt wurden. Innerhalb eines einzigen Momentes meterweit auf und zu — das muß man gesehen haben, um es glauben zu können. Das liest man wohl in allen sachlichen Beschreibungen dieses Wals, aber man hält solch eine blitzähnliche Beweglichkeit dieses riesigen Rachens nicht eher für möglich als bis man es selbst gesehen hat.

Und nun schließlich noch dieser Gestank hier mitten zwischen der Herde! Wie nach verwestem Aase. Das ist allein der Atem dieser riesigen Tiere.

Doch wir hatten jetzt an anderes zu denken als solche Beobachungen anzustellen. Wenn ich mich über etwas wunderte, so war es nur darüber, daß diese Tiere, die doch so gar nicht schlafend erschienen, mitten zwischen sich ein mit Menschen besetztes Boot ließen, ohne sich darum zu kümmern. Na ja, sie schliefen eben, oder befanden sich doch in einem ganz lethargischen Zustande, dann könnte man sich auf den Rücken solch eines Ungeheuers setzen, so erzählen ja alle Walfischjäger, alle derartigen Bücher — aber gesehen muß man es haben, solch eine Teilnahmslosigkeit der Tiere, die immer das Maul schnell auf und zu klappen, um das glauben zu können.

Sonst waren die Augen der zwölf Ruderer nur starr auf mich gerichtet, und meine so wieder auf den Harpunier, weil alle Kommandos jetzt nur noch gewinkt wurden, und wie uns dabei zumute war, wie sich das Herz in der Brust zusammenschnürte, das war dabei ganz gleichgültig.

Jetzt hob der Eskimo den rechten Arm mit der am Seile befestigten Harpune, streckte dabei den linken Arm aus, ich neigte den Oberkörper vor, und geräuschlos tauchten die zwölf Riemen ins Wasser, stoppten das Boot ab.

Nur noch fünfzig Schritt lagen wir von dem auserwählten Ungeheuer entfernt, waren ihm von der Seite nahe gekommen.

Erst jetzt nahm der Harpunier richtig Stellung, stemmte den linken Fuß auf den Brig, beugte sich zurück, schloß die linke Faust und öffnete sie wieder, zugleich eine Richtung angebend — ich gab diese stummen Befehle weiter, sie wurden befolgt, wieder wurde langsam angerudert, das Boot näherte sich jetzt mehr von vorn.

Vielleicht nur noch zehn Meter von der mittleren der drei Inseln entfernt, die der Riesenleib über Wasser bildete. Jetzt wurde die Hand zur Faust geschlossen, und der Eskimo beugte seinen braunen Leib wie eine Gerte zurück, schnellte ihn wieder vor, und die Harpune entsauste seiner rechten Hand.

Ich sah, mit welcher Wucht das furchtbare Eisen mit Widerhaken zwischen Kopf und Rücken ins Wasser sauste, dort sich in den Speck einbohrte, wie gleich darauf ein roter Blutstrahl emporspritzte.

Also die Lunge getroffen! Denn sonst blutet der Walfisch nicht.

Und das ist es eben, was vom Schiffe aus mit der Harpunkanone so selten glückt, gerade die Lunge zu treffen. Das gelingt unter drei Schüssen noch nicht einmal, und gelingt es nicht, so ist der Walfisch als Beute unrettbar verloren, denn nur in der Lunge kann er tödlich verwundet werden, sonst entgeht er dem Schiffe regelmäßig, und eben deshalb ist, dieses Harpunieren mit dem Geschütz eine Aasjägerei, die noch verboten werden wird.

Im ersten Augenblick wunderte ich mich, daß der Walfisch trotz der schrecklichen Verwundung so still liegen blieb. Freilich war es eben nur ein Augenblick. Oder eine Sekunde, will ich sagen.

Diese Sekunde aber hatte der Eskimo auch schon benutzt, mit einer unbegreiflichen Schnelligkeit, um der ersten Harpune noch zwei weitere nachfolgen zu lassen, die dann dicht nebeneinander in dem Riesenleibe staken. Ich wußte wirklich gar nicht, wo er die beiden anderen Harpunen plötzlich herbekommen hatte.

Da aber ging der Tanz auch schon los, ein furchtbarer Tanz!

Plötzlich schoß das Ungetüm mit dem Kopf voran kerzengerade in die Luft empor, nur der letzte Teil des Schwanzes blieb noch im Wasser, kippte um, stürzte wagerecht zurück.

Es war mir nur wie ein Phantom gewesen, was er da erblickt hatte.

Die Folgen davon aber lassen sich denken. Wir befanden uns plötzlich wie auf einem sturmgepeitschten Meere mit häuserhohen Wellen — wenn die aufgeregte See nun einmal haushoch sein muß, wenn man ihr Toben beschreiben will.

Aber die Besinnung behielt ich, behielten wir alle.

»Pul an!« schrie ich da mein Winken jetzt doch nicht gesehen worden wäre.

Und die Jungens pulten an, wir schlossen davon, ich in der Richtung steuernd, die der Eskimo mit ausgestrecktem Arme angab.

Aber nur acht handhabten die langen Riemen mit Macht, die vier hierzu abgeteilten Matrosen, eben vorzüglich eingedrillt, schöpften das Wasser aus, was sie schöpfen konnten. Dann griffen auch sie wieder zu den Riemen, und schneller und schneller schossen wir dahin, daß das Wasser am Bug hoch aufschäumte, während der Eskimo eine Pfütze nach der anderen über die sausende Rolle goß, damit sich die ganze Vorrichtung nicht durch die gewaltige Reibung entzündete oder doch die Lager sich nicht festbrannten.

Jetzt kam es darauf an. Oder doch in wenigen Minuten mußte es sich entscheiden. Wie schnell ein Walfisch schwimmt, hat man noch nie konstatieren können, was man sich deswegen auch schon für Mühe gegeben hat. Aber daß er in Todesgefahr bis zu 20 Seemeilen in der Stunde machen kann, wenn auch nur für kurze Zeit, das ist zweifellos. So schnell kann ein Boot natürlich nicht rudern, kein Rennboot. Das vorzügliche Hanfseil, oder mehr eine Schnur, war 300 Meter lang. So lang muß sie sein, denn so tief kann der Walfisch in seiner Todesnot tauchten, das hat man schon konstatiert. Würde er tiefer tauchen können, so würde solch ein Riesentier jedenfalls das ganze Boot mit in die Tiefe ziehen. Aber bei 300 Meter Länge ist das noch nicht vorgekommen.

Wenn aber nun die 300 Meter Schnur abgelaufen sind, und das Tier ist noch nicht tot, noch nicht einmal im geringsten ermüdet? Wenn dann das Boot nicht in genügender Fahrt ist, dann reißt die Leine unbedingt. Und da gibt es keinen anderen, festeren Stoff, da läßt sich nichts mit Draht machen, am besten hat sich noch Manilahanf bewährt, für diesen Fall weit besser als Seide, die wohl viel mehr Zug, aber keinen solchen Ruck vertragen kann.

Also nun heißt es, erst das Boot in schnellste Fahrt zu bringen, dann die Kräfte möglichst zu schonen, um dann im letzten Augenblick, wenn die letzten Meter ablaufen, wenn der Harpunier das Zeichen dazu gibt, noch einmal die vollste Kraft zu entwickeln, bis die Muskelbänder zu sprengen drohen.

Daraus kommt alles an. Das ist der Grund, weshalb besonders auf den amerikanischen Walfischjägern die Hälfte der Matrosen — die aber gewöhnlich gar keine wirklichen Matrosen sind — vom Harpunier oder vom verantwortlichen Steuermann totgeprügelt werden. Nicht nur halb tot, sondern ganz tot. Nur um dieses einzige Manöver einzudrillen. So einfach zu beschreiben, und in Wirklichkeit fürchterlich.

Nun, wir waren von dem Eskimo zur Genüge eingedrillt worden. Wenn auch ohne Prügel.

Also nur ein kraftvolles Anholen, dann wurde in aller Gemütlichkeit gerudert. Während sich doch schon jede einzelne Muskel krampfartig anspannte.

Vorn neben der rasenden Rolle kauerte wie eine gelbe Katze der Eskimos, mit der einen Hand sie immer begießend, den schweren Schöpfeimer wie eine Tasse handhabend, in der anderen Faust sein langes, schweres Messer, um das Seil doch vielleicht noch zu kappen.

Denn wenn sich jetzt die Schnur verwickelte und der Walfisch ging gerade in die Tiefe, so waren wir verloren, wir wurden mit in die Tiefe gerissen.

Oder wir hätten dann doch wieder auftauchen können? Das Boot wäre doch ebenfalls in Stücke gerissen worden, wir wären doch gleich erschlagen worden.

In diesem Falle hätte die Leine doch noch gekappt werden müssen.

Aber noch rollte sie klar ab. Wie die Leine sonst stand, konnte ich nicht genau unterscheiden.

Da spritzte vor uns ein blutiger Strahl empor, der ganze Walfisch sprang hoch aus dem Wasser heraus und verschwand wieder.

Dadurch befanden wir uns wieder auf einem tobenden Meere, und jetzt durfte nicht mehr geschöpft werden, kein Mann war zu entbehren, keine Hand, wenn sie auch nur spielend den Riemen bewegte.

»Go on!«

Da erst legten meine Jungen los, daß sich die mehr als vier Meter langen Eschenstangen wie die Reitgerten Bogen.

Nur wenige Sekunden der verzweifeltsten Kraftanstrengung, dann ein furchtbarer Ruck, wir wurden von einer unwiderstehlichen Kraft vorwärtsgerissen, gleichzeitig aber flogen auch alle Riemen ins Boot und . . . Mister Tabak griff nach seiner Pfeife, schlug Feuer, brannte sie sich an.

Es war geglückt. Die abgerollte Leine war nicht gerissen, wir wurden geschleppt. Und keiner von den Ruderern hatte mit dem durch die Zugkraft herausgerissenen Riemen einem anderen den Schädel eingeschlagen. Denn das ist ja mit die Hauptsache dabei, die Riemen im gegebenen Moment aus dem Wasser zu bringen, ehe man sie seinen Nachbarn um die Ohren haut, wobei aber gewöhnlich der ganze Schädel in Trüummer geht. Wenigstens für uns war das mit eine Hauptsache. Auf den Walfischjägern, besonders auf den amerikanischen, ist dieses Schlußmanöver ganz Nebensache. Da zählt ein Menschenleben gar nichts. Wenn nur die Leine nicht gerissen ist.

Nun konnten wir gemütlich zusehen, wie wir geschleppt wurden. Wie lange wir in südwestlicher Richtung davongerast sind, weiß ich nicht, mir war schon vorher das Zeitmaß vollständig verloren gegangen.

Der Felsenberg hinter uns ragte kaum noch über dem Horizont empor, und von der Barkasse war nichts zu erblicken.

Wie lange die tolle Fahrt noch dauern würde? Nun, eben bis sich der Walfisch ausgeblutet hatte. Und wie lange das dauern würde, das wußte vorläufig nur Gott. Vielleicht konnten wir noch eine ganze Stunde lang warten.

Und wenn wir nun dann den Felsenberg völlig aus den Augen verloren hatten? Und wir in dieser Nußschale von Boot mitten auf dem Meere, wo es auch noch recht nach Sturm in der Atmosphäre lag?

Ja, wer solche Erwägungen anstellt, der muß eben hübsch zu Hause hinterm Ofen sitzen bleiben. Oder mindestens darf er nicht auf die Walfischjagd gehen. Das ist eben das Los, das jeden Walfischjäger jeden Tag erwartet, plötzlich mitten auf sturmgepeitschter See im einsamen Boote zu sein. Dazu hat man eben im Boote immer einige Fässer mit Trinkwasser und einige Kisten Proviant, wie auch wir, und dann muß man sich eben wieder nach seinem Schiffe zurückzufinden wissen, mit oder ohne erlegte Beute.

»Er läßt nach, das Seil wird schlapp!« erklärte nach einiger Zeit der wie ein Schornstein qualmende Eskimo.

Im Osten tauchte ein Schiff auf, ein Dampfer, und als ob der sich verblutende Walfisch von dem seine Rettung erhoffe, so wandte er sich jetzt dieser Richtung zu.

Auf diese Weise näherten wir uns schnell dem Dampfer.

Aber noch ehe wir die Flagge unterscheiden kannten, sollte sich die Katastrophe ereignen, die der Jagd ein vorzeitiges Ende bereitete.

Vielleicht aller fünf Minuten hatte der Wal schon immer seinen Kopf zum Wasser herausgereckt, dann stets einen mächtigen Blutstrahl ausblasend, oder doch einen rotgefärbten Wasserstrahl.

So waren wieder einige Minuten vergangen, langsamer und langsamer wurde unsere Fahrt, jetzt konnten wir schon wieder zu den Riemen greifen. Kabat gedachte dem Ungeheuer noch eine vierte Harpune beim Auftauchen beizubringen.

Da aber sollte der Walfisch den Spieß umdrehen.

Wie es eigentlich geschah, weiß ich gar nicht.

Plötzlich, ohne daß wir gemerkt hatten, daß die Leine ganz schlaff geworden wäre, tauchte neben dem Boote etwas mächtiges Schwarzes auf, ein furchtbarer Ruck von unten, und da flog ich auch schon nach oben durch die Luft, schlug einige Salto mortales, und dabei sah ich dennoch ganz deutlich, wie zwei andere Matrosen und Mister Tabak ebenfalls Salto mortales schlugen, letzterer noch die qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen.

Dann plauzte ich aus beträchtlicher Höhe ins Wasser hinein, und als ich wieder auftauchte, war mir natürlich nicht etwa humoristisch zumute.

Ich selbst fühlte mich ja gänzlich unbeschädigt. Aber die anderen? Doch da kamen sie schon angeschwommen, einer nach dem anderen, bis wir alle Vierzehn wieder so hübsch beisammen waren, zwischen den Trüummern unseres Bootes, von dem nur das Vorderteil zu fehlen schien, das war eben mit dem Walfisch davongegangen. Und daß dieser, nachdem er uns mit dem Schwanze in die Luft geschlagen, gleich weiter gegangen war, das war noch unser größtes Glück.

»Ist jemand verwundet?«

Nein, kein einziger. Es war wirklich fast ein Wunder zu nennen, daß niemand auch nur einen Hautriß davongetragen hatte.

»Na‚ Kinder — wenn wir ooch nischt hamm, sein wir doch beisamm!« konnte ich da schon wieder scherzen.

Ein weiteres Glück für uns war ja freilich, daß dort auch gerade noch ein Dampfer kam, der unser Malheur unbedingt gesehen haben mußte. Denn von dem Felsenberg war jetzt so wenig noch zu sehen wie von der Barkasse. Die hatte uns eben trotz ihrer 16 Knoten Fahrt aus den Augen verloren, oder der Motor hatte wieder einmal versagt. Also wir wären sonst in einer höchst üblen Lage gewesen, denn stundenlang und meilenweit zu schwimmen, darauf waren wir denn doch nicht geaicht, und wenn das Meer auch nicht überall von Haifischen wimmelt, sie hätten uns doch hier ausspionieren können.

Der Dampfer kam näher. Es war ein englischer. Da galt es erst, eine Beratung abzuhalten, und wir versammelten uns in engerem Kreise, konnten uns dazu ja an den Bootstrümmern festhalten. Ich nahm das Wort.

»Daß wir von der »Argos« sind, können wir natürlich nicht leugnen, wir werden vielleicht gleich erkannt, aber das Geheimnis muß gewahrt werden. Unser Schiff kreuzte in der Nähe des Seelandfelsens, als wir uns zur Jagd aufmachten. Die Barkasse war hinter uns her. Der Dampfer soll uns nach dem Felsen zurückbringen. Dort werden wir die Barkasse schon sichten, vielleicht mischt sich auch die Schwester Anna wieder ein. Dann gehen wir eben in die Barkasse und geben dem Dampfer mit bestem Danke den Laufpaß. Die »Argos« hält sich eben hinter dem Felsen. Lange suchen wird der Frachtdampfer nicht nach ihr, so einer hat doch niemals Zeit zu verlieren. Oder wir lassen uns nach dem nächsten Hafen bringen.«

So sprach ich, und es war ja einfach genug.


64. KAPITEL. IN DEN HÄNDEN VON SEELENVERKÄUFERN.

»Es war der Dampfer »Persepolis« aus North—Shields, der uns auffischte.

Persönlich kennen tat uns niemand, aber bekannt waren die Argonauten schon genug.

Ich berichtete, Kapitän Jeffers war ein netter Mensch, aber zurückbringen konnte er uns nicht.

»Ich kann beim besten Willen nicht. Ich habe in Callao telegraphische Order nach Wellington erhalten, habe schlechte Fahrt gehabt, bin schon vier Tage überfällig.

Nein, auch die Chataminseln kann ich nicht anlaufen. Sie müssen mit nach Wellington.«

Gut, so gingen wir mit nach Wellington. Am dritten Tage erreichten wir die Hauptstadt von Neu—Seeland. Schon am anderen Tage war eine Dampfergelegenheit nach den Chataminseln, sie seien auch das Ziel der »Argos«. Dieses Märlein mußte ich wohl oder übel auftischen.

Nach den Chataminseln wollten wir auch wirklich, uns dort aber ein Segelboot nehmen, um nach dem Seelandfelsen zurückzukehren. Bis dorthin war es dann ja nur noch ein Katzensprung.

Ich hatte genau 20 Pfund Sterling bei mir, was die anderen zufällig in den Hosentaschen bei sich gehabt, war nicht der Rede wert — Kapitän Jeffers lieh mir auf das Konto unserer reichen Reederin oder überhaupt gleich mir weitere 50 Pfund, und das genügte vollkommen.

Mittags waren wir angekommen, im Laufe des Nachmittags besichtigten wir die Stadt von 50 000 Einwohnern, besonders der botanische Garten ist höchst sehenswert. Nur den halbnackten Eskimo hatte ich neu equipieren müssen, sonst hatten nur noch einige meiner Jungen Mützen bekommen. Am Abend gingen wir in eines der vier Theater, ich schon die Fahrkarten für den Dampfer in der Tasche, Betten in einem mittleren Hotel hatten wir auch schon belegt, nach dem Theater ging es aber natürlich, erst noch einmal in eine Bar, wo es etwas Klimbim gab.

Wie wir gegen Mitternacht schon bald aufbrechen wollen, gehe ich noch einmal in den Hof, allein, peile in der Stockfinsternis nach einer roten Laterne — da bekomme ich von hinten einen furchtbaren Schlag über den Kopf, daß mir das Feuer aus den Augen spritzt.

»Das war ein Gummiknüppel — das ist das erste Mal, daß mir so etwas passiert.«

So deute ich noch ganz ruhig, dann aber wars mit dem Denken vorbei.

Wie ich wieder zu mir kam, umgab mich völlige Finsternis, ich fühlte mich an Händen und Füßen schmerzhaft gebunden, und außerdem hatte ich noch einen tüchtigen Knebel im Munde, einen Lappen, der nach Schmierö1 schmeckte, und dann herrschte Teergeruch.

Meine Gemütsstimmung läßt sich denken.

»Du bist gepreßt worden, bist schon im Raume eines amerikanischen Walfischjägers!«

Das war mein erster Gedanke, der in meinem schrecklich schmerzenden Kopfe entstand.

Ich hatte ja schon immer gewußt, daß die amerikanischen Walfischjäger Leute mit Gewalt pressen, in jedem Hafen, wo sie anlegen, probieren sie es, so wie auch speziell in Neuyork die Austernfischer, aber daß mir einmal so etwas passieren könnte, daran hatte ich niemals gedacht.

Ich wäre auch jetzt nicht gleich auf diese Idee gekommen, hätte nur an eine einfache Beraubung geglaubt, wenn nicht das Walfischabenteuer vorausgegangen wäre und wenn nicht in Wellington gleich zwei amerikanische Walfischjäger gelegen hätten.

Nun aber war meine Überzeugung auch felsenfest: Du bist solchen verfluchten Trankochern in die Hände gefallen, man hat Dich gepreßt!

Dazu kam noch, daß ich ganz bestimmt wußte, in einem Schiffsraume zu liegen, das roch ich gleich und jetzt bemerkte ich zu meinem Schrecken, daß wir schon unterwegs waren, das Fahrzeug begann bereits zu schlingern und zu stampfen.

Ja, da kann man wohl erschrecken! An Bord solch eines Segelkastens schon unterwegs nach den antarktischen Gewässern, auf mindestens zwei Jahre hier festgenagelt, die fürchterlichste und schmutzigste Arbeit wie ein Sklave verrichten müssen! Denn wenn der Walfischjäger einmal volle Mannschaft hat, läuft er vor zwei Jahren nie wieder einen Hafen an. Die ganze Besatzung läuft ja gleich davon. Man kann sich aber auch auf vier Jahre gefaßt machen.

»Meine einzige Hoffnung war die Schwester Anna, daß die mit ihrer Hellseherei . . .

Doch ich wollte mich solchen Hoffnungsgedanken lieber nicht hingeben, es war auch etwas Beschämendes für mich dabei.

Wie lange ich betäubt gewesen, wußte ich natürlich nicht, aber auch nicht, wie lange ich dann noch so vor mich hin gedöst hatte.

Ganz richtig kam ich erst wieder zur Besinnung, als in der Finsternis ein Licht auftauchte, eine brennende Lampe, die sich mir näherte.

In dem feuchten Dunste erkannte ich einen Mann, in einen orientalischen Kaftan gekleidet, freilich schmierig genug, und zwei ähnlich gekleidete Männer folgten ihm, in dem niedrigen Raume gebückt kriechend, auch den Gesichtszügen nach ganz waschechte orientalische Spitzbuben, Türken oder Araber oder mohammedanische Inder. Dafür hat unsereins doch gleich ein Auge.

Was, türkische oder arabische oder indische Walfischjäger?! Nee, die gibt es nicht! So wenig, wie es bei der ganzen Seefahrerei, glaube ich, keinen einzigen Juden gibt. Mir ist wenigstens innerhalb von fast 30 Jahren keiner vorgekommen.

Da aber ging mir wiederum eine Ahnung auf, und diesmal zweifellos die richtige!

Meine vorige Theorie mit den amerikanischen Walfischjägern war falsch gewesen!

Ich war Seelenverkäufern in die Hände gefallen!

»Seelenverkäufer« ist dem Seemann ein etwas weiter Begriff.

Seelenverkäufer heißen auch alle die Heuerbaase und Boardingmasters, welche die Matrosen verheuern, und sie heißen ganz mit Recht so. Einen deutschen Schiffsjungen, der im Auslande einmal davonläuft, als Vollmatrosen auf einen Amerikaner zu verschachern, wo er natürlich so geprügelt wird, bis er aus Verzweiflung über Bord springt, ist ihnen eine Kleinigkeit.

Es gibt bei der christlichen Seefahrt auch noch andere Seelenverkäufer.

Dann besonders heißen Seelenverkäufer auch die orientalischen Agenten, welche indische und chinesische und auch polynesische Eingeborene, sogenannte Kulis, als Plantagenarbeiter nach aller Welt verschachern, wo man solche billige Arbeiter eben gebraucht, die man wirklich auch manchmal gar nicht entbehren kann.

Und in Wellington hatte solch ein Seelenverkäufer gelegen, hatte in einem Holzkasten von kaum 100 Tonnen mehr als 400 chinesische Kulis wie die Heringe eingepökelt gebracht, die auf einer neuen Teeplantage verwertet werden sollten. Ich brauchte die Gestalten nur zu sehen, da wußte ich es sofort, daß es solche Seelenverkäufer waren.

»How do you do? Allright? Wenn sein artig, habben serr serr gut — wenn sein nix artig, machen bum bum.«

So oder ähnlich kauderwelschte der Kerl in einem kaum verständlichen Englisch, während er mir den Knebel aus dem Munde nahm.

Ich wurde an Armen und Füßen angepackt und davongetragen, oder erst geschleift, in einen höheren Raum hinein, in dem ebenfalls gerollte Segel lagen, nur daß hier noch in den Holzwänden starke Ketten mit Hand und Fußschellen eingelassen waren, und alsbald traf man Vorbereitungen, mich an solch einer Vorrichtung zu befestigen.

»Wer seid Ihr? Was habt Ihr mit mir vor? Wo bringt Ihr mich hin?!«

»Wenn sein artig, dann habben serr serr gut — wenn sein nix artig, dann machen bum bum!« kauderwelschte der Kerl wieder, dabei mir mit einem dicken Knüppel unter der Nase herumfuchtelnd.

Da war gar nichts zu wollen. Ich war einfach ein Stück Vieh. Jede Frage war ganz zwecklos. Ebensogut kann ein Ochse brüllen.

Die mir vorn gebundenen Hände wurden in Handschellen gelegt, dann erst löste man die Lederriemen, auch die der Füße, ohne diese in Eisen zu legen.

»Wenn sein artig, dann nix Füße fesseln — wenn sein nix artig, dann auch Füße fesseln und bum bum dazu. Trink.«

Aus einem Kruge wurde mir ein Becher eingeschenkt, es war ein süßer, feuriger Wein, der mir außerordentlich wohl tat.

»Dann wurde ich am ganzen Körper mit Schwamm, Wasser und Seife gewaschen, wobei ich erst jetzt bemerkte, daß auch ich nur mit einem langen Kittel bekleidet war, alles andere hatte man mir genommen, auch Strümpfe und Schuhe.

Die Waschung mit nachfolgender sorgfältiger Trocknung geschah nur, um mich dann mit Branntwein und dann noch mit Öl einzureiben, den ganzen Körper, wie es bei diesen Orientalen eben Sitte ist, besondere Sorgfalt aber widmete man einigen abgeschürften Stellen an den Gelenken, wo die Lederriemen zu sehr geschnitten oder gerieben hatten, dort bekam ich auch Verbände angelegt, es wurde dafür gesorgt, daß die Handschellen mich nicht drückten.

Dann wurde ein Krug mit Wasser gefüllt, ein Bastkorb mit Weißbrot, Datteln, Feigen und getrocknetem Fleisch hingesetzt, und die drei Männer kletterten die Leiter hinauf, die Luke offen lassend, durch welche Tageslicht fiel.

So, nun konnte ich über mein Schicksal nachgrübeln.

Na‚ das war einfach genug.

Die Seelenverkäufer hatten kurz vor der Abfahrt noch eine Gelegenheit erspäht, um noch ein recht gutes Geschäftchen zu machen, einen jungen, kräftigen, gutgewachsenen Menschen — ein Schlag über den Schädel, und er wurde mitgenommen, um als Sklave verkauft zu werden.

Als Sklave?

Gibt es denn heutzutage noch Sklaverei?

Na‚ wer daran zweifelt, daß es heutzutage noch ganz regelrechte Sklaverei gibt, den will ich nicht erst darüber aufzuklären versuchen.

Für mich war das jedenfalls alles ganz klipp und klar.

Und nun will ich das Weitere kurz machen, so lang mir die Zeit auch wurde.

Erst viel später habe ich es mir berechnen können, daß unsere Fahrt ungefähr acht Wochen währte.

Ich blieb angekettet, hatte aber genügend Bewegungsfreiheit und wurde aufs Beste verpflegt und behandelt. Aber ich war und blieb eben das angekettete Stück Vieh, nur nicht ein Ochse, sondern ein edles Rennpferd, das transportiert wird. Keine Frage wurde mir beantwortet, man hörte mich überhaupt gar nicht sprechen. Auch sonst gelang es mir nicht, das Ziel zu erfahren. Ich konnte mich nicht einmal orientieren, in welcher Richtung wir fuhren. Wohl war der Lukendeckel bei gutem Wetter immer geöffnet, aber das war zu wenig, als daß ich darauf den Kurs hätte bestimmen können.

So vergingen also acht Wochen. Freilich hatte ich damals eine viel längere Zeit eingeschätzt.

Über meine Stimmung will ich nicht weiter reden. Verzweifelt wurde ich jedenfalls niemals. Im Gegenteil, ich wurde immer mehr gespannt daraus, wo diese Reise denn noch enden würde, ob in Indien oder in Afrika. Mit Fluchtplänen gab ich mich nicht ab. Hier an Bord hatte das ja gar keinen Zweck.

Da, nach einer längeren Zeit schweren Unwetters, während welcher ich nur deshalb etwas trübsinnig gewesen war, weil wegen der Sturzseen die Luke immer geschlossen sein mußte — aber man gab mir doch wenigstens eine Lampe, auch Tabak und Pfeife — hörte ich, wie der Anker fiel.

Wieder vergingen einige Stunden. Dann erschienen die üblichen beiden Männer, die mir das Frühstück brachten. Nur daraus wußte ich, daß ich eine Nacht hinter mir hatte und jetzt ein neuer Morgen angebrochen war. Denn wenn das Schiff so schlingerte wie jetzt, wo es auch noch vor dem Anker tat, benutzten sie nicht den Weg von oben durch die Luke, sondern kamen seitswärts durch ein Loch in diesen Raum gekrochen.

»Wo sind wir?« ließ ich mich wieder einmal zu einer Frage verleiten.

Es hatte keinen Zweck, ich bekam keine Antwort. Das wertvolle Rennpferd hatte nur einmal gewiehert, für den Menschen unverständlich.

Ich frühstückte, ausgezeichnet wie immer. Das Schiff beruhigte sich nach und nach vor dem Anker.

Dann kam in Begleitung meiner beiden Gefängniswärter der Mann, den ich bereits den Hakim nannte, den Arzt. Als ich einmal eine Krankheit erheuchelt, hatte er mich ganz sachgemäß behandelt. Heute wurde ich wieder einmal gewaschen und rasiert, was aller drei Tage geschah, mit Branntwein eingerieben und gesalbt, und mir fiel auf, daß dies heute mit außergewöhnlicher Sorgfalt geschah, auch das Haar wurde mir geschnitten, zum zweiten Male während der Reise.

Es wurde mittag, ich bekam mein Mittagsessen, und zwar mein Leibfutter, dessen ich nie überdrüssig werden kann: Curry mit Reis. Das hatte es allerdings wie auf allen orientalischen Schiffen fast täglich gegeben, heute aber gab es dazu in Würfel geschnittenes frisches Hammelfleisch! Und dann folgte als zweiter Gang ein gebratenes Huhn!

Das ließ tief blicken. Wir waren nicht aus Not an einer ixbeliebigen Stelle vor Anker gegangen, sondern wir lagen an einer bewohnten Küste. Von Ankunft oder Abfahrt eines Bootes hatte ich freilich nichts bemerkt. Wußte ich doch noch nicht einmal, wie groß dieses Fahrzeug, wie stark seine Bemannung war, und ob ich noch Leidensgefährten hatte.

Die Luke blieb jetzt offen, ich sah den blauen Himmel, weiter nichts.

Kaum aber hatte ich das delikate Brathuhn verzehrt, als ich doch merkte, daß jetzt ein Boot angekommen sein müsse, ich hörte solche Geräusch. Die Leute schwatzten ja genug, aber ich war mir noch nicht klar darüber geworden, ob sie türkisch oder arabisch oder hindustanisch sprachen. Ich kannte diese Sprachen eben nicht. Nur chinesische Laute waren nicht darunter, die wären mir aufgefallen.

Da kletterte die steile Leiter der Mann herab, der sicher der Kapitän war, ihm folgte der Hakim, diesem ein Mann, den ich noch nie gesehen hatte, ebenfalls orientalisch, aber besser gekleidet, mehr »nach Land«.

Und der Handel begann. Das Handelsobjekt war ich. Ich mußte mich präsentieren, wie mich Gott geschaffen hatte, danach war schon mein Kaftan eingerichtet, daß er trotz meiner Fesseln abgestreift werden konnte. Kapitän und Hakim priesen meine Vorzüge mit überschwenglichen Worten, nur schade, daß ich davon nichts verstand, und der Fremde griff mir sachgemäß in alle meine Fleischteile, ich mußte ihm auch die Zähne zeigen, wie man eben auch einem Pferde ins Maul guckt. Nebenbei bemerkt: ich war angehalten worden, mir nach jeder Mahlzeit die Zähne zu reinigen, hatte dazu einen steifborstigen Pinsel bekommen, und der Hakim selbst hatte aller drei Tage sogar meine Fußnägel poliert. Ich war in den acht Wochen ein bildschöner Kerl geworden, der reine Adonis, und heute duftete ich wieder einmal nach allen Wohlgerüchen des Orients.

Der Handel dauerte wenigstens zwei Stunden. So lange schnatterten die drei ununterbrochen gleichzeitig, ich wurde immer wieder betastet und gekitzelt, immer wieder mußte ich alle möglichen Stellungen einnehmen, um meine Körperformen ins beste Licht zu bringen, und ich tat alles willig. Was hätte ich denn auch anders tun sollen. Jetzt nach acht Wochen alles noch verderben? Und ich war wirklich gespannt, was da noch kommen würde, ich befand mich sogar in humoristischer Stimmung. Nur daß ich etwa als Eunuche in einen Harem käme, davor hatte ich ein bißchen Angst.

Endlich wurden sie handelseinig, der Fremde hatte mich gekauft, das merkte ich ganz deutlich. Wieviel ich wert war, das sollte ich erst später erfahren. Da war ich allerdings schon hoch im Preise gestiegen, das war doch hier der Verkauf aus erster Hand.

Zunächst gingen die drei wieder, ich bekam noch einmal mein Vesper, der Abend brach an.

Da kam der Fremde wieder, wurde nur vom Kapitän geleitet, brachte selbst zwei bis auf den Schurz nackte Neger mit, kräftige Burschen.

Ich wurde kostümiert, bekam derbe Schuhe an, eine Lederhose, die zwischen den Beinen wie ein Sack herabhing, so daß ich nur kleine Schritte machen, unmöglich rennen konnte, und ähnlich war die Jacke aus starker, aber schmiegsamer Leinwand beschaffen, eine Zwangsjacke. Aber nur die Oberärmel waren fest, so daß ich nur die Unterärmel bewegen konnte, die Hände bis zum Mund heben, und da kann man ja nicht viel machen. Ich konnte jemanden packen, ihn aber nicht boxen, ihn nicht treten.

In dieser Verfassung mußte ich hinauf klettern, betrat zum ersten Male das Deck des Fahrzeuges, einer zweimastigen Brigg.

Der Vollmond stand schon hoch, beschien eine Bucht, in deren Mitte wir lagen, und eine Küste, wohl sandig, aber schön bestanden mit Palmen, sowohl Kokos— als Datteln— und anderen Palmen, so weit ich das aus der ziemlichen Entfernung erkennen konnte, und dann eine Kolonie von weißen Steinhäusern.

Wo befand ich mich? Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte ebensogut in Indien wie in Afrika sein, oder auch in Amerika, sogar in Europa, etwa an der mazedonischen Küste. Oder auch in Australien.

Diese Küstenbeschaffenheit sagte mir absolut nichts, höchstens durch die Palmen, daß es eine sehr warme Gegend war. Das war aber auch alles. Das orientalische Element ist durch seinen intensiven Handel über die ganze Erde verbreitet, in Europa wenigstens in den Balkanländern. Bei Para zum Beispiel hatte ich eine Küstengegend gesehen, in der sich die indisch—arabische Kolonie angesiedelt hatte, und da hatte es ganz genau so ausgesehen wie hier, auch nur solche orientalische Fahrzeuge und Prauen mit eigenartigen Segeln hatten dort gelegen, kein einziges modern-europäisches Fahrzeug. Und dasselbe kann man in vielen Gegenden Australiens finden. Dort sind die Chinesen und indische Kulis schon massenhaft eingewandert, die ziehen den ganzen orientalischen Handel nach sich, das verwischt den ursprünglichen Charakter einer Landschaft vollkommen.

Und wir waren acht Wochen lang gesegelt, ich schätzte die Zeit aber lieber auf ein Vierteljahr, und ich wußte nicht wohin und wie schnell, und in einem Vierteljahr konnte auch diese Brigg recht gut bis nach Südamerika kommen, unter Umständen sogar bis nach der Türkei hinauf.

Kurz und gut, ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich mich auf dem Erdballe befand. Nur nicht in der nördlichen oder südlichen kalten Zone, das sagte mir die Palmenvegetation. Aber nicht in einer gemäßigten Zone, das wäre schon wieder zu viel gesagt. Die Levantenküsten Italiens und Frankreichs — die Riviera — haben doch schon ganz tropischen Afrikacharakter. Wenn dort auch die Dattel nicht reift. Aber ob dort jene Palme reife Datteln hervorbrachten, das wußte ich ja noch gar nicht.

Ich mußte in ein Boot steigen, das von zwei Negern stehend vorwärts gerudert wurde, mein Herr nahm als Passagier neben mir Platz. Es ging dem Lande zu.

»Speak english?« begann ich.

»Kul.«

Das war weder Türkisch noch Arabisch noch Hindustanisch, weder Ja noch Nein, das wenigstens weiß doch unsereins.

»Parlez—vous francais?«

»Kul.«

»Parla italiano?«

»Kul.«

Ich gab es auf, zu erfahren, was das für ein Land war.

Wir landeten an einem niedrigen Kai, mein Herr winkte, ich ging neben ihm, die beiden Neger folgten uns.

Wir ließen die Häuseransiedlung rechts liegen, schritten einem der einzelstehenden Häuser zu, alle in maurischer Bauart gehalten, woraus ich aber noch auf gar nichts schließen konnte. Eben orientalisch.

Unterwegs begegneten uns einige Männer, alle orientalisch gekleidet, meist in weißen oder braunen Kaftanen oder Burnussen wie die Araber, aber einen arabischen Eindruck machten sie mir eigentlich nicht. Die Araber kennt man doch, und sie sind in Afrika wie in Asien ganz dieselben. Es war immer ein besonderer Gesichtsausdruck vorhanden, den ich nicht weiter definieren kann, und dann vor allen Dingen fielen mir die langen, schwarzen Locken auf, welche sie sämtlich trugen, was man bei den Arabern niemals findet. Die scheren oder rasieren sich den Schädel vielmehr ganz kahl oder lassen nur einen Stutz stehen.

Wir hatten das Haus erreicht, betraten einen von einer Öllampe erleuchteten Parterreraum, der fast ganz von einer Pritsche ausgefüllt wurde, auf der sieben Menschen lagen, lauter Neger, alle den Hals in einer doppelten Querleiste, also im Sklavenjoch, was nun ganz gefährlich aussah.

Ich wurde bedeutet, auf der Pritsche an einer noch freien Stelle Platz zu nehmen, schon wurde dort der obere Teil der hölzernen, aber mit eisernen Bändern versehenen Querleiste aufgeklappt.

Ja, was blieb mir anderes übrig, als der wirklich freundlich gegebenen Einladung nachzukommen?

Ganz abgesehen davon, daß hinter mir die zwei baumstarken Nigger standen und daß dort in den Ecken auch noch zwei mit Dolchen und Pistolen gespickte Wächter lauerten, machte schon meine Zwangskleidung jeden Widerstand einfach ganz unmöglich. Ausschreiten konnte ich wohl, aber sonst das Knie nicht einmal so weit erheben, um einem Menschen einen Kniestoß in den Bauch zu geben, und so ohnmächtig waren auch meine Hände, von den Armen gar nicht zu sprechen.

Und überhaupt, ich dachte vorläufig noch gar nicht an Flucht und Gegenwehr, es wäre auch wirklich sinnlos gewesen.

Also ich kletterte hinauf, streckte mich aus, mein Hals wurde eingespannt.

Da merkte ich sofort, daß die Sache gar nicht so schlimm war. Von einem Folterblock gar keine Spur. Die Höhlung in dem unteren Balken war weich gepolstert, mit der oberen, ebenfalls etwas hohlen Leiste kam der Hals überhaupt gar nicht in Berührung, dazu nun noch ein hohes Kopfkissen — so lag man sanft wie in Abrahams Schoß, ganz bequem, konnte sich drehen und strecken. Nur nicht sich befreien, den Hals nicht herausziehen, das war bei dieser ebenso sinnreichen wie einfachen Einrichtung gänzlich ausgeschlossen.

»Toilull«

Oder so ähnlich erklang es, wobei mir ein Schlauch in den Mund gesteckt wurde, der in einem hinter dem Kopfe stehenden Kruge endete, und solchen Krug hatte ein jeder hinter sich. Er enthielt Wasser, der Schlauchs wirkte als Heber, man konnte ihn sich selbst in den Mund stecken, bis an diesen reichten ja die Hände gerade.

Dann bekam ich noch ein Weißbrot, einen Klumpen Datteln, eine gute Portion Feigen und eine große Weintraube auf die Brust gelegt, und mein Herr und die beiden Neger gingen, die zwei Wächter, ebenfalls schwarze, blieben.


65 KAPITEL., IN EINEM RÄTSELHAFTEN LANDE.

Ich will meine Gedanken nicht schildern. Nur das will ich sagen, daß es durchaus nicht traurige waren. Ganz im Gegenteil.

Einmal ganz regelrecht den Sklaven spielen — recht so! Und daß ich über kurz oder lang meine Freiheit wiedererlangte, entweder durch meine Argonauten, durch Schwester Anna auf meine Spur gebracht, oder durch eigene Kraft und List, davon war ich ja nun felsenfest überzeugt.

Überhaupt, ich hatte doch wirklich nichts zu klagen. Ja, ich war förmlich gerührt ob dieser ausgezeichneten Behandlung, die man hier einem Sklaven, den man ins Joch spannte, zuteil werden ließe.

Das Weizenbrot, ungefähr ein Pfund, war frischbacken, knusprig, der reine Kuchen. Die Datteln waren köstlich. Und nun gar erst die Feigen. Nicht etwa solche Kranzfeigen, solch billiger Ausschuß, sondern auserlesene Smyrnafeigen, von denen bei uns das Pfund zwei Mark kostet. Und nun schließlich gar die Weintraube! Sie enthielt nur anderthalb Dutzend Beeren, aber jede so groß wie eine Eierpflaume, vom köstlichsten Geschmack! Das mußte wohl ein Endchen von so einer Traube sein, wie sie die beiden jüdischen Kundschafter aus dem gelobten Lande auf beiden Achseln angeschleppt brachten. Wenn man übrigens die Weintraubenkulturen bei Damaskus und besonders in der ägyptischen Oase Fayum gesehen hat, hält man so etwas recht wohl für möglich. Kolossale Trauben!

Also ich schnabulierte mit gewöhnlichem Appetit, war wirklich ganz gerührt.

»Parlez—vous francais?« erklang es da neben mir.

Ich wendete den Kopf, blickte in ein wohl tiefbraunes Gesicht, das aber doch mehr ein europäisches war.

Es war, will ich gleich sagen, ein Italiener, der Französisch nicht ganz perfekt, aber doch besser sprach als ich das Italienische.

»Oui Monsieur Wo sind wir hier?«

»In Schohar.«

»Schohar? Wo liegt das?«

»In Maskat, in Oman — 20 Meilen oberhalb der Stadt Maskat.«

Es war ausgesprochen. Nun wußte ich, wo ich mich befand.

In einem Lande, das meiner Ansicht nach das geheimnisvollste, das rätselhafteste der ganzen Erde ist, das Mexiko der Zukunft. Bitte, lieber Leser, gestatte mir eine kleine Einschaltung, auch wenn sie nicht direkt zur Sache gehört.

Ich war kürzlich in so einer okkultistisch-theosophischern Gesellschaft. Diese Leute sind — wie ich auch — überzeugt, daß in der Welt überhaupt nichts stirbt, so etwas wie einen Tod gibt es gar nicht, das heißt wie eine Vernichtung. Es ist ein ewiger Kreislauf. Und das gilt für das ganze Weltall mit seinen zahllosen Sonnensystemen wie auch für das einzelne Individuum, es gilt für den Wurm wie für das Molekül und das Atom, das gilt aber auch in geistiger Hinsicht, für das einmal gesprochene Wort wie für den nur gedachten Gedanken.

Was einmal ist, das ist schon immer gewesen und wird immer wiederkommen, für unsere Augen und Gedankenkraft nur immer in anderer Anschauungsweise. Das Verschwinden und Wiederkommen ist nur ein scheinbares, für uns allerdings ein reelles, und die Zwischenperioden bilden Zeitwellen, die man berechnen kann.

Also, führte nun der Vortragende in jener Gesellschaft aus, da auf unserem Planeten einmal neue Erdteile entdeckt wurden, Amerika und Australien, von denen die damalige Menschheit noch gar nichts wußte, so muß auch die Zeit wiederkommen, da die Menschheit auf diesem Planeten immer noch neue Erdteile entdeckt, von denen wir uns jetzt noch gar nichts träumen lassen.

Auf dieser Erde soll die jetzige Menschengeneration noch neue Weltteile entdecken?!

Wie soll denn das möglich sein?!

Und dabei ist nicht etwa an den Nordpol und Südpol zu denken, sondern um solche neue Erdteile wie Amerika und Australien soll es sich handeln.

James O'Donnell, ein amerikanischer Seher mit prophetischem Geiste, will dieses Problem gelöst haben, durch Schauen in die Zukunft.

Er behauptet, daß die ganze Theorie mit dem feurigflüssigen Kern der Erde eine falsche ist, daß die Erde nur innerhalb ihrer festen Rinde mehrere Zentralfeuer hat, oder daß die ganze Eigenwärme der Erde überhaupt eine ganz andere Ursache hat, daß sonst die Erde eine Hohlkugel ist, die noch eine andere Vollkugel enthält, beschienen von dem aufgesaugten Sonnenlicht, das durch die erste Außenrinde diffusiert — was O'Donnell sogar physikalisch—mathematisch berechnet — umgeben von einer für uns atembaren Atmosphäre, und diese Innenerde gilt es nun von uns zu entdecken und zu besiedeln.

So weit jener amerikanische Seher.

Ist das Wahnsinn?

Ich überlasse dem Leser, darüber zu urteilen.

Nur möchte ich darauf aufmerksam machen, daß das phantastische Projekt des Kolumbus, Indien westwärts auf dem Seewege zu erreichen, damals von der ganzen gelehrten Welt für hellen Wahnsinn erklärt worden, schon deshalb, weil natürlich doch die Schiffe am Rande der Erde ins Bodenlose hineinpurzeln mußten.

Schließlich füge ich noch hinzu, daß dieser selbe James O'Donnell auch die letzten drei großen Kriege viele Jahre vorher prophezeit hat, ferner die letzte Entdeckung eines Saturnmondes.

Genug hiervon.

Ich wollte hier etwas anderes sagen, das war nur eine Einleitung dazu, um zu zeigen, daß die menschliche Phantasie überhaupt gar keine Schranken hat, und was die Phantasie erdichtet, soll, nach okkultistischer Anschauung, auch verwirklichbar sein, indem die menschliche Phantasie ja erst ein Produkt der Schöpfungskraft ist. Was nicht ausführbar ist, ist auch nicht denkbar. Man muß nur intensiv denken und kräftig die Erfüllung wünschen, dann verwirklicht es sich auch. Hätte niemand daran gedacht und gewünscht, daß der Mensch noch einmal fliegen könnte, so hätten wir heute noch kein Luftschiff und keinen Äreoplan — für die Menschen noch vor hundert Jahren eine märchenhafte Phantasie. Wenn sich nun alle Ereignisse wiederholen sollen; so müßte man doch auch noch einmal ein neues Peru oder Mexiko entdecken und erobern, nicht nur unermeßliche Schätze enthaltend, sondern auch eine Bewohnerschaft mit einer hochentwickelten Kultur, wenn diese auch ganz verschieden ist von der unsrigen.

Und das ist allerdings etwas, was ich sehr wohl für möglich halte, solch eine Entdeckung und Eroberung eines neuen Mexikos mit uralter Kultur und unermeßlichen Schätzen an Gold und Edelsteinen, die für einige Zeit alles schon vorhandene Gold und dergleichen entwerten.

Das ist das heute noch selbständige Sultanat Oman, nach seiner Hauptstadt auch Maskat genannt, den Südostzipfel Arabiens bildend, mit einer Küstenlänge von 80 geographischen Meilen und 30 Meilen Breite.

Dieses Oman oder Maskat ist für mich das rätselhafteste Land der Erde.

Schon deshalb, weil alle Reiseberichte über dieses Land fehlen. Obgleich jeder Fremde, auch der europäische Christ, von den Bewohnern ganz freundlich aufgenommen wird, man führt ihn überall herum. Aber das, was er sehen möchte, bekommt er nicht zu sehen. Noch kein einziger hat über dieses Maskat etwas Genaueres berichten können. Im Konversationslexikon ist doch bei jedem Artikel, wo es nötig ist, die betreffende Literatur angeführt, in der man sich näher orientieren kann. Ja, dieses Maskat ist ganz ausführlich beschrieben, wir wissen genau, wie es in den Oasen aussieht, aber hier fehlt einmal eine Literaturausgabe gänzlich. Es gibt über dieses Maskat noch kein einziges Werk. Man muß die ganze Sache kennen, um das zu würdigen zu wissen.

Und was für eine Rolle nun hat dieses Maskat in der Weltgeschichte und ganz besonders im Welthandel gespielt!

Seit mehr als zweitausend Jahren ist der gesamte Handel Persiens und Indiens ausschließlich über Maskat gegangen. Das war das Monopol seiner Sultans, schon durch die Macht ihrer Flotten, welche den ganzen indischen Ozean beherrschten, und auch die ganze Küste Persiens gehörte diesen Sultanen.

Die Entdeckung des Seeweges nach Ostindien, als Portugiesen, Franzosen, Holländier und Engländer an diesem Handel konkurrierten, änderte daran nur sehr wenig. Hauptsächlich waren es immer noch die Mittelmeerländer, welche die indischen und persischen Waren, das Gold, die Edelsteine, die Spezereien, besonders die Tücher und Webereien so heiß begehrten — man denke nur an Venedig unter Marco Polo! — und das alles, jährlich Waren im Werte von Milliarden, ging ausschließlich über Maskat.

Das änderte sich erst mit der Eröffnung des Suezkanals also in der Mitte des 19. Jahrhunderts, da erst begann Maskat in die Nacht der Vergessenheit zu sinken.

Unermeßlich aber müssen die Summen sein, welches Maskat in den vielen Jahrhunderten an diesem Zwischenhandel verdient hat.

Wo sind diese Summen in gemünztem Gelde und in Gold- und Silberbarren geblieben?

Man weiß es nicht.

Schon die alten Perser nannten dieses Land »Töpislatan«, das ist »das schluckende Land«, und so heißt es dort noch heute.

Maskat hat in den Jahrhunderten oder sogar Jahrtausenden immer nur geschluckt, aber niemals wieder etwas herausgegeben.

Und das ist dort ebenfalls heute noch so.

Daß Sultanat Maskat, das etwa eine halbe Million Einwohner hat, braucht nur etwas Reiszufuhr, alles andere erzeugt es sich im Überflusse selbst, hat die andere Welt gar nicht nötig. Dafür werden Datteln im achtfachen Werte des Reises ausgeführt, aber auch nur die allergeringste Sorte. Alles, was gut ist, essen und behalten die Maskaten selbst, sie geben der anderen Welt nur das schlechteste Futter.

An der Küste Maskats sind die reichsten Perlmuschelbänke der Erde, dort werden die schönsten Perlen gefunden. Die Ausbeutung ist wiederum ein Monopol des Sultans. Der Ertrag wird jährlich auf achtzehn Millionen Mark geschätzt, und da können die Perlenbänke bei Ceylon nicht etwa mitmachen, und dann ist dabei noch zu bedenken, daß das Angaben der Maskaten selbst sind, die doch sicher nicht die Wahrheit sagen, vielleicht nur den vierten Teil des Betrages nennen, oder es wären doch keine Orientalen.

Und von diesen Perlen kommt keine einzige in den Handel!

Wo sie bleiben, das weiß man nicht.

Töpislatan — das Land verschluckt sie.

Bei dem Sultan sieht man nichts von Perlen und anderen Schätzen. Das ist ein ganz einfacher Mann, er lebt bescheiden in einem ganz einfachen Hause, so wie alle diese Maskaten leben, ob sie nun Beduinen oder Fischer oder Handwerker sind.

Die haben eben die echte Lebensweisheit entdeckt.

Die leben ganz bescheiden, arbeiten nur, wenn es ihnen gerade Spaß macht, essen aber nur das Beste, was ihnen ihr Land liefert, nur der größte Schund, mit dessen Menge sie nichts mehr anzufangen wissen, wird verkauft. Auch den besten Kaffee haben sie, dort gibt es noch den echten Mokka. Aber den trinken sie selber, keine Bohne kommt aus dem Lande heraus.

England weiß, was Maskat zu bedeuten hat, was dieses »schluckende Land« für Schätze enthalten muß, die man nur aufzufinden und abzuholen braucht.

Alle die der Küste vorgelagerten Inselchen sind englischer Besitz, sind von den Engländern befestigt worden.

Natürlich nur, um dem Sultanat von Maskat ihren »Schutz angedeihen zu lassen«.

Nun, die Maskaten mit deren Seeherrlichkeit es nun doch einmal vorüber ist, haben diese wasserlosen Felseneilande den Engländern ruhig überlassen, sind mit deren Schutzherrschaft ganz zufrieden.

Anderseits freilich lachen sie die Engländer aus, lachen uns alle aus.

Sie sagen es dem Fremden ja auch ganz offen.

»Was wollt Ihr uns denn anhaben? Wir ziehen uns einfach in die Wüste zurück und vergiften hinter uns die Brunnen.«

Ja, das ist es! Diesen Wüsten- und Oasenbewohnern ist absolut nichts zu wollen.

In ganz Oman gibt es kein einziges Flüßchen, dagegen Brunnen massenhaft, die aus dem Gebirge gespeist werden.

Und wenn diese Brunnen nun vergiftet werden, was will man denn da machen? Auf solche Entfernungen läßt sich den durch die Wüste marschierenden Soldaten kein Wasser nachschaffen. Dabei braucht man auch gar nicht an Arsenik und dergleichen Gift zu denken, obwohl darin diese Orientalen sehr wohl bewandert sind, besonders in Pflanzengiften, die wir noch gar nicht kennen.

Es genügt ja schon, in jedem Brunnen nur einen Kadaver zu versenken. Da bricht sofort die Ruhr und Cholera aus, die wenigsten werden sich nach der Küste zurückschleppen können.

Diese Eingeborenen aber werden immer schon Wasser zu finden wissen.

Ja, England weiß, was in diesem Maskat an Schätzen aufgestapelt ist und wartet nur auf eine Gelegenheit, um sie doch einmal abholen zu können aus diesem Mexiko der Zukunft, wenn das weltbeherrschende England bis dahin nicht von einer anderen Macht abgelöst worden ist.


»Wie sind Sie hier in die Gefangenschaft geraten?«

Philippo, wie der Italiener hieß, berichtete.

Er war Hafenarbeiter in Suez gewesen, hatte eines Sonntags, erst vor zwei Wochen, mit einem Kameraden eine Segelpartie gemacht, Wind und Strömung hatten sie zu weit ins offene Meer hinausgetrieben, sie waren von einem arabischen Segler aufgefischt worden und einfach als Sklaven hierher verkauft worden.

Sein Kamerad war gleich am zweiten Tage mit einer Sklavenkarawane ins Innere abmarschiert, Philippo lag hier schon seit acht Tagen. Es wurde gewartet, bis eine zweite Sklavenkarawane voll war. Allerdings brauchte er nicht immer hier auf der Pritsche zu liegen, am Tage konnten sich die Gefangenen in einem ummauerten Hofe frei bewegen, nur während der Nacht kamen sie in den bequemen Halsblock.

»Wer nicht wie ich Frau und Kinder hat, der kann sich eigentlich glücklich preisen, bei den Maskaten Sklave zu werden!« schloß er seufzend.

»Haben die es so gut?«

»Sehr, sehr gut, sie brauchen kaum zu arbeiten, werden wie die eigenen Kinder behandelt.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe schon einmal in Maskat gearbeitet, in der Stadt. Da kam eines Tages ein Landsmann von mir an, der war Sklave im Innern gewesen und konnte davon erzählen. Aber nicht lange. Noch an demselben Tage wurde er von einer Steinplatte totgequetscht.«

»Was sprechen diese Leute für eine Sprache?«

»Banschanisch.«

»Was ist das?«

»Ein Gemisch von Persisch und Arabisch. Mehr ersteres als letzteres.«

Ach richtig! Jetzt konnte ich mir auch den Gesichtstypus mit den schwarzen Locken erklären, das war alles ganz persisch. Diese Vermischung stammt eben noch von den persischen Kolonien her.

»Die Baschanen sind nur an der Küste, drinnen im Lande wird reines Arabisch gesprochen!« setzte der Italiener noch hinzu, und dann aus tiefster Brust seufzend:

»Ja, und dort aus dem Innern ist eine Flucht ganz unmöglich!«

»Weshalb denn?«

»Weil alle diese Maskaten Zauberer sind.«

»Zauberer?«

»Ganz mächtige Zauberer. Sie haben sich dem Teufel verschrieben, deshalb stehen ihnen höllische Geister zu Diensten, und die lassen keinen Sklaven entfliehen. Die bringen ihn sofort wieder zurück.«

Ich hatte es mit einem Italiener aus der untersten Volksklasse zu tun, und da weißt man doch, was man davon zu halten hat.

»Sie haben doch eben vorhin selbst gesagt, daß einem Landsmann von Ihnen die Flucht gelungen ist.«

»Weil er einen Talisman gestohlen hatte.«

»Gut, so werden wir auch solch einen Talisman stehlen.«

»Hat es ihm denn etwas genützt? Ist er denn weiter als bis nach Maskat gekommen? Wurde er dort nicht gleich am ersten Tage von einer Steinplatte totgedrückt, mit der er sonst gar nichts zu tun hatte? Die hat so ein höllischer Geist auf ihn geworfen. Nein, aus diesem Lande kommt keiner wieder lebendig heraus, den diese Zauberer einmal zu ihren Diensten gebrauchst haben. Nie, nie werde ich meine Frau und Kinder wiedersehen.«

Der Mann sprach noch weiter von der Teufelszauberei dieser Maskaten, er war von Aberglauben ganz durchseucht, ich wünschte ihm gute Nacht. Und entschlief sanft.

Als ich wie die anderen Schläfer geweckt wurde, konnte es, wie ich mich dann aus der Stellung des Mondes orientierte, erst gegen zwei Uhr nachts sein.

Jeder Mann erhielt eine große Schale schwarzen, süßen Kaffee, wie ich ihn, obgleich er gar nicht stark war, von solch köstlichem Aroma noch nie getrunken hatte.

Dann wurde gleich aufgebrochen. Wir blieben, wie wir waren, alle acht mit den Hälsen in dem doppelten Brette eingespannt, nur daß dieses natürlich von der Pritsche losgeschlossen wurde.

Wir waren so ziemlich alle von gleicher Größe, und außerdem merkte ich erst jetzt, daß jeder Mann sein eigenes Joch hatte, die einzelnen Teile waren durch einige Kettenglieder miteinander verbunden, so daß es nichts geschadet hätte, wenn ein großer Mann neben einem kleineren zu stehen kam, wenn der Unterschied nur nicht gar zu groß gewesen wäre, was bei uns eben nicht der Fall war.

An die Querjoche wurden noch einige Bündel gebunden, die wir also beim Marschieren zu tragen hatten, aber gar nicht von besonderem Gewicht, und fort ging es, in Begleitung von einem Dutzend bewaffneter Männer, zur Hälfte vor uns, zur Hälfte hinter uns, wie auch wir einer hinter dem anderen marschierten.

Als der Tag zu grauen begann, befanden wir uns noch immer zwischen Mais—, Weizen— und Baumwollenfeldern, deren außerordentliche Fruchtbarkeit — es war die Zeit der Reife — ich erst jetzt richtig erkannte, und ab und zu wundervolle Haine oder ganze Wälder von Mandel—, Orangen— und Feigenbäumen, wie vollends die Dattelpalme überall stand, auch mitten auf den Feldern.

Dann, als die Sonne aufging, kam eine sterile Wüstenregion, die in einer Stunde durchwandert wurde, wir erreichten eine herrliche Oase, und hier war schon Schluß der Tagesarbeit.

Und so wurde es vier Tage lang gehalten. Regelmäßig nachts um zwei wurde aufgebrochen und bis kurz nach Sonnenaufgang marschiert, bis sieben oder acht Uhr, erreichten wir dann eine Oase, bald nur ein kleines grünes Inselchen im gelben Wüstenmeer, bald von kaum übersehbarer Ausdehnung, immer von äußerster Fruchtbarkeit, mit ganzen Wäldern von den köstlichen Obstbäumen, und hier wurde den ganzen Tag im Schatten gelagert.

Es herrschte hier allerdings den ganzen Tag über auch immer eine fürchterliche Gluthitze, bis zu Mitternacht anhaltend. Ganz auffallend war es überhaupt, daß hier die Nächte gar nicht so kalt waren wie in den afrikanischen und auch asiatischen Wüsten, obgleich auch hier ein überreichlicher Tau fiel. Aber dieser war ganz warm. Das rührt in dieser Zone eben von den Seewinden her. Daher auch trotz der ungemeinen Trockenheit — im ganzen Jahre fällt hier kaum 100 Millimeter Regen, und der auch nur im März und April — die fabelhafte Fruchtbarkeit des Bodens, wo er nicht aus reinem Sand besteht.

So legten wir, wie ich mir ungefähr berechnen konnte, was dann auch ziemlich stimmte, täglich 20 Kilometer zurück. Der Charakter der Landschaft blieb immer derselbe. Im Grunde genommen war alles vegetationslose Wüstenregion, nur durch kleine und große Oasen unterbrochen, deren Bewohner, wenn ihnen nicht alles gleich in den Mund wuchs, Ackerbau und Viehzucht trieben. Allerdings sah ich nur wenige Kamele und Pferde, freilich sehr schöne Tiere, und viele Ziegen. Rinder und Schafe gab es nicht. Dann aber noch massenhaft Tauben und Hühner.

Letztere erhielten wir denn auch außer Brot und Früchten hauptsächlich gebraten vorgesetzt, manchmal auch Ziegenfleisch, wie wir überhaupt ganz ausgezeichnet verpflegt und ebenso behandelt wurden. Kein böses Wort bekamen wir zu hören. Es war ja allerdings auch kein Grund dazu vorhanden, aber immerhin, unseren Sklaventreibern war jede Roheit fremd. Die Oasenbewohner hatten nur Zelte, wir verbrachten jede Nacht im Freien, unter Bäumen lagernd, die schon genügend vor dem Taufall schützten, erhielten aber immer noch Kamelhaardecken. Nur daß wir dabei im Halsjoch bleiben mußten, was aber gar keine besondere Unbequemlichkeit war.

Jetzt beschäftigte ich mich natürlich schon mit Fluchtgedanken, das heißt ich merkte mir vorläufig gut den Weg, der immer nach Südwesten ging, hielt immer die Augen offen, merkte aber auch schon, wie schwer es einem Fremden werden würde, ungehindert durch dieses Land zu kommen, wenn er nicht genügenden Wasservorrat bei sich hatte.

Der Brunnen befand sich in jeder Oase immer in der Mitte, wo sich auch das ganze Leben konzentrierte, und wenn es auch gar keine Hunde zu geben schien, so mußte es doch sehr schwer sein, sich unbemerkt heranzuschleichen, um seinen Durst zu löschen und den verbrauchten Wasservorrat zu ergänzen.

Am dritten Tage tauchte vor uns das Gebirge auf, welches in einer Entfernung von zehn geographischen Meilen die ganze Ostküste des Landes begleitet. Man weiß nur, daß es Erhebungen bis zu 3000 Metern hat, sonst ist es von unseren Geographen noch gänzlich unerforscht. Hinter ihm beginnt die eigentliche arabische Wüste.

Als wir am Morgen des vierten Tages nach bereits sechsstündiger Nachtwanderung wie immer Rast für den ganzen Tag machten, lag dieses Gebirge, jäh aus der Wüste emporsteigend, sozusagen in handgreiflicher Nähe vor uns, was freilich eben eine optische Täuschung war.

Philippo verstand die Sprache unserer Begleiter, er erlauschte vieles und berichtete mir oftmals darüber.

»Morgen wird ein schwerer Tag für uns,« erklärte er mir am Nachmittag in dieser Oase, »wir sind noch acht Stunden von dem Gebirge entfernt, treffen unterwegs auf keine Oase und auf keinen Wüstenbrunnen mehr, haben dann noch immer fünf Stunden in dem Gebirge zu marschieren, ehe wir an unser Ziel gelangen, müssen also einen bedeutenden Wasservorrat mit uns schleppen.«

»Und was für ein Ziel ist das?« fragte ich.

»Eine Stadt, welche Arkuma heißt. Mehr habe ich nicht erfahren können. Unsere Treiber sprechen aber diesmal wirklich von einer Oase, von einer richtigen Stadt, nicht nur von einer Oase. Dort werden wir an unsere zukünftigen Herren verkauft.«

Diesmal wurden wir schon um Mitternacht geweckt, wir bekamen an unsere Joche ansehnliche Ziegenschläuche gehängt, mit Wasser gefüllt, in viel schnellerem Marsche, als sonst ging es in die nächtliche Wüste hinein, die sich erst jetzt von der Tagesglut etwas abzukühlen begann.

Man forderte einmal eine tüchtige Leistung von uns. Der Eilmarsch wurde sieben Stunden lang ununterbrochen angehalten. Als die Sonne sich über dem Horizonte erhob, in dieser Gegend und Jahreszeit eben gegen sieben Uhr, drangen wir in eine sandige Schlucht des Gebirges ein, das sich ganz unvermittelt mit steilen Felswänden jäh aus der Wüste erhob.

Ein reichliches Frühstück wurde gehalten, diesmal nur aus Fleisch bestehend, und sofort ging es weiter.

Es war ein furchtbares Schluchtenlabyrinth, durch welches wir noch fünf Stunden lang marschierten. Die sonst völlig ebenen Pässe waren manchmal so eng, daß sich kaum zwei Mann ausweichen konnten, zu beiden Seiten stiegen die Felsenmauern kerzengerade bis zum Himmel empor, man konnte diesen wirklich manchmal kaum sehen, und dabei ging es immer im Zickzack kreuz und quer, die Schluchten wurden durch zahllose Seitengänge unterbrochen, die sich von unserem Wege durch nichts unterschieden, und da verzweifelte ich fast, daß ich in diesem Labyrinthe jemals den Rückweg durch eigene Kraft finden würde.

Gerade wegen der Enge dieser Schluchten wanderten wir ja meist im Schatten, dennoch war es schier unerträglich heiß darin, und als die im Zenit stehende Sonne direkt auch in den schmälsten Riß hinein schien, befand man sich wie in einem mit siedenden Blei gefüllten Kessel.

Aber die Araber gönnten uns diesmal keine Rast, trieben uns immer wieder an, freilich ohne irgendwie grausam zu sein. Im Gegenteil, aller zehn Minuten führten sie mit eigener Hand jedem einen Becher mir Zitronenwasser oder kühl schmeckendem Kaffee an die Lippen, sie forderten uns mit gutmütigen Worten zum Singen auf, und da keiner diesem Wunsche nachkam, sangen sie selbst uns etwas vor, freilich alles andere als ein Marschlied, mehr eine eintönige Totengräbermelodie, nach arabischer Weise durch die Nase gesungen. Übrigens hatten sie ja unter der Hitze genau so zu leiden wie wir, und das Gewicht ihrer Waffen, zumal der schweren Flinten, betrug wohl nicht weniger als das unserer Wassersäcke, die wir so bequem hüben und drüben gut ausbalanciert an den Jochen hängen hatten. Was sie sonst Tröstendes und Ermutigendes sprachen, verstand ich nicht, und der Italiener hatte keine Lust mehr, es mir zu übersetzen. Er taumelte wie ein Trunkener weiter. Ich für mein Teil war ja so trainiert, daß solch ein Marsch gar keine Strapaze für mich bedeutete.

Schon seit einer Stunde hatte die Sonne den Zenit überschritten, es mochte also gegen ein Uhr sein, ab und zu entstand schon wieder ein Schattenstreifen, aber die Hitze war fürchterlich, der Italiener und einige Neger konnten sich kaum noch weiter schleppen, als sich die enge Schlucht plötzlich erweiterte, und vor uns lag in einem Talkessel ein reizendes Städtchen, umrahmt von Orangenhainen und jedes einzelne Haus überschattet von Dattelpalmen. Nach dieser langen Wüstenwanderung einfach ein paradiesischer Anblick.

Mit unserer letzten Kraft schleppten wir uns — ich will mich nur mit zu den anderen zählen — durch die um diese Zeit menschenverlassenen Straßen, auch die Ankunft der Sklavenkarawane brachte durchaus keine Aufregung hervor, wir kamen in ein größeres Steingebäude, gleich die Karawanserei verratend, die kostenlose Herberge des Orients, im Hofe wurden wir mit Hilfe eines Schlauches reichlich mit Wasser abgespritzt, ein Zeichen, daß hier durchaus kein Mangel an Wasser war, dann legten wir uns auf eine weiche Matratze und fielen in tiefen Schlaf.


66. KAPITEL. BEIM MÄUSEKÖNIG.

Am späten Nachmittage, als wir ausgeschlafen hatten

und gespeist worden waren, wurden wir, immer noch alle acht im Sklavenjoche, in einen anderen, größeren Raum der Karawanserei geführt, in dem sich schon eine ganze Menge Araber versammelt hatten, wir mußten uns entkleiden, das heißt einfach den Kaftan abstreifen, und der Sklavenmarkt begann, wir wurden verauktioniert.

Ich will nicht beschreiben, wie es dabei zuging. Übrigens einfach genug. Oder ich wurde selbst gar nicht Zeuge, weil es gerade bei mir sehr schnell ging und ich schon nach den ersten fünf Minuten einen Käufer fand.

Einer unserer Führer hatte mich eben erst zungengewandt angepriesen, mir ab und zu in die Muskeln greifend, als schon ein alter, würdevoller Araber mit langem weißen Bart das Höchstgebot gemacht hatte, das von keinem anderen Kauflustigen übertroffen wurde, so viele Augen auch begehrlich auf mir ruhten.

Wie ich später erfuhr, hatte mich der Alte für 70 Beutel Gold gleich 7000 Mark erstanden. Gewiß eine ganz beträchtliche Summe für einen Sklaven, von dem man nichts weiter weiß, als daß er, wie man eben sehen kann, gerade gewachsen ist und sehr kräftige, muskulöse Glieder hat.

Mir schien es denn auch, als ob die anderen Kauflustigen den Alten ob dieses Gebotes, das er nach einiger Überlegung, dann aber auch sofort gemacht hatte, auslachen wollten, aber offenbar hatten sie alle vor dem Alten den größten Respekt, niemand lachte, niemand spottete, aber es hatte mir doch erst fast so geschienen, als hätten sie Lust dazu gehabt. Jedenfalls machte niemand ein höheres Gebot, und der Verkäufer war außerordentlich erfreut.

Ein Wink des Alten, und ich wurde von dem Halsjoch befreit, obgleich man ihn zu warnen schien, ich mußte meinen Burnus wieder anlegen, ein zweiter Wink, und ich folgte dem alten Araber.

Um die Karawanserei war eine größere Volksmenge versammelt, so hatten sich jetzt auch die Straßen belebt, vor den Haustüren saßen arabische Männer und auch verschleierte Frauen mit spielenden Kindern.

Im allgemeinen erregte ich hier so wenig Aufmerksamkeit, wie wir es während des ganzen Marsches in den Oasen getan hatten. Neugier war keine Untugend der Maskaten, das mußte man ihnen lassen.

Wieder wurde der neben mir gehende Alte von allen Seiten mit größter Ehrerbietung begrüßt, die meisten der Sitzenden standen dazu auf.

Nur die Kinder benahmen sich etwas anders.

»Boslokawal« hörte ich die kleinen Knaben und Mädchen öfters rufen, mit offenbarem Spott, dann schnell Reißaus nehmend. »Boslokawa, Boslokawa Abdallah!«

Dann drohte der Alte den Kindern wohl mit seinem elfenbeinernen Stock, aber gutmütig dabei lächelnd. Doch den Kindern, die ihn wohl verspottet hatten, ging es nicht so gut, ich sah mehrmals, wie solch ein kleiner Spötter von seinen Eltern in aller Schnelligkeit eine Backpfeife bekam, unter vorwurfsvollen Worten.

»Bitte, treten Sie ein!« sagte jetzt mein Herr zu mir.

Hallo! Erstens diese Höflichkeit, zweitens auf Deutsch — das hätte ich nicht erwartet!

Nun, es konnte ja nur eine aufgeschnappte Redensart sein, und daß ich ein Deutscher war, mochte er mir schon ansehen.

Er führte mich in einen Raum, nur klein, aber recht hübsch orientalisch ausgestattet. Das unvergitterte Fenster ging nach dem Hofe, in einen grünen, blumigen Garten verwandelt, in der Mitte plätscherte ein Springbrunnen.

Auf seinen Wink mußte ich auf einem Kissen Platz nehmen, er ließ sich mir gegenüber mit gekreuzten Füßen nieder. Der Alte hatte wirklich ein überaus gutmütiges Gesicht.

»Nicht wahr, Du bist ein Deutscher?« begann er jetzt ohne weiteres, sich immer noch des besten Deutsches bedienend

»Ja.«

Lächelnd strich er seinen prächtig gepflegten, schneeweißen Bart.

»Ich habe es nicht vorher gewußt, habe Dir aber Deine deutsche Abstammung sofort angesehen. Du wunderst Dich wohl, daß ich Dich gleich deutsch anspreche, hier im Herzen Maskats?«

»Allerdings. Sind Sie denn ein Deutscher?«

»O nein. Ich bin arabischer Maskate und Mohammedaner. Aber ich bin viele Jahre lang in Europa gewesen, auch in Deutschland, habe in Berlin Philosophie und in Leipzig Chemie studiert.«

Nun, in Deutschland gibt es manchen arabischen Studenten. Natürlich immerhin, überrascht war ich sehr.

»Du bist mein Sklave, ich habe Dich gekauft!« fuhr der Alte unvermittelt fort.

»Ich weiß es.

»Du hältst die Sklaverei für unerlaubt?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Weil es unmoralisch ist, über Leib und Seele eines anderen Menschen befehlen zu wollen.«

»Über die Seele kann man ja gar nicht befehlen.«

»Na‚ dann nur über den Leib, das genügt auch schon.«

»Ihr habt in Eurer Heimat keine Sklaverei?«

»Nein. Das weißt Du doch selbst ganz gut, wenn Du lange Zeit in Deutschland gelebt haben willst.«

»Und Du willst behaupten, daß es in Deiner Heimat keine Sklaverei gibt?«

Ich wußte, was jener meinte, und schwieg lieber, wußte im Augenblick auch wirklich keine Antwort.

»Lassen wir das. Dir ist die Sklaverei verpönt, weil Du ein Christ bist. Ist es nicht so?«

»Du sagst es.«

»Ich aber bin Mohammedaner, und der Prophet erlaubt im Koran die Sklaverei.«

»Ich weiß es.«

»So nenne ich Dich mit vollem Rechte meinen leibeigenen Sklaven.«

»Ich kann dagegen nichts einwenden.«

»Wie heißt Du?«

»Gib nur Deinem Sklaven einen beliebigen Namen!«

»Nein, mein lieber Sohn, nenne mir nur Deinen wirklichen Namen, damit ich Dich so rufe!« erklang es gütig wie immer.

»Georg.«

»Ist das nicht nur ein Vorname? Hast Du nicht noch einen anderen?«

»Georg Stevenbrock.«

»Gut. Ich werde Dich nur Georg nennen. Dieser Name gefällt mir. Ich heiße Abdallah ben Aga, bin früher Imam gewesen, einer der höchsten Priester, bin es eigentlich noch jetzt, führe noch diesen Titel, übe den Priesterberuf nur nicht mehr aus. Jetzt bin ich das, was Ihr einen Privatgelehrten nennt. Du sollst mich Vater Abdallah nennen, wie mich hier alle Kinder rufen, wenn auch auf Arabisch.

»Wie Du willst, Vater Abdallah.«

»Weshalb nennst Du mich Du? Ist es in Deiner Heimat nicht Sitte, einen Fremden, zumal seinen Herrn, mit Sie anzureden?«

Ohne jede Strenge war es gesagt worden, sicher nur aus Wißbegier.

»Ich bin gewohnt,« entgegnete ich offen, »jeden, der mich mit Du anredet, ebenfalls zu duzen. Aber in diesem Fall werde ich Sie, wenn Sie wünschen . . .«

»Nein, nein, auch Du sollst mich mit Du anreden, und Du sollst mich nicht nur Vater Abdallah nennen, sondern ich will Dir ein wirklicher Vater sein.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah!« konnte ich nur erwidern.

Aufmerksam blickte er mich einige Zeit an, immer mit seinem überaus freundlichen Gesicht. Das war sicher ein wirklich gütiger Herr und Mensch oder alles log, ich wollte auch niemals wieder etwas auf den Ausdruck der Augen geben.

»Was bist Du in Deinem Berufe?« fragte er dann.

»Seemann.«

»Das ist ein weiter Begriff. Matrose?

»Ich habe zuletzt im Range eines Kapitäns gestanden, wenn ich auch noch nicht die gesetzliche Befähigung zum Kapitän hatte.«

»Bist Du Soldat gewesen?«

»Ich bin in meiner Heimat sogar ein Offizier, Leutnant in der Marine.«

»Aaah. So weißt Du doch auch — oder vielmehr muß ich sagen: ich weiß was das Ehrenwort eines deutschen Offiziers zu bedeuten hat.«

»Natürlich weiß ich das!« lachte ich.

»Gibst Du mir Dein Ehrenwort als deutscher Offizier, nicht von hier zu entfliehen?«

Da brauchte ich keine lange Zeit zum Überlegen der Antwort.

»Nein, das kann ich Dir daraufhin nicht geben.«

»Gut,« erklang es da ohne weiteres, »ich verstehe, weshalb Du mir Dein Ehrenwort deswegen nicht geben kannst, eben weil ich weiß, was bei Euch das Ehrenwort zu bedeuten hat. Vielleicht noch etwas anderes, als wenn mancher Moslem beim Barte des Propheten schwört, wo man sich von einem Falschschwur sehr leicht wieder reinigen kann.«

Und der Alte, der mir immer besser gefiel, strich lächelnd seinen langen, weißen Bart.

»Aber als erstes,« fuhr er dann fort, »mache ich Dich, mein lieber Sohn, darauf aufmerksam, daß Dir niemals eine Flucht gelingen wird. Weshalb nicht? dürftest Du da mit Recht fragen. Die Antwort wird Dich wundern, wenn ich Dir sage: weil ich über viele Erd-, Luf-—, und Feuergeister gebiete, welche Dich mir immer wieder zurückbringen würden. Nicht wahr, diese Antwort wundert Dich?«

Allerdings, das tat sie. Der alte Herr schien in seiner Jugend von der deutschen Philosophie nicht viel profitiert zu haben. Freilich gibt es ja doch auch eine Richtung, die sich mit Geistern beschäftigt, wobei man nicht etwa an Spiritismus zu denken braucht. Leugnen doch nicht einmal solch nüchterne Köpfe wie Kant und Schopenhauer die Existenz von Geistern, das heißt von Wesen, die wir nur nicht mit unseren beschränkten Sinnen wahrzunehmen vermögen.

Oder hatte der gute Alte etwa ein bißchen einen Klaps?

»Hältst Du mich etwa für irrsinnig?« erriet er da auch schon meine Gedanken, wozu allerdings nicht viel gehörte.

»Diesen Eindruck machst Du mir durchaus nicht.«

»Ich bin es durchaus nicht. Gut. Ich werde Dir später die Beweise geben, daß ich wirklich Herr über viele Geister bin, die mir dienen. Jetzt laß Dir meine Behauptung genügen: sie bringen Dich sofort zurück, falls Du ohne meine Erlaubnis diese Stadt oder auch nur dieses Haus verlassen wolltest. Dir erscheint die Flucht vielleicht sehr leicht. Ich bin ein alter Mann, dem ein Gelübde Waffen zu tragen verbietet, ich bewohne dieses Haus nur mit zwei Töchtern und einigen Dienerinnen, habe keinen einzigen männlichen Diener — Du glaubst vielleicht, mich einfach bei nächtlicher Weile, falls ich Dir im Wege stehen sollte, niederschlagen zu können . . .«

»Sehe ich etwa aus wie ein Mörder?« fiel ich ihm ins Wort.

Wieder betrachtete er mich längere Zeit aufmerksam.

»Nein, so siehst Du nicht aus! Trotzdem, ich muß Dich warnen. Du würdest in solch einem Falle Schreckliches erleben. Durch meine Geister, die mich rächen würden. Und entkommen kannst Du überhaupt nicht, Du würdest niemals das Meeresufer erreichen. Ich werde Dir später in aller Güte einen Beweis geben, weshalb dies ganz unmöglich ist. Also Du bist gewarnt. Gut. Hast Du Verwandte, nach denen Du Dich sehnst, welche über Dein Verschwinden unglücklich sein werden?«

»Einen Vater.«

»Sonst niemanden weiter?«

»Sonst kommt wenigstens niemand weiter in Betracht, nicht von Verwandten.«

»Wo lebt Dein Vater?«

»In Kiel.«

»Kiel — kenne ich!« wiegte der Alte sinnend sein kluges Haupt. »Du wirst Deinem Vater schreiben, daß Du Dich in guten Händen befindest.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah.«

»Allerdings darfst Du ihm nicht berichten, wo Du in Gefangenschaft bist.«

»Nicht?!«

»Nein, das ist doch nicht angängig. Dadurch könnten wir hier nur Unannehmlichkeiten haben. Weil bei Euch die Sklaverei nicht erlaubt ist. Aber Du sollst später Deinen Vater besuchen können.«

»Besuchen?!«

»Ich gebe Dir Urlaub! Du kommst dann freiwillig zurück.«

»Als Dein Sklave?!«

»Als mein Sohn.«

»Ich verstehe nicht.«

»Du wirst einer der unsrigen, wirst Mohammedaner.«

»Niemals!« rief ich mit Entschiedenheit.

Ich bin durchaus nicht so sehr fromm. Aber den Glauben meiner Väter halte ich hoch, da gibt es bei mir nichts! Ich glaube, ich kann mich foltern und rösten lassen, ehe ich mein Christentum verleugne. Ich glaube es. Wenigstens der feste Vorsatz ist da.

»Fürchte nicht, daß Dir Gewalt geschieht!« erriet da der Alte wiederum meine Gedanken. Überdies weißt Du doch, daß der Moslem einen Andersgläubigen gar nicht mit Gewalt zu seiner Religion bekehren darf. Er darf die Ungläubigen wohl mit Feuer und Schwert ausrotten, muß es sogar, aber zu seinem Glauben mit Gewalt bekehren, das darf er nicht. Nur durch freundliche Belehrung. Doch davon später, wenn ich diese Belehrung beginne. Jetzt bist Du noch mein Sklave, oder mein Diener, will ich sagen, den ich für schweres Geld gekauft habe, wenn ich Dich auch schon wie einen Sohn, den ich liebe, behandle. Du sollst meinen Hausstand führen, wenigstens diejenigen Arbeiten verrichten, welche nicht für arabische Frauenhände geeignet sind. Diese Arbeiten sind leicht genug. Du wirst Deine Pflichten im Laufe der Tage ganz von selbst kennen lernen. Bist Du müde?«

»Gar nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Ich habe vorhin vier gute Stunden fest geschlafen.«

»Wärest Du fähig, wieder eine ganze Nacht ohne Schlaf auszuhalten?«

»Sofort.«

»Die Sache ist nämlich die, daß sich hier in diesem heiBen Talkessel das ganze Leben mehr auf die Nacht konzentriert, dafür wird am Tage geschlafen, wenn wir auch nicht direkt Nachttiere sind.«

»Das habe ich schon während unseres Marsches gemerkt.«

»Und so halte auch ich es in meinem Hause. Wenn Du also ausgeschlafen hast . . .«

»Vollkommen.«

»Gut, dann könntest Du ja gleich Deine Dienste antreten.«

»Ich bin bereit.«

»Dies ist hier Dein eigenes Zimmer. Gefällt es Dir?«

Ich sah mich zum ersten Male aufmerksamer um. Der Raum wurde bereits durch eine brennende Lampe erleuchtet, die aber erst jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, in Wirksamkeit trat. Besonders die im Hofe blühenden Mandelbäume spendeten köstliche Düfte durch das offene Fenster herein.

»Es gefällt mir ganz ausgezeichnet, Vater Abdallah.«

»Wenn Du müde bist, kannst Du Dich jederzeit hierher zurückziehen, Du sollst ganz wie mein lieber Sohn behandelt werden.«

»Ich danke Dir, Vater Abdallah!« sagte ich mit aufrichtiger Rührung ob solcher Behandlung, die hier einem Sklaven widerfuhr.

»Betten kennen wir Orientalen ja nicht, das weißt Du wohl. Wir schlafen auf den Polstern, auf denen wir am Tage sitzen. Was Du aber brauchst, kannst Du Dir ja leicht beschaffen, ich werde Dir dann alles zeigen.

Ich machte eine dankende Verbeugung.

»Bist Du hungrig?«

»Ganz und gar nicht. Wir sind vorhin erst tüchtig gefüttert worden.«

»Ich werde Dir dann die Küche und Speisekammer zeigen, wo Dir Tag und Nacht immer alles zur Verfügung steht. Ja, und nun . . . kannst Du kleine Holzarbeiten verrichten? Mit Säge und Hammer umgehen?«

Mir war es, als hätte er eine kleine Pause der Verlegenheit gemacht. Es fiel mir aber nicht weiter auf.

»O ja, das kann ich. Wenn es nicht gar zu komplizierte Holzarbeiten sind.«

»Durchaus nicht. Ganz einfache. Und ich denke doch, Du als gebildeter Mann, der Du als deutscher Offizier bist, fürchtest Dich doch nicht vor Tieren?«

»Vor Tieren?« wiederholte ich etwas stutzend.

Denn diesmal war mir seine Verlegenheit wirklich aufgefallen.

»Vor Bosloks, meine ich.«

»Bosloks? Was sind das für Tiere?«

»Das sind — sind — nun komm, ich will sie Dir gleich zeigen. Es sind ganz reizende Tierchen, Du wirst meine Liebhaberei bald begreifen und dann hoffentlich ebenfalls Freude an ihrer Pflege finden.«

Wir erhoben uns, durchschritten einen Korridor — es war ein sehr großes, zweistöckiges Haus — eine Treppe hinauf, alles schön mit Teppichen belegt, alles schon erleuchtet, betraten einen großen Raum und . . .

Ja, da bekam ich allerdings etwas von »Tierchen« zu sehen!

Ich wußte gar nicht, wohin ich sehen sollte.

Obgleich ich überall dasselbe sah.

»Weiße Mäuse!« rief ich dann, wirklich schon mit ehrlichem Vergnügen.

»Ja, weiße Mäuse nennt Ihr diese niedlichen Tierchen!« bestätigte der Alte, wieder mit einiger Verlegenheit. »Auf Arabisch Boslokawas. Ich bin nämlich ein großer Freund von weißen Mäusen. Weil es nach meiner Ansicht die klügsten Tiere sind, die es überhaupt auf der Erde gibt. Die Kinder nennen mich selbst manchmal den Boslokawa, weiße Maus, oder auch den Boslopadischah, den Mäusekönig. Ich nehme es ihnen nicht übel. Ach, diese Freude, die mir diese lieben, lieben Tierchen bereiten!«

Und das erst verlegene Gesicht des Alten wurde vor Seligkeit ganz verklärt. Ich will nun versuchen, zu beschreiben, wie es in dem Zimmer aussah, was ich erblickte.

Alle vier Wände des großen, hohen Raumes waren vom Boden bis zur Decke mit schmalen Brettern bedeckt, die wieder durch Querleisten unterbrochen waren, so daß Kästchen von verschiedener Höhe und Länge gebildet wurden, vor jedem einzelnen war eine Glasscheibe angebracht, und hinter diesen Scheiben nun wimmelte es auf den Brettern, also in den Kästchen von weißen Mäusen, von Hunderten und vielleicht auch Tausenden, die rastlos aus einem Kästchen ins andere liefen, oder, kann man gleich sagen, aus einem Zimmerchen ins andere, denn sie alle waren durch Türen verbunden, die in die Höhe geklappt werden konnten, aber immer nur nach einer Seite hin, so daß die Mäuse also auch immer nur nach einer Seite einen Ausweg fanden.

Aber das war nicht so einfach. Wohin ich auch blickte, überall sah ich eine andere Spielerei, eine andere Vorrichtung, welche die Mäuse auf ihrem Wege zu überwinden hatten.

Bald ging es eine Treppe hinauf, bald eine hinab, über Brückchen und Stege, durch lange Tunnel hindurch, dann fehlte wieder ein ordentlicher Weg, die Mäuse mußten erst an einem Seil hinaufklettern, ehe sie auf einer Galerie einen Ausweg fanden, dort war eine ganze Villa errichtet, aus und ein ging es durch die Haustüren, auf diesem und jenem Balkon erschien eine Maus, putzte sich das Näschen, verschwand wieder, tauchte einmal zum Schornstein heraus, ohne schwarz geworden zu sein — dann in einem anderen Zimmer konnte nur ein regelrechter Liftzug zum Weiterkommen benutzt werden, er ging nur in die Höhe, wenn in einem anderen Zimmer, aber gar weit von diesem entfernt, zwei andere Mäuschen auf einer Plattform niedergingen, und auf jener anderen hatte immer nur eine einzige Platz — und dann eine Falltür, oder ein in der Schwebe gehaltenes, ausbalanciertes Brett, auf das die Maus unbedingt mußte und nicht wieder zurückkonnte, seinen Weg fortsetzen mußte, und dann kippte das Brett um und das Tierchen plumpste rettungslos in ein Bassin mit Wasser —— nein, Milch war es, deshalb wohl auch das eifrige und behagliche Lecken, sobald das Mäuschen auf einem kunstvoll geschnitzten Treppchen das Trockene wiedergewonnen hatte — und so allüberall solche ingeniöse ausgedachte Vorrichtungen, wohin das Auge auch blickte, immer wieder etwas Neues.

Ich hatte zwar schon früher manchmal weiße Mäuse gesehen, im Schaufenster von Tierhandlungen zum Beispiel, aber sonst bestand meine ganze Erfahrung, die ich mit diesen Nagern gemacht, nur darin, daß ich einmal einen Schulkameraden gehabt hatte, der zu Hause weiße Mäuse hielt und infolgedessen dermaßen nach Mäusen stank, daß von den Lehrern dagegen eingeschritten werden mußte.

Doch hier bemerkte ich keine Spur von diesem penetranten Gestank.

Übrigens dachte ich jetzt auch gar nicht an diese meine Erfahrung.

»Ach, das ist ja entzückend!« rief ich jetzt.

Und es war auch wirklich ganz reizend, alle diese zierlichen, langgeschwänzten blendend weißen Tierchen mit den rotglühenden Augen zu beobachten, wie sie sich in den Zimmerchen und Gängen tummelten, alle die Hindernisse überwanden, sich niedersetzten und das Schnäuzchen putzten.

»Nicht wahr, es ist reizend?« sagte der Alte freudestrahlend. »Ja, es ist eine merkwürdige Liebhaberei, es ist eine Schrulle von mir, ich weiß es, aber gern will ich mich als Mäusekönig verspotten lassen, diese Tierchen vergelten es mir jede Nacht tausendfach wieder, alle Liebe, die ich ihnen angedeihen lasse.«

»Wie kommt es denn, daß sie alle nach einer Richtung laufen?«

»Weil sie nur immer die Tür nach einer Seite hin passieren können . . .«

»Das verstehe ich, das habe ich schon gemerkt — aber immerhin, wie kommt es, daß sie alle überhaupt so eilen, um nach ein und derselben Richtung zu kommen?«

»Ahso, das meinst Du! Diese fortwährende Beweglichkeit während der ganzen Nacht erreiche ich dadurch, daß ich an dem einen Ende das Futter aufstelle, am anderen Ende das Trinken. So müssen die Mäuschen ständig von einem Ende zum anderen wandern, durch sämtliche Zimmer und Gänge hindurch, einmal, um ihren Hunger zu stillen, das andere Mal, wenn sie durstig sind.«

Aha! Demnach hatte der Alte so eine Art von Perpetuum mobile erfunden!

»Nun aber können sie aber doch schon ihren Durst hier in dem Milchbade löschen!« meinte ich.

»Dieses Milchbad ist eben zugleich die Tränkstation an einem Ende der Laufbahn, eine andere Tränke gibt es gar nicht. Sie bekommen nur die beste Ziegenmilch, etwas verdünnt und mit Zucker versüßt, die lieben Tierchen. Hineinfallen müssen sie erst, gänzlich untertauchen, damit sie sich dann genügend ablecken. Früher mußten sie ein unfreiwilliges Wasserbad nehmen, da aber leckten sie sich nicht genügend ab. Die Milch aber lecken sie vom eigenen Körper mit dem größten Vergnügen auf. Auf diese Weise verbinde ich das Angenehme mit dem Nützlichen, denn auf diese Weise erziehe ich sie zugleich zur höchsten Sauberkeit. Oder merkst Du etwas von einem Mäusegeruch?«

Jetzt erst erinnerte ich mich jenes Schulkameraden mit dem polizeiwidrigen Mäusegestank. Nein, wirklich keine Spur war davon zu merken.

»Dies kommt eben von der Reinlichkeit, von dem begehrten Milchbade. Und dann freilich auch dürfen sie keinen Speck und keine andere Fleischnahrung bekommen, ausschließlich Körner.«

»Und wo ist nun diese Futterstelle?«

»Drüben im anderen Zimmer.«

Er führte mich hinüber.

Da erst merkte ich, daß die Geschichte noch weiter ging!

Die Mäuse mußten, um zum Futterplatz zu gelangen, durch eine Tunnelröhre durch die Wand hindurch, durch eine andere kamen sie wieder zur Tränke zurück. Auch dieser Raum, noch größer als jener, war schon ziemlich angefüllt mit solchen Kästchen, oder doch die Wände mit ihnen tapeziert, nur noch wenig Platz für neue Einrichtungen war vorhanden.

Ich sah den großen Futterkasten, in dem sich wohl einige hundert Mäuse drängten, aber ohne sich gegenseitig den ungeschälten Reis und andere Körner streitig zu machen, um dann wieder ihre lange, lange Wanderung durch die Wand bis zum unfreiwilligen Trinkbad zurückzulegen.

»O, ich habe noch vier weitere Zimmer für die Mäuse frei,« sagte da der alte Vater Abdallah glückselig verschämt wie ein junges Mädchen, das sich beim ersten Liebesgedanken ertappt, »ja eigentlich sogar sechs, es brauchen nur zwei Zimmer in dieser Etage ausgeräumt zu werden.«

»So willst Du alle acht Zimmer mit Mäusen bevölkern?« mußte ich mein Lachen verbeißen.

»Ja, warum nicht? An Nachwuchs fehlt es niemals. Wenn nur genügend Laufgänge vorhanden sind. Denn so frei in den Zimmern herumlaufen lassen, das kann ich sie natürlich nicht. Oder Du meinst doch nicht etwa, daß das Tierquälerei ist, wenn ich sie so lange Wanderungen zwischen Trockenfutter und Milch hin und her machen und sie solche Hindernisse überwinden lasse? O, das macht den Mäuschen doch selbst das größte Vergnügen, die wollen doch immer klettern und durch Löcher kriechen und alles untersuchen, und sieh nur, wie gesund infolgedessen alle diese lieben Tierchen sind, und was sie für gesunde rote Bäckchen haben.«

»Rote Bäckchen?!« durfte ich mich mit Recht wundern.

»Ja, sieh doch, wie ihre Bäckchen im Dunkeln so rot leuchten und funkeln . . .«

»Du meinst wohl ihre roten Augen?«

»Ach richtig, ich habe mich versprochen, ich meine ihre Äuglein!« mußte der Alte jetzt selbst lachen.

Er sprach zwar ganz perfekt Deutsch, solch eine Verwechslung zweier Worte konnte ihm aber doch einmal passieren.

»Die Augen meine ich. Wenn die im Dunkeln so rot glühen, dann sind die Tierchen gesund und lustig. Hältst Du das etwa für Tierquälerei?«

»Ganz und gar nicht! Auf solch einen Gedanken bin ich überhaupt noch gar nicht gekommen.«

»Das freut mich. Und wie ich sie nun sonst noch pflege! Am Tage, wenn sie schlafen, lasse ich sie im Dunklen. Das Lampenlicht bei Nacht geniert sie nicht. Und hier sind die Wochenbettchen, diese Zimmerchen sind immer durch Bretter verdunkelt. Ab und zu nachsehen kann man ja. Die Wöchnerinnen erhalten auch besonderes Futter und Milch sind ganz ungestört für sich.«

In einem besonderen Viertel der Mäusestadt waren die Glasscheiben durch Brettchen ersetzt, der Alte schob einige zurück, und da sah ich die Bescherung, den Segen des Himmels.

Weich gebettet auf Watte, mit eigenem Freß- und Saufnapf versehen, lag in jedem Abteil ein Mäuschen in stillem Mutterglück mit seinen sechs bis zehn Kinderchen, meist noch nackten Geschöpfchen von rotem Aussehen.

»Und hier ist die Kinderstube.«

Ach, was der mir sonst noch alles zeigte.

»Ja, wenn ich die Sache nur noch weiter ausbauen könnte,« erklang es dann seufzend, »alle die anderen sechs Zimmer voll.«

»Weshalb kannst Du nicht?«

»Da müssen doch solche Kästchen angefertigt werden, anders hat die ganze Sache doch gar keinen Zweck.«

»Fehlt Dir Material und Handwerkszeug dazu?«

»Alles massenhaft vorhanden.«

»Kannst Du das nicht selbst fertigen? Das ist doch einfach genug.«

»Wohl, aber ich darf ebensowenig ein Werkzeug wie eine Waffe anrühren, ein Jugendgelübde bindet mich. »Wer hat dies denn alles angefertigt?«

»Mullah, ein alter Diener.«

»Weshalb hat er diese Beschäftigung aufgegeben?«

»Weil er vor einem Vierteljahre gestorben ist.«

»Bekommst Du denn keinen anderen Diener?«

»Für so etwas nicht, nicht hier in Maskat, nicht im ganzen Lande, nicht für alles Geld der Welt.«

»Weshalb denn nur nicht?«

»Ich will es Dir offen erklären, mein Sohn. Alle Maskaten sind überaus abergläubisch. Ich werde allgemein für einen Zauberer gehalten. Der bin ich ja nun auch tatsächlich insofern, als ich mir Geister dienstbar gemacht habe. Wenn Du hierin eine Inkonsequenz erblickst, so will ich Dir später erklären, daß durchaus keine vorliegt. Die Sache ist nun die, daß in ganz Maskat, wo man sonst keine solche weißen Mäuse kennt — ich habe sie vor einigen Jahren aus Italien importiert — der Glaube besteht, ich hätte die mir untertänigen Erd-, Luft- und Feuergeister in diese weißen Mäuse verzaubert, hätte sie einstweilen in diese Tierleiber hineingebannt, um sie dann nach Belieben als Geister wieder zu verwenden. Glaubst Du, daß es wirklich so sei?«

»Ich? Nee.«

»Ist es auch nicht. Infolgedessen aber bekomme ich in mein Haus keinen männlichen Diener. Seine Seele könnte verloren gehen, denn der Koran verbietet alle Zauberei wie auch den Umgang mit Zauberern, so sehr diese auch geachtet werden. Oder eben gefürchtet. Nein, geachtet. Man achtet den Mut des Zauberers, der seine Seele aufs Spiel setzt. Aber einen Diener bekomme ich in ganz Maskat nicht. Und daß mir ein solcher bei dieser Bauerei für die Geistermäuse behilflich sein soll, daran ist erst recht gar nicht zu denken. Bei Dienerinnen ist das etwas anderes, die bekomme ich, denn die Weiber sind bei uns bekanntlich religionslos, das heißt sie haben keine Seele, kommen weder ins Paradies noch in die Dschehenna, in die Hölle, ihre Seele zerfließt nach dem Tode in nichts.

Aber ein Wein kann ich für diese Arbeiten nicht gebrauchen. Der alte Mullah, der schon im Hause meines Vaters war, bildete eine Ausnahme, der war mir treu, der hatte seine Seele sowieso schon verloren. Der hat dies alles nach meinen Angaben gefertigt. Nach seinem Tode habe ich mich vergeblich bemüht, einen Ersatz für ihn zu bekommen. Es geht nicht. Ich kann auch keinen fremden Araber oder sonstigen Mohammedaner in mein Haus nehmen. Weshalb nicht, das verstehst Du jetzt noch nicht. Alle Maskaten bilden eine große Familie, kein Fremder kommt herein. Laß Dir diese Erklärung vorläufig genügen.

So gab es nur noch ein Mittel. Ich beauftragte einen Sklavenhändler, mir gelegentlich einen christlichen Diener zu besorgen. Ich habe Dich gekauft. Und nun frage ich Dich: willst Du hier diese Arbeiten übernehmen?«

Ja gewiß wollte ich!


Die Tage vergingen, ich hatte mich schon gänzlich eingelebt.

Neben den Mäusezimmern war eine vollständig eingerichtete Werkstatt für diese Arbeiten vorhanden, die Hauptsache dabei war ein ganz moderner Laubsägekasten, aber auch Hobelbank mit allem, was dazu gehört, dünne Brettchen waren massenhaft aufgespeichert, desgleichen Glastafeln, deren kostspieliger Transport auf dem Karawanenwege für diesen alten reichen Knasterbart gar keine Rolle spielte.

Also ich laubsägte und leimte und nagelte und schnitt mit dem Glaserdiamanten Fensterscheibchen, reinigte täglich die Mäusezimmerchen, streute Futter, füllte das Milchbad, versorgte speziell die glücklichen Mütter, hütete die nackten roten Kinderchen und hing dabei so meinen Gedanken nach.

Und die weilten nämlich nicht etwa gar so oft bei meinen Argonauten, was die sich jetzt für Sorge um mich machten, wenn sie nicht schon meinen Tod betrauerten.

Nein, meine Gedanken waren meistenteils ganz, ganz andere.

Herr, wer bin ich, und was kann aus mir noch alles werden!

Die Realschule absolviert, Seemann geworden, Reserveleutnant in der Kaiserlich deutschen Marine, Kargokapitän und Waffenmeister auf einem freiherrlichen Schiffe unter halber Kriegsflagge — und jetzt hier als weißer Sklave bei braunen Arabern in Maskat säge und leime und nagele ich Zimmerchen für weiße Mäuse zusammen, leite nackte Mäusekinderchen zu den ersten Gehversuchen an — Herr, wer bin ich, und was kann aus mir noch alles werden!

Also, will ich hiermit sagen, meine Gedanken waren durchaus nicht traurige. Ich sehnte mich noch gar nicht nach meinen Argonauten zurück.

Ach mir gefiel es ja ganz großartig hier!

Nur im Anfang hatte mich Vater Abdallah bei diesen Arbeiten angestellt. Dann staunte er über meine eigene Erfindungsgabe.

Na‚ was ich aber auch die armen Mäuschen kujoniert habe! Was für akrobatische Leistungen ich von denen verlangte! Ich will es nicht weiter schildern, was alles für Hindernisse ich zwischen Futterplatz und Trinkbad aufstellt. Die Kletterseile und Kippbrücken waren noch gar nichts gewesen. Federnde Sprungbretter stellte ich her, von denen herab sie doppelte und dreifache Salto mortales machen mußten, ob sie wollten oder nicht. Mag das genügen. Oder nur noch will ich sagen, daß ich auch die Fahrstühle, die immer sehr mangelhaft funktioniert hatten, ganz bedeutend verbesserte. Auch das Seiltanzen zog ich mehr ins Bereich der akrobatischen Künste, ferner konstruierte ich eine Rutschbahn mit Wagenbetrieb, eine Rodelbahn mit Schlitten, wenn auch ohne Schnee, dann eine Wasserfähre, von den Mäusen selbst in Betrieb zu setzen, schließlich sogar eine . . .

Doch nein, nun ist mit dem Aufzählen genug! Sonst würde ich vielleicht überhaupt nie fertig.

Jedenfalls habe ich meinen genialen Erfinderkopf noch niemals so angestrengt wie damals, wie ich den armen Mäuschen das Leben immer mehr zu versauern suchte, ihre Wanderung zwischen Trockenfutter und Getränk immer hindernisvoller gestaltete.

Aber rastlos wanderten sie hin und her, überwunden die zahllosen Schwierigkeiten, und ihre roten Augen glühten im Dunkeln immer mehr. Also wurden sie immer gesünder und glücklicher. Was wollte man mehr?

Mit anderen Arbeiten in oder außer dem Hause hatte ich gar nichts zu tun, absolut nichts. Das Reinemachen und alles andere besorgten eine ganze Menge weiblicher Gestalten, die ich immer nur vermummt erblickte und welche wie die beiden Töchter, von denen Vater Abdallah damals gesprochen hatte, sonst nie wieder, die ganze zweite Etage bewohnten.

Zu regelmäßigen Zeiten fand ich in einem besonderen Zimmer ausgezeichnete Mahlzeiten für mich bereit, die ich allein einnahm, und auch durch keine Dienerin wurde ich dabei gestört.

Ich muß offen gestehen — ehrlich wie ich immer bin daß ich willens war, mich mit diesen weiblichen Wesen noch etwas näher zu beschäftigen, Vater Abdallah hatte mir deswegen auch noch gar kein Verbot gegeben, und ich sollte doch als Sohn des Hauses gelten. Aber nach vierzehn Tagen war noch immer nichts daraus geworden, ich ging noch ganz in meinem Mäuseberufe auf. Diese Spielerei machte mir eben tatsächlich außerordentliches Vergnügen.

Der Alte befand sich, wenn ich nicht aß oder schlief oder überhaupt der Ruhe pflegte, was ich ganz halten konnte wie ich wollte, immer bei mir, in der Werkstatt wie in den Mäusezimmern, ergötzte sich an meinen neuen Erfindungen, dabei aber führten wir ständig philosophische Gespräche.

Dieser mehr als achtzigjährige Araber war ein gar gescheiter Kopf! Wenn man ihn nur nach seinem Treiben hier in seinem Hause beurteilen wollte, so irrte man sich überhaupt total in ihm. Wohl mochte diese Mäusespielerei, die er vor einigen Jahren begonnen, in der nun sein ganzes Leben aufging, eine kindliche Schwäche seines hohen Alters sein, aber sonst war von Geistesschwäche nichts an ihm zu merken. Ein Geist von alles durchdringender Schärfe! Und diese Universalbildung! Dabei frei von jeder Eitelkeit, der solche Gelehrte, gerade wenn sie ihre Studien privat im stillen für sich treiben, sonst so gern huldigen. Im Gegenteil, dieser Alte war die Bescheidenheit selbst. Nicht daß er seine Kenntnisse und die Art und Weise, wie er sie sich erworben, verheimlichte, daß er seinen früheren Lebenslauf in ein mysteriöses Dunkel zu hüllen suchte, aber die Gelegenheit mußte erst kommen, ehe er darüber berichtete, ich mußte ihn dazu auffordern, sonst tat er es nicht. Als ich ihn damals verwundert fragte, woher er denn Deutsch könne, hatte er gesagt, daß er sich mehrere Jahre in Deutschland aufgehalten habe. Das mußte doch einen Grund haben, und so hatte er auch gleich gesagt, daß er in Berlin Philosophie und in Leipzig Chemie studiert habe.

So erfuhr ich weiter nach und nach, immer erst durch Fragen oder sonst bei zufälliger Gelegenheit, daß er in früheren Jahren auch die Universitäten von Paris und Oxford besucht hatte, hauptsächlich Physik und Chemie studierend, nebenbei aber auch die alten orientalischen, indischen Sprachen, Sansskrit und Pakrit usw. deren klassische Pflegstätte dank der Bemühungen des deutschen Professors Max Müller ja die englische Universität Oxford geworden ist.

Aber er war selbst in Indien gewesen, in Tibet, hatte Lamaklöster besucht, hatte Amerika bereist — kurz, mehr als 20 Jahre hatte er die ganze Welt durchwandert, nur um seine Studien zu treiben.

Dabei war er, der an erster Quelle, in Konstantinopel, auch die ganze Priesterlaufbahn durchgemacht und dort die höchste Weihe erhalten hatte, ein unverfälschter Mohammedaner geblieben.

Und immer mehr lenkte er unsere philosophische Unterhaltung, über die ich nichts weiter sagen will, auf den Koran, auf die Vortrefflichkeit seiner Religion, suchte mich einfach zum Mohammedismus zu bekehren.

Es gibt für den Mohammedaner nur zwei Wege, um nach dem Tode direkt, ganz gleichgültig was man vorher für ein Leben geführt hat, und sei es auch noch so gottlos gewesen, in den siebenten Himmel zu kommen, also gleich die höchste Stufe der ewigen Seligkeit zu erreichen, was sonst ungeheurer Zeitperioden bedarf: entweder unter der grünen Fahne des Propheten im Kampfe gegen die Ungläubigen zu fallen, oder einen solchen zur allein wahren Religion des Propheten zu bekehren.

Aber hierbei darf, wie ich schon einmal gesagt habe und was mir auch bereits bekannt war, absolut kein Gewaltmittel angewendet und kein Druck ausgeübt werden. Hierüber herrscht ein vielverbreiteter Irrtum. Weil die Mohammedaner doch die Andersgläubigen mit Feuer und Schwert verfolgen, wie es der Koran ganz direkt vorschreibt. Das wird eben meist falsch verstanden, eine Inkonsequenz liegt da durchaus nicht vor. Die Nichtmohammedaner haben eben gar keine Existenzberechtigung, sie sollen und müssen ausgerottet werden — wobei allerdings nicht an Meuchelmord oder überhaupt an Mord gedacht werden darf, der heilige Krieg muß von gesetzeswegen erklärt werden, und Gesetz und Koran sind eins.

Aber nicht, daß der Mohammedaner vorher zu den Ungläubigen, die er bekriegen will, sagen darf: wir wollen Euch verschonen, wenn Ihr den Glauben des Propheten annehmt. Nein, die Ungläubigen sind überhaupt dem Tode verfallen.

»Und trotzdem also ist es die höchste Ehre des Mohammedaners, er erwirbt sich auch nach dem sündhaftesten Leben sofort das Paradies wenn er auch nur einen einzigen Andersgläubigen zu seiner Religion bekehrt. Aber dies darf ausschließlich nur durch freundliche Belehrung geschehen. Kein Geld, keine Stellung, gar nichts darf dem Betreffenden deswegen angeboten werden. Also auch nicht etwa die Tochter zum Weibe. Sonst hat der Bekehrer seinen Lohn dahin.

Dies alles war mir also bereits bekannt, und ich merkte ja recht wohl, wohinaus der Alte wollte, wenn er mir immer die Vortrefflichkeit seiner Religion anpries, ohne mich direkt zum Übertritt aufzufordern. Denn nicht einmal das ist erlaubt. Ganz freiwillig, nur aus eigener Sehnsucht muß man kommen.

»Vater Abdallah,« sagte ich da eines Tages, oder vielmehr eines Nachts, als er mir wieder einmal eine Sure des Korans erläuterte, »auf diese Weise machst Du aus mir keinen Mohammedaner. Aber es gebe wohl ein Mittel, um mich zum Übertritt zu bewegen.«

»Was für ein Mittel?«

»Du sagtest doch gleich am ersten Tage, daß Du über Erd-, Luft-, und Feuergeister zu befehlen habest.«

Er hatte hiervon noch nie wieder begonnen, ich nicht wieder darüber gefragt.

»Das habe ich gesagt, und es ist tatsächlich so!« entgegnete er jetzt.

»Du wolltest mir auch einmal Beweise davon geben.«

»Ich bin bereit dazu.«

»Gut. Wenn Du mich überzeugen kannst, daß es wirklich Geister gibt, dann . . .«

»Halt, mein lieber Sohn!« fiel er mir schnell ins Wort. »Du meinst, dann würdest Du Mohammedaner werden?«

»Ja.«

»Dieses Versprechen nehme ich nicht an, es hat gar keinen Zweck, daß Du es gibst. Ja, ich bin bereit, Dir zu beweisen, daß ich über Geister gebiete.«

»Wann?«

»Jetzt sofort.«

Ich war etwas überrascht. Der Alte hatte wohl immer nur auf diese Aufforderung gewartet.

»Sind keine Vorbereitungen dazu nötig?«

»Nicht für daß was ich Dir jetzt zeigen will. Allerdings sind das nur Experimente untergeordneten Grades, die höheren kann ich Dir erst später vorführen, Du mußt nach und nach ausgebildet werden, daß Du die Phänomene überhaupt ertragen kannst, und dazu sind dann allerdings längere Vorbereitungen nötig, Fasten, Waschungen, Räucherungen und dergleichen. Gehe in Dein Zimmer, wasche Dir nur die Hände, lege ein neues Gewand an, dann treffen wir im Vorraum wieder zusammen, und Du sollst schon heute nacht Wunderbares genug zu schauen bekommen.«


67. KAPITEL. ARABISCHE MAGIE.

Es war gerade Mitternacht, als ich mein Zimmer wieder verließ.

Im Vorraum erwartete mich schon Vater Abdallah ebenfalls mit einem neuen Kaftan angetan.

Er führte mich in einen Teil des großen Hauses, den ich noch nicht betreten hatte, nahm eine brennende Lampe vom Sims, es ging eine Treppe hinab, also in den Keller, der in den Steinboden eingehauen war.

Da erst merkte ich, daß dieses Haus ebenso tief unter dem Boden lag, wie es sich in die Höhe erhob, denn wir stiegen immer noch zwei Treppen hinab, und auch hier waren alle Korridore mit Teppichen belegt, nur daß die Hängelampen nicht brannten.

Nach einem längeren Gange durch solche Korridore blieb er vor einer Tür stehen, aus schwerem Holz und schön geschnitzt wie alle anderen.

»Hier sind wir am Ziele, mein lieber Sohn. Öffne diese Tür.«

Eine Klinke war vorhanden, aber ich drückte sie vergebens.

»Und trotzdem ist sie nicht verschlossen und nicht verriegelt. Aber keine fremde Hand kann sie öffnen, und wenn auch alle Gewalt der Erde angewendet würde. Denn sie wird von den Geistern zugehalten, die ich hinter diese Tür gebannt habe. Sieh, unter der Hand ihres Meisters öffnet sie sich sofort.«

Er brauchte denn auch bloß die Hand auf die Klinke zu legen, so konnte er die Tür sofort ganz leise öffnen.

Freilich vermochte mir dies ganz und gar nicht zu imponieren. Deswegen wurde ich noch lange nicht Mohammedaner.

Es war ein nur kleiner Raum, ganz mit schwarzem Samt ausgeschlagen, auf dem ebenfalls schwarzen Teppich waren durch Kissen und Polster einige Sitzgelegenheiten geschaffen.

»Setze Dich, mein lieber Sohn.«

Er zog die Tür hinter sich zu, befestigte die Lampe an einem von der Decke herabhängenden Draht und ließ sich mir dicht gegenüber mit untergeschlagenen Beinen nieder.

»Ich beginne ohne weiteres mit den Experimenten. Die Erklärung erfolgt erst später, wenn Du sie zu verstehen überhaupt in der Lage bist. Denn dazu mußt Du einen theoretischen Unterricht bekommen, der gar lange Zeit währt. Mehr habe ich gar nicht vorauszuschicken.«

Er griff zwischen Hals und Kaftan, zog an einem goldenen Kettchen einen Ring hervor, löste ihn ab und steckte ihn an den Zeigefinger der rechten Hand, dann hielt er ihn mir näher hin.

Es war ein ganz mächtiger Ring, ein sehr breiter, dicker Goldreif, an dem sich ein Stein von der Größe einer Haselnuß befand, aber oben abgeplattet, und dort prangte er strichweise in den deutschen Landesfarben, also in Schwarz—Weiß—Rot.

»An diesem Ringe sind die Erd-, Luft-, und Feuergeister gebunden, die ich mir dienstbar gemacht habe. Ihre Zahl darf ich nur in einer magischen Formel aussprechen, und das würdest Du nicht verstehen — jetzt noch nicht. Die drei Farben bedeuten die Elemente, denen sie angehören. Schwarz ist die Erde, weiß ist die Luft, rot ist das Feuer.«

»Aha!« machte ich, als er mich nach dieser Erklärung erwartungsvoll anblickte.

Der Alte schmunzelte. Es war überhaupt ein ganz humoristischer alter Knasterbart, er konnte Schnurren erzählen und Witze reißen, die Mäusezimmer schallten manchmal von unserem Lachen wider, und diesen feinen Humor hatte er auch jetzt nicht etwa draußen gelassen. Obgleich er sonst ganz sachlich blieb.

»Du zweifelst, daß an diesem Ringe Geister der drei Elemente gebunden sind?«

»Zunächst mache ich darauf aufmerksam, daß wir gewöhnlich mit vier Elementen rechnen. Das Wasser fehlt noch.«

»Die arabische Magie kennt in diesem Falle nur drei Elemente. Wohl gibt es auch Wassergeister, aber diese sind den Erdgeistern untergeordnet, zählen also in dieselbe Kategorie.«

»Wohl, so will ich in diesem Falle auf das Wasser verzichten, wenn ich deswegen nicht, um meinen Durst zu löschen, Erde essen muß.«

»Also Du bezweifelst, daß an diesem Ringe Geister gebunden sind?« wiederholte der Alte seine vorige Frage.

»Gestatte mir, daß ich zunächst daran zweifle.«

»Dieser Ring kann mir durch keine Gewalt entwendet werden.«

»Weshalb nicht?«

»Die an ihn gebundenen Geister dulden es nicht. Ziehe mir den Ring ab!«

Erst nahm er ihn selbst noch einmal ab, steckte ihn wieder an den Finger und hielt ihn mir hin.

Ja, da erlebte ich allerdings schon etwas Seltsames! Er hatte den Ring ganz leicht von seinem Finger abgenommen und wieder angesteckt, jetzt aber versuchte ich vergebens, ihn abzustreifen.

Und ich wußte gar nicht, weshalb ich ihn eigentlich nicht abbrachte! Der Alte hielt seinen Finger gestreckt, ich konnte sogar deutlich sehen, wie lose der Ring auf dem Finger saß. Aber ich konnte ihn nicht abstreifen. Ich fand einen undefinierbaren Widerstand. Der Ring war wie angewachsen. Ich zog den ganzen Mann zu mir herüber, aber der Ring ging nicht ab.

Vater Abdallah machte es mir noch einmal ganz, langsam vor, wie er den Ring abnahm und ansteckte, schob ihn auf dem Finger spielend hin und her — aber mir war es unmöglich ihn vom Finger zu bringen.

Jetzt streifte er ihn wieder ab, legte ihn zwischen uns auf den Teppich

»Nimm den Ring.«

Ich wollte es, konnte es aber nicht. Der Ring wurde von einer unwiderstehlichen Kraft auf dem Teppich, obgleich dieser doch wollig war, festgehalten.

»Da ist Magnetismus im Spiele!«

»Ah, Du kluger Mann!« spottete der Alte, aber immer gutmütig. »Sieht das denn etwa aus, als ob der Ring durch Magnetismus festgehalten würde?«

Nein, in der Tat nicht! Der Flor des Teppich, wie man die aufrecht stehenden Fäden nennt, war, wie ich mich an anderen Stellen überzeugte, etwa ein Zentimeter hoch, war ganz weich, aber der Ring drückte sich nicht im geringsten ein, und dennoch vermochte ich ihn nicht abzunehmen.

»Wie ist das möglich?«

»Es gibt noch eine andere Kraft als die der Schwerkraft, oder Anziehungskraft der Erde — oder es gibt überhaupt noch etwas anderes als das, was wir das Gewicht eines Körpers nennen. In diesem Zustande befindet sich jetzt der Ring. Laß Dir das vorläufig genügen.«

Ich mußte es wohl.

»Aber auch wenn ich Dir den Ring in die Hand gebe, vermagst Du ihn nicht zu halten.«

»Er ist so schwer, daß er mir die Hand niederdrückt?«

»Nein. Es handelt sich dabei überhaupt um gar kein Gewicht.«

»Sondern?«

»Probieren wir es. Auf einen kleinen Schmerz kommt es Dir doch nicht an.«

Der Alte hob den Ring auf, ich mußte die flache Hand ausstrecken, er ließ ihn mir hineinfallen.

»Auuuu!« heulte ich etwas auf und schleuderte den Ring schleunigst von mir. Er war plötzlich glühend heiß. Ich hatte mich ganz tüchtig gebrannt, wenn auch ohne Erzeugung einer Brandblase.

»Wie ist das möglich?« fragte ich in offenem Staunen.

»Du wirst es später erfahren. Es sind eben die an dem Ringe gebundenen Geister, jetzt die Feuergeister, die dies bewirkten, während die scheinbare Schwere die Erdgeister erzeugten. Jetzt lasse ich die Luftgeister in Aktion treten. Beachte dabei, daß ich keine magischen Formeln und dergleichen gebrauche. Es geht ganz einfach zu. Komm her zu mir! Auf meinen Finger!«

Der Alte streckte seine rechte Hand nach dort aus, wo der Ring auf dem Teppich lag, ungefähr drei Meter von uns entfernt.

Da aber, wie der Alte das letzte Wort gesprochen, war der Ring dort plötzlich verschwunden, er befand sich mit einem Male auf seinem Zeigefinger.

Ja, ich staunte. Aber an Geister glaubte ich deshalb noch lange nicht. Es war für mich nur eine Gaukelei, irgendwie zustande gebracht. Und wenn ich auch annehmen wollte, daß der Alte Kenntnisse besaß, über Naturkräfte verfügte, die der anderen Welt noch unbekannt waren, so lief es doch immer auf dasselbe hinaus.

»Erst wurde der Ring vor fremden Händen durch die Erdgeister geschützt, die ihn schwer machten, das heißt ihm eine ganz besondere Art von Widerstandskraft verliehen!« erklärte Vater Abdallah weiter. »Dann machten ihn die Feuergeister heiß, jetzt trugen ihn mir die Luftgeister wieder zu. Nun werde ich die Erdgeister zusammen mit den Luftgeistern arbeiten lassen. Strecke noch einmal die Hand aus, aber fürchte nicht, daß Du nochmals gebrannt wirst. Diesmal fehlen ja die Feuergeister.«

Ich tat es, hielt die flache Hand hin, der Alte hielt in einiger Höhe den abgestreiften Ring darüber, ließ ihn fallen — und der große Ring fiel, ohne daß ich das Geringste davon merkte, glatt durch meine Hand hindurch auf den Teppich, von wo ihn der Alte wieder aufhob.

Ich sprang auf, machte in dem Raume einige Gänge hin und her, war plötzlich doch sehr erregt.

»Du glaubst wohl, Du seiest hypnotisiert, erlebtest dies alles nur in Deiner Einbildung, durch meine Suggestion?« erriet der Alte wiederum meine Gedanken.

Ja, an so etwas hatte ich tatsächlich gedacht.

Aber da gab es nichts, ich war bei voller Besinnung. Es war nicht nötig, daß ich mir erst in die Ohrläppchen kniff.

Beruhigt kehrte ich auf meinen Platz zurück. Mochte nun noch kommen, was da mochte, ich wollte es doch nur als eine Gaukelei hinnehmen.

»Bitte mache mir das Letzte doch noch einmal vor.«

»So oft Du wünschest.«

Er ließ den Ring noch mehrmals durch meine Hand fallen. Anders ist es nicht auszudrücken. Der starke Ring mit dem nußgroßen Steine ging glatt durch meine Hand hindurch. Freilich ohne daß ich dabei merkte, wie in meiner Hand etwa ein Loch entstanden wäre.

Als ich selbst den auf dem Teppich liegenden Ring einmal aufheben wollte, fand ich ihn wieder wie festgenagelt. Der Alte konnte ihn sofort wegnehmen. Oder er brauchte auch nur seine Hand auszustrecken, plötzlich war der Ring verschwunden, in einem Nichts zerflossen, und stak dafür an seinem Finger.

»Es ist dazu nicht nötig, daß ich den Befehl ausspreche, ich brauche ihn nur zu denken, und die Luftgeister führen ihn aus.«

»Mußt Du dazu die Hand ausstrecken?«

»Auch nicht nötig.«

Er steckte seine beiden Hände in die Taschen seines Kaftans, während der Ring noch zwischen uns auf dem Teppich lag.

»An welche Hand soll der Ring jetzt kommen?«

»An die linke.«

»An welchen Finger?«

»An den kleinen.«

Plötzlich verschwand der Ring vor meinen Blicken und wie der Alte seine beiden Hände aus den Taschen nahm, war der Ring am kleinen Finger seiner linken Hand.

»Streife ihn ab.«

Der Ring war viel, viel zu weit für diesen kleinen Einger, und trotzdem vermochte ich ihn nicht abzustreifen. Weshalb nicht, das vermag ich gar nicht zu sagen. Der Widerstand lag mehr in der Luft.

»Jetzt bringe ich zu den Erd- und Luftgeistern auch noch die Feuergeister, der Ring soll durch Gluthitze das Hindernis überwinden. Dazu will ich aber lieber nicht Deine Hand nehmen, denn das Brandloch bleibt. Breite den unteren Rand Deines Kaftans aus. Oder hast Du ein Tuch bei Dir?«

Das hatte ich, ich war reichlich mit Wäsche und Garderobe versehen worden.

Ich mußte das weiße Leinentuch zwischen beiden Händen straff spannen, der Ring wurde darauf gelegt, blieb liegen.

»Er wird erst durch meinen Befehl heiß, den ich nur in Gedanken zu geben brauche. Jetzt!«

Ein Qualmen, der Ring fiel durch, ein schwarzumrändertes Brandloch blieb in dem weißen Tuche zurück, ein Brandgeruch erfüllte das Zimmer.

»Wunderbar!« sagte ich, und warum sollte ich nicht staunen.

»Glaubst Du nun, daß an diesem Ringe Geister gebunden sind?«

»Nein.«

»Was glaubst Du sonst?«

»Daß dies eine Gaukelei ist, die auf irgend eine Weise zustande kommt, nur nicht durch Hilfe von Geistern an die ich nun einmal nicht glaube.«

»Wohl, mein Sohn, Du sollst und darfst auch an nichts glauben, wovon Du nicht vollständig überzeugt bist. Du sollst diese Geister noch selbst sehen. Aber eines nach dem anderen. Jetzt erlaube ich Dir, daß auch Du einmal den Ring in die Hand nimmst, die Geister sind instruiert. Schließe Deine Hand zur Faust zusammen.«

Ich hatte den Ring diesmal vom Teppich nehmen können, schloß die Finger zur Faust.

»Wie fühlt sich der Ring an?«

»Der Temperatur nach? Ganz kühl.«

»Er soll sich in Deiner Faust langsam erwärmen.«

Tatsächlich wurde der Ring warm, wohl nach und nach, aber doch viel schneller, als ihn etwa die Blutwärme erwärmt hätte.

»Wenn er Dir zu heiß wird, so wirf ihn nicht gleich fort, sondern rufe einfach Halt!«

Immer wärmer wurde der Ring, wurde heiß und immer heißer, bis ich es nicht mehr aushalten konnte . . .«

»Halt!«

Im Nu war der Ring wieder ganz kalt.

»Kannst Du Dir das auf physikalische Weise erklären?«

»Nein, aber ich glaube schon, daß es Naturgesetze gibt, welche die Physiker noch nicht kennen. Wer sie aber nun doch schon kennt und zu benutzen weiß, vermag damit wunderbare Spielereien hervorzubringen.«

»Wohl, nimm es an. Bist Du nun aber überzeugt, daß man mir den Ring nicht entwenden kann?«

»Nimm ihn mir doch jetzt noch einmal aus meiner geschlossenen Faust — auuul«

Schleunigst hatte ich den plötzlich wieder glühend heiß gewordenen Ring von mir geschleudert, ich sah ihn über den Teppich rollen, im nächsten Augenblick aber befand er sich schon wieder am rechten Zeigefinger des Alten.

»So war das nicht gemeint,« sagte ich, mir etwas ärgerlich die schmerzende Handfläche blasend, »Du solltest den Ring wesenlos durch meine geschlossene Hand hindurchgehen lassen.«

»Das konnte ich in diesem Falle nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich Dir den Ring freiwillig gegeben hatte, freiwillig mußtest Du ihn mir deshalb auch zurückgeben oder Dich doch seiner entledigen, ihn von Dir werfen.«

»Na‚ ich danke! Tat ich das etwa freiwillig?«

»Gewiß.«

»Nein, er verbrannte mir die Hand.«

»Wohl, steht es nicht ganz in Deinem Willen, Dir Deine Hand verbrennen zu lassen?«

Ja, wenn der Alte freilich so anfing — da war nichts dagegen zu machen! »Kein Mensch muß müssen,« sagt Schiller. Teufel noch einmal, dieses herrliche Wort läßt sich in der Praxis nur so schlecht durchführen.

»Hast Du ein Messer bei Dir?«

Das hatte ich ein starkes Messer in der Scheide, einen Dolch, den ich bei meinen Holzarbeiten gebrauchte, ihn aber auch immer einstecken hatte. Unsereins kann doch nicht ohne Messer sein. Ich zog ihn hervor.

»Schneide mir den Finger mit dem Ring ab.«

Ganz vorsichtig säbelte ich mit dem vorzüglichen haarscharfen Stahl über den Finger hin. Es war vergebens, ich konnte dann auch aufdrücken wie ich wollte, ich konnte nicht in das Fleisch schneiden. Warum nicht, vermag ich gar nicht zu sagen. Unter meinen Fingern konnte ich das Fleisch immer eindrücken, aber mit dem Messer fand ich einen festen, unbesiegbaren Widerstand, der mehr in der Luft als im Fleische selbst zu liegen schien.

»Wie ist das möglich?«

»Die Geister lassen dort, wo Du mich verwunden willst, immer eine feste, undurchdringliche Schicht entstehen.«

»Woraus besteht diese Schicht?«

»Aus Luft, die sich aber in einem besonderen Aggregatzustand befindet. Diese Erklärung mußt Du Dir vorläufig genügen lassen, eine andere würdest Du nicht verstehen — vorläufig noch nicht.«

Immerhin, das war schon einmal eine physikalische Erklärung gewesen!

Daß jede selbständige Substanz drei Aggregatzustände besitzt, davon sind unsere Physiker schon längst überzeugt. Also den festen, den flüssigen und den gasförmigen. Beim Wasser kommt das auch in der Natur vor: Eis, Wasser und Dampf. Daß es nun auch noch einen anderen, einen vierten Aggregatzustand gibt, ahnt man oder weiß man sogar schon durch das Verhalten des Wassers, bei besonderen Gelegenheiten. Schon beim Bilden der Eisblumen am Fenster möchte man an einen besonderen Aggregatzustand glauben. Denn sonst fällt es dem Wasser doch gar nicht ein, beim Gefrieren zu kristallisieren. Und warum versucht es nun da gerade Farrenkräuter nachzuahmen, die erste Pflanzenform, die sich auf unserer Erde entwickelte? Hier hat das tote Element offenbar schon das Bemühen, die Sehnsucht, ein lebendiges Wesen zu werden, aus der anorganischen in die organische Materie überzugehen.

Weiter dann der sogenannte sphäroidale Zustand des Wassers, schon genügend bekannt. Läßt man in eine weißglühende Metallschale Wassertropfen laufen, so benehmen sich diese ganz sonderbar — auf einer ebenen Platte entsteht der sogenannte »Leidenfrostsche Tropfen« — sie rollen und tanzen hin und her, verdampfen wohl, werden immer kleiner, aber doch ohne in richtiges Kochen zu kommen. Überhaupt müßten sich die Tropfen auf dem rot oder gar weißglühenden Blech doch augenblicklich in Dampf verwandeln. Das tun sie aber eben nicht. Kühlt sich aber nun das Blech ab, dann kommt ein Zeitpunkt, da das ganze Wasser plötzlich mit einem Knall explodiert, es ist verschwunden, hat sich urplötzlich in Dampf verwandelt.

Diese Erscheinung ist für den Physiker ein großes Rätsel. Er kennt die Erscheinung recht wohl, vermag sie sich aber nicht zu erklären. Man kann nur annehmen, daß sich das überhitzte Wasser in einem besonderen Aggregatzustand befindet. Hierdurch entstehen auch die meisten Dampfkesselexplosionen, gegen die wir uns noch gar nicht schützen können. Will man aber nun das Bestreben des Wassers, bei besonderer Gelegenheit zu Eisblumen zu kristallisieren, auf einen vierten Aggregatzustand zurückführen, so müßte man bei dem überhitzten sphäroidalen Wasser doch schon an einen fünften Aggregatzustand glauben, und daraus wieder läßt sich schlieBen, daß es überhaupt noch eine ganze Masse solcher Aggregatzustände gibt, von denen wir noch gar nichts ahnen.

Und was hätte man denn übrigens vor hundert Jahren gesagt, wenn jemand von flüssiger Luft gesprochen hätte?

Unmöglich ist absolut gar nichts! Nichts hat eine Grenze! Also auch nicht die Beschränktheit der Menschen.

»Schneide mich irgendwo anders, stich mich, wo Du willst, auch ins Auge.«

Es gelang mir nicht. Die Spitze des Messers fand überall am Körper des Alten einen undefinierbaren, aber auch unbesiegbaren Widerstand. Als ich mit aller Kraft zustieß, war es nicht anders, als ob ich gegen eine Panzerplatte treffe. Nur daß es nicht den geringsten Schall gab.

»Wunderbar, ich gestehe es! Dann aber habe ich zunächst eine Frage.«

»Bitte, mein lieber Sohn?«

»Kannst Du Dich jederzeit in diesen Zustand versetzen?«

»Ja, wenn ich will.«

»Also auch außerhalb dieses Raumes hier, draußen im Freien? Kannst Du mir alles dies auch morgen am Tage in Deinem Garten unter Gottes Sonne vormachen?«

»Ja, ich könnte es, aber ich tue es nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Das, mein lieber Sohn, verstehst Du noch nicht. Du wirst es später begreifen lernen, aber jetzt kannst Du es noch nicht. Die Sache ist die, daß ein Adept, ein Meister der Magie, alle seine Fähigkeiten nicht zu seinem eigenen Vorteile benutzen darf. Sonst ist er überhaupt gar nicht fähig dazu, oder aber er verliert seine magischen Fähigkeiten sehr schnell wieder. Wenn ich einen Schüler ausbilden will, so muß das ganz im geheimen geschehen, in einem geschlossenen Raume und in einem besonderen dazu, der immer wieder benutzt wird. Eine weitere Erklärung kann ich Dir vorläufig nicht geben. Willst Du Dir daran vorläufig genügen lassen?«

»Es genügt mir!« entgegnete ich, und wahrhaftig rann mir dabei etwas wie ein heiliger Schauer über den ganzen Leib. »Du willst mich zum Magier ausbilden?«

»Ich will. Wenn Du danach begehrst.«

»Na und ob ich will!«

»So lasse Dir vorläufig an den Experimenten genügen, die ich Dir vormache, ohne Dir eine Erklärung zu geben.«

Der Alte griff in die Luft, hatte plötzlich etwas in der Hand — ein braunes irdenes Töpfchen, sehr klein.

»Weißt Du, was das ist?«

»Das sieht bald aus wie ein Schmelztiegel.«

»Ist es auch, ein Schmelztiegel.«

»Wo hast Du den plötzlich herbeikommen?«

»Ein Luftgeist hat ihn mir auf meinen Befehl aus meinem Laboratorium zugetragen.«

»Du hast hier ein Laboratorium?« fragte ich zunächst.

»Ein vollständig eingerichtetes physikalisches und chemisches Laboratorium mit allen Apparaten und Chemikalien.«

Davon hatte mir der Alte in den vierzehn Tagen auch noch kein Wörtchen gesagt!

»Nicht wahr, der Tiegel ist leer?«

»Er ist leer.«

»Jetzt lasse ich ihn von einem Erdgeist mit Wasser füllen.«

Plötzlich war das Tiegelchen fast bis zum Rande mit Wasser gefüllt.

»Ich nehme den Ring, werfe ihn in das Wasser . . .«

Plötzlich hatte sich das Wasser in Eis verwandelt. Der Eisklumpen fiel aus dem Tiegel in meine Hand. Es war regelrechtes Eis, schmolz schon etwas wieder durch die Wärme meiner Hand.

»Und wo ist der Ring?«

»Schon wieder hier an meinem Finger.«

Zunächst hatte ich einen besonderen Gedanken.

»Hm, da hast Du ein Mittel, um Dir in Deinem Hause immer Eis zu verschaffen?«

»Du redest unbedacht, mein lieber Sohn. Habe ich Dir nicht eben gesagt, daß ich aus meinen magischen Fähigkeiten nicht den geringsten Vorteil ziehen darf?«

»Ahso. Das ist aber sehr schade. Was hat da die ganze Sache für einen Zweck?«

»Ist es nicht schon genug, den Naturkräften befehlen zu können?«

»Mir wäre das noch nicht genug.«

»Du wirst aber nicht eher Fortschritte in der Magie machen können, als bis Du zu dieser Überzeugung gekommen bist.«

»Gut, das wird sich finden. Mache mir noch etwas anderes vor.«

Der Eisklumpen wurde wieder in das Tiegelchen getan, der Alte streifte den Ring ab.

»Die Feuergeister hatten den Ring durch Ableitung der Wärme so kalt gemacht, daß er das Wasser augenblicklich in Eis verwandelte. Jetzt soll er die intensivste Hitze ausstrahlen.«

Er warf den Ring auf das Eis, sofort ein furchtbares Zischen, eine große Dampfwolke stieg auf und . . . der Tiegel war leer, hatte aber am Boden jetzt ein großes Loch, oder überhaupt gar keinen Boden mehr, nur noch einen kleinen Rand, und der Ring saß schon wieder an des Alten Finger.

»Der heiße Ring hat das Wasser nicht nur zu Dampf verflüchtigt, sondern seine Hitze war so groß, daß er gleich durch den Boden des Tiegels schmolz. Dabei mache ich Dich darauf aufmerksam, daß dieser Schmelztiegel eine Hitze von mehr als 2000 Grad Celsius verträgt, auch Platin kann man darin schmelzen, wovon Du Dich selbst in meinem Laboratorium überzeugen sollst. Stecke selbst diesen Tiegel ein.«

Ich tat es, wieder etwas kopfscheu geworden.

»Das war ein sogenannter spiritistischer Apport!« sagte ich dann.

»Ich weiß, was Du meinst. Das Herzutragen eines entfernten Gegenstandes durch Geisterhand nennt Ihr Europäer — vorausgesetzt, daß Ihr überhaupt daran glaubt einen spiritistischen Apport. Ja, das war es. Aber ich will nichts von Eurem Spiritismus wissen. Sprich einfach von einem Apport.«

»Du kannst Dir durch Deine Geister jeden entfernten Gegenstand zutragen lassen?«

»Ja.«

»Bitte, laß mir aus meinem Zimmer das Rasiermesser holen, das auf dem Spiegeltische liegt.«

»Ich könnte es durch einen meiner Geister holen lassen, aber ich will nicht, ich darf nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Ich habe es Dir schon gesagt. Weil ich aus meiner Magie nicht den geringsten Vorteil ziehen darf.«

»Dieses Rasiermesser bedeutet weder für Dich noch für mich einen Vorteil, wir bedürfen es ja nicht.«

»Es ist dasselbe. Es ist ein unnatürlicher Vorgang, der nicht erlaubt ist. Nur hier in diesem Raume darf ich zu Deiner Belehrung solche Apporte vornehmen, laß Dir das genügen, bis Du meine Weigerung später vollkommen verstehen wirst.«

»Aber Du hast Dir doch auch den Schmelztiegel zutragen lassen,« beharrte ich dennoch, »das war sogar direkt zu Deinem Vorteil, da Du ihn sonst selbst aus Deinem Laboratorium hättest holen müssen.«

»Mein Laboratorium liegt noch in der Zone, in welcher ich meine Geister zu solchen Zwecken benutzen darf.«

Der Alte war nicht zu fangen. Denn mir schrien doch so, als ob die Sache irgend einen Haken habe.

»Aber,« fuhr er fort, »ich will Dir andere Gegenstände holen lassen. Nur ist immer Bedingung, daß der betreffende Gegenstand nicht im Besitze eines lebendigen Menschen ist, daß auch kein lebendiger Mensch überhaupt davon weiß.«

Der Alte griff in die Luft und hatte plötzlich ein goldenes Armband in der Hand, prachtvoll mit farbigen Steinen besetzt, ein ganz altertümlicher Schmuck.

»Nimm es, befühle und betrachte es!«

Das Armband war eine Realität.

»Wo kommt das her?«

»Jedenfalls stammt es von einem vergrabenen oder sonstwie verborgenen Schatze, von dem kein lebendiger Mensch etwas weiß.«

»Du selbst weißt das nicht ganz genau?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Ich habe einem meiner Geister den Auftrag gegeben: schaffe mir einen Schmuck aus einem Schatze herbei, von dem kein lebendiger Mensch etwas weiß. Das Letztere wäre gar nicht nötig gewesen, denn meine Geister wissen doch schon, wie ich das halte. Und ich selbst will und darf nicht wissen, wo sich dieser Schatz in Wirklichkeit befindet, darf meine Geister deswegen nicht fragen.«

»Weshalb darfst Du das nicht wissen und darfst deswegen nicht fragen?«

»Einfach deshalb nicht, weil sich das für einen Adepten, der schon eine sehr, sehr hohe Stufe erreicht hat, nicht gehört. Das wäre eine ganz unpassende Neugier. Überhaupt eine Unmöglichkeit. Was gehen mich denn diese verborgenen Schätze an? In dieser Hinsicht muß ein Magier für die Welt schon gänzlich abgestorben sein. Schade, daß Du das noch nicht verstehst.«

»Doch, ich verstehe es bereits. Also ich darf dieses Armband auch nicht behalten und mitnehmen?«

»Nein, das darfst Du nicht. Es kommt nicht hier aus diesem Raume heraus.«

»Hier aber könnte es jahrelang liegen bleiben?«

»Unter Umständen für alle Ewigkeit.«

»Wenn aber nun dieser Schatz von einem Menschen gefunden würde?«

»Nun, was dann?« fragte mich der Alte aufmerksam.

»Dann würde noch rechtzeitig dieses Armband hier verschwinden und dort wieder an Ort und Stelle sein.«

»Du sagst es — es freut mich, daß Du jetzt den Kern der ganzen Sache zu verstehen beginnst!« lobte mich mein Lehrer.

»Laß das Armband wieder verschwinden, zurücktragen.«

»Lege es auf den Teppich.«

»Nein, lasse es zwischen meinen Fingern in Nichts zerfließen.«

»Das geht nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Aus demselben Grunde nicht, weswegen ich Dir auch den Ring nicht aus der geschlossenen Faust nehmen konnte. Weil Dir das Armband freiwillig gegeben worden ist: Also mußt Du es freiwillig auch wieder zurückgeben. Oder aber . . .«

Schnell schleuderte ich das Armband von mir, denn es war in meinen Fingern plötzlich glühend heiß geworden.

Es berührte nicht erst den Boden, es zerfloß in der Luft, verschwand einfach.

Aber ich staunte nicht mehr. Denn plötzlich war mir die Erkenntnis aufgegangen, wie dies alles ermöglicht werden konnte, ohne Hilfe von »Geistern«. Oder nicht ganz plötzlich, sondern bei der Weigerung des Alten, mir mein Rasiermesser herbeizuschaffen, hatte ich diese Erkenntnis bekommen.

Ich werde später eine vollständige Erklärung für diese Gaukeleien geben. Und auch dem Alten sagte ich nichts von meiner Erkenntnis. Ich wollte mir ruhig noch mehr von ihm vorgaukeln lassen, meine Meinung würde er schon später zu hören bekommen. Jetzt wollte ich den Gläubigen spielen, wenigstens so halb. Wenn ich mich noch über etwas wunderte, so war es höchstens über die Konsequenz des alten Gauklers und . . . Gauners, möchte ich gleich sagen. Denn er hätte mir recht wohl den Ring wie das Armband direkt aus der Hand »herauszaubern« können. Daß er das aber nicht tat, dafür einen Grund anzugeben wußte, das war eben seine ganz raffinierte Schlauheit, wie der Leser später merken wird.

»Kann ich mir von Deinen Geistern noch etwas anderes apportieren lassen?«

»Also Du glaubst jetzt, daß ich über Geister gebiete?« fragte er da rasch.

»Noch nicht so ganz. Ich glaube aber, daß Du in Dir selbst magische Fähigkeiten besitzest, durch welche Du diese Phänomene erzeugst.«

»Gut, nimm das vorläufig an.«

»Also kannst Du mir noch etwas anderes herbeischaffen.«

»Gewiß. Alles, was Du willst. Nur muß es immer den genannten Bedingungen entsprechen. Kein Mensch darf durch das Verschwinden eines Gegenstandes erschreckt werden, er darf ihn nicht vermissen, überhaupt darf kein Mensch von seinem Vorhandensein etwas wissen.«

»Ich verstehe schon. So bitte ich um einen kleinen Diamanten aus demselben Schatze.«

»Wenn ein solcher loser Diamant bei dem Schatze vorhanden ist, ausgebrochen darf er nicht werden. Oder aber . . . nun, sehen wir zu. Strecke Deine Hand aus.«

Ich tat es, und da lag auch schon auf meiner Hand ein erbsengroßer Diamant.

»Dieser Stein ist mir also freiwillig in die Hand gegeben worden.«

»Gewiß doch . . .«

Schnell hatte ich das Ding verschluckt. Auf so eine Pille im Magen kam es mir doch nicht an.

Der Alte machte ein höchst bestürztes Gesicht, dann erhob er warnend die Hand.

»Mein lieber Sohn, so etwas mach nicht wieder!« sagte er, streckte die Hand aus und hatte darauf den oder einen anderen Diamanten.

»Ist das derselbe?«

»Derselbe, ich habe ihn durch Deinen Körper wandern lassen.«

»Ich habe aber nichts von brennendem Schmerz gespürt, und der Stein war mir doch freiwillig gegeben worden, wie kann man ihn denn da wieder aus meinem Magen herausholen?«

»Aber es war Dir nicht erlaubt worden, ihn zu verschlucken, nur in der Hand durftest Du ihn behalten. So konnten ihn auch meine Geister wieder aus Deinem Magen holen.«

Der Alte war nicht zu fangen, blieb sich immer konsequent.

»Willst Du sonst noch etwas hergetragen haben?« fragte er, als das Steinchen wieder spurlos verschwunden war.

»Was ich will?«

»Gewiß. Was Du willst. Wenn es den Bedingungen entspricht, und wenn es in diesen Raum hereingeht.«

»Es darf auch im Meere liegen?«

»Sicher.«

»In jeder Tiefe?«

»In jeder.«

»Auf dem Meeresboden liegen gesunkene Schiffe genug . . .«

»Aber mein lieber Sohn,« unterbrach er mich, »so ein ganzes Schiff geht doch nicht in diesen engen Raum!«

»Nenee,« lachte ich, »das verlange ich ja auch gar nicht. Nur einen Gegenstand aus solch einem Wrack. Kann ich da näher wählen?«

»Das kannst Du.«

»So möchte ich ein Geschütz eines Schiffes von der spanischen Aramada haben, das damals gesunken ist.«

»Willst Du noch ein näheres Schiff bezeichnen?«

»Das ist nicht nötig.«

»So gib acht, erschrick nicht — jetzt!«

Ein donnerndes Poltern, und zwischen uns lag ein gelbes Geschützrohr von fast zwei Meter Länge und einem viertel Meter Durchmesser, ganz naß hier und da mit Algen und anderen Seepflanzen übersponnen.

Ja, ich war mächtig erschrocken. Sonst wäre ich doch kein normaler Mensch gewesen. Aber nur die Plötzlichkeit und das Poltern hatten mich so erschrocken. Das Phänomen selbst sonst nicht. Das konnte ich mir also bereits erklären. Aber das brauchte der Alte noch nicht zu wissen.

Es war ein Broncerohr, so schwer, daß ich es nicht zu heben vermochte. Ziseliert und auch sonst mit erhabenen Verzierungen versehen, hinten auf der rechten Seite war das Wort »Pendula« eingraviert — die Feder — wohl der Schiffsname auf der rechten Seite die Zahl 1573.

Die spanische Armada ging im Jahre 1588 gegen England vor.

»Bist Du zufrieden?«

Ich kostete das herabrinnende Wasser. Es schmeckte salzig.

»Ganz erstaunlich!« sagte ich, freilich ziemlich trocken. »Also Entfernung und Gewicht spielen für Deine Geister gar keine Rolle.«

»Nein. So wenig es für den Gedanken eine Entfernung gibt, so wenig auch für die Geister, über die ich befehle.«

»Und das Gewicht?«

»Weißt Du, was Schwerkraft ist?«

»Nach langen Spekulationen ist die neueste Theorie die, daß alle Schwerkraft aus Schwingungen des Äthers beruht, der jeden Gegenstand durchdringt.«

»Das ist auch die richtig erkannte Wahrheit.«

»Also verstehen seine Geister diese Ätherschwingungen aufzuheben?«

»Sie können es, aber in diesem Falle machen sie es anders, daß sie jedes Gewicht mit Gedankenschnelle hierher schaffen können.«

»Wie machen sie es?«

»Sie dematerialisieren jeden Gegenstand erst, den sie herbeischaffen wollen, und materialisieren ihn hier wieder. Verstehst Du, wie das gemeint ist?«

Ich verstand es und hoffe, daß es auch jeder Leser versteht. Denn sonst wäre dazu eine gar komplizierte Erklärung nötig. Freilich muß man da immer etwas an Magie glauben, obwohl es im Grunde genommen auch nicht nötig wäre.

»Also auch diejenigen Schwingungen des Äthers, welche die Schwerkraft oder einfach das Gewicht jedes Körpers erzeugen, können Deine Geister aufheben?«

»Sie können es.«

»Dann müßte doch auch dieses Geschützrohr gewichtslos gemacht werden können.«

»Es ist bereits geschehen. Hebe es.«

Wieder erschrak ich sehr. Nämlich weil ich mich auf mehrere Zentner gefaßt gemacht hatte, die ich überhaupt nicht heben konnte, und nun fand ich das Rohr federleicht. Oder überhaupt ohne jedes Gewicht.

»Lasse es los.«

Ich tat es, und das große Broncerohr blieb frei in der Luft schweben. Natürlich, wenn ein Gegenstand absolut gar kein Gewicht hat, dann muß er wohl dort in der Luft hängen bleiben, wo man ihn losläßt.

Mit einem Male war das Rohr vor meinen Blicken verschwunden.

»Meine Geister haben es an Ort und Stelle zurückgebracht.«

Ich blickte auf den Teppich der vorhin ganz naß gewesen war. Jetzt war keine Spur von Wasser mehr zu bemerken, ebenso wenig wie an meinen Händen, die eben noch getrieft hatten.

»Wo ist dieses Wasser hin?«

»Das ist ebenfalls schon wieder dort, von wo es gekommen ist. Aber Du stellst Dir doch nicht etwa vor, daß es meine Geister aufgewischt und so hingetragen haben. Das geschieht alles auf magische Weise, verstehst Du?«

Wenn da überhaupt etwas zu verstehen war, so hatte ich es verstanden.

»Was willst Du sonst noch von meinen Geistern herbeigeschafft haben?«

»Zunächst interessiere ich mich am meisten für diese Aufhebung der Schwerkraft. Das können Deine Geister bei jedem Gegenstande?«

»Bei jedem.«

»Auch der sich von vornherein in diesem Raume befindet?«

»Gewiß.«

»So müssen sie doch auch mich selbst gewichtslos machen können.«

»Das können sie auch. Du bist es.«

Plötzlich überkam mich ein ganz merkwürdiges, schauerliches Gefühl.

Wohl konnte ich alle meine Glieder noch bewegen, aber mit ihnen absolut keinen Druck ausüben. Ich konnte die Finger auf meinen Arm legen, aber nicht ins Fleisch kneifen. Konnte den Mund öffnen, den Finger zwischen die Zähne stecken, aber nicht so darauf heißen, daß ich das leiseste Gefühl davon hatte. Von einem Aufstehen gar nicht zu sprechen . . . ein ganz undefinierbarer Zustand.

»Ich habe die Gewichtslosigkeit nur einen Teil Deiner Muskeln treffen lassen!« sagte der Alte. »Wollte ich die Ätherschwingungen in Deinem Körper vollständig aufheben, so könntest Du ja auch nicht mehr die Augen verdrehen, überhaupt nicht mehr sehen, die Sehnerven versagten den Dienst, Du könntest nicht mehr sprechen, nicht atmen, Dein Blutschlag stockte sofort, Du wärest einfach tot. Nur wer genügend Erfahrung darin hat, darf solche Experimente machen, ich wollte es Dir einmal zur Warnung dienen lassen. Es gibt die verschiedensten Grade bei dieser Gewichtslosigkeit. Jetzt versetze ich Dich in den Zustand der absoluten Gewichtslosigkeit, wobei Du aber doch alle Deine Fähigkeiten beibehältst, und Deine Bewegungen sollen allein durch die Kraft Deines Willens reguliert werden. Wolle, daß Du emporschwebst, und Du wirst emporschweben.«

Ich konzentrierte meine Gedanken auf diesen Wunsch, und sofort schwebte ich empor, bis zur Decke. Ich konnte diese mit den Händen betasten, mich auch von ihr abstoßBen, aber es hatte keinen Zweck, diese Bewegung wurde nicht fortgepflanzt. Doch ich brauchte nur den Willen zu haben, so senkte ich mich wieder herab, langsam oder schnell, ganz wie ich wollte. Ich konnte mich in der Luft überschlagen, und auch meine Kleider machten diese ruhige Bewegung mit, wurden also nicht selbständig zur Erde herabgezogen. Aber auch vom Boden konnte ich mich nicht mit den Füßen abstoßen, nur allein der Wille dirigierte alle meine Bewegungen.

So trieb ich es längere Zeit, mich an dieser seltsamen Fliegerei ergötzend.

Dabei war mir immer ganz klar, wie dies alles ermöglicht werden konnte, ohne Geisterkraft und ohne die magischen Fähigkeiten eines Adepten. Oder überhaupt jeder Mensch ist so ein Hexenmeister, ohne daß er es weißt. Er muß diese für gewöhnlich unbewußte Fähigkeit nur erkennen. Davon wollte ich aber dem Alten noch nichts sagen.

Mit einem Male, wie ich gerade langausgestreckt in halber Höhe des Zimmers schwebte, strengte ich meine Willenskraft vergebens an, ich konnte zappeln nach Herzenslust, aber heraus kam ich nicht wieder aus dieser Lage.

»Was ist denn das?!«

»Ich habe Dir den Willen über Deine Bewegungen entzogen, jetzt mußt Du dort oben hängen bleiben bis in alle Ewigkeit!« schmunzelte der Alte, auch als ehrwürdiger Adept immer noch ein Humorist.

»Es ist genug!« lachte ich nach einer Weile, als alle meine Bemühungen, mich selbst aus dieser Lage zu befreien, erfolglos blieben.

Langsam senkte ich mich herab, wie ich gewollt hatte, kam zum Sitzen, und da fühlte ich mein Körpergewicht mit einem Ruck zurückkehren, mit der Fliegerei war es vorbei.

»Was sagst Du hierzu?« lächelte der Alte. »Wie hat Dir das gefallen?«

»Ein ganz wunderbarer — —— Zustand.«

Bald hätte ich mich verplappert.

Aber der Alte brauchte nicht besonders scharfsinnig zu sein, um meine Gedanken zu erraten.

»Du meinst wohl, daß Du dies alles nur träumst?«

Ich faßte an meine Nasenspitze und verdrehte die Augen.

»O nein, ich träume doch nicht. Ich befinde mich bei vollem Bewußtsein.«

»Willst Du diesen Raum einmal verlassen?«

»Ja, wenn ich darf.«

»Gewiß, warum nicht? Du kannst gleich etwas holen. Ich will, da ich einen so gelehrigen Schüler an Dir habe, diese erste Experimental—Vorstellung doch gleich länger ausdehnen, als ich zuerst beabsichtigte. Ich könnte mir die dazu nötigen Sachen durch meine Geister herbeischaffen, aber es ist besser, wenn Du sie selbst holst, es gewinnt mehr Realität. So gehe in das erste Stockwerk, gleich an der Treppe links die zweite Tür, sie ist unverschlossen, es war das Spielzimmer meiner Kinder, jetzt unbenutzt, aber Du findest noch genug Spielzeug darin, hole so eine Schachtel, die auf einem Simse steht, die hölzerne Tiere enthält, Du wirst sie schon finden, brauchst ja nur hineinzusehen. Laß hier die Tür offen, daß Du Dich gleich zurückfindest.«

Ich erhob mich, nahm die Lampe mit, öffnete die Tür, trat hinaus.

In diesem Augenblicke erfaßte mich ein großes Staunen, ich wurde an meiner ganzen Erklärungstheorie irre.

Doch schnell war das wieder überwunden. Nein, meine Theorie war dennoch ganz richtig.

In dem Keller konnte ich mich nicht verirren, erstieg die Treppen, fand das betreffende Zimmer, in dem es bunt genug aussah, blickte in verschiedene Schachteln, nahm eine, die eine ganze Menagerie enthielt. Es war Nürnberger Spielzeug, welches ja die ganze Welt beherrscht.

So begab ich mich in den Keller zurück, fand die offene Tür, trat ein. Der Alte saß noch so da, wie ich ihn verlassen hatte.

Als ich die Lampe aufhing, bemerkte ich, wie sich die Tür von selbst schloß, woraus ich mir nichts weiter machte.

Vater Abdallah nahm die Schachtel, schüttete alle die zahmen und wilden Tiere aus und setzte den Deckel umgestülpt zwischen uns.

»Meine Experimental-Vorstellung artet mehr in eine Gaukelei aus. Aber das ist nur scheinbar. Da müßte man erst definieren, wo die Gaukelei respektive die Wissenschaft beginnt und wo sie aufhört. Das wollen wir nicht tun. Aber eine kleine Erklärung muß ich diesmal doch vorausschicken.

Durch die magische Kraft meiner Geister sollen diese hölzernen Tierfiguren lebendig werden.

Aber Du kannst nicht verlangen, daß sie dem Holze wirkliches Leben einhauchen, sonst besäßen sie göttliche Kräfte, was nicht der Fall ist. Es ist nur ein imaginäres Leben, was Du zu schauen bekommst. Wie das zu verstehen ist, werde ich Dir später erklären, wenn Du auch theoretisch so weit bist.

Jetzt laß Dir nur folgendes gesagt sein: es gibt nur einen einzigen Urstoff. Aus diesem bestehen alle Elemente, jetzt in chemischen Sinne gesprochen. Sauerstoff oder Eisen oder Kohlenstoff oder Kupfer oder Wasserstoff oder Quecksilber oder Stickstoff — es ist immer ein und derselbe Urstoff, der sich nur immer in einem anderen Aggregatzustand befindet, was durch verschiedene Schwingungswellen des Äthers verursacht wird.

Weshalb die Ätheratome, selbst aus diesem Urstoffe bestehend, einmal so und einmal so schwingen, das vermag ich Dir nicht zu erklären. Ich kann es, aber Du würdest mich jetzt noch nicht verstehen, und wenn Du auch der größte Physiker der Erde wärest. Das läßt sich überhaupt nur intuitiv erfassen.

Wer nun diese Ätherschwingungen nach Belieben verändern kann, der vermag ein chemisches Element in das andere zu verwandeln. Der Adept kann es. Geister einer höheren Stufe vermögen noch mehr. Die können zum Beispiel auch Eisen oder Holz in Kautschuk verwandeln. Wie aber dies nun möglich ist, das vermag ich Dir jetzt ganz und gar nicht zu erklären. Diese Verwandlung ist überhaupt nur imaginär aufzufassen.

Ich komme kurz zum Resultat: die Kraft meiner Geister verwandelt dieses Holz in Gummi oder Kautschuk.«

Mit diesen Worten reichte mir der Alte ein hölzernes Reh, ungefähr fünf Zentimeter hoch sehr plump geschnitzt, braun angemalt.

»Das ist einfach Holz!« sagte ich.

»Aber jetzt nicht mehr.«

In der Tat, mit einem Male konnte ich die dünnen Beine bewegen, den Leib etwas zusammendrücken, was ich vor wenigen Sekunden noch nicht vermocht hatte.

»Das Holz ist also plötzlich Kautschuk geworden?!«

»Frage nicht so. Nein, es ist weder Gummi noch Kautschuk geworden. Es ist noch dasselbe Holz, hat aber durch den Willen meiner Geister, indem sie durch die Substanz andere Ätherschwingungen leiten, die Eigenschaften des Kautschuks angenommen. Bitte, laß Dir doch vorläufig an dieser Erklärung genügen.«

»Sie genügt mir.«

»Gut. Du kannst also nicht verlangen, daß ein Geist, so hoch er auch schon stehen mag, einem toten Gegenstande Leben einhaucht. Du kannst auch nicht verlangen, daß er diesem hölzernen Reh Blut einflößt, daß durch das Herz Blut in den Adern pulsiert, daß er ihm Eingeweide gibt. Es ist nur ein scheinbares, ein imaginäres Leben, welches der Geist dem hölzernen Tiere zu verleihen mag. Dies sage ich Dir, weil ich Dich nicht betrügen will. Und nun setze die Figur auf den Deckel.«

Ich tat es und . . . das kleine Reh wurde einfach lebendig! Lief und sprang auf dem Deckel herum, hob den Hinterfuß und kratzte sich zierlich am Halse.

Ich staunte — nein, ich war entzückt! Ein Anblick von unbeschreiblichem Reiz, wie sich das winzige Tierchen so ganz natürlich bewegte.

Und — seltsam — in diesem Augenblick entstand in meinem Kopfe ein Plan!

In diesem Augenblicke dachte ich lebhaft an eine Flucht, um von hier fortzukommen.

Aber nicht allein, sondern . . . ich nahm diesen Hexenmeister mit! Wenn er nicht freiwillig wollte, dann mit Gewalt! Ich nahm ihn einfach auf den Buckel.

Jawohl, der mußte mit auf unser Schiff! Dann wurde es erst ein richtiges Gauklerschiff, der gab der Sache erst die richtige Würze.

Doch genug jetzt hiervon, ich beobachtete weiter, immer entzückter.

Der Alte nahm einen der kleinen Büsche, wie solche und Bäumchen zu dem ganzen Tierpark gehörten, aus getrocknetem Schilf oder sonst etwas gefertigt, sehr plump, grün angemalt, setzte ihn auf den Deckel, und alsbald ging das Reh hin, knusperte, fraß das grüne Zeug.

»Dies ist ein imaginäres Verzehren!« erklärte der Alte. »Das Tier hat ja keinen Magen, nicht einmal Zähne. Es ist nur imaginär, das Ganze wird durch die Kraft der Geister auf meinen Wunsch arrangiert. Aber nicht etwa, daß Du dies nur in Deiner Einbildung siehst. Es geschieht dennoch in Wirklichkeit. Aber es ist nur eine Transmutation, wie wir sagen, eine gleichzeitige Dematerialisation und Wiedermaterialisation. Eine andere Erklärung kann ich Dir jetzt nicht gehen.«

Ich brauchte überhaupt gar keine Erklärung mehr, wollte sie gar nicht hören.

Ich amüsierte mich königlich, wie das zierliche Rehchen die Blätter abknusperte und was es sonst für Kapriolen trieb.

»Kann ich es anfassen, aufheben?«

»Gewiß.«

Ich tat es. Das Reh bewegte sich zwischen meinen Fingern, wie — wie . . . wie sich ein natürliches Reh zwischen den meterlangen und entsprechend dicken Fingern eines hundert Meter großen Riesen bewegt hätte.

»Daß mich Allah nicht straft!« begann da Vater Abdallah. »Das sind nicht etwa selbständige Bewegungen, welche die bewegliche Holzfigur da ausführt. Diese Bewegungen werden nur durch die Willenskraft meiner Geister ausgeführt, durch meine Suggestion.«

»Ich verstehe, ich verstehe.«

»Desto besser. Dann wird Allah meinen Frevel schon eher verzeihen, dann kann ich Dir auch noch mehr zeigen.«

Die ganze Arche Noah wurde lebendig. Alle die kleinen Schäfchen und Löwen und Hühnchen und Elefanten und Schweine und Panther erhoben sich, streckten und dehnten sich und trollten umher, nicht etwa nur auf dem Holzdeckel, sondern im ganzen Raume, und die Ziegen und Gemsen benutzten mich als Felsengebirge, auf dem sie herumkletterten.

Ich weiß nicht, wie lange ich diesem Treiben zugeschaut habe, will es auch nicht weiter beschreiben.

Jedenfalls war ich manchmal außer mir vor Entzücken.

Dann dachte ich an etwas, vermißte nur eines noch.

»Kann so ein Raubtier solch ein Schäfchen auch zerreißBen und fressen?«

»Ja, das ist möglich. Es ist überhaupt nichts unmöglich. Aber ich mag es Dir nicht vorführen, aus besonderen Gründen nicht. Das magst Du später selbst tun, wenn Du dies alles aus eigener Kraft arrangieren kannst. Und wenn ich Dir noch Weiteres zeigen soll, so müssen wir hiermit abbrechen. Bist Du damit einverstanden?«

»Gut, lasse die Tierchen wieder zu hölzernen Figuren erstarren, so schwer es mir auch fällt, mich von diesem Anblick zu trennen.«

Es geschah, aber anders, als ich erwartet hatte.

Ich hatte geglaubt, alle die Tiere würden urplötzlich wieder auf einem Haufen liegen. Aber sie erstarrten dort, wo sie gerade gestanden hatten, purzelten zum Teil um. Ich erwähne nachträglich, daß ein Schäfchen immer auf drei Beinen herumgehopst war, weil das vierte eben abgebrochen war.

Der Alte selbst las die einzelnen Figuren zusammen, aus den entferntesten Ecken.

»Das hast Du nicht nötig,« sagte ich, noch im Anfange dieser Beschäftigung, »Du kannst die Tiere auch von Deinen Geistern zusammentragen lassen.«

»Wie Du willst.«

Und sie wurden wirklich von unsichtbaren Händen zusammengetragen, schwebten einfach durch die Luft und wurden in der Schachtel verpackt.

Es konnte mich nicht mehr irritieren. Ich wußte schon, was hier im Spiele war.

In dieser letzten Phase, als die allgemeine Erstarrung eintrat, hatte ich besonders scharf den abgefressenen Busch beobachtet, und richtig, wie mit einem Schlage hatte der plötzlich alle seine grünangemalten Blätter wiedergehabt.

»Was willst Du jetzt sehen?«

»Kannst Du in die Zukunft schauen?«

»Ja. Aber ich tue es nicht, weder für mich selbst noch für andere.«

Ich hatte diese Antwort erwartet. Man bekommt sie von allen sogenannten Adepten. Ich will mich darüber nicht weiter aufhalten.

»Werde ich diese Kunst erlernen?«

»Ja. Aber sobald Du wirklich in die Zukunft schauen kannst, wirst Du von dieser Gabe keinen Gebrauch mehr machen.«

Es war nur noch eine Prüfung gewesen, ob ich auch richtig geurteilt hatte. Es war der Fall gewesen.

»Kannst Du Tote beschwören?«

Mit einem Male wurde Vater Abdallah ganz scheu, machte dann mit beiden Händen eine Bewegung wie ein alter Pferdejude, der sich keinen abgetriebenen Gaul aufschwatzen lassen will.

»Verschone mich mit Toten! Ich treibe keine Nekromantie. Laß die Toten in Frieden ruhen.«

»Kannst Du Lebende erscheinen lassen?«

»Ja, das kann ich. Aber würdest Du glauben, daß es wirklich lebende Menschen sind?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Sondern?«

»Es sind nur visionäre Erscheinungen.«

»Du sagst es. Doch laß das jetzt. Ich wollte Dir jetzt andere Experimente nach Deiner Wahl vorführen. Ja, Du sollst später selbst Tote beschwören können.«

»Wirklich?!«

»Wenn Du ein folgsamer Schüler bist und den Mut dazu hast. Fühlst Du Dich übrigens nicht recht müde?«

In der Tat, ich wurde schläfrig. Wenn es jetzt vielleicht früh um vier war, so war ich schon fast zwanzig Stunden wach, und dasselbe galt von dem Alten. Wir hatten wegen einer besonders interessanten Arbeit in unseren Mäusezimmern gestern auch den ganzen Tag wachend verbracht.

»Wieviel Uhr mag es sein?« fragte ich.

Daß der Alte keine Uhr bei sich hatte, wußte ich.

»Nun, ich brauche ja nur meine Geister zu fragen. Wieviel ist die Uhr? Klingelzeichen!«

Kling ging es, und so noch viermal.

»Schon fünf Uhr. Wieviel Minuten nach fünf?«

Kling — kling — kling.

»Drei Minuten nach fünf. Ich dächte, wir brächen unsere Sitzung für heute ab.«

»Ich bin damit einverstanden.«

»Dann nur noch eine kurze Lektion, mein lieber Sohn, überhaupt die erste. Jedenfalls aber beginnt jetzt Deine Ausbildung zum Magier. Einfach durch die Kräftigung Deines Willens. Ihr Deutschen habt ja auch ein entsprechendes Stichwort, in dem das ganze Geheimnis enthalten ist. Wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt. Also auch die Naturelemente. Willst Du die Übungen beginnen?«

»Ich will.«

»So gebe ich Dir als erste Willensübung nichts weiter auf, als daß Du drei Tage und drei Nächte lang nicht mit mir über alles das sprichst, was Du jetzt gesehen hast. Kein einziges Wort! Wenn Du irgend kannst, so denke auch gar nicht daran.«

»Das erstere wird mir leicht, das letztere dürfte mir schwer fallen.«

»Es ist nicht so schwer, wie man glaubt. Du mußt jeden auftauchenden Gedanken daran sofort zurückdrängen. Das einfachste ist, daß Du in diesem Falle sofort ein Rechenexempel im Kopfe zu lösen beginnst. Multipliziere etwa eine mehrstellige Zahl. Verstehst Du?«

»Ich verstehe und werde es zu befolgen versuchen.«

»Dieses Gedankenauslöschen braucht Dir vorläufig noch nicht zu gelingen, wenn Du nur drei Tage lang, mit jeder Frage und überhaupt mit jedem gesprochenen Worte zurückhältst. Den meisten Menschen würde dies nicht gelingen. Das ist schon Willensstählung genug. So laß uns schlafen gehen.«

Wir verließen den Raum, die Lampe mitnehmend, brauchten sie aber oben gar nicht mehr, der Morgen graute bereits!

Und ich brauchte auf meinem Lager auch nicht erst mehrstellige Zahlen im Kopfe zu multiplizieren, ich schlief sofort ein, blieb auch von jedem Traume verschont. Also von einer Aufregung gar keine Spur.


68. KAPITEL., EINE TOTENBESCHWÖRUNG.

Die drei Tage und Nächte vergingen wie gewöhnlich im Spiele mit unseren Mäusen.

Wohl hielten wir uns in diesen Zimmern immer des Nachts auf, weil eben nur da die Tierchen lebendig waren, wobei es keinen Zweck hatte, die Fenster bei Tage zu verdunkeln, diese Tiere wurden von ihrem Instinkt geleitet, deshalb störte sie auch das Lampenlicht nicht, aber wir selbst wurden dabei nicht zu regelrechten Nachttieren.

Es ging immer nur bis höchstens früh um vier, dann wurde bis um acht geschlafen, die herrlichen Morgen genossen wir in dem großen Hofgarten, uns nur unterhaltend, dann am Nachmittage eine mehrstündige Siesta, bis wir uns gegen acht wieder in den Mäusezimmern zusammenfanden.

So hielten wir es auch jetzt, und Vater Abdallah legte mir nach wie vor die Suren des Korans aus, mir in aller Gemütsruhe erklärend, wie der Prophet jegliche Zauberei aufs strengste verboten habe.

Ich tat jener Vorgänge mit keinem Worte Erwähnung und brachte es dank jenes Rezeptes mit der Kopfrechnerei auch immer besser fertig, jeden auftauchenden Gedanken daran zu verbannen.

So saßen wir auch am Morgen des dritten Tages in einer Rosenlaube des Gartens, schlürften köstlichen Mokka und schmauchten dazu gemeinschaftlich eine Wasserpfeife, saßen nun schon eine Stunde so, seit jenem Termin waren schon 76 Stunden vergangen, während 3 mal 24 doch nur 72 macht, und Vater Abdallah hatte den Bann noch immer nicht gebrochen, ich aber auch nicht.

Da legte er das Mundstück des Schlauches weg.

»Mein Sohn, Deine Schweigezeit ist schon vier Stunden überschritten.«

»Ich weiß es.«

»Und Du stellst keine Frage, sprichst kein Wort darüber?«

»Ich habe Zeit, ich kann warten.«

»Wohl, Du hast die erste Prüfung bestanden, hast noch mehr Energie gezeigt, als ich Dir zugetraut habe, obgleich ich Deinen Charakter doch so ziemlich beurteilen kann. Sonst würde ich Dich gar nicht als Adeptenschüler annehmen. Und daß Du nicht teilnahmslos bist, weiß ich ebenfalls. Also sprechen wir nun darüber. Glaubst Du, daß ich über Geister gebiete?«

»Nein.«

»Du glaubst überhaupt noch nicht an Geister?«

»Nein.«

»Wohl. Wie hast Du Dir die Sache nun unterdessen zurechtgelegt, wie ich die Phänomene zustande bringen kann?«

»Ich durfte ja während der drei Tage gar nicht daran denken, und es ist mir dank Deines Rezeptes auch so ziemlich gelungen.«

»Sprich nur.«

»Alles, was Du mir da vormachtest, entbehrte der Realität. Ich habe dies alles nur geträumt, Du hast mir nur suggeriert, daß ich dies alles sehen und erleben soll. Das Tuch mit dem Brandloch und der Schmelztiegel waren präpariert.«

»So ist es!« bestätigte der Alte sofort, eigentlich zu meiner Verwunderung. »Aber glaubst Du etwa, daß Du in der schwarzen Kammer schlafend gelegen hast?«

»Nein, das allerdings kann ich nicht glauben.«

»Hast Du auch nicht. Wie die ganze Sache eigentlich zusammenhängt, kann ich Dir immer noch nicht erklären, Du würdest mich noch nicht verstehen. Jedenfalls aber hast Du recht. Du bist durch meine Willenskraft beeinflußt worden, alles das zu sehen und zu erleben, was Du sehen und erleben solltest und sogar wolltest, Du hast mit mir gesprochen, hast Dich bewegt, hast die Spielschachtel geholt. Hast das hölzerne Reh in den Fingern gehalten. Aber ein Kanonenrohr war nicht vorhanden. Und so weiter und so weiter. Es handelt sich einfach um eine besondere Art von Hypnotik, von der Ihr Abendländer noch gar keine Ahnung habt . . . «

»Wie sie aber auch die indischen Fakire bei ihren Experimenten ausüben.«

»Ja, so ungefähr. Die arabische ist aber wiederum eine ganz andere Art. Doch laß das jetzt. Oder hast Du sonst noch eine Frage, die ich Dir jetzt gleich beantworten kann? Dann bin ich bereit dazu.«

»Kannst Du dieselben Sinnestäuschungen auch hier im Freien erzeugen?«

»Auch hier im Freien im Sonnenlichte. Allerdings sind sie dann nicht so scharf ausgeprägt, es können Störungen eintreten. Am besten gelingt es mir in dem schwarzen Samtzimmer, dort vermag ich meine Gedanken und meine Willenskraft am meisten zu konzentrieren.«

»Nun willst Du aber doch nicht mehr behaupten, daß es Geister gibt, die Du Dir dienstbar gemacht hast.«

»Ja, und dennoch ist es so! Nur darfst Du dabei nicht wie es die Menschen nun freilich einmal halten, an menschenähnliche Wesen denken, die in der Luft herumschweben, womöglich angetan mit weißen Leichenhemden. Was ist denn überhaupt ein Geist? Jeder Gedanke ist überhaupt ein Geist . . .«

Er sprach noch weiter. Ich will es aber nicht wiedergeben.

Wenn er so anfing, dann freilich hatte er recht, dann gab es Erd-, Luft- und Feuergeister. Dann wollte ich auch daran glauben.

»Laß das jetzt,« schloß er bald selbst seinen Sermon, »das läßt sich mit Worten überhaupt gar nicht ausdrücken, das wirst Du später alles verstehen. Willst Du die Fähigkeiten erwerben, solche magische Künste, wie wir jetzt einfach sagen wollen, auszuüben?«

»O ja, das möchte ich recht gern.«

»Die erste Prüfung, die des Schweigens, hast Du schon bestanden. Willst Du Dich der zweiten unterziehen?«

»Worin besteht die?«

»Du mußt drei Tage und drei Nächte in völliger Einsamkeit verharren.«

»Dazu bin ich bereit. Ich bin mir immer selbst der beste Gesellschafter gewesen.«

»Im Finstern.«

»Das macht mir nichts aus.«

»Du mußt dabei fasten.«

»Gar nichts essen?«

»Gar nichts.«

»Das gefällt mir nun weniger. Ich bin nicht sehr fürs Hungern.«

»Nur trinken darfst Du, Wasser.«

»Das ersetzt kein Essen. Wenn ich nur wenigstens gleich ein Resultat davon habe, eine Entwicklung meiner magischen Fähigkeiten, wovon ich jetzt nach dem dreitägigen Schweigen noch absolut nichts merke.«

»Das sollst Du.«

»Ein Resultat davon haben?«

»Ja. Sofort. Noch während dieser Fastenzeit in finsterer Einsamkeit.«

»Und worin besteht dieses?«

Immer feierlicher wurde der Alte, ganz ausnahmsweise.

»Du wolltest doch, daß ich Tote beschwöre.«

»Ja, darum bat ich Dich.

Ich selbst darf es nicht. Du aber bist ein Christ, dem so etwas nicht verboten ist.«

»Ich bin bereit dazu. Sage mir nur, wies gemacht wird.«

»Diese Totenbeschwörung kann nur in einem besonderen Raume vorgenommen werden, hier in diesem Hause. Aber der Raum befindet sich im Keller, noch tiefer als jenes schwarze Zimmer.«

»Ob unter dem Dache oder im tiefsten Keller, das ist mir gleichgültig.«

»Daß Dir nichts passiert, das weiß ich bestimmt, sonst würde ich solch ein Experiment gar nicht vornehmen, und ebenso weiß ich, daß es auch Deine geistige Konstitution erlaubt. Es ist unmöglich, daß Du dabei etwa in Wahnsinn verfällst. Nur gestört darfst Du während der dreimal vierundzwanzig Stunden nicht werden, absolut nicht, sonst allerdings könnte etwas Böses eintreten.«

»Was Böses?«

»Irgend etwas Schreckliches. Was, weiß ich selbst nicht. Kurz, Du darfst nicht gestört werden.«

»Dann laß mich nur ungestört.«

»Ich muß Dich einschließen, denn Du selbst darfst den Raum vor der festgesetzten Frist nicht verlassen. Also ich meine: selbst wenn Du während dieser Zeit um Hilfe rufst, darf ich den Raum nicht betreten.«

»Weshalb soll ich denn um Hilfe rufen?«

»Nicht etwa, weil Du irgend etwas Schreckliches erblickst. Das wird überhaupt alles anders werden, als Du jetzt vielleicht denkst. Jede reelle Geistererscheinung hat gar nichts Schreckhaftes an sich. Du wirst mit den Erscheinungen so ruhig sprechen können, wie mit einem lebenden, Dir befreundeten Menschen. Aber Du könntest etwa krank werden, könntest versehentlich von dem erhöhten Lager fallen, könntest ein Bein brechen — da würdest Du vergebens um Hilfe rufen, ich würde es überhaupt gar nicht hören, ich halte mich nicht in der Nähe auf.«

»Ich hoffe nicht krank zu werden und nicht aus dem Bett zu fallen.«

»Gut. Es ist Dein eigenes Risiko. Und welchen Toten würdest Du da nun sehen wollen?«

»Nun, ich hatte einmal einen alten Onkel . . . oder warte, Kleopatra, die ja das schönste Weib der Erde gewesen sein soll. Ja, die möchte ich mal sehen.«

Der Alte lächelte. Von meinem Onkel bis zur Kleopatra war ja nun freilich auch ein mächtiger Sprung.

Doch schnell wurde er wieder ernst, ernster als sonst.

»Treibe mit dieser Sache keine Scherze . . .«

»Ich scherze durchaus nicht. Ich möchte die Kleopatra sehen, die Königin von Ägypten.«

»Du stellst Dir die Sache anders vor, als wie sie kommen wird. Nein, denke lieber an gar keinen bestimmten Toten. Habe immer nur die feste Sehnsucht, konzentriere darauf Deine ganze Gedankenkraft, Verstorbene, die Du einst geliebt hast und die Dich geliebt haben, zu sehen.

Denke also womöglich an gar keine bestimmten Persönlichkeiten. Dann wirst Du ganz bestimmt Erscheinungen haben, das kann ich Dir versichern.«

»Ich kann mit ihnen sprechen?«

»Ja, und sie werden Dich zu überzeugen wissen, daß es wirklich die Seelen der Verstorbenen sind.«

»Hm. Und was sind dazu für Räucherungen nötig?«

»Ich weiß, was Du meinst. Du denkst an die alten Totenbeschwörungen, wie sie wohl auch noch moderne Nekromanten vornehmen, mit narkotischen Mitteln, welche betäuben . . .«

»Na, Vater Abdallah Du willst doch nicht etwa behaupten, daß ich da wirklich die Geister von Verstorbenen zu sehen bekomme! Du gaukelst mir eben wieder etwas vor.. <

Da faßte der Alte seinen weißen Bart mit voller Hand und sagte feierlich:

»Beim Barte des Propheten, ich schwöre Dir, daß ich Dir diesmal nichts vorgaukeln werde, daß ich mich absolut nicht einmische, und ich kann Dir versichern, daß es reelle Geistererscheinungen sind, die Du diesmal zu sehen bekommst, wirklich die Seelen von abgeschiedenen Menschen!«

So hatte der Alte gesprochen.

Und mir ward mit einem Male ganz unheimlich zumute! Hier in Gottes freier Natur unter der goldenen Sonne.

So feierlich hatte der Alte gesprochen. Und an diesem seinem Schwure durfte ich nicht zweifeln, das wäre Frevel gewesen.

»Du selbst hast in dem Kellerraume reelle Geistererscheinungen gesehen?«

»Die Seelen von Verstorbenen.«

»Du kannst Dich nicht getäuscht haben?«

»Ausgeschlossen! Zahllose Male habe ich sie zitiert, habe die Sache streng wissenschaftlich behandelt, mich mit allen Apparaten der Physik vor einem Betrug zu schützen gewußt, habe von den Lichterscheinungen Spektralanalysen gemacht und rätselhafte Resultate erlangt — ich bin überzeugt worden, daß es die Seelen abgeschiedener Menschen sind. Aber ich mache es nie wieder, jetzt nicht mehr. Ich habe ein Gelübde abgelegt. Aber ich weiß bestimmt, daß in jenem Raume auch einem anderen Menschen die Toten erscheinen werden, wenn er den Anweisungen nach handelt.«

»Nun gut, ich bin bereit, mich dort drin drei Tage und drei Nächte lang einschließen zu lassen. Was sind das aber für Anweisungen, nach denen man handeln muß? Es scheint doch noch etwas dazu zu gehören. Zum Hungern bin ich bereit, nur nicht etwa asketischer Martern, die meiner ganzen Ansicht über so etwas zuwidergingen.«

»Es ist nicht weiter nötig, als daß Du von Deinem erhöhten Lager aus immer auf ein magisches Zeichen blickst, daß ich mit einer leuchtenden Farbe auf eine geweihte Steinplatte male. Diese magische Formel ist es, welche die Seelen der Toten zwingt. Am besten ist also, Du denkst dabei an keinen bestimmten Toten, sondern flüsterst und denkst fortwährend: Kommt, Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir. Nichts weiter, immer dasselbe. Dann wirst Du erst recht die größten Überraschungen haben. Geister werden Dir erscheinen, an die Du gar nicht gedacht hast. Nämlich solche, welche sich auch im unbekannten Jenseits mit Dir verwandt fühlen, sich zu Dir hingezogen fühlen. Denn das ist doch die wahre Liebe, die auch im Jenseits herrschen wird. Du bist Seemann. Vielleicht erscheinen Dir die großen Seefahrer früherer Jahrhunderte, die Entdecker der Erde, ein Kolumbus, ein Cook, vielleicht sogar ein karthagischer Hanno. Ich halte es für möglich. So ging es auch mir. Ich fand das Rezept dazu, von dem die Hauptsache die magische Formel ist, in einer alten Handschrift meines Vaters, der schon dieses Haus bewohnt hat. Als ich das erste Mal den Versuch machte, wollte ich den Geist meines toten Vaters beschwören. Ich beschäftigte mich damals intensiv mit Astronomie. Statt des Geistes meines Vaters erschienen, woran ich nicht im entferntesten gedacht hatte, die Geister von Kopernikus, Tycho de Brahe, Galiläi und anderen Astronomen. Wunderbar war es, was sie mir mitteilten. Aber darüber darf man nicht sprechen. So werden Dir wahrscheinlich die Geister großer Seefahrer erscheinen, sich mit Dir unterhalten wollen!«

Wahrhaftig, ich wurde immer erregter.

»Wann kann das Experiment gemacht werden?«

»Jetzt sofort, wenn Du willst. Das heißt, Du kannst die dreitägige Periode gleich antreten.«

»Ich bin bereit.«

»Von heute mittag an, wollen wir sagen.«

»Jawohl.«

»So nimm noch ein Bad, beginne schon jetzt Deine Gedanken zu sammeln. Gefrühstückt hast Du doch schon. Nun laß Dir hieran genügen, iß lieber nichts mehr.«


Kurz vor 12 Uhr betraten wir mit einer Laterne und einem großem gefüllten Wasserkruge den Kellerraum, der immer noch eine Etage tiefer als das schwarze Zimmer lag.

Ungefähr sechs Meter im Quadrat, eben so hoch, die Steinwände gemeißelt, der Boden mit großen Fliesen bedeckt. In einer Ecke stand eine zwei Meter hohe Pritsche, mit Matratze, auf die sollte ich mich legen, auf den Bauch, den Kopf etwas darüber hinaus, und so immer mit jenem Wunsche, daß mir verwandte Seelen erscheinen möchten, nach dem magischen Zeichen starrend, das mit Leuchtfarbe in der Mitte des Raumes auf eine Platte gemalt war.

Alle diese Bodenplatten waren »magische«, auf allen waren Zeichen und Hieroglyphen eingemeißelt, sie alle mußten mitwirken, aber die Hauptsache war doch diese mittelste, welche die leuchtende Figur trug.

Es war ein doppelter Triangel, jedes Feld enthielt wiederum wunderliche Figuren und Hieroglyphen. Während ich mich gebadet, hatte Vater Abdallah es mit frischer Leuchtfarbe erneuert, schon jetzt im Scheine der Lampe sah man deutlich das Leuchten.

Weitere Anordnungen waren nicht nötig, wir hatten unterdessen auch sonst alles besprochen. Obgleich es besser gewesen wäre, wenn ich gar nicht an eine Zeit gedacht hätte, so intensiv sollte ich mich in jenen Wunsch versetzen, hatte ich doch seine Taschenuhr und ein Feuerzeug mitbekommen. Sogar Kautabak war mir erlaubt, der in dieser großen Oasenstadt recht wohl zu haben war.

Die starke Holztür, auch noch eisenbeschlagen, mußte von draußen verschlossen werden, das gehörte mit dazu, es war schon ein magisches Schloß und durfte unter keinen Umständen vor drei mal vierundzwanzig Stunden geöffnet werden.

Gewissenhaften, kritischen Lesern sei noch mitgeteilt worüber aber auch ich Erkundigungen einzog — daß man in dem somit absolut geschlossenen Raume nicht etwa ersticken konnte. Absolut geschlossen? Jawohl! Da müßte die Tür ganz anders geschlossen und Gummidichtungen besessen haben. Aber so — ach, wo die Luft überall durchzuschlüpfen weiß. Man liest ja manchmal, daß etwa ein Kind sich in einem Kleiderschranke versteckt hatte, eingeschlossen worden und so erstickt ist. Solch einen Kleiderschrank empfehle man mir. Den kaufe ich sofort als Seekiste. Gibts ja gar nicht.

Also ich erstieg auf einem Tritt die Pritsche, legte mich bequem auf den Bauch, den Wasserkrug neben mich — »jawohl, Vater Abdallah, alles in Ordnung« — und er ging mit der Lampe, rasselte draußen mächtig mit dem Schlüssel, ich war im Finstern.

Los ging die Geschichte.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir. Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Dabei starrte ich immer auf die Figur, die immer intensiver leuchtete.

Wann die erste Erscheinung kam, war ganz unbestimmt. Manchmal schon in der ersten Stunde, manchmal erst in der 72., dann aber kamen die Toten sicher auch gleich massenhaft anspaziert. Von der magischen Figur aus stieg ein Nebel empor, aus dem sie sich nach und nach formten. So hatte mir Vater Abdallah noch berichtet, der diese Geisterbeschwörung viele dutzend Mal vorgenommen hatte, immer mit dem gleichen, überraschenden Resultate, und ich durfte nicht daran zweifeln.

Denn mit dem Zweifeln hat es eine Grenze. Wenigstens bei mir. Ich habe noch keinen hopsenden und klopfenden Spiritustisch gesehen. Ich habe es oft genug probiert, auch in Gegenwart sogenannter Medien, habe manchmal viel dafür bezahlt, aber es ist mir nie gelungen, der Tisch blieb immer bewegungslos und stumm wie ein toter Stockfisch. Aber wenn mir ein solider, ehrenwerter Mann, ein aktiver Rittmeister im deutschen Heere, auf sein Ehrenwort versichert, daß solch ein Tisch unter seiner Hand getanzt und geklopft hat, daß er mit ihm die wunderbarsten Sachen erlebt hat, so glaube ich ihm alles, was er mir erzählt, bedingungslos! Es kann sein, daß er selbst das Opfer einer Täuschung gewesen ist — gut, aber in seine Wahrheitsliebe setze ich keinen Zweifel. Oder ich sage dieser Welt valet. Will mit keinem einzigen Menschen mehr etwas zu tun haben.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Ich sollte alle meine Gedanken auf diesen Wunsch als heißeste Sehnsucht konzentrieren. Das konnte ich nicht. Das mögen Fakire und Derwische können, deren Fähigkeit, wunderbare Phänomene zu erzeugen, was zweifellos Tatsache ist, eben darauf beruht, daß sie der intensivsten Gedankenkonzentration fähig sind, ihr Gehirn auch gänzlich gedankenleer machen können, ihre asketischen Übungen, Selbstmarterungen und so weiter sind dabei nur äußerlich Mittel zum innerlichen Zweck — ich vermochte es nicht.

Bei mir schlichen sich auch immer noch andere Gedanken ein.

Besonders die flammende Figur, deren Striche hin und her zu zucken schienen oder es auch wirklich taten, eben Phosphoreszenz, brachten mich auf besondere Gedanken. Lebhafter denn je mußte ich an die geheimnisvolle Schwester Anna denken, die ja auch mit leuchtender Schrift operiert hatte, und dann natürlich auch an meine Argonauten.

Doch davon abgesehen, was ich hierüber dachte.

Ich will erst nachträglich etwas erwähnen.

Der alte Araber, mein Herr über Leib und Seele, hatte mich gefragt, wie ich hieße, was ich sei, ob ich noch Verwandte habe, und dergleichen mehr.

Ich hatte ihm dann auch noch gesagt, daß ich Kargokapitän von der Hamburger »Argos« sei, Waffenmeister der Argonauten.

Vater Abdallah hatte noch nichts von der Argos und von den neuen Argonauten gehört, interessierte sich auch nicht dafür. Er wollte prinzipiell nichts weiter davon wissen.

Der alte Herr hatte Jahrzehnte lang in der Welt gelebt, und wahrscheinlich ganz tüchtig, mußte das Leben ziemlich genossen haben — jetzt war er für die andere Welt ganz abgestorben. Trotz seines sonstigen Humors. Er wollte prinzipiell von der Außenwelt gar nichts mehr hören.

Dann, als er sich mir als Magier und Adept offenbart hatte, wollte ich gern einmal von dieser Schwester Anna anfangen, was der wohl dazu meinte, denn eine gewisse Verwandtschaft war da doch wohl vorhanden, und unser Geheimnis betreffs des Seelandfelsens brauchte ich ja deshalb nicht preiszugeben. Allein ich dachte, ich würde auch wieder eine Abweisung bekommen — ich schwieg von der ganzen Geschichte.

Jetzt also dachte ich lebhafter denn je an diese Schwester Anna.

Konnte die mir nicht einmal mit ihrer leuchtenden Schrift zu Hilfe kommen?

Diese Kellergewölbe konnten ihr doch kein Hindernis bieten, das wußte ich.

Doch von dieser ganzen übersinnlichen Geschichte abgesehen — was machten jetzt wohl meine Argonauten?

Mehr als zehn Wochen waren nun schon vergangen, seit ich damals in Wellington den Schlag über den Kopf erhalten hatte.

Wußten sie überhaupt, daß ich mich noch am Leben befand?

Oder hielten sie mich für tot?

Was taten sie, um sich zu überzeugen, ob ich tot oder noch am Leben war?

Natürlich wurde Helene, würden sie alle Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um Gewißheit über mich zu bekommen.

Himmel und Hölle — zwei weite Begriffe.

Ich wollte lieber bei greifbaren Sachen bleiben.

Gleich am zweiten Tage hatte ich einen Brief an meinen Vater geschrieben. So, wie es der alte Araber angeordnet, er hatte ihn mir überhaupt förmlich diktiert.

In Wellington Sklavenhändlern in die Hände gefallen, als Sklave verkauft worden. Es geht mir sehr gut, ich bin ganz zufrieden, ich hoffe Dich einmal besuchen zu können — aber wo ich mich aufhalte, darf ich nicht verraten.

So ungefähr.

Hätte ich anders geschrieben, wäre der Brief nicht befördert worden. Und da gab es keine geheime Schrift, der Alte hatte immer neben mir gesessen.

Der Brief war durch Boten sofort nach der Stadt Maskat geschickt worden. Wenn alles gut ging, konnte er in weiteren zwölf oder sogar zehn Tagen in Kiel sein.

Mein Vater würde sich ja natürlich sofort mit den Behörden und gleich direkt mit der »Argos« in Verbindung setzen.

Direkt? Da mußte man erst wissen, wo sich dieses ruhelose Schiff zur Zeit aufhielt.

Doch wie dem auch sei — erfahren würde es Helene noch einmal, und dann ging natürlich die Jagd, das Suchen nach mir los!

Na‚ also darüber zerbrach ich mir nicht weiter den Kopf.

Nein, jetzt dachte ich nur im allgemeinen sehnsuchtsvoll an Helene, an alle meine wackeren Jungen, große und kleine, und auch an alle die Hunde und Katzen, vergaß nicht einmal unseren Hampelmann, unseren unsterblichen Laubfrosch den letzten der Mohikaner, den Lottchen, die Ringelnatter, verschont hatte.

So vergingen die Stunden.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir!«

Nur an dies sollte ich denken, an nichts weiter, und ich wurde die anderen Gedanken doch nicht los.

Ich wollte lange, lange Pausen machen, ehe ich einmal ein Streichholz anriß und nach der Kartoffeluhr sah, tat es aber doch zuerst aller halben Stunden, und ich hatte mit zwei bis drei Stunden gerechnet.

So höllische langsam verging die Zeit.

Dann merkte ich, daß ich zirka eine Stunde brauchte, bis ich ein angemessenes Stück Tabak klar gekaut hatte, daß auch nicht mehr eine Spur von angenehmer Sauce drin war, jetzt richtete ich mich hiernach, mußte drei solcher Stücke kauen, ehe ich einmal nach der Uhr sehen durfte. Als ich es dann tat‚ waren richtig schon drei und eine halbe Stunde vergangen. Jetzt war es schon um fünf.

»Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir! Ihr Toten, die Ihr mich liebt, erscheint mir! Na‚ zum Henker noch einmal, Kolumbus, Cook, Magelhaes und so weiter, da kommt doch endlich! Ihr scheint mich nicht zu sehr zu lieben.«

Aber es nützte nichts, daß ich fluchte und spottete, es kam nichts.

Mit mir aber ging noch eine Umwandlung vor sich.

Ich kam in eine ganz eigentümliche Stimmung hinein. In was für eine, das vermag ich nicht zu definieren.

Man liegt eben nicht ungestraft so in einem finsteren Kellerloch viele Stunden lang, starrt immer nach einer leuchtenden, phosphoreszierenden Figur mit magischer Bedeutung und wünscht dabei Tote erscheinen zu sehen.

Oder man ist kein normaler Mensch, kein richtiger Mensch nähert sich mehr dem Tiere.

Dazu kam nun noch, daß jene Gedanken an Helene und meine Argonauten immer mehr überhand nahmen.

Kurz und gut, ich kam in eine ganz ähnliche Stimmung wie damals, da ich an dem Teiche einsam im Wüstensande lag und plötzlich das mir sonst noch unbekannte Heimweh bekam.

Diesmal war es nicht gerade Heimweh, aber . . .

Kurz und gut, ich begann zu flennen.

Und ich glaube, es ist keine Schande, wenn man das gesteht.

Also ich flennte und winselte los, aber immer dabei noch meine Sache machend.

»Ihr To—ten, die Ihr mich lie—hiebt, erscheint mir! Ihr Toten, die Ihr . . .«

Heiliges Bombenelement!

Was war denn das?

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich.

Plötzlich verschiebt sich die flammende Figur, verschwindet ganz — statt ihrer steigt eine leuchtende Rauchwolke empor, in ihr entsteht nach und nach eine nebelhafte Gestalt, immer deutlicher formt sie sich, ich erkenne einen Mann mit Schlapphut, unter dem lange Haare hervorquellen, ich erkenne das befranzte Lederkostüm, um die Hüften den mit Patronen gespickten Gürtel, an dem zwei Revolver hängen, die hohen Schaftstiefeln ich erkenne die Person —

»Juba Riatal«

Aber das rufe ich nur in meinen Gedanken. Ich bin nicht fähig, einen Ton hervorzubringen, höchstens ein Stöhnen. So furchtbar ist mein Schreck, wie ich da meinen Freund — denn Juba Riata war der einzige, mit dem ich an Bord wirkliche Freundschaft geschlossen, wenn wir auch nie ein Wort darüber gesprochen hatten — in geisterhafter Weise vor mir auftauchen sehe.

Denn ein lebendiger Mensch war das nicht etwa. Ganz abgesehen davon, wie er sich denn in dieser auch an sich ganz rätselhaften Wolke bilden sollte. Es war überhaupt nur eine in der leuchtenden Wolke etwas dunklere Erscheinung, wenn auch noch selbst leuchtend, aber mit scharfen Umrissen. Aber nun dieses geisterhafte Gesicht des sonst vor Gesundheit strotzenden Mannes, und nun gar erst diese Augen, wie die mich anstierten!

Und wie ich noch so fassungslos das Phänomen anstarre, da entsteht in dem Nebel, der sich immer weiter ausbreitet, eine zweite Gestalt, und auch diesen Mann erkenne ich sofort, es ist Ernst, der zweite Steuermann, wenn nicht mein direkter Freund, so doch, wie der Leser weiß, einst als Matrose mein guter Kamerad gewesen, den ich an Bord der »Arche Noah« wiedergefunden hatte — auch er blickt mich mit geisterhaften Augen an — und da entsteht eine dritte Gestalt, und wenn sie auch ein Männerkostüm trägt, so erkenne ich doch gleich ein Weib, und ich erkenne dieses Weib auch sonst . . .

Da ist der Bann in meiner Kehle und Brust gebrochen.

»Helene!« schrie ich auf. »Helene!«

In diesem Augenblick, wie ich der Sprache wieder mächtig bin und diesen Namen rufe, schießt mir plötzlich ein Feuerstrom aus den Augen.

Das Nachfolgende ist schwer zu beschreiben. Die blendende Lichterscheinung, die ich hatte, brachte plötzlich eine große Umwandlung mit sich, in der ganzen Szenerie wie auch mit mir im Besonderen.

Mit einem Male bin ich von mehr als hundert solcher geisterhaften Gestalten umringt, und ich kenne sie alle, alle, es sind einfach die sämtlichen Argonauten und die Gäste unseres Schiffes, dort stehen die erwachsenen Grünroten und dort die halbwüchsigen und noch kleineren Blaugelben, dort stehen die »Exklikusen« und dort diejenigen, welche noch weniger zur eigentlichen Besatzung gehören — stehen alle wie zur Musterung angetreten, mich aber dabei umringend — und ich wundere mich durchaus nicht, daß ich sie alle gleichzeitig sehe, so daß ich also auch Augen hinten am Kopfe haben muß — gerade vor mir steht Kapitän Martin, wohl mit scharfen Umrissen, sonst aber durchaus in ätherischer Verfassung, wie von einer schwach leuchtenden, farblosen Substanz gebildet, welche Geisterhaftigkeit ihn aber durchaus nicht hindert, seine Hände und Arme bis an die Ellenbogen in seinen ätherischen Hosentaschen verschwinden zu lassen — und gleichzeitig, obgleich ich meine Augen direkt auf den Kapitän gerichtet halte, sehe ich links von mir, in einer ganz anderen Richtung, unseren Schudick in Pumphosen stehen, der zweizentrige Knabe hat nach beliebter Gewohnheit blödsinnig die Zunge zum Mündchen herausgesteckt, übertroffen an Dicke wird der Riesenknabe nur noch durch Mama Bombe, die auch in ihrer ätherischen Wesenlosigkeit noch immer ein kolossales Maststück ist, und an ihrem ungeheuren Vorgebirge von Busen trägt sie noch immer die elfenbeinerne Riesenperle — und gleichzeitig, wie ich außer dem Kapitän auch diese beiden betrachte, den endlosen Bandlwurm dazu, der übrigens gerade einen Teller abtrocknet, sehe ich direkt hinter mir den Doktor Isidor, wie er eben ein Gläschen Kognak hinterkippt . . .

Das heißt: mir war nicht etwa humoristisch zumute.

Mir sträubte sich vielmehr das Haar auf dem Kopfe vor Entsetzen!

Allerdings nicht vor Entsetzen, weil ich hier überhaupt Geister zu schauen bekam, sondern vor Schreck, weil diese Geister meine Argonauten waren!

Denn ich hatte doch nicht die Erscheinung von lebenden Menschen, sondern Tote, die Seelen von Verstorbenen hatte ich beschworen.

»Helene, um Gotteswillen, seid Ihr denn tot?!«

Ich hatte mich an Helene gewandt, die vor mir neben dem Kapitän stand, mich ebenso wie alle anderen mit entgeisterten, todestraurigen Augen anblickend. Nicht sie allein gab die Antwort, sondern diese erklang im rhythmischen Chore aus aller Munde, wurde wie gesungen, aber in ganz schauerlichem Grabestone:

»Toot! Tooot! Tooot!«

Da erst erfaßte mich richtiges Entsetzen.

Und jetzt erst sah ich auch, wie alle diese Gestalten von Wasser trieften, wie die nassen Kleider am Leibe klebten.

»Um Gottes willen, wo habt Ihr Euren Tod gefunden?!«

»In den Fluten! In den Fluten!« erklang es wiederum hundertstimmig in singendem, nervenzerreißendem Tone.

»Die »Argos« ist untergegangen?!«

»An den Capreraklippen zerschellt! An den Capreraklippen zerschellt!«

Mein Entsetzen wuchs.

Allmächtiger Gott — die »Argos« gesunken — mit Mann und Maus untergegangen — meine Argonauten, Helene, alles, alles tot! Ich der einzige Überlebende!

O, warum war nicht auch ich an Bord gewesen, um mit meinen Getreuen den Tod zu finden!

Da, wie mich das Entsetzen noch voll und ganz gepackt hatte, wurde die geisterhafte Szene recht prosaisch unterbrochen.

Während sich alle anderen ganz regungslos verhielten, auch Doktor Isidor, der das Schnapsglas nicht vom Munde brachte, trat plötzlich Oskar, der Segelmacher auf mich zu, hatte eine dickbauchige Flasche in der Hand, die er mir präsentierte.

»Hier, Waffenmeister, nehmt mal 'nen herzhaften Schluc der wird Euch gut tun. 's ist uralter Jamaikarum, mit 'n bißchen Kirsch vermischt, 's braucht niemand zu wissen, daß ich ihn aus der Bottlerei gemaust habe.«

Er selbst setzte die entkorkte Flasche an meine Lippen.

Und dabei, noch ehe ich etwas Nasses fühle, starrte ich den Sprecher etwas fassungslos an.

Wie konnte dieser ätherische Geist so prosaisch sprechen und handeln?

Na ja, es war eben unser Segelmacher, und der hieß Oskar. Und der war eben im Geisterreiche frech wie Oskar, der pfiff auf die ganze Geisterei.

In der Flasche war wirklich etwas drin. Ebenfalls etwas Geistiges. Kirsch mit Rum, ganz zweifellos, ich schmeckte es sofort. Mehr Rum als Kirsch.

Und ich trank wirklich, machte einige gute Schlucke. Wieder war es wie Feuer, das mir diesmal aber nicht aus den Augen spritzte, sondern durch die Kehle in den Magen rann.

Und wie ich dieses wohltuende Feuergefühl noch im Leibe habe, starre ich den Segelmacher noch mehr an.

Bekommt dessen geisterhaftes Totengesicht, erst wie durchscheinende Milch und Spucke, plötzlich rotbraune Pausbacken! Ebenso erstrahlten plötzlich seine erloschenen Augen in frecher Dreistigkeit wie in seiner besten Zeit, da er noch als lebendiger Mensch alle Meere und Hafenstädte unsicher gemacht hat!

Das erscheint mir als ein Wunder, da muß ich doch fragen: »Oskar, mein lieber Oskar — bist Du denn wirklich tot?«

Und da antwortet mir dieser geisterhafte Lumich:

»Als wie icke? Tot? Ich? Nee. Sie?«


69. KAPITEL. WAS MIR DIE »TOTEN« ERZÄHLEN.

Da kam die große Umwandlung, da war es mit meinem Traumzustand vorbei.

Denn weiter war es nichts gewesen. Wann dieser Zustand begonnen, werde ich später sagen.

Jedenfalls erwachte ich und wußte auch sofort, daß ich aus einem traumhaften Zustande erwacht war.

Aber durch dieses Erwachten verschwanden die Traumbilder nicht etwa so ganz und gar.

In welcher Stellung ich mich vorher befunden hatte, wußte ich gar nicht, — jetzt aber merkte ich sofort, daß ich halb aufgerichtet am Boden saß mit dem Rücken angelehnt, und vor mir kniete ein Mann, der mir soeben eine dickbauchige Flasche vom Munde nahm, und dieser Mann war kein anderer als Oskar, unser Segelmacher.

Im Moment war ich bei voller Besinnung, wußte, daß ich mich, wenn nicht doch etwas mit unnatürlichen Dingen zugehen sollte, in der Oasenstadt des Sultanats Maskat im Keller von Vater Addallahs Hause befinden mußte, wohinein unser Segelmacher nicht gehörte, und dennoch war der vor mir kniende Mann mit der Schnapspulle eine Realität, da gab es bei mir jetzt nichts mehr.

»Oskar! Bist Du's denn nur wirklich? Wie kommst Du hierher?!«

Er ließ schnell die Flasche unter seinem Rocke verschwinden, der jetzt aber nicht mehr naß war, und wendete den Kopf.

»Frau Patronin!«

»Ja?« erklang eine mir so wohl bekannte Stimme.

»He leivt, he leivt und wackelt mit dem Schwanze.«

Ein unterdrückter Jubelruf, in dem nebelhaften Dämmerlicht, das hier herrschte, tauchte eine Gestalt auf, eilte auf mich zu, kniete ebenfalls nieder, weiche Arme umschlangen mich, Küsse wollten mich ersticken — »Georg, mein Georg, Du lebst noch, ich habe Dich wieder!« jauchzte und schluchzte es an meiner Brust; oder vielmehr an meinem Gesicht, an meinem Munde, denn dabei wurde egal geküßt, daß mir faktisch bald die Luft ausging.

»Prost, Mahlzeit!« sagte da eine andere Stimme, und in dem erleuchteten Dunstkreis, den eine Laterne erzeugte, erschien Doktor Isidor, aber nicht, wie ich ihn vorhin gesehen und wie man ihn ja sonst auch wirklich immer sah, im schwarzen Gehrock mit Zylinder, sondern in einem Sportkostüm mit Kappe.

Seine »Proste Mahlzeit« galt wohl nur dem Segelmacher, der die günstige Gelegenheit dazu benutzte, um hinter dem Rücken der Patronin einen heimlichen Schluck aus der Rumbuttel zu nehmen, obgleich dem impertinenten, ohrenwackelnden Kerl zuzutrauen war, daß er auch unsere Küsserei damit meinte.

»Halt!« ließ sich da als vierter Juba Riata vernehmen. »Erst unsere Sicherheit! Sind Sie bei klarer Besinnung?«

»Ich bin es.«

»So berichten Sie erst. Wo sind wir hier? Was ist das für ein geschlossener Raum, in dem Sie auf der Pritsche lagen, von der Sie herabgestürzt sind?«

»Herabgestürzt bin ich?«

»Ja, Sie standen bei unserem Anblick schnell auf und stürzten herab, schlugen mit dem Kopfe heftig auf den Holztritt, Sie sind ungefähr zehn Minuten besinnungslos gewesen. Sie sind jetzt unterhalb jenes Raumes, den ich für ein Kellergewölbe halte. Werden Sie nun in diesem gesucht? Von Freunden oder von Feinden? Das ist jetzt die Hauptsache, das müssen wir erst wissen, um unser Verhalten danach einzurichten.«

Darüber konnte ich beruhigen. Noch 66 Stunden mußten vergehen, ehe Vater Abdallah die Kellertür wieder aufschloß.

Und nun berichte ich, was ich während dieser Zeit nach und nach erfuhr, nicht so zusammenhängend, wie sich es hier wiedergebe.

Wir verunglückten Walfischjäger waren also damals in Wellington nach dem Theaterbesuch noch in eine Bar gegangen, in eine Wirtschaft.

Ich gehe, wie wir schon bald aufbrechen wollen, noch einmal allein in den Hof — komme nicht wieder.

Meine Jungen warten und warten, suchen mich — finden mich nicht.

Ich bin verschwunden.

Schon in unser Hotel gegangen? Habe ich mich verirrt?

I Gott bewahre! Und trotz einiger Gläser war ich doch nüchtern wie ein Stint gewesen.

Ich bin und bleibe verschwunden.

Matrosen sind nicht sehr für die Polizei, Eskimos auch nicht. Wie aber die Stunden vergehen, ich weder in jener Wirtschaft noch in dem Hotel noch sonstwo wieder auftauche, muß schließlich doch die Polizei alarmiert werden.

Nützt nichts, die bringt mich auch nicht wieder.

So wird es Mittag. Die Stimmung meiner Jungen läßt sich denken. Wenn sie sich auch nichts von Verzweiflung anmerken ließen, sondern sich sachgemäß beraten und tun, was irgendwie zu tun ist, was mich wiederbringt oder mich finden läßt, lebendig oder tot.

Und da wird denn auch der Polizei ein Fund gemeldet, ein ganz schauriger.

Die Polizei hatte bereits angeordnet gehabt, daß die Kloake jener Wirtschaft untersucht werden sollte, trotz der Versicherung der Wirtsleute, daß ich da nicht hineingestürzt sein könne, wohl gab es da von oben her einen Zugang, ein Loch, gerade jetzt offen, weil gerade der Garten gedüngt wurde, aber der Wegs dorthin führte durch den Schweinestall, und um den zu passieren, mußte man dicht an einem Kettenhund vorbei, der aber eben keine fremden Menschen vorbeiließ, ihn sofort gestellt, wahrscheinlich auch zerfleischt hätte, jedenfalls einen Mordsspektakel gemacht hätte. Und dieser Köter war die ganze Nacht mäuschenstill gewesen.

Trotzdem also wollte die Polizei eine Untersuchung dieser Kloake vornehmen, nur erst die Resultate anderer Recherchen abwarten.

Den Bemühungen der hohen Obrigkeit wurde vorgegriffen. Nach der Mittagszeit nimmt der Gärtner seine gestrige, mehr nützliche als angenehme Beschäftigung wieder auf — da stößt in dem duftigen Loche seine lange Schöpfkelle auf einen Widerstand, der gestern noch nicht vorhanden gewesen.

Der Widerstand wird herausbefördert — es ist ein Mensch der natürlich nicht mehr lebt. Außerdem ganz scheußlich zugerichtet.

Als er abgespritzt und abgewaschen worden war, erkannte man einen Mann, mußte konstatieren, daß er noch nicht lange in der Kloake gelegen haben konnte, viel mehr aber auch nicht. Ganz scheußlich zugerichtet.

Nämlich schon total von den Ratten zerfressen, von denen es dort unten wimmelte. Ein Gesicht gab es überhaupt gar nicht mehr, nur noch ein blutiges — na, das kann man sich vorstellen. Das war doch für diese von ewigen Heißhunger geplagten Nager einmal ein gefundenes Fressen gewesen, und so hatten sie sich also auch schon an die anderen Fleischteile gemacht, aber eben wegen dieses ihres Fleischhungers noch die Kleider verschonend, durch diese sich nur hindurchbohrend.

Dieser Tote war ich! Es waren meine Kleider, meine Segeltuchschuhe, meine Mütze — in der einen Westentasche war meine den Matrosen wohlbekannte Uhr, übrigens mit meinen eingravierten Initialen, in der anderen mein Theaterbillett. Die Körperverhältnisse, so weit die Ratten sie nicht verändert hatten, stimmten ebenfalls.

Allerdings fehlte meine Brieftasche mit dem Papiergelde, aber auf einen Raubmord brauchte man deshalb noch nicht zu schließen. Die konnte mir entweder bei dem Sturze kopfüber in die Tiefe entfallen sein, eine Ratte hatte sie bereits verschleppt oder aber: bei der Leichenwaschung waren Individuen behilflich gewesen, denen es recht wohl zuzutrauen war, daß sie dabei die Brieftasche hatten verschwinden lassen. Mit der Uhr war ihnen das nicht geglückt, einer aber war wirklich dabei erwischt worden, wie er sich mit dem Gelde, das ich lose in der Hosentasche hatte, hatte davon machen wollen.

Also ich war ganz einfach, in dem Hofe nicht Bescheid wissend, durch den Schweinestall gekommen, ohne von dem bissigen Hunde attackiert worden zu sein, und hatte in der Kloake ein klägliches Ende genommen.

Nun, dem geneigten Leser brauche ich nicht erst zu versichern, daß ich mit diesem Toten nicht identisch war. Aber das konnte ich dort nicht der hohen Obrigkeit und meinen Jungen sagen, und der Tote konnte es auch nicht.

Wie meinen Jungen zumute war, läßt sich denken.

»Mir ging meine Pfeife dreimal hintereinander aus, ich mußte sie immer wieder anbrennen, ich vergaß ganz das Ziehen.«

So sagte mir dann Mister Tabak, und mehr kann man doch wahrlich nicht sagen, um den Schmerz eine Menschen auszudrücken.

Na‚ das half nun alles nichts — erst mußte ich einmal eingepaddelt werden.

Ich habe ein gar feines Begräbnis erhalten, ein pikfeines. Ich habe es später selbst besichtigt und meine Freude daran gehabt. Auf dem evangelischen Friedhofe zu Wellington auf Neuseeland, Straße B L, Katasternummer 242, da ruhen meine Gebeine. Links von mir ruht ein Jüngling von zwei Monaten, rechts von mir eine Jungfrau von vierundachtzig Lenzen. Und ich in der Mitte, tatsächlich ein herrliches Plätzchen, überschattet von einer prächtigen Platane, und auf meinem Grabhügel wächst üppig Maßliebchen und anderes Unkraut.

Ja, Unkraut ist es, was dort wuchert. Aber nicht etwa, daß ich sonst scherze. Ein ganz reizendes Plätzchen, das mir dort die Stadtbehörde von Wellington ganz kostenlos zur Verfügung gestellt hat.

Als dann Helene nach Wellington kam, um an meinem Grabe zu beten, beauftragte sie einen Bildhauer, einen tüchtigen Künstler, mir ein Monument zu setzen. Aus neuseeländischem Grünstein, ein gar kostbares Mineral, eine große Kugel, darauf ein Anker liegend, auf der einen Seite der Kugel meinen Namen, wann geboren und gestorben, auf der anderen Seite: Ihrem Waffenmeister die Argonauten.

Nichts weiter, gar nichts weiter.

Der Bildhauer machte seinen Kostenanschlag, berechnete 200 Pfund — 4000 Mark — welche Helene sofort bezahlte. Außerdem händigte sie diesem Bildhauer gleich noch weitere 50 Pfund ein, damit er für ein Gitter sorge. Und für 1000 Mark bekommt man doch schon ein sehr schönes Gitter vom Kunstschlosser geliefert.

Dann segelte die »Argos« nach Osten — und der Bildhauer segelte nach Westen.

Glücklicherweise nämlich war dieser gottbegnadete Künstler schon längst in Geldnöten gewesen, hatte gerade nur noch diese 250 Pfund Sterling gebraucht. Sobald die »Argos« abgesegelt war, schon am anderen Tage, machte er seine Bude zu, ehe sie vom Gerichtsvollzieher versiegelt wurde, und ging über die Schweiz.

Glücklicherweise sage ich, nämlich weil ich dadurch von dem Schicksal verschont geblieben bin, von einem Gitter eingeschlossen zu werden, dessentwegen auch unbedingt die schöne Platane hätte abgehackt werden müssen, und was das Monument anbetrifft — ach was mache ich mir denn nach meinem Tode aus einer Kugel aus neuseeländischem Grünstein.

Wirklich, so wie ich dann meine Begräbnisstätte sah, so gefiel sie mir am allerbesten. Ganz entzückend. Nur die verbeulte Konservenbüchse und der irdene Topf ohne Henkel hätten wegbleiben können.

Doch so weit sind wir noch nicht.

Ich war begraben, hatte meine regelrechte Begräbnispredigt erhalten, die ungeheure Menschenmenge zerstreute sich, sie war mir so nachgelaufen, wie sie jedem Schufte und Lumpen nachläuft, der etwa einen Griff in eine fremde Kasse gemacht hat, sich dann eine Kugel in den Kopf jagt, womöglich gar Frau und Kinder mit in den Tod nehmend.

Zunächst fehlte meinen armen Jungen, die sich ohne ihren Waffenmeister wie die Waisenknaben fühlten, dasjenige, was nun einmal der nervus rerum in der Welt ist: das Geld. Bisher hatten sie sich als »sensationelle Helden des Tages« so durchgepumpt, sehr richtig hatten sie gehandelt, daß sie besonders die Zeitungsreporter tüchtig angezapft hatten. Wohin nun? Natürlich nach dem Seelandsfelsen zurück, genau so, wie wir es eben vorgehabt hatten.

Doch ganz so natürlich war das eigentlich nicht. Ein Matrose — ich will seinen Namen nicht nennen — machte gleich direkt den Vorschlag, lieber nicht zurückzukehren.

»Wir wollen unsere Kompanie auflösen, uns in alle Welt zerstreuen, wie jeden einzelnen der Wind weht.«

Weshalb?

Himmel und Hölle, ich hätte in der Haut keines einzigen dieser dreizehn Männer stecken mögen, um die Kunde von meinem, des Waffenmeisters elendiglichem Tode den Zurückgebliebenem der Patronin zu bringen!

Dieser Matrose wurde überstimmt, die anderen wollten seinen Vorschlag überhaupt nicht begreifen, oder sie nannten ihn einen charakterlosen Feigling. Doch ich brauchte den Namen dieses Mannes nicht zu verschweigen. Er war der bravsten und treuesten einer.

Also zurück nach dem Seelandsfelsen! So wie es ursprünglich geplant gewesen. Aber sie hatten kein Geld, mit meiner Brieftasche waren auch die schon gelösten Fahrkarten nach den Chataminseln verschwunden.

Sie hätten die Reise ganz kostenlos machen können. Ich hatte doch jenem Kapitän, der uns aufgefischt, gesagt, daß die »Argos« in der Nähe des Seelandsfelsens kreuze, dort unsere Rückkehr ganz bestimmt erwarte, das war allgemein bekannt geworden, in Wellington lag eine amerikanische Jacht, deren Besitzer es sich zur höchsten Ehre anrechnete, die dreizehn führerlosen Argonauten dorthin zu bringen, oder wohin sie sonst wollten.

Dann aber hätte doch das Geheimnis des Seelandsfelsens verraten werden können, so oder so.

Nun, die dreizehn Argonauten der Freifrau von der See wußten schon nochmals 50 Pfund Sterling aufzutreiben.

Sie hätten noch viel mehr vorgeschossen bekommen können, sogar von jedem Bankhause, aber es genügte. Und so fuhren sie per Dampfer nach Chatham, erstanden dort ein gutes Auslegerboot, verproviantierten sich und segelten weiter nach dem Seelandsfelsen.

Es war eine herrliche Meeresfahrt, das denkbar günstigste Wetter — aber diejenigen, die sie mitgemacht, brauchten mir nicht besonders zu versichern, daß es die traurigste, verzweifeltste Reise ihres Lebens gewesen sei, ich glaubte es ihnen schon so. Nun, sehen wir uns nach den Zurückgebliebenen um.

Der Petroleummotor hatte richtig wieder versagt, sobald die Barkasse einmal wirklich gebraucht werden sollte.

Da war nichts zu machen, man hatte uns schon aus den Augen verloren, die Barkasse wurde zurückgerudert, es war ja nur eine kurze Strecke, sie kam auch mit Riesenkraft spielend durch die fürchterliche Brandung hindurch.

Unterdessen aber hatten auch die oben auf dem Felsen postierten Matrosen unser Boot aus den Augen verloren, und da half auch das beste Fernrohr nichts. Natürlich, wenn schon für uns der hohe Felsen am Horizonte untergetaucht war, weil eben die Erde eine Kugel ist, dann konnten doch auch die uns nicht mehr sehen.

Was nun? Zunächst mußte man geduldig warten. Die Patronin versuchte wohl einmal sich telephonisch mit der Schwester Anna in Verbindung zu setzen, wußte aber schon, daß sie es vergeblich tat, wie es denn auch war. Dieses geheimnisvolle Wesen hatte immer nur mit mir gesprochen, mit keinem anderen, und so war es auch hier.

Dafür kam bald ein altes, dürres, patentes Männlein angetänzelt.

»Professor Beireis ist mein Name — habe die Ehre Schwester Anna befiehlt mir, mich der Freifrau von der See gänzlich zur Verfügung zu stellen.«

»Kann ich die Schwester Anna sprechen?«

»Ich bedaure.«

»Weshalb nicht?«

»Sie korrespondiert nur mit dem Waffenmeister Herrn Kapitän Stevenbrock, läßt sich aber auch von diesem nicht anrufen.«

»Weshalb diese Einseitigkeit?«

»Das weiß ich selbst nicht!« zuckte das alte Männchen bedauernd die Schultern.

»Ist diese Schwester Anna allwissend?« fragte die Patronin etwas unvermutet.

»O, welche Frage!« tat denn auch der Herr ganz erschrocken.

»Ja oder nein.«

»Ich darf solche Fragen nicht beantworten.«

»Wissen Sie, daß der Waffenmeister mit einigen Leuten zur Walfischjagd ausgerückt ist?«

»Ich weiß es.«

»Daß wir das Boot aus den Augen verloren haben?«

»Ich weiß es.«

»Kann die Schwester Anna sich mit dem Boote in Verbindung setzen?«

»Alle Fragen, welche die Schwester Anna betreffen, darf ich nicht beantworten.«

»Können Sie sich mit dem Boote in Verbindung setzen?«

»Nein.«

»Sie sind doch sicher im Besitze von wunderbaren Erfindungen.«

»O ja, das bin ich, sogar nur von mir selbst erfunden!« entgegnete das Männlein geschmeichelt.

»Können Sie das Walfischboot vielleicht doch noch erblicken, so weit es sich auch schon entfernt haben mag?«

»Nein, das kann ich nicht. Mein Wirkungskreis, die Sphäre meiner Macht liegt einzig und allein innerhalb dieses Felsens. In diesen Räumen ist mir so gut wie nichts unmöglich, aber außerhalb derselben darf und kann ich nicht wirken, nicht einmal oben auf dem Plateau.«

»Ja, mein Herr, wozu eigentlich schickt die Schwester Anna Sie zu uns? Inwiefern sollen Sie zu unserer gänzlichen Verfügung stehen?«

»Damit ich Ihnen die ganzen Räumlichkeiten zeige, und hauptsächlich auch, damit ich die Mylady und ihre Leute durch Gaukeleien aus dem Gebiete der höheren Salonmagie ergötze.«

»Ach, geht und hängt Euch!«

Das hatte unsere Patronin, die Frau Helene Neubert, die Freifrau von der See, wirklich zu dem Männlein gesagt, ihm dabei den Rücken zudrehend.

Sie war eben unter uns schon ganz zur »Seemännin« geworden.

Und hatte sie nicht ganz recht? Sie ist wie alle anderen voll schwerster Sorge ob unseres Schicksals, und der fängt von Gaukelei und Salonmagie an.

Als der Abend anbrach und die Walfischjäger noch immer nicht zurück waren, wurde Dampf aufgemacht, die »Argos« sollte große Bogen fahren und den Scheinwerfer spielen lassen.

Aber noch ehe das Schiff abgetaut wurde, stellte sich wieder der Professor ein, der inzwischen verschwunden gewesen war.

»Halt! Ich komme im Auftrag der Schwester Anna. Sie sollen ruhig hier liegen bleiben und warten, dreizehn Tage. Heute über dreizehn Tage kommen die Walfischjäger zurück.«

»Ist ihnen etwas zugestoßen?!«

»Das weiß ich nicht, das sagte mir Schwester Anna nicht. Nur das, was ich hiermit ausrichte.«

So wurde geantwortet, ungeduldig wohl, aber doch in der felsenfesten Überzeugung, daß der Schwester Anna Prophezeiung eintreffen würde. Wir hatten eben bei der Walfischjagd unser Boot verloren oder waren zu weit entführt worden, ein Schiff hatte uns aufgefischt, bei der ersten Gelegenheit kehrten wir zurück. Das war ja den Seeleuten ganz klar.

Und richtig am dreizehnten Tage kommen die Walfischjäger in einem fremden Boote an. Aber es waren nur dreizehn Mann. Der Waffenmeister lag in Wellington begraben.

Den Eindruck dieser Botschaft vermag ich nicht zu schildern, vielleicht war es auch ganz anders, als man es sich vorstellt.

Acht Tage hielt sich die Patronin in ihren Kabinen eingeschlossen, dann ließ sie Peitschenmüller rufen.

»Wir setzen doch das Werk von Georg Stevenbrock fort, die Erziehung der Knaben zu tüchtigen Seeleuten. Aber ich möchte bis auf weiteres hier bleiben, nur daß wir manchmal Übungsfahrten unternehmen, wie es die Ausbildung der Jungen erfordert. Nur von dem Felsen möchte ich mich nicht weit entfernen. Juba Riata, seien Sie fernerhin des Schiffes Waffenmeister, sprechen Sie mit dem Kapitän.«

So sagte die Patronin, und die Sache nahm ruhig ihren Fortgang. Mein Tod hatte scheinbar gar keine Störung hervorgebracht. Scheinbar nicht! Die Jungen richteten auf dem Plateau ihre Turn- und Sportplätze ein, es wurde auch viel an den Geschützen exerziert, und Professor Beireis, wie er sich nun einmal nannte, weihte sie immer mehr in die Wunder der Felsenräume ein, über welche Wunder ich später berichten werde.

Am meisten stak Doktor Isidor mit dem Professor zusammen. Die beiden hatten sich wieder über das geheimnisvolle Pergament gemacht. Und eines Tages hatten sie es enträtselt. Der Professor war dabei der Hauptmacher gewesen, hatte in den Hierogyhphen eine uralte, schon ganz vergessene assyrische Schriftart erkannt, hatte auch den Schlüssel zur Enträtselung gefunden, und das nicht etwa durch übernatürliche Mittel, sondern nur dank seiner phänomenalen Kenntnisse und seines logischen Scharfsinnes. Und dabei war dieses ausgedörrte Männchen tatsächlich irrsinnig, hatte mindestens einen ganz tüchtigen Klaps. Aber es ist ja bekannt genug, wie nahe Genie und Wahnsinn aneinandergrenzt.

Die Sache war nun folgende:

Ein phönizischer Seekapitän namens Pyra aus Sidon, der, da er einen für uns ganz sagenhaften König nannte, ungefähr 1500 Jahre vor Christi gelebt haben mußte, wollte ein großartiges Naturgeheimnis kennen, es auch zum Teil selbst erforscht haben.

Von einer Bucht an der Ostküste Arabiens aus, die er sehr genau zu bezeichnen verstand, sollte ein unterirdischer Flußlauf durch ganz Arabien gehen, einmal an der Westküste wieder zum Vorschein kommend, also im Roten Meere, und dieser unterirdische Flußlauf sei überall breit genug, um eine Galeere durchzulassen, allerdings nur mit eingezogenen Rudern, man müsse sich an den Felswänden fortstoßen, könne aber doch so aus dem Mittelmeere auf dem Wasserwege direkt nach Indien gelangen.

Er selbst habe diesen unterirdischen Flußlauf vom Mittelmeere aus verfolgt, sei zwei Tage lang in das Reich der ewigen Nacht eingedrungen, mußte dann aber wegen Meuterei seiner verzagten Mannschaft umkehren. Dann sei seine Galeere mit Mann und Maus gesunken, nur er sei mit dem Leben davongekommen.

Nach Sidon zurückgekehrt, habe ihn sein König nach der phönizischen Kolonie Astarnia an der Westküste Afrikas geschickt. Dort habe ihm ein Orakel verkündet, daß die Hafenstadt Astarma demnächst durch einen Sandsturz verschüttet würde, die ganze blühende Umgegend zur Wüste gemacht, auch selbst Kapitän Pyra würde dabei seinen Tod finden, dem er durch nichts entrinnen könne. So solle er zuvor sein Geheimnis, das ihm ebenfalls durch göttliche Offenbarung zuteil geworden, niederlegen in einer bestimmten Geheimschrift, das Dokument in einem ehernen Schiffmodell verbergen und dieses an einer gewissen, näher bezeichneten Stelle einmauern. So wolle es die Gottheit.

Und Kapitän Pyra hatte gehorcht.

So weit das Pergament.

Wie gesagt, es war ungeheuer schwer, es zu enträtseln, auch wenn man schon den Schlüssel zu der Geheimschrift, einer ausgestorbenen Sprache angehörend, gefunden hatte.

Man denke nur daran, daß die Phönizier doch ganz andere geographische Namen gehabt haben. Das, was wir heute das Rote Meer nennen, war bei den Phönizern das »Jam Suph«. Aber wer weiß denn das. Das sind Gebiete, auf denen sich auch die gelehrtesten Spezial—Forscher in ewigem Streite liegen. Für den heutigen Persischen Golf hatten die Phönizier noch gar keinen Namen, sie kannten ihn noch nicht, obgleich er ihnen doch eigentlich so nahe lag.

»Das Wasser, an dem Ophir liegt!« sagte das Pergament.

Wo hat denn dieses Ophir gelegen, aus dem König Salomo seine Schätze holen ließ.

Unsere Gelehrten haben diesem Goldlande schon vier Erdteile angewiesen, nämlich sogar in Amerika. Jetzt will Karl Peters dieses sagenhafte Land, das aber ganz bestimmt eine Tatsache gewesen ist, an der Ostküste Afrikas gefunden haben.

Und die Namen dieser beiden Meerbusen waren noch Kleinigkeiten. Ach, was kamen da für geographische Bezeichnungen vor!

Der Mann, der in seinem Wahne der schon vor hundert Jahren verstorbene Professor Beireis sein wollte, hatte alle die Rätsel gelöst, dank seiner fabelhaften Kenntnisse und seines Scharfsinnes, hauptsächlich aber auch dank seiner Bibliothek, meist aus Handschriften bestehend, die ich erst selbst gesehen haben mußte, um das glauben zu können, was mir Doktor Isidor von dieser Bibliothek erzählte. Nämlich nur was ihren kolossalen Umfang anbetraf. Ihren inneren Wert verstand ich ja gar nicht zu würdigen. Erwähnen will ich nur, daß sich darin auch eine Weltkarte — so weit die Erde damals bekannt war des Karthagers Hanno befand, der zuerst Afrika umschifft hat, wohl nur eine getreue Kopie des Originals, das sich, eine der kostbarsten Raritäten, im Britischen Museum befindet, wenn auch der Professor behauptete, dies hier sei das Original und jenes nur eine Imitation. Dieses Männlein aber war genau so eitel und prahlerisch wie jener Helmstätter Sonderling, den er selbst imitierte.

Jedenfalls war diese Karte von größtem Werte bei der Enträtselung des Dokumentes. Zwar konnte der unterirdische Eingang im Mittelländischen und im Roten Meere nicht festgestellt werden, desto genauer aber der im »Wasser, welches die Küste von Ophir bespült.« Auf Hannos Karte war dieses Land Ophir angegeben. Darunter stand noch der Name »Saba«. Es war der Südostzipfel Arabiens, der heute das Sultanat Oman oder Maskat bildet!

Ungeheuer war die Erregung, die sich der ganzen Besatzung beschäftigte, als sie davon erfuhr. Auch der primitivste Matrose wußte zu würdigen, was es bedeutete, wenn man aus dem Mittelmeere auf dem Wasserwege unterirdisch durch ganz Arabien direkt in den Persischen Golf gelangen könnte. Die nunmehrige Existenz des Suezkanals hatte dabei gar nichts zu sagen. Vorausgesetzt, daß an der ganzen Sache etwas Wahres war.

Nun, das mußte eben untersucht werden, das war auch bei der Patronin sofort eine beschlossene Sache. Hierdurch erwachte sie überhaupt erst wieder zu einem richtigen Leben, in die ganze Mannschaft kam durch dieses Ziel, durch diese rätselhafte Aufgabe, doch ein ganz anderes Leben hinein.

Die »Argos« verließ den Seelandsfelsen. Nur Professor Beireis kam nicht mit, der blieb zurück. Jetzt erst hatte Helene auch das Verlangen, mein Grab zu besuchen. Also zuerst nach Wellington. Wie es ihr dort mit dem Bildhauer ging, habe ich schon berichtet. Obgleich die Argonauten damals, als sie mir erzählten, selbst nach gar nichts davon wußten. Die glaubten, ich oder mein Stellvertreter läge bereits eingegittert unter einer grünen Riesenkugel.

Dann weiter nach dem Persischen Golf, nach der Ostküste von Maskat. Die betreffende Bucht war durch gewisse Angaben ganz genau gekennzeichnet und daher leicht zu finden. Sie lag ungefähr unter dem 23. Breitengrade — von welchen geographischen Bestimmungen die alten Phönizier freilich noch nichts wußten — gerade dort, wb das Küstengebirge ganz dicht an das Meer herantritt.

Eine trostlose Gegend, nach gänzlich unbekannt. Ich will gleich sagen, weshalb auch die Araber diese Bucht wie die Pest meiden, weshalb der eingeborene Fischer lieber mit Absicht anderswo scheitert, dabei Schiff und Leben verlierend, ehe er in dieser Bucht Schutz vor dem Sturme sucht, wenn wir dies auch erst später erfuhren: weil nach dem allgemeinen Volksglauben in dieser Bucht höllische Dämonen ihr Wesen treiben.

Aber die »Argos« konnte in die Bucht einfahren, bis dicht an die Felsen heran. Und in diesen befand sich eine weite Öffnung, die von weitem wie eine Höhle aussah, wie es solche noch massenhaft gab, während man hier in der Nähe gleich merkte, daß ein starker Strom herauskam, und zwar Süßwasser! Ein unterirdischer Flußlauf!

Die Barkasse, mit zwei Dutzend Leuten bemannt, drang ein. Es ging immer in südwestlicher Richtung fort, manchmal hatte dieser Hauptstrom Nebenzuflüsse, die aber schon zu schmal für die Barkasse waren.

Zwei ganze Tage verfolgten sie so mit halber Kraft den Strom aufwärts, nur selten Halt machend. Was sie dabei für seltsame und zum Teil auch wunderbare Entdeckungen machten, davon werde ich später berichten, wenn ich sie selbst auf dem Rückweg begleite. Wie weit sie während dieser Zeit vorgedrungen waren, das ließ sich wegen der Strömung und Biegungen schwer berechnen, sicher aber waren es mehr als 20 geographische Meilen.

Heute, erst vor wenigen Stunden, hatte ihr Scheinwerfer zum ersten Male eine Steintreppe beleuchtet. Sie waren hinaufgestiegen, Juba Riata an der Spitze. Immer höher ging es mit Absätzen und anderen Unterbrechungen hinauf, das Barometer zeigte bald 350 Meter, als die Treppe in einer großen Kammer endete. Nur noch ein Treppchen war vorhanden, das gegen die Decke stieß.

Hier war offenbar eine Platte eingelassen. Juba Riata besaß eine wahre Bärenkraft, aber sie langte nicht, um sie zu liften. Erst als auch noch Ernst seinen Rücken darunter stemmte, wich sie, und zwar mit einem Male ganz leicht und geräuschlos.

Ich habe diesen Ausführungen wenig mehr hinzuzusetzen.

In dem darüber befindlichen Raume hatte ich mich befunden, von meiner Pritsche immer auf die magische, leuchtende Figur starrend, und die befand sich eben gerade auf jener Platte.

Das andere läßt sich leicht erklären. Dabei muß man meine Gemütsverfassung bedenken. Einmal schon fünf Stunden in dem stockfinsteren Raume, nur immer die phosphoreszierende Figur anstarrend, mit tränenden Augen, und immer mit der Sehnsucht, die Seelen von Verstorbenen, also Geister sehen zu wollen.

Die Platte hatte sich gehoben, ohne daß ich dies unterscheiden konnte, aus dem darunterliegenden Raume war ein feuchter Nebel aufgestiegen, von unten auch noch erleuchtet durch eine Lampe mit Scheinwerfer.

In diesem Nebel war erst Juba Riata aufgetaucht, dann Ernst, dann als dritte Person die Patronin. Diese drei hatte ich wirklich gesehen, alles andere war nur Einbildung gewesen, ein Traum.

»Helene!« hatte ich entsetzt gerufen, war, mir ganz unbewußt, aufgesprungen und prompt von der Pritsche gepurzelt, war mit dem Kopfe heftig auf die Trittstufen geschlagen.

Dieser Sturz, der mir sonst gar nichts weiter geschadet, hatte mir die Besinnung geraubt. Während dieser Zeit hatte ich alles andere nur geträumt. Kapitän Martin war ja überhaupt nicht mit. Wohl Doktor Isidor, aber nicht im Gehrock und Zylinder, wie ich ihn gesehen, sondern in einem Sportanzug. Einen Caprerafelsen kenne ich gar nicht, gibt es überhaupt nicht.

Erst als Oskar mir die Rumflasche an den Mund setzte, vermischte sich der Traum mit der Wirklichkeit, ich kam wieder zu mir. Inzwischen aber war ich schon in den unteren Raum hinabgebracht worden.v

So hatten wir uns gegenseitig erzählt, wenn auch längst, längst nicht so ausführlich wie ich es hier tat. Das alles erfuhr ich erst nach und nach, aber die Hauptsache wußte ich nun doch schon, und die anderen kannten ungefähr meine Erlebnisse.

Na‚ dieser Jubel meiner Jungen, so weit sie hier vorhanden!

»Unser Waffenmeister wieder da, gesund und lebendig, von den Toten wieder auferstanden!«

»Wunderbar, wunderbar!« flüsterte Helene immer wieder, vorausgesetzt, daß sie Zeit dazu hatte, weil sie sich sonst immer in anderer Weise beschäftigte.

Ja, es war auch tatsächlich ein ganz seltsames Zusammentreffen!

Ich will hier im Herzen von Maskat Tote beschwören, als solche erscheinen mir meine Genossen, und die wiederum finden ihren als tot beweinten Waffenmeister als Lebendigen!

»Ob nicht Schwester Anna darum gewußt hat, daß Ihr mich hier finden werdet?«

»Ich weiß es nicht. Aber jedenfalls zürne ich diesem geheimnisvollen Wesen nun nicht mehr, wie ich es anfangs getan, als mich Schwester Anna in meinem tiefsten Seelenschmerze allein ließ. Georg, ich habe Dich wieder!«

Weinend und lachend lag sie wieder an meiner Brust, unbekümmert um die anderen Leute, die ja recht gut wußten, wie es um uns gestanden hatte, denen wir aber so etwas doch nie gezeigt.

»Das müssen wir, wenn wir nicht gleicht zurückfahren, sofort dem Schiffe melden!« dachten diese Jungen jetzt nur an ihre Kameraden.

»Auf welche Weise?«

»Wir haben für solche Meldungen drei Seehunde mitgenommen.«

Das wurde sofort besorgt, gleich zwei gingen zusammen ab, um meine Wiederauferstehung an Bord zu verkünden.

Dann wurden weitere Beratungen gehalten, ich trug meinen Plan vor.


70. KAPITEL. DER SPIEß WIRD UMGEKEHRT.

Die 72 Stunden waren vergangen. Punkt 12 nach der mir geliehenen Uhr rasselte draußen der Schlüssel, Vater Abdallah trat mit brennender Lampe ein.

Er fand mich nicht auf der Pritsche liegend, sondern ich stand schon unten.

»Nun, was hast Du erlebt? Ist Dir etwas erschienen?«

Wir hätten, um meinen Plan auszuführen, schon vor drei Tagen die Kellertür erbrechen können. Wir hatten gewartet, bis Vater Abdallah selbst kam, um mich zu holen, einmal, weil die Sache doch vielleicht nicht hätte klappen können, und zweitens, weil wir in den unteren Räumen Interessantes genug zu erforschen gehabt hatten.

Nun aber machte ich es ganz, ganz kurz.

Der Alte hatte kaum zwei Schritt in den Raum hineingetan, als ich schon zwischen ihm und der Tür stand, diese hinter mir zuziehend.

»Vater Abdallah, Du bist mein Gefangener!

Und da krochen auch schon unter der Pritsche, die ziemlich bis an den Boden mit Brettern verkleidet war, Juba Riata und einige Matrosen hervor, standen hinter dem Alten, noch ehe dieser etwas ahnte, so hatte ich ihn dirigiert, schnürten ihm von hinten die Arme zusammen und banden ihm die Hände.

Denn so harmlos auch der Alte zu sein schien, er hätte doch einen vergifteten Dolch oder eine elektrische Batterie oder sonst ein Teufelsmittel bei sich haben können, womit nicht zu spaßen war.

So, nun war er unschädlich und kürzer hätten wir es wirklich nicht machen können.

Der Alte sackte denn auch vor Schreck gleich auf die Knie nieder. Er hatte ja gar nicht gemerkt, wie Menschen hinter ihn getreten waren.

»Allah stehe mir bei, die Toten, die Du beschworen hast, sind lebendig geworden!« stöhnte er.

»Jawohl, sehr lebendig. Es sind denn auch richtig Seefahrer, die aber überhaupt nie tot gewesen sind.«

Ich drehte ihn herum, daß er die anderen sah, was ihm freilich noch keine Erklärung geben konnte.

»Mein Sohn, mein Sohn, löse mir dieses Rätsel!« wimmerte er nach wie vor.

»Es sind Menschen aus Fleisch und Blut, die dort aus jener Öffnung gekommen sind. Juba öffne sie.«

Peitschenmüller brauchte nur einmal mit dem Fuße aufzustampfen, und die Platte wurde von unten heraus gedrückt, von hier oben war sie gar nicht zu entfernen, oder man hätte sie zertrümmern müssen. Die anderen Platten lagen auf festem Gestein, gaben aber merkwürdigerweise genau denselben Klang wie diese hohlliegende, allerdings auch fast einen Viertelmeter dicke Platte.

Ich hatte den Alten dabei beobachtet.

»Inschallah, Alschallah eine Öffnung eine Treppe!« rief er im höchsten Staunen.

Er brauchte mir nicht erst zu versichern, daß er nichts von alledem gewußt hatte, ich sah es ihm gleich an.

»Wir werden uns später mehr hierüber unterhalten. Vater Abballah Du bist mein Gefangener!«

»Dein Gefangener?!«

»Jawohl. Du kommst mit mir.«

»Wohin?«

»An Bord unserer Schiffe. Das sind nämlich meine Schiffskameraden, die mich hier zufällig gefunden haben. Alles Weitere wirst Du schon später erfahren. Du kommst sofort mit. Hast Du etwas mitzunehmen? Das will ich Dir erlauben.«

»Allah, wie kannst Du mich alten Mann als Gefangenen fortschleppen wollen?«

»Ich will es Dir ganz kurz erklären. Du hast für Deine Mäusespielerei einen christlichen Sklaven gebraucht, hast einem Menschenhändler den entsprechenden Auftrag gegeben, und der erste beste Mann war Dir recht.

Und hätte dieser Mann zu Hause Frau und Kinder gehabt, Du hättest ihm nur erlaubt, diesen zu schreiben, hättest ihn aber nicht freigelassen. Jetzt drehe ich den Spieß herum. Ich brauche einen arabischen Magier, der mir etwas vorgaukeln soll. Du kommst mit.«

Jawohl, das war meine ehrliche Meinung. Wurst wider Wurst. Allzugroßes Herzeleid wollte ich dem Alten und seinen Kindern ja freilich nicht zufügen, da bin ich doch nicht so, wir konnten ihn ja auch jederzeit wieder in Maskat absetzen, aber das brauchte er noch gar nicht zu wissen, solch eine Lektion schadete dem alten Muselmann gar nichts.

Der Alte schien sich denn auch gleich in sein Schicksal zu fügen, so geknickt er auch war.

»Ich habe Dich doch so gut behandelt, wie meinen eigenen Sohn!« versuchte er es nur noch einmal im jammerndsten Tone.

»Und ich werde Dich wie meinen eigenen Vater behandeln, Dir soll nichts abgehen. Höchstens daß ich Dir nicht so ausgezeichneten Kaffee vorsetzen kann. Nimm Dir also eine gute Portion mit, und was Du sonst brauchst, das erlaube ich Dir.«

»Meine armen Töchter!«

»Darfst Du ebenfalls mitnehmen.«

»Darf ich?« blickte der Alte hoffnungsfreudig auf.

»Na sicher.«

»Wie alt sind die?« mischte sich Oskar gleich ein, eine Frage, die ich noch gar nicht gestellt hatte. Da muß man ja im mohammedanischen Orient sehr vorsichtig sein.

»Suleika ist 18, Aische erst, 14 Jahre alt.«

»Wie, sind das Deine eigenen Töchter?!« stutzte ich jetzt, dabei aber Oskar einen befehlenden Blick zuwerfend, daß er seine vorlaute Fragerei unterließ, denn das wäre doch nicht ohne Matrosenwitz abgegangen.

Ich hatte ja immer an weit ältere Töchter gedacht, an alte Jungfern oder Witwen.

»Gewiß, es sind meine eigenen Töchter, meine einzigen Kinder.«

»Hast Du so spät geheiratet?«

»Erst mit dem sechzigsten Jahre.«

»Nun, das kann vorkommen. Abraham war ja noch weit älter, ehe er Vater wurde. Also Du willst. Deine beiden Töchter mitnehmen?«

»O, wenn ich das dürfte! Und da Du der Hauptmann dieser Leute bist, weiß ich, daß sie bei Dir gut aufgehoben sind.«

»Da hast Du recht. Werden sie auch kommen?«

»Sie würden ihren alten Vater auch ins größte Elend begleiten. Es sind gar liebe Kinder.«

»Nein, das meine ich nicht, wenn wir sie einmal hier haben, müssen sie Dich auch begleiten, ob sie nun wollen oder nicht. Ich meine, ob Deine Töchter jetzt hier herunter in den Keller kommen werden, wenn ich zu ihnen gehe und sage, ihrem Vater sei hier unten etwas zugestoBen.«

»Wozu diese List? Ich will selbst gehen und sie holen . . .«

»Nichts da, das wäre wohl etwas für Dich, hinaufgehen und Lärm schlagen!« lachte ich.

»Du irrst. In das nun einmal unvermeidliche Schicksal muß man sich fügen. Ich schwöre Dir beim Barte des Propheten . . .«

»Laß den Propheten und seinen Bart zufrieden. Werden Deine Töchter kommen, wenn ich sage, daß ihrem Vater hier unten etwas zugestoßen ist?«

»Sofort werden sie eilen.«

»Es sind vier Dienerinnen im Hause, nicht wahr?«

»Vier, und sie alle werden sofort kommen.«

»Was heißt das auf Arabisch: kommt sofort, Eurem Vater ist im Keller etwas zugestoßen — er ist erkrankt.«

»Meine Töchter sprechen auch französisch . . .«

»Ich will wissen, was das auf Arabisch heißt.«

Er sprach es mir vor. Ich will hier nicht Arabisch anfangen.

Aber nach Doktor Isidor blickte ich hin, der inzwischen ebenfalls aus der Tiefe aufgetaucht war.

»Stimmt es?«

»Es stimmt!« nickte dieser, der die verschiedensten arabischen Dialekte sprach.

Dann war es gut. Es war nur eine Prüfung, eine Falle gewesen. Denn der Alte ahnte schwerlich, daß einer unter uns Arabisch konnte, sonst hätte ich doch diesen gefragt, und so hätte er ja meine Aufforderung etwa übersetzen können; flieht, ich bin in der Gewalt meines weißen Sklaven, holt Hilfe herbei.

Aber der Alte hatte die Prüfung der Ehrlichkeit bestanden. Das war mir wertvoller als ein Schwur beim Barte des Propheten.

Weitere Besprechungen mit den anderen brauchte ich nicht, dieser ganze Plan war schon vorher entworfen worden. Die Töchter mit Dienerinnen wohnten im zweiten Stockwerk, das genügte mir, Türen brauchte mir der Vater nicht zu beschreiben.

Also ich die Lampe genommen und hinauf. Um diese Mittagsstunde hielt alles schon Siesta.

Ich machte mein Kommen in der zweiten Etage durch kräftiges Poltern bemerkbar.

»He, holla, he!« rief ich außerdem.

Eine Tür wurde geöffnet, ein Weib kam heraus, eine der Dienerinnen. Wenn die vier Weiber auch ganz gleich gekleidet und in meiner Gegenwart immer ganz dicht vermummt waren, so konnte sie mein Fechterauge doch schon recht wohl voneinander unterscheiden. Zwei von ihnen waren nach Bewegung und Stimmen offenbar schon älter, die beiden anderen jünger. Die beiden Töchter hatte ich vielleicht noch gar nicht zu Gesicht bekommen. Wenn die Frauengestalten so durch die halbdunklen Gänge huschten, konnte man sie doch nicht richtig voneinander unterscheiden.

»Vater Abdallah ist im Keller unwohl geworden, er verlangt nach seinen beiden Töchtern, nach Suleika und Aische!« rief ich auf Französisch.

Das Weib antwortete mit schnarrender Stimme auf Arabisch! Keine der vier Dienerinnen verstand eine der vier Sprachen, die ich beherrschte, und von mir war nicht zu verlangen, daß ich in den 19 Tagen, seitdem ich nun hier war, von denen ich aber auch noch drei Tage einsam in dem finsteren Kellerloche zugebracht, perfekt Arabisch erlernt hätte.

Aber schon das Nennen der beiden Töchternamen mußte die schnarrende Alte stutzig machen, und dann hatte ich mein Französisch auch genügend laut geschrien.

»Mon ciel, was ist passiert?« erklang es da auch schon in derselben Sprache, und in einer anderen Tür erschien eine zweite Frauengestalt, die nicht zu den mir bekannten gehörte.

Sie hatte den dichten Schleier — einfach ein Tuch schon vor dem Gesicht hängen, wollte ihn aber wohl erst richtig befestigen, zog noch daran, er löste sich an der Stirn ab — und ich sah ein ganz liebreizendes Gesicht mit roten Lippen und dunklen, mandelförmigen Augen.

Schnell war das Antlitz wieder verhüllt. Übrigens ist es nicht gar so fürchterlich, wenn man das Antlitz einer Mohammedanerin einmal zu sehen bekommt. Die Weiber der ärmeren Klassen tragen es ja überhaupt auch auf der Straße unverhüllt. Es ist nur ein Anstand, daß die bessere Mohammedanerin dem fremden Manne ihr Gesicht nicht zeigt, massakriert wird man nicht etwa, wenn man es aus Versehen einmal zu sehen bekommt.

Und jetzt hatte dieses Mädchen überhaupt an etwas anderes zu denken.

»Mon ciel, was ist passiert, was ist dem Vater zugestoBen?« rief sie erschrocken im besten Französisch.

»Es ist ihm im Keller unwohl geworden, er brach plötzlich zusammen, verlangte nach seinen beiden Töchtern, nach Suleika und Aische, auch alle Dienerinnen sollen kommen . . .«

»Sofort, sofort!«

Es gelang gleich mit einem Male, alle zusammen mitzubekommen. Ich hatte mich schon auf zwei Gänge gefaßt gemacht. Aber gleich alle sechs Weiber stellten sich ein, um mich zu begleiten, sie mochten an das letzte Testament eines Sterbenden denken.

Ich führte sie mit der Laterne an, in den Geisterkeller hinab. Aber die wackeren Mädels fürchteten sich nicht. Hatten ja eigentlich auch gar keinen Grund dazu. Bei den Mohammedanern hat ja das Weib gar keine Seele, sie kommt weder in den Himmel noch in die Hölle, also kann ihr ja auch kein Teufel etwas anhaben.

Es wurde noch einfacher, als ich gedacht. Ich hatte mich darauf gefaßt gemacht, zuletzt hinter sie treten zu müssen, um die letzten etwas mit Gewalt in das Gewölbe zu schieben, um dann ihre Gefangennahme zu bewerkstelligen. Aber es war nicht nötig. Sie folgten mir in den Stall hinein wie die Schafe dem Leithammel, und wenn der Stall auch gebrannt hätte. So brauchte ich nur die Tür zuzumachen und mich davorzustellen, da sie von innen nicht geschlossen werden konnte, und es war geschehen.

Das Licht meiner Lampe fiel auf die Gestalt, die in ihrem weißen Kaftan in der Mitte der Raumes am Boden lag.

Die eine Tochter stürzte zuerst darauf zu, kniete nieder, und in ihrer Erregung behielt sie auch jetzt das Französische bei.

»Mon pere, mon pere!« rief sie jammernd, sich über den armen Vater werfen wollend, wozu man aber doch erst die Hände vorstreckt — und auf diese Weise griff sie sozusagen ins Leere, welche Leere nur mit einem weißen Tuche zugedeckt war.

Es war gar nicht der Alte, der da am Boden lag, sondern nur sein Kaftan, den man etwas ausstaffiert hatte, um ihm Form und Erhöhung zu geben.

Viel Zeit zur Bestürzung ob dieser Gaukelei, daß der alte Vater aus seinem Kaftan heraus verschwunden war, hatten die sechs Weiber nicht.

Da kroch schon als erster Oskar unter der Pritsche hervor, griff noch einmal darunter, brachte zwei Füße zum Vorschein und zog an diesen weiter den ganzen Vater Abdallah hervor, noch immer reichlich bekleidet.

»Da habbt'r eiern Bär!« mußte Oskar erst noch erklären.

Jetzt ging es Arabisch los, was ich nicht verstand. Aber Doktor Isidor war Wächter, daß keine Intrigen gesponnen wurden.

Nein, es geschah nicht. Vater Abdallah versicherte Töchtern und Dienerinnen, daß er kerngesund sei, fremde Männer seien auf einem unterirdischen, ihm unbekannten Wege in dieses Haus eingedrungen, um mich, ihren Anführer zu befreien, die Männer würden sie alle mitnehmen, wohl auf ein Schiff, aber sonst hätten sie nichts weiter zu fürchten.

So ungefähr. Und die Weiber ergaben sich denn auch gleich in ihr Schicksal, sonst wären sie ja auch keine Mohammedanerinnen gewesen, sie kauerten sich in einer Ecke zusammen. Meine Jungen brauchten keine Vorschrift, wie die Damen zu behandeln seien. Da gab es nichts, daß etwa ein Schleier gelüftet wurde.

Jetzt waren wir Herren der Festung, des ganzen Hauses, konnten uns, wenn wir wollten, wer weiß wie lange darin aufhalten, ohne daß die ganze Stadt etwas von der hier vorgegangenen Umwälzung ahnte.

Denn die Hausordnung kannte ich ja. Früh um acht wurde Milch und Brot gebracht, ab und zu auch Fleisch und sonstige Lebens—Mittel, und dasselbe geschah noch einmal abends um sechs. Das gaben die Zuträger an der Haustür ab, welche nach außen überhaupt die einzige Öffnung bildete, die der Zimmermann oder vielmehr der Maurer und Steinmetz gelassen hatte, es war eben ein arabisches Haus, das gar keine Frontfenster besaß, die Fenster gingen ausschließlich nach dem innen liegenden Hofgarten.

Bei der Abnahme dieser Sachen wurde nicht einmal die Tür geöffnet, sondern in dieser nur eine Klappe, kaum so groß, daß man den Kopf durchstecken konnte, durch diese gaben die Zuträger die Lebensmittel in kleinen Paketen, meist in Palmblätter gewickelt, und in kleinen Töpfchen an die Dienerin ab.

Vater Abdallah verließ das Haus niemals. Ohne deswegen etwa ein Gelübde abgelegt zu haben. Er hatte einfach kein Bedürfnis danach. Es konnte auch einmal eine Ausnahme geschehen. Es kam schon einmal vor, daß er einen wichtigen Geschäftsgang zu machen hatte. Er war doch auch in die Karawanserei gegangen, um mich zu kaufen. Aber sonst ging er nie aus und ebensowenig erhielt er Besuch.

Dasselbe galt von den Weibern. Die besuchten höchstens einmal im Monat den Bazar der Stadt. Aber es fiel nicht auf, wenn sie gleich einmal ein halbes Jahr nicht kamen.

Das hatte mir Vater Abdallah beim Plaudern über seine Lebensweise schon berichtet. Also wir hätten hier wer weiß wie lange hausen können, ohne daß die Stadt etwas davon ahnte. Mit den Zuträgern wollten wir schon fertig werden.

Nun, gar so lange gedachten wir ja nicht hier zu bleiben, wozu denn.

»Mein lieber Vater, was gedenkst Du nun mitzunehmen?« wandte ich mich jetzt huldvoll an den Alten, dem man bereits auch die Fesseln wieder abgenommen hatte.

»Gedenkst Du mich und meine Töchter denn für immer als Deine Gefangenen zu behalten?«

»Das weißt ich noch nicht. Oder ich drehe eben den Spieß vollkommen herum. Du wolltest mich so gut behandeln, mir das Leben hier so angenehm machen, daß ich überhaupt gar keine Lust mehr hätte, Dich zu verlassen. Dasselbe gilt jetzt umgekehrt. Ich hoffe, es gefällt Dir bei uns so gut, daß Du freiwillig bis an Dein seliges Ende bei uns bleibst. Kannst auch ruhig ein Mohammedaner bleiben, da wollen wir keine Bekehrungsversuche machen.«

»Ihr habt ein Schiff?«

»Ja, wir leben ständig auf einem Schiffe. Auf einem wunderschönen Schiffe, wo Dir nichts an Behaglichkeit abgehen wird.«

»Wo liegt denn nur dieses Schiff?«

»An der Küste von Maskat, laßt Dir das jetzt nur genügen.«

»Und Deine Leute kommen von dort doch nicht etwa immer unter der Erde her?!«

»Vater Abdallah laßt doch jetzt solche Fragen. Das wirst Du später alles selbst sehen.«

»Was soll ich auf dem Schiffe?«

»Wie ich schon sagte: Du sollst uns durch Deine Gaukeleien belustigen. Daß Dir dasselbe überall möglich ist, hast Du mir ja selbst gesagt, und einen mit schwarzen Samt ausgeschlagenen Raum kannst Du auf unserem Schiff auch bekommen, in dem Du Deine Geister bannen, das heißt in dem Du Deine Einbildungskraft genügend konzentrieren kannst.«

»Und wenn ich mich weigere, Euch solche Gaukeleien, wie Du das nennst, vorzuführen?«

»Zwingen werden wir Dich nicht. Kein Mensch muß müssen, am wenigsten in solch einem Falle. Aber Du wirst schon wollen. Danach wirst Du eben behandelt. Du sollst unser Freund werden. Also was willst Du mitnehmen? Auch Deine Töchter und Dienerinnen wollen sich wohl ausstatten.«

»Ja, wenn ich mein Laboratorium mitnehmen könnte,« seufzte der Alte, obgleich er, so viel ich wußte, gar nicht mehr darin arbeitete. Aber es konnte ja doch sein, er hatte meinetwegen nur einmal eine längere Pause eintreten lassen.

»Kannst Du mitnehmen. Aber auch wir haben ein Laboratorium.«

»Auf Eurem Schiffe?«

»Jawohl. Und auch noch anderswo, an Land, in einem Schlupfwinkel, den wir manchmal aufsuchen. Da kannst Du nach Herzenslust experimentieren.«

»Na‚ und was für ein physikalisches und chemisches Laboratorium!« mischte sich jetzt Doktor Isidor ein, da ich somit die Erlaubnis gegeben hatte, über unseren Schlupfwinkel zu sprechen. »Solch ein Laboratorium findest Du sonst nirgends in der Welt!«

Der Alte wurde neugierig, der Gelehrte und Forscher erwachte in ihm.

»Wo befindet sich dieser Schlupfwinkel mit dem Laboratorium?«

»Laß das jetzt, das erfährst Du erst, wenn Du dort bist. Jedenfalls sind wir bereit, Dein ganzes Laboratorium einzupacken und mitzunehmen, wenn es nicht gar zu groß ist.«

»Gar so groß ist es nicht.«

»Dann wird es eingepackt und mitgenommen. Was unser Boot nicht faßt, bleibt einstweilen unten liegen und wird später abgeholt. Aber in unsere Barkasse gehen schon einige Raum— und Gewichtstonnen hinein, und jede fast einen Kubikmeter oder 20 Zentner. Sonst noch etwas?«

»Meine Bibliothek. Wenigstens ein Teil davon.«

»Du sollst auswählen, meine Leute werden Dir dabei behilflich sein. Was sonst noch?«

»Kleider . . .«

»Das ist gar selbstverständlich, wie bei Deinen Töchtern und Dienerinnen. Ihr alle sollt Euch dann frei bewegen können, freilich immer unter Aufsicht meiner Leute. Und Deine Mäuschen?«

»Ach die wirst Du doch nicht mit auf Dein Schiff nehmen wollen!« lächelte der Alte verschämt, denn er war sich der Kindlichkeit seiner Spielerei wohl bewußt.

»Doch. Wenn auch nicht gleich die ganze Menagerie. Ich werde einige schöne Exemplare aussuchen, je ein Fräulein und ein Männlein, das Luderzeug vermehrt sich ja schnell genug, Du wirst bald alle unsere Salons wieder mit Deinen lieben Tierchen gefüllt haben. Nun aber vorwärts!«

Die ganze Gesellschaft wurde wieder hinauf geleitet. Auch die sechs Weiber bekamen männliche Begleiter, sonst aber, wenn es sich um intime Angelegenheiten handelte, genügten die Patronin und Klothilde, welche ebenfalls mit bei der Expedition war. Besonders letztere würde schon ein wachsames Auge darauf haben, daß nicht etwa eine ein Hilfszeichen an die Außenwelt gelangen ließ. Es brauchte ja auch nur die Haustür und die nach dem flachen Dache führende Treppe besetzt zu werden.

Der Alte begab sich bald wieder in den Keller, ich fand ihn dann in seinem Laboratorium, wo Matrosen nach seiner Anweisung die zum Teil sehr kostbaren physikalischen Apparate einpackten. Noch mehr gab die Anleitung dazu Doktor Isidor, welcher sagte, was nicht nötig sei, da sich dies alles auch an Bord befinde. Das galt besonders von der ganzen Einrichtung des chemischen Laboratoriums.

Mit dieser Einpackerei und dem Hinabschaffen würden wohl einige Stunden vergehen, aber wir konnten wohl noch vor sechs Uhr fertig sein, so daß wir den Zuträgern gar nicht mehr zu öffnen brauchten.

»Was wird nun geschehen, wenn die Händler vergebens klopfen?« fragte ich den Alten.

»Ja, was soll dann geschehen? Sie müssen eben wieder gehen.«

»Aber was denken die Leute, was denkt die ganze Stadt, wenn niemand mehr öffnet, auch in den nächsten Tagen nicht.«

»Wir sind alle gestorben.«

»Nun erbricht man die Tür, findet keinen Menschen mehr im Hause, merkt aber auch, daß Ihr Sachen mitgenommen habt.«

»Nein, niemand wird hier eindringen.«

»Nicht?!«

»Sicher nicht.«

»Weshalb denn nicht?«

Der Alte lächelte verschmitzt, er hatte schon seinen Humor wieder.

»Weil ich für einen Zauberer gelte, der seine Seele dem Teufel verschrieben hat. In ganz Maskat gibt es keinen Menschen, der dieses Haus zu betreten wagt, verlaß Dich nur darauf.«

»Aber wie wird man sich erklären, daß Ihr alle plötzlich gestorben seid?«

»Wir können uns ja versehentlich vergiftet haben. Ich gelte, da man recht wohl weiß, daß ich ein Laboratorium habe — ich bekam erst neulich mit einer Karawane viele Chemikalien — für einen Giftmischer. Oder die Geister, die ich in die weißen Mäuse gebannt habe, haben sich entfesselt, wir sind einfach samt und sonders vom Teufel geholt worden.«

»Also Du bist ganz sicher, daß dieses Haus niemand betreten wird?«

»Ganz bestimmt nicht.«

»Und wenn ich Dich nun nach einiger Zeit wieder hierher brächte, Dich und Deine Töchter und Dienerinnen, was dann?«

»Dann würden wir unser gewohntes Leben fortsetzen.«

»Ohne daß man Dich zur Rechenschaft zieht, wo Du inzwischen gewesen bist?«

»Wer dürfte wagen, mich zur Rechenschaft zu ziehen? Die Geister haben uns eben zurückgebracht, nachdem sie von mir wieder gebändigt worden sind.«

Nun desto besser. Es muß ganz hübsch sein, als Zauberer in solch einem abergläubischen Neste zu wohnen.

»Hast Du Geld im Hause? fragte ich weiter.

»Ja, ziemlich viel. Wenn ich es aber nicht bedarf, so kann es ruhig hier bleiben.«

»Hast Du Geld ausstehen?«

»Auch das, aber ich brauche mich nicht darum zu kümmern. Es wird mir nicht verloren gehen!«

Ich begab mich wieder hinauf, in die Mäusezimmer, tat ein Dutzend Exemplare verschiedenen Geschlechts in eine Schachtel, um sie mitzunehmen. Die anderen ließ, ich von Matrosen zusammenschaufeln und auf das Dach tragen.

Ich erwähne nachträglich, daß sich der Mäusekönig früher, als er den Weiterbau nicht mehr betreiben konnte, sich des überflüssigen Nachwuchses doch entledigen mußte, und überhaupt immer von Zeit zu Zeit, denn ein einziges Mäusepaar kann, wenn alles klappt, innerhalb eines einzigen Jahres rund eine Million Nachkommen haben. Das ist eine Tatsache! Alfred Brehm rechnet in seinem »Tierleben« dieses Exempel für die Feldmaus ganz genau aus! Und die Hausmaus, von der die weiße nur eine Spielart ist, ist nicht minder fruchtbar.

Wenn sich diese Tiere selbst überlassen sind, so sieht es ja nun freilich anders aus. Die Natur sorgt schon dafür, daß sie sich nicht ins Ungeheure vermehren, was sollte denn sonst daraus werden, und gerade bei der Feldmaus kommt es doch manchmal vor.

Und auch hier in der Gefangenschaft, sorgsam gehegt und gepflegt, vor allen Gefahren geschützt wie durch reinliche Haltung auch vor Krankheiten, mußte die Vermehrung eine ungeheure sein.

Vater Abdallah hatte schon immer den Überschuß ab und zu auf das flache Dach geschafft, von einer Mauer umgeben, wo sich keiner der Nager verbergen konnte, und die Geier und anderen Raubvögel, die zu jeder orientalischen Stadt gehören wie bei uns die Tauben und Sperlinge, die überhaupt den ganzen Sanitätsdienst verrichten, kannten diese Gelegenheit schon, kamen sofort geflogen und holten die Beute ab.

So geschah es auch jetzt. Kaum hatte ich das Betttuch in das ich das ganze Gewimmel eingesackt, auf dem Dache ausgeschüttet, als auch schon zahllose große und kleine Raubvögel angestürzt kamen, wie Steine aus der Luft herabstürzend, mir die weißen Tierchen noch vor den Füßen wegnehmend.

Beobachtet konnte ich dabei nicht werden, dieses Haus war das höchste in der weiteren Umgebung, dazu noch die hohe Brüstung, und es hätte ja auch nichts geschadet, ich fütterte eben wieder einmal die Raubvögel mit den »verzauberten Geistern«, wie ich schon öfters getan hatte.

So, das war das Letzte gewesen, wir waren bereit zum Rückzug.


71. KAPITEL. AUF DEM RÜCKWEG.

Es war gegen fünf Uhr, als die letzten die schwere Platte über uns wieder einfügten, wir stiegen die breiten Steintreppen hinab.

Vater Abdallah war immer wieder außer sich vor Staunen.

»Hier in meinem eigenen Hause, in dem ich geboren worden bin, in dem ich Jahrzehnte zugebracht habe, solche Kellereien, von denen ich nichts gewußt habe!«

So rief er immer wieder.

Ich hatte noch nicht mit ihm darüber gesprochen, es war bisher anderes zu tun gewesen.

Das geschah erst jetzt, und die Treppen und der Abstieg waren so bequem, daß man sich dabei gemütlich unterhalten konnte.

»Wer hat dieses Haus gebaut?«

»Das ist gar nicht mehr bekannt. Schohar ist eine uralte Stadt, deren Gründung sich in sagenhafte Zeit verliert, jedenfalls muß man mit Jahrtausenden rechnen.«

»Schon Deinem Vater hat dieses Haus gehört?«

»Schon meinem Großvater, den ich aber nicht mehr gekannt habe.«

»Und von wem bekam es dieser?«

»Von seinen Schwiegereltern. Die weitere Tradition geht verloren. Hier in diesem Hause haben einst die Scheichs von Schohar gewohnt, deren Familie ausstarb bis auf eine Tochter, welche mein Großvater heiratete. Mehr ist nicht bekannt.«

»Gibt es hier noch andere Häuser, von denen aus Treppen einige hundert Meter tief hinab bis an einen unterirdischen Wasserlauf führen?«

»O nein. Wohl hat fast jedes Haus tiefe Kellereien, aber was Du meinst, so wie hier, davon ist nichts bekannt.«

»Existiert keine Kunde, keine Sage, daß sich unter der Stadt ein unterirdischer Wasserlauf hinzieht?«

»Auch nicht.«

»Habt Ihr, Ihr arabischen Maskaten, wie Ihr Euch nennt, schon immer dieses Land bewohnt?«

»Nein. Jedes Volk hat seinen Anfang und sein Ende.«

»Wer wohnte vor Euch in diesem Lande?«

»Die Sabäer.«

Da war es! Also wir hatten hierüber noch nie gesprochen.

»Wie sind diese Sabäer verschwunden?«

»Wir jetzigen Maskaten bildeten früher den mächtigen Volksstamm der Namäer, die im Herzen Arabiens saßen, wahrscheinlich im heutigen Nedsched. Auch Arabien hat seine Völkerwanderungen mit Ausrottungskämpfen gehabt. Wir sind nach Süden gewandert, und haben die Sabäer, die andere Götter hatten als wir, mit Stumpf und Stiel ausgerottet. Freilich wohl in jahrhundertelanger Befehdung.

»Wann ist das geschehen?«

»Der letzte Vernichtungskrieg mag vielleicht im Jahre 200 vor Christi Geburt stattgefunden haben. Da hatten mir uns aber schon längst hier festgesetzt, hatten schon den ganzen indischen Handel in Händen.«

»Dies also ist das Land, über welches einst jene Königin von Saba herrschte, die den König Salomo Ebesuchte, um mit ihm Rätsel zu lösen?«

»Zweifellos.«

»Wann war das wohl?«

»Ums Jahr 1000 vor Christi Geburt.«

»Gehen denn hier nicht über diese Königin von Saba Sagen?«

»Nein. Es darf gar nicht sein.

»Weshalb nicht?«

»Ich sagte Dir schon, daß die Sabäer mit Stumpf und Stiel ausgerottet wurden, weil sie andere Götter hatten. Auch der Säugling blieb nicht verschont. Das ist alles wohl noch bekannt, aber der Haß zwischen den Sabäern und den Namäern ging so weit, daß er noch heute existiert, nämlich insofern, als das Wort Saba und Sabäer noch heute von keinem Maskaten ausgesprochen werden darf. Es verunreinigt die Lippen, zieht die schwerste Strafe von Allah herab. Obgleich wir damals noch gar keinen Allah gehabt halben. Aber das ist nun einmal so, durch uralte Tradition. Einem anderen Maskaten gegenüber würde ich niemals über so etwas zu sprechen wagen. Bei Dir ist es ja etwas anderes. Für uns darf überhaupt das Land Saba mit den Sabäern gar nicht existiert haben, wir dürfen nicht einmal daran denken.«

Aha! Das erklärte schon vieles!

Das sind solche Ursachen, weshalb unsere Geschichtsforscher manchmal auch an Ort und Stelle auf unüberwindliche Schwierigkeiten stoßen und ganz falsche Bilder erhalten. Oder es können auch andere Gründe vorliegen, Patriotismus und dergleichen.

Ich habe einmal ein französisches Schulbuch in Händen gehabt, in dem auch der letzte Krieg mit Deutschland behandelt wurde — geschichtlich behandelt.

Na‚ was da dieser »Geschichtsforscher« alles vergessen und anderseits hinzugedichtet hatte! Wenn nicht die bekannten Namen gewesen wären, man hätte den Krieg 70/71 überhaupt gar nicht wiedererkannt.

»Auch von so etwas ist nichts bekannt?«

Wir waren schon die Hälfte der Höhe hinabgestiegen, und mit diesen Worten ließ ich den Blendstrahl meiner Lampe heller aufleuchten.

»Alschallah!« rief der alte Araber in grenzenlosem Staunen, wenn nicht mit Entsetzen.

Der Blendstrahl beleuchtete eine Reihe von menschlichen Gestalten, von Mumien, die in Felsennischen hockten. Und das war noch gar nichts. Ich hatte im Laufe der drei Tage diesen Felsengang schon mindestens einen Kilometer weit nach Westen verfolgt — Mumien, nichts als Mumien, eine neben der anderen mit untergeschlagenen Beinen hockend, jede in einer Nische für sich, mindestens aller zwei Meter eine, und so kämen bei einem Kilometer, da beide Seiten des Ganges so besetzt waren, schon tausend Stück heraus, aber da war dieser Gang noch immer nicht zu Ende.

Es waren Männer und Weiber und Kinder, offenbar einfach bekleidet gewesen, aber das war alles schon längst in Staub zerfallen. Die ganze Sache war nämlich umso wunderbarer, als hier eine sehr feuchte Luft herrschte, und trotzdem hatten sich die Mumien ganz ausgezeichnet gehalten, waren deswegen auch nicht zusammengedörrt, wie die ägyptischen Mumien, deren lange Konservierung ja auch hauptsächlich die ungemeine Trockenheit der Luft bedingt. Es mußte sich also um eine ganz besondere Art von Konservierung handeln.

Es waren braune und auch schwarze Gestalten mit orientalischen, semitischen Gesichtszügen, weiter ist von ihnen nichts zu sagen.

Also die Gewänder waren verschwunden, nicht aber die goldenen Arm— und Fußspangen, die Halsketten, der Schmuck in den Haaren, die Fingerringe, mit denen sie samt und sonders überreichlich bedeckt waren, die kostbarsten Geschmeide mit herrlichen Steinen, mit Smaragden, Rubinen und Diamanten, aber alle Steine ungeschliffen, und dennoch schon prachtvolles Feuer ausstrahlend.

»Alschallah, Inschallah!« staunte der Alte immer wieder, besonders als ich ihn noch weiter nahm und meinen Blendstrahl leuchten ließ.

»Mehr als tausend haben wir schon gezählt.«

»Inschallah — Allah wie groß bist Du!«

»Gar keine Ahnung von diesen Mumien?«

»Nein.«

»Sonst werden hier nirgends solche gefunden?«

»Nie.«

»Merkwürdig. Und Gold und Edelsteine müssen hier doch massenhaft vorhanden gewesen sein, daß man sie den Toten gelassen hat, wenn man nicht nur an Fürsten und Millionäre glauben will.«

»Das muß man annehmen.«

»Ist dieses Königreich Saba zugleich auch das sagenhafte Ophir gewesen, aus dem Salomo seine Schätze holte?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wird jetzt in Maskat noch Gold gefunden?«

»Nicht viel.«

»Edelsteine?«

Der Alte war schon vorher etwas unruhig geworden.

»Mein Sohn, Du fragst mich da etwas, worauf Dir kein echter Maskate eine ehrliche Antwort geben darf, oder er speit vor sich selber aus.«

Es war seine Bejahung gewesen.

Nun, ich war der letzte, der deswegen den Alten oder sonst einen Menschen auf den Folterblock gespannt hätte.

Und es genügte auch schon, was wir hier fanden. Hätten wir die Leichenräuber spielen wollen, wir hätten nicht mehr um unsere Zukunft zu sorgen brauchen. Wenn wir es überhaupt noch nötig gehabt hatten. Und überdies hatte die Expedition noch ganz andere Entdeckungen in dieser Beziehung gemacht. Aber das hatte auch ich noch nicht geschaut.

Ehe wir den Weg fortsetzten, wollte ich bei dieser Gelegenheit gleich etwas anderes erledigen.

»Vater Abdallah, Dir sind dort oben in dem Keller wirklich Tote erschienen?«

Der Alte legte sofort die Hand an seinen weißen Bart.

»Beim Barte des Propheten, ich spreche die Wahrheit, wenn ich Dir auch sonst nichts weiter darüber erzählen darf.«

Dann zweifelte ich nicht daran. Wenn der Alte auch natürlich ein Opfer seiner Einbildungskraft geworden war.

Wir setzten unseren Abstieg fort, erreichten die Barkasse, die direkt an der Steintreppe lag.

Ein grunzendes Bellen begrüßte mich jauchzend. Soeben waren die beiden Seehunde zurückgekehrt, die nach dem Schiffe geschickt worden waren, hatten den weiten Weg auch im finsteren Wasser hin und her gefunden. Es war doch ein ziemlich gewagtes Experiment mit den Tieren gewesen, aber sie hatten die Prüfung bestanden.

Jeder trug ein Halsband mit einer wasserdichten Kapsel, jede enthielt die Antwort auf die Meldung, daß der Waffenmeister lebendig wieder aufgefunden worden war. Falls eines der Tiere doch verloren gegangen wäre.

Die Antwort auf diese sensationelle Meldung war kurz genug.

»Allright. Martin.«

Nichts weiter. Aber es genügte auch vollkommen.

Wie wir bereits beschlossen hatten, wurde die Erforschung des unterirdischen Wasserweges jetzt nicht fortgesetzt, sondern erst einmal nach dem Schiffe zurückgekehrt. Einmal wollten wir dort doch erst unsere neuen Gäste absetzen, und dann überhaupt, ich wollte doch erst alle meine Argonauten wiedersehen!

Auch diese Rückfahrt mache ich kurz. Es war das reine Goldbergwerk, in dem wir uns befanden, durch das wir zwei Tage lang fuhren. Nicht in Blöcken war das Gold vorhanden, wohl aber zog es sich in dicken Adern durch das Gestein. Außerdem waren hier und da Rubinen eingesprengt, bis zur Größe einer Haselnuß.

Kein Zweifel, wir befanden uns in dem sagenhaften Ophir. Aber von diesen Schätzen wußten auch die heutigen Bewohner dieses Landes nichts mehr.

Am dritten Tage erblickten wir das Licht der Sonne wieder.

Ach, wie ich begrüßt wurde! Dieser Jubel!

Als ich meine alte, liebe Kabine betrat, klingelte auf dem Schreibtisch das Telephon.

»Hier Waffenmeister. Wer dort?«

»Schwester Anna.«

Ah! Ich hatte wirklich gedacht, ich würde im Schiffe selbst angerufen.

»Ich begrüße Dich wieder an Bord Deines Schiffes.«

»Danke. Und ich freue mich, Dich wieder einmal sprechen zu können.«

»Ich durfte vorher nicht mit Dir sprechen.«

»Ich glaube es. Ende gut, alles gut — das ist immer die Hauptsache.«

»Was habt Ihr jetzt vor?«

»Du weißt doch, was wir hier entdeckt und sonst inzwischen getan haben.«

»Ich weiß es.«

»Wir wollen jetzt den unterirdischen Wasserweg weiter verfolgen.«

»Tut es nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Keiner von Euch würde lebendig wieder herauskommen.«

»Hm, das ist sehr schade.«

»Die Zeit ist noch nicht gekommen, da dieser unterirdische Weg der jetzigen Menschheit bekannt wird. Willst Du meiner Warnung Gehör schenken?«

»Gewiß doch. So sehr ich es auch bedauere. Hast Du sonst ein Ziel für uns?«

»Ihr wolltet nach dem Seelandsfelsen zurück?«

»Dann wahrscheinlich.«

»Fahrt erst nochmals nach dem Plateau am Nebenfluß des Amazonenstromes.

»Wie Du befiehlst.«

»Ich habe Dir nichts zu befehlen.«

»Wir tuen es auch sonst sehr gern.«

»Benutzt den Suezkanal.«

»Sind wir gesichert? Daß nicht diesmal passiert, wovor Du uns damals gewarnt hast? Daß man uns in Quarantäne behält oder sonst etwas am Zeuge zu flicken sucht?«

»Die türkische Behörde wird es tun wollen, aber sie wird zu spät kommen. Ihr passiert ungehindert den Suezkanal.

»Dann ist es ja gut. Wie hat sich die Sache unterdessen auf jenem Plateau entwickelt?«

»Das wirst Du ja sehen.«

»Sehr richtig. Verzeihe mir meine törichte Frage.«

»Hast Du sonst noch etwas zu fragen?«

»Bist Du einverstanden, daß wir den alten Araber und seine weibliche Gesellschaft an Bord behalten?«

»Ich habe mit gar nichts einverstanden zu sein, was Du tust oder nicht tust, Du hast ganz Deinen freien Willen. Nur daß ich Dich ab und zu vor großen Gefahren warne.«

»Danke. Wer ist der Mann, der statt meiner in Wellington begraben liegt?«

»Das wirst es später erfahren und gerechte Vergeltung an seinen Mördern üben, wie auch an denen, welche Dich in die Sklaverei verkauften. Schluß.«


72. KAPITEL. AUF DER FAHRT NACH WESTEN.

Nun will ich wieder einige Episoden aus unserem Schiffsleben erzählen, wohl der Reihenfolge nach, wie sie sich abspielten, aber ihrem Charakter nach bunt durcheinander.

Ich hatte mich eben erst wieder eingerichtet, wir hatten jene Bucht erst einige Stunden hinter uns, als mich in meiner Kabine Mister Tabak aufsuchte.

Während der unterirdischen Fahrt, die er mitgemacht, hatte er ein warmes Kostüm getragen, jetzt präsentierte er sich schon wieder nackt und mit der Badehose, was man in dieser Gegend, der heißesten der ganzen Erde, diesem Sohne des höchsten Nordens auch nicht verübeln konnte. Nur wäre nicht gerade nötig gewesen, daß er an dieses Badehöschen auch immer seine beiden Orden befestigt hatte. Die mächtige goldene Uhrkette war schon eher zu verzeihen.

»Ehem,« begann er, »ich störe doch nicht, Herr Waffenmeister?«

»Sie, mein lieber Mister Kabat, stören mich überhaupt nie.«

»Darf ich mich setzen?«

»Bitte sehr.«

Er setzte sich, faltete die Hände über dem Hängebauch, und formte mit seinen krummen Dachsbeinen ein vollkommenes Rad.

»Ich freue mich sehr, daß Sie noch am Leben sind.«

»Ich mich vielleicht noch mehr als Sie.«

»Tatsache!«

»Bei mir auch.«

»Sie haben mir immer sehr gefehlt.«

»Ihre Teilnahme rührt mich.«

»Ich hätte Sie gerade in der letzten Zeit sehr nötig gebraucht.«

»Also ist Ihre Teilnahme nur Egoismus?«

»Ja, meinetwegen. Ich wollte Ihnen schon unterwegs auf dem Flusse und da in dem Hause immer etwas sagen, aber da waren Sie ja niemals allein zu sprechen.«

»Jetzt sind wir allein.«

»Herr Waffenmeister, Sie könnten mir einen großen Gefallen tun.«

»Ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

»Eigentlich bedeutet es auch eine hohe Ehre für Sie.«

»Na‚ versuchen Sie den Grund der Dankbarkeit, die Sie mir dann nicht schuldig sind, nicht im voraus abzuschwächen. Das tut kein Gentleman.«

»Herr Waffenmeister,« reckte sich dieses Monstrum von einem Menschen stolz empor, »zweifeln Sie, daß ich ein Gentleman bin?«

»Durchaus nicht! Das war doch nicht so gemeint.«

»Also würden Sie mir eine große Gefälligkeit tun?«

»Na‚ Mister Tabak — nun schießen Sie aber gefälligst mal los!«

Aber Mister Tabak schoß immer noch nicht gleich los, sondern zunächst nahm er die qualmende Fuhrmannspfeife, die er ganz selbstverständlich im Munde hatte, aus den Zähnen, nahm bedachtsam den Stiefel vom Rohr, lehnte sich zurück, sperrte weit den Rachen auf und ließ sich die deliziöse Sauce hinein laufen.

Nach dieser Erfrischung war er klar zum Gefecht.

»Ich möchte nämlich heiraten.«

Ach Du großer Schreck! Das hatte ich nun freilich nicht erwartet.

»Wen denn?!« platzte ich heraus.

»Ein Mädchen.«

»Das kann ich mir lebhaft denken.«

»Es könnte doch auch eine Witwe sein.«

»Allerdings, da haben Sie recht.«

»Nein, es ist ein Mädchen.«

»In Grönland?«

»In Grönland? Bei Ihnen piepst wohl?« meinte er ganz gemütlich. »Sind wir denn hier in Grönland? Ich dachte, das wäre Arabien.«

»Ja wen denn nur?«

»Das Fräulein Hildgard Gerlach.«

Ich erstarrte. Ich hatte tatsächlich geglaubt, der Eskimo wolle uns verlassen, um in seiner eisigen Heimat eine Eskimoin zu heiraten, hatte mich gleich so in diesen Wahn verrannt, es war gleich vor meinen geistigen Augen so sein Bild entstanden, eine Eskimohochzeit in Grönland, in der Schneehütte.

Deshalb hatte ich mir auch gleich seine Verlegenheit zurechtgelegt. Weil er uns verlassen wolle.

Und jetzt will dieser menschliche Dachshund unsere Hildgard heiraten, dieses schöne, liebliche, anmutige Mädchen!

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ganz gewiß. In solchen Sachen treibt man doch keine Scherze. Ich wenigstens nicht, da bin ich zu ideal veranlagt.«

Die Sache war nämlich die, daß der mir meinen gewaltigen Schreck gar nicht anmerkte. Der hielt es nur für große Überraschung. Denn in gewisser Hinsicht war dieser Eskimo wie von Gott geschlagen. Und ich hatte mich auch schnell wieder erholt, wollte weiter drauf eingehen.

»Sie lieben Hildgard?« fragte ich also ganz sachgemäß.

»Nu natürlich, sonst würde ich sie doch nicht heiraten wollen.«

»Und werden wieder geliebt?«

»Ja.«

Nochmals bekam ich einen Sturz eiskalten Wassers über den Kopf. Denn ich hätte doch alles andere erwartet als dieses »Ja«.

»Das — das — hat sie Ihnen selbst gesagt?« suchte ich mich zu beherrschen. Ein Glück nur, daß jener nichts merkte.

»Nee.«

»Ausgesprochen hat sie sich noch nicht?«

»Nee. Ich merke aber ganz deutlich, daß sie mich liebt.«

»Woraus merken Sie das?«

»Weil sie immer so lüstern nach mir schielt.«

»Lüstern?«

»Wonach man immer schielt, das will man doch gern haben, also danach ist man lüstern.«

»Hm, ja, da haben Sie allerdings recht.«

»Und ich bin doch ein gutgewachsener Mensch mit hübschem Gesicht,« fing sich jetzt dieser menschliche Dackel mit der mongolischen Affenfratze selbst zu loben an, »und ich kann auch eine Frau ernähren. Wenn ich auch kein bares Vermögen besitze. Aber einmal habe ich doch hier eine sehr gute Stellung, zweitens kann ich doch auch jederzeit wieder als Walfischharpunier gehen, verdiene Geld wie Heu, und überhaupt, ich habe doch mit drei Majestäten freundschaftlich verkehrt, ja ich glaube sogar, daß die Wilhelmine von Holland auf mich . . . na kurz und gut, ich will mich nicht etwa rühmen, da kennen Sie mich doch . . . also wollen Sie bei Miß Gerlach für mich den Freiwerber machen, mein lieber Waffenmeister?«

»Weshalb denn gerade ich?« fragte ich ganz kleinlaut.

Denn dem war es Ernst, da gab es ja nun nichts mehr!

»Weil Sie der einzige Mensch an Bord sind, den ich hierzu gebrauchen kann. Oder soll ich etwa Fritz den Mondgucker für mich als Brautwerber auftreten lassen? Oder soll ich gar den schwarzen Küchenjungen hinschicken? Den Herrn Kapitän Martin kann ich dazu freilich auch nicht deswegen bitten, der — der — der . . .«

Der würde die Hände nur noch tiefer in den Hosentaschen vergraben und Dir einfach den Rücken zudrehen, ergänzte ich, freilich nur in Gedanken.

»Juba Riata, der doch Ihr spezieller Freund ist?« sagte ich statt dessen.

»Der eignet sich aus gewissen Gründen ganz und gar nicht zum Brautwerber. Sie sind der einzige. Ja, Herr Waffenmeister, wissen Sie denn überhaupt die Ehre gar nicht zu schätzen, wenn Sie für einen Mann wie mich um die Hand einer Dame anhalten sollen?«

Ich war bereits entwaffnet. Juba Riata schien klüger gewesen zu sein als ich — ich wußte keinen Ausweg.

»Ja, weshalb machen Sie selbst nicht gleich direkt dem Fräulein Gerlach Ihren Antrag?« konnte ich nur noch fragen.

»Weil ich ein geborener Eskimo bin. Wissen Sie, was ich damit meine? Nein? Das ist bedauerlich. Weil es bei meinem Volke Sitte ist, daß der Mann um die Hand derer, die er liebt und die er als sein Weib in seine Hütte führen will, durch einen anderen anhälten läßt. Zwar bin ich den Brüdern in meiner Heimat schon längst entfremdet, aber ich habe doch bis zu meinen Jünglingsjahren unter ihnen geweilt, und diese Sitte ist mir nun einmal in Fleisch und Blut übergegangen; ich kann es mir gar nicht anders vorstellen, als daß ein anderer für mich den Brautwerber macht. Also gehen Sie.«

Also gehen wir! Ja, ich mußte wohl, mir blieb nichts anderes, ich wußte keinen Ausweg, mich diesem fatalen Auftrag zu entziehen. Dazu bin ich eben ein viel zu guter Kerl.

»Jetzt sofort?«

»Gewiß, jetzt sofort. Das heißt, die Zeile da, die Sie angefangen haben, können Sie ja noch fertig schreiben, so eilig ist die Sache ja nicht, als wenn man einen Walfisch harpuniert.«

»Aber sonst — wenn man nun einmal heiraten will, dann will man doch nicht noch tagelang warten.«

»Sie sind doch Christ?« konnte ich nur noch fragen, weil er noch so auf die Sitten seiner Brüder in Grönland hielt, und daß er es so eilig mit dem Heiraten hatte, schon einige Tage für eine endlose Wartezeit hielt, von einer Brautzeit gar keine Ahnung zu haben schien, kam mir doch auch nicht ganz geheuer vor.

»Jawohl, ich bin Christ. Ich bin sogar viermal getauft worden.«

»Gleich viermal?« brachte ich hervor, wahrscheinlich mit reicht dummen Gesicht.

»Jawohl, viermal. Dreimal in Neuyork, und einmal in einem grönländischen Neste von einem dänischen Missionar.«

»Warum denn aber gleich viermal?!«

»Nu, weil ich eben nicht so bin. Diesen Geistlichen und Missionaren macht es doch ein ungeheures Vergnügen, seinen Heiden taufen zu können, und wenn sich nun so ein Missionar mir in dem Glauben näherte, ich sei noch ein Heide, dann hab ich mich auch immer für einen Heiden ausgegeben. Nur um dem Manne das Vergnügen zu gönnen. Habe mich immer noch einmal taufen lassen. Ich bin eben ein Gemütsmensch, für diese geldgierige Welt viel zu ideal veranlagt. Denn nicht etwa, daß ich mir die Tauferei hätte bezahlen lassen, wie es die meisten machen. Das gibts bei mir nicht! Im Gegenteil, ich habe immer die ganze Tauffestlichkeit bezahlt. Ich bin eben Idealist. Also das können Sie meiner Zukünftigen ruhig versichern, daß ich ein guter Christ bin und daß ich das mit Papieren belegen kann.«

»Haben Sie sich immer evangelisch taufen lassen?« fragte ich noch diesen ideal veranlagten Christen.

»Evangelisch, sicher, immer evangelisch. Das erste Mal wurde ich evangelisch getauft, wenn ich damals auch nichts davon wußte, ich war bezecht wie ein Kanonenrohr, aber da es nun einmal evangelisch geschehen war, wie ich hinterher erfuhr, bin ich dann auch dabei geblieben. Ich bin doch nicht etwa so wie die Klothilde, die sich heute katholisch und morgen evangelisch taufen läßt, übermorgen jüdisch und am anderen Tage mohammedanisch wird, um irgend einen Vorteil davon zu haben. Nein, das gibts bei mir nicht. Ich bin auch wirklich fromm. Das können Sie ruhig meiner Braut sagen. Wenn ich auch nie in die Kirche gehe. Weil man da drin nicht rauchen darf. Aber das in die Kirche gehen hat mit der wahren Frömmigkeit gar nichts zu tun. Und dann können Sie auch so wenigstens Anspielungen machen, wie gut es meine Frau bei mir haben wird. Prügeln tue ich sie nicht. Das ist ausgeschlossen. Natürlich vorausgesetzt, daß meine liebe Frau nicht einmal gegen mich handgreiflich vorgeht. In diesem Falle begnüge ich mich aber, sie nur zu überwältigen und . . .«

Ich machte lieber gleich, daß ich fortkam, um mich meines Auftrags zu entledigen.

»Ich mache mich unterdessen schon klar zur Hochzeit, der Trauakt durch den Segen eines Geistlichen wird dann später einmal bei Gelegenheit vollzogen!« rief mir der grönländische Idealist noch nach.

Ich fand Hildgard im Atelier ihres Bruders, der malend vor einer Staffelei stand. Er vollendete gerade ein Gruppenbild sämtlicher Argonauten, bei der Arbeit an Deck und in der Takelage verteilt.

Also ich entledigte mich würdevoll meines Auftrages — wirklich ganz ohne Scherz, meine eigene Meinung zurückhaltend, war aber noch nicht ganz fertig, hatte noch nicht des Brautwerbers schriftliche Frömmigkeit, seinen Idealismus und sonstige geistige wie körperliche Vorzüge gepriesen, als Reinhold, der eben einen Rettungsgürtel pinseln wollte, August dem Starken rote Haare gab, plötzlich der Pinsel ausrutschte, und Hildgard die Balance verlor. Sie fiel auf einen Stuhl hin, obgleich das Schiff durchaus nicht schlingerte.

»Es — ist — doch — nicht — möglich.«

»Ganz gewiß ist es möglich. Mister Tabak will heiraten. Sofort. Hats sehr eilig.«

»Mich? Mich?!«

»Jawohl, Sie und keine andere. Nur auf Sie ist seine heiße Liebe gefallen. Na‚ nun machen Sies kurz. Ja oder nein.«

»Aber wie kommt er nur dazu . . .«

»Er glaubt, daß auch er Ihnen nicht gleichgültig ist, weil Sie immer nach ihm schielen.«

»Weil er so eine urkomische Figur hat.«

Die Geschwister erholten sich von ihrem Schreck, gingen auch nicht zum Scherz über, sondern nahmen die Sache ernst, so wie sie gegeben worden war.

»Was soll ich tun, um ihn durch eine Absage nicht zu beleidigen?«

»Sagen Sie doch, Sie hätten ein Gelübde abgelegt, niemals zu heiraten.«

Das junge Mädchen bekam plötzlich einen ganz roten Kopf.

»Das — das — kann ich nicht, das wäre eine Unwahrheit . . . «

»Na‚ da sagen Sie doch, Sie wären schon vergeben, und wenns auch wirklich nicht stimmte, das kommt in solch einem Falle doch gar nicht drauf an.«

»Meinetwegen, sagen Sie ihm das.«

»Wer der Erwählte ist, das darf er wohl nicht erfahren?«

»Nein, nein, das ist ja gar nicht wahr!« rief Hildgard, noch mehr erglühend.

Ich ging, fand den Eskimo in seiner nach Tabaksschmant und Tran duftenden Kabine. Obgleich ich nur zehn Minuten ausgeblieben war, hatte er sich unterdessen doch schon in vollen Wichs geworfen, sich in seinen schwarzen Anzug hineingequetscht, die Füße in die mächtigen Lackquadranten, den Zylinder auf dem Kopfe, natürlich fehlten auch die beiden Orden nicht, diesmal hatte er auch nicht, wie seiner Zeit in Marseille, Vatermörder und Schlips vergessen, nur daß dieser rot mit grünen Tupfen war, und in seinen Händen hielt er eine große Schachtel, die sicher das Brautgeschenk barg.

»Mein armer Freund, Sie kommen zu spät, und mit der lüsternen Schielerei müssen Sie sich geirrt haben Fräulein Hildgard hat die Wahl ihres Herzens bereits getroffen. Sie bedauert ungemein.«

Die Absage brachte auf den grönländischen Freiersmann so gut wie gar keine Wirkung hervor.

»So. Hm. Schade. Wer ist der andere?«

»Das allerdings hat sie mir nicht verraten, das ist noch ein süßes Geheimnis!«

»Na‚ das ist mir auch ganz schnuppe!« lautete die Antwort, auf deutsch, der Eskimo hatte in den nunmehr drei Jahren ein ganz vortreffliches Deutsch gelernt. »Wissen Sie was, da gehen Sie mal zu der Fräulein Nora Pooteken, ob die mich haben will.«

Das heißt — jetzt wurde ich aber noch paffer als vorhin, da er mich mit der ersten Brautwerbung beauftragte.

»Sie wollen die Fräulein Nora heiraten?!«

»Jawohl. Die wird doch hoffentlich noch nicht vergeben sein.«

»Lieben Sie denn das Mädchen?«

»Ei gewiß. Sonst würde ich sie doch nicht heiraten wollen.«

»Ich denke, Ihre ganze Sehnsucht gilt dem Fräulein Hildgard!«

»Da haben Sie eben falsch gedacht. Da haben Sie mich einfach unterschätzt. Nein, so einseitig bin ich nicht. Also bitte, mein lieber Waffenmeister, gehen Sie zu Fräulein Nora, sagen Sie ihr mit passenden Worten, daß ich schon immer mit glühender Liebe zu ihr mich hingezogen fühle, machen Sie so ein paar Schmeicheleien, besonders ihr herrliches blondes Haar habe es mir angetan . . .«

»Das Fräulein Nora!«

»Die Nora.«

»Die hat aber schwarzes Haar.«

»Blondes.«

»Die hat schwarzes! Die Senta ist blond, Nora ist schwarz. Das ist auch das einzige, woran man die beiden Schwestern unterscheiden kann.«

Auch diese Mitteilung brachte auf Mister Tabak sehr wenig Wirkung hervor, höchstens, daß er noch etwas mächtiger qualmte, und außerdem biß er sich noch ein großes Stück Kautabak ab.

»Irren Sie sich nicht?«

»Ganz bestimmt nicht. Nora ist die schwarze, Senta die blonde, das liegt schon in dem Namen.«

»Dann ist der Irrtum auf meiner Seite. Aber blond muß meine Frau sein, schwarze Haare kann ich bei den Frauenzimmern nicht leiden. Also gehen Sie zur Senta, ob sie meine Frau werden will. Und wissen Sie was, mein lieber Waffenmeister, falls die auch schon vergeben ist, dann gehen Sie, damit Sie sich den Weg nicht zweimal machen, gleich zur Nora, machen Sie der meinen Antrag. Wenn sie auch schwarz ist — dann färbe ich sie blond. Also verstehen Sie? Erst zur blonden Senta und dann zur schwarzen Nora. Und natürlich dürfen die Schwestern nicht zusammen sein. Das sehe doch schlecht aus, wenn Sie sich von links gleich nach rechts drehten und dasselbe sagten. Das könnte die andere vielleicht doch kränken, und so bin ich nicht, ich will niemanden kränken. Wenn es später herauskommt — na‚ das ist mir egal.«

Ich ging. Was ich mir dabei dachte, will ich nicht schildern.

Aber gehorchen tat ich nicht, ich machte den Antrag gleich beiden Schwestern zusammen.

Auf diese Weise entsetzten sie sich nicht mehr wie vorhin die Hildgard, sie lachten nur.

»Dieser Eskimo ist verrückt!«

»Nein, sondern es ist eben ein Eskimo, der sich gleich viermal hat taufen lassen. Also, meine Damen, wer von Ihnen hat Lust?«

»Was sollen wir für eine Ausrede machen?«

»Diesmal wieder eine andere als Fräulein Hildgard. Ich weiß etwas. Sie, Fräulein Senta, wollen gern einwilligen, aber nur unter der Bedingung, daß er nicht mehr raucht. Und Sie, Fräulein Nora, nur unter der Bedingung, daß er nicht mehr priemt. Einverstanden?«

»Wenn er aber doch darauf eingeht?« erklang es verzagt.

»Dann,« legte ich meine Hand auf's Herz, »versichere ich den Damen auf mein Ehrenwort, daß ich selbst diejenige, die er verschmäht, heiraten werde! Genügt dieser Schwur?«

Ja, er genügte, denn die Schwestern mußten ja, wie es mit mir stand.

»Zur Vorsicht können Sie beide ja auch noch verlangt haben, daß er auch sein Schnupfen aufgibt. Das schlägt dem Fasse den Boden aus!«

Mister Tabak befand sich in derselben Stellung noch in seiner Kabine, auch die große Schachtel noch in der Hand.

»Also erst war ich vorschriftsmäßig bei der blonden Senta. Ja, sie weiß die Ehre zu schätzen, sie ist sofort bereit . . .«

Da ging über das mongolische Affengesicht ein sonniges Lächeln.

»Habe ich mirs bei der doch gleich gedacht!«

» . . . aber nur unter der Bedingung, daß Sie nicht mehr rauchen.«

Da erlosch das sonnige Lächeln wieder.

»Die ist verrückt!« war es diesmal der Eskimo, der das rief.

»Das habe ich mir ebenfalls gleich gesagt, bin deshalb auch gleich zu Fräulein Nora gegangen . . .«

»Nun und?«

»Ebenfalls sofort damit einverstanden. Aber nur unter der Bedingung, daß Sie keinen Tabak mehr kauen.«

»Die ist ja noch viel verrückter!« erklang es in wachsender Entrüstung. Verlangen diese Weiber etwa auch noch, daß ich nicht mehr esse und trinke? Mit solchen Gänsen mag ich gar nichts zu tun haben, ein Glück, daß ich sie jetzt noch richtig erkenne, ehe es zu spät ist.

Also es genügte, das Verbot des Schnupfens war gar nicht nötig.

In Gedanken versunken öffnete Mister Tabak die Schachtel, griff vorsichtig hinein, brachte etwas zum Vorschein, das mich mit größtem Staunen erfüllte.

Ein Rosenzweig oder vielmehr zwei, einer mit roten, der andere mit weißen Rosen, prachtvolle Blumen, ganz und halb aufgeblüht und erst knospend und nicht etwa aus solchem Tuchzeug, das erkannten meine Augen doch sofort. Nein, das waren ganz natürliche, und jetzt merkte ich auch den herrlichen Rosenduft, den bisher nur der Tran- und Takaksgeruch verdeckt hatte.

»Mensch wo haben Sie denn hier an Bord diese Rosen her?«

»Die habe ich selber gemacht.«

»Was?! Das sind doch natürliche!«

»Nee. Aus Elfenbein geschnitzt, aus Mammutzahn, den man ja manchmal bei uns oben im Eise findet. Die Stengel sind aus Fischbein.«

Ich mußte die Zweige erst in die Hand nehmen, ehe ich es glauben konnte.

Wahrhaftig, alles aus Elfenbein! Aber ganz wunderbar geschnitzt! Jedes Staubfädchen darin deutlich erkennbar.

»Mensch, sind Sie denn so ein Künstler?!« staunte ich nur immer mehr.

»Künstler? Da ist doch nichts weiter dabei. Solche wasserdichte Stiefeln zu machen, wie ich es kann, das ist wahre Kunst. Habe das Zeug einmal im Neuyorker Krankenhause geschnitzt, als ich das Bein gebrochen hatte, in vier Wochen.«

»Womit sind die Rosen rot und die Blätter grün gefärbt, in allen Schattierungen?«

»Ja, das ist nun freilich ein Geheimnis diese farbige Elfenbeinätzung mit Pflanzensäften, das ich von einem Schamanen habe, von einem unserer heidnischen Priester, und das wird nicht verraten. Denn Sie wissen wohl, daß es noch ein Problem ist, wie man Elfenbein dauernd färben kann.«

Ich wunderte mich hauptsächlich über die abgetönten Farbennüancen, wie das dunkelste Rot nach und nach in das zarteste Rosa überging, und nun noch dann diese herrliche Schnitzarbeit, exakt und naturgetreu bis ins kleinste Detail! Dieser Eskimo war ein gottbegnadeter Künstler, ohne daß er es selbst wußte. Aber auch wir hatten ihn noch gar nicht als solchen geschätzt. Wir wußten wohl, welche erstaunliche Handfertigkeit dieser Eskimo besaß, dabei hatte er schon damals bei Ilses Geburtstag mit den wunderbaren Stiefelchen bewiesen, das zeigte er auch bei anderen Gelegenheiten, besonders seine Geschicklichkeit im Schnitzen war einfach fabelhaft, mit seinem mächtigen Messer spaltete er einen Kirschkern und schnitt innerhalb einer halben Stunde an den beiden Hälften je ein Gewinde daran, mit demselben Messer, so daß man die beiden winzigen Nußhälften wie eine Büchse zusammenschrauben konnte, dann hatte er Ilse für den Wintersport in Vancouver einen Schlitten gefertigt, aus lauter kleinen Knöchelchen. zusammengebunden, ein Wunder von einem eleganten und unverwüstlichen Schlitten, der übrigens später in unserer Erzählung noch eine Rolle spielen wird — aber erst hier bei Anblick dieser beiden aus Elfenbein und Fischbein geschnitzten Rosenzweige erkannte ich, daß dieser Eskimo ja ein tatsächlicher Künstler war!

Er legte die Rosen wieder in die Schachtel, die zur Hälfte mit einer Art Wolle, wohl fein geschabtes Fischbein, gefüllt war.

»Da ist es also mit den beiden Schwestern ooch nischt,« fing er dann wieder an. »Ja, aber heiraten will und muß ich, hab' mir nun einmal vorgenommen, und wenn ich mir so was vornehme, dann setze ich's auch durch. Was haben wir sonst noch von Weibern an Bord? Die Klothilde? Nee. Die ist so schwarz, daß man sie überhaupt gar nicht blond färben kann, und mir auch sonst viel zu haarig. Wenn man der den Schnauzbart wegrasiert, hat sie in einer halben Stunde ja nur noch einen längeren wieder. Da könnte ich ja bloß egal färben. Die sechs arabischen Weiber kenne ich noch nicht, die sind ja erst ein paar Stunden an Bord, und da müßte man doch überhaupt die Katze im Sack kaufen. Bliebe nur noch die — die —— ja, mein lieber Waffenmeister, was meinen Sie? Wollen Sie noch mal zur Patronin gehen und für mich bei der um ihre Hand werben? Ob die mich wohl nimmt?«

Wie er das gesagt hatte, und wie er mich dabei still von der Seite zweifelhaft anschielte, da war es vorbei mit meiner Selbstbeherrschung.

Da fiel ich auf das Sofa und lachte, daß mir die Tränen über die Backen rannen.

Er tat‚ als würde er sehr böse, ich merkte aber gleich, daß es nur Verstellung zwar.

»Na‚ was gibts denn da zu lachen? Oder Sie denken wohl, ich bin so ein Esel? Sie glauben wohl, ich wüßte nicht, wie es zwischen Ihnen und der Patronin steht? Machen Sie, daß Sie hinauskommen, wenn Sie mich für so dumm halten!«

»Die Mama Bombe,« lachte ich noch immer aus vollem Halse, »die Mama Bombe fehlt noch, und die wird Ihre Werbung ganz sicher annehmen!«

»Machen Sie, daß Sie hinauskommen, sage ich!« stellte er sich immer wütender. »Sonst gebrauche ich Hausrecht, denn das ist hier meine Kabine, in der Sie gar nichts zu suchen haben! Jawohl, gehen Sie zur Frau Patronin, nehmen Sie hier das Gelumpe mit, ich schenke es ihr, als Verehrung, aber ich denke ja gar nicht ans Heiraten, weiter fehlte ja nichts. Naus!«

Ich nahm den Kasten und verschwand.

Auf diese Weise also blieb Mister Tabak unbeweibt, und Helene, so sehr sie auch lachte, als ich ihr berichtete, war doch entzückt über das herrliche Geschenk.


Wir hatten den Suezkanal anstandslos passiert.

»Fertig!« sagte Vater Abdallah, als wir in das Mittelländische Meer steuerten.

Nach seinen Angaben war eine größere Kabine mit schwarzem Tuch austapeziert worden, der alte Araber hatte sich ab und zu darin eingeschlossen, immer längere Perioden machend, bis er zuletzt tagelang darin verweilt hatte, tatsächlich ohne etwas zu essen, und nicht nur einmal, sondern wiederholt, die letzte Hungerperiode hatte vier Tage und vier Nächte gewährt, und dem Alten schien das Fasten ganz gut zu bekommen.

»Jetzt habe ich meine Geister in diesen Raum gebannt, sie gehorchen mir. Oder ich will mich so ausdrücken, wie Ihr realistischen Abendländer, die Ihr an nichts glaubt, was Ihr nicht mit Fäusten packen könnt, sagen würdet: jetzt bin ich imstande, in diesem Raume jede nur denkbare Illusion vorzugaukeln. Allerdings zunächst nur immer einer einzigen Person. Dann später, wenn ich — wie ungefähr Ihr Euch ausdrücken würdet — mehr Energie in mir aufgestapelt habe, können es auch zwei Zuschauer sein, zuletzt hoffe ich, daß der ganze Raum besetzt sein kann, und die Illusionen werden mir gelingen. Für mich freilich ist es etwas anderes als Illusion und Gaukelei.«

Einer nach dem andern betrat die schwarze Kabine, der »Magier« gaukelte ihm etwas vor, meist jedem etwas ganz anderes.

Was er vorführte, dabei will ich mich jetzt nicht weiter aufhalten, da ich schon einmal davon erzählt habe. In diesem schwarzen Zimmer war dem Alten einfach gar nichts unmöglich. Später werde ich noch einiges schildern, wenn sich der alte Araber noch mehr vervollkommnet hat, obgleich man jetzt schon glauben mußte, daß er seine Phantasiegebilde gar nicht mehr übertreffen könne.

Etwas anderes will ich hier erwähnen.

Die wunderbaren Gaukeleien, welche die indischen Fakire mitten auf der Straße wie auf Bestellung im Salon aufführen, beruhen auf Tatsache.

Ich meine: früher, und es ist noch gar nicht so lange her, hat man die Wahrheit solcher Erzählungen überhaupt angezweifelt.

Na‚ da geht doch hin nach Indien! Da tritt ein zerlumpter oder mehr ganz, als halbnackter brauner Kerl mitten auf die wenig belebte Straße, entlockt, um sich bemerkbar zu machen, einer Pfeife mit schwillen Tönen eine schreckliche Melodie, dann, wenn das Publikum kommt, zieht er mit weißem Sand oder Farbe um sich einen weiten Kreis, nimmt eine Mangonuß, kratzt die Erde zwischen den Pflastersteinen etwas auf, dort steckt er die Nuß hinein, macht seine Beschwörungsformeln, und aus dem Pflaster kommt ein grüner Halm heraus, er wird zum Bäumchen, und innerhalb einer Viertelstunde oder noch kürzerer Zeit steht ein gewaltiger Mangobaum da, die Blätter rauschen im Winde, er wirft regelrechten Schatten, er treibt Knospen, die sich zu großen Früchten entwickeln.

Dabei kann es vorkommen, und kommt oft genug vor, daß ein Fuhrwerk oder Radfahrer oder Straßenpassant mitten durch diesen Baumstamm hindurchgeht. Denn das alles ist »natürlich« nur eine Illusion. Man sieht sie nur innerhalb des Kreises, den der Gaukler vorher gezogen hat. Tritt man außerhalb dieses Kreises, so verschwindet der Baum sofort. Auch innerhalb des Kreises läßt er sich nicht photographieren.

Ein zweites Kunststückchen, das man in den indischen Städten und Flecken tagtäglich sehen kann, ist das Verwandeln eines Tieres in andere Gestalten. Gewöhnlich wird irgend ein Hund hergenommen, ein eigentümlicher Griff in den Nacken, das Tier scheint plötzlich den Starrkrampf zu bekommen, es steht wie ein Holzbock da, ein Korb wird über ihn gedeckt, wieder herabgenommen da hat sich der Hund in ein Schwein verwandelt. Beim nächsten Abnehmen des Korbes hat das Schwein einige kleine Ferkel, die quiekend herumlaufen. Ehe man aber zugreifen könnte, ist der Korb schon wieder darüber gedeckt dann liegt das Schwein mit durchschnittener Kehle blutend am Boden. Und sofort, bis wieder der Hund da ist und davonläuft.

Man wird gegen derartige Gaukeleien bald derartig abgestumpft, daß man gar nicht mehr hinblickt, zumal man so ziemlich immer genau dasselbe sieht.

Wenn man die Sache nämlich genauer beobachtet und verfolgt, so wird man finden, daß jeder Fakir — richtiger aber Yogi, — der Fakir ist eigentlich etwas ganz anderes immer nur ein und dasselbe Kunststückchen macht. Der kann nur einen Mangobaum wachsen lassen, der zweite nur ein Orangenbäumchen, jener macht immer nur das Experiment mit dem Hunde, der vierte wirft immer nur einen Strick in die Luft, läßt ihn frei stehen und klettert hinauf, und so fort. Jeder Gaukler ist immer nur auf eine einzige Illusion geaicht.

Aber nicht nur das, sondern man wird auch finden, daß es immer ganz genau derselbe Mangobaum ist, den er hundertmal wachsen läßt, jeder Ast hat genau dieselbe Lage, der Schatten fällt auch oft falsch, unnatürlich ja, verschiedene Gaukler bringen auch immer nur ein und denselben Mangobaum hervor.

Die Sache ist eben die, daß dann alle diese Yogis ein und denselben »Guru« gehabt haben, Führer oder Lehrer, durch den sie geschult worden sind, sie lassen in ihrem Gehirn ein und dasselbe Bild entstehen, das sie durch Gedankenübertragung den Zuschauern imaginieren.

Das sind die gewöhnlichsten Kunststücke, die man tagtäglich auf den Straßen der indischen Städte zu sehen bestimmt, und der armselige Fakir ist froh, wenn er dafür eine kleine Kupfermünze zugeworfen bekommt. Anders ist es mit den Vorstellungen in geschlossenen Räumen, die nur auf einer höheren Stufe stehende Yogis geben, welche entweder danach bezahlt sein wollen — aber das Geld fließt in die Tempelkasse — oder solch eine Vorstellung ist überhaupt nur durch Machtspruch einer hohen Persönlichkeit möglich.

Bevor ich nun solch einen Bericht wiedergebe, will ich noch erwähnen, daß diese indischen Yogis oder Fakire, die öffentlich auftreten, durchweg keine Brahmaisten oder Buddhisten sind, wie man fälschlicherweise immer annimmt, sondern es sind Mohammedaner. Brahmaisten und Buddhisten gibt es ja in Vorderindien überhaupt nur noch ganz spärlich, der Mohammedismus ist die herrschende Religion. Wohl gibt es auch unter jenen verschiedene Priesterkasten, die solchen Hokuspokus betreiben, aber das ist bei denen eine heilige Sache, die sie nicht so ohne weiteres der Öffentlichkeit preisgeben. Diese Yogis, die wir immer sehen, sind keine Fakire, sondern indische Derwische, gehören entweder der Sekte Ruffais oder der Aissawas an. Auch unser Vater Abdallah war ein Aissawai, war in einem ihrer Klöster ausgebildet worden.

Nun gebe ich die Übersetzung eines Berichtes wieder, von dem englischen Obersten Harry Goddard, erschienen in der Zeitschrift »The united service journal for naval und militarys magazine«, London 1883, Nummer 116. Oberst Goddard hat später noch auf Verlangen die buchstäbliche Wahrheit seines Berichtes vor einer wissenschaftlichen Kommission der »Psychic Research Companie« durch sein Ehrenwort erhärtet.

»Ich hatte — im Jahre 1881 — von einem Missionar gehört, daß die der Sekte des Scheiks Rufai angehörigen Fakire sich schadlos Dolche und Schwerter in den Leib stießen, die Zunge abschnitten und wieder ansetzten, die Augen ausrissen und so weiter. Ich lachte darüber und äußerte zugleich: sobald einer dieser Ruffai beim Regiment, Scheikh Kurim genannt, vom Urlaub zurückkehre, wolle ich mir die Sache ansehen.

Die Rückkehr erfolgte, und es wurden die nötigen Anstalten gemacht, um meinem Wunsche zu entsprechen. Ein breites Zelt wurde an dem zum Versuche bestimmten Tage aufgeschlagen, fünfzig Lampen wurden herbeigebracht, dazu Schüsseln mit Arsenik und Pflanzen einer Kaktusart, deren Milchsaft, wenn nur ein Tröpfchen auf die Haut fällt, sofort Blasen zieht. Weiter wurden alte, schon getragene, eiserne Ohrgehänge, Armbänder, Dolche, Schwerter, eine Art breiter Stahlspieße, sowie anderes furchtbar aussehendes Gerät herbeigeschafft. Zugleich fanden sich etwa zwanzig jener Ruffai ein, die alle Arten von Trommeln schlugen.

Als alles bereit war, verließen fünf Offiziere (sie werden mit Namen aufgezählt) die Speisetafel, und mit uns drangen etwa hundert Sepoys (eingeborene Stoldaten) in das Zelt. Als wir niedergesessen und alles still geworden, begann die Zeremonie mit einer Art Gesang aus ihren heiligen Büchern, und die Trommler fielen im Takte ein. Der Sang und Klang wuchs mehr und mehr in Stärke und Schnelligkeit an, bis sie sich alle in Ekstase gebracht hatten. Nun griffen sie, während sie fort und fort den Körper in schwingender Bewegung hielten (für den Okkultisten sei bemerkt, daß hierbei also ausgesprochener Korybsantismus respektive Schemanismus vorliegt), nach den aufgestellten Instrumenten und dem sonstigen Hinzugebrachten. Einige durchbohrten sich die Wangen mit einem Spieß, andere die Zunge, ein dritter die Kehle, worauf sie sich mit Schwertern und Dolchen und anderen schneidenden Instrumenten durchstachen. Noch andere schnitten sich ihre Zunge ab und brachten sie wieder zurück in den Mund, wo sie sofort wieder anwuchs. Arsenik und eine Giftpflanze wurden herbeigebracht und von einem in Masse und ohne Schaden zu sich genommen, während die anderen die Ohrgehänge wie Leckerbissen verschlangen.

Das geschah alles eine halbe Elle vor meinen Knien, denn sie kamen mit ihren Lanzen dicht an mich heran, damit ich mich durch den Augenschein überzeugen könne, daß kein Betrug dabei sei, und ich gestehe, daß mir dabei übel wurde und es mir überhaupt einen widrigen Eindruck machte. Auch weiß ich bis heute nicht, was ich davon halten soll. Ich bin nicht abergläubisch und obgleich viele achtungswerte Eingeborene mir sagten, diese Dinge begaben sich in der Wirklichkeit und daß, wenn ein Betrug dabei unterliefe, sie ihn längst entdeckt haben würden, wollte ich doch nicht glauben, was meine Augen sahen.

Als ich das Zelt verließ, sagte ich wie zufällig: ich würde mehr auf diese Kunst halten, wenn ich ihre Leistungen einmal bei offenem Tageslicht ohne Lärm, Bewegung und umständliche Vorbereitung sähe.

Als ich nun am anderen Nachmittag um zwei Uhr, meine Zeitung lesend, ganz allein auf meinem Bette lag, kam ihr Kazuf zu mir herein, unter den Armen allerlei Instrumente tragend, die er auf den Boden warf. Er nahm nun eines derselben und stach es sich in die linke Wange, dann ein anderes in die rechte, dann ein drittes durch die Zunge, welches, weil nach oben gerichtet, durch die Nase drang, während er mit einem vierten seine Kehle durchbohrte. Dann schnitt er sich mit einem scharfen, hellpolierten Messer also, daß es ihm drei Zoll tief in den Leib drang, ohne daß ein Tropfen Blut aus der Wunde, die wirklich entstand, floß. Nun wollte er daran gehen, sich auch die Zunge abzuschneiden, aber ich bat ihn, davon abzulassen, weil mich ein Ekel überkommen hatte. Der Mann war wie rasend und blickte furchtbar, das Gesicht mit dem Instrumenten bespickt und mit aller Macht stechend und hauend. Ich beteuere, daß ich die Instrumente aus dem Fleisch ziehen sah ohne eine Spur von Blut und Narbe, und daß die Quantität des verschluckten Arseniks an die drei Unzen (ca. 85 Gramm) betrug. Ich kann kaum sagen, daß ich es glauben kann, was ich sah, und bin doch bereit, die Wahrheit vor Gericht zu beschwören, so daß man mich gegebenen Falles als Meineidigen belangen könnte.«

So weit der Bericht des Colonel Goddard, der die Wahrheit dann also auf Verlangen auch wenigstens mit seinem öffentlichen Ehrenwort bekräftigt hat.

Es wäre nicht nötig gewesen, denn es gibt noch tausend andere Europäer, die dasselbe erzählen können.

Weshalb nun, kann man da fragen, kommen nicht solche indische und arabische Fakire und Derwische nach Europa um mit ihren phänomenalen Gaukeleien goldene Berge zu ernten?

Erstens, lautet die Antwort, weil es ihnen verboten ist, denn dies hängt alles mit dem Kastenwesen und ihrer Religion zusammen, zweitens, weil sie die Phänomene nur innerhalb eines gewissen Gedankenkreises den sie um sich ziehen, erzeugen können, außerhalb ihrer Heimat würde es ihnen wohl gar nicht möglich sein; und drittens und letztens kommt es überhaupt wohl einmal vor, daß solch ein Fakir oder Derwisch die Gesetze seiner Kaste und Religion bricht und sich in Europa produziert. Dann aber versagt ihm entweder aus dem zweiten Grunde seine Kraft, er wird als Betrüger »entlarvt«, oder aber, er wird von denen, welche die Sache wissenschaftlich erklären wollen, einfach totgeschwiegen.

Es ist noch gar nicht so lange her — im Jahre 1912 — als ein indisches Geschwisterpaar, aber ebenfalls Mohammedaner, zur Sekte der Aissawas gehörend, alle Hauptstädte Europas bereiste und auch in Deutschland sich öffentlich produzierte.

Sie durchstachen sich an den verschiedensten Körperstellen, oder das konnte auch irgend ein Fremder aus dem Publikum besorgen, sie brachten sich mitten über dem Leib diese Schnittwunden blei, begaben sich unter das Publikum, man sah die Wunden, konnte sie befühlen, jeder Arzt hatte das Recht, die Wunden näher zu untersuchen, ja, die Wunden wurden sogar photographiert dann fuhren sie mit der flachen Hand darüber, und die Wunde war verschwunden.

Hier kommt also noch etwas anderes hinzu als nur einfache Gedankenübertragung, etwas, wofür wir noch gar keinen Ausdruck haben, wenn man nicht gleich von Zauberei sprechen will. Denn die Wunden ließen sich von der photographischen Platte fixieren, der von einem Dolche durchbohrte Kehlkopf wurde mit Röntgenstrahlen durchleuchtet und ebenfalls photographiert.

Was sagen denn nun die aufgeklärten Männer der Wissenschaft zu dieser Sache?

Keinen Mucks sagen sie!

Kolumbus wurde verhöhnt; Savonarola wurde verbrannt; den Galilei warf man in den Kerker. Und so ist es noch Tausenden ergangen, welche ihre Erkenntnis einer Wahrheit gepredigt haben.

Weshalb? Weil diese erkannte Wahrheit, die sie predigten, der anderen gelehrten Welt nicht in ihren Kram paßte.

Heute wird alles, was der gelehrten Welt nicht in den Kram paßt, einfach totgeschwiegen. Man ist viel schlauer geworden. Man tötet nicht mehr die böse Person, sondern man tötet die böse Sache.

So ist zum Beispiel Schopenhauer bei Lebzeiten konsequent totgeschwiegen worden, so wird noch heute Kants Lehre von der persönlichen Wiedergeburt totgeschwiegen. Dieses Werk ist in keiner öffentlichen Bibliothek Deutschlands zu haben, und dennoch existiert es, seine Echtheit kann nicht angezweifelt werden, und dennoch weiß niemand, dessen Sache dies nicht ist, etwas davon. Es wird totgeschrwiegen. Das ist auch so ein Kunststück, das man schier gar nicht begreifen kann.

»Die »psychic Research Company«, ein Verein gelehrter Okkultisten, die ihren Sitz in London und Chikago haben, befaßt sich mit der wissenschaftlichen Erklärung solcher Phänomene.

Es gibt auch deutsche Schriften dieser Art, die kürzeste und dennoch beste ist wohl die von einem Inder verfaßte »Hindu—Hypnotismus«, übersetzt von W. Bondegger, Preis 1 Mark, in jeder Buchhandlung zu haben.

Da wird also gesagt, daß es eine ganz besondere Art von Hypnotismus ist, deren sich die Fakire und Derwische bedienen.

Dabei wolle man bedenken, daß es noch gar nicht so lange her ist, daß überhaupt der ganze Hypnotismus als ein Aberglaube betrachtet wurde, gerade von den Männern der Wissenschaft, die gar nichts davon wissen wollten. Heute ist das nun schon wieder überwunden, heute spielt der Hypnotismus in ärztlichen Kreisen bereits eine große Rolle.

Nun aber gibt es noch eine ganz andere Art von Hypnotismus seit Jahrtausenden schon den Indern bekannt und von ihnen ausgeübt, dann auch von den Arabern, aber immer streng als religiöses Kastengeheimnis behütet.

In jener Schrift wird auch gesagt, wie man sich diese magische Kraft aneignen kann.

Da freilich wird es, schon bei der ersten Bedingung, den meisten so gehen wie dem Jüngling, der zu Jesus tritt: »Meister, was soll ich tun, um in das Himmelreich zu kommen?« — »Halte die zehn Gebote.« — »Die habe ich gehalten von Jugend auf.« — »So verkaufe alles, was Du hast, und gib es den Armen.«

Da ging der Jüngling betrübt von dannen, denn er hatte viele Güter.

Es handelt sich darum, sein Gehirn, sobald man will, vollständig gedankenleer machen zu können, um dann nur den einzigen Gedanken, den man haben will, voll und ganz zu erfassen. Das ist aber leichter gesagt als getan. Da muß man gar nicht mehr wissen, was Zorn und Ärger ist — und auch nicht mehr, was Freude. Da muß man erst gänzlich für die Welt absterben. So etwas wie Sorge darf es nicht geben.

Und das ist nur der erste Teil. Dann kommt der zweite Teil, der in asketischen Übungen zur Stählung der Willenskraft dient. Der ist in jener Schrift weggelassen, und das ist recht. Es gibt Bücher, welche solche asketische Übungen lehren wollen, aber das ist Frevel. Hierzu gehört unbedingt die persönliche Anleitung eines »Gurus«, eine Führung. Wer diese asketischen Übungen durch eigene Kraft ausführen will, verfällt unrettbar dem Wahnsinn.

Einer nach dem andern von der Besatzung ging in die schwarze Kammer und ließ sich von dem alten Araber etwas vorgaukeln. Vater Abdallah war unermüdlich.

»Wunderbar, ganz erstaunlich, fabelhaft!« erklang es dann regelmäßig, wenn der Betreffende nach etwa einer Viertelstunde wieder herauskam. »Wie ist so etwas nur möglich? Habe ich denn das nur geträumt?! Ich war aber doch immer bei vollem Bewußtsein!«

Nun will ich eine ganz merkwürdige Episode schildern, die auch nicht des Humors entbehrt. Nämlich wie dieser arabische Magier seinen Meister fand. Und zwar in niemand anders als in unserem Segelmacher.

Zuerst kamen ja die Hauptpersonen des Schiffes daran, dann aber wußte sich Oskar, frech wie immer, gleich vorzudrängen, noch vor die Offiziere. Also er verschwand in der Kammer, in der eine elektrische Glühbirne hing, die Tür wurde immer verschlossen.

Ich bin ja nicht dabei gewesen, aber Oskar erzählte es uns später ausführlich.

Was der alte Araber ihm alles vorgaukelte, dabei will ich mich nicht weiter aufhalten. An Phantasie fehlte es ihm jedenfalls nicht, und er war so gefällig, jedem immer wieder etwas anderes vorzuzaubern. Wahrscheinlich amüsierte es ihn selbst, oder er wollte sich überhaupt in dieser Kunst üben und weiter ausbilden.

Also Oskar hatte schon die verschiedensten Wunder gesehen, und er staunte tatsächlich, machte daraus auch kein Hehl. Sein dreister Schalk schien ihn einmal ganz verlassen zu haben.

»Willst Du sonst, noch etwas sehen, mein Sohn?« fragte Vater Abdallah gütig wie immer, als er die Figur, die aus einer Photographie herausgetreten war, sich ganz lebendig bewegend, wieder erstarren ließ.

»Ich darf nach Belieben wählen?«

»Ja, jetzt sollst Du noch ein Phänomen auf Deine Bestellung haben. Jeder kann ja auch beliebig viele ganz nach eigenem Wunsche wählen, nur jetzt nicht, die anderen wollen doch auch drankommen. Später mehr. Was also willst Du sehen? Was soll ich Dir vormachen?«

»Ich möchste Petern hier haben.«

»Peter, wer ist das?«

»Das müssen Sie als Magier doch gleich wissen was ich meine.«

»Wie soll ich das wissen?«

»Na mal los! Ich will Petern hier haben.«

»Gut, wollen mal sehen.«

Und verschmitzt lächelnd griff Vater Abdallah hinter sich und brachte vorsichtig den Peter zum Vorschein, unseren Igel.

Der Leser versteht doch nun. Das war alles nur Imagination durch Gedankenübertragung. Es war gar nichts vorhanden, der Betreffende glaubte dies alles nur zu sehen und zu fühlen und zu erleben. Im übrigen läßt sich das nicht weiter erklären, das ist nun auch erledigt.

»Wahrhaftig, unser Peter!« staunte Oskar. »Wo haben Sie den plötzlich her? Der schläft doch jetzt gewiß in seiner Strohkiste. Wie kommt der plötzlich durch die verschlossene Tür?«

So staunte Oskar, während er den Igel hin und her drehte und sich mit Absicht an seinen Stacheln blutig ritzte.

Der Alte lächelte verschmitzt und vergnügt wie immer.

»Sonst noch etwas? Einige Minuten gebe ich Dir noch Zeit, aber Du mußt Dich beeilen.«

»Lassen Sie Petern einmal auf den Hinterbeinen tanzen und über den Stock springen!« kam der Matrosenwitz jetzt zum Vorschein.

»Einen Igel auf den Hinterbeinen tanzen und ihn über den Stock springen lassen?« lächelte der Alte. »Mein Sohn, Du verlangst viel. Aber Dein Wunsch soll in Erfüllung gehen.«

Und der Igel machte erst »schön«, erhob sich noch höher auf den Hinterpfoten und begann possierlich zu tanzen.

Hat man das schon einmal von einem Igel gesehen?

Ich könnte Bücher über die Dressur der allerverschiedensten Tiere schreiben. Denn ich habe da Erfahrungen gesammelt. Ich weiß, wie man es einem Pudel innerhalb einer Stunde lehrt, daß er einen Stock auf der Nase balanciert, daß jede Katze innerhalb eines halben Tages über den Stock springt und apportiert; ich weiß, wie Zirkusdirektor Busch einem Pferde das Schlagen von Saltomortales beibrachte, was aber beim öffentlichen Auftreten verboten wurde; ich weiß, wie man Gänse abrichtet, daß sie einen Wagen ziehen; aber einen Igel kann man nicht auf den Hinterbeinen tanzen lassen.

»Peter, Peter, was Du alles kannst!« staunte Oskar. »Na, nun lassen Sie ihn auch noch über den Stock springen.«

Der Alte griff hinter sich, hatte einen Stock in der Hand, hielt ihn vor sich hin, einen halben Meter hoch und der Igel sprang gehorsam darüber.

Das ist also eine Unmöglichkeit, die man nur im Traume erleben kann.

»Nun durch einen Reifen!«

Weshalb sollte der Igel nicht auch durch einen Reifen springen? Der Alte mußte einen solchen nur in seine Hand zaubern, und Peter sprang, auch auf Oskars Kommando.

»Nun soll er die Wand hinaufklettern.«

Schön, der Igel kletterte wie ein Eichhörnchen die Tuchwand hinauf, daran herum und wieder herab. Das gibts also bei einem Igel nicht etwa! Der kann nicht einmal eine Böschung von 45 Grad erklimmen, dazu ist er viel zu plump, dazu sind seine Füße nicht eingerichtet.

»Nun ist's aber genug,« sagte der Alte, »es ist Kaffeezeit.«

Noch befand sich der Igel zwischen den beiden, die am Boden hockten, und schnell griff Oskar danach, nahm Petern zwischen die flachen Hände.

»Kann ich den Igel mitnehmen?«

»Gewiß, das kannst Du!« lächelte der Alte.

Gut. Oskar pfropfte das stachlige Tier in die weite Tasche seiner Teerjacke.

Was daraus wurde, mußte er wissen. Solche Wünsche, etwas mitzunehmen, wurden ja oft geäußert.

Sobald man die doppelte Tür passiert hatte, verschwand jeder mitgenommene Gegenstand aus der Tasche wie in den Händen. Allerdings konnten Ausnahmen stattfinden. Diese »Magier« sind doch zugleich ganz geschickte Taschenspieler, die auch so ziemlich die Gedanken erraten können. Es konnte also sein, daß der Alte schon vorher seine Vorbereitungen traf‚ schon etwas mit in die Kammer nahm, welche man dann zu sehen und mitzunehmen wünschte, wahrscheinlich suggerierte er auch diesen Wunsch erst.

Aber bei dem Igel war das natürlich etwas anderes, der würde dann spurlos verschwinden.

Die beiden erhoben sich, verließen die schwarze Kammer. Es war ein günstiger Zufall, daß der Alte von selbst mitging, um den Kaffee einzunehmen, sonst hätte ihn wohl Oskar aus irgend einem Grunde dazu aufgefordert, oder er hatte eben mit Absicht gerade diese Sitzung vor der Kaffeezeit gewählt.

Aus der schwarzen Kammer trat man erst noch in einen kleinen Vorraum, der nicht erhellt war, dann kam man auf den Korridor des Kajütenaufbaues, bis auf Deck waren es nur noch wenige Schritte.

So traten die beiden zusammen, ziemlich gleichzeitig, an Deck, in den hellen Sonnenschein.

»Wahrhaftig, ich habe mich wirklich an dem Igel blutig gestochen!« stutzte Oskar, seine linke Hand betrachtend.

Denn dort zeigten sich die blutigen Male, die er sich an dem Igel mit Absicht geholt hatte.

Aber zu staunen brauchte er darüber eigentlich nicht. An Bord wurde ja jetzt über nichts weiter gesprochen als über diese Gaukeleien des arabischen Magiers, wir wußten doch schon recht gut, wie der die Sache machte, so weit es sich überhaupt erklären ließ.

Solche Merkmale, die man zu haben wünschte, brachte der Gaukler eben dem im Halbschlafe befindlichen bei, ohne daß jener etwas davon ahnte, wenigstens nicht von der Art und Weise, wie dies geschah. Man konnte ja auch verlangen, daß einem die Hand abgeschnitten wurde. Die war dann nach dem Verlassen des Raumes sofort wieder angewachsen. Wenn man aber etwa einen plötzlich erglühenden Gegenstand angriff und sich verbrannte, und man forderte direkt, so wie es zum Beispiel Juba Riata getan hatte, man wolle dieses Brandmal auch behalten — nun, dann zog der Gaukler einfach sein Feuerzeug und drückte dem Schlafwachenden etwas brennenden Zunder auf die betreffende Stelle.

Das war an Bord schon genügend erörtert worden, auch im Mannschaftslogis, über die blutenden Stichwunden hätte der Segelmacher also nicht so zu stutzen brauchen.

»Da siehst Du, daß es eben doch nicht so einfache Gaukelei ist, was ich Dir da drin vorgemacht habe!« lächelte der Alte.

»Ja, dann muß ich doch auch den Igel . . . wahrhaftig, da ist er!«

Und Oskar brachte vorsichtig aus seiner weiten Tasche den Igel zum Vorschein.

Jetzt war es Vater Abdallah, der ein ganz verdutztes Gesicht machte, freilich nicht lange, dann lächelte er verschmitzt.

Der Segelmacher hatte eben diese Sache vorbereitet, hatte von vornherein die Absicht gehabt, sich unseren Igel vorgaukeln zu lassen, hatte in dem dunklen Korridor einen Kameraden postiert, der ihm dann beim Verlassen der schwarzen Kabine den Igel heimlich zugesteckt hatte.

So kalkulierte der überaus schlaue Alte, und so war es auch in der Tat gewesen.

Aber Vater Abdallah ging weiter auf den Scherz ein, wußte ihn gleich für sich selbst auszunützen.

»Da siehst Du, mein lieber Sohn, daß ich Dir nicht nur Illusionen vorgegaukelt habe, wie Du wohl meinst, sondern ich habe Euren Igel durch meine Geister wirklich in das Zauberzimmer tragen lassen.«

»Hm, dann muß er doch auch hier schön machen und auf den Hinterbeinen und die Wände hinauflaufen können!« meinte Ostar nachdenklich.

»Nein, mein Sohn, da verlangst Du zu viel von Eurem Igel.«

»Weshalb denn? Weshalb soll er denn das nicht auch hier draußen können?«

»Nur drinnen in dem Zauberzimmer haben meine Geister dem Tiere solche überigelhafte Fähigkeiten verliehen.«

»Na‚ ich wills doch mal probieren.«

Und Oskar setzte den Igel an Deck hin.

»Schön, Peter, schön!« kommandierte er mit erhobenem Zeigefinger.

Und Peter erhob sich auf seinen Hinterbeinen

»Tanze, Peter, immer tanze!«

Und der Igel begann in ganz possierlicher Weise aus den Hinterpfoten zu tanzen.

»Allo hopp, Peter!«

Oskar hatte einen Besen genommen, hielt den Stiel einen halben Meter über den Boden, und der Igel sprang mit einem zwar possierlich aussehenden, aber doch eleganten Satz darüber hinweg.

Das tat er mehrmals auf Kommando, ebenso sprang er durch einen Reifen, und zwar noch viel höher, als nur einen halben Meter.

»Hopp, Peter, hopp!«

Dabei klopfte sich Oskar auf die linke Schulter, der Igel lief an seinem Körper hinauf und setzte sich ihm auf die Schulter, lief auf Kommando wieder herab.

»Hoch, Peter, hoch!«

Oskar klopfte gegen die Kajütenwand, und der Igel klomm diese mit der Geschwindigkeit eines Eichhörnchens hinauf, bis oben aufs Dach, kletterte wieder herab, und zwar kopfüber mit der größten Geschwindigkeit, und dann kletterte er nicht mehr, sondern er sprang gleich die Wand hinauf, sprang ebenso mit einem einzigen Satze auf Oskars Schulter.

Was sonst noch während dieser erstaunlichen Vorstellung geschah, das ist kaum zu beschreiben.

Nämlich was der alte Vater Abdallah für ein Gesicht dazu machte.

Denn wenn er auch sonst mit Igeln nicht sehr vertraut war, das mußte er doch unbedingt wissen, daß ein Igel unmöglich auf den Hinterbeinen tanzen und Wände hinaufklettern kann. Ebensogut könnte man das Letztere auch von einem Schweine verlangen.

Und hinter dem alten Araber nun stand Oskar, den Finger im Monde, ebenfalls ein unbeschreibliches Gesicht machend, aber kein verdutztes, sondern ein überaus pfiffiges und spöttisches, und fast die ganze Mannschaft stand herum, mit ganz ähnlichen Gesichtern.

Es war eben eine abgekartete Sache, die freilich noch der Erklärung bedarf.

»Inschallah, Alschallah!« staunte der Alte immer wieder, als der Igel jetzt nochmals flink wie ein Wiesel die holzbeschalte Kajütenwand hinauflief. »Das ist — das ist . . . ja gar nicht möglich! Ein Igel, beim Barte des Propheten ein Igel!«

Da legte ihm Oskar von hinten die Hand auf die Schulter und blickte ihm seitwärts ins Gesicht

»Ja, ja, Väterchen Abdallah, wir können Dir auch etwas vorgaukeln.«

»Vorgaukeln? Ich bin — ich bin . . . doch nicht hypnotisiert?!«

Und der Alte zupfte sich zur Vorsicht auch noch an Nase und Ohr.

»Nein, das ist — das ist . . . Zauberei!«

»Jawohl, ganz echte Zauberei, die aber dem Licht der Sonne stand hält!«

»Ein Igel, ein Igel!« staunte der Alte immer weiter.

»Du glaubst wohl nicht, daß es ein Igel ist? Hopla, Peter!«

Ein Klopfen auf seine Schulter, und der Zauberigel saß mit einem mächtigen Satze drauf, Oskar nahm ihn zwischen die flachen Hände, hielt ihn dem Alten hin.

»Ist das etwa kein Igel?«

Vater Abdallah der etwas kurzsichtig war, aber keine Brille trug, brachte seine Nase dicht über das Stacheltier, betastete es.

»Natürlich, ein ganz richtiger Igel — ein Igel, der auf den Hinterbeinen tanzt, über den Stock springt, meterhoch und die Wände hinaufläuft! O Allah, wie bist Du groß!«

Die Sache ging noch weiter. Ich will sie aber abkürzen, gleich die Erklärung geben.

Es war nämlich gar kein Igel!

Unser Peter hatte in der Hafenhöhle des Seelandsfelsens das Zeitliche gesegnet, und gerade, als man seinen Leichnam fand, hatte sich in einer aufgestellten Falle wieder einmal eine Ratte gefangen. Denn ein Schiff ohne Ratten gibt es gar nicht, nicht einmal unsere vielen Katzen konnten das Schiff davon freihalten.

Bei diesem gleichzeitigen Zusammentreffen war unserem Segelmacher wieder einmal ein genialer Gedanke gekommen, den er natürlich zu einem lustigen Streiche verarbeiten mußte.

Er nahm sich sowohl des toten Igels wie der lebendigen Ratte an. Ersteren häutete er ab und gerbte das Fell fein säuberlich, letztere dressierte er.

Die Ratte ist ein sehr kluges Tier, läßt sich ganz leicht zu den verschiedensten Kunststückchen abrichten. Wie gesagt, ich könnte über die Dressur aller möglichen Tiere Bücher schreiben. Der ehemalige Cowboy hatte dabei ursprünglich seine Geheimnisse gehabt, die er aber dann nicht mehr hütete, und wir alle haben ihn seiner Zeit beobachtet, und man wußte nicht, ob man mehr über seine Genialität oder über die Einfachheit staunen sollte, mit der er den verschiedensten Tieren alle möglichen Kunststückchen beibrachte.

Ich will hier nur eine ganz kurze Ausführung machen. Zunächst ist natürlich nötig, daß man Tiere scharf beobachtet, den Charakter und die Lebensweise desjenigen, daß man abrichten will, genau kennt. Ein Affe muß natürlich ganz anders behandelt werden als ein Hund oder Pferd oder Katze oder Ratte.

Schläge gibt es dabei gar nicht, der Hauptfaktor, die Triebfeder ist einzig und allein der Hunger.

Eines der selbständigsten Tiere, das zwar zum Hause gehört, sich aber am wenigsten vom Menschen sagen läßt, ist wohl die Katze, unsere gewöhnliche Hauskatze.

Zu meiner Kinderzeit wußte man überhaupt noch gar nichts von zu Kunststücken abgerichteten Katzen, hielt es wohl für ganz unmöglich, und was ich dann in Varietees von dressierten Katzen gesehen habe, das war wenig genug, während es doch ein leichtes ist, dieser Hauskatze die höchste Dressur beizubringen.

Man nimmt eine gewöhnliche Katze her, läßt sie einen Tag hungern, stellt vor ihr ein Brett auf, zeigt ihr ein Stückchen Fleisch, wirft es ihr sichtbar hinter das Brett natürlich springt die Katze über das Brett, wenn man dafür sorgt, daß sie nicht herumlaufen kann. Man klemmt sie einstweilen einfach zwischen die Knie.

Das tut man noch dreimal, dann braucht man kein Stück Fleisch mehr sichtbar zu werfen, die hungrige Katze springt von allein, in der Hoffnung, jenseits des Brettes ein Stück Fleisch zu finden. Das muß sie nun natürlich auch nachträglich bekommen.

Von jetzt an springt die Katze sofort, wenn man ihr nur das Brett vorsetzt. Zur Belohnung bekommt sie natürlich immer ein Stückchen Fleisch. Es ist ganz erstaunlich wie schnell das die Katze kapiert hat. Ich habe es auch einst nicht geglaubt, habe es aber bei Dutzenden von Katzen probiert. Es gelingt immer. Das Alter des Tieres spielt dabei gar keine Rolle.

Dann setzt man mehrere Bretter in einigem Abstand hintereinander, legt hinter jedes ein Stückchen Fleisch oder sonst einen Leckerbissen. Die Katze überspringt eine Barriere nach der anderen. Später springt sie erst recht, wenn sie nicht hinter jedem Brett ein Stück Fleisch findet. Zuletzt, das heiße schon nach einer Stunde Dressur, springt sie überhaupt über die Bretter, sobald sie dieselben nur ausgebaut sieht. Das scheint bei ihr ganz mechanisch zu werden. Natürlich hinterher immer ihre Belohnung.

Dann hält man ihr einen Stock vor, sorgt dafür, daß sie nicht durchkriechen kann, um nach dem Fleisch zu gelangen. Oder man kann den Stock auch gleich über ein Brett halten. Es muß eine sehr beschränkte Katze sein, die nicht nach ganz kurzer Zeit über jeden Stock springt, meterhoch. Sie sieht kein Fleisch mehr liegen, aber sie weiß, daß sie hinterher ein Stück bekommt.

Ganz rätselhaft ist es — mir wenigstens dünkte es so seiner Zeit — wie man einer Katze das Apportieren beibringen soll, das Zurückbringen eines weggeworfenen Gegenstandes.

Nichts einfacher als das. Wenn man das Rezept dazu kennt.

Man nimmt eine hölzerne, hohle Kugel, die sich öffnen läßt, oder eine einfache Schachtel tut es auch, durchlöchert sie an einigen Stellen, befestigt, damit die Katze sie bequem tragen kann, ein paar Lappen daran, dann einen Haken, um eine Schnur einzuhängen, zeigt der hungrigen Katze, wie man ein Stück Fleisch hineintut, und wirft die Schachtel etwas fort.

Die Katze hin, sie riecht durch die Löcher das Fleisch, versucht die Schachtel zu öffnen, kann es nicht. An der Leine zieht man die Schachtel zu sich, dabei die Katze immer lockend, und gibt ihr jetzt das Fleisch.

Es dauert gar nicht lange, dann bringt die Katze die Schachtel ihrem Herrn von selbst. Und bald bringt sie auch jeden anderen weggeworfenen Gegenstand, den sie tragen kann, in der Hoffnung, einen Leckerbissen zu bekommen.

Hunger muß die Katze natürlich haben! Anders ist es nicht zu machen.

Aber von einer Tierquälerei ist dabei gar keine Rede.

Nach der Dressurstunde kann und soll sie sich satt fressen. Eine des Hungertodes gestorbene Katze ist nicht mehr zu dressieren. Aber für die Dressur mußt sie hungrig sein. Doch auch nur während der ersten Periode. Dann macht sie das alles ganz von selbst, auch mit gesättigtem Gemüt; sie arbeitet rein mechanisch, sogar ohne Belohnung. Nur wenn man ihr ein neues Kunststück beibringen will, muß sie auch wieder hungrig sein.

Es ist ganz erstaunlich, wie man auf diese Weise eine gewöhnliche Katze abrichten kann.

Noch viel erstaunlicher aber ist, wie sich der Charakter solch einer Katze, mit der man sich auf diese Weise viel abgibt, sie nicht nur streichelt und hätschelt, verändert, wie sie ein wirklicher Freund des Menschen wird, in ihrem Wesen sich immer mehr dem Hunde nähert. Es ist eine Umwandlung, die man gar nicht beschreiben kann, die man beobachten muß.

Und so läßt sich jedes Tier, so weit es auf genügend geistiger Höhe steht, abrichten. Natürlich muß jedes Tier individuell behandelt werden. Mir scheint manchmal, als ob die geistige Beschränkung an uns Menschen liegt. Es gilt immer gewissermaßen nur ein Problem zu lösen, wie ist dieses Tier zu behandeln und wie ist ihm dieses oder jenes Kunststück beizubringen, und ist die Aufgabe richtig gelöst, dann inkliniert das Tier sofort und hat ohne Zweifel seine Freude daran, sich vom Menschen anlernen zu lassen.

Ich würde mich dabei gar nicht so lange aufhalten, wenn diese ganze Sache nicht einen sehr ernsten Hintergrund hätte. Also Oskar hatte die Ratte dressiert. Ich will ihm seine Versicherung glauben, daß ihr nur versehentlich der Schwanz in der Tür abgequetscht worden war. Obgleich er sich des Geständnisses, sie mit Absicht verstümmelt zu haben, eigentlich gar nicht zu schämen gebraucht hätte, denn die Hunde, denen der Schwanz abgehackt wird, sind zahllos und was ist es denn anderes mit den meisten Pferden, die ursprünglich männlichen Geschlechts waren, und was ist es denn anderes mit all den Ochsen und Schweinen, die wir verzehren, mit den Kapaunen und Poularden usw. Der Mensch ist und bleibt eben nicht nur das größte Raubtier, sondern überhaupt das größte Ungeheuer der Erde, und wenn es eine gerechte Vergeltung gibt — wehe uns!

Dann wurde die schwanzlose Ratte in das Igelfell eingenäht, sie mußte sich an diese Umhüllung gewöhnen, alle ihre Kunststückchen nochmals durchmachen und . . . so war eben der dressierte Igel fertig, der auf den Hinterbeinen tanzen, meterhoch über den Stock springen und hölzerne Wände und Taue hinaufklettern konnte.

Mir war es genau so gegangen wie dem alten Araber. Ich hatte an ein schier übernatürliches Wunder geglaubt, als mir Oskar die neueste Attraktion unseres Gauklerschiffes vorgeführt hatte, einen Igel, der springen und klettern konnte. Und ich war nicht kurzsichtig wie Vater Abdallah. Aber wie ich auch meine Nase über das Tier gebracht, ich hatte nichts gemerkt. So geschickt war die künstliche Umhüllung angebracht worden. Der Kopf war frei, aber nun vergleiche man den Kopf einer Ratte mit dem eines Igels man wird sofort die überraschende Ähnlichkeit herausfinden, besonders die schwarzen, funkelnden Äuglein sind ganz genau dieselben, und wer denkt denn daran, solch einem Tiere gleich ins Maul zu sehen, um die Zähne zu untersuchen, und was weiß denn unsereins von dem Unterschiede der Pfoten und Krallen.

Nur zusammenrollen konnte sich dieser Igel nicht, aber das tat unser Peter, der nichts zu fürchten brauchte, überhaupt nie mehr.

Kurz, auch ich hatte erst eine Erklärung bekommen müssen, von allein hatte ich dieses Rätsel nicht gelöst.

Nur hatte ich sie eher erhalten, als Vater Abdallah. Denn der mußte ja noch tüchtig zappeln.

Der alte Araber blieb bei uns, er war bereit, seine magischen Fähigkeiten — denn von solchen muß man unbedingt sprechen, selbst wenn er nur Illusionen vorgaukelte — auch anderen zu zeigen, und so wurde, wenn wir in einem Hafen Vorstellungen gaben, auch die schwarze Zauberkammer dem Publikum geöffnet. Dann später, als sich der Alte mehr eingerichtet hatte, konnte er Dutzende von Personen gleichzeitig faszinieren. Freilich wurde dafür ein Extrapreis verlangt, und es kamen nur solche hinein, die ihn bezahlen konnten — alles für die Armen!

Da bekamen wir ja manchmal etwas zu hören! Unsere »Argos« war nicht mehr das Gauklerschiff, sondern das Zauberschiff. Und es nützte nicht viel, daß sich der alte Araber verpflichtet hatte, um in abergläubischen Gemütern kein Unheil anzurichten, immer eine Erklärung zu geben, so weit es sich erklären ließ, jedenfalls seine Geister dabei aus dem Spiele zu lassen. Ach was haben wir für Anträge, für Briefe bekommen! Wie viele, und nicht nur hysterische Damen, wollten ihr ganzes Vermögen opfern und außerdem noch ihre Seele dem Teufel verschreiben, um diese »Zauberei« zu erlernen!

Aber ich glaube fast: ein noch größeres Furore machte unser dressierter Igel. Da sperrten sie alle Maul und Nase auf, gerade die einfachsten Leute, wenn das ihnen so gut bekannte Stachelvieh tanzte und sprang und kletterte. Ich sehe aber auch noch um den Tisch, auf dem sich unser umgewandelter Peter produzierte, die fünf alten Herren stehen, sämtlich mit mächtigen Glatzen, Naturwissenschaftler, Zoologen und Physiologen, geistige Kapazitäten Frankreichs, Mitglieder der Akademie — von der schwarzen Zauberkammer wollten sie nichts wissen, das war Unsinn, so etwas gab es für sie überhaupt gar nicht — aber dieser Igel, dieser Igel, daß war etwas für sie!

Und ich höre noch den einen alten Professor der Akademie, wie der einen langen Vortrag über die Anpassung der Tiere in veränderte Verhältnisse, hält — weil der Igel jahrelang an Bord eines Schiffes gelebt, sollte er das Klettern erlernt haben, dadurch auch zum Springen befähigt worden sein — und erst wie die Herren das wissenschaftliche Protokoll unterschreiben wollen, zeigen wir, daß in der Igelhaut eine Ratte steckt . . .

Ach, diese Gesichter! Ach, haben wir manchmal gelacht!

Und zu derselben Zeit gab sich Juba Riata im Zwischendeck mit einem Dressurakt ab, der tatsächlich von größter wissenschaftlicher Bedeutung war.

Wir sind von Rätseln und Geheimnissen umgeben, haben uns aber so an sie gewöhnt, daß wir sie gar nicht mehr als solche erkennen.

Jedes vierfüßige Tier, das man ins Wasser wirft, kann sofort schwimmen, auch wenn es noch nie im Wasser gewesen ist, sogar die so überaus wasserscheue Katze.

Der Mensch muß das Schwimmen erst erlernen, sonst ersäuft er. Schon das wäre einer Betrachtung wert. Nämlich weil das Nicht—Schwimmen—Können einzig und allein eine psychologische Schwäche ist. Jeder Mensch könnte sofort schwimmen, wenn er nur wollte. Das heißt: wenn er nur wüßte, daß er es ganz von selbst kann. Wenn nicht durch die Schwimmbewegungen des Frosches; so doch durch das Paddeln aller vierfüßigen Tiere. Aber er weiß es nicht, was jedes andere vierfüßige Tier weiß? Hier haperts! Dem Menschen ist mit seiner geistigen Höherentwicklung eben ein tierischer Instinkt verloren gegangen. Ganz merkwürdig ist nun, daß man das einmal gelernte Schwimmen nie wieder verlernen kann. Alles, alles kann man wieder verlernen, in langer Einsamkeit auch die Sprache, nur das Schwimmen nicht. Wenn ein siebenjähriges Kind regelrecht das Schwimmen erlernt hat, es kommt nie wieder in tiefes Wasser, als siebzigjähriger Greis fällt dieses ehemalige Kind einmal hinein — der Mensch macht sofort wieder regelrechte Schwimmbewegungen, mindestens kann er sich auf jeden Fall über Wasser halten. Das ist als Tatsache konstatiert worden, für kürzere Perioden in zahllosen Fällen. Beim Schwimmen handelt es sich nicht um etwas Physiologisches, sondern etwas Psychologisches. In dem Kinde ist ein Bewußtseinsfehler korrigiert worden, das hält nun für die ganze Lebenszeit.

Kann denn aber wirklich jedes vierfüßige Tier sofort schwimmen?

Nein. Dann wäre das ja einmal eine Regel ohne Ausnahme. Das Kamel kann es nicht. Das sinkt unter wie ein Stein. Dabei hat es nichts zu sagen, daß es ein Wüstentier ist. Was heißt überhaupt Wüstentier. Es gibt Kamele und Dromedare und Trampeltiere genug, die nie ein Fleckchen Wüste sehen. Eine alte Hauskatze hat nie die Stube verlassen, und wenn man sie in den Fluß, mitten in einen Teich wirft, schwimmt sie doch geschickt und sehr schnell ans Ufer. Es gibt andere Vierfüßler, die lieber verhungern, ehe sie den Fluß durchschwimmen, an dessen jenseitigem Ufer Nahrung für sie liegt, und wenn der Fluß auch nur so schmal ist, daß sie ihn fast überspringen könnten. Aber sie wissen, daß sie doch ins Wasser stürzen würden, und sie gehen prinzipiell nicht ins Wasser. Obgleich sie, unfreiwillig hineinfallend oder hineingeworfen, ganz vortrefflich schwimmen können. Aber sie verhungern lieber. Das ist ausprobiert worden, das haben wir selbst ausprobiert.

Aber das Kamel kann tatsächlich nicht schwimmen. Das wissen alle Araber und Sudanesen und Kirgisen und sonstige Züchter dieser Tiere, ob diese nun einen oder zwei Höcker haben. Sie müssen oft genug durch tiefes Wasser bugsiert werden. Man hat manchmal Gelegenheit, so etwas von Bord aus zu beobachten, im Suezkanal, bei Kantara, wo die Karawanen von Afrika nach Kleinasien hinübersetzen. Es ist eine Fähre vorhanden, sie wird aber gar nicht häufig benützt, ist auch zu klein für die manchmal ungeheuren Karawanen, wie lange soll denn das dauern. Und die Kamele müssen anderswo auch durchs Wasser.

Es ist schrecklich anzusehen! Wie die Kamele sich gebärden, was für eine furchtbare Arbeit die Führer mit ihnen haben. Bis sich das Kamel endlich in sein Schicksal ergibt, sich hilflos durchs Wasser ziehen läßt, wobei gesorgt wird, daß nur eben der Kopf oben bleibt. Das Kamel kann nicht schwimmen.

Und das Kamel ist die einzige Tierart, die nicht mehr in wilder Freiheit vorkommt! Es gibt noch wilde Hunde genug, aber kein wildes Kamel. Zwar will der schwedische Forschungsreisende Sven Hedin in Tibet wilde Kamele gesehen haben, aber er gibt an anderer Stelle zu, daß er sich auch geirrt haben kann, es mag auch eine Kamelherde gewesen sein, die ihre menschlichen Führer verloren hatte, schon vor einigen Jahren, ohne neue Herren gefunden zu haben, denn es waren keine Jungen dabei.

Denn das Kamel ist das einzige Tier, das sich nicht allein fortpflanzen kann. Es bedarf dazu unbedingt der Hülfe des Menschen. Genau so, wie das ägyptische Haushuhn nicht brütet. Während vieltausendjähriger Kultur sind seine Eier künstlich in Öfen ausgebrütet worden, dadurch hat es diesen Instinkt ganz verloren. Man kann es ihm auch nicht so ohne weiteres wieder beibringen. Noch heute hat jedes Fellachendorf seinen Brutofen. Und schließlich — da die Natur keine Lücke kennt, überall etwas Korrespondierendes hat — so kann sich auch die Dattelpalme, der älteste unter der Kultur des Menschen stehende Fruchtbaum, nicht mehr allein fortpflanzen, jede einzelne weibliche Blüte muß von Menschenhand mit einer männlichen Blüte betupft werden. Und die Edelfeige, jedenfalls die zweitälteste Kulturfrucht, bringt keine reifen Früchte hervor, auch im besten Klima nicht, der sich entwickelnde Fruchtboden muß von einer besonderen Mückenart angestochen werden, aber das ist nicht so einfach, der Mensch muß diese Mücke erst überlisten, betrügen, denn sie legt ihre Eier nur in wilden Feigen ab, in den Edelfeigen geht die Brut zugrunde. Wie dieser ganz knifflische Betrug, Kaprifikation genannt, worüber schon Plutarch berichtet, ausgeführt wird, darüber lese man im Konversationslexikon nach.

Also unter den Tieren ist einzig und allein das Kamel vollständig vom Menschen abhängig geworden, hat sich ganz und gar unter die Herrschaft des Menschen begeben — und ersäuft auch im Wasser genau so wie der Mensch.

Fürwahr, dabei kann man seine Gedanken haben!

Und dann gibt es noch ein anderes vierfüßiges Tier, das nicht schwimmen kann, das dem Menschen ähnlichste Tier: der Affe.

Der Affe geht nicht ins Wasser, und wenn er hineinfällt, dann benimmt er sich genau so drinnen wie der Mensch, zappelt so lange herum, bis er sich glücklich unters Wasser gezappelt hat.

Was soll man zu dieser Menschenähnlichkeit des Affen sagen? Ich für meinen Teil erblicke darin ein großes Geheimnis. Habe manche Stunde darüber nachgedacht. Unsereins, wenn man so einsam auf nächtlichem Ausguck steht — so einsam, ach, so einsam — mitten im brandenden Ozean — da hat man ja Zeit zu solchen Gedanken.

Im Matrosenlogis wird vielleicht mehr philosophiert als auf mancher Universität! Die Herren Professoren würden nicht schlecht staunen, wenn die einmal plötzlich, mitten auf dem Meere, unter die Back kämen, angefüllt mit Teergestank und Tabaksqualm, worüber sich diese blutig verdammten Matrosen unterhalten . . . über das, was ihnen der brandende Ozean erzählt hat . . .

Juba Riata war an das Problem gegangen, einem Affen das Schwimmen beizubringen. Gleich zweien. Dem Herrn Nebukadnezar und der Frau Fips. Ein glückliches Ehepaar, das auch sehr auf eheliche Treue hielt.

Ja, ein glückliches Ehepaar war es. Aber glücklich fühlten sich die beiden Affen jetzt bei diesem Schwimmunterricht wohl nicht. So wenig wie jetzt die »vornehmen« Hunde in Paris. Die alle, wie es nun einmal die neueste Mode verlangt, auf der Straße richtig angekleidet herum spazieren, die Herren mit Jacken und Hosen, die Hundedamen mit eleganten Röckchen, an den Füßen Lackstiefeln, und bei Regenwasser bekommen sie noch Gummischuhe an. Ja, nasse Füße bekommen diese vornehmen Hunde nicht mehr, sie sind auch sonst vor Nässe und Kälte aufs sorgsamste geschützt, sie strotzen alle vor Fett, aber . . . ich habe sie gesehen — diese vornehmen Hundeviecher hatten alle so unglückliche Gesichter!

Wie Juba Riata die Sache anfing, wußten wir nicht. Der tägliche Schwimmunterricht erfolgte in einem besonderen Raume des Zwischendecks, wo er ein großes Bassin hatte einbauen lassen, und während der Lektionen durfte kein anderer dabei sein. Nicht, daß Peitschenmüller die Dressurmethode als sein Geheimnis behüten wollte.

Auch darin war er ein ganzer Mann. Erst ein Resultat zeigen können! Vorher durfte man gar nicht mit ihm darüber sprechen.

Aber so viel wußten wir doch schon, daß es mit dem Erfolge, einem Affen die Schimmkunst beigebracht zu haben, noch nicht abgetan sein soll.

Nein, hierbei handelte es sich nicht nur um einen Dressurakt, so erstaunlich er bei Erfolg auch sein mochte, sondern es handelte sich um ein wissenschaftliches Problem.

Die Frau Fips beglückte die kleine Welt, welche doch unser Schiff bedeutete, alljährlich mit mindestens zwei Zwillingspaaren, die sie auch immer glücklich größer brachte. Wir ließen sie die Mutterfreuden bis zur Neige genießen, bis sich wieder der Futterneid einstellte dann beglückten wir mit den kleinen Äffchen unsere Julie, unsere Riesenschlange. Das ist nun einmal der Lauf der Welt, es ging auch in unserer kleinen Welt nicht anders. Wir konnten doch nicht unser Schiff mit lauter Affen bevölkern. Es war so wie so manchmal ein einziges großer Affenhaus. Wir konnten diese in Gefangenschaft und gar an Bord geborenen Affen auch nicht in einer Wildnis aussetzen. Da wären sie elend zugrunde gegangen. Sie in andere Gefangenschaft zu geben, daran dachten wir noch weniger. Also fort damit!

Beim nächsten frohen Ereignis sollte das nun anders werden. Gesetzt den Fall, es war wirklich gelungen, den Affeneltern das Schwimmen beizubringen. Dann aber schwammen sie nicht nur auf Kommando, oder wenn sie ins Wasser geworfen wurden, sondern auch hier war so eine Einrichtung angebracht, das Wasserbassin war dermaßen eingebaut, daß sie unbedingt durch das Wasser schwimmen mußten, um am anderen Ufer ihren Hunger stillen zu können. Also auch die ihnen angeborene Wasserscheu mußte ihnen genommen werden.

Würden nun die Affeneltern auch ihre Kinderchen dazu anhalten, daß sie das Schwimmen erlernten?

Das war es, worauf es hierbei hauptsächlich ankam. Und da durfte man wohl von einem wissenschaftlichen Problem sprechen, das es zu lösen galt.

Es wurde an Bord hierüber gar viel gesprochen. Besonders Oskar interessierte sich sehr für dieses Experiment. Der hatte sich nämlich ebenfalls speziell eines Affen angenommen, eines Mitteldings zwischen Pavian und Mandrill, eines Monstrums von Häßlichkeit, dem er den schönen Namen Schißtekabuste gegeben hatte. Das ist nicht etwa ein unanständiger Name, sondern das ist ein polnisches Wort und bedeutet Sauerkraut. An Sauerkraut hatte Oskar nun freilich nicht gedacht, als er seinen Lieblingsaffen so getauft hatte. Wir wollen ihn nur Kabuste nennen. Es war ein höchst gelehriges Tier, schade nur, daß ihm sein Herr nichts weiter als Dummheiten beibrachte. Von Oskar war ja freilich auch nichts anderes zu verlangen.

»Wenn Peitschenmüller seinen beiden Affen das Schwim men beibringt, dann verpflichte ich mich, aus meinem Kabuste einen Klaviervirtuosen zu machen!«

So sprach Oskar, und er wartete nicht erst Juba Riatas Erfolg oder Nichterfolg ab, sondern er ging gleich ans Werk, er brachte das abgedroschene Mannschaftsklavier, besonders von Oskars Fäusten abgedroschen, in einen unteren Raum, den er mit Seegrasmatratzen auspolsterte, und verschwand darin jeden Tag für einige Stunden mit seinem Affen. Später mußte auch noch ein zweiter Affe an dem Klavierunterricht teilnehmen.

Und warum soll man denn nicht einem Affen das Klavierspielens beibringen können? Hat er nicht die gelenkigen Finger dazu? Es gilt immer wieder nur das Problem zu lösen, auf welche Weise man das Tier veranlaßt, die Finger so auf den Tasten spielen zu lassen, daß eben ein wirkliches Spiel entsteht. Und dann natürlich darf man von solch einem Affen nicht gleich eine Lisztsche Rhapsodie verlangen. Aber daß man ihn soweit bringen kann, ein einfaches Liedchen zu spielen, davon waren wir von vornherein überzeugt.

Immerhin, wir waren äußerst gespannt, was uns Oskar später vorführen würde.

Bei dieser Gelegenheit, da wir nun einmal von musikalischen Tieren sprechen, will ich eine kleine Erzählung einflechten, einen von mir verübten Streich aus meiner Kinderzeit.

Sie kann übrigens als hierher gehörig betrachtet werden, wir saßen ja oft genug in der Kajüte zusammen und erzählten uns Schnurren, Selbsterlebtes und Gehörtes und Erdichtetes, auch Matrosen wurden manchmal herbeigezogen, ich habe ja schon einige Erzählungen aus Klothildes Munde zum Besten gegeben, und so will ich auch einmal eine von mir auftischen.

Ich würde sie betiteln:

Fräulein Seutbeers Geist.

Ich war acht Jahre alt, als mein Vater die akademischen Ferien zu einer weiten Reise benutzen wollte, wozu er mich nicht mitnehmen konnte, auch das Hausgesinde sollte einmal Urlaub bekommen, und so kam ich zur Tante Klara in Pension, die mich überhaupt reklamiert hatte.

Es war eine weitläuftige Verwandte meiner früh verstorbenen Mutter, war unverheiratet geblieben, also eine alte Jungfer geworden, besaß bei Kiel eine stattliche Gutswirtschaft, die sie verpachtet hatte, sich aber im herrschaftlichen Wohnhause einen Flügel reservierend, mit Benutzung des Wagens, sogar einer Equipage und mit anderen Vorrechten.

Tante Klara kam auch manchmal zu uns, mein Vater achtete die alte Dame sehr hoch, plauderte gern mit ihr, und ich war ihr ausgesprochener Liebling, den sie immer reich beschenkte.

Aber besuchen durfte ich sie nicht. Wenigstens nicht für längere Zeit. Nicht daß ich die Schulferien bei ihr verbringen durfte, keinen Sonntag. Der Gutshof wäre doch etwas für mich gewesen. Aber die alte Dame war ungemein ängstlich. Ich konnte in die Häckselmaschine kommen, von einer Mistgabel angestochen werden, ein wilder Ochse konnte mich auf die Hörner nehmen.

Diesmal trug Tante Klara selbst an, daß ich die Ferien bei ihr verbringen solle. Ich sei mit meinen acht Jahren doch nun vernünftig genug, und sie wolle schon Sorge tragen, daß mir nichts passieren könne.

Also ich hinaus mit ihr. Unterwegs kaufte sie mir noch ein Paar hohe Schaftstiefeln, die ich nicht besaß. Denn so vernünftig war sie ebenfalls, um einzusehen, daß ich nicht immer bei ihr in der Stube hocken konnte, nicht an ihren zahmen Spaziergängen teilnehmen, ich wollte doch auch einmal meine Freiheit haben, sonst braucht man doch nicht auf einen Gutshof zu gehen, und mein damaliges Ideal bestand darin, Mist ausladen zu dürfen, von diesem Ideal hatte ich ihr gleich vorgeschwärmt »Hurra, da lade ich Mist auf!« — und da kaufte mir die gute alte Dame denn auch gleich ein Paar zweckentsprechende Stiefeln.

Wir kamen an. Tante Klara zog sich gleich zur Nachmittagsruhe zurück, vorher aber wurde ein alter, besonnener Knecht, der dort sein Gnadenbrot genoß, angestellt, daß er mich nicht aus den Augen, nicht einmal von der Hand ließ.

Nun, ich wußte mir schon zu helfen. Das allererste war, noch in der ersten Stunde, daß ich in das mächtige Kühlbassin fiel, mehr als 300 Liter Vollmilch enthaltend. Und vorher war ich schon mit meinen neuen Schaftstiefeln auf dem Misthaufen herumgestampft.

Na‚ da war die Tante Klara nicht so, Geiz kannte die nicht, wenn mir nur sonst nichts weiter passiert war — nur der Knecht bekam seine Vorwürfe, dann bezahlte sie dem Pächter ganz ruhig den Schaden, ganz verloren war die Milch ja auch nicht, sie wurde eben dem Vieh verfüttert.

Und ich hatte das Vergnügen gehabt, einmal in einem Bassin voll Milch zu schwimmen, wirklich zu schwimmen, und sie hatte sogar herzlich darüber gelacht.

Und noch an demselben Tage erfuhr ich, weshalb mich Tante Klara eigentlich zu sich genommen hatte. Gegen Abend, als sie den Wagen anspannen ließe nahm sie mich vor, äußerst geheimnisvoll.

»Georg, Du bist trotz Deiner acht Jahre doch schon ein ganzer Mann, dessen Wort man trauen kann, wie Du auch schon bewiesen hast.«

Ja, das hatte ich.

Erst vor einem halben Jahre war es gewesen, da hatte ein Mitschüler von mir einen Streich ausgeführt, den man nicht mehr nur einen dummen nennen konnte. Er hatte, bei Gelegenheit allein in der Klasse, den Ausguß verstopft und den Wasserhahn aufgedreht, war davon gegangen, und als es gemerkt wurde, hatte schon das ganze Klassenzimmer fußhoch unter Wasser gestanden.

Durch Zufall erkannte ich das benutzte Tuch und sagte es dem Übeltäter auf den Kopf zu, daß nur er es gewesen sein könne, aber unter vier Augen. Da flehte er mich an, ihn nicht zu verraten. Und ich, der ich die Tragweite dieses bösen Streiches noch nicht überschaute, versprach es ihm.

Die Sache wurde bös, sehr bös, auch für mich. Durch Zufall brachte man heraus, daß ich an dem Verbrechen zwar nicht direkt beteiligt gewesen sein konnte, daß ich aber unbedingt den Bösewicht kennen müsse. Und hierbei handelte es sich nicht allein um so ein Schulvergehen, sondern um Schadenersatz, der Boden des ganzen Zimmers mußte aufgerissen und neu gedielt werden, auch die Wände waren arg beschädigt worden. Vorkehrungen gegen den Schwamm und dergleichen mehr, und da mußte doch der Vater oder Vormund des Übeltäters zur Bezahlung herangezogen werden.

Kurz, ich wurde sogar polizeilich vernommen, vor Gericht geführt! Und ich gab zu, den Verbrecher zu kennen, das konnte ich gar nicht mehr leugnen, aber ich hatte ihm, ganz leichtsinnigerweise, versprochen, ihn nicht zu verraten, und nun verriet ich ihn auch nicht, da gab es bei mir nichts!

Es war wirklich eine ganz böse Zeit für mich, ich wurde zwei Wochen lang als ein verstockter Verbrecher betrachtet, der in die Korrektionsanstalt gehörte. Allerdings nicht von meinem Vater, der überhaupt absolut nichts dazu sagte. Aber sonst immer zwischen dem Direktor und der Polizei hin und her, immer von einem Verhör zum andern.

Bis sich der Übeltäter endlich selbst meldete. Ohne von mir dazu aufgefordert worden zu sein. Das verbot mir wiederum mein Stolz. Er kam in eine andere Schule, gleich in eine andere Stadt. Dann war die Sache erledigt, auch für mich. Der Schuldirektor verzieh mir, in recht eigentümlicher Weise — er drückte mir die Hand, daß er sie fast zerquetscht hätte. Es war ein gediegener Mensch, der alte Herr. Und besonders die Studenten, die viel in unserem Hause verkehrten, feierten mich geradezu als Helden.

Dies also meinte Tante Klara.

Und nachdem ich ihr mein achtjähriges Ehrenwort gegeben hatte, weihte sie mich in ihr tiefes, tiefes Geheimnis ein.

Wenn ich es jetzt verrate, so ist das natürlich etwas ganz anderes; die sind schon alle tot‚ und überhaupt ist das Ganze nur ein dummer Schnickschnack.

Was mir Tante Klara nun damals offenbarte, das verstand ich ganz und gar nicht, das mußte erst so nach und nach kommen, und dann sah es ja noch bunt genug aus in meinem Kindergehirn.

Die Sache war folgende:

Damals war aus Amerika der Spiritismus ganz frisch auch nach Deutschland importiert worden, man sprach viel über die Experimente des bekannten Professor Zöllner in Leipzig, auch in Kiel bildeten sich schon Gesellschaften, die es wenigstens zuerst mit dem Tischrücken und Geisterklopfen versuchten.

Von dieser geistigen Epidemie war auch das »Kränzchen« ergriffen worden, dem meine Tante angehörte.

Es waren sechs begüterte Damen, lauter alte Jungfern, die sich Abend für Abend zum Kränzchen zusammenfanden, von sieben bis zehn, um Karte zu spielen und zu klatschen, und das Kränzchen ging immer reihum.

Jetzt also waren sie auf den Spiritismus gekommen. Erst probierten sie es einmal mit dem Tischrücken und Tischklopfen. Aber wie gewissenhaft sie auch mit den Händen die sogenannte magnetische Kette bildeten und obgleich sie stundenlang geduldig ausharrten, dazu heilige Lieder sangen oder Hokuspokus trieben, das Tischchen wollte sich nicht drehen, nicht ein bißchen wackeln, noch viel weniger eine Geisterkunde aus der vierten Dimension klopfen, oder wenn es sich doch einmal etwas gedreht hatte, so mußte die eine oder die andere Jungfer zuletzt zugeben, ein bißchen nachgeholfen zu haben. Ebenso entstanden manchmal auch ganz irdische Klopftöne.

Kurz und gut, das trieben die alten Damen nun schon seit einigen Wochen Abend für Abend, und die Geschichte wollte nicht gehen. Aber deswegen verloren sie den Mut nicht, in anderen spiritistischen Zirkeln sollte der Tisch doch wie wahnsinnig tanzen und trommeln, auch wenn kein Medium anwesend war.

Sie machten es eben noch nicht richtig, es fehlte noch irgend etwas dabei. Andere Spiritisten deswegen um Rat zu, fragen, da schämten sie sich, wie sie den Hokuspokus überhaupt ganz, ganz geheim betrieben. Es gab schon damals solche spiritistische Rezeptbücher genug, wie noch heute, die konnte man sich postlagernd schicken lassen, aber es nützte nichts, die Sache ging nicht.

Nun hatten sie wieder solch eine Schrift direkt von einem Berliner Medium bezogen, gegen einen fabelhaften Preis. In diesem spiritistischen Rezeptbuch standen aber auch ganz fabelhafte Sachen. Man müsse gewisse Zauberformeln hersagen, dann würde sich der Tisch ganz gewiß, drehen und klopfen, und nicht nur das, sondern es würden wahrscheinlich auch Tote sichtbar erscheinen, mindestens die wunderbarsten Spukvorgänge vor sich gehen. Am besten gelänge es, wenn man einen ganz »frischen« Toten zitiere, das heißt einen Menschen, der erst vor ganz kurzem ins Jenseits gefahren sei, nicht länger als drei Tage. Der mache sich nach jenen Zauberformeln ganz gewiß bemerkbar.

Aber man müsse bei alledem auch sehr, sehr vorsichtig sein! Sehr leicht könnten durch die Beschwörungsformeln auch unsaubere Geister und böse Dämonen angezogen werden, welche die Anwesenden schwer an Leib und Seele zu schädigen vermögen.

Doch hiergegen gibt es ein untrügliches Schutzmittel. Der Sitzung braucht nur ein unschuldiges Kind beizuwohnen, braucht sich nur in dem betreffenden, von vier Wänden eingeschlossenen Raume aufzuhalten, dann wagen sich die »Schemot schel schedim«, das sind eben die unsauberen Geister und bösen Dämonen, nicht einzumischen. Ja, dieses unschuldige Kind, vorausgesetzt daß es wirklich noch ganz unschuldig ist, vermag die Anwesenheit dieser bösen Geister, wenn sie sich unberufen einstellen, sofort zu fühlen, dann braucht es nur die Zauberformel »Adon olam jigdal« mehrmals auszusprechen, und die bösen Geister verschwinden sofort. Vorausgesetzt aber ist, daß die anderen Anwesenden, welche Geister zitieren wollen, vorher das Zimmer verlassen. Also durch Aufforderung des Kindes, welches die bösen Dämonen instinktiv merkt. Dann, wenn die Luft rein ist, ruft das Kind die Zirkelmitglieder wieder herein, die Sitzung kann fortgesetzt werden, mit bestem Erfolge, ohne daß noch böse Dämonen zu fürchten sind.

So sagte die hektographierte Rezeptschrift des Berliner Mediums.

Ich bemerke hierzu — was ich freilich erst viel, viel später erfuhr, eben erst durch unseren Doktor Isidor, als ich diese ganze Sache erzählte — daß dies alles aus der Kabbala stammt, jüdische Geheimbücher, die sich mit »Kischuph«, mit Zauberei, Geisterbeschwörungen und dergleichen beschäftigen. Alle die Namen und Zauberformeln waren hebräische. Adon olam jigdal zum Beispiel heißt: der Herr der Welt sei erhöhet.

Ja, die alten Damen hatten die größte Lust, die Sache zu probieren, sie brannten danach — hatten aber auch ganz höllische Angst vor den unsauberen Geisterin, die sie womöglich gar um ihre ewige Seligkeit bringen könnten.

Nun, da mußte man sich eben ein schützendes Kind beschaffen. Am besten, sagte die Schrift, eigne sich darin ein solches zwischen sechs und zehn Jahren, gleichgültig ob Junge oder Mädchen. Solche Kinder gab es ja massenhaft. Ob sie aber auch alle unschuldig waren? Wie das zu verstehen sei, das drückte jene Schrift nicht genauer aus. Unschuldig und sündenrein. Wenn aber ein Kind einmal lügt und ab und zu in Nachbars Garten einsteigt, so kann man es doch eigentlich nicht mehr als ganz sündenrein bezeichnen. Und dann vor allen Dingen war die Hauptsache die, daß sich die alten Jungfern ob ihrer spiritistischen Bemühungen schämten, sich genierten. Sie tagten aber ganz im geheimen, niemand durfte davon erfahren. Sie wären doch nur ausgelacht und verhöhnt worden. Und so ein Kind plaudert doch natürlich aus.

Da, als man die Hoffnung schon aufgeben wollte, hatte man sich endlich auch meiner erinnert. Ja, ich war wie geschaffen dazu! Acht Jahre alt, von meiner Verschwiegenheit, wie man meinem Wort trauen konnte, davon hatte ich erst vor kurzem wieder einen großartigen Beweis gegeben, und ich war in den Augen dieser alten Damen wie der meisten Menschen, die mich näher kannten, der unschuldigste, sündenreinste Engel

Eigentlich stand es ja anders mit mir. Aber die alten Damen ahnten eben gar nicht, wie faustdick ich es hinter den Ohren hatte, wieviel Zentner Äpfel ich schon gemaust und was ich sonst noch für Streiche schon auf meinem Kerbholz hatte. Die Sache war nur die‚ daß ich so schlau war, um mich niemals dabei erwischen zu lassen, und dazu hatte mir eine gütige Natur, nach dem Grundsatze, daß dem, der sich selber zu helfen weiß, auch der liebe Gott hilft, auch noch das unschuldigste Kindergesichtchen gegeben.

Kurz und gut, so war die Wahl des Kränzchens auf mich gefallen, deshalb hatte mich Tante Klara für die Ferien zu sich auf ihren Gutshof genommen. Daß die alten Jungfern mit meiner unschuldigen Kinderseele einen groben Mißbrauch treiben wollten, das will ich hier übergehen. Wenn ich selbst so etwas auch nie tun würde, so sehe ich doch nichts weiter dabei, kann es wenigstens leicht verzeihen, denn die alten, abergläubischen, aber im Grunde herzensguten Damen wurden sich der moralischen und ethischen Verwerflichkeit ihrer Handlungsweise gar nicht bewuß, dazu waren sie viel zu beschränkt, und da sie alles im Namen Gottes taten, dazu beteten und Kirchenlieder sangen, so fanden sie nichts Sündhaftes dabei. Nur ausgelacht wollten sie nicht werden!

Also Tante Klara hatte mich eingeweiht, natürlich nicht so, wie ich es hier schildere, und ich hatte Schweigen gelobt. Wir stiegen in die Equipage und fuhren zu der Dame, bei der heute Kränzchen war. Erst ein opulentes Abendbrot, dann wurden die Vorbereitungen zur Geistersitzung getroffen. Es waren fünf Damen — die sechste fehlte seit einiger Zeit — die um ein Tischchen Platz nahmen und mit aufgelegten Händen die magnetische Kette bildeten, die einfach darin besteht, daß sich die Finger der Nachbarn berühren müssen, vorher war das Gaslicht bis auf ein ganz kleines Flämmchen ausgedreht worden, so daß fast vollständige Finsternis herrschte, und nun wurde ein frommes Lied gesungen und dann jene Zauberformel immer wieder feierlich hergesagt. Ich saß dabei in einiger Entfernung in einem Lehnstuhl.

Aber wie nun auch gesungen und die hebräische Zauberformel geflüstert wurde, der Tisch wollte nicht tanzen und nicht klopfen, und von Geistern meldete sich nicht einmal ein toter Hund.

Also wieder war es nichts gewesen! Trotzdem verloren die Damen den Mut noch nicht, am anderen Abend ging dieselbe Geschichte in einer anderen Wohnung los, und das noch an vier weiteren Abenden, immer ohne Erfolg.

Die Ausdauer der alten Damen war wirklich bewundernswert, sie wäre einer besseren Sache würdig gewesen.

Was mich anbetraf, der ich immer dabei sein mußte, so kann ich nur sagen, daß ich nach und nach zu begreifen begann, was die Damen eigentlich wollten, daß ich aber deswegen auch immer ängstlicher wurde. Nicht etwa wegen der Geister, sondern wegen des Mißerfolges. Ich dachte nämlich, die Geister kämen deshalb nicht, weil ich doch nicht so unschuldig und sündenrein war, wie die Damen meinten, ich mußte, wenn ich so im Finstern saß, immer an die gemausten Äpfel und an andere Sünden denken, und schließlich könnten die Damen auch zu dieser Erkenntnis kommen. Das war es, was mir die größte Sorge machte.

Da sollte der Umschwung eintreten. Ich hatte schon gesagt, daß es in der letzten Zeit immer nur fünf Damen waren, die sechste fehlte im Kränzchen. Das war Fräulein Amalie Seutbeer. In Norddeutschland sind ja solche realistische Namen, die sich aufs Essen und Trinken beziehen, sehr häufig. Ich bin einmal auf einem Danziger Schiffe gefahren, dessen Kapitän Frettwurst hieß, der erste Steuermann Sörop, und der Bootsmann Wienfatt. Bei uns kamen die Namen Bohnsack vor — Albert der Sänger — Pieplack, was eine gelackte Portweinflasche bedeutet, und Laubskausch, was ein Norddeutsches Essen aus Stampfkartoffeln mit Salzfleisch ist.

Also Fräulein Amalie Süßbier oder Seutbeer war schon seit längerer Zeit krank, hatte schon immer die galoppierende Schwindsucht gehabt, ohne es gewußt zu haben, jetzt war die Krankheit ins letzte Stadium getreten, schon seit einigen Tagen lag die alte Jungfer in den letzten Zügen, verbunden mit einem hitzigen Fieber.

Da wurde ja in dem Kränzchen vorher während des Abendessens viel darüber gesprochen, die anderen fürchteten immer, das sterbende Mitglied könnte im Fieber über die spiritistischen Sitzungen phantasieren, aber das geschah nicht, die Fiebernde gab sich mit ganz anderen Gedanken ab. Fräulein Seutbeer war, wie solche alte, begüterte Jungfern, die nichts weiter zu tun haben, nun einmal sind, in ihren letzten Tagen auf den Gedanken gekommen, noch Klavierspielen zu lernen, hatte Unterricht genommen, ihr Lehrer, eine besondere Methode befolgend, hatte sie gleich mit der Tonleiter anfangen lassen, was ja sonst nicht üblich ist, dazu noch als erste ermunternde Stücke, damit man vom Klavierspielen gleich etwas hat, die schönen Lieder »Mädchen, warum weinest Du« und »Hänschen klein, ging allein, in den tiefen Wald hinein.«

Weiter war Fräulein Seutbeer nicht gekommen, da war sie auf das Kranken— und Sterbebett geworfen worden, nun spielte sie im Fieberdelirium noch immer die Tonleiter über das ganze Klavier weg und das weinende Mädchen und das kleine Häuschen, und unter diesen Melodien, die sie in die Luft hinein fingerte, war sie auch ins Jenseits gesegelt.

Das war am Dienstag nachmittag geschehen, an diesem Abend fiel das Kränzchen aus, alle die Kränzchenschwestern waren am Sterbebett gewesen, schon am anderen Tage wurde sie begraben, und am Abend fand das Kränzchen bei meiner Tante statt.

So, da hatte man ja nun, wonach man sich schon immer gesehnt: eine ganz »frische« Tote, die man zitieren konnte. Meine Sorge, daß meine Sündhaftigkeit an den Mißerfolgen schuld sein könne, war also immer ganz unnütz gewesen. Jenes Rezept sagte doch, die Zauberformeln wirkten nur bei Seelen, die erst vor höchstens drei Tagen abgefahren seien. Solche Seelen hatte das Kränzchen aber bisher nicht auf Lager gehabt. In Kiel und Umgegend starben zwar jeden Tag einige Menschen, es mußten aber abgeschiedene Seelen sein, die sich zu ihnen hingezogen fühlten, sonst kamen sie nicht. Das ist doch immer die alte Geschichte. Ich begriff dies alles aber doch erst so nach und nach.

Also heute abend versammelte sich das Kränzchen auf dem Gutshofe bei meiner Tante. Dabei bemerke ich nachträglich, daß dieses Kränzchen den Namen »Demut« führte und die christliche Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft ausdrückten sollte. Die betreffende Hausfrau mußte an ihrem Abend das Abendessen selbst herrichten, ihre Gäste ganz allein bedienen, weswegen das Hausgesinde an diesem Abend immer Urlaub bekam. Auf diese Weise konnten die spiritistischen Sitzungen auch so geheim gehalten werden. Meine Tante hatte gar keine eigene Bedienung, das wurde alles vom Gutshof aus besorgt, wenn sie jemanden brauchte, so rief sie durch Klingeln eine Magd.

Heute wurde das Abendessen sehr schnell eingenommen.

»Ob sie wohl kommen wird?«

Das war die große Frage, um die sich alles drehte und so zur Eile antrieb.

Dann begab man sich in das Sitzungszimmer, die Damen setzten sich um den runden Tisch, ich mußte in einiger Entfernung auf dem Sofa Platz nehmen. Gas gab es hier nicht, die auf dem Büfett stehende Petroleumlampe mußte ganz gelöscht werden, kleingedreht stank sie, dann aber stand auf dem runden Tische noch ein Nachtlämpchen, mit Benzin gespeist, für gewöhnlich mit ganz winziger Flamme brennend, die aber, wenn man das Ding hob, sofort hell brannte, weil sich dann unten ein Hebel auslöste. Denn im Dunkeln mußte wenigstens die Einleitung geschehen, dann wenn sich Spukvorgänge bemerkbar machten, durfte Licht gemacht werden, das verjagte die Geister dann nicht mehr.

Es ging wie gewöhnlich, erst ein frommes Gebet und ein Kirchenlied, und dann wurde die Zauberformel gesprochen: adon olam jigdal, adon olam jigdal, adon olam jig . . .

Klapp klapp klapp klapp ging es da in dem finsteren Zimmer.

Ein allgemeines Erschrecken und mäuschenstill ward es. »Georg, warst Du das?« wurde ängstlich geflüstert.

»Ich? O nee, wie soll ich denn!«

Klapp klapp klapp klapp ging es wiederum.

»Fräulein Seutbeer, sind Sie das?« erklang es immer ängstlicher.

Klapp klapp klapp klapp.

Die magnetische Kette wurde gelöst, die Benzinlampe flammte auf, verbreitete ein geisterhaftes Licht.

»Fräulein Seutbeer?«

Klapp klapp klapp klapp.

Alle guten Geister!

Meinem Sofa gegenüber, auf der anderen Seite des Zimmers, stand ein Klavier, darüber hingen an der Wand einige Bilder, darunter auch eine Photographie des Fräulein Seutbeer, und dieses Bild wackelte ganz mächtig!

»Fräulein Amalie Seutbeer, ist das Ihr Geist?«

Klapp klapp klapp wackelte das Bild.

Nun wird der Leser sicher meinen, daß ich es gewesen bin, der die Photographie wackeln ließ, wenn sie auch vier Meter von mir entfernt war. Ich hätte einfach einen Zwirnsfaden dran gebunden und zog.

Unter den fünf Damen war eine, Fräulein Asch, die zwar alles mitmachte und wohl selbst daran glaubte, aber doch sehr resolut war und mißtrauisch obendrein, und die dachte dasselbe.

»Das ist der Junge, der hat einen Zwirnsfaden drangebunden!«

Klapp klapp.

Fräulein Asch auf und hin, mit höchst anerkennenswerter Kurage.

Nur schade, daß sie keinen Zwirnsfaden fand, wie sie auch das kleine Bild abnahm und es betrachtete.

»Was, ich soll an einem Zwirnsfaden gezogen haben?!«

Und wie ich das gekränkt sage, und wie das alte Fräulein noch die Photographie in Händen hat, da fängt plötzlich das Klavier, vor dem sie steht, zu spielen an.

La la la la la la la la.

Spielt von oben nach unten eine Tonleiter!

Da freilich war es auch mit dieser resoluten alten Dame vorbei, da sackte auch die vor Schreck gleich in die Knie zusammen.

Amalie, Amalie — bist Du es?!«

La la la la la la la, wurde die Tonleiter wieder von unten nach oben gespielt.

»Es sind böse Geister im Zimmer!«

»Hinaus, hinaus!« schreit meine Tante und eilt hinaus, und ihr nach die drei anderen.

Leider eben zusammen nur vier. Das Fräulein Asch läßt sich nicht einschüchtern, die bleibt, wie ich auch immer wieder vor unsauberen Geistern und bösen Dämonen warne, deren Anwesenheit ich instinktiv fühle.

»Amalie, Amalie — bist Du das?!«

La la la la la la, spielt der Geist von Fräulein Seutbeer.

»Mußt Du denn auch noch im Tode Klavier spielen?!«

La la la la la la la la.

»Aber wie machst Du denn das nur?!«

La la la la la la la la.

Da klappt Fräulein Asch den Klavierdeckel auf, der bisher über den Tasten gelegen hat. So wißbegierig und heroisch ist sie.

Und hiermit ist die Gespenstergeschichte aus, wenigstens will ich mich ganz kurz fassen

Tatsächlich war ich es gewesen, der das Klavier spielen ließ, in einer Entfernung von mehr als vier Metern von mir.

Freilich nicht mit meinen eigenen Händen.

Unter dem hohen Deckel lief auf den Tasten ein Meerschweinchen herum.

Nur anfangs wurde dieses Meerschweinchen noch etwas geisterhaft genommen, dann war es vorbei, das Tier war doch gar zu reell, und ich mußte gestehen, das half nun alles nichts. Denn wer anders als ich hätte der Übeltäter sein können.

Ja, ich hatte den alten Damen oder auch den lieben Geistern, besonders der Fräulein Amalie Seutbeer, von der ich so viel gehört, etwas behilflich sein wollen. Hatte mir den Plan zurechtgelegt, hatte unter den Klavierdeckel rechtzeitig, wie es sehr leicht möglich gewesen, eines der Meerschweinchen gesteckt, die es auf dem Gutshofe massenhaft gab, und an Fräulein Seutbeers Photographie einen schwarzen Zwirnsfaden befestigt, aber nicht eigentlich gebunden, sondern ihn in doppelter Länge durch die Öse gezogen. So brauchte ich nur an dem einen Ende zu ziehen, dann zog ich den ganzen Faden durch, er war dann nicht zu finden.

Das war mir gelungen, aber nicht die zweite List, die Damen aus Furcht vor »unsauberen Geistern« hinauszubringen, um dann mein Meerschweinchen schnell wieder unter dem Sofa in einer Schachtel verschwinden zu lassen. Wenigstens Fräulein Asch war zurückgeblieben, die hatte alles verdorben.

Was sonst noch daraus geworden wäre, kann man sich nicht ausmalen.

Mit meiner »Unschuld und Sündenlosigkeit« war es zwar nun vorbei, aber ich hatte auch einen großen Vorteil davon. Die alten Damen, natürlich tief beschämt, verpflichteten mich nochmals zum Schweigen, ich legte ja auch wiederum das Gelübde ab, diesmal aber unter Vorbehalt. Mehr Freiheit wollte ich haben! Und so kam es, daß ich jetzt nicht mehr mit ins Kränzchen brauchte, ob dort nun weiter Geister zitiert wurden oder nicht, und mich nach Herzenslust im Gutshof und in den Ställen und auf den Feldern herumtreiben konnte.

Das also war es, was ich ursprünglich gemeint hatte — nämlich wie auch ich schon einmal ein Tier zum Klavierspielen abgerichtet habe, freilich ohne jede weitere Dressur, das Meerschweinchen lief nur auf den Tasten hin und her, und daß es »Mädchen warum weinest Du« oder »Hänschen klein« gespielt haben sollte, das kann man von einem Meerschweinchen doch auch wirklich nicht verlangen.


73. KAPITEL. DAS SCHWERT DES CID.

Zum dritten Male legten wir in Para an, um auf dem Amazonenstrome und seinen Nebenflüssen und Bifurkationen in den brasilianischen Urwald zu dringen.

Einzunehmen brauchten wir nichts. Proviant hatten wir noch genug, und die Ballasttanks, früher nur mit Wasser gefüllt, enthielten jetzt Petroleum, der Ölquelle des Seelandsfelsens entnommen, und trotz der langen Reise war erst die Hälfte davon verbraucht worden.

Aber wenn der Amazonenstrom auch jetzt frei für alle Schiffe ist, was vor 20 Jahren noch nicht der Fall war, so muß jedes Schiff doch in Para anlegen, um sich eine Zollrevision gefallen zu lassen. Denn Brasilien besteuert natürlich die fremden Waren. Wir hatten nichts zu versteuern, wollten nichts verkaufen, und wenn wir etwa einem anderen Schiffe auf dem Amazonenstrome oder in einem Hafen etwas von unserem überreichlichen Proviante abtraten, um ihm aus der Verlegenheit zu helfen, so mußte das später gesagt werden, das wurde dann auf der Rückfahrt in Para versteuert. Deshalb brauchte also nichts unter Plombe genommen zu werden, da genügte die einfache Aussage des Kapitäns. Wenn der etwa betrog, und es stellte sich später heraus, so mußte eben die Reederei die Steuer bezahlen, eine gehörige Strafe dazu, und der Kapitän verlor natürlich sein Patent.

Aber als Kargokapitän war das jetzt meine Sache. Kapitän Martin hatte nur noch die nautische Sache, für die Fracht, und alles, was damit zusammenhängt, war jetzt ich verantwortlich, weil ich nun einmal als Kargador registriert worden war.

Es ging einfach genug zu. Ich unterschrieb die Erklärung, daß wir alles, was wir an Bord hatten, nur für eigene Zwecke verwenden wollten, daß wurde noch im Schiffsjournal protokolliert und vom Kapitän Martin unterschrieben, und die Sache war erledigt.

»Sie haben jetzt Petroleumfeuerung?« fragte da noch der Steuerbeamte.

»Ja.«

»Wo haben Sie das Petroleum her?«

Groß blickte ich den Frager an.

»Was geht denn das Sie an?!« fuhr es mir da auch schon heraus.

Und der Beamte entschuldigte sich denn auch gleich und ging, das Schiff war freigegeben.

So einfach war die Sache denn freilich doch nicht.

Ich hatte schon oft daran gedacht, wir hatten auch öfters zusammen darüber gesprochen.

Die Zeiten sind vorüber, da ein armer Schlucker plötzlich über Reichtümer gebietet, und seine Nachbarn mögen glauben, er habe seine Seele dem Teufel verschrieben. Heute muß in solch einem Falle der Betreffende behördlicherseits Rechenschaft geben, wo er das viele Geld plötzlich her hat. Das gilt an Land, und das gilt vielleicht noch viel mehr zur See, im Schiffshandel. Da muß man bis ins Kleinste nachweisen können, wo man die Fracht und den Proviant und die Kohlen her hat.

Darüber, wegen unseres Petroleums, hatten wir also schon gesprochen. Nun, deshalb brauchten wir das Geheimnis unseres Seelandsfelsens noch nicht zu verraten. Wir wußten eben irgendwo eine Ölquelle, auf einer herrenlosen Insel oder mitten im Meere. Diese Antwort mußte genügen. Zu weiterer Auskunft waren wir nicht verpflichtet. Fahrt uns doch nach und seht selber zu, wo wir unser Heizungsmaterial herholen.

Und dieser Steuerbeamte hatte nun ganz und gar kein Recht, solch eine Frage zu stellen, da hatte ich ihm gleich die richtige Antwort gegeben.

Immerhin, die Sache gab doch etwas zu denken.

Und so dachte ich noch, als ich in meiner Kabine wieder die mir anvertrauten Papiere ordnete.

Da trat Siddy ein.

»Herr Waffenmeister, wir haben Besuch bekommen, er ist in der Kajüte, Sie müssen dabei sein.«

»Wer denn?«

»Raten Sie mal.«

Diese Einleitung hatte Siddy schon einmal gemacht.

»Doch nicht wieder unser Prospektador?!«

»Er ist schon wieder da.«

Jawohl, da stand er schon in der Kajüte, noch ganz genau derselbe! Schäbiger und fettiger konnte sein Mantel und Filzhut ja auch gar nicht werden, und zwischen denen ragte auch noch dieselbe mächtige, schiefe Habichtsnase hervor, und zwischen den Krallenfingern der linken Hand hielt er noch immer das qualmende Zigarettchen.

Außer ihm waren in der Kajüte noch die Hauptpersonen anwesend oder ich will sie gleich namentlich anführen: die Patronin, Kapitän Martin, Juba Riata, Doktor Isidor und Klothilde.

»Hier, Herr Waffenmeister,« sagte zunächst die Patronin, »ein alter Bekannter von uns. Will aber den Zweck seines hohen Besuchs nicht eher offenbaren, als bis Sie zur Stelle sind.«

»Bonas dies, Sennor Capitano,« begrüßte der mich jetzt, ließ den Stummel unter seinem Mantel verschwinden und hatte im nächsten Augenblick eine neue Zigarette in der Hand, schon brennend.

»Guten Tag, Sennor Montezuma della Estrada! Ich bin zur Stelle. Was verschafft uns die hohe Ehre Ihres werten Besuches?«

»Können wir hier unbelauscht sprechen?«

»Ganz gewiß.«

»Sie sind schon zweimal von mir getäuscht worden.«

»Das stimmt.«

»Das erste Mal versprach ich Ihnen für vierzig Millionen Chinarinde, gab Ihnen dann statt dessen einen Diamanten von demselben Werte . . .«

»Es ist gar nicht nötig, daß Sie all diese Täuschungen nochmals aufzählen.«

»Es waren nur zwei. Einmal mit dem Diamanten, das andre Mal mit dem Golde von Eldorado.«

»Diese zwei Täuschungen genügen grade.«

»Glauben Sie etwa, daß ich Sie mit Absicht betrügen wollte?!«

»Das allerdings nicht, aber . . . wohin sind Sie denn damals so plötzlich verschwunden?«

»Als ich erkannte, daß das vermeintliche Gold nur gelber Glimmerschiefer war, war mein Schreck natürlich groß. Aber hier gab es nur eines, Ihnen Ersatz dafür bieten. Und ich ging sofort, ihn zu holen. Ich wurde länger abgehalten, als ich dachte. Als ich zurückkam, waren Sie bereits fort, und ich wußte nicht, wohin.«

»Und was war das für ein Ersatz?«

»Mi sabe.«

»Hören Sie, mein guter Freund, mit dieser Redensart kommen Sie diesmal nicht weit!«

»Es hat gar keinen Zweck, über diesen gleichwertigen Ersatz zu sprechen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil ich das, was ich Ihnen dafür bieten wollte, gar nicht gefunden habe.«

»Aaahso!« mußte ich lachen, und die anderen mit mir.

Nur der Spanier ließ sich nicht beirren, blieb immer ganz Würde.

»Jetzt aber bin ich hier, um Ihnen einen vollen Ersatz dafür zu bieten.«

»Und das wäre?«

»Wäre Ihnen daran gelegen, nach jenem Plateau des Eldorados zu kommen, vom Meere aus, ohne erst den Amazonenstrom hinauffahren zu müssen?«

»Wie, Sie kennen solch einen Wasserweg?!« stutzte ich.

»Ob Ihnen daran gelegen wäre, frage ich.«

Die Gedanken schlossen mir durch den Kopf. Ich will sie nicht weiter schildern. Na und ob uns an so etwas gelegen wäre!

»Ja.«

»Nehmen Sie daß als Ersatz dafür an, daß Sie mit dem Diamanten und mit dem versprochenen Golde getäuscht worden sind?«

»Hierüber hat nur die Patronin zu bestimmen.«

»Ich nehme es als Ersatz an!« rief diese sofort mit leuchtenden Augen, eben den Wert solch eines Geheimnisses sofort erkennend.

»Wo ist diese Durchfahrt vom Meere aus?« fragte ich wieder.

»Mi sabe.«

»Nein, Herr, da müssen Sie sich erst näher erklären.«

»Ich spreche aber nicht vorher darüber. Sie müssen sich mir anvertrauen. Aber ich garantiere dafür, daß ich Sie auf einem aller Welt unbekannten Wasserwege nach jenem Eldoradogebirge bringe und auch wieder zurück, und außerdem sollen Sie den Weg ganz genau aufzeichnen können, so daß Sie selbst den Rückweg finden.«

»Well, womit garantieren Sie?« ließ sich Kapitän Martin vernehmen.

»Mit dem Kostbarsten, was es auf dieser Erde gibt hiermit!«

Und mit diesen Worten brachte die rechte Krallenhand unter dem Mantel einen Spazierstock zum Vorschein.

Allerdings einen ganz merkwürdigen Spazierstock. Wohl mehr als fünf Zentimeter breit und dabei ganz flach, überhaupt ganz wie eine Johannesbrotschote aussehend, nur eben von der Größe eines Spazierstockes, oben mit einer Krücke.

Ich kannte diese Art von Spazierstöcken, hatte wenigstens schon vier gesehen. Zwei in einem Museum, einen in der Hand eines spanischen Granden und einen in der Hand des Fürsten Bismarck, als ich das Glück hatte, ihm einmal im Sachsenwald zu begegnen. Er hatte ihn, wie ich später erfuhr, von der spanischer Königsmutter als Zeichen ihrer Verehrung geschenkt bekommen, woraus man also wohl auf die Kostbarkeit solcher Spazierstöcke schließen darf.

Das so schotenförmig geformte Stück Holz, sehr leicht und dabei äußerst hart, ist eine Wurzel des Drachenbaumes, aber nur eine Ausläuferwurzel. Der subtropische Drachenbaum ist zwar nicht der Riese unter den Bäumen, erreicht aber den größten Stammesumfang und das höchste Alter. Die berühmtester Drachenbäume, die wirklich Reisende aus allen Weltteilen anlocken, stehen auf Teneriffa, und derjenige, der im Jahre 1868 bei Orotova durch einen Sturm gefällt wurde, konnte zweifellos auf 6000 Jahre geschätzt werden.

Und nur die allerältesten Drachenbäume, die keine Früchte mehr ansetzen, treiben solche Wurzeln, aus denen sich dann Ausläufer entwickeln. Da darf man also wirklich von einer kostbaren Seltenheit sprechen. Wenn auch nicht gerade vom Kostbarsten, was es auf dieser Erde gibt.

»Mit diesem Schwerte garantiere ich!« sagte der Spanier nochmals mit aller Feierlichkeit.

Er sprach zwar Englisch, hatte jetzt aber das spanische Wort Ladarma gebrauchst. Lado ist die Seite und arma die Waffe, also Seitenwaffe, womit man allgemein auch das Schwert bezeichnet. Ungefähr oder vielmehr ganz genau so, wie wir das Seitenmesser des Soldaten Seitengewehr nennen, obgleich wir jetzt unter Gewehr doch etwas ganz anderes verstehen.

Ja, wie ein Schwert sah dieser Spazierstock auch aus, und ich wußte schon, daß man solche Dinger einfach auch Ladarmas nennt.

»Mit diesem Schwerte,« fuhr der Spanier fort, immer noch mit größter Feierlichkeit, hat der größte Held aller Zeiten, hat der edle Cid Don Rodrigo der Campeador von Castilien den furchtbaren Sancho von Navarra überwunden, mit diesem Schwerte hat er alle seine Waffentaten vollbracht, mit diesem Schwerte hat er mehr als hunderttausend Mauren vom Scheitel bis zum Nabel in zwei Hälften gespalten!«

»Oho, nanu, nanu!« mußte ich da doch lachen. »Mit diesem hölzernen Knüppel? Wie hat er denn das gemacht?«

»So!«

Mit diesem Worte zog der Spanier an dem Griff, wie ein gleißender Blitz zuckte es durch die Luft, und er hielt mir einen breiten, glänzenden Stahl hin.

Die Wurzel war hohl, war ein Degenstock, barg aber mehr ein breites Schwert als einen Degen, nur eben mit einem einfachen Holzgriffe.

Ich griff danach, schon mit ganz großen Augen.

Alle Wetter!

Eine echte Damaszenerklinge!

Das erkannte ich sofort!

Ich hatte schon einige in Waffenmuseen gesehen, die ich niemals zu besuchen vergesse.

Über diese Damaszenerklingen wird viel Törichtes geschwatzt.

Wer kann sich rühmen, einen echten Damaszener zu besitzen?

Eine Toledoklinge mag es sein, aber schwerlich eine Damaszener, oder ihr Besitzer könnte sich auch einen echten Rembrandt oder Tizian oder Raffael leisten, also im Zimmer ein Bild hängen haben, dessen Wert Millionen repräsentiert.

Mit der alten Damaszener Schmiedekunst ist der Menschheit wieder einmal ein Geheimnis verloren gegangen, welches unsere heutigen Techniker und Gelehrten vergeblich zu enträtseln suchen. Unsere moderne Industrie, die Fabrikarbeit, die alles so schnell und billig als möglich herstellen will, hat diese Kunst vernichtet.

Stahldrähte werden zusammengeflochten, zur Klinge geschmiedet, gehärtet — und der Damaszener ist fertig.

So, nun macht das mal nach.

Wir können es nicht mehr.v

Die besten Klingen werden heute noch in der königlichen Waffenfabrik zu Toledo hergestellt. Jeder Offizier, der ritterlich etwas auf seinen Degen hält, nicht nur auf so eine gewöhnliche Eigentumswaffe, läßt die Klinge dazu in Toledo schmieden. Das ist aber auch wohl das einzige, worin das einst allmächtige Spanien, auch geistig und industriell die ganze Welt beherrschend — man denke etwa an die Universität von Salamanca — noch immer unerreicht dasteht. Obgleich auch schon Fabrik genannt, wird dort doch noch jede bestellte Klinge individuell behandelt, nur ein einziger Schwertfegermeister beschäftigt sich einzig und allein mit dieser Arbeit, bis sie fertig ist — was freilich auch danach bezahlt werden muß.

Dort will man das streng behütete Geheimnis der orientalischen Schmiede, die Timur-Leng ums Jahr 1400 aus Damaskus entführte und dann spurlos verschwinden ließ, noch kennen — aber das Richtige ist es noch längst nicht.

Auch in Toledo werden Stahldrähte der verschiedensten Sorten zusammengeflochten. Aber dann, beim Schmieden im glühenden Zustande, schweißt dies alles zusammen, die Struktur geht verloren. Das Damaszieren, das Hervorbringen des Damastmusters, wird dann künstlich mit Säuren auf den Stahl geätzt, läßt sich also auch wieder mit Säuren wegätzen. Was bei den echten Damaszenern nicht der Fall ist: Gerade das Gegenteil. Je mehr man bei diesen mit Säuren ätzt, desto schärfer tritt das Muster hervor.

Wir wissen nur, daß es eine uralte indische Kunst war, als religiöses Geheimnis streng behütet, die bis nach Damaskus kam, um dort zu verschwinden. Wir wissen, daß die Schwertfeger von Damaskus ihre Stahlsorten zur Hälfte aus dem Tale von Golkanda, zur anderen Hälfte aus Persien bezogen, andere Stahlsorten konnten nicht in Betracht kommen, diese beiden mußten gemischt werden. Also die Schwertfeger von Damaskus konnten schon nicht mehr selbst den dazu nötigen Stahl herstellen. Dann wurden die geflochtenen Klingen nicht nur tage—, sondern wochenlang ununterbrochen in ganz schwacher Rotglut gehalten und immer ganz schwach gehämmert, und das Abkühlen mußte wiederum in tagelanger Verzögerung erfolgen. Aber die Hauptsache sollte dabei das Feuer sein, womit dieses genährt wurde, nur mit Kuhdünger, wozu noch andere Bestandteile kamen.

Die Sache ist also wohl die, daß diese Klingen überhaupt gar nicht gehärtet wurden, wenigstens nicht so, wie wir heute härten, durch Abschrecken des glühenden Stahls in Wasser und späterem »Anlassen«. Wer nun etwas von der Verwandlung des Eisens in Stahl weiß, der wird merken, daß es tatsächlich dabei am meisten auf das Feuer angekommen ist, genährt von sehr stickstoffreichem Brennmaterial.

Aber wir wissen nicht mehr, wie das gemacht wurde. Bei uns schweißt das Drahtgeflecht zusammen, verschmilzt zu einem Ganzen, und dann fehlten die Haupteigenschaften der Damaszener Klinge: daß ein Schleier, der auf sie niederschwebt, zerschnitten wird, so rasiermesserscharf ist die Schneide, und daß man mit derselben Klinge einen starken Hufeisennagel durchschlagen kann, ohne daß die Schneide die geringste Verletzung zeigt.

Wer nun daran zweifelt, daß unsere moderne Technik nicht mehr so etwas fertig bringen sollte, was vor Jahrhunderten geleistet worden ist, der frage — um nur noch ein einziges Beispiel anzuführen, es gibst aber deren eine ganze Menge — einen Kunstmaler oder Kunstsachverständigen über unsere heutigen Ölfarben. Die sind wunderschön, aber halten tun sie nicht. Wir können nicht mehr, wie es die italienischen, niederländischen und spanischen und auch deutschen alten Meister für Jahrhunderte malen. Was heute gemalt wird, existiert schon in hundert Jahren als farbenprächtiges Gemälde nicht mehr. Schon die Werke von noch heute lebenden Meistern beginnen sich ganz bedenklich zu verändern, verbleichen, es werden ganz andere Farbentöne daraus. Das macht: in alten Zeiten stellten sich die Maler ihre Farben selbst her, und jeder hatte da sein Geheimnis. Wenn ein genialer Jüngling Maler werden wollte, so mußte er bei einem Meister als regelrechter Lehrling antreten, mußte erst Ölpressen lernen, wie das an der Sonne destilliert wird, mußte Farbe reiben, und das Jahre lang, nebenbei in der Malkunst selbst nur Handlangerdienste verrichten, ehe ihn der Meister für würdig fand, in das eigentliche Geheimnis der Zubereitung eingeweiht zu werden. Heute gibts doch so etwas nicht mehr. Die Farben werden aus der Fabrik bezogen — und sind dem baldigen Untergange geweiht.

Es war eine echte Damaszener Klinge, die ich in meiner Hand hielt!

Ich brauchte mir nicht erst vom Schiffsarzt verdünnte Schwefelsäure geben zu lassen, am oberen Teile war schon an verschiedenen Stellen geätzt worden, und je tiefer, desto schöner und schärfer trat die Damastmusterung hervor.

Man muß wohl ein Altertumskenner sein oder so ein alter Fechtbruder wie ich, der auch sonst etwas von Klingen versteht, sehr viel sogar, der auf Klingen förmlich studiert hat, um meine Aufregung begreifen zu können.

»Mensch, wo haben Sie diesen Damaszener her?!«

»Mi sabe.«

»Er stammt wirklich von dem spanischen Nationalshelden her, von dem Cid Campeador?!«

Zwischen Hutkrempe und Mantelschlitz wurden zwei der Krallenfinger etwas in die Höhe gereckt.

»Bei meiner Schutzpatronin, der heiligen Veronika von Camonna — ich schwöre es. Nur der ehemalige Knauf ist durch einen Holzgriff ersetzt worden, der von dem Drachenbaum bei Oglata stammt, der Madonna geheiligt, wie die ganze Wurzel, die jetzt die Scheide bildet.«

»Wie ist die Klinge in Ihren Besitz gekommen?«

»Mi sabe.«

»Mann, sprechen Sie doch!«

»Rechtmäßig. Schon mein Urgroßvater war rechtmäBiger Besitzer dieses Schwertes, mein Vater gab es mir auf seinem Sterbebette, und ich habe es nie aus meinen Händen gelassen.«

Da stellte die Patronin eine Frage, an die ich jetzt nicht gleich gedacht hätte.

»Sie wollen damit doch nicht etwa sagen, daß Sie diesen Stockdegen ständig unter Ihrem Mantel getragen hätten?«

»Si si, Sennora.«

»Schon damals, als wir Sie zuerst kennen lernten? Während Sie bei uns an Bord waren? Auf der ganzen Fahrt von Kapstadt bis hierher?«

»Si si, Sennora. Dieses Schwert ist noch nie von meiner Seite gekommen.«

Jetzt erst begriff ich, was hier eigentlich vorlag, und ich blickte den rätselhaften Mann an. Was mochte der sonst außer Zwiebeln noch alles unter dem schmierigen Mantel haben, den er nie ablegte, nie auch nur auseinanderschlug? Jedenfalls ein ganz, ganz merkwürdiger Kauz!

»Also wenn Sie uns auf einem Wasserwege von der Küste aus nicht nach jenem Eldoradogebirge führen können, dann gehört dieses Schwert der Patronin?« fragte ich dann wieder.

»No, Sennor Capitano!« erklang es zurück.

»Nein?! Nicht?! Ja was denn sonst?!«

»Nur Ihnen biete ich diese Garantie. Nur Ihnen würde dieses Schwert dann gehören.«

»Nur mir?!«

»Si si, Sennor.«

Im Augenblick dachte ich nur daran, hoffte ich, daß der Spanier sein Versprechen nicht einlösen könne, damit diese Klinge mir zufiele, so verbrannt war ich darauf.

Die anderen aber dachten an etwas anderes.

»Sennor,« begann da die Patronin, »nun sagen Sie doch endlich einmal, weshalb Sie sich eigentlich ständig so um uns bemühen!«

»Mi sabe!« wurde ausgewichen.

»Sie sagten einst, Sie wollten uns Schätze zuweisen, weil Sie von uns wüßten, daß wir davon den besten Gebrauch machen würden.«

»Si si, Sennora.«

»Wenn Sie uns aber diesen geheimen Wasserweg zeigen, so handelt es sich dabei doch um eine ganz andere Gefälligkeit.«

»Si si, Sennora.«

»Haben Sie uns hier erwartet?«

»Si si, Sennora.«

»Woher wußten Sie, daß wir wieder hierher kommen würden?«

»Mi sabe.«

»Sennor,« nahm jetzt Kapitän Martin das Wort, »kennen Sie vielleicht eine Schwester Anna?«

Hoch horchten wir alle auf!

Wie kam Kapitän Martin plötzlich auf diese Idee?!

Ja und doch, wenn man sich alles recht überlegte . . .

Gespannt blickten wir alle in das ausgemergelte Gesicht des Spaniers, so weit etwas davon außer der schiefen Nase und den funkelnden Augen zu sehen war.

»Mi sabe!« erklang es wiederum.

»Sie kennen die Schwester Anna?! Sie stehen wohl gar in ihren Diensten, sind von ihr zu uns geschickt, um uns ab und zu behilflich zu sein?«

Der Spanier machte eine Bewegung wie eine Katze, die aus der warmen Stube in den Schnee tritt.

»Wollen Sie von mir geführt werden oder nicht.«

Er gabs also keine Auskunft darüber, und da war bei diesem Manne auch jede weitere Frage zwecklos.

Ja, wir wollten uns seiner Führung nochmals anvertrauen.


Wenn man eine sehr große, genaue Karte von Brasilien betrachtet, so sieht man nördlich von der Mündung des Amazonenstromes auf einer Küstenlänge von 60 geographischen Meilen, bis Kap Orange, also so weit Brasilien nach Norden reicht, einige Flüßchen eingetragen.

Ist es ein gewissenhafter Geograph gewesen, der die Karte entworfen hat, so sind diese Flüsse nur punktiert angegeben. Also man kennt ihren Lauf nicht, eigentlich vermutet man sie überhaupt nur.

Bloß der südlichste, also der erste von der Amazonasmündung an, ist richtig eingezeichnet, aber auch nur in der letzten Strecke, vorher verliert er sich ebenfalls in Punkten. Dieser Fluß führt auch einmal einen Namen: Araguar!

Dieser Fluß ist daher etwas näher bekannt, weil an seiner Mündung einmal eine Ansiedlung gelegen hat, Destacamto. Aber auch nur bis etwa zum Jahre 1870, dann wurde sie aus irgend einem Grunde verlassen. Wahrscheinlich einfach deshalb weil die Kolonisten nicht die weltverlassenen Einsiedler spielen wollten. Auf den heutigen Karten ist dieser Flecken gar nicht mehr angegeben.

Also auf mehr als 60 Meilen geographische Länge eine vollständig unbekannte Küste, und was dahinter liegt, bis nach Peru, also durch den ganzen Erdteil hindurch, das ist noch viel unbekannter!

Seit fünf Stunden dampften wir diese Küste entlang, nach Norden hinauf. Nichts als Mangrovewald.

Der Mangrovebaum wächst in den Tropen überall da, wo Süßwasser sich mit salzigem Salzwasser mischt. Ohne dieses Brakwasser kann er nicht gedeihen. Dann aber duldet er keine anderen Bäume, umklammert und erstickt sie mit seinen Luftwurzeln.

Dabei braucht er so massenhaft nicht nur an Flußmündungen vorzukommen. Hier machte sich noch immer die Strömung des Amazonas bemerkbar, sie wird von der steigenden Meeresflut bis nach dem Golf von Mexiko hinaufgedrückt. Daher auch an der Küste allüberall der Mangrovewald.

Auf der anderen Seite, nach dem freien Meere hin, sahen wir ab und zu ein Schiff höchstens als kleinen Punkt. Denn welches Schiff sollte es wagen, dieses noch unausgepeilte, also gänzlich unbekannte Küstengewässer aufzusuchen? Ebensowenig kommen Fischerfahrzeuge hierher. Die halten sich doch lieber in der Nähe volkreicher Städte auf, wenigstens in diesen heißen Breiten, wo sie für ihren so leicht verderblichen Fang schnellen Absatz haben. In den tropischen Gewässern ist man ja auch gar nicht auf Fischbänke angewiesen wie im Norden.

Auch wir hätten nicht so leicht gewagt, uns ohne Grund so weit der Küste zu nähern. Mindestens wären wir, hätten wir eine Forschungsexpedition beabsichtigt, nur Viertelkraft gefahren und hätten ständig die Lotleine ausgeworfen. Aber wir trauten unserem Piloten, der die »Argos« immer volle Kraft gehen ließ.

»Haben Sie diese Küste schon wiederholt befahren, daß Sie das Wasser so genau kennen?«

»Mi sabe.«

Es hatte keinen Zweck den rätselhaften Mann zu fragen. Er hüllte sich in geheimnisvolles Schweigen wie in seinen schmierigen Mantel, und wenn die glühende Tropensonne auch alles Fett ausschmorte.

So waren also fünf Stunden vergangen, seitdem wir Para wieder verlassen hatten, auch die Mündung des Araguary hatten wir schon hinter uns, was wir nach Breitenlotberechnungen, die wir ständig machten, ja bestimmen konnten.

Da streckte unser Prospektador, der die Kommando-Brücke nicht verließ, die Hand nach Westen aus.

»Dort!«

»Dort ist die Einfahrt?«

»Si si, Sennor Capitano. Noch volle Kraft, dann halbe, dann viertel, wie ich angeben werde — bitte.«

Es geschah, wir schwenkten direkt gegen die Küste ab, fuhren zuletzt mit viertel Kraft in eine kleine Bucht ein, die man noch in einem Kilometer Entfernung vom Ufer überhaupt gar nicht bemerkt hätte. So täuschte der eintönige Mangrovewald.

»Stopp!«

Die Schraube machte einige Schläge rückwärts, und die »Argos« lag regungslos in der Bucht, war aber dabei, immer von dem Spanier dirigiert, schon um einen waldigen Vorsprung herumgekommen, so daß sie vom Meer aus gar nicht mehr zu erblicken war.

»Machen Sie eine geographische Bestimmung.«

Wir taten es.

»Werden Sie diese Bucht wiederfinden können?«

»Sicher.«

»Die Einfahrt ist von allen Seiten her dieselbe, das Wasser ist ringsum frei von Klippen und Untiefen. Nun dort hinein. Mit voller Kraft.«

Er bezeichnete die Richtung, die wir nehmen sollten, aber Kapitän Martin zögerte, den Signalapparat zu drehen, um vollen Dampf geben zu lassen, und das mit Recht.

Die Bucht war ringsum mit Mangrovebäumen eingesäumt, die mit ihren Luftwurzeln wie auf Spinnenbeinen im Wasser standen. Nur dort, wohin der Spanier deutete, sah es anders aus, dort war ein schmaler Streifen Schilfregion, Schwertgras, drei Meter hoch, das eine sumpfige Flußmündung verriet.

»Dort hinein?«

»Si si, Sennor Capitano.«

»Mit voller Kraft?«

»Mit voller Kraft.«

»Dort ist Sumpf!«

»Eben deshalb muß volle Kraft gefahren werden, um durch die Sumpfbarriere zu kommen. Denn als eine Barriere kann die Strecke bezeichnet werden, sie ist kaum hundert Meter breit, dahinter ist wieder freies, tiefes Wasser.«

»Trotzdem — Mann, wissen Sie, was Sie von uns verlangen?!«

In der Tat, das war hier nichts anderes als so eine Einfahrt in das brandende Loch eines Felsens hinein, vielleicht noch viel schlimmer. Dort, wie zwischen den steinernen Schwestern oder am Seelandsfelsen, konnte man nur zerschellen, fand augenblicklich seinen Tod; hier aber rannte man rettungslos im Schlamm fest und konnte langsam verschmachten.

»Mi sabe!« lautete die Antwort auf des Kapitäns Ausruf wie immer.

»Sind Sie hier schon durchgefahren?«

»No, Sennor.«

»Was, nein?!«

»No, Sennor Capitano.«

»Wie können Sie uns denn da zu solch einem Wagnis veranlassen wollen, wie können Sie überhaupt wissen, daß der Sumpf nur . . .«

»Ich garantiere mit meinem Einsatze, mit dem Schwert des Cid, daß wir ohne jede Gefahr hindurchkommen.«

»Ach zum Teufel mit Ihrer Stockplembe! Wenn wir hier in den Schlamm rutschen . . .«

»Los Kapitän!« ließ sich da die Patronin vernehmen, deren Nüstern sich wieder einmal vor Aufregung blähten. »Ich für mein Teil traue diesem Herrn. Es sei denn, Sie halten es für nötig, erst alle Mann ums ihr Urteil zu fragen, ob sie das Wagnis unternehmen wollen oder nicht . . .«

»Volldampf voraus!«

Der Signalapparat hatte es geklingelt, und wir schossen los.

»Achtung vor dem Schwertgras, weg von der Bordwand!« rief der Spanier noch warnend, und wir befanden uns mitten drin in dem grüngelben Graswald.

Unser Schiff schnitt glatt hindurch. Das heißt, der scharfe Bug schob das Schilf einfach zur Seite. Infolgedessen, da das Heck sehr breit war, konnte auch die Schraube nichts niedermähen. Immerhin war es merkwürdig, wie sich die Schilfwand hinter uns sofort wieder lückenlos schloß.

Übrigens war da nicht viel zu beobachten, es ging viel zu schnell. Unser Schiff machte doch in der Stunde 12 Knoten, das sind drei geographische Meilen, da sauste in solcher Nähe das Schilf nur so an uns vorüber. Von der Gefährlichkeit dieses Schwertgrases habe ich ja schon gesprochen. Es trägt seinen Namen mit Recht. Man kann sich daran lebensgefährliche Wunden holen, sich die Pulsadern und die Kehle durchschneiden. Unser Tauwerk freilich konnte es nicht zerschneiden, so weit geht die Sache denn doch nicht.

Sonst war nur noch zu konstatieren, daß wir keinen Widerstand am Kiel bemerkten, obwohl wir sicher durch Schlamm rutschten, spritzte er doch auch am Bug hoch auf, und nur zwei Minuten, dann hatten wir die Schilfregion hinter uns, vor uns lag freies Flußwasser mit ganz anderem Baumbestand an den Ufern, kein Mangrovewald mehr.

»Stopp! Rückwärts! Stopp!«

Wir lagen still.

»Es ist nur, daß Sie sich die hintere Seite der Einfahrt einmal in Ruhe ansehen. Sonst können wir von hier aus ununterbrochen mit voller Kraft bis nachdem Eldoradogebirge fahren.«

Ja, wir blickten uns um — und blickten uns einander an.

Muß man gerade Seemann sein, um die kolossale Wichtigkeit des Geheimnisses begreifen zu können, in welches uns dieser rätselhafte Spanier hier eingeweiht hatte?

So gab es also noch einen anderen Wasserweg als den Amazonenstrom, um direkt vom Meere aus in das ungeheure Gebiet des nördlichen Brasiliens einzudringen! Denn einmal drin in dem Wasserlabyrinth, standen einem ja auch alle anderen Nebenflüsse und Bifurkationen offen, man konnte bis nach Bolivia, Peru, Ecuador und Columbien hinein, ohne den Amazonenstrom benutzen zu müssen, ihn höchstens, wenn man nach seiner südlichen Seite wollte, schnell einmal kreuzend, und die Regierung von Brasilien brauchte gar nicht zu wissen, daß sich ein fremdes Schiff in ihrem Reiche befand, man brauchte ja Para gar nicht zu passieren!

Versteht der geneigte Leser, worum es sich hierbei handelt? Von politischen und kriegerischen Vorgängen ganz abgesehen — wir wollen nur einmal an den einträglichen Schmuggelhandel denken. Wer dieses Geheimnis kannte, der drang einfach mit einem reichbeladenen Schiffe ein, ohne in Para den schweren Zoll bezahlt zu haben — und wie versteuert Brasilien den Import! — die Ware wird man sofort los, da finden sich Zwischenhändler massenhaft, denn ist die Ware einmal drin im Lande, dann ist nichts mehr zu machen, die wird gleich umgeladen, und der Schmuggler kann an einer einzigen solchen Fahrt Millionen verdient haben!

»Wer diese Einfahrt kennt, dem gehört der Amazonenstrom und seine Gebiete, der ist der Herr von ganz Brasilien und damit von ganz Südamerika!« setzte der Spanier noch hinzu, und es klang geradezu feierlich aus seinem schiefen Munde.

Der dachte also schon an kriegerische Unternehmungen! Daran aber dachten wir nicht, uns mit weltumstürzenden Kriegen zu befassen, wir wollten nur ruhig die planlosen Seegaukler bleiben, dabei fühlten wir uns am allerwohlsten.

Trotzdem — auch Kapitän Martin blickte sich ganz ehrfürchtig um, nahm sogar die Hand aus der Hosentasche und die Mütze vom Kopfe, wenn auch nur, um sich den Schweiß von der Stirn zu trocknen.

»Sonst kennt diese Einfahrt niemand?«

»Nein einziger Mensch. Nur die Besatzung dieses Schiffes.«

»Wie sind denn aber nun Sie zu diesem Geheimnis gekommen?«

»Mi sabe.«

Also sogar Kapitän Martin konnte solche Fragen stellen, mußte sich aber auch diese stereotype Antwort gefallen lassen.

Trotzdem war der Prospektador nicht gerade einsilbig, er sprach manchmal von selbst, gab Erklärungen, wie er jetzt wieder bewies.

»Und gesetzt auch den Fall,« fuhr er also unaufgefordert fort, »ein Schiff hätte beobachtet, wie wir in die Bucht steuerten, so würde doch kein anderes Schiff so leicht wagen, in das Schwertschilf hineinzufahren.«

Da hatte er allerdings recht, brauchte keine näheren Erklärungen zu geben. Ein uns nachfolgendes Schiff würde nur staunen, wo wir plötzlich geblieben waren. Eben wie durch Zauberei verschwunden. Denn daß wir mit unserem doch ansehnlichen Schiffe in die sumpfige Schilfregion gefahren wären, um das glauben zu können, dazu gehörte sehr, sehr viel Phantasie. Ein anderes Schiff hätte diesen Versuch höchstens mit halber Kraft gemacht und wäre, wie gesagt, rettungslos in dem Sumpfe stecken geblieben. Und noch weniger ließ sich dieser Sumpf mit kleineren Booten untersuchen, schon wegen des furchtbaren Schwertgrases nicht.

»Und wenn Ihr Geheimnis dort einmal bekannt werden sollte,« setzte der Spanier noch hinzu, »so können Sie es doch immer noch schützen, die Einfahrt eines anderen Schiffes hindern.«

»Auf welche Weise?«

»Einfach, indem Sie hier einige große Küstengeschütze aufstellen. Die Bastionen sind dazu schon vorhanden, die Natur selbst hat sie geliefert.«

In der Tat! Die Ufer waren hier ziemlich hoch, aber man brauchte nur ein Stück in die Wanten hinauf zu klettern, um zu erkennen, daß es nur Wälle waren, zusammenhängende Hügel, welche die Ufer begleiteten, da konnte man mit Leichtigkeit Bastionen und Batterien schaffen.

Auch Kapitän Martin war die Wante hinauf geklettert, um über die nächsten Bäume wegblicken zu können.

»So, hm, ja!« brummte er dann, wie er wieder an Deck war und die Beine schlenkerte. »Well, und einen zweiten solchen Wassereingang von der Küste aus gibt es nicht?«

»No, Sennor.«

»Nicht hier in der Nähe, meinen Sie.«

»An der ganzen brasilianischen Küste nicht, so weit nicht Flußmündungen in Betracht kommen, die aber alle bekannt sind.«

»Woher wissen Sie das so genau?«

»Mi sabe.«

»Sie sind noch niemals hier gewesen?«

»O doch, häufig.«

»Sie sagten doch vorhin, Sie wären noch niemals hier eingefahren!«

»Stimmt. Von dem Meere aus noch nicht in die Bucht hinein.«

»Ah so! Sie sind vom Binnenlande aus hierher gekommen?«

»Si si, Sennor Capitano. Häufig schon als Kind unter der Führung meines Vaters.«

»Aha!l Sie sind wohl hier geboren?«

»Nicht geboren, aber ganz wie zu Hause. Ich kenne das ganze Wassergebiet des Amazonenstromes wie die Innenseite meines Mantels.«

»Aha, so so, hm, well.«

Kapitän Martin begann sich für diese Sache ganz ausnahmsweise zu interessieren. Denn sonst interessierte sich der alte Seebär für gar nichts. So mächtig wie jetzt hatte er auch noch nie mit den Beinen geschlenkert.

»Well, die Innenseite Ihres Mantels hat wohl noch niemand gesehen, eh?«

Über das mumienhafte Gesicht, so weit etwas davon zu sehen war, huschte ein verständnisvolles Lächeln.

»No, Sennor, und ich weiß recht wohl, was Sennor Capitano damit meinen.«

»Nur Sie besitzen die Kenntnis aller dieser WasserstraBen.«

»Si si, Sennor.«

»Hatten Sie nicht auch Mitwisser?«

»Einst ja.«

»Nicht mehr?«

»No, Sennor.«

»Alle tot?«

»Mi sabe.«

Wieder blickte der Kapitän, der seine ganz besonderen Gedanken haben mußte, nach den erhöhten Ufern.

»Well — und diese Batterien wären auch nicht zu Lande zu stürmen?«

»Unmöglich.«

»Weshalb?«

»Ringsum meilenweit alles undurchdringlicher Sumpf.«

»Aha! Well, und wie lange braucht man von hier bis zum Eldoradogebirge?«

»Vierundzwanzig Stunden.«

Überrascht fuhr der Kapitän, der noch immer nach den Ufern geblickt hatte, gegen den Sprecher herum.

»Wie lange?!«

»Vierundzwanzig Stunden.«

»Mit was denn für einem Fahrzeuge?«

»Mit diesem Schiffe hier, das doch 12 Knoten in der Stunde macht.«

»Wie ist denn das möglich, daß wir denselben Weg, zu dem wir damals und auch beim zweiten Male ohne Ihre Führung eine ganze Woche gebraucht haben, jetzt in vierundzwanzig Stunden machen sollen?!«

»Einfach weil wir damals einen kolossalen Umweg gemacht haben, auch nur bei Tage gefahren sind und das nur mit halber und oft sogar nur mit viertel Kraft. Von hier aus sind wir aber doch nur 70 Meilen von Eldorado entfernt.«

Das stimmte. Wir hatten die Karte im Kopf und sie lag auch vor uns.

»Well, das ist Luftlinie. Von Para aus bis nach jener Gegend sind es auch nur 15 Meilen mehr, also 85 geographische Meilen.«

»Ja, aber jetzt fahren wir wirklich Luftlinie.«

»Was, Luftlinie?!«

»Dieser Fluß oder diese Bifurkation — wenn es nicht ein künstlicher Kanal ist — läuft schnurgerade bis an unser Ziel, und hier ist keine solche Vorsicht nötig, wie ich sie bei jenem Wege beobachten mußte, weil auch ich mich verirren konnte, wegen der unaufhörlicher Zickzacklinien und Bogen. Hier aber können wir auch bei Nacht dampfen, hätten nicht einmal einen Scheinwerfer nötig, und immer mit voller Kraft. Dreimal 24 ist 72. Es sind aber nur 70 Meilen. Wenn wir nicht innerhalb von 24 Stunden an unserer alten Stelle liegen, vorausgesetzt, daß wir sonst durch nichts aufgehalten werden, will ich mein Schwert verspielt haben!«

Starr blickte Kapitän Martin den Sprecher an.

»Wie lange waren wir schon fort, als Sie damals zurückkehrten?« fragte er dann plötzlich, doch scheinbar ganz außer dem Zusammenhang.

»Zwei Tage.«

»Waren Sie nochmals auf dem Plateau?«

»Ja.«

»Was machten die Indianer?«

»Ich weiß es nicht.«

»Sie müssen sie doch gesehen haben!«

»Nur einige, die um ein Feuer saßen und Fleisch brieten.«

»Wie lange waren Sie oben?«

»Vielleicht zehn Minuten.«

»Dann traten Sie gleich den Rückweg an?«

»Ja.«

»Haben Sie den Mister — Mister . . . na‚ wie hieß der Engländer gleich?«

»Harry Sandow.«

»Richtig. Haben Sie den gesprochen?«

»Ja.«

»Was haben Sie mit ihm gesprochen?«

»Ich fragte ihn, ob er wisse, wohin die »Argos« gefahren sei.«

»Und was sagte er?«

»Er wußte es nicht. Nicht einmal, ob Sie den Amazonenstrom hinab oder hinauffahren wollten. Dann ging ich sofort wieder.«

»Hat Ihnen dieser Harry Sandow über seine sonstigen Pläne etwas gesagt?«

»Nein. Kein Wort. Ich ging sofort wieder.«

»Kennen Sie den Weg, den Sandow von Norden her zu dem Plateau hinauf genommen hat?«

»Nein, der ist mir unbekannt.«

Dies alles hatten wir bereits den Spanier befragt, er hatte dieselbe Auskunft gegeben.

Also dies alles hätte auch Kapitän Martin wissen können — wenn er zugehört hatte.

Er hatte es nicht getan, nie Interesse für diese ganze Sache gezeigt.

Ganz merkwürdig war es, was er jetzt plötzlich für ein großes Interesse daran hatte! Der mußte sich überhaupt mit ganz besonderen Gedanken tragen.


»Dann vorwärts, Volldampf voraus!« rief er jetzt. »In 24 Stunden will ich an unserem alten Landungsplatze liegen, oder ich nehme Sie beim Wort, Sie haben Ihr Schwert verspielt!«

Ich habe über unsere Fahrt nichts weiter zu sagen.

Man mußte wirklich an einen künstlichen Kanal glauben, so schnurgerade lief der Wasserweg, den wir benutzten, von Osten nach Westen, überall breit genug, daß ein noch bedeutend größeres Schiff bequem wenden konnte.

Und warum sollte es denn nicht ein künstlicher, von Menschen geschaffener Kanal sein?

Auch in Brasilien hat einmal ebenso wie in Pera und Mexiko eine hohe Kultur geblüht. Das beweisen die vielen Ruinen mit kolossalen Gebäuden, die man auch in Brasilien überall findet — wenn man sie zu finden versteht! Denn bei dieser fabelhaften Vegetation überwuchert doch alles schnell. Solch ein Urwald, den man uralt nennt, braucht hier nur hundert Jahre zur vollkommenen Entwicklung.

Daß es sich hier um einen künstlichen Kanal handelte, auf diesen Gedanken konnte man auch durch die Wälle kommen, die ihn ständig auf beiden Seiten begleiteten. Das waren ganz sicher aufgeführte Dämme, um diese Wasserstraße vor Überschwemmungen zu sichern, wenn sie auch von zahllosen anderen Flüssen und Bifurkationen gekreuzt wurden.

Es mußte interessant sein, das Innere dieser Dämme, auf denen jetzt riesige Urwaldbäume standen, zu untersuchen, doch hielten wir uns jetzt nicht damit auf.

Früh um elf hatten wir Para verlassen, um 4 Uhr waren wir in die Bucht gefahren und durch den Sumpf gebrochen, und noch nicht einmal 23 Stunden später legten wir wieder an unserem alten Landungsplatze fest.

»Habe ich mein Versprechen gelöst?« fragte der Spanier sofort, als die Taue um Bäume geschlungen waren.

»Sie haben es.«

»Dann bitte ich mein Schwert zurück.«

Ich ging, um es zu holen. Fast wünschte ich, er hätte sein Versprechen nicht gelöst, um diese wunderbare Damaszenerklinge behalten zu können.

»Bitte hier. Sie bleiben doch bei uns?«

»Nein, ich verlasse Sie jetzt sofort wieder.«

Er nahm den schotenförmigen Degenstock, betrachtete ihn, wog ihn in der Krallenhand, und dann richtete er seine schiefe Nase wieder auf mich.

»Wissen Sie, wann der Cid Campeador gelebt hat?«

»Im elften Jahrhundert.«

»Ja. Halten Sie es für möglich, daß schon damals über dieses Schwert, dem man nach dem Tode seines ersten Besitzers den Namen Campeadore gab, die Sage ging, mit diesem Schwert würde Amerika erobert werden?«

»Damals hatte man ja noch gar keine Ahnung von Amerika!«

»Von Amerika allerdings nicht, wohl aber ahnte man, daß im fernen Westen noch ein anderer Erdteil läge.«

»Das mag sein!« gab ich zu. »Kolumbus hatte eigentlich nur eine Sage aufgegriffen, die, wie mir wohlbekannt, tief im spanischen Volke wurzelt. Die Spanier hatten sie von den Mauren, also von Arabern, diese von den Ägyptern, welche von einem Erdteil Atlantis fabelten, im fernen Westen liegend, zum Teile vom Meere verschlungen.«

»So ist es. Sie sind sehr gut unterrichtet. Und die Sage ist in Erfüllung gegangen. Mit diesem Schwert hat Pizarro Peru erobert.«

»Was Sie nicht sagen!«

»Und weiter geht die Sage, daß mit diesem Schwert einst ganz Amerika unter einem Szepter vereinigt wird daß der rechtmäßige Besitzer dieses Schwertes den Titel eines Kaisers von ganz Amerika führen wird.«

»So so,« lächelte ich, »wer hat denn das prophezeit?«

»Ein Seher, dessen Prophezeiungen noch immer in Erfüllung gegangen sind — Nostradamus.«

»Von diesem Astrologen, der im 16. Jahrhundert lebte und in den Ruinen von Salon hauste, habe ich schon genug gehört, er gab seine Prophezeiungen in gereimten Versen heraus, und daß er den Tod des französischen Königs Heinrichs II. vorhergesagt hat, auch die Art und Weise, nämlich im friedlichen Turnier durch einen Lanzensplitter, den er ins Auge bekam, das ist historisch nachgewiesen. Und wann soll denn nun dieses Ereignis mit dem Kaiserreich Amerika eintreten?«

»Jetzt ist die Zeit fällig geworden!« erklang es feierlich zwischen Mantelkragen und Hutkrempe.

»Nun,« stichelte ich noch heiterer, »da Sie der rechtmäBige Besitzer dieses Schwertes sind, so gratuliere ich Ihnen herzlichst als dem Kaiser des vereinigten Nord— und Südamerika.«

»Ja, ich bin sein rechtmäßiger Besitzer. Aber kann man nicht auf alles verzichten? Kann man nicht alles verschenken? Nehmen Siel«

Und er hielt mir die lange Schote hin. Fast mit Gier griff ich danach.

»Wie, Sie wollen mir diese Damaszenerklinge schenken?« rief ich, eben nur an diese wunderbare Klinge denkend, bereit, jede Summe, die ich irgendwie auftreiben konnte, dafür zu zahlen, mich mit jedem Gegengeschenk zu revanchieren.

Der Spanier ließ das andere Ende der Schote los, wohl zum ersten Male sah man seinen ganzen Arm, den er emporhob.

»Heil dem König von Brasilien! Heil dem Kaiser von Amerika!«

So rief er mit schallender Stimme und hatte sich im nächsten Augenblick über die Bordwand geschwungen, war in dem dichten Busch verschwunden.


74. KAPITEL. DER UNTERGANG DER ARGOS.

Ganz bestürzt stand ich da.

Zunächst nur ganz bestürzt über dieses Geschenk, dessen Kostbarkeit eben gerade ich zu würdigen wußte.

»Sennor Estrella,« rief ich dann, »kommen Sie noch mal her, wie komme ich denn dazu . . . ihm nach, Jungens, bringt ihn zurück!«

Fast die ganze Mannschaft hatte uns umstanden, unser Gespräch mit angehört, einige Matrosen sprangen denn auch an Land und setzten ihm nach, an der Spitze Juba Riata.

Schon nach wenigen Minuten kehrten sie resultatlos zurück.

»Seine Spur verlor sich im Wasser. Er muß dort ein Boot versteckt gehalten haben. Den erwischen wir nicht mehr, wenn er nicht will, der weiß in diesem Wasserlabyrinth zu gut Bescheid. Ja, was schwatzte der eigentlich da? Sie, Waffenmeister, sollen durch diese Schwertschote König von Brasilien und Kaiser von Amerika werden?«

Ich empfand es als ein wahres Glück, daß dieser Sache gar keine weitere Bedeutung beigemessen wurde. Denn ich genierte mich ganz mächtig. Und wer mich damit aufgezogen hätte, mit dem wäre ich ja auch nicht schlecht längs gefahren, da hätte auch der Kapitän und die Patronin etwas von mir zu hören bekommen. Verhonibeln lasse ich mich nicht. Aber niemand dachte daran. Der verrückte Kerl hatte eben etwas geschwatzt, was er nicht verantworten konnte.

»Vorwärts, die erste und dritte Wache macht sich klar zum Marsche nach dem Plateau. Es wird gleich alles mitgenommen, was wir oben zum Sport und Spiel und sonst gebrauchen!«

So rief ich, und es kam Leben ins Schiff‚ alles rannte, um sich mit den nötigen Utensilien zu beladen.

»Nicht wahr, die erste und dritte Wache würde heute frei sein?« wandte ich mich erst noch an Kapitän Martin, bereit, mein Kommando zu »belegen«, eine Änderung eintreten zu lassen.

»Ja, lassen wir heute die zweite Wache an Bord!« entgegnete der Kapitän. »Wenn sich nun die Indianer unterdessen dort oben eingerichtet haben und den Eingang besetzt halten, uns nicht auf das Plateau lassen wollen?«

Schon über diese Frage wunderte ich mich sehr. Denn Kapitän Martin hatte sich damals absolut nicht um dieses Plateau gekümmert und was wir darauf trieben. Für den existierte überhaupt nur sein Schiff, für dessen Sicherheit er verantwortlich war, nichts weiter.

»Na‚ dann jagen wir die Indianer einfach zum Teufel!« lachte ich dann.

»Well, ich werde mitkommen.«

»Was, Sie wollen mit hinauf aufs Plateau kommen?« staunte ich jetzt noch mehr.

»Ja, ich will mir die Geschichte doch einmal ansehen.«

Und Kapitän Martin ging, um sich für die Expedition etwas vorzubereiten. Ich mußte dieses Wunder wohl glaubten.

Der Zug ordnete sich zum Durchmarsch durch den Tunnel, alle schwerbepackt, auch die kleinen Blaugelben, die gleich sämtlich mitkamen, mit Turngerätschaften aller Art, auch mit vielen Hanteln, einer ganz besonderen Art, von mir selbst erfunden, worüber ich später noch sprechen werde, auch Sattel und Zaumzeug wurden schon mitgenommen, ebenso aber hatte auch jeder, ob nun zwei Meter lang oder nur einen kurz, sein Gewehr über dem Rücken hängen und vorn die gefüllte Patronentasche, und die Avantgarde, aus den ausgesuchtesten Leuten bestehend, trug außer ihren eigenen Waffen nur noch die Keulen, die aber ebenso im Nahkampf als mörderliche Waffen zu benutzen waren.

Nur Juba Riata und Mister Tabak waren schon vorausgegangen. Denen hatte ich ja gar nichts zu sagen, und es war auch ganz gut, wenn gerade diese beiden die ersten Kundschafter spielten. Vorher hatte mir Peitschenmüller, der auch gleich die Landungsstelle untersucht, noch mitgeteilt, daß keine Spuren vorhanden seien, dieser Tunnelausgang wäre während unserer Abwesenheit, die ziemlich ein Jahr gedauert, von anderen Menschen benützt worden.

Der lange Zug setzte sich in Bewegung, ich an der Spitze, vorn auf der Brust wie noch manch anderer eine Lampe mit gutem Scheinwerfer, auf dem Rücken ein englisches Infanteriegewehr und in der Hand den Spazierstock, über den ich mich wie ein Kind freute und den ich an Land wohl auch niemals aus der Hand lassen würde, wobei ich unter Seeleuten auch gar keine Ausnahme machte.

Denn jeder Handelsmatrose, den man sich freilich niemals in Uniform vorstellen darf, sondern so gekleidet, wie sich jeder Mensch auf der Straße trägt, nur immer blau mit Trichterhosen, statt des Kragens meist ein weiBes Halstuch, weicher oder noch lieber steifer Filzhut jede andere Kostümierung existiert nur in der Phantasie derjenigen, die noch nie in einer Hafenstadt gewesen sind, oder die da glauben, die Uniformierung der Hamburger Paketfahrtgesellschaft und des Bremer Lloyd, der Kriegsmarine nachgeäfft, bezöge sich nun auch auf alle die hunderttausend Seeleute, welche die Handelsflotte bemannen, während die an Land doch gerade den Stadtmenschen markieren wollen und an Bord mehr Zigeunern als Arbeitern gleichen — also jeder echte Handelsmatrose, jeder echte »Jan Mant«, kauft sich, sobald er das Land betritt und Geld dazu hat, einen Regenschirm. Den er in der ersten Kneipe stehen läßt, worauf er sich einen andern kauft. Den er in der zweiten Kneipe stehen läßt. Worauf er sich einen dritten Regenschirm kauft. Und so immer weiter, so lange sein Geld reicht. Denn nach alter Seemannstradition gehört nun einmal zum Stadtmenschen der Regenschirm, und jetzt will er sein wie die »anderen Menschen«. Nur mit dem Kragen kann er sich durchaus nicht befreunden.

Den Regenschirm schafft er sich nur dann nicht an, wenn er schon mit einem Spazierstock kokettiert, in fernen Ländern erstanden. Besonders in Indien werden von den Eingeborenen Spazierstöcke hergestellt, von deren Kostbarkeit und Wunderlichkeit die europäischen Binnenländer gar keine Ahnung haben. Die Spazierstocksammlung welche König Edward VII. als Prinz von Wales in einer bei ihm chronischen Geldverlegenheit für dreimalhunderttausend Dollars an einen amerikanischen Rechtsanwalt verkaufte, an James Brown, derselbe, der alle alten Burgen und Schlösser an der Riviera aufkauft, also auch gewissermaßen Ruinen sammelt — diese Spazierstöcke sind auch zum größten Teil Matrosen abgeluchst worden. Denn diese seltenen Stöcke teilen natürlich das Los alles dessen, was der Matrose besitzt, sie werden so vertrödelt, den bettelnden Mädels geschenkt oder . . . versoffen.

Neben mir her kraxelte Kapitän Martin. Nicht aber als Kriegsmarineoffizier oder als solch ein Kapitän von der unter Regierungsaufsicht stehenden Aktienpaketfahrtgesellschaft, sondern als ein Kapitän der freien deutschen Handelsflotte, ohne Goldstreifen an den Ärmeln und goldumränderter Mütze, gekleidet wie ein Bankdirektor im Salon, nur daß die Hosen aus feinstem blauen Tuche unten fast noch die Fußspitzen verdeckten, den steifen Hut etwas ins Genick geschoben, den blauen Schößenrock natürlich ohne goldene Knöpfe, vorn auf der weißen Weste die für jeden Kapitän unvermeidliche goldene Uhrkette, an der man einen Ochsen spazieren führen kann, dann natürlich die Hände bis an die Ellbogen in den Hosentaschen vergraben, und wenn er unter den Arm keinen Regenschirm geklemmt hatte, so nur deshalb nicht, weil er seinen letzten in Para hatte stehen lassen.

Was die anderen anbetrifft, die ganze Mannschaft, so waren wir alle, ich nicht ausgenommen, nur mit Hemd und Hose bekleidet, und dennoch alle verschieden, er trug eine weiße Hose und rotes Hemd, jener eine blaue Leinwandhose und ein buntkarriertes Hemd, wie das Zeug eben in der Kleiderkiste gerade aufgeschichtet lag, dazu meist die so beliebte und praktische Schärpe — praktisch, weil sie als Gürtel und zugleich als Leibbinde dient, vor Baucherkältung und daher in den Tropen vor Dysenterie schützt — an den Füßen selbstgefertigte Segeltuchschuhe mit starken Ledersohlen, und als Kopfbedeckung nun gar die verschiedensten Formen, von der Igelmütze an bis zum Panama mit ungeheurer Krempe, und unseren Napoleon, den ersten Bootsmann, konnte ich mir überhaupt ohne seine fuchsrote Pelzkappe gar nicht vorstellen.

So gingen wir an Bord, so gingen wir an Land ins feinste Hotel. In den Tropen! Die Kleidung paßte sich eben immer den Breitengraden, dem Klima an. Aber immer jeder ganz nach seinem eigenen Geschmack. Nur wenn die See zu sehr überdammte oder es vom Himmel goß, wurden wir an Deck alle einander gleich — Ölzeug und Südwester — dann glich auch die Patronin uns ganz, während sie sonst an zigeunerhafter Tracht uns zu überbieten suchte, wenn man da auch nicht etwa an Maskenkostüme denken darf.

Seezigeuner! Anders läßt sich der Name »Jan Maat«, auf den der freie Handelsmatrose so stolz ist, gar nicht übersetzen.

Schließlich wolle der geneigte Leser, wenn er im Geiste den Zug an sich vorbei marschieren läßt, noch daran denken, daß wir alle, wie auch das Hemd auf der Brust weit offen war, einfach zurückgeschlagen, gewohnheitsmäßig auch die Hemdsärmel hoch hinauf gekrempelt hatten, ich als deutscher Kauffahrteioffizier nicht etwa ausgeschlossen und da waren samt und sonders Arme zu sehen, deren sich auch der farnesische Herkules nicht geschämt hätte, und schon die Muskulatur der kleinsten unserer Blaugelben, der Kinder, jetzt sechsjährig, hätten wir als eine Sehenswürdigkeit für Geld zeigen können.

Also eine halbe Stunde nahm der Aufstieg in dem Tunnel bei mittlerer Marschgeschwindigkeit in Anspruch.

»Well,« begann Kapitän Martin einmal unterwegs, »könnte man oben nicht einen Ausgang anbringen, der gerade nach dem Schiffe geht?«

»O ja, das wird wohl gehen, der Felsen scheint ja überall ganz steil abzufallen.«

»Noch nicht daran gedacht?«

»Wir halben solch einen Aufzug noch nicht nötig gehabt. Was wir oben brauchten, konnte auf dem Rücken hinaufgeschafft werden, es war nur ein einmaliger tüchtiger Transport nötig, dann nicht wieder. So war es das vorige Mal, so wird es wohl auch dieses Mal wieder werden.«

Kapitän Martin wollte wohl noch etwas sagen, tat es aber nicht, öffnete nur noch einmal den Mund, um sich ein neues Stück Kautabak hineinzustecken.

Die halbe Stunde war fast vergangen, schon sahen wir vor uns einen helleren Schein schimmern, und noch hatten die unweit voraus schwärmenden Hunde nichts gemeldet.

Dafür ließ sich jetzt Juba Riatas Stentorstimme vernehmen.

»Alles klar!«

Wiederum mußten wir uns durch das dichte Gebüsch des ehemaligen Flußbetts arbeiten, um ins Freie zu gelungen, was schon zu denken gab.

Juba Riata berichtete uns. Von der Anwesenheit der Indianer war hier in der Nähe keine Spur mehr zu bemerken. Freilich konnten sie sich ja anderswo aufhalten, der Eskimo hatte mit einigen Hunden schon eine weitere Exkursion angetreten, auch Peitschenmüller wollte ihm gleich folgen, uns nur erst einmal empfangen — immerhin, es war doch schon sehr merkwürdig, gerade hier von den Indianern gar keine Spur zu finden.

Denn selbst wenn wir Harry Sandow nicht den geheimen Aus— und Eingang gezeigt hätten, so müßten die fährtenkundigen Indianer doch gleich unsere Spuren gefunden haben, und war es ihnen darum zu tun, hier ein weltverlassenes Dasein zu führen, so hätten sie diesen Schleichweg doch mindestens bewachen müssen.

»Well, die Hauptsache ist, daß wir wieder hier oben sind!« sagte Kapitän Martin und sprach damit die Meinung aller aus.

Wenn ich nur gewußt hätte, was eigentlich Kapitän Martin vorhatte, daß er einmal sein Schiff verließ und uns hier herauf begleitete.

Wir ordneten uns zu einem neuen Zuge, um nach dem See zu marschieren, wo wir gleich wieder unsere Geräte aufbauen wollten. Zwar brach in zwei Stunden die Nacht an, dann aber ging bald der Vollmond auf, der sollte ausgenützt werden, morgen früh schon, wenn die erste Wache von der zweiten abgelöst wurde, mußte schon alles in Ordnung sein.

Aber es sollte alles ganz, ganz anders kommen. Mit dem zweiten Betreten dieses Plateaus sollte für uns wieder eine neue Ära beginnen.

Noch hatten wir uns nicht in Bewegung gesetzt, als eine furchtbare Detonation die Luft erschütterte.

Entsetzt blickten wir uns an.

»Das war eine Explosion, die nur auf unserem Schiffe stattgefunden haben kann!« erklang es dann.

Alles Gepäck fortgeworfen und wieder in den schrägen Schacht hinabgestürzt, ich voran, immer mehr geschusselt als gerannt, und so brauchte ich nur zehn Minuten, dann war ich als erster unten.

Mit einem einzigen Blicke überschaute ich alles.

Unser Schiff lag plötzlich ganz tief, und immer tiefer sank es, gleich mußte das Wasser in die offenstehenden Bollaugen strömen, und dann konnten den angefüllten Stahlkoloß auch die um die Bäume geschlungenen Taue nicht mehr hatten.

»Die Explosion muß in der Munitionskammer geschehen sein, eine Selbstentzündung!« riefen die Leute der zurückgebliebenen Wache, als sie mich erblickten, und dann waren sie weiter fieberhaft beschäftigt, die Tiere von Bord zu bringen, welchen Anstrengungen sich besonders Lulu, mit seinen nunmehr vier Jahren immer noch ein Elefantenbaby, krampfhaft widersetzte, während Leo und die Marchesse, der Löwe und die Königstigerin, zwar schon an Land waren, dort aber ein ganz schauerliches Duett anstimmten.

Und da, als auch der Elefant glücklich an Land gebracht worden war, sackte das mächtige Schiff auch schon wie ein Stein weg, ließ nur die Masten bis zu den Marsrahen über Wasser ragen.

»Meine Orgel, meine Orgel!« jammerte Meister Hämmerlein, neben mir mit gerungenen Händen auf den Knien liegend.

»Mein Schiff, mein Schiff, meine Argos!« erklang es hinter mir aus der Patronin Munde noch jammernder. »Meine Argos ist weg!«

Da raffte ich mich auf aus der Erstarrung, die mich befallen, in der ich aber die zurückgebliebenen Männer und Weiber zählend überflogen hatte.

»Aber die Argonauten sind noch vorhanden,« sagte ich ganz ruhig, »wir werden uns eine neue Argos anschlaffen.«


75. KAPITEL. DER FÜRST DES FEUERS.

Wir verlassen nun Georg Stevenbrocks persönliche Erzählung, überspringen dreiviertel Jahr und versetzen uns an die französische Nordküste des Mittelländischen Meeres, an die Riviera.

Zwischen Nizza und Monaco — um zwei bekannte Namen zu nennen — liegt Beaulieu.

Es ist im Grunde genommen ein ganz unbedeutendes Dorf, dessen wenige Bewohner sich nur vom Sardinenfang und dem Ertrag ihrer Oliven-, Orangen- und Zitronenhaine ernähren. Diese sind aber auch die herrlichsten von der ganzen Riviera, denn Beaulieu hat durch seine kulissenartig vorgeschobenen Berge in dieser Gegend die geschützteste Lage, besonders vor dem gefürchteten Mistral, einem eisigkalten Nordwestwind, der, von den Cevennen kommend, in bösen Jahren manchmal schon die ganze Vegetation an der sonnigen Riviera vernichtet hat.

Infolgedessen ist Beaulieu der schönste und gesundeste Winteraufenthalt für sonnenbedürftige Menschen. Infolgedessen gibt es dort außer einigen Dutzend Hütten ein ganzes Dutzend prächtiger Hotels und Pensionen, etwa 4200 eigentliche Einwohner und in der Wintersaison immer mehr als tausend ständige Badegäste.

Der weiteren Entwicklung des Ortes sind Schranken gesetzt, einmal eben durch die Grenzen des Windschutzes, und dann dominiert hier England und Amerika, wohl der größte Reichtum, aber auch die größte Bigotterie. Beaulieu ist berühmt und berüchtigt wegen seiner Frömmigkeit und Sündenlosigkeit. Die hier herrschende Partei duldet in dem Orte kein Vergnügen irgendwelcher Art. Durchreisende werden gar nicht aufgenommen. Bis vor wenigen Jahren ging es so weit, daß der Hotelgast, ehe er für einen fabelhaften Preis ein Zimmer bekam, sein Ehrenwort ablegen mußte, eventuell auch eine große Bürgschaft hinterlegen mußte, daß er nie nach dem nahen Monte Carlo fahren wolle, um dort zu spielen.

Das ist zwar aufgehoben worden, aber Beaulieu ist noch immer das gelobte Land der frommen Geldaristokratie. Zwar langweilen sich dort die guten Leute fast zu Tode, haben aber dafür die Ehre, innerhalb dieser paradiesischen Hölle in einem engelreinen Himmel zu wohnen.

Es war eine Februarnacht oder eigentlich erst Abend. Erst um neun Uhr. Da fängt das Leben in den anderen Badeorten doch erst richtig an, von Nizza und Monte Carlo gar nicht zu sprechen. — Hier war alles schon wie ausgestorben alle Fenster waren finster. Bis um acht hatten die mehr als tausend Gäste, wenn nicht schon lauter Millionäre und Multimillionäre, so doch angehende, mit ihren Familien im Kasino oder im Restaurant ihres Hotels gesessen, aber nur bei Tee und Limonade, sie hatten sich gegenseitig die Bibel ausgelegt, hatten das Familienleben aller abwesenden Bekannten durchgehechelt, hatten beraten, wie man am besten Dollars und Pfunds und Franken machen könne, ohne mit der Staatsanwaltschaft in Konflikt zu kommen, und dann waren sie zu Bett gegangen.

Das selbe galt von den eigentlichen Einwohnern des Dorfes, von den Hüttenbewohnern. Sie hatten es gut jetzt, diese ehemaligen Fischer. Brauchten nicht mehr dem nächtlichen Sardinenfange obzuliegen konnten sich auf weichem Pfühl in den Decken vergraben. Aber ob sie glücklich waren? Die Schläfer träumten sich in die schönen Zeiten zurück, da sie in solch herrlichen Nächten vor ihren Hütten gesessen und auf der Mandoline geklimpert hatten. Das war nun vorbei. Sie hatten sich von der reichen Frömmigkeit knechten lassen. Na‚ dafür nahmen sie diese Badegäste ja auch tüchtig aus, hauten sie übers Ohr, wo und wie sie nur konnten, und wenn sie dann genug hatten, dann zogen sie in einen anderen Ort, wo es lustiger zuging.

Also es war um neun Uhr. Ganz genau punkt neun. Gerade hielt mit ausnahmsweiser Pünktlichkeit nach dem Fahrplan der von Nizza kommende Lokalzug auf dem kleinen Bahnhofe. Niemand stieg ein. Wer hatte denn auch in der Nacht zu fahren? Von acht an hat man zu schlafen. Nur ein Passagier stieg aus, ein Köfferchen in der Hand. War es ein Fremder, der hier übernachten wollte? Es würde sich ihm schwerlich noch ein Hotel öffnen. Er mußte bis Tagesanbruch im Wartesaal bleiben. Der Zug fuhr wieder davon.

»Feuer! Feuer!« erklang da der Ruf.

Auch einen Nachtwächter gibt es in Beaulieu, und der hatte es zuerst gesehen. Wer hätte es auch sonst sehen sollen. Da freilich schlugen die Flammen schon lichterloh heraus, aus dem Dache des palastähnlichen Hotel Anglais. Die Glut mußte schon den ganzen Nachmittag im Bodenraum geschwält haben, anders war diese Urplötzlichkeit gar nicht zu erklären.

»Feuer! Feuer!« schrien und gellten immer mehr Stimmen.

Hei, da waren sie gar schnell aus ihren Betten! Erst an die Fenster, dann etwas übergeworfen und hinausgeeilt nach dem Brandherde.

Na‚ endlich einmal eine Abwechslung in diesem langweiligen Leben, endlich einmal ein Vergnügen! Oder ist es etwa kein Vergnügen, zuzusehen, wie so ein vierstöckiger Palast brennt, sich die Angst der Eingeschlossenen auszumalen und zu kalkulieren, ob sie gerettet werden oder nicht?

Sie schienen alle gerettet zu werden. Es brannte ja nur der Dachstuhl. Sie drangen in Scharen aus dem Portal heraus, die meisten nur ganz notdürftig bekleidet, obgleich sie Zeit genug gehabt hatten, sich vollkommen anzuziehen. Dafür schleppten sie, was sie schleppen konnten.

»Die Feuerwehr, wo bleibst denn die Feuerwehr?!«

Die Dörfler bildeten eine wohlorganisierte Feuerwehr, hatten sie bilden müssen, auch eine ganz moderne Dampfspritze mit Motorbetrieb war vorhanden, aber sie funktionierte nicht.

»Dringt ein, schafft heraus, was noch herauszuschaffen ist!«

Feigheit durfte man diesen Fischern ja nicht vorwerfen. Sie wollten eindringen — prallten aber entsetzt zurück, prallten auseinander.

Da sah man, daß es doch nicht nur so ein einfacher Dachstuhlbrand war. Schon drangen aus dem Portal und aus allen anderen unteren Eingängen mächtige Rauchwolken hervor, mit Funken vermischt, jetzt auch aus allen offenstehenden Fenstern der vier Etagen!

Die Sache war nämlich die, daß der Hotelpalast der Hauptsache nach mit Fahrstühlen ausgestattet war, die versteckten Treppen, als Nebensache nur für das Hotelpersonal und Dienerschaft bestimmt, der Billigkeit halber statt aus Stein aus Holz bestanden, aber sie waren mit Teppichläufern belegt, die erst kürzlich alle chemisch gereinigt worden waren, mit einer Substanz, die nicht so stinkt wie Benzin, aber ebenso gut brennt und dabei nicht so schnell verdunstet.

Diese Teppichläufer brannten jetzt wie Zunder, hatten bereits alle die hölzernen Treppen in Flammen gesetzt, und an eine Benutzung der Fahrstuhle war natürlich nicht zu denken.

Na‚ da ließ man das Haus eben brennen. Es war ja alles versichert.

»Ein Mensch — dort oben ist noch ein Mensch!« erklang es da entsetzt.

An einem Fenster der vierten Etage, in der das Hotelpersonal wohnte, zeigte sich etwa Weißes, bewegte sich hin und her.

»Mein Kind, mein Kind!« gellte ein Weib.

Es war eine Aufwaschfrau des Hotels, die dort oben mit ihrem zehnjährigen Jungen, etwas verwachsen und bucklig, wohnte. Sie hatte schon immer nach ihrem Kinde gefragt, hatte der Versicherung von anderen Angestellten geglaubt, man habe ihren Jean schon hier unten herauslaufen sehen.

Jetzt war der Junge noch dort oben, die scharfen Mutteraugen erkannten ihn sofort.

»Mein Kind, mein Kind!«

Sie wurde mit Gewalt zurückgehalten, es wäre Wahnsinn gewesen, in das rauch— und funkenerfüllte Portal zu laufen.

»Die Spritze, die Dampfspritze!«

Die funktionierte noch immer nicht, und was hätte die auch zur Rettung des Kindes beitragen sollen!

»Die Leitern, die Leitern!«

Die wurden schon auseinandergeschoben, gingen aber nur bis zur zweiten Etage hinauf, da versagte der Mechanismus und bis zur vierten reichten sie überhaupt nicht.

Die kleine weiße Gestalt hatte das Fenster aufgewirbelt, stand halb darin.

»Das Sprungtuch, das Sprungtuch!«

Das war noch nicht zur Stelle.

»Mein Kind, mein Kind!«

»Tausend Franken, wer das Kind rettet!« rief zuerst ein Pariser Schokoladenfabrikant.

»Tausend Dollars!« überbot ein Amerikaner.

»Tausend Pfund Sterling!« ergänzte ein steinreicher Engländer.

Und das war erst der Anfang, es wurde weiter geboten.

»Es ist unmöglich!«

»Nichts ist unmöglich — wer wagt es!«

»Vorsicht, der Dachstuhl bricht zusammen!«

Entsetzt prallte alles zurück, furchtbar war das Gedränge, auch die Mutter wurde mitgerissen, sie fiel in eine glückliche Ohnmacht.

Nur ein einzelner Mann drängte nach der entgegengesetzten Richtung, drängte sich durch, die vor ihm Stehenden rücksichtslos zur Seite schleudernd, war mit drei Sätzen in dem Qualm und Funkenwirbel verschwunden, der das Portal erfüllte.

Neues Starren der Menge.

»Wer war das?«

Niemand konnte Antwort geben. Wie ein Phantom war die Männergestalt in den Feuerregen hineingesprungen.

»Gott sei ihm gnädig!«

»Da kann kein Gott mehr helfen, er ist verloren wie das Kind!«

Minuten vergingen.

Dort oben am Fenster zappelte noch die weiße Gestalt.

Wieder drängte die Menge furchtbar zurück — prasselnd war der Dachstuhl zusammengestürzt.

Das Kind war vom Fenster verschwunden, die stürzenden Balken mußten die Decke der vierten Etage durchschlagen haben, es war unter brennenden Trüummern begraben worden.

Keine Ausrufe mehr, kein Gebet. Der Druck auf dem Herzen war zu furchtbar!

»Gott, nimm das Kind und den, der es retten wollte, in Dein Paradies!« murmelte dann nur dumpf ein schwarzgekleideter Mann.

»Da — da sind sie! Er hat das Kind gerettet!«

An einem Fenster der dritten Etage zeigten sie sich wieder, der Mann, das Kind auf dem Arm. Aber gerettet waren sie deshalb noch lange nicht.

Er wirbelte das Fenster auf, stieg hinauf, stellte sich in den Rahmen.

Jetzt sah man ihn deutlich im blutigen Scheine des Feuers, eine hohe Männergestalt, der Vollbart bis zur Brust herabwallend. Auf dem linken Arme hatte er das Kind im Hemd.

»Weg dort unten, weg das Sprungtuch!« hörte man seine mächtige Stimme rufen.

Das Sprungtuch war jetzt zur Stelle, konnte aber nicht ausgewickelt werden, und der Retter mochte mit solchen Sprungtüchern, wenn sie sich nicht in ganz geübten Händen befinden, schon böse Erfahrungen gemacht haben, wenn auch nur durch Zuschauen, nur durch Hören.

»Er will doch nicht springen?! Gerechter Gott, er kann doch nicht aus der dritten . . .«

Da sauste er schon herab!

Furchtbar schmetterte der Mann auf den Boden nieder, der nur mit einer schwachen Sandschicht bedeckt war.

Alles starrte auf den dunklen Haufen menschlicher Gliedmaßen, der sich dort von dem gelben Sande abhob, niemand war eines Lautes und noch weniger einer Bewegung fähig, der Todesschreck hatte sie alle gelähmt.

Nur die Mutter, die wieder zu sich gekommen und den Sprung der Verzweiflung aus der dritten Etage mit angesehen, eilte darauf zu.

»Mein Kind, mein armes Kind . . .«

Da richtete sich der Mann auf, legte ihr das unverletzte Kind in die Arme und . . . war verschwunden. Wenigstens wußte niemand in dem Ansturm, der nun von allen Seiten erfolgte, wo er plötzlich geblieben war.

»Ein Wunder, es war ein Wunder! Ja wer war dieser Fremde denn nur? Wer kennt ihn? Wo ist er geblieben?!«

Hier erfuhr man es nicht. Sie kannten sich ja alle gegenseitig, aber einen Mann mit solch einem langen, bis auf die Brust wallenden Vollbart kannte niemand.

Mit dem Schlafen war es natürlich vorbei. Das Kasino und die Hotelsäle füllten sich wieder, und jetzt wurde nicht nur bloß Limonade und Selters und Tee begehrt.

»Diese Gnade Gottes muß würdig gefeiert werden!« sagte zuerst ein Amerikaner, der ausgesprochenste Temperenzler, als er eine Pfirsichbowle bestellte, und sie alle feierten die Gnade Gottes mit ihm auf diese Weise.

Ja, aber wer war nur dieser heldenhafte Engel?

Es dauerte gar nicht lange, so wurde es bekannt.

Mit dem Neunuhrzuge war er von Nizza gekommen, gerade als die Flammen zum Dache herausgeschlagen, er mußte direkt hierhergeeilt sein, um in das brennende Haus hinein und aus der dritten Etage mit dem Kinde herabzuspringen. Vielleicht schon fünf Minuten später war er mit einem Köfferchen im Hotel Bristol erschienen, hatte ein Zimmer begehrt, hatte sich gleich ins Fremdenbuch eingetragen: Price O'Fire, Ohio, U. S. A., Privatus.

»War er denn unverletzt?«

»So unverletzt wie das Kind.«

»Kein Bein gebrochen?«

»Er konnte ja allein die Treppe hinaufgehen.«

»Hinkte nicht einmal?«

»Er nahm immer gleich drei Stufen auf einmal.«

»Nicht verbrannt?«

»Gar nicht. Nur etwas sengrig roch er.«

Nach dem Hotel Bristol fand eine wahre Völkerwanderung statt, wenigstens für Beaulieu. Man wollte den Helden sehen, ihm Ovationen bringen.

Aber der Oberkellner erklärte ganz energisch, der Herr habe ausdrücklich gesagt, er wolle nicht gestört sein, und noch war man vernünftig genug, dies einzusehen und wieder abzumarschieren. Nach solch einem Sprunge ins Feuer hinein und zum Fenster der dritten Etage wieder heraus muß der Mensch doch seine wohlverdiente Ruhe haben!

Also es ging wieder zurück ins Kasino und in die Restaurationssäle, und erst jetzt kam man richtig zur Besinnung, erst jetzt wurde der ganze Fall richtig besprochen.

Eigentlich lag hier doch ein dreifaches Wunder vor.

Erstens war überhaupt die ganze Rettung ein Wunder, wie der in das brennende, verqualmte Haus hinein und lebendig wieder heraus gekommen war.

Zweitens — wer springt denn aus der dritten Etage herab, mindestens 16 Meter tief, auf ziemlich harten Boden, ohne sich alle Gliedmaßen zu zerschmettern. Und der war herabgesprungen, nicht viel anders, wie ein anderer vom Stuhle aufsteht, nur einige Augenblicke hatte er etwas betäubt dagehockt, dann war er aufgestanden und war davongelaufen, hatte sich nicht einmal einen Knöchel verstaucht, und dabei hatte er einen zehnjährigen Jungen im Arme gehabt, doch ziemlich einen halben Zentner, den er doch auch noch im Sprunge und Aufschlagen geschützt haben mußte, sonst wäre das bucklige Kind doch nicht ebenfalls so ohne jeden Schaden davongekommen.

Und das dritte Wunder — sein Name!

Also ein Amerikaner. Kennen tat diesen Namen niemand, der Staat Ohio ist sehr groß und außerdem ein ganz gewöhnlicher Name. Price O'Fire, so gewöhnlich und häufig wie bei uns Gottlieb Schulze.

Nur gerade in diesem Falle nicht. Ein wundersames Zusammentreffen!

Price heißt Preis, auch so ausgesprochen. In England und noch mehr in Irland so häufig wie unser Karl, was man auch so ausspricht, ohne zu bedenken oder gar zu wissen, was es eigentlich bedeutet. Karl ist Kerl, und ein Kerl ist ein Held! Das irländische O' vor dem Namen bedeutet »of«, hat aber nichts mit Adel zu tun, es ist ein arabisches »ben«, heißt Sohn des . . . , was man aber jetzt gar nicht mehr in Erwägung zieht.

Fire heißt Feuer. Price O'Fire — also Preis des Feuers. Vielleicht waren seine Vorahnen Schmiedemeister gewesen, der erste oder der tüchtigste Sohn am Feuer hatte immer den Vornamen Price bekommen.

Das heißt, mit solchen Erwägungen gibt man sich sonst nicht etwa ab, wenn man den Namen Price O'Fire hört. So wenig, wie man bei uns erörtert, ob Gottlieb Schulzens Ahnen wohl Dorfschulzen gewesen sind und ob er Gott wirklich so liebt.

Aber hier — hier war es etwas anderes!

Ins Feuer gesprungen, unverletzt wieder heraus, nur etwas sengrig riechend — Preis des Feuers!

»Nein,« sagte da ein Franzose, geistreicher als seine Vettern überm Kanal und überm großen Heringsteich, »dem fehlt noch ein n, Prince O'Fire müßte er heißen, Prince du Feu, der Fürst des Feuers!«

Dieses Wort wirkte wie eine platzende Bombe, wo man die animierte Stimmung der Temperenzler bedenken muß.

»Richtig so, der Fürst des Feuers — er soll leben — heil dem Fürsten des Feuers!«

So und ähnlich erklang es auf Englisch, Französisch, Deutsch, Italienisch und Russisch — um die Nationalitäten der tausend Badegäste nach ihrer Anzahl zu bezeichnen — nicht etwa nur hier, sondern dieser Name pflanzte sich sofort durch ganz Beaulieu weiter, und die Bowlengläser wurden geschwungen und dann Sekt bestellt, um den Fürsten des Feuers noch höher leben zu lassen, und dann wurde beraten, was man ihm morgen für Ovationen bringen wolle. Des geretteten Kindes wurde weniger gedacht.

Unterdessen saß der »Fürst des Feuers« in seinem Hotelzimmer. Er hatte ein Bad genommen, jede Mahlzeit abgelehnt, sein Reisekostüm mit einem schwarzen Anzug vertauscht, den er seinem Koffer entnommen, außerdem hatte er sich während des Bades in seinem Zimmer ein tüchtiges Feuer anmachen lassen, ohne welches man auch in dieser Gegend im Winter doch nicht auskommt.

Nun also saß er im Lehnstuhl neben dem offenen Kamin, in dem die üblichen Holzscheite loderten und sprühten.

Es war ein Mann von vielleicht vierzig Jahren, eine hohe, athletisch gebaute Gestalt mit einem edlen, klassischschönen Gesicht, das aber von einer ganz auffallenden Weiße war, jedoch ohne daß man etwa an eine krankhafte Blässe dachte, wie aus schneeweißem Marmor gemeißelt, ebenso wie die feine und dennoch große, äuBerst muskulöse Hand, die den rötlich—blonden, bis fast auf den Leib herabwallenden Vollbart strich.

So saß er da, meist die Augen geschlossen, nur manchmal sie öffnend und ins Feuer blickend, mit großen, blauen Augen, wie sie bei diesem rotblonden Barte auch gar nicht anders möglich waren, dann sie wieder für Minuten schließend.

»Wieder eine Mission erfüllt!« flüsterte er jetzt, als er sich gegen die Wand beugte, um den elektrischen Klingelknopf zu drücken.

Der Zimmerkellner kam.

»Sie wünschen, mein Fürst?«

»Wie nennen Sie mich Fürst? Dann müßten Sie mich mindestens mit Durchlaucht anreden. Ich bin kein Fürst.«

Ohne jede Verwunderung hatte er es mit sonorer Stimme gesagt, hatte keine weitere Frage deswegen.

»Wann trifft hier der nächste Zug von Genua ein?«

»Elf Uhr zwanzig.«

»Einige Minuten später, nachdem der Zug hier gehalten hat, wird ein Herr nach mir fragen. Diesen Herrn empfange ich. Keine andere Person. Verstanden?«

Kurz, aber ganz freundlich hatte er es gesagt.

»Sehr wohl, mein Herr.«

»Gut. Und die Rechnung. Ich will sofort bezahlen.«

Die Rechnung kam, nur für Zimmer und ein Bad. Der Fremde gab ein Goldstück, ließ sich nicht wechseln.

»Danke verbindlichst, mein Herr.«

»Bitte.«

Unten, wo ja auch alle Säle voll waren, wurde der Kellner mit Fragen bestürmt.

»Was ist das für ein Herr? Wen erwartet er?«

Wie sollte denn das der Kellner wissen.

»Hat er sich denn gar nicht nach dem geretteten Kinde erkundigt?«

»Nein.«

»Nicht gefragt, ob es auch unverletzt sei, was er doch vorher gar nicht wissen konnte?«

»Mit keinem Worte.«

»Merkwürdig, ganz merkwürdig!«

Man paßte auf, wen der Genuazug bringen würde.

Wieder stieg nur ein einziger Fahrgast aus, aus einem Kupee erster Klasse, ohne Gepäck, und das war nun allerdings wieder eine ganz merkwürdige Gestalt, die doch allein den Besuch für den »Fürsten des Feuers« abgeben konnte.

Von seinem Gesicht war so gut wie nichts zu sehen. Dazu war der Kragen des Wettermantels zu hochgeschlagen und die breite Krempe des Filzhutes zu tief herab gezogen. Nun aber diese Figur! Sehr, sehr klein, und dabei fast ebenso breit und dick. Fast wie eine Kugel. Und dieser seltsame Gang! Wie der dabei in den Hüften wiegte! Und welch maßlosen Stolz dabei dieser wiegende Gang ausdrückte!

So wiegte sich die Kugel durch die Reihen der gaffenden Menge nach dem Hotel.

»Monsieur Price O'Fire?« fragte es unter dem Schlapphut an der Portiersloge mit auffallend hoher, fast quäkender Stimme.

»Bitte, wollen Sie dem Garcon folgen.«

Merkwürdig auch, wie die menschliche Kugel die Treppe hinaufkam, nicht etwa kugelnd, nicht unbehülflich, sondern im Gegenteil, als hätte er unter dem Mantel statt Wurstbeine elastische Sprungfedern.

Hinter ihm schloß sich die Tür, und der kleine Dicke nahm sofort den Mantel ab, hing ihn über die Klinke, wahrscheinlich damit man nicht durchs Schlüsselloch sehen könne.

Himmel, was war das für eine Gestalt! Durch die Abnahme des Mantels wurde daran nichts geändert. Es war und blieb eine Kugel, eingehüllt in einen Anzug aus feinem, blauem Tuche nach Seemannsschnitt, aber dieser Fleischkoloß bestand nicht etwa aus Fett, sondern nur aus Muskel, das konnte man schon allein an den mächtigen Schultern erkennen, die sich unter dem Tuche wie große Kegelkugeln rundeten, und genau solche Kegelkugeln hatte der Mann an den Oberarmen, auch wenn er sie nicht anspannte.

Und das gelbe Gesicht mit den Schlitzaugen war unverkennbar das eines Japaners — einer jener Japaner von der achten, der untersten Kaste, aus Fischern und Seeleuten bestehend, von denen die andere Welt so lange nichts wußte, bis sie zwei russische Flotten in Stücke zerhackten. Das sind solche Gestalten, andere läßt die Kaste gar nicht aufkommen.

Finster, mit einem furchtbar wilden Trotze blickte das bissige Bulldoggengesicht, in dem auch die Oberzähne fletschend hervortraten, nach dem im Lehnstuhl Sitzenden.

Der stand jetzt gemächlich auf.

Sie bedienten sich keiner europäischen Sprache, aber wenn es Japanisch war, so können wir das hier doch nicht wiedergeben.

»Kapitän Katamoni?«

»Ich bin es,« entgegnete die quäkende Stimme.

»Price O'Fire.«

Und der germanische Hüne streckte die rechte Hand aus, die japanische Kugel trat einen Schritt näher, ergriff sie.

Beide hielten die Hände längere Zeit zusammen, gaben sich wahrscheinlich heimliche Erkennungszeichen.

»Genügt Ihnen das?« fragte O'Fire.

»Nein. Ich kenne Sie nicht.«

»Was sonst?«

»Das Lumassawatani.«

Da streifte der Hüne den Ärmel zurück, auch den Hemdsärmel, zeigte seinen rechten Arm, ebenfalls wie aus schneeweißem Marmor gemeißelt, starrend von Sehnen und Muskeln, bückte sich etwas und . . . hielt diesen Arm nicht nur über das Kaminfeuer, sondern bohrte ihn auch noch in die rote Glut hinein, bis zum Ellenbogen!

Vielleicht eine halbe Minute, dann zog er ihn zurück, hielt ihn dem Japaner hin, und der Arm und die Hand zeigten keine Brandwunde, waren weiß wie zuvor.

»Genügt Ihnen das?«

Da kreuzte der Japaner die Arme über der mächtigen Brust, verbeugte sich tief, tief, welche Geschwindigkeit man dieser unförmlichen Gestalt gar nicht zugetraut hätte, und jetzt war plötzlich auch seine Stimme ganz tief geworden:

»Mein Herr und Gebieter!«


Unten die Gäste warteten vergebens, daß der Besuch wieder zum Vorschein kommen würde.

Als sich die Fenster des betreffenden Zimmers verfinsterten, mußte man annehmen, daß auch der zweite Fremde schlafen gegangen war, in demselben Zimmer, zwei Betten waren ja vorhanden. Da bemerkte ein Kellner, daß die Zimmertür nur angelehnt war. Die beiden Vögel waren unter Mitnahme des Koffers ausgeflogen.

Wunderbar war bei diesem Verschwinden nichts, da kam schon die Meldung vom Bahnhof, daß sie den Mitternachtszug nach Nizza benutzt hatten, sie hatten eben das Hotel durch eine Hintertür unbemerkt verlassen.

Ebensowenig dachte jemand auch nur mit einem Gedanken daran, daß man es etwa mit Hochstaplern zu tun gehabt hätte. Man hatte doch schon genug beraten, wie man dem edien Helden die ausgesetzten Prämien in bar oder in einem Geschenk überreichen sollte. Der brave Mann hatte sich eben jedem Danke entzogen.

Man sprach noch lange von dem »Fürsten des Feuers«, der er noch immer blieb.

Ader wie sehr man dem unbekannten Fremdling diesen Namen mit Recht gab, das ahnte niemand.


76. KAPITEL. AN BORD DER »SCHWESTER ANNA«,

Zurück nach Brasilien!

Auf dem breiten Wasser, das sich in schnurgerader Linie durch den tropischen Urwald zog, wurde ein Boot von vier Männern gerudert.

Es war ein Kanoe, ein aus Leder gefertigtes langes, schmales Boot, einer saß hinter dem andern, das Gesicht nach vorwärts, jeder handhabte nur ein Schaufelruder. Schon stundenlang waren sie schweigend mit aller Kraft gerudert. Jetzt legte der dritte Mann sein Schaufelruder ins Boot, drehte sich um, blickte seinen Hintermann an.

»Was hast Du, Oskar?« fragte dieser.

»Ja, mir fällt was ein — ich, halbe sogar schon lange darüber nachgedacht — sagen Sie mal, Herr König von Brasilien und Kaiser von Amerika — wo lassen Sie denn eigentlich Ihre Hemden waschen?«

Die Sache war nämlich die, daß keiner von den vieren ein Hemd besaß. Bekleidet waren sie nur mit Hose und hohen Schaftstiefeln, beides aus rohem Leder gefertigt, und ihr sonstiges Eigentum ließ sich in dem offenen Boote doch sofort überblicken. Neben jedem lag ein Gewehr, ferner ein Lederbeutelchen, ferner noch eine Jacke, gleichfalls aus Leder — aber so etwas wie ein Hemd war nicht vorhanden, nicht einmal ein ledernes Jagdhemd. Die nackten Oberkörper hatten sie sich mit einem grünlich schimmernden Fett eingesalbt, wohl Lorbeerfett zum Schutze gegen die Moskitos.

Die Folgen dieser Frage, wo der König von Brasilien und Kaiser von Amerika seine Hemden waschen lasse, waren nicht so leicht zu begreifen. Da mußte man wohl schon länger bei ihnen gewesen sein.

Der erste, der mit den langen Locken, sonst sicher ein sehr ernster Mann, warf gleichfalls schnell sein Ruder ein, beugte sich zurück, und lachte und lachte! Und der zweite Mann griff schleunigst nach seiner qualmenden Fuhrmannspfeife, um sein von einem Ohre bis zum anderen reichendes Maul beim Lachen aufsperren zu können, und auch der letzte, an den diese Frage gerichtet worden, Georg Stevenbrock, wollen wir gleich sagen, brach in ein unbändiges Gelächter aus.

»Na‚ Oskar, bist Du ein Kerl!« konnte er endlich hervorbringen. »Vier ganze Tage rudern wir hier zusammen, immer nur in Hose und Stiefeln, und jetzt endlich dicht vor dem Ziele, fragt dieser Mensch mich, wo ich . . . ach, es ist ja überhaupt zu dumm, darüber zu lachen — hahahaha — da ist doch absolut gar kein Witz dabei — hahahaha . . .«

»Ja‚« stöhnte auch der sonst so ernste Juba Riata vor Lachen, »schade, daß man so etwas keinem Witzblatt einsenden kann — es wäre für jeden anderen ganz unverständliche — es gibt eben zweierlei Arten von Witzen, von Humor — ich wundere mich nur, daß auch unser Mister Tabak diesen Witz verstanden hat — hahaha . . . «

»Na‚ nun bändigt nur wieder Eure Lachmuskeln,« fing Oskar wieder an. »Ich habe gar keinen Witz machen wollen. Also, Herr König von Brasilien und Kaiser nun Amerika, was ich fragen wollte . . .«

Plötzlich wurde Stevenbock sehr ernst, als er ihn unterbrach.

»Ich verbitte mir solche Titulaturen! Ich kann doch nichts dafür, wenn der infame Spanier mir solchen Wahnsinn an den Kopf wirft. Ich vertrage eine gute Nummer Spaß, aber veralbern lasse ich mich nicht! Sonst kann ich auch auf solch einer Fahrt gegen meinen besten Freund den Kapitän herausstecken!«

Aber Oskar ließ sich nicht einschüchtern.

»Was Kapitän! Sie sind gar kein Kapitän. Mit dem Untergang der »Argos« hat Ihre Kargo-Kapitänschaft aufgehört. Und selbst wenn Sie mein Kapitän wären — zu sagen haben Sie mir gar nichts mehr. Der Untergang eines Schiffes löst jeden Heuerkontrakt.«

»Na laß es gut sein, Oskar. Oder betrachte mich lieber noch als Deinen Kapitän. Denn sonst — wenn Du etwa mit mir hängen willst — wir können ans Ufer fahren . . .«

Das Wort »hängen« ist ein Ausdruck in der Studentensprache. Wenn sich zwei »angerempelt« haben, aber nach nicht duelliert, noch nicht einmal gefordert, dann »hängen« sie. Ganz denselben Ausdruck mit derselben Bedeutung aber gibt es auch unter den Seeleuten.

Aber Oskar wußte in seiner Weise der Sache gleich wieder eine andere Wendung zu geben.

»Ach fahren Sie doch alleene ans Ufer! Hängen Se sich doch alleene uff!« sagte er, gleich wieder zum Ruder greifend, und er hatte wiederum die Lacher auf seiner Seite. Wobei freilich nicht wiederzugeben ist, wie er das hervorbrachte.

»Achtung, wir sind am Ziele!« rief Juba Riata, und das Lachen verstummte.

Vor ihnen lag die sumpfige Schilfregion, die ihr Schiff vor nun einem Jahre mit Volldampf passiert hatte, und jetzt wollten sie mit dem Boote hindurch. Das war wohl kaum möglich. Sie mußten es sicher an Land um den Sumpf herumtragen, aber wie das bei dem undurchdringlichen Mangrovenwald geschehen sollte, das war ein Problem, das gelöst sein wollte.

Zunächst fuhren sie einmal so weit als möglich an das scharf begrenzte Schilf heran. Dabei aber konnte Oskar, der nun einmal ins Schwatzen gekommen war, den Mund nicht halten.

»Sie, Waffenmeister, Sie nannten doch vorhin den Spanier, unseren Prospektador, einen infamen Kerl. Das will ich dahingestellt sein lassen. Eine viel größere Hundsgemeinheit finde ich das von dieser Schwester Anna, daß die uns . . . Jesus Christ und General Jackson!«

Sie hatten, sich nahe am Ufer haltend, der Schilfgrenze bis auf wenige Meter genähert.

Da plötzlich rauschte es in dem Schilfe, aus der Mitte brach etwas Schwarzes, Mächtiges, Kolossales hervor, ein furchtbares Ungetüm — das nur deshalb im nächsten Augenblick jeden Schreck rauben mußte, weil es vorn an der Seite in großen, weißen Buchstaben den Namen »Schwester Anna« trug!

Es war der scharfe Bug eines Dampfers dem also natürlich der ganze Dampfer nachfolgen mußte.

»Festgehalten, oder wir kentern!« hatte Stevenbrock noch rechtzeitig geschrien.

Denn es war eine ganz gefährliche Situation für das leichte Boot gewesen. Das stille Wasser verwandelte sich doch plötzlich in einen kochenden Strudel. Ein Glück, daß das Boot schon unter den Bäumen am Uferrand gelegen hatte, so konnten sich die Insassen in den Zweigen festklammern. Sonst wäre es unbedingt gekentert. Dann aber beruhigte sich das aufgeregte Wasser in dieser sumpfigen Umgebung auch äußerst schnell wieder.

Jetzt konnten sie den Dampfer näher betrachten.

Es war einer von jenem Typ, den der Seemann einen »Norweger« nennt, wobei er aber nicht unter norwegischer Flagge zu fahren, gar nichts mit Norwegen zu tun zu haben braucht. Unter »Norweger« versteht man sehr stark gebaute Dampfer, für Eisverhältnisse gebaut, um durch Eisschollen und womöglich auch durch Packeis brechen zu können. Das ist die ganze Sache. Alle Dampfer, welche die nördlichen Gegenden befahren, sind »Norweger«. Anderseits ist es aber doch nicht einfach, daß man nur stärkere Eisenplatten verwendet. Wegen der größeren Last, was doch die Quantität der Fracht sehr vermindert, ist eine ganz besondere Konstruktion dafür nötig. Man versuche alles Gewicht ins Wasser zu legen.

Ein eiförmiger Bau, ganz niedriges Deck, niemals Takelage. Weiter ist es hier nicht zu beschreiben, jedenfalls aber wird auch der Laie, wenn er einmal solch ein Schiff gesehen hat, immer gleich den »Norweger« erkennen. Früher wurden solche Schiffe nur in Christiania und auf anderen norwegischen Werften gebaut, daher eben der Name, dann legte sich Philadelphia und besonders Halifax auf diese Spezialität, jetzt werden die vorzüglichsten »Norweger« von den Japanern gebaut, wegen ihrer Fischerei in den nördlichen Gewässern, wie bei Sachalin, dessen Küste ja niemals eisfrei ist.

Und Japaner waren es auch, die an Deck des Dampfers standen. Man brauchte gar nicht ihre mongolischen Affengesichter zu sehen. Es waren japanische Matrosen, denn solche gleichförmige Gestalten, alle so klein und so dick und so vierschrötig, förmliche Rechtecke bildend, dabei von solch kolossaler Muskulatur, so etwas kann nur ein streng geregeltes Kastenwesen im menschlichen Geschlecht hervorbringen. Hätten sie etwa zur vierten Kaste gehört, zu der der Yakonins, der Soldaten, die allerdings nur Offiziere stellen, so wären sie samt und sonders groß und schlank gewesen, im Gegensatz zur sechsten Klasse der Kaufleute, die klein und kreplig sind.

Diese dicken Rechtecke mit den kolossalen Schultern aber konnten nur japanische Matrosen sein, die letzte Kaste und dennoch den Stolz ihrer Heimat bildend.

Merkwürdig war es, daß alle diese Matrosen, nur wenige mit baumwollenen Hosen und Hemd bekleidet, die meisten nackt bis auf den Schurz, das Boot mit den vier Insassen dort am Waldesrand wohl sofort erblickt hatten, dann ihm aber gleich den Rücken wandten oder doch nicht mehr hinsahen, sich gar nicht mehr darum kümmerten, sobald sie nicht das Kommando dazu bekamen. Auch so echt japanisch!

Auch dieser Dampfer hatte wie damals die »Argos« nach dem Passieren des Schilfsumpfes mit rückwärts gehender Schraube sofort gestoppt, und jetzt erschien unter den zu Zwergen zusammengequetschten Riesen ein wirklicher Hüne im weißen Tropenanzug, mit bis auf den Leib herabwallendem rotblonden Vollbart.

»Herr Kapitän Georg Stevenbrock!« rief er nach dem Boote hinüber, gleich mit dem ersten Worte anzeigend, daß er Deutsch sprechen wolle.

»Ay?« erklang es ganz gemütlich zurück.

»Darf ich Sie und Ihre Gefährten bitten, als meine Gastfreunde an Bord meines Schiffes zu kommen.«

»Können wir machen.«

Und das Boot fuhr hin, legte an dem schnell herabgelassenen Fallreep bei, die vier stiegen hinauf.

»Price O'Fire ist mein Name.«

»Sehr angenehm.«

Ein einladender Wink seitens des blonden Riesen, und eine menschliche Kugel mit mongolischem Bullenbeißergesicht wiegte sich heran, ebenfalls in ein schneeweißes Tropenkostüm gekleidet.

»Kapitän Katamoni, der Führer meines Schiffes — Kapitän Georg Stevenbrock!« stellte der »Fürst des Feuers« vor.

Das furchtbar grimmige Bulldoggengesicht fletschte die Zähne, was wohl ein Lächeln bedeuten sollte, und Stevenbock machte eine kleine Verbeugung.

»Sehr angenehm — aber ich mache darauf aufmerksam, daß ich nur Steuermann, kein Kapitän bin.«

»Sie sind doch Kargokapitän von der »Argos«, in diesem Range berechtigt, den Titel eines Kapitäns zu führen.«

»Die »Argos« ist nicht mehr.«

»Doch. Sie ist noch nicht aus der Registerliste gestrichen.«

»Das bleibt sich gleich. Sie ist gesunken.«

»Aber sie wird wieder gehoben. Mein Dampfer ist ein spezielles Taucherschiff.«

»Aaaaahhhh!« kam es mit freudigem Staunen aus Stevenbrocks Munde, in einer Weise, daß auch der ernste Mann lächeln mußte.

»Bitte, wollen Sie mir in meine Kajüte folgen,« sagte er dann, »Ihre Gefährten werden vom Kapitän versorgt.«

Sie gingen nach hinten über das Deck, das ganz glatt war, keine Kommandobrücke besaß, den Kajüteneingang bildete eine ganz niedrige »Haube«, stiegen die steile Treppe hinab.

»Sie werden wohl Appetit haben!« sagte O'Fire, nach im Vorraum.

»Appetit? Das ist für meine Verfassung ein unpassendes Wort. Zu essen haben wir in den vier Tagen allerdings immer gehabt, aber keinen warmen Bissen über die Zähne bekommen, und auch mit kalten Delikatessen sind wir nicht gerade verwöhnt worden.«

»Bitte treten Sie ein.«

Die Kajüte war mehr praktisch als komfortabel eingerichtet, wenn man nämlich weiß, was auf solchen Privatschiffen in den Kajüten immer für ein Luxus herrscht.

Auf dem Tische standen schon dampfende Schüsseln.

»Aaaahhh,« schmunzelte Stevenbrock wieder, »das habe ich mir gleich gedacht!«

»Bitte, was haben Sie sich gleich gedacht?« mußte der germanische Riese wieder lächeln, weil dieser Nachsatz doch eigentlich so gar nicht gepaßt hatte.

»Daß hier schon für mich dampfende Schüsseln bereit standen.«

»Inwiefern konnten Sie sich denn das gleich denken?!«

»Sobald ich den Namen Ihres Schiffes gelesen hatte Schwester Anna.«

Diese Erklärung war vielleicht nicht so leicht zu verstehen — O'Fire verstand sie sicher sofort.

»Sie haben Recht. Ich wußte, daß ich Sie hier hinter dem Schilfe in einem Lederboote finden würde,

»Aber allwissend sind Sie doch nicht.«

»Nein!« mußte jener immer wieder lächeln.

»Sonst würden Sie wissen, daß ich mich hier in dieser Kajüte als Kargokapitän dem Schiffspatron gegenüber nur in Stiefeln und Hosen höchst ungemütlich fühle. Denn leider habe ich im Drange der Gefühle vorhin meine Lederjacke anzuziehen vergessen, sie liegt noch im Boote.«

Da brachte schon ein Steward, auch so ein vierschrötiger Japaner, einen Kimono, eine Art Schlafrock, Stevensbrock schlüpfte hinein und ließ sich nieder.

»Aaaahhh! Jetzt glaube ich schon wieder mehr an Ihre Allwissenheit. Nämlich weil den Inhalt der größten Schüssel Reis mit Curry und Hammelfleisch bildet. Schon seit einem Jahre habe ich von diesem meinem Leibgericht immer nur geträumt. Das Luderzeug ist etwas heiß, aber mum mum mum mum mum.«

»Wie meinten Sie?« lächelte der Schiffspatron, sich ein lautes Lachen verbeißend.

»Mum au mum au mum au!« machte Stevenbrock, nämlich dermaßen hatte er sich den Mund vollgepfropft, wobei das Zeug eben auch noch heiß war, bis er die Ladung glücklich hintergeschluckt hatte. »Sie haben mich immer noch nicht verstanden? Sehen Sie, Sie sind eben nicht allwissend. Ich wollte sagen: es kommt mir vor, als wollten Sie mich verlassen, weil Sie immer so auf dem Sprunge stehen, sich nicht setzen.«

»Ich möchte Sie beim Speisen nicht stören.«

»Das nennen Sie speisen? Na da gute Nacht! Sie sind Optimist, mein geehrter Herr. »Das nennt man, noch ganz zart ausgedrückt, schlingen. Nein, mich kann bei dieser Magenverfassung überhaupt niemand stören, mir ist noch anders zumute als damals, wie ich an Bord der »Argos« kam. Das werden Sie doch selbst wissen bei Ihrer Allwissenheit. Also bitte bleiben Sie, Sie können sich doch denken, wie ich darauf brenne, mehr von Ihnen zu erfahren. Wenn ich kaue, sprechen Sie, und wenn ich hinuntergeschluckt habe, spreche ich. Auf diese Weise werden wir uns schon verständigen können.«

Price O'Fire setzte sich.

»Los!« kommandierte Stevenbrock in einer Zwischenpause des Kauens, als jener nicht gleich anfing.

»Gut! Ich weiß, daß Sie ein durchaus gebildeter Mann sind, auch wenn Sie keine Universität besucht haben. Sie kennen alle Klassiker.«

»Möglich.«

»Sie sind manchmal auch sehr nützlich, diese Klassiker.«

»Weshalb?«

»Sie ersparen einem manchmal sehr viel Worte. Wozu ich sonst einige Stunden gebrauchen müßte, kann ich einem Manne wie Ihnen gegenüber in einem einzigen Zitate zusammenfassen. Es ist Mephistopheles in Goethes »Faust«, welcher spricht: Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt. Verstehen Sie?«

»Ich verstehe. Weiter!«

»Dann werden Sie auch begreiflich finden, wenn ich oftmals etwas frage, was ich schon weiß. Ich möchte es als Antwort eben nochmals aus Ihrem Munde hören.«

»Finde ich ebenfalls begreiflich. Sie wollen die sogenannte Sokratische Methode anwenden.«

»Recht so! Das erspart mir schon wieder eine langatmige Erklärung. Also nun beginne ich ohne weitere Umschweife. Was haben Sie auf dem Eldoradoplateau diesmal gefunden?«

»Genau dasselbe, was bei unserem ersten Besuche vorhanden war. Nur noch einige Dutzend Indianergräber sind hinzugekommen.«

»Haben Sie noch lebende Indianer vorgefunden?«

»Nein.«

»Wieviel Rothäute sind es gewesen, die damals Harry Sandow dorthin geführt hat?«

»Ich entsinne mich der Zahl noch — genau 413 Köpfe, darunter 142 Krieger, die anderen also Frauen, Kinder und Greise.«

»Wo sind die alle geblieben?«

»Hm,« brummte Stevenbrock, »ich verstehe schon, weshalb Sie fragen, weshalb Sie das alles noch einmal aus meinem eigenen Munde hören wollen, was Sie schon wissen, viel besser als ich. Als wir die Gegend wieder verließen, waren die früher befreundeten Kommantschen und Apachen in blutigen Streit geraten. Sie meinen, ob ich nun glaube, die beiden Stämme hätten sich nun gegenseitig bis zum letzten Mann abgemurkst, auch die Frauen und Kinder nicht verschonend? Nein, das kann ich nicht glauben. Wir haben in dem ganzen Jahre, da wir auf dem Plateau so halb und halb als unfreiwillige Robinsons lebten, dasselbe doch ganz gründlich erforscht. Ja, wir haben viele Indianergräber gefunden, Massengräber und auch einzelne, aber auf mehr als drei Dutzend Tote können wir nicht schließen. Unbeerdigte Skelette haben wir nirgends gefunden. Nein, wir glauben nicht, daß sich die sämtlichen Rothäute gegenseitig abgemurkst haben.«

»Wo mögen die Lebenden dann geblieben sein?«

»Wir wissen es nicht. Wir können nur annehmen, daß sie das Plateau wieder verlassen haben, noch bevor sie sämtliche Pferde und Büffel ausrotteten.«

»Ist Ihnen der Weg bekannt, den Harry Sandow damals genommen, den er die Indianer geführt hat?«

»Nein, eben nicht! Wir haben diesen zweiten geheimen Aufstieg zum Plateau nicht finden können, wie wir auch gesucht haben, und da versagt auch unseres Juba Riatas Scharfsinn. Ist er denn Ihnen bekannt?«

»Ich werde Ihnen diesen zweiten Aufstieg dann zeigen.«

»Da bin ich gespannt. Und wissen Sie, wo diese anderen Indianer mit dem kleinen Engländer geblieben sind, was aus Ihnen geworden ist?«

»Ich weiß es.«

»Nun?«

»Sie werden es später durch eigene Anschauung erfahren. Bitte, stellen Sie jetzt keine solche Fragen, die Ihre Zukunft betreffen.«

»Wie Sie wünschen. Ich blicke auch gar nicht so gern in die Zukunft. Ich bin zufrieden mit dem, was mir jeder Augenblick bringt.«

»Recht so!« erklang es wiederum im bestätigenden Tone des geschulten Seemannes. »Weshalb nun haben Sie dieses Plateau zum zweiten Male aufgesucht?«

»Eigentlich sind wir doch nur einer Aufforderung jener geheimnisvollen Person gefolgt, die sich Schwester Anna nennt.«

»Ja, aber was hatten Sie sonst diesmal auf dem Plateau vor?«

»Hm. Wir anderen eigentlich nichts Besonderes. Wir wollten nur sehen, wie sich die Indianer entwickelt hätten und dann nach wie vor dort oben unseren Sportspielen nachgehen. Nur einer von uns hatte etwas Besonderes vor. Da muß ich erst von unserem Kapitän Martin anfangen. Kennen Sie den?«

»Sehr gut. Wenn auch er mich nicht.«

»Dieser Kapitän ist im Grunde nicht Seemann und Geschäftsmann, für den man ihn halten mag, selbst wenn man ihn durch jahrelange Beobachtung ganz genau zu kennen glaubt.«

»Ich weiß es.«

»Die Wiege dieses Mannes stand im schlesischen Riesengebirge, er ist als Junge nur aus Lust an Abenteuern zur See gegangen.«

»Ich weiß es.«

»Und ein so praktischer, total nüchterner Handelsmann er auch geworden ist, der alles nur nach Mark und Pfennig berechnet — im Grunde genommen ist er doch der abenteuerlich veranlagte Jüngling geblieben.«

»Ich weiß es!« erklang es immer wieder. »Das hat er schon einmal offenbart.«

»Wann?«

»Das wissen Sie doch selbst am besten!« ließ sich aber der »Fürst des Feuers« seinerseits nicht ausfragen.

»Nun ja — damals in Kapstadt, als er selbst vorschlug, wir sollten aus unserer »Argos« ein Komödianten- und Gauklerschiff machten.«

»Recht so! Und was schlug er nun diesmal vor?«

»Uns auf diesem Eldoradogebirge tatsächlich festzusetzen. Eine großartige Kolonie anzulegen. Geeignete Arbeiter herbeizuschaffen, auch für Weiber zu sorgen. Und so weiter und so weiter. Sie verstehen wohl.«

»Sie wollten dort eine ideale Republik gründen.«

»Ahem, das wars!« bestätigte der noch immer wacker kauende Georg.

»Gleichgültig, ob dieses Gebirgsplateau zu Brasilien oder zu Frankreich gehört.«

»Ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist, daß wir eine geheime Wasserstraße direkt von der Küste aus nach dort wissen.«

»Sie wollten Ihre kleine Republik, wenn nicht ein Königreich daraus wurde, unter Umständen auch mit Waffengewalt gegen das Eingreifen fremder Mächte verteidigen.«

»Wir wollten es nicht nur, sondern wir wollen es noch jetzt.«

»Sich die nötigen Geschütze dazu anschaffen.«

»Gewiß.«

»Auch den Zugang zu der Wasserstraße an der Meeresküste befestigen?«

»Muß ebenfalls sein. Wenn schon, denn schon.«

»Solch eine uneinnehmbare Felsenburg mitten im Meere ist Ihnen schon angewiesen worden — jener Seelandsfelsen.«

»Herr, wir lassen uns nicht gern etwas schenken, und meinen Jungen hat es dort überhaupt niemals gefallen. Wir wollen uns lieber ganz von vorn einrichten, alles durch eigene Kraft schaffen.«

Es war ausgesprochen, hiermit diese Sache aber auch gleich erledigt.

»Aus alledem ist nun nichts geworden!« fuhr Price O'Fire fort.

»Die Sache ist nur aufgeschoben, nicht etwa aufgehoben worden.«

»Ihr Schiff ist gesunken.«

»Es wird wieder gehoben werden. Wenn wir uns nicht eine neue »Argos« anschaffen.«

»Was haben Sie unterdessen auf dem Plateau getrieben? Sie gestatten mir doch solche Fragen.«

»Gewiß doch. Nun, wir haben nach wie vor geturnt und gespielt und gejagt und uns ganz köstlich amüsiert.«

»Sie haben es nicht sehr eilig gehabt, das Plateau zu verlassen, um wieder in Verkehr mit der Außenwelt zu treten.«

»Nein, wir haben es niemals eilig. Wir haben einfach Robinsons gespielt, mußten uns gar vieles selbst anfertigen, wollten wir nicht zuletzt ganz nackt herumlaufen, überhaupt zu völligen Wilden herabsinken. Gespinste konnten wir uns allerdings nicht herstellen, aber sonst werden Sie sehen, wie schön wir uns dort eingerichtet haben. Nur das, was wir für unsere Turnerei und unsere Wettkämpfe brauchten, hatten wir schon mitgenommen, außerdem Gewehre und einige Munition, die wir bei der Jagd zu sparen wußten, haben die Tiere mit Fitschepfeilen erlegt. Nun aber wollen wir unsere Pläne endlich verwirklichen.«

»Wie das? Bitte wollen Sie ausführlich schildern. Und glauben Sie nicht, daß meine Fragen zwecklos sind. Ich werde mich Ihnen dann offenbaren.«

»Nun, wir vier Mann wollten uns erst einmal nach Para begeben, um dort ein größeres Fahrzeug, das heißt größer als so ein Lederboot, zu kaufen, wohl einen kleinen Dampfer, der aber alle fassen muß. Wir sind mehr als hundert Personen. Selbst bauen konnten wir uns ein größeres Fahrzeug nicht, wir können keine Planken herstellen, wir haben nur einige Äxte, keine einzige Säge. Überhaupt wäre das viel zu umständlich und auch die Herstellung von lauter solchen Lederbooten, um gleich alle nach Para zu befördern, wäre ja die reine Zeitverschwendung.

Mit dem kleinen Dampfer bringen wir gleich Tauchapparate mit, mit denen wir erst einmal unser Schiff untersuchen, ob es überhaupt zu heben geht. Wenn ja, dann versuchen wir das, schaffen dazu auch noch die weiteren Utensilien herbei. Dann haben wir eben unsere »Argos« wieder. Erweist sich das Schiff als ein hoffnungsloses Wrack, so begeben wir uns alle zusammen nach Para, müssen eben eine neue »Argos« kaufen, mit der wir dann unsere Pläne ausführen.

So war beschlossen worden, das hätten wir ausgeführt, Ihre Dazwischenkunft wird ja nun wohl vielerlei daran ändern.«

»Haben Sie denn Geld, um ein neues Schiff oder in Para nur erst einmal einen kleinen Hilfsdampfer und die Taucherapparate zu kaufen?« fragte O'Fire.

»Missis Neubert, die Freifrau von der See, hat mir Vollmacht ausgestellt.«

»Über ihr Vermögen zu disponieren?«

»Ja. Ich kann erheben, so viel ich will.«

»Hat denn Missis Neubert Kapitalien?«

»Sie fragen noch? Das wissen Sie doch ganz genau.«

»Bitte, antworten Sie mir.«

»Die Patronin hat zwei Millionen Dollars auf der Neuyorker Bodenkreditbank liegen.«

»Nicht mehr.«

Es läßt sich begreifen, daß Georg bei diesem trockenen »nicht mehr« plötzlich Gabel und Messer sinken ließ, und ganz große Augen bekam.

»Was?! Hat die Neuyorker Bodenkreditbank etwa schon wieder einmal bankrott gemacht? Herr, das ist gar nicht möglich bei dieser Bank!«

»Das Geld ist ihr gesetzlich abgenommen worden.«

»Was?!« stieß Georg nur noch bestürzter hervor.

»Nicht wahr, der Gatte Ihrer Patronin hieß: Eduard Paul Neubert, nannte sich in Amerika Edward Powell?«

»Ja.«

»Und hinterließ bei seinem Tode?«

»Sechs Millionen Dollars.«

»Wieviel bekam davon seine Gattin?«

»Vier Millionen. Die anderen zwei hatte er wohltätigen Zwecken vermacht.«

»Es war ein rechtskräftiges Testament.«

»Gewiß. Es ist von anderen Verwandten vergebens angefochten worden.«

»Von anderen Verwandten. Hat Mister Edward Powell damals der Missis Helene Hartung gesagt, daß er schon einmal verheiratet gewesen ist?«

»Was?«

»Er hat es also nicht gesagt.«

»Nein.«

»Es ist so. Mister Edward Powell alias Paul Neubert ist in seinen jungen Jahren schon einmal verheiratet gewesen, der Ehe war ein Kind entsprungen, ein Mädchen, auf den Namen Alice getauft. Mutter und Kind machten von San Franzisko aus eine Reise nach Australien, das Schiff scheiterte bei den Fidschi—Inseln. Zu denen, welche dabei ihr Leben verloren, gehörten auch Missis Maud Powell und ihre zweijährige Tochter. Davon ist Ihnen also nichts bekannt?«

»Nicht das geringste, »und ganz sicher auch der Patronin nicht, sonst hätte sie mir doch etwas davon erzählt.«

»Weshalb Mister Edward Powell dies seiner zweiten Frau verschwiegen hat, weiß ich nicht. Die beiden galten ihm also für tot. Nach fünf Jahren erfolgte auch die Toterklärung, die aber in Amerika sehr beschränkt ist. Wenn der Totgesagte wieder auftaucht, auch nach fünfzig Jahren, so tritt er eben in alle seine früheren Rechte wieder ein.

Bei Alice Powell hat es nur etwa 20 Jahre gedauert. Das Kind ist nämlich damals von eingeborenen Insulanern gerettet worden, wurde als eine Stammestochter unter ihnen aufgezogen, bis sich dann ein französischer Missionar des weißen Mädchens annahm.

Das Kind hatte an einer Halskette ein goldenes Büchschen hängen gehabt. Darin war ein beschriebenes Pergament enthalten gewesen. Die abergläubischen Fidschi-Insulaner hatten es als Zaubermittel betrachtet, als Talisman, hatten es sorgfältig aufbewahrt, und so war die Büchse mit Inhalt auch in die Hände des Missionars gekommen.

Aber es war eine Geheimschrift, die er nicht enträtseln konnte. Anfangs nicht. Und als es ihm endlich gelungen war, da war das weiße Mädchen auf einem englischen Schiffe, das an der Insel beigelegt, entflohen, hatte sich darauf heimlich versteckt.

Nach diesem Pergament nun war das weiße Mädchen Alice Powell. Im übrigen mache ich es kurz. Der Missionar hat seitdem alles daran gesetzt, das geflohene Mädchen wiederzufinden, hat viele Jahre dazu gebraucht, ohne sonst jemandem davon zu sagen, indem er sich seiner Sache doch nicht ganz sicher war, weil er sich erst überzeugen mußte, ob das Mädchen auch wirklich das beschriebene, auffallende Muttermal am Körper hatte.

Vor nicht ganz einem Jahre ist es ihm gelungen. Er fand das Mädchen im Staate Ohio als Kunstreiterin und Seiltänzerin in einem kleinen Zirkus wieder. Er hat dem Mädchen zu seinem Rechte verholfen, das Gericht hat bereits entschieden, während der Abwesenheit der zweiten Gattin des Edward Powell alias Paul Neubert, und ihre Anwesenheit hätte daran auch durchaus nichts ändern können.«

»Und wie hat das Gericht nun entschieden?« fragte Georg mit eiserner Ruhe, obgleich er sicher nun schon alles Weitere ahnte.

»Indem Mister Powell in seinem Testamente seine erste Ehe verschwiegen hat, ist dieses Testament nun nichtig. Wenigstens insofern, als seine zweite Frau nicht als Universalerbin betrachtet werden kann. Jetzt erhält sie nur ihren Pflichtteil.«

»Und der beträgt?«

»Als der zweiten Gattin, die kinderlos geblieben ist, nach dem amerikanischen Rechte den vierten Teil.«

»Also das wäre?«

»So hätte Missis Neubert nur eine Million Dollars zu beanspruchen gehabt.«

»Und weiter?«

»Sie hat aber vier Millionen Dollars erhalten.«

»Und weiter?« fragte Georg nochmals.

»Zwei Millionen sind davon noch vorhanden, die sind sofort für Miß Alice Powell mit Beschlag belegt, sind ihr auch schon ausgezahlt worden. Drei Millionen hat sie aber von der Erbschaft zu beanspruchen. Also schuldet ihr Missis Neubert jetzt noch eine Million Dollars.«

Mit einem Male fing Georg wieder ganz energisch mit Messer und Gabel zu arbeiten an.

»Na‚ da proste Mahlzeit! Ich lasse es mir weiter schmecken, und hoffentlich läßt sich auch die Patronin deswegen nicht den Appetit verderben.«

Doch dann blickte er wieder aufmerksam den Fremden an, nur daß er jetzt weiterkaute.

»Kennen Sie den Fall genau?«

»Ganz genau.«

»An dieser Sache läßt sich nichts mehr ändern?«

»Nein. Das Erbschaftsgericht hat definitiv entschieden.«

»Könnte man es nicht trotzdem mit Schwindlern zu tun haben?«

»Nein. Die Miß Alice Poweill befindet sich in ihrem vollkommenen Rechte.«

»Das wissen Sie durch Ihre Allwissenheit?«

»Ich bin nicht allwissend. Aber das weiß ich. Ich selbst könnte ihre Rechte durch Beweise unterstützen.«

»Nun, unsere Patronin wird ihr die Million Dollars auszahlen.«

»Wie das, wenn ich fragen darf?«

»Wenn sich unser Schiff nicht wieder heben läßt, so können doch Taucher eindringen.«

»Was hat das zu sagen?«

»Wir besitzen eine ganze Kiste von echten Perlen, deren Wert wir noch gar nicht haben abschätzen lassen, aber eine Million Dollars bekommen wir sicher dafür.«

»Wo hat sich diese Kiste zuletzt befunden?«

»In der Kabine des ersten Maschinisten.«

»Weshalb sind die Perlen nicht in dem Panzerschrank aufbewahrt worden?«

»Der erste Maschinist, ein genialer Juwelier, obgleich gelernter Hufschmied, faßte in seiner Freizeit die schönsten Exemplare in Gold, machte Schmuckgegenstände aller Art daraus. Zuletzt hatte er einmal die ganze Kiste ausgehändigt bekommen, er wollte den ganzen Kram einmal sortieren.«

»Und die Stichflamme aus der Munitionskammer, wo die Explosion erfolgte, hat gerade die Wand dieser Kabine des ersten Maschinisten durchschlagen, im ganzen Schiffe ist nur dieser eine Raum ausgebrannt, aber auch vollkommen — die sämtlichen Perlen haben sich in gebrannten Kalk verwandelt.«

Nochmals ließ Georg Messer und Gabel sinken.

»Herr, sind Sie allwissend?!«

»Nein, aber zu gewissen Zeiten hellsehend. Oder wenn auch selbst es nicht bin, so haben wir doch Mittel, um das beobachten zu können, was wir beobachten wollen, ohne an Ort und Zeit gebunden zu sein. Verlassen Sie sich darauf: ich werde Ihr Schiff heben, es ist noch vollkommen brauchbar, nur das Leck braucht gedichtet zu werden aber von den Perlenschätzen werden Sie keine Spur mehr vorfinden.«

»Nun wir wissen noch mehr solche Perlen liegen!« sagte Georg mit eiserner Ruhe.

»Auf jener Bank bei Halmahera oder Maladekka, von der diese Perlen herstammen? Bemühen Sie sich nicht erst hin. Diese Bank ist bald nach Ihnen von einem holländischen Kriegsschiffe entdeckt worden und wird jetzt von einer holländischen Gesellschaft ausgebeutet.«

»So, ooch noch! Haben Sie sonst noch etwas Erfreuliches zu melden?«

»Rechnen Sie nicht, daß Herr Kapitän Martin irgendwie für die Patronin wieder gut sagt. Er kann es nicht mehr.«

»Was?«

»Er war ein doppelter Millionär in Mark, hatte sein Geld ausschließlich in Aktien der englischen Salzkompanie angelegt. Diese Gesellschaft hat ihren Konkurs angemeldet, und ich kann schon jetzt sagen, daß für die zahlreichen Gläubiger keine fünf Prozent herausspringen werden.«

Jetzt schlug Georg die Hände über dem Kopfe zusammen.

»Ach jeh, ach jeeeeh! Mensch, haben Sie noch Hiobsbotschaften in der Tasche?«

»Leider ja.«

»Heraus damit!«

»Ihre letzte Hoffnung als Geldquelle wäre Lord Eugen Harlin. Wissen Sie, daß gegen den ehemaligen englischen Kolonialminister einstmals ein Prozeß wegen Hochverrat geschwebt hat?«

Georg wußte es. Eine politische Angelegenheit, der Kolonialminister sollte einmal auf eigene Faust mit den noch selbständigen indischen Fürsten in Unterhandlungen getreten sein, nach seiner Meinung zum Besten seines Vaterlandes, aber das war ihm im englischen Parlament sehr übel genommen worden. Zwar war er aus dem Prozeß glänzend gerechtfertigt hervorgegangen, aber gestürzt war der Kolonialminister doch worden.

»Dieser Prozeß wegen Hochverrats ist wieder aufgenommen worden, es sind neue Belastungen hinzugekommen. Wiederum wird — so weit darf ich einmal die Zukunft enthüllen — Lord Harlin gerechtfertigt daraus hervorgehen, unschuldiger und glänzender denn zuvor, aber das geschieht erst nach vielen Jahren, und so lange ist all sein bewegliches und unbewegliches Gut von der Regierung natürlich mit Beschlag belegt.«

»Na‚ da wird sich der Lord ja ebenso freuen wie der arme Kapitän! Sonst noch etwas?«

»Seine Nichte, die kleine Herzogin von Suffolk, kommt nicht in Betracht, sie ist noch unmündig.«

»An die habe ich gar nicht gedacht.«

»Alle Ihre Hülfsmittel sind erschöpft.«

»Das merke ich. Vielleicht noch Vater Abdallah . . .«

»Auf den dürfen Sie ebenfalls nicht rechnen.«

»Und wir Argonauten alle zusammen bringen wahrscheinlich keine tausend Taler zusammen. Sonst noch so eine Hiobsbotschaft?«

»Nein, nun kommen die angenehmen Mitteilungen.«

»Ahaaaa! Na‚ da schießen Sie mal los.«

»Die Explosion in der Pulverkammer hat nur den Doppelboden durchschlagen, das Wasser ist nur in den Kielraum gedrungen, was aber genügte, um das Schiff auf den Grund zu setzen. In tieferem Wasser wäre es nicht tiefer gesunken, als es jetzt steht. Sonst ist also nur noch die Kabine des ersten Maschinisten ausgebrannt, allerdings auch vollkommen.«

»Das sagten Sie bereits, und da finde ich nicht gerade etwas Erfreuliches dabei.«

»Doch. Sonst nichts weiter. Im Augenblick der Katastrophe waren zufällig alle Schotten und sämtliche Türen wasserdicht geschlossen . . .«

»Ahhh!«

»Sie werden nach Hebung des Schiffes die ganze Einrichtung vollkommen unversehrt finden.«

»Alle Wetter, das ist allerdings eine angenehme Nachricht, wenn sie sich bewahrheitet!« rief Georg erfreut.

»Verlassen Sie sich darauf. Nur diejenigen Orgelpfeifen, die in die obersten Ventilationsröhren eingebaut sind, sind etwas verschlammt, lassen sich aber leicht wieder reinigen.«

»Na‚ da wird sich unser Meister Hämmerlein aber freuen, wenn er seine Orgel wieder hat!« jubelte Georg immer mehr auf.

»Der gefährdetste Raum war die Bibliothek, dort standen die Bollaugen offen . . .«

»Ja allerdings!«

»Aber die Verbindungstür war ausnahmsweise geschlossen, kein Blatt ist naß geworden.«

»Es wird immer besser!«

»Sie können also ruhig weiter gaukeln!« lächelte Price O'Fire.

»Wird auch gemacht!«

»Nur bitte ich Sie, sich dabei unter meine Führung zu stellen.«

Georg stutzte doch etwas.

»Hm. Herr, wer sind Sie eigentlich?«

»Ich hin ein Mitglied jener geheimen Gesellschaft, der auch die Schwester Anna angehört.«

»Diese Schwester Anna hat uns mörderisch im Stich gelassen.«

»So glauben Sie! Es war nicht anders angängig, sie durfte sich in Ihre Angelegenheiten zuletzt nicht mehr mischen.«

»Hm. Ich hatte die Dame sogar einmal in Verdacht, daß sie die Explosion erst veranlaßt haben könnte, um uns hier festzunageln.«

»O, wo denken Sie hin . . .«

»Bitte um Entschuldigung, es war auch nur einmal so ein Gedanke, den ich zur Sühne jetzt offen ausspreche. Nein, für so schlecht halte ich diese Dame nicht.«

»Jetzt bin ich von unserem Meister Ihnen, das heißt den Argonauten persönlich zur Verfügung gestellt worden.«

»Und wohin werden Sie uns führen?«

»Zu Ihrem Rechte.«

»Das ist ein weiter Begriff. Bitte, drücken Sie sich deutlicher aus.«

»Ihre Patronin ist nicht so arm, wie sie nach Verkünden jener Botschaft wähnen wird.«

»Nicht?!«

»Sie verfügt noch über unermeßliche Schätze, an denen aber auch alle Argonauten partizipieren.«

»Was denn für Schätze?«

»Ahnen Sie nichts?«

»Hm. Sie meinen den unterirdischen Wasserlauf in Arabien mit den Goldadern und den eingesprengten Rubinen?«

»Nein, der Zugang zu diesem Schatzlager des ehemaligen Ophir soll der Menschheit vorläufig noch verschlossen sein, so ist in einer Beratung unserer Meister beschlossen worden.«

»Wo sollen diese Schätze sonst liegen?«

»Es handelt sich um mehr als 25 Tonnen Gold und um schier unermeßliche Schätze an Edelsteinen aller Art.«

»Was?!« schnellte Georg von seinem Sitze halb empor.

»Ahnen Sie nun etwas?« lächelte der germanische Hüne.

»Doch nicht etwa . . . die Schätze der Desolation . . . des Flibustierkapitäns van Horn?!«

»Sie sagen es: Die sich jener Kapitän Satin, genannt Satan, unrechtmäßiger Weise angeeignet hat. Denn er hat das Geheimnis einfach gestohlen, der rechtmäßige Besitzer war der Bruder Ihrer Patronin, diese ist seine Erbin oder eigentlich natürlich seine Tochter, aber die sämtlichen Argonauten partizipieren doch daran, und was Recht ist, soll Recht bleiben.«

»Aber diese Schätze sind doch mit dem Untergange des »Seeteufels« in die Meerestiefe gesunken!«

»Vorausgesetzt, daß Kapitän Satin sie an Bord gehabt hätte.«

»Er hatte sie nicht?!«

»Nein, er hatte sie gleich nach Abholung in Sicherheit gebracht.«

»Wo?«

»Dort, wohin ich Ihr Schiff führen werde. Bitte, lassen Sie sich das vorläufig genügen. Hingegen mache ich Sie von vornherein darauf aufmerksam, daß Ihre Argonauten wegen dieser Schätze noch einen harten Kampf zu bestehen haben werden.«

»Mit wem?«

»Mit demjenigen, der diese Schätze jetzt als sein Eigentum betrachtet.«

»Und wer ist das?«

»Kapitän Satan.«

»Was?! Der hat doch damals seinen Tod gefunden!«

»Nein, er ist der Explosion und den Fluten unversehrt entkommen, er hat bereits neue Proslewiten um sich versammelt, führt schon wieder ein anderes Seeräuberleben. Sie und Ihre Argonauten sind dazu bestimmt, dieser Mördersekte ein für allemal ein Ende zu bereiten.«

»Well,« sagte Georg einfach und schob jetzt endlich gesättigt die geleerten Teller zurück. »So, Mister O'Fire, wenn Sie nur ein klein wenig allwissend sind, dann müssen Sie ganz genau wissen, was mir jetzt zu meinem Glücke noch fehlt.«

Lächelnd erhob sich der germanische Riese, brachte aus einem Wandschranke eine Zigarrenkiste herbei, jeder der Einwohner mit einer goldenen Bauchbinde bekleidet.

»Aaah, echte Habannas,« schmunzelte Georg, als er nach einer griff, »sogar Begueros. Sehen Sie, Mister O'Fire, Sie sind doch noch allwissender, als Sie in Ihrer Bescheidenheit zugestehen wollen. Was ich mich während dieses ganzen Jahres nach einer Habanna, überhaupt nach einer Zigarre, nach einem rauchbaren Tabak gesehnt habe, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Für diese Zigarre werde ich mich später, wenn es so weit ist, mit einer Kiste Diamanten revanchieren.«

»Sie haben aber doch immer genug Tabak gehabt, haben ihn auf dem Plateau selbst gebaut.«

»Allerdings, wir fanden eine ganze Tabaksplantage, wilde Pflanzen massenhaft, aber jetzt bemerke ich, daß Sie doch nicht so ganz allwissend sind, oder nur hellsehend, nicht hellriechend. Ja, geraucht haben wir diesen Tabak — aber selbst für den Geschmack und Geruch unseres Eskimos war es ein ganz infames Luderzeug. Und schließlich doch besser als Kabelgarn und ausgefranztes Tauwerk, nach dessen Genuß man immer mit zehn Knoten laufen muß. Ja, wo ist aber nun — ich habe mein Feuerzeug im Boot in meinem Ledersäckchen . . .«

Suchend blickte sich Georg nach Streichhölzern oder etwas ähnlichem um.

»Bitte hier.«

Price O'Fire hatte in die Westentasche gegriffen, eine schwarze Kugel von etwa Walnußgröße zum Vorschein gebracht und hielt ihm diese hin.

»Was ist denn das?«

»Ein Feuerzeug. Wollen Sie sich bedienen. Nur muß ich es selbst halten.«

In dem Augenblick, wie Georg das Ende seiner Zigarre der schwarzen Kugel näherte, begann sich diese zwischen den Fingern des Mannes rot zu färben, und es war wirkliche Glut, Georg konnte daran seine Zigarre anbrennen.

»Hm,« brummte er, behaglich die blauen Wölkchen von sich blasend, während jener die Kugel, die sich wieder schwarz gefärbt hatte, wieder in der Westentasche verschwinden ließ, »ein sehr merkwürdiges Feuerzeug.«

»Eine Erfindung von mir.«

»Sehr praktisch. Nur über eines wundere ich mich.«

»Worüber?«

»Die ganze Kugel erglühte doch.«

»Ja.«

»Und Sie haben sich dabei nicht die Finger verbrannt?«

»Herr Kapitän, Sie und Ihre Gefährten werden an mir noch verschiedenes Merkwürdiges beobachten. Jetzt nur eines. Sprechen Sie japanisch?«

»Wenig mehr als bantschai, was wohl Hurra bedeutet, und vielleicht irre ich mich noch hierbei.

»Sonst würden Sie hier an Bord öfters vernehmen, daß mich die japanische Besatzung meist den »Fürst des Feuers« nennt.«


77. KAPITEL. EIN UNBEGREIFLICHER HANDSTREICH.

Wir überspringen einige Wochen.

Die Stadt Para prangte in festlichem Gewande, alles ein einziger Flaggenschmuck.

Denn in ihren Mauern weilte Juan Lopez, der Präsident der Republik Brasilien.

Juan Lopez war einer von den achtzehn Plantagenbesitzern, denen einfach ganz Brasilien gehört. Die anderen 14 Millionen, die Brasilien bevölkern, Weiße, Neger, Indianer und Mischlinge, kann man einfach als deren Sklaven betrachten, wenn es in Brasilien auch dem Namen nach keine Sklaverei mehr gibt. Höchstens die etwa 600 000 Indianer, wie man sie ungefähr schätzt, die in den Pampas und Wäldern noch in ungebundenster Freiheit herumschwärmen, kann man davon ausschließen.

Plantagenbesitzer ist dort ein gar weiter Begriff. Auf diesen achtzehn Plantagen liegen auch alle industriellen Unternehmungen und alle Bergwerke und Minen. Selbst Großkaufleute kann man dort nur als Beamte dieser aus achtzehn Mann bestehenden Feudalherrschaft betrachten. Gebieten diese Kaufleute über Reichtümer, über großes Einkommen, so ist das doch nur immer als ein enormes Gehalt aufzufassen, das ihnen diese Plantagenbesitzer gewähren. Ein Wink von ihnen, und so ein reicher Großkaufmann ist eben gleich seiner Stellung enthoben, ist ein Bettler.

Seitdem aus dem einstigen Kaiserreiche Brasilien eine Republik geworden ist — und schon früher — hat dort das Klassenwahlsystem nach der Höhe des Einkommens geherrscht. Da nun diese achtzehn feudalen Plantagenbesitzer mehr Einkommen haben als alle die anderen 14 Millionen Brasilianer zusammen, so haben sie auch immer den Präsidenten nach ihrem Geschmack gewählt, haben überhaupt immer die absolute Herrschaft in Händen gehabt, und das umso mehr, weil sie auch alle Mannschaften des Heeres und der Marine aus ihrer eigenen Tasche besolden, und zwar für südamerikanische Verhältnisse außerordentlich reichlich, wofür sie natürlich ebenfalls ihre Leute aussuchen, ihre Soldaten, so daß durch eine Volksrevolution gar nichts gegen sie zu machen ist.

So war es wenigstens bis vor einem halben Jahre gewesen. Da war nach dem Tode des bisherigen Juan Lopez, Plantagenbesitzer von Santa Leopoldina, der reichsten einer, zum neuen Präsidenten gewählt worden, wie immer in Brasilien auf Lebenszeit, natürlich wie immer durch die Stimmen seiner feudalen Genossen und ihrer Sippschaft.

Aber Sennor Lopez hatte ihr Vertrauen auf die gemeinste Weise getäuscht, hatte infamen Hochverrat begangen. Jetzt als allmächtiger Präsident erklärte er sogar ganz offen, daß er ein Heuchler, daß er in seinem Herzen schon immer Demokrat gewesen sei, und sein erstes war, daß er das allgemeine Wahlrecht mit gleicher Stimmenzahl vorschlug und durchführte.

Die Folgen lassen sich denken. Ganz Brasilien jubelte ihm als Befreier von der Knechtschaft zu. Natürlich nur jene 17 Plantagenbesitzer nicht. Die nannten ihn einen ganz gemeinen Schuft. Aber deren Macht war nun gebrochen. Auch Heer und Marine hatte Juan Lopez sofort auf seiner Seite. Und was er für ein Charakter war, wie ehrlich er es als Demokrat meinte, das bewies er dadurch, daß er sofort seine unermeßlichen Besitzungen für freie Kolonisation hergab und außerdem nordamerikanische Werften mit dem Bau von zwei Linienschiffen, zwei Küstenpanzern, drei Panzerkanonenbooten und fünf Torpedobooten beauftragte, mit denen er die Flotte beschenken wollte, alles auf seine eigenen Kosten.

Gebrauchen konnte die armselige brasilianische Marine diesen Zuwachs allerdings auch sehr gut. Da sieht man aber auch, was es in Brasilien für Geldmänner gibt. Eben diese achtzehn Plantagenbesitzer. Unermeßlich reich! Wirklich unermeßlich. Der Wert ihres Grund und Bodens ist ja gar nicht zu taxieren. Da sieht man aber auch, was dieser Juan Lopez für ein Mann war!

Jetzt hatte der neue Präsident seine erste Inspektionsreise angetreten, um sich dem Volke vorzustellen, gewissermaßen seine Krönungsreise, hatte mit seinem Kriegsschiffe alle brasilianischen Küstenstädte angelaufen, selbst kleine Ortschaften, und es war eine einzige Triumphfahrt gewesen. Gleich im Anfange seiner Präsidentschaft waren kurz hintereinander zwei Attentate auf ihn erfolgt, ganz sicher waren die Anstifter dazu jene 17 Plantagenbesitzer gewesen, wenn ihnen auch nichts zu beweisen war, und der eine Attentäter, ein zer- und verlumptes Individuum, hatte dann gleich sein Stilett, das an einem Knopfe des Waffenrockes abgeglitten, in sein eigenes Herz gegraben, und der zweite Attentäter, noch zerlumpter, dessen Schrotschuß noch jetzt in der rechten Schulter des Präsidenten saß, war sofort von der wütenden Menge in Brei verwandelt worden — aber ganz sicher würde auch kein dritter Anschlag auf sein Leben vorkommen.

Denn gerade die Ärmsten des Volkes drängten sich allüberall herbei, um für den geliebten Präsidenten eine Leibwache zu bilden, einer bewachte eifersüchtig den anderen, und dasselbe galt für die ihn begleitenden Offiziere und sonstigen Würdenträger.

Jetzt also befand er sich in Para als auf der letzten Station seiner Huldigungsreise. Vorausgesetzt, daß es dann nicht weiter den Amazonenstrom hinaufging. Und die Stadt hatte noch einen ganz besonderen Grund, sich so festlich zu schmücken, wie auch ein besonderer Grund vorlag, daß der Präsident für seine Reise mit Familie und großem Gefolge statt eines ansehnlichen Kriegsschiffes nur einen kleinen Kreuzer benutzt hatte.

Auf den nordamerikanischen Werften waren die bestellten Schiffe mit gewöhnlicher Schnelligkeit gebaut worden, sie sämtlich hatten bereits ihre Probefahrt bestanden, ganz ausgezeichnet. Denn trotz dieser Fixigkeit kann man den Yankees im Schiffsbau keine Schundfabrikation nachsagen. Und nun war die ganze brasilianische Kriegsflotte, aus 48 Schiffen und Fahrzeugen bestehend, unterwegs, um die zwölf neuerbauten abzuholen, sie befanden sich sogar schon wieder auf dem Rückweg. Und hier in Para sollte der feierliche Empfang dieser ganzen brasilianischen Flotte durch den Präsidenten und die sonstigen ersten Würdenträger des Landes stattfinden, und das umso mehr, weil Para wahrscheinlich der neue und erste Kriegshafen dieser Flotte werden sollte, weil der neue Präsident das bisher total vernachlässigte Gebiet des Amazonenstromes für den Handel eröffnen wollte.

Wieder hatte der neue Präsident den Geist des einfachen Volkes zu treffen gewußt, indem er für seinen längeren Aufenthalt in Para mit seiner Familie nicht die Prunkzimmer des Regierungspalastes bezogen, sondern sich in das ziemlich schlichte Haus des Bürgermeisters, hier merkwürdigerweise Major domo, Hausmeister genannt, einquartiert hatte. Jene Prunkzimmer hatte er seinen Ministern und Generalen und dem sonstigen Gefolge überlassen.

Die Familie des Präsidenten saß beim Frühstück, das wir Mittagsmahl genannt hätten. Juan Lopez war ein Mann mittleren Alters, eine äußerst sympathische Erscheinung, sein Gesicht drückte ehensoviel Energie aus wie echte Herzensgüte und dasselbe konnte man von seiner noch so jugendlich aussehenden Gattin sagen, die ihm aber schon zwei Mädchen und drei Knaben geschenkt hatte, zwischen sechs und dreizehn Jahren, alle mit hier am Tisch versammelt, reizende Kinder.

Am Tische präsidierte der Bürgermeister als einfacher Hausherr. Es war ein echter Portugiese, nur darf man sich einen solchen nicht immer klein und dürr vorstellen, wie in der Kaffeetrommel geröstet. Auch König Karl I. von Portugal ist oder war gewiß ein echter Portugiese, aber der wog bekanntlich fast drei Zentner und sein Vollmondgesicht glänzte wie Milch und Blut, und dieser Major domo von Para hier sollte die größte Ähnlichkeit mit diesem damals noch nicht ermordeten König haben.

Jetzt räusperte er sich mächtig, wälzte sich vom Stuhle empor, erhob sein Glas und machte es kurz und bündig.

»Ich erhebe mein Glas auf das Wohl des zukünftigen Kaisers von Brasilien . . .«

Weiter kam er nicht, er wurde durch etwas unterbrochen, und das war sehr gut. Denn entweder mußte der biedere Bürgermeister, dessen Verstandesschärfe sonst so gerühmt wurde, heute früh schon tief ins Glas gesehen haben, noch vor diesem Frühstück, oder er war eben heute einmal ganz und gar von Gott verlassen, daß er hier den Präsidenten der Republik Brasilien als zukünftigen Kaiser hochleben ließ in Gegenwart von Dienern, dabei auch noch wie ein Ochse brüllend.

Noch lauter aber hatte ein Kanonenschuß ganz in der Nähe gebrüllt. Hatte gebrüllt, daß beinahe die klirrenden Fensterscheiben geplatzt wären.

Alles war aufgesprungen. Aber nicht etwa vor Schreck.

»Das Geschwader kommt!«

Nur der Major domo hatte sich gleich wieder gesetzt und legte sich eine neue Portion Ragout vor.

»Das ist gar nicht möglich,« erklärte er, »das muß erst San Movo passieren, von dort wird es telegraphisch gemeldet, und das würde nach dem Hafenadmiral erst ich erfahren, und außerdem stehen die Salutgeschütze auf der Kaibatterie und nicht in meinem Hause, ganz abgesehen davon, daß zum Empfang der Flotte 30 Salutschüsse gelöst werden und daß diesem ersten kein zweiter folgt.«

Nein, der folgte nicht, dafür aber trat alsbald der persönliche Adjutant des Präsidenten ein, machte seine Meldung ganz unbefangen, mehr in erzählendem Tone, wie er auch keine Stellung nahm.

»Auf dem Hofe ist versehentlich ein Böllerschuß gelöst worden, ein Kanonenschlag, nur ein Feuerwerkskörper. Ich bitte für den armen Sünder um Verzeihung. Es ist ein Hausknecht, der dadurch seiner Freude Ausdruck geben wollte, daß er Eurer Exzellenz, seinem geliebten Präsidenten, täglich die Stiefeln putzen darf. Aber ich habe auch noch eine andere Meldung zu machen. Ein ganz merkwürdiges Ereignis. Man kann den Kanonenschlag tatsächlich als Salutschuß für ein Schiff auffassen, das soeben in den Hafen läuft. Es ist die wohlbekannte »Argos«, das Gauklerschiff.«

»Das ist ja gar nicht möglich!« erklang es wiederum, jetzt aber vielstimmig im Chore. »Die Argos ist doch schon seit einem Jahre verschollen, hat irgendwo ihren Untergang gefunden!«

»Verschollen war sie wohl, aber von einem Untergange ist nichts bekannt geworden. Es ist die »Argos«, die soeben in den Hafen dampft. Das Schiff ist bekannt genug, und die Mannschaft eines anderen Schiffes müßte ja geradezu wahnsinnig geworden sein, daß sie diesen Namen auch signalisiert — Argos, Hamburg — und außerdem auch noch die Standarte der Freifrau von der See gehißt hat.«

»Das Gauklerschiff, das Gauklerschiff!« jubelten schon die fünf Kinder. »Papa, die müssen uns eine Vorstellung geben!«

Die Familie von Juan Lopez hatte damals, als die »Argos« in Rio de Janeiro gelegen, auf ihrer Plantage geweilt, und von dort war es doch zu weit gewesen.

Aber von dem Gauklerschiff hatten sie hinterher doch genug gehört, von den wunderbaren Vorstellungen und dem Siege der Argonauten im Wettrudern über alle Kriegsschiffe.

»Ob sie hier eine Vorstellung geben werden?« fragte auch die Frau Präsidentin ganz erregt.

»Ich werde anfragen lassen, und wenn nicht, dann werde ich sehen, was sich machen läßt!« entgegnete Papa Präsident und begab sich in das als sein Bureau eingerichtete Zimmer, wo ihn bereits einige Minister erwarteten.

Die Kinder mußten sich gedulden. Von diesem Hause aus war der Hafen nicht zu sehen, und daß sie nun gleich hinliefen, um das märchenhafte Schiff anzustaunen, das war nicht angängig, weil es eben die Kinder des Präsidenten dieses Landes waren.

Aber Juan Lopez hatte wie immer sein Wort gehalten, hatte noch vor der wichtigen Besprechung mit seinen Ministern einen Boten, das heißt eine uniformierte Ordonnanz, und zwar als Major uniformiert, nach dem Hafen und dem betreffenden Schiffe gesandt.

Und schon eine halbe Stunde später betrat das Haus des Bürgermeisters ein junger Mann.

Wir wollen gleich verraten, daß es Georg Stevenbrock war.

Aber nicht etwa als Kriegs— oder Postschiffsoffizier gekleidet, überall mit goldenen Borten und Klunkern besetzt, sondern in einem ganz schlichten blauen Anzug nach Seemannsschnitt, die an den Knien schon etwas abgeschabten Hosen so trichterförmig als möglich, das blaue Jackett über der mächtig breit gewordenen Brust nicht mehr zugehend, um den Hals statt des Kragens ein schneeweißes Seidentuch zu einem äußerst kunstvollen Schifferknoten geschlungen, darin eine Nadel mit einem Kapdiamanten, an einem rohen Goldklümpchen hängend, ein Schmuck, den er schon als Matrose getragen, über dem halb kaffeebraunen, halb ziegelroten Gesicht mit dem fast unsichtbaren, weil weißblonden Bärtchen den steifen Filzhut etwas in den Nacken gerückt, und nun natürlich, da er ja nichts zu tragen hatte, die Hände gentlemanlike in den Hosentaschen.

So baute er sich vor der Portiersloge auf.

»Stevenbrock, Kargokapitän und Waffenmeister von der Hamburger »Argos«.«

»Sie wünschen Seine Excellenz den Präsidenten zu sprechen?«

»Ich? Nee. Aber der wünscht mich zu sprechen.«

Das hatte er auf Spanisch gesagt, das wir hier aber doch nicht wiedergeben können. Jedenfalls wußte er auch auf Spanisch ganz diese Ausdrücke zu gebrauchen.

Er spazierte einige Male in der teppichbelegten Hausflur hin und her, spuckte seinen Kautabak auf die Straße, nahm einen neuen Prim »mang dee Kusen«, spazierte wieder hin und her. Bis er wieder vor der Portiersloge stehen blieb.

»Haben Sie mich gemeldet?«

»Nein.«

»Weshalb denn nicht?«

»Der Herr Präsident gibt jetzt seinen Ministern Audienz.«

»Na‚ aber nun ein bißchen holla! Der Herr Präsident hat unsere Patronin oder einen Stellvertreter zu sprechen gewünscht! Und der bin ich! Nun aber ein bischen fitsche-fitsche! Oder Ihr Sandsäcke glaubt wohl, wir kommen nach diesem Neste, damit ich hier eine Hausflur mit Schritten ausmessen soll, eh?«

Jetzt merkte der Portier, daß mit dem jungen Manne nicht gut Kirschenessen war, dessen Auftreten war überhaupt ganz dazu angetan, um auch den rabiatesten Menschen einzuschüchtern — er benutzte schleunigst das Telephon.

»Der Herr Kapitän werden von Seiner Exzellenz im Garten erwartet!« meldete er alsbald. »Bitte, hier hinten hinaus. Ich werde Sie führen.«

Eine Minute später stand Georg in einer Laube des herrlichen Gartens vor dem Präsidenten, vor dem Herrscher der Republik Brasilien. Womit doch gar nicht zu spaßen ist. Wenn aber der deutsche Seemann seinen Hut nicht abnahm, nicht einmal die Hände aus den Hosentaschen, so ist das auch nicht etwa als eine Unhöflichkeit zu betrachten. Das ist eben der deutsche Seemann. Der Bürger der freien Handelsstadt Hamburg behält auch in jedem Lokal den Hut auf dem Kopfe. Und als Cecil Rhodes vor dem deutschen Kaiser stand, behielt er auch die Hände in den Hosentaschen.

»Ich habe die Ehre, Herr Präsident!« sagte Georg dann sogar sehr höflich. »Stevenbrock ist mein Name, Kargokapitän der Hamburger »Argos« und Waffenmeister ihrer Mannschaft. Sie wünschten die Patronin des Schiffes, die Freifrau von der See Missis Helene Neubert zu sprechen. Diese ist leider am Kommen verhindert. Ich bin ihr Stellvertreter. Habe auch eine Beglaubigung bei mir, wenn Sie sie sehen wollen.«

»Aaah, der berühmte Waffenmeister der berühmten Argonauten, das freut mich, Sie persönlich kennen zu lernen!« strahlte der gediegene Mann tatsächlich im ganzen Gesicht, als er ihm die Hand hinhielt, und Georg nahm die seine aus der Tasche, um jene kräftig zu drücken.

»Ja, wo hat denn nur Ihr Schiff das ganze Jahr lang gesteckt?! Wo sind Sie immer gewesen?«

»Weit, o weit.«

Man ist nicht umsonst Jahre lang mit einer charakteristischen Person in engster Gemeinschaft zusammen, da braucht man sonst kein Affe zu sein, um sich Gewohnheiten des anderen anzueignen.

Auch Georg hatte, wie es Kapitän Martin mit Vorliebe tat, bei seiner Antwort für eine Geste das eine Bein zu Hilfe genommen, hatte es etwas nach Norden geschlenkert.

Der Präsident lächelte. Der war ja nicht umsonst Präsident eines Reiches geworden, das so groß wie ganz Europa ist.

»Aber sonst ist es Ihnen und dem ganzen Schiffe immer gut gegangen?«

»Fein — fein mit Ei.«

»Alles wohl an Bord?«

»Alles wohl för und achtern Mast.«

»Wie ist das Befinden der gnädigen Freifrau von der See?«

»Fein sein. Kann aber manchmal auch sehr ungnädig sein, hat manchmal den Teufel im Leibe.«

»Bitte nehmen Sie Platz, Herr Kapitän.«

Ein Diener hatte Erfrischungen gebracht, Georg langte zu.

»Werden Sie hier Vorstellungen geben?«

»Nee.«

»Weshalb denn nicht?«

»Weil wir nicht wollen. Die Anchovis sind gut.«

»Sie wollen überhaupt niemals wieder Vorstellungen geben?«

»O doch. Aber nicht hier in Para. Das heißt, Ausnahmen gibts immer. Wenn Sie, Herr Präsident, uns einmal gaukeln sehen wollen — jut, kann gemacht werden.«

»Herr Kapitän, Sie kommen mir wunderbar entgegen . . .«

»Da ist doch gar nichts Wunderbares dabei. Ich weiß doch ganz genau, weshalb Sie mich haben rufen lassen.«

»Herr Kapitän,« lachte jetzt der biedere Lopez aus vollem Halse, »ich wollte, ich würde mit meinen neuen Ministern ebenso schnell fertig wie mit Ihnen! Also Sie sind bereit, mir eine Vorstellung zu geben?«

»Well.«

»Und meinen Kindern, meiner Familie.«

»Na selbstverständlich.«

»Aber zu meiner Familie rechne ich mein ganzes Gefolge, das heißt alle meine mir treu ergebenen Begleiter, sogar meine Diener, — und das nicht nur so dem Namen nach.«

Georg hatte gerade nach einer Kaviarsemmel gegriffen, hielt in der Bewegung inne, blickte nach dem Sprecher, zog die Hand zurück, leckte einmal an den Fingerspitzen und klatschte dann jenem auf das weißbehoste Bein, daß es knallte.

»Schön gesprochen, Herr Präsident! Na selbstverständlich. Überhaupt bringen Sie nur mit, wen Sie wollen.«

Der Präsident lächelte — lächelte immer mehr.

»Sie sind doch Leutnant in der deutschen Marine, Herr Kapitän, wie ich gehört habe, nicht wahr?«

»Bin ich.«

»Ich hatte viel mit deutschen Offizieren verkehrt, aber . . . bei Ihnen werde ich immer an einen Hamburger Kapitän erinnert, mit dem ich einmal noch viel intimer verkehrt habe — in Hamburg!«

Wieder hatte der Sprecher dabei im ganzen Gesicht gelacht, und ein rascher Blick traf ihn.

»Hm,« brummte Georg, »ich weiß recht wohl, was Herr Präsident meinen. Jetzt bin ich aber kein Leutnant der Kriegs—Marine — da wäre ich nun freilich ein etwas anderer, das stimmt — jetzt bin ich Kapitän von einem deutschen Handelsschiffe überhaupt ein deutscher Seemann. Und es braucht nicht gerade ein Hamburger zu sein.«

Die beiden hatten sich verstanden, brauchten nichts weiter darüber zu sprechen.

Aber dieser portugiesisch—brasilianische Landesvater hatte recht. Mit so einem echten, rechten Hamburger Kapitän zu verkehren, mit ihm etwa eine Reise durch Hamburg zu machen — das ist einfach eine Wonne! Weshalb, das ist ja nicht so leicht zu sagen. Das muß man eben selbst erleben. Wie der überall auftritt, wie der überall empfangen wird, immer so ganz familär, in der gemeinsten Schifferspelunke wie im Spiegelsaal des vornehmsten Hotels, immer jovial und in seinem ihm heiligen Platt immer frisch von der Leber weg sprechend, immer gemütlich und immer Spektakel machend — man muß es erleben. Und eine gepichte Kehle muß man haben.

»Ich darf mitbringen, wen ich will?«

»Wen Sie wollen. Bringen Sie nur alle Ihre Minister und Generale und den ganzen Schwamm mit. Also auch Ihre Diener, und wer Ihnen sonst vertraut ist. Wenn Ihre Gattin Freundinnen hat — bringt se mit. Sonst natürlich . . . es soll eine intime Vorstellung sein.«

»Ich verstehe.«

»Natürlich kostet die ganze Geschichte nix . . .«

»O, das kann ich doch nicht annehmen.«

»Na!« wurde einfach in entsprechendem Tone gesagt.

»Danke verbindlichst,« verbeugte sich der Präsident.

»Da haben Sie mir gar nichts zu danken. Natürlich ist es die Patronin, die Sie einlädt, und wen Sie mitbringen, die sind auch ihre Gäste. Trotzdem muß ich immer »wir« und »uns« sagen, weil wir doch nicht etwa verpflichtet sind, den Gästen unserer Patronin was vorzugaukeln, wir bekommen doch auch nichts dafür bezahlt, nehmen auch nichts dafür geschenkt dann, und doch tun wirs so gern, wenns ihr Spaß macht. Ja, und wann?«

»Wann Sie bestimmen.«

»So fix als möglich. Wir wollten eigentlich in drei Stunden schon wieder abdampfen, haben nur einige Kleinigkeiten einzunehmen.«

»Ja, dann gleich jetzt während der Siestazeit.«

»Recht so! Können Sie in einer halben Stunde mit Ihrer Gesellschaft an Bord sein?«

»Jawohl, das ist möglich, es bedarf nur einer telephonischen Bestellung.«

»Gut, dann lasse ich sofort die Vorbereitungen treffen, wir erwarten Sie in einer halben Stunde an Bord. Mehr als tausend bringen Sie doch nicht mit. Mehr haben nämlich in der Batterie nicht Platz. Also törn tau.«

Georg erhob sich, griff aber erst noch einmal nach der Schüssel mit den belegten Brötchen.

»Warten Sie mal, so'n Rundstück will ich mir doch erst noch zu Gemüte führen. Was ist denn das für ein Zeug drauf? Schmeckt ganz delikat.«

»Es wird eine gewürzte Fischpaste sein!« lächelte Lopez, so wie auch der ernste Price O'Fire bei der Unterhaltung mit diesem jungen Seemanne so oft gelächelt hatte.

»Nee, Fischpaste ist das nicht. Das ist irgend ein Käse mit einem ganz merkwürdigen Gewürz, schmeckt wunderbar.«

»Ich werde den Koch fragen lassen.«

Der Diener war gerade zur Stelle, er lief, kam gleich wieder zurück.

»Der Koch bedauert, das wäre sein Geheimnis, das er nicht verrät.«

»Dann soll sich dieser edle Koch samt seinem Käse begraben lassen. Sie erlauben wohl, daß ich so ein Brötchen mitnehme — oder gleich zwei, wegens Zusammenklappen. Unser Doktor Isidor braucht nur seine krumme Nase hineinzustecken, unser chinesischer Koch nur einmal zu kosten, dann ist das Geheimnis heraus.«

Georg zog aus der Brusttasche ein zweites weißseidenes Halstuch, zur Reserve mitgenommen, wickelte die beiden zusammengeklappten Brötchen hinein, hielt dem Präsidenten die Hand hin.

»Na da adjüs, Herr Präsident. Also in einer halben Stunde können Sie mit Ihrer ganzen Gesellschaft kommen.«

Der Präsident, ihn bis zur hinteren Haustür begleitend, blickte ihm nach und sah noch, wie Georg dem Portier ein Goldstück zuwarf.

»Ich wollte,« murmelte er, »alle meine Minister und Sekretäre wären so, dann würde ich eher mit ihnen fertig!«

Eine halbe Stunde später traf die Gesellschaft am Kai sein, wo die »Argos« vertaut lag. Fast 200 Menschen, Männer und Frauen und Kinder bunt durcheinander gemischt. Oder vielmehr Herren und Damen. Eine ganz glänzende Gesellschaft! Wenn auch viele der Herren wie der Präsident Zivil trugen. Dafür andere goldstrotzende Uniformen in Menge, und die brasilianischen Damen halten auf Pariser Toiletten. Auch einige von Geburt schwarze und braune Gesichter gab es; Neger und Mulatten. Gerade der kommandierende Divisionsgeneral der Nordprovinzen, Manuelo Ladessa, war ein Vollblutafrikaner mit kohlschwarzer Visage, ein riesenhafter Kerl mit herkulischen Schultern, hatte dabei ein ganz kleines Frauchen mit schneeweißer Haut, und die Eltern des Kultusministers waren noch als menschliche Affen, nur bei Festlichkeiten mit dem Lendenschurz bekleidet, im Urwald auf den Bäumen herumgeklettert, ihr Herr Sohn aber, der kleine Indianerbengel, war von einem Missionar eingefangen worden und hatte dann auf verschiedenen europäischen Universitäten studiert.

Georg Stevenbrock, noch ganz derselbe, empfing sie auf der Laufbrücke.

»Meine Herrschaften, ich heiße Sie als unsere Gäste herzlichst willkommen. Die Freifrau von der See läßt sich entschuldigen. Dort oben auf der Kommandobrücke steht der nautische Kapitän, und der bleibt dort oben stehen. Eine andere Vorstellung gibt es nicht. Oder nur insofern, als Ihnen jetzt unsere Jungens, die neuen Argonauten, etwas vormimen werden. Also herein spaziert in die Batterie! Die Kinder brauchen nicht nach vorn, alle Plätze sind gleich gut. Nur die Kurzsichtigen und Schwerhörigen können sich mehr nach vorn setzen. Obgleich wir Spektakel genug machen werden. Und wer was zu essen oder zu trinken haben will, der braucht nur zu piepen. Alles gratis, Trinkgelder werden nicht angenommen, alles Schmeißen mit Goldklumpen und faulen Eiern und dergleichen, ist strikte verboten. Also nur rein, meine Herrschaften, immer rein, immer rrein, immer rrrrrein . . .«

Es wurde schon genug gelacht, als sie in den breiten Eingang strömten und dann auf einer Treppe zum Zwischendeck hinab.

Solch einen Empfang waren diese Herrschaften nun freilich nicht gewöhnt, sie kamen überhaupt plötzlich wie in eine andere Welt, aber das wars ja gerade!

»Immer rrrein, immer rrrein, immer . . . bitte, Herr Präsident, ein Wort mit Ihnen erst, ich will Ihnen etwas Besonderes zeigen.«

Mit diesen Worten hatte Georg seine Einladung unterbrochen und den Präsidenten angehalten.

»Bitte, ich stehe zu Diensten.«

»Wollen Sie mir folgen.«

Georg führte ihn über das Deck nach dem Kabineneingang, ebenfalls eine Treppe hinab, sie betraten eine Kabine, die nichts weiter als die üblichen zwei Kojen und einen Waschtisch enthielt.

Georg hatte die Tür hinter sich geschlossen, wandte sich um.

»Herr Präsident, Sie sind mein Gefangener.«

In diesem Augenblick machte der Herr Präsident, der sonst sehr geistreiche Züge hatte, ein etwas dummes Gesicht, und das läßt sich begreifen.

»Ihr — Ihr . . . was? Was sagten Sie da?«

»Sie und Ihre Familie und alle Ihre Begleiter sind unseres Gefangenen! Lassen Sie ruhig mit sich sprechen . . . bitte keinen Widerstand . . .«

Es war kein dummes Gesicht mehr, als jetzt der Präsident eine blitzschnelle Bewegung machte, die mit der Hand jedenfalls in einer Tasche enden sollte, bei einer Waffe.

Aber wenn man überhaupt schneller als der Blitz sein kann, so war es der Waffenmeister der Argonauten.

Noch ehe die Hand ihr Ziel erreicht, hatte Georg gleich beide Handgelenke des Präsidenten gepackt.

»Bitte, Herr Präsident, keinen Widerstand, bitte nicht!«

Trotzdem er zugepackt hatte, daß sich der Brasilianer krümmte, also wohl vor Schmerz, hatte er es im bittendsten Tone gesagt.

»Bitte, keinen Widerstand, bitte nicht! Er nützt Ihnen nichts, ich bin Ihnen über, und es hat auch keinen Zweck, daß Sie schreien, wir sind schon unterwegs!«

»Verrat, Verrat, wir werden entführt,« schrie Lopez dennoch, noch immer sich zwischen den beiden Schraubstöcken wie ein Wurm krümmend, mit seinem Gegner ringend. Freilich ganz einseitig. Es waren eben einfach zwei eiserne Schraubstöcke, die ihn festhielten.

Lopez hatte einen Blick durch das Bollauge geworfen und sofort gemerkt, daß sich das Schiff drehte, also abgetaut worden war und das Ufer verließ.

»Ja, Sie werden entführt, denn . . .«

»Mann, was wollen Sie denn nur, sind Sie denn wahnsinnig?!«

»Nein, das bin ich nicht, so lassen Sie sich doch nur ruhig erklären . . .«

Da donnerte ein Kanonenschuß, ein zweiter, ein dritter — immer mehr.

»Die Kriegsflotte — das Geschwader kommt!«

Ja, da kam es!

Wie jetzt das Schiff lag und noch einige Zeit liegen blieb, konnte man durch das Bollauge gerade die große Insel sehen, welche dem Hafen von Para vorgelagert ist, und hinter dieser Insel rauschte es majestätisch hervor —— ein dreigedecktes, gepanzertes Linienschiff, also ein Schlachtschiff erster Klasse — im Kielwasser folgend ein zweites, dann ein drittes — dann drei kleinere Panzer, sogenannte Küstenpanzer, aber immer noch ganz mächtige Dinger — dann sieben Panzerkanonenboote — dann neun Kreuzer von zusammen 22 000 Tonnen dann elf Kanonenboote zweiter Klasse, — dann fünfzehn große Torpedoboote, von denen sechs als Torpedobootsjäger zu gebrauchen — dann sieben Torpedoboote zweiter Klasse — dann acht zweigedeckte Schulschiffe — und schließlich noch sechs armierte Raddampfer.

Das ist die ganze brasilianische Kriegsflotte, wie sie damals war und wie sie noch heute ist. Nur ein Schlachtschiff ist unterdessen verloren gegangen.

Es klingt großartiger, als es in Wirklichkeit ist.

Wenn die italienische oder die französische oder die deutsche oder gar die englische Kriegsflotte so wie hier in ihrer Gesamtheit aufmarschiert, da bekommt man ja nun freilich ein bißchen was anderes zu sehen! Wenn der brasilianische Großadmiral so etwas noch nicht gesehen hätte, da würde auch der, mit Respekt zu sagen, Maul und Nase aufsperren. Während ein deutscher oder englischer Matrose nach dieser brasilianischen Kriegsflotte gar nicht hinblickt, mit Absicht nicht, ihr den Rücken zukehrt, um ihr eben seine Verachtung auszudrücken.

Doch immerhin, es war ein imposanter, ein grandioser Anblick, wie diese sechzig Kriegsschiffe jetzt hinter der Insel hervorgerauscht kamen, daß sie hintereinander fahren, war nur eine perspektivische Täuschung, denn jetzt nur eine kleine Schwenkung und sie bildeten plötzlich eine Frontreihe, und da gab das erste Linienschiff, das Flaggschiff mit der Standarte des Großadmirals den ersten Salut ab, wieder eine kleine Schwenkung, und mit furchtbarem Krachen und lang nachrollendem Donner feuerte jedes Zweideckschiff eine ganze Breitseite ab, und dann wieder eine Schwenkung, jetzt erst ordneten sich die sechzig Schiffe mit ganz vorzüglichem Manöver hintereinander und so nahmen sie Kurs auf den Hafen zu.

Dies alles hatte sich in noch nicht fünf Minuten abgespielt, und so lange hatten die beiden unverwandt durch das Bollauge geblickt, alles beobachtend, der Präsident freilich dabei immer von den beiden Schraubstöcken festgehalten.

»Die Kriegsflotte — unser Geschwader!« schrie dieser jetzt nochmals.

Dann wieder ein vergebliches Ringen mit dem menschlichen Schraubstock.

»Mann, Mann, sind Sie denn wahnsinnig, was haben Sie denn nur mit mir vor?«

»Präsident Juan Lopez! Ergeben Sie sich in ihr Schicksal! Das ganze Geschwader dort, die ganze brasilianische Kriegsflotte, sie hat gemeutert! Großadmiral Macedo Almeida hat sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!«

Ende des Vierten Teils