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Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.

   

Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.

Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.

Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.

 

Inhaltsverzeichnis


78. KAPITEL. DER HAUPTMANN VON BATAVIA.
79. KAPITEL. IN DER BATTERIE UND AN LAND.
80. KAPITEL. DER KLOPFENDE TISCH.
81. KAPITEL. IN PETERSBURG.
82. KAPITEL. AUF DEM EISE DES JENISSEI.
83. KAPITEL. IM REICHE DER OBIS.
84. KAPITEL. AM MERLINSEE.
85. KAPITEL. VON SIBIRIEN NACH TEXAS.
86. KAPITEL. ABENTEUER AUF DEM RÜCKWEGE.
87. KAPITEL. NEUE ENTDECKUNGEN.
88. KAPITEL. STATUEN, DIE LEBENDIG WERDEN.
89. KAPITEL. DAS SCHIFF KOMMT.
90. Kapitel. DAS SCHLOß DER ENTSAGUNG.
91. Kapitel. »DA STAUNT DER LAIE . . . «
92. KAPITEL. SPUK!
93. KAPITEL. EIN ALTER BEKANNTER.
94. KAPITEL. EIN BÖSER ANFANG UND EIN GUTES ENDE.

Fünfter Teil

78. KAPITEL.
DER HAUPTMANN VON BATAVIA.

Wir müssen nun eine neue Hauptperson einführen, deren frühere Schicksale wir in eine besondere Erzählung kleiden wollen, und versetzen uns dazu in eine Gegend Mitteldeutschlands. Auf einem der Hügel, welche das Tal in weitem Kreise umschlossen, stand ein Wandersmann und blickte auf das zu seinen Füßen liegende Städtchen hinab. Hinter den letzten Häusern erhob sich ein größeres, rotes Gebäude, auf dem freien Platze exerzierten Soldaten, dann kamen gleich Felder und Wiesen, die, da in dem Tale weitere Gehöfte fehlten, alle zu dem schloßähnlichen Herrenhaus gehören mußten, das sich im Hintergrunde auf einer bewaldeten Anhöhe erhob.

»Alles noch so! Nur Militär hat es noch bekommen, Infanterie, wohl ein Bataillon. Das wäre ja ausgezeichnet, wenn ich . . .«

»Zeigen Sie mir doch mal Ihre Papiere.«

Ein Gendarm wars, ein alter Wachtmeister mit weißem Schnauzbart, der sich lautlos über das weiche Moos ihm genähert hatte.

Seine Neugier war auch berechtigt. Der Wandersmann mochte ja erst 30 Jahre zählen, das ist aber für einen Handwerksburschen mit Felleisen und Knotenstock schon ein verdächtiges Alter, und nun war auch sein Aussehen durchaus kein vertrauenerweckendes. Der Anzug vor Staub gar nicht zu erkennen, die Stiefeln ohne Hacken, die Krempe des alten Strohhutes nur noch aus einzelnen Halmen bestehend, und darunter ein dunkelgebräuntes, verwettertes und verwittertes Gesicht, von einem wildwuchernden blonden Vollbarte umrahmt, von zwei furchtbaren Narben durchzogen.

Lächelnd blickte dieses Gesicht, in dem die blauen Augen lustig blitzten, den alten Gendarm an.

»Sie leben auch noch, Herr Wachtmeister Schulze. Das freut mich.«

»Ach was, keine Vertraulichkeiten hier, ob Sie mich kennen oder nicht. Ich kenne Sie nicht. Zeigen Sie mir mal Ihre Legitimationspapiere.«

»Solche, wie Sie wünschen, habe ich nicht.«

»Aha! Wie heißen Sie?«

»Artur Hennig.«

»Was sind Sie?«

»Walfischjäger. Haben Sie keine Beschäftigung für mich? Im Sommer schippe ich auch gern Schnee.«

»Warte, alter Freund! Wo sind Sie gebürtig?«

»Von dort unten.«

Der Gendarm stutzte.

»Sie sind aus Beheim?!«

»Ja. Eigentlich geboren bin ich dort im Schlosse.«

»Und Artur Hennig heißen Sie? Herr Gott, da sind Sie doch nicht etwa . . . «

Der Wandersmann nickte.

»Der werde ich wohl sein. Der Erbe von jenem Rittergute — gewesen.«

Der Gendarm machte eine Bewegung, als wolle er die Hände überm Kopfe zusammenschlagen.

»Artur Hennig! Ja, jetzt erkenne ich Sie wieder, so furchtbar Sie sich auch verändert haben. Mein Gott, so weit mußte es kommen!«

Er wollte ganz wehmütig werden, wie er den vor ihm Stehenden betrachtete, raffte sich auf, wurde wieder dienstlich.

»Wo kommen Sie her?«

»Von Amerika, von Neuyork.«

»Zu Fuß?«

»Nein, mit 'n Schiffe. Das heißt, von Bremen an bin ich zu Fuß gelaufen, das stimmt.«

»Haben Sie denn gar kein Geld?«

»Plenty.«

»Sprechen Sie deutsch.«

»Geld haufenweise.«

»Warum sind Sie denn zu Fuß gelaufen?«

»Weils mir Spaß macht.«

»Gewöhnen Sie sich doch diesen Spott ab, da werden Sie nicht weit kommen!« sagte der martialische Wachtmeister in fast bittendem Tone. Vor elf Jahren noch hatte dieser jetzige Landstreicher für ihn manchen Schoppen bezahlt, manches »Bäffschteck«, hatte ihm die Zigarren händevoll in die Taschen gesteckt, das Stück nicht unter 8 Pfennig. Das war ihm jetzt höchst fatal.

»Macht denn das Marschieren keinen Spaß?«

»Dann werden Sie jetzt genug solchen Spaß bekommen.«

»Jawohl, ich weiß was Sie meinen.«

»Sie sind als fahnenflüchtig registriert.«

»Als fahnenflüchtig? O nein, das bin ich nicht.«

»Sie haben sich Ihrer Dienstpflicht entzog en.«

»Das ist etwas ganz anderes. Bisher. Ich komme eben aus Amerika, um meiner Militärpflicht zu genügen.«

»Das ist etwas spät.«

»Oder zu früh. Ich hätte noch zehn Jahre warten müssen.«

»Sie werden sofort als unsicherer Heerespflichtiger eingezogen.«

»Deshalb komme ich ja eben her. Herr Wachtmeister, Sie können doch etwas dazu tun, daß ich hier in Beheim ankomme.«

»Das geht mich nichts an. Haben Sie sich schon in Bremen oder sonstwo gemeldet?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Nu, weil man mich dann sofort festgenommen und in die nächste Kaserne gesteckt hätte.«

»Sie hätten sich aber sofort beim Betreten des deutschen Bodens beim nächsten Bezirkskommando melden müssen. Da Sie das unterlassen haben, werden Sie nun sofort hier eingestellt.«

»Na ja, das will ich doch.«

»Kommen Sie mit.«

Sie schritten den Weg nach der Stadt hinab.

Der alte Gendarm dachte und sann über die Veränderlichkeit des Schicksals.

Auch er war hier geboren, war natürlich nicht von Kindesbeinen an hier Gendarm gewesen, hatte aber mit seiner Heimatstadt immer die engste Fühlung gehabt, hatte in der nächsten Garnison gedient, bis zum Feldwebel und als solcher noch gar lange, nun war er doch schon wieder 14 Jahre hier Gendarm. Er kannte alles, alles.

Schon der Urgroßvater dieses jetzigen Landstreichers hier war der reichste Bauer im ganzen Kreise gewesen, der Großvater hatte vollends alles unter seinem Zepter, unter seiner Mistgabel vereinigt, der Vater, Hermann Hennig, noch das Rittergut dazu erworben, das renovierte Schloß zu seiner Residenz machend.

Es war ein mächtiger Mensch gewesen! Ein feiner Mann, ein generöser Mann, der lebte und andere leben ließe. Und dabei der tüchtigste Landwirt, im Sommer vom ersten bis zum letzten Sonnenstrahl im Sattel, auf den Feldern, abgesprungen und mit einem Scherzwort selbst sich mit in die Räder gestemmt, wenn der schwere Wagen im Moraste stecken blieb, und es brauchte nicht sein eigener Wagen zu sein, einmal war es auch der von dem schlimmen Neidhart gewesen, dem Prozeßhansel, der ihn wegen jeder Kleinigkeit verklagte.

Und er hatte eine nicht minder prächtige Frau, eine Uradlige, eine hochgebildete Dame, die hatte ebenfalls viel Geld mitgebracht — und sie hatte doch wie eine echte Bäuerin aus der alten Zeit das Brot für den Hausbedarf stets selbst gebacken, den Teig selbst angerührt und gewirkt, hatte früh dem Briefträger das Butterbrot stets selbst geschmiert und belegt, dem aus dem Rittergut vorsprechenden Gendarmen manches Schnäpschen eigenhändig eingeschenkt.

Und der Artur hier, das einzige Kind, das war auch so ein mächtiger Junge geworden. Wie hätte es denn auch anders kommen sollen. Andere Eltern in solchen Verhältnissen hätten doch aus ihm sicher einen Offizier gemacht. Zumal da die ganze männliche Verwandtschaft der Mutter des Kaisers Rock trug, die Offiziere aus der nahen Residenz fortwährend in dem gastfreien Schlosse lagen. Das Rittergut konnte er später doch immer noch übernehmen.

Aber der Junge hatte so schnell als möglich die Schulbank verlassen und praktischer Landwirt werden wollen. Die Eltern waren freudig damit einverstanden gewesen. Auf der Realschule sein Einjähriges gemacht und nun ganz zum Vater gekommen. Zu lernen brauchte Artur ja nichts mehr. Der hatte schon als achtjähriger Knirps den schwankendsten Heuwagen durch die schwierigste Passage gelenkt. Was Ökonomie und Agrikultur studieren! Das hatte der alles schon mit der Muttermilch eingesogen. Dann im faulen Winter wurden große Reisen gemacht, da lernte der Junge Land und Leute kennen, bekam Weltschliff. Bis nach Ägypten und Palästina waren sie gekommen, obgleich es damals noch gar nicht solche Gesellschaftsreisen gab.

Da war das Unglück über sie hereingebrochen. Schlag auf Schlag war es gegangen. Der totale Zusammenbruch eines Bankhauses — alles bare Geld futsch. Eine uralte Hypothek fällig, die einzige, aber auch sehr hohe, bisher unkündbar gewesen. Bürgschaft für einen Verwandten geleistet, der eine riesige Zuckerfabrik baut, eine Kleinigkeit für den reichen Hennig — jetzt begräbt die zusammenstürzende Fabrik ihn unter ihren Trümmern. Das Geld so teuer, daß eine zweite Hypothek nicht unter sechs Prozent zu haben ist. Der Inspektor hat die Hagelversicherung zu erneuern vergessen — und die ganze Ernte hagelt zusammen. Eine Viehseuche. Und so fort.

Zwei Jahre hatte er noch gewürgt, hatte gekämpft, wie nur ein ganzer Mann kämpfen kann. Dann war er plötzlich verschwunden gewesen. Hatte vorher noch zu Gelde gemacht, was noch zu Gelde zu machen war. Ganz korrekt war er ja dabei nicht gewesen. Aber der rechtschaffenste Mann in Beheim, dessen Gewissen ein rohes Ei war, sagte, daß er an Hennigs Stelle noch etwas ganz anderes getan hätte. Die Geschädigten waren nur Wucherer, Halsabschneider.

Den achtzehnjährigen Artur hatte er mitgenommen. Eine Abmeldung hatte es natürlich nicht gegeben. Bis nach Holland konnten die Gläubiger die Spur verfolgen. Dann verschwand sie für immer. Man hatte niemals wieder von den beiden gehört.

Und jetzt nach elf Jahren taucht dieser Artur Hennig, seinerzeit gewissermaßen der Kronprinz von Tal und Stadt Beheim, hier wieder auf, als Landstreicher! Denn ganz abgesehen von verstaubtem Anzug und durchlöcherten Strohhut und hackenlosen Stiefeln — wer gar keine Ausweispapiere hat, das ist ein Landstreicher — besonders für einen Gendarmen.

»Wie gings denn?« brach der alte Waschtmeister das Schweigen.

»Schwer gewürgt, aber immer fidel dabei geblieben.«

»Der Vater?«

»Der ist gleich damals noch auf der Reise im Hospital zu Amsterdam gestorben. Bekam auf der Straße einen Lungenschlag.«

»Ach jeh!«

»Na‚ er hatte einen ganz leichten Tod, ging ganz fröhlich von hinnen. Um mich hatte er keine Sorge, das war ihm wohl die Hauptsache.«

»Na und Sie?«

»Ich ließ mich in der holländischen Fremdenlegion anwerben, ging nach Java.«

»Ach herrjeh!«

Der Wachtmeister hatte einen Bekannten gehabt, der war auch holländischer Fremdenlegionär gewesen. Des konnte etwas erzählen, wies dort zuging! Schon dieser Transport!

»Auch gegen die Chinesen mitgemacht?«

Er meinte die ständig im Aufruhr liegenden Atschinesen, ein kriegerischer Malaienstamm auf Sumatra.

»Aber feste!«

»Daher wohl die Narben im Gesicht.«

»Habe lange daran gelegen.«

»Ja, ich weiß die langen Krise, wie die Dingen heißen, flammenähnliche Schwerter, und mit vergifteten Pfeilen schießt die Bande. Auch einen abbekommen?«

»Davon bin ich glücklicherweise verschont geblieben.«

»Wie lange sind Sie denn dabei gewesen?«

»Auf sechs Jahre muß man sich verpflichten. Die habe ich durchgemacht.«

»Es zu etwas gebracht?«

»So weit man es dort zu etwas bringen kann«

»Unteroffizier geworden?«

»Ja, der bin ich gewesen.«

»Da haben Sie noch Glück gehabt.«

»Ja, das hatte ich auch.«

»Denn dort gehts ja genau so zu wie in der französischen Fremdenlegion, noch schlimmer. Fremde haben gar keine Chancen, am wenigsten Deutsche. Ich weiß alles. Als wäre ich selber drüben gewesen. Na und dann, als Sie entlassen wurden?«

»Da ging ich nach Amerika.«

»Gearbeitet?«

»Aber festel«

»In der Ökonomie?«

»Nein, im Tran — Walfischtran.«

»Sie sind doch nicht wirklich auf einem Walfischjäger gewesen?«

»Nein. In einer Fabrik, einer Raffinerie. In San Franzisko.«

»Ich dachte schon, auf so einem Schiffe. Das soll ja ein Hundeleben sein. Ich weiß, alles. Geld verdient?«

»O ja, ganz hübsch.«

»Auch was mitgebracht?«

»Na,‚ ein paar hundert Dollars sind.«

»Haben Sie die mit?«

»Sogar einstecken.«

»Und da laufen Sie zu Fuß her?«

»Warum denn nur nicht, wenns mir Vergnügen macht.«

»Doch nicht etwas auf dem Kerbholz?«

»Gar nichts.«

»Auch nicht von da drüben?«

»Absolut nicht. Unschuldig wie ein neugeborenes Kind.«

»Hören Sie, falls Sie hier eingestellt werden, weil Sie Geld haben — ich will Ihnen einen guten Rat geben. Der Major Grüttner ist ein patenter Mensch, ist wie ein Vater zu seinen Leuten. Aber wehe dem Unteroffizier, der von einem Soldaten auch nur eine Zigarre annimmt! Der fliegt! Wenigstens wenns zum zweiten Male vorkommt. Da kann der Major zum spionierenden Horcher werden. Und wenn ein Soldat dem Unteroffizier zum zweiten Male etwas anbietet, nur eine Zigarre, das gilt als Bestechungsversuch! Da gibts beim Major Grüttner kein Erbarmen.«

»Schade. Gerade deshalb hatte ich mir das Geld gleich eingesteckt, dachte . . . «

»Um Gottes willen nicht! Sie werden gleich von oben herab aufs Korn genommen, haben dann nichts mehr zu lachen. Lassen Sie sich von dem Gelde lieber gar nichts merken.«

»Gut. Ich werde Ihren Rat befolgen. Sie wissen doch, daß ich mein Einjährigen—Zeugnis habe.«

»Na‚ das ist natürlich hops. Sie müssen volle zwei Jahre dienen, und die sogar erst vom Oktober an gerechnet. Das ist jetzt als anders geworden. Aber eigentlich viel besser. Einmal sind doch überhaupt nur noch zwei Jahre, und dann ist der unsichere Kantonist jetzt ganz gleichberechtigt. Es wird ihm gar nichts weiter mehr nachgetragen. Er kann ebensogut wie jeder andere Offiziersbursche werden.«

»Zu dieser Ehrenstellung hätte ich ja nun weniger Lust!« lachte Artur.

»Ich meine nur so. Früher gabs ja so etwas nicht beim unsicheren Kantonisten. Der mußte seine drei Jahre in der Front abmachen, kam mit keinem Tritt heraus, erhielt keinen Urlaub und gar nichts. Heute ist der einzige Unterschied der, daß er sofort eingestellt wird und daß man die Zeit bis zum nächsten Einstellungstermin nicht mitzählt. Sonst ganz gleiche Rechte. Er wird Gefreiter, kann als Unteroffizier entlassen werden.«

»Ich kann doch ein Gesuch einreichen.«

»Sagen Sie lieber: den Gnadenweg betreten. Können tun Sies, aber Hoffnung machen dürfen Sie sich nicht die geringste. Haben Sie sich denn wenigstens in Amerika jetzt als Stellungspflichtiger beim deutschen Konsulat gemeldet?«

»Nein.«

»Na da! Dann brauchen Sie gar kein Gesuch erst aufzusetzen, das wird gar nicht befördert. Und jetzt habe ich Sie aufgegriffen, ich würde Sie nicht wieder laufen lassen, daß Sie sich noch jetzt melden könnten. Nicht für eine Million. Das ginge gegen meinen Diensteid.«

»Nein, nein, ich komme ruhig mit, ich mache geduldig meine zwei Jahre ab!« wurde sorglos gelacht. »Wie ists denn mit dem Rittergute immer gegangen?«

»Ach — fortwährend aus einer Hand in die andere. Keiner hat darauf bestehen können. Aber jetzt scheint das anders zu werden. Erst kürzlich hats eine Engländerin gekauft, eine Lady Bristol, eine Adlige. Die hat gleich alle Hypotheken gekündigt.«

»Eine Engländerin?! Wie kommt denn die hierher?«

»Nun, wir haben schon manche feine Engländer und Amerikaner und Russen gehabt. Beheim ist doch jetzt Kurbad, ei ja! Wenn auch niemand weiß, was an dem Wasser eigentlich dran ist. Seitdem wir das Militär bekommen haben, ist Beheim Kurbad. Wir haben ein Kurhotel, eine Kurkapelle, eine Kurtaxe und alles. Ja, die Lady Bristol ist schon vor zwei Jahren einmal hier gewesen, hat ein paar Wochen im Kurhotel gewohnt. Es war ja eine feine Dame, und ein hübsches Weib dazu, ich hab sie ein paarmal gesprochen — aber daß die so viel Geld hätte, das hat niemand geahnt. Trat so einfach auf, keine Zofe und gar nichts. Und jetzt bringt sie aus England ihre eigene Dienerschaft mit, mehr als zwanzig Personen, und ihren eigenen Marstall, wieder mit einem Dutzend Kutschen und Reitknechten. Sie hat es nur auf das Schloß abgesehen. Der bisherige Besitzer betreibt die Ökonomie noch als Pächter, solls zu einem Spottpreis bekommen haben. Der ist ja glücklich! Na‚ das wird ja hier »a Hatz« geben.«

»Was für a Hatz?«

»Die ist noch ledig. Und ein pompöses Weib. Und nun hier unsere jungen Off . . . , das geht mich nichts an. — Was wollen Sie denn nun machen, wenn Sie die zwei Jahre hinter sich haben?«

»Das weiß ich noch nicht. Vorläufig bin ich glücklich, meine Heimat wieder zu sehen, in ihr wieder leben zu können — und wenns auch nur als Gemeener ist.«

»Jaja, die Heimat! Die hat schon manchen aus Amerika wieder zurückgetrieben, obgleich ihn ein ganz anderes Haus erwartete als die Kaserne. — Sind Sie verheiratet?«

»Nein.«

»Das machen Sie recht. Das kommt immer noch früh genug.«

Der Herr Wachtmeister schien recht schlechte Erfahrungen mit dem Heiraten gemacht zu haben.

Sie hatten das Städtchen erreicht.


Der unsichere Kantonist war noch an demselben Tage ärztlich untersucht, für tauglich befunden, eingestellt und eingekleidet worden, am anderen Morgen ging es schon los. Er wurde einzeln ausgebildet, ganz allein von einem Unteroffizier. Das ist manchmal sehr nett — manchmal auch nicht. Bei Artur war es nicht nett.

Der Unteroffizier hatte bisher einen bequemen Kammerdienst gehabt, wegen dieses unsicheren Kantonisten mußte er jetzt den ganzen Tag auf dem sonnendurchglühten Kasernenhof stehen.

Dem neuen Rekruten konnte ja nicht viel vorgemacht werden. Nur einige Griffe brauchte er zu ändern. Schon am Nachmittag desselben Tages hätte er als tadellos ausgebildet vorgestellt werden können. Aber das wäre reglementswidrig gewesen. Und der Unteroffizier dachte an seine kühle Kammer, wo er jetzt so schön auf den Mänteln hätte schlummern können.

»Schlapp! Schlapp! Sie denken wohl, Sie sind noch bei den Chinesen und haben einen Unterrock an, schießen mit Fitschepfeilen?«

Am anderen Tage, als der Unteroffizier gegen dieses Wunder von einem Rekruten etwas milder werden wollte, wurde er aufs Kompaniebureau gerufen. Dort hauchte ihn der Hauptmann ganz eklig an. Der Herr Major hatte aus dem Fenster gesehen, wie sich der exerzierende Unteroffizier dort unten ein Stück Prim abgebissen hatte.

»Und Sie wollen den Leuten mit gutem Beispiel vorangehen? Schämen Sie sich was! Das nächste Mal sperre ich Sie ein.«

Na‚ an diesem Prim des Herrn Unteroffiziers bekam der Rekrut nachträglich ja noch tüchtig zu kauen. Er wurde mit ihm während der ganzen Einzelausbildung nicht fertig.

Aus der Stube hatte er auch nichts zu lachen. Er war in eine Korporalschaft gekommen, die nur aus Polacken bestand, denen man hier erst mit unsäglicher Mühe den Unterschied zwischen links und rechts beigebracht hatte.

Der Einzelrekrut hatte andere Pausen als die schon ausgebildeten Leute. Einmal hatte der Korporalschaftsführer, ein Unteroffizier, Nachtdienst gehabt, war eben erst aufgestanden, als sich Artur zum Frühstück allein auf der Stube befand.

»Hier, Hennig, wichsen Sie mir mal schnell meine Stiefeln.«

Der Rekrut richtete sich stramm auf und nahm die Hände nicht von der Hosennaht, um nach den dargebotenen Stiefeln zu greifen.

»Das habe ich nicht nötig, Herr Unteroffizier.«

»Aha! So! Das haben Sie nicht nötig! Nein, da haben Sie recht, das haben Sie wirklich nicht nötig. Ich bitte Sie höflichst um Entschuldigung, Herr Hennig.«

Ehe der Unteroffizier seine Stiefeln selber putzen mußte, kamen die Polacken und stritten sich um die Ehre, sie ihm ablecken zu dürfen.

Armer Rekrut! Nicht etwa, daß ihm auch nur versehentlich einmal auf die Hühneraugen getreten wurde. Keine Kniebeuge und dergleichen. So etwas gabs hier nicht! Aber seine eigenen Stiefeln mußte er jetzt wichsen, immer und immer wieder. Sie waren einfach noch nicht blank genug. Wenn die anderen ihre Freizeit hatten, mußte Artur wichsen, immer wichsen, wichsen. Und die Stiefeln dazwischen wieder einmal einschmieren und dann abermals blank wichsen, wichsen, wichsen. Und dagegen war absolut nichts zu machen.

Die Einzelausbildung war beendet, Artur wurde der Korporalschaft eingereiht. Die Polacken mußten regelmäßig nachexerzieren, bekamen keinen Urlaub, durften überhaupt nicht ausgehen, hatten auch Sonntags nachmittags Stubenarrest, und Artur gehörte mit zu ihnen. Und der mußte außerdem noch seine Stiefeln wichsen.

Endlich wollte sich des Korporalschaftsführeres Groll gegen ihn, der sich sonst tadellos betrug, doch einmal legen, als Artur beim Bajonettfechten, das in der holländischen wie auch in der französischen Armee ganz intensiv betrieben wird, täglich mehrere Stunden, das Unglück hatte, seinem Unteroffizier eins in den Bauch zu geben, daß ihm Hören und Sehen und Atem verging.

Das hielt der für Revanche, jetzt mußte Hennig erst recht Stiefel wichsen, dazu kam noch fortwährendes Bettmachen und dergleichen. Nun verlor aber auch Artur endlich die Geduld, er freute sich immer aufs Bajonettfechten. Bis ihn einmal der Unteroffizier vornehmen mußte, dann vertobackte er diesen nach allen Regeln der Kunst, und das kam umso öfter vor, weil Leutnant Tönnchen seine helle Freude daran hatte, den »Hauptmann von Batavia« mit seinem Unteroffizier immer wieder zusammenzubringen.

Doch wir greifen durch Namen vor.

Jedenfalls also konnte durch solche Sachen zwischen den beiden keine Harmonie entstehen, der Unteroffizier wußte sich schon wieder zu revanchieren. Aber vergebens bemühte er sich, diesen Teufelskerl in den Kasten zu bringen oder ihm wenigstens eine Stunde Strafexerzieren aufzuhängen.

Artur hatte zu seinem Gesuche den vorschriftsmäßigen Weg betreten. Er kam vor den Hauptmann, vor den Major, wurde weiter nichts als über ganz Sachliches gefragt. Daß er einst der Kronprinz von Beheim, auf dessen Vaters Schloß die Offiziere der Residenz ständig zu Gaste gewesen, das wußte man hier nicht, das hatte bei der ganzen Sache ja auch gar nichts zu sagen, und ebensowenig fragte ihn der Hauptmann und der Major, wie es ihm in der holländischen Fremdenlegion gegangen sei und was er in Amerika getrieben habe.

»Können Sie beweisen, daß Sie Ihr Einjähriges gemacht haben?«

»Dieses Schulzeugnis hahe ich mir bereits verschafft und es mit eingereicht.«

»Hatten Sie denn im Auslande keine Gelegenheit, sich als Heerespflichtiger beim deutschen Konsul zu melden?«

Ja, die hatte er genug gehabt, das mußte er gestehen; er hatte es aber eben nicht getan.

»Ich werde Ihr Gesuch weiterbefördern. Aussicht haben Sie keine.«

Schon nach acht Tagen kam es albschlägig beschieden zurück.

Es wurde in der Kompanie bekannt Jetzt war er der »Zweijährig—Unfreiwillige«, der von allen Seiten gehänselt wurde. Bis er wieder einen anderen Namen bekam.

Der zweite Leutnant seiner Kompanie war ein von Tonn, genannt Tönnchen. Ein kleines, dickes Männchen mit bartlosem, unschuldigem Kindergesicht, ein possierliches Kerlchen. Sehr eitel, war der einzige, der ein Monokel trug, das pomadisierte Haar bis in den Nacken gescheitelt, nach Parfüm duftend, die Taille zu schnüren versucht, die Brust ausgestopft, im Gehen sich in den Hüften wiegend, immer an einem unsichtbaren Bärtchen drehend — sich seiner unwiderstehlichen Mannesschönheit bewußt.

Dazu paßte schlecht, daß sein Waffenrock ständig am Hals und an den Ärmeln einen merklichen Fettrand zeigte, die Hosen waren auch nur so, und die Stiefeln hatten es manchmal sehr nötig, vom Schuster wieder offizierswürdig gemacht zu werden.

Im übrigen ein sehr tüchtiger Offizier, auf den auch der Bataillonskommandeur die größten Stücke hielt, das merkten sogar die Soldaten, wie zum Beispiel beim Felddienst, da war es immer nur Leutnant von Tonn, bei dem alles tadellos geklappt hatte, und ferner wußten auch die Leute, daß dies eine Strafversetzung war, vor noch gar nicht so langer Zeit war er erst wieder von der Festung gekommen, hatte ein Duell gehabt, in dem er Sieger geblieben, mit einem Kameraden, der ihn gehänselt hatte. Er war hier auch Turn— und Fechtlehrer der Offiziere.

Und nun außerdem zu den Leuten ein geradezu liebenswürdiger Vorgesetzter! Das sah man ihm auch gleich an. Ein ewig heiteres, selbstzufriedenes Gesicht; wenns nur irgend ging, pfiff oder trillerte er vor sich hin »Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida« — ein anderes Lied schien er nicht zu kennen.

Als Artur zum ersten Male mit zum Kompanieexerzieren angetreten war, Leutnant Tönnchen die Front abschritt, blieb er vor ihm stehen.

»Was ist denn das für ein Neuer? Ach so, der Hauptmann von Batavia.«

Da war dieser Name zum ersten Male geprägt worden. Es blieb nicht bei diesem einem Male. Der Leutnant richtete selbst.

»Sie da — mit den Schmarren — der Hauptmann von Batavia —— etwas mehr raus!«

Seitdem war Artur der Hauptmann von Batavia. Von der holländischen Fremdenlegion erzählen brauchte er nicht, wurde nicht gefragt. Von wem denn? Er kam ja fast gar nicht aus der Stube heraus, nur zum Dienst. Die Polacken sprachen ihr Kauderwelsch, die wußten überhaupt gar nichts von Indien, der Unteroffizier war sein Todfeind.

Eines Mittags, als die Polen noch beim Essen saßen, während der Hauptmann von Batavia schon wieder an seinen Stiefeln putzen mußte wurde »Ordnung!« gerufen, Leutnant Tönnchen trat ein, winkte ab, auch dem Unteroffizier, der die Stubenmannschaft voll zur Stelle meldete.

»Schon gut. Haben Sie nicht einen Burschen für mich? Ich brauche sofort . . . ach, da bin ich wohl in die Polackenstube geraten. Halt, da ist ja mein Hauptmann von Batavia. Hat der Mann eine Strafe?«

»Nein, Herr Leutnant.«

Haben Sie Lust, mein Bursche zu werden?« wandte sich Tönnchen jetzt an den mit Stiefel und Bürste Strammstehenden, der ohne Vollbart trotz der furchtbaren Narben noch gar nicht so alt aussah, mit seinen neundundzwanzig Jahren unter den anderen gar nicht auffiel.

»Zu Befehl, Herr Leutnant!« erklang es ohne Zögern.

»Aber Sie müssen auch wirklich Lust haben, ich kommandiere Sie nicht etwa dazu.«

»Ich habe wirklich Lust dazu, Herr Leutnant.«

»Gut. Sie müssen aber sofort kommen, ich brauche Sie. Pfitzmann, der Stromer, sitzt wieder im Loch. Haben Sie schon gegessen? Gut. Hier haben Sie meinen Schlüssel. Rosengasse Nummer acht, erste Etage, vornheraus. An der Tür steht mein Name. Sie treten ins Entree, gehen durch den Salon in mein Schlafzimmer — rechts! nicht links! — da sehen Sie einen kostbar geschnitzten Kleiderschrank, den öffnen Sie, gleich vorn hängt eine Uniform, die reinigen Sie. Verstanden? In einer Stunde bin ich dort. Und ob Sie die Reinigung dieser nicht zu verwechselnden Uniform zu meiner Zufriedenheit ausgeführt haben, davon wird es abhängen, ob Sie mein Bursche werden oder nicht. Ich kann nur einen intelligenten Mann gebrauchen Fort!«


So war Artur doch noch Bursche geworden, er, der ehemalige Kronprinz von Beheim. Die Stiefelwischerei hatte seinen Stolz gebrochen.

Ach, wenn erst nur bleiben könnte! Gerade bei diesem Leutnant. Da hatte er aber erst seine Aufgabe zu lösen. Wenn er nun die richtige Uniform nicht fand? Die falsche reinigte? Gleich vorn sollte sie hängen — ja, was heißt in einem großen Kleiderschrank gleich vorn! Woran sollte man denn erkennen, daß sie nicht zu verwechseln sei?

Er kam wirklich zum ersten Male ins Städtchen. Viele, viele erkannten ihn. Nicht aus eigener Erinnerung, sondern weil der Gendarm von ihm erzählt hatte, von seinen zwei mächtigen Narben im Gesicht. Das fiel doch gleich auf!

»Herr Hennig, ist es denn möglich!! Artur! Der Hauptmann von Batavial«

So klang es ihm wiederholt entgegen und nach. Aber weder der Herr Hennig, noch Artur, noch der Hauptmann von Batavia, was also auch schon bekannt war, hielt sich auf, der dachte nur immer an das Entree, den Salon, das Schlafzimmer rechts, den kostbar geschnitzten Kleiderschrank und an die gleich vorn hängende, nicht zu verwechselnde Uniform.

Er kannte noch jede Straße, jedes Haus. Wenn sich auch manches verändert hatte.

Rosengasse Nummer acht? Das war damals ein baufälliges Häuschen gewesen, unten ein Kohlenschuppen, hatte überhaupt nur eine . . .

Natürlich, so war es ja auch noch heute! Unten der Kohlenschuppen, dann eine Etage mit kleinen Fenstern und darüber kam gleich das Dach. Und ein hintenheraus gabs ebenso wenig wie früher.

Da hatte sich Leutnant Tönnchen hochnobel ausgedrückt: erste Etage vornheraus. Anders konnte man hier überhaupt nicht wohnen.

Quietschende Stufen, die ganz vorsichtig behandelt sein wollten. Einige Türen, aus der einen roch es nach Schusterpech, aus der anderen nach kleinen Kindern, und an der in der Mitte ein wirklich prachtvolles Schild, Theodor von Tonn, Leutnant und so weiter, auf himmelblauem Gold gemalt mit wunderbaren Schnörkeln und Arabesken, mit einer ganz komplizierten Kerbholzschnitzerei eingerahmt.

Er schloß auf. Finstere Nacht gähnte ihm entgegen. Doch es war nur ein Vorhang, der in halber Armeshänge noch das Licht absperrte. Nach Zurückschlagen dieser Portiere befand er sich im . . . Entree? Nein, schon im Salon. Das Entree hatte er bereits passiert, das hatte eben in der schmalen Spalte zwischen Tür und Vorhang bestanden, in der sich auch ein Schlangenmensch nicht hätte umdrehen können.

Aber dieser Salon nun — ei, der war ja prächtig. Als Schnitzerei. Wohin man auch blickte — allüberall schönes Kerbholzschnitzwerk! Nur durfte man nicht gar so genau hinblicken, den Untergrund nicht untersuchen. Der prachtvolle Tisch zum Beispiel war im Grunde genommen das allergemeinste, wurmstichigste Möbel, aber ganz mit Kerbholzschnitzerei benagelt, aus gespaltenen Zigarrenkistchen bestehend, die Nägelchen mit goldenen Köpfchen. So auch die Stühle, von denen das ganze Dutzend in der Auktion für fünf Groschen zu haben war, zu wertlos, um sie noch zu Feuerholz zu zerhacken, das war inwendig von Würmern schon mehlig gemacht, aber nun durch die geschnitzten Zigarrenkistenbrettchen mit den goldenen Nägelköpfchen einfach prachtvoll herausstaffiert. Und so auch die Wände eine einzige Kerbholzschnitzerei und alles, wohin man nur blickte.

Links eine Tür, natürlich ebenfalls mit Schnitzerei benagelt, und rechts desgleichen eine Tür. Diese also führte in das Schlafboudoir. Merkwürdig, daß sie gar keine Klinke hatte. Und als Artur daran stieß, erschrak er fast. Die Tür und die ganze Wand erzitterte, schaukelte in wellenförmigen Bewegungen.

Es war einfach ein Vorhang, ein Lappen, der wieder mit solchen zahllosen Kerbholzstreifchen beklebt war, hier nicht angenagelt, sondern mit Golddraht angeheftet.

Hinter diesem geschnitzten Holzvorhang nun wirklich das Schlafboudoir, mit Bett und Waschtisch, wieder die elendesten Möbel, zu schade für eine Rumpelkammer, aber wieder so prächtig mit geschnitzten Stengelchen und Scheibchen und Kreuzchen herausstaffiert, über das Bett auch so eine geschnitzte Holzdecke. Artur lüftete sie einmal — darunter Pferdedecken, ohne Überzüge. In diese wickelte sich der Herr Leutnant von Tonn einfach ein, lag gleich auf der Matratze, — wenns nicht ein Strohsack war.

Und nun vor einem Mauerwinkel wieder solch ein holzbesetzter Vorhang, das nur konnte der »kostbar geschnitzte Kleiderschrank« sein. Artur schlug den klappernden Lappen zurück, und — dahinter hing einsam und verlassen eine einzige Hose! Um ja keinen Irrtum entstehen zu lassen, daß diese einzige Hose diejenige Uniform sei, welche gereinigt werden sollte, sah aus der einen Tasche die mit reicher Kerbschnitzerei versehene Kleiderbürste heraus, aus der anderen die Klopfpeitsche mit nicht minder kunstvoll geschnitztem Griff. Und darüber auf einem Kerbholzbrettchen stand eine halbgefüllte Benzinflasche, der Kork mit einem kerbgeschnitzten Kränzchen umgeben.

Als Artur diese einsame Hose hängen sah, sich dabei noch einmal die ganze, komplizierte Instruktion vergegenwärtigte, wie die zu reinigende »Uniform« zu finden sei, da mußte er erst einmal herzlich lachen.

Dann nahm er die Hose. Die hatte eine gründliche Reinigung allerdings sehr nötig. Leutnant Tönnchen mußte sich mit ihr geradezu in einem Saucentopf gebadet haben. Der Stoff war sonst noch ziemlich gut.

Der Hauptmann von Batavia klopfte sie zunächst auf dem Flur gründlich aus, dann wollte er sie im Salon mit Benzin vornehmen, wozu auf dem Brettchen ein weißer Lappen lag. Dem Benzin war eine gute Dosis starkes Parfüm zugesetzt. Daher also duftete Leutnant Tönnchen immer so schön, welchem Duft sich aber noch ein anderer, merkwürdiger Geruch beimischte. Doch mit Benzin war da nicht viel zu machen, der alte Fremdenlegionär wußte bessere Mittel. Er ging schnell hinunter und hinüber zum Drogisten, ließ sich auf kein freudiges Wiedersehen ein, kaufte etwas Ammoniakgeist und einige andere geheimnisvolle Substanzen, die überall zu haben sind, von denen aber »niemand nichts weiß«, daß sie auch zum Fleckreinigen gut sind.

Nun begann im Salon das große Werk. Aber auch sonst behandelte er die Hose in eigentümlicher Weise. Eine reichgeschnitzte Kommode war vorhanden, mit vier Schubladen, unverschlossen. Mit Hülfe der obersten wurde der Hosenbund festgeklemmt, in die unterste das Ende der Beine, dann zog er die mittleren Schubladen heraus, bis das Tuch ganz straff gespannt war, so bearbeitete er es mit den Chemikalien, dabei zur Stütze nur die Hand unterlegend, eine Seite nach der anderen.

Nach einer halben Stunde war er mit seinem Werke zufrieden. Die Hose machte einen ganz neuen Eindruck. Zumal dadurch, daß sie jetzt so geglättet war, die üblichen Falten der Neuheit zeigte. Durch das Spannen zwischen den Schubladen. Nur hatte sie dort, wo man sich draufsetzt, ein gerissenes Dreieck. Ohne erst hier nach Nähzeug zu suchen, öffnete Artur, gleich das Richtige ahnend, die linke, wirkliche Zimmertür, in eine wirkliche Kammer führend, die noch einen Ausgang nach dem Flur besaß.

Hier hauste Pfitzmann, der bisherige Bursche, der jetzt im Loche saß oder heute noch hineinkam, mit einem Strohsackbett, einer Decke, Tisch, Stuhl, Petroleumlampe und Kleiderkiste, ohne alle Kerbholzschnitzerei.

Die Kleiderkiste war offen, oben auf den hineingestopften Sachen, alles so liederlich, wie jeder geborene Offiziersbursche ist, lag das Nähzeug, zwar nur den zehnten Teil von dem enthaltend, was es nach Vorschrift enthalten sollte, aber doch wenigstens eine einzige Nähnadel und weißen und schwarzen Zwirn.

Der Hauptmann von Batavia »wiebelte« das Dreieck zu, mit einer Geschicklichkeit, um die ihn mancher Flickschneider beneidet hätte, brachte seine Chemikalien hinüber in die Burschenstube, wartete der Dinge, die da noch kommen sollten, brauchte nicht lange zu warten.

»Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida, ganz famos zu leben weiß . . . «

So trällerte es auf der Treppe, deren Stufen unter den elastischen Turnersprüngen gar keine Zeit zum Quietschen hatten.

»Da sind Sie ja. Uniform gefunden? Fertig?«

Mit unerschütterlichem Diensternst präsentierte Artur die Hose. Leutnant Tönnchen nahm sie, betrachtete sie von allen Seiten erstaunt, mißtrauisch, mit neuem Staunen!

»Was soll denn das? Wo haben Sie denn die hier? Das ist doch nicht meine Hose? Die ist doch ganz neu?«

»Zu Befehl, das ist Herrn Leutnants Hose.«

»Ja, den Knopf hier habe ich mir selber angenäht, das stimmt, aber hier war doch ein Loch ein Triangel!«

»Das habe ich zugestopft. Hier war es.«

Ja, nun mußte es der Leutnant glauben, und doch betrachtete er noch immer staunend das Kleidungsstück, das er nur in einem ganz anderen Zustande kannte.

»Wie haben Sie denn das nur gemacht?! Die alte Hose ist doch wieder ganz neu geworden? Wie haben Sie denn nur die Falten hineingebracht?«

Der neue Bursche, der er allerdings noch nicht so ganz war, erklärte es ihm an der Kommode.

»I, das ist großartig! Das müssen Sie sich patentieren lassen! Dafür kriegen Sie sofort eine Million! Sie sind überhaupt ein Patentmensch! Es ist ja wahr, ich habe ein ganz besonderes Benzin, meine eigene Erfindung, für die ich sofort eine Million bekäme, aber so wußte Pfitzmann die Flecke damit doch nicht herauszumachen. Das Tuch ist ja ganz wie neu geworden.«

»Das hat auch nicht allein das Benzin gemacht, Herr Leutnant.«

»Was denn sonst?«

Artur zählte die Chemikalien auf, die er dazu verwendet hatte, Tönnchen ging mit hinüber, besah sich die Flaschen, machte dazu etwas große Augen.

»Das haben Sie wohl erst gekauft?«

»Jawohl, drüben beim Drogisten.«

»Gleich bezahlt?«

»Zweiundfünfzig Pfennige.«

Das Kindergesicht bekam noch viel größere Augen.

»Zweiund — fünfzig — — Fenge?! Ja, Mensch Sie denken wohl, ich bin ein Millionär?!«

Er zog ein Portemonnaie, das sehr geschwollen aussah, brachte daraus 45 Pfennige in Nickel zusammen, ging hinüber, kramte in seiner Kommode und kam mit sieben einzelnen Pfennigen zurück. Artur hätte sie am liebsten nicht angenommen, aber davon konnte natürlich keine Rede sein.

»Da haben Sie. Ich bin natürlich sehr zufrieden, daß Sie meine Hose so weit gebracht haben, aber ein ander Mal kaufen Sie nichts für mich, was ich Ihnen nicht direkt heiße, auch nicht für einen Pfennig. Verstanden? Also Sie können mein Bursche bleiben, wenn Sie wollen. Pro Monat den üblichen Taler. Sie schlafen hier, essen aber mittags in der Kaserne. Richten Sie sich heute nachmittag hier ein, ich brauche Sie heute nicht mehr. Wenn Sie Ihr Zimmer mit künstlerischen Kerbholzschnitzereien verzieren wollen, die können Sie von mir in Menge bekommen, mit nur ganz kleinen, unsichtbaren Fehlern. Pfitzmann verstand nichts von Kunst. Wenn Sie Zigarrenkisten auftreiben können, die kaufe ich Ihnen mit 10 Pfennig pro Stück ab, mit sehr dicken Brettern auch mit 15 Pfennig. Ihr bekommt solches Zeug doch geschenkt. Bei unsereinem will so ein Händler an so einer Kiste immer gleich Millionär werden.«

Leutnant Tönnchen griff in die Tasche der gewölbten Brust, brachte ein zusammengequetschtes Zigarrenkistchen heraus, betrachtete es liebevoll.

»Ja, und sonst: ich gebe Ihnen einen Dauerurlaubspaß für die ganze Nacht. Ich bringe meinem Burschen immer Vertrauen entgegen. Pfitzmann, so intelligent er sonst auch war, hat es mißraucht. Der ist gleich drei Tage nicht nach Hause gekommen. So mißbraucht ein Schwein seinen Dauerurlaubspaß, aber kein anständiger Offiziersbursche. Ein anständiger Bursche hat einen anständigen Dienstbesen oder eine solide Köchin, die am Tage arbeitet. Ich würde Ihnen zu einer Köchin raten, wenn Sie sonst noch nichts haben. Pfitzmann war nächtelang fort und hat am Tage hier geschlafen, wenn er überhaupt nach Hause kam. Das dulde ich nicht. Keinen nächtlichen Besuch! Auch am Tage nicht! Wenn Sie von einer anständigen Person besucht werden, von Ihrer Mutter oder von ihrer wirklichen Braut, so ist das etwas ganz anderes. Das erlaube ich. Sie wissen genau, was ich meine. Wenn Sie dumm wären, dann könnten Sie nicht so gut schießen und fechten und turnen. Ich habe Sie schon immer im Auge gehabt. Sie sollen sich hier zu Hause fühlen, sich gemütlich einrichten und nicht wie Pfitzmann hier wie ein ungebildetes Schwein leben. Lesen Sie gern? Dort unter der Kommode finden Sie einen ganzen Haufen Bücher, Zola und Jules Verne und Schopenhauer und die Marlitt und Paul de Kock, und Fichte und andere schöngeistige Literatur. Aber nur anständige Bücher gibts bei mir! Sie können die ganzen zwei Jahre bei mir sein, Sie unsicherer Kantonist, und so einen Offizier finden Sie nicht wieder! Aber halten Sie sich danach! Und was ich noch sagen wollte: wenn Sie leere Zigarrenkisten auftreiben können, die kaufe ich Ihnen ab. Und wenn Sie täglich eine Million bringen. Sonst noch was? Dann gibts zwischen uns weiter keine Aussprache.«

Mit demselben unerschütterlichen Ernst, wie ihn jetzt das blühende, sonst so heitere, runde Kindergesicht zeigte, hatte Artur den Vortrag angehört.

»Darf ich aus der Menage treten?«

»Aus der Menage? Das gibts für Offiziersburschen gar nicht.«

»Ich habe genügenden Zuschuß . . . «

»Ach so! Das ist etwas anderes. Sie können natürlich essen, wo Sie wollen, da mache ich Ihnen doch keine Vorschriften. Auch hier auf Ihrem Zimmer können Sie essen, sich das Mittagsessen hier nebenan aus der Restauration holen. So hats Pfitzmann auch sehr oft gemacht. Aber die fünfunddreißig Pfennige Menagegeld bekommen Sie nicht aus der Kaserne. Sonst noch etwas?«

»Nein, Herr Leutnant.«

»Gut. Ihr Schlüssel steckt dort drin. Einen Hausschlüssel müssen Sie sich selber besorgen. Ich brauche Sie erst morgen früh um sechs wieder. Zu welchen bestimmten Stunden ich Sie sonst brauche und was Sie da zu machen haben, werde ich Ihnen noch sagen, respektive schreibe ich das von Fall zu Fall dort immer auf die Schiefertafel. Jetzt gehen Sie nach der Kaserne und holen Ihre Sachen. Als Bursche abkommandiert gemeldet sind Sie schon. Gehen Sie einmal zu Pfitzmann, sprechen Sie mit ihm, er wird noch auf seiner Stube sein, Nummer 15.«

Der nunmehr angenommene Bursche trottete sich. Noch im Laufe desselben Tages erfuhr er alles, was er wissen wollte, nicht nur von Pfitzmann, der das Burschenleben überdrüssig geworden — er war dabei ganz auf den Hund gekommen — der auch nur noch wenige Wochen vor sich hatte und der trotz seiner unfreiwilligen Entlassung noch von Leutnant Tönnchen nur in Begeisterung sprach.

Das ganze Städtchen wußte es, wovon der Leutnant glaubte, daß niemand etwas davon wisse.

Es war nämlich das reine Hungerleben, was dieser adlige Leutnant führte. Er hatte einmal viel Geld gehabt, oder vielmehr sein Vater, aber das war schon längst vorbei. Von keiner Seite Zuschuß mehr. Hatte absolut nichts weiter als monatlich seine 80 Mark.

Ein Glück für ihn war es, daß der Bataillonschef seine Offiziere nur bei unumgänglichen Pflichtessen im Kasino versammelt sehen wollte, sonst konnte jeder leben wie er wollte, brauchte niemals ins Kasino zu kommen, was ja nicht etwa in jeder Garnison der Fall ist.

Immerhin, mit monatlich 80 Mark auszukommen, das ist für einen Leutnant ein Kunststück. Dieser adlige Leutnant, der einst in dulci jubilo gelebt, brachte es fertig. Aber freilich wie! Besonders die Gewinnung seines täglichen Mittagsessens war schon eine ganz komplizierte Geschichte.

Wir müssen den ehemaligen Burschen wieder in die Gegenwart rückten.

Pfitzmann mußte also in der Kaserne essen, tat es auch wirklich. Scheinbar aber holte er sich sein Mittagsessen nebenan aus einer kleinen Arbeiterkneipe, für 50 Pfennig Suppe, geselchtes oder gebratenes Fleisch, Kartoffeln, Gemüse und auch noch ein großes Stück Brot. Das kaufte ihm der Leutnant nobel für 55 Pfennig ab.

Der Bursche holte sich Wurst, Schinken, Käse, natürlich immer dort, wo es am billigsten war, brachte es meist aus der Kantine mit — Leutnant Tönnchen kaufte es ihm mit einem kleinen Zuschlage ab.

Der Leutnant rauchte leidenschaftlich, Pfitzmann gar nicht. Der primte nur. Aber er mußte so tun, als ob er rauche, mußte sich Knaster kaufen, das Hundertgrammpäckchen womöglich nur für einen Groschen, Fünfundvierzigpfennigzigarren — Herr Leutnant von Tonn stänkerte damit seinen künstlerisch geschnitzten Salon voll.

So kam er mit den 80 Mark aus. Und wenn der liederliche Pfitzmann nun mittags einmal nicht zu Hause war? Na‚ dann sparte der Leutnant eben seine 55 Pfennige, knabberte Brot und Speck, womit er Fleisch und Butter zu vereinen wußte, und wenn er das nicht zu Hause hatte, dann hungerte er einstweilen, bis der Bursche wiederkam und aß dann auf einem Sitz gleich ein halbes Kommisbrot auf.

Das alles wußte das ganze Städtchen. »Der lebt wie Leutnant Tönnchen.« Das war ein Schlagwort geworden, um eine ganz sparsame Lebensweise, bei der man aber doch möglichst viel genießen wollte, äußerlich auftrat, zu bezeichnen. Es wurde ja viel gelacht, sogar gespottet, aber . . . im Großen und Ganzen stand Leutnant von Tonn doch im höchsten Ansehen, und zwar gerade bei den angesehensten Personen des Städtchens

Die Hauptsache war ja, daß er keine Schulden machte. Es wäre doch spaßhaft gewesen, wenn dieser Leutnant, ob nun adlig oder nicht, nicht alles geborgt bekommen hätte. Natürlich hätte es einmal eine Grenze gegeben, aber die war doch sehr weit gesteckt. Doch Leutnant Tönnchen blieb keinen Pfennig schuldig! Wenn die neue Uniform und die neuen Stiefeln kamen, wurden sie sofort bar bezahlt. Das machten die anderen Offiziere nicht, wenn sies vielleicht auch hatten. Und nicht etwa, daß er auswärts größere Schulden auf Wechsel und dergleichen gehabt hätte. Der fürchtete keinen Besuch eines Gläubigers, der konnte jeden Brief mit Ruhe öffnen. So etwas hat man in solch einer kleinen Garnison, wo man sich für alles interessiert, doch sofort heraus.

Und diesem Hungerleben und allem sonstigen Elend hätte Tönnchen mit einem Schlage ein Ende bereiten können! Er brauchte nur seine zehn Finger auszustrecken, und zehn reiche Mädchen hingen daran, unter denen er hätte wählen können.

In dem alten Städtchen gab es schwerreiche Familien. Da war zum Beispiel der Holzhändler Noak, der im ganzen Bezirk alle Bäume abgehackt hatte, die er abhacken durfte, ein doppelter Millionär, mit nur einem einzigen Kinde, einer heiratsfähigen, sehr, sehr hübschen Tochter, deren Hasenscharte man fast gar nicht bemerkte, in einem Pensionat erzogen, so daß sie nur dann und wann »mir« und »mich« verwechselte und daß sie »nunger« anstatt »hinunter« sagte und jeden Satz mit einem »niwwer?« schloß, was »nicht wahr?« bedeuten sollte, außerdem sich bei einem Besuch im Voigtland das schöne »gelle heh?« angewöhnt hatte, das hatte doch gar nichts zu sagen.

Leutnant Tönnchen hätte nur anzuklopfen brauchen. Der Holzhändler hätte sich noch bei Lebzeiten von einer sauer erhackten halben Million getrennt. Sofort! Und nicht etwa, daß da jeder andere Leutnant hätte kommen können. Gott bewahre! Ein Graf hätte umsonst angepocht. Gabs nicht. Das kennt man schon. Zwei Millionen sind schneller verfeuert als zusammengehackt. Aber hier, dieser Hungerleutnant — vor dem riß Stadtrat Noak schon am andern Ende der Straße den Hut ab.

Aber Leutnant Tönnchen pochte eben nicht an. Nun gut, so pochte man bei ihm an.

Es gab viele Gelegenheiten, bei denen die Offiziere mit den besseren Bürgerkreisen zusammenkamen. Kaisers- und Königsgeburtstag, Reunion, Wohltätigkeitsfest des B. F. S. V. Z. B. C. N. U. S. J. M. W. S. — Beheimer Frauen-Strick-Verein zum Bekleiden christlicher Negerkinder unter sechs Jahren mit wollenen Strümpfen — dessen Präsidentin die Frau Kommandeuse war, und ähnliche Anlässe mehr.

Immer war Leutnant Tönnchen der Umschwärmteste. Erstens weil er wirklich wie ein Gott tanzte, und zweitens, weil er eben derjenige war, welcher. Der seiner Frau das Wörtchen »von« verlieh und dem der Papa auch das Geld anvertraute, weil der doch nicht alles in leeren Zigarrenkisten vermöbeln konnte.

Besonders war es immer Fräulein Noak, welche die verwegensten Versuche machte, ihn vollends zu ködern, wenn sie ihn einmal erwischt hatte.

»Hier isses doch furchtbar heiß niwwer? Wollen mir nich e bißchen in dn Garten nunger gehn, gelle heh?«

Aber Tönnchen ging nicht mit nunger, oder nur dorthin, wo es im Garten ganz hell war. Denn trotz seines unschuldigen Kindergesichts hatte er es doch ganz tüchtig hinter den Ohren, hatte gar scharfe Augen — er war ja auch Fechtmeister — sah die Mama Noaken immer zum Sprunge bereit im Hinterhalt stehen.

Als es auf diese Weise nicht ging, versuchte man es auf andere, um sein stolzes Herz zu rühren. Oder es mochte auch wirkliches Mitleid sein, daß man dem Hungerkünstler anonyme Schinken und Würste, ganze Kisten mit Fressalien zuschickte. Vergebens. Leutnant Tönnchen überwies alles sofort dem Armenhaus. Einmal auch 500 Mark, worüber im Stadtblättchen quittiert werden mußte: von Leutnant Th. von Tonn im Auftrage eines edlen Unbekannten.

Und als dann der Wohltätigkeitsbasar veranstaltet wurde, da hatte Leutnant Tönnchen eine ganze Batterie von gestickten Hausschuhen und Pantoffeln, Schlummerrollen, Zigarrenetuis mit seinem eigenen Monogramm und ähnlichen Sachen gestickt, lauter weibliche Handarbeiten.

Von da an hörten die anonymen Sendungen auf. Nur einmal kam etwas an, und mit diesem Geschenk wurde Leutnant Tönnchens schwächste Seite getroffen, da sollte er einen harten Kampf mit sich selber durchzufechten haben: eine ganze Waggonladung leerer Zigarrenkisten.

Ja, damals sollte er, wie der indiskrete Pfitzmann verraten hatte, in seinem künstlerisch geschnitzten Salon schwer mit sich gerungen haben. Aber er war der stolze Sieger geblieben. Der Kutscher hatte mit seinen leeren Zigarrenkisten wieder abfahren müssen.

Dabei aber spekulierte er wirklich auf eine reiche Frau, das sagte er selbst. Ja, was wollte er denn eigentlich? Eine mit einer Milliarde oder doch mit hundert Millionen, so ein amerikanisches Goldfischchen? Da konnte er wohl lange warten, da gab es denn doch noch andere als solche Tönnchen.

Nun, er sagte es wiederum selbst, was er eigentlich wollte, natürliche nicht zu den heiratsfähigen Töchtern oder deren Eltern, sondern zu seinen Freunden.

Dann überzeugte er sich, daß sein Poposcheitel in tadelloser Ordnung war, klemmte das Monokel ein, drehte an seinem unsichtbaren Bärtchen und erklärte:

»Nicht nur dreierlei, sondern viererlei verlangt Leutnant Theodor von Tonn von seiner zukünftigen Gemahlin: erstens sehr viel Geld; zweitens sehr viel Schönheit; drittens sehr viel Bildung; viertens sehr viel Rrrasse. Überhaupt etwas ganz Exklusives. Das ist für mich gerade gut genug. Ich weiß, was ich wert bin, und billiger verkaufe ich mich nicht. Bis dahin wird weiter an einer Brotrinde und einem Schinkenknochen geknabbert.«


Diese alles hatte Artur noch im Laufe des Nachmittags erfahren, besonders an einem arbeitsscheuen Stammtisch, an dem er einige Stunden verbracht, an dem schon sein Vater manchmal gesessen hatte.

»Mit dem Essen, das Du für ihn holen mußt, als wäre es für Dich, wird er schon selber zu Dir kommen!« hatte Pfitzmann zu seinem Nachfolger gesagt. »Daß Du nicht etwa davon anfängst.«

Hatte der eine Ahnung!

Als er gegen Abend mit seiner Kleiderkiste unterwegs war, kaufte er sich einige Kleinigkeiten, die er bisher vermißt oder noch gar nicht gebraucht hatte, da er ja noch gar nicht aus der Kaserne herausgekommen war.

»Haben Sie nicht ein paar leere Zigarrenkisten?«

Ein halbes Dutzend war da, das Stück einen Groschen.

Der neue Bursche hielt seinen Einzug in die Kammer, die unterdessen von seinem Vorgänger geräumt worden war. Drüben brannte schon Licht, Tönnchen pfiff sein »Studio auf seiner Reis'«, schien gar nicht fortgewesen zu sein. Um ihn zu kümmern hatte sich der Bursche natürlich nicht, wenn er nicht gerufen wurde, und sein Kommen würde schon gemerkt werden.

»He, Hauptmann von Batavial«

Tönnchen saß in Hemdsärmeln am Tisch, bearbeitete im Scheine der Petroleumlampe gespaltene Zigarrenkistenbrettchen mit dem Messer, hatte auch eine Laubsäge und andere Werkzeuge daliegen.

»Haben Sie sich eingerichtet?«

»Ich bin gerade dabei, Herr Leutnant.«

»Haben Sie Zigarrenkisten gesehen?«

Freudestrahlend nahm Tönnchen das halbe Dutzend in Empfang, das Kindergesicht war wirklich von seliger Freude ganz verklärt, und doch glaubte Artur darin nebenbei einen leisen Zug von Kummer zu entdecken, dessen Ursache übrigens gar nicht schwer zu erklären war.

»Was haben Sie dafür bezahlt?«

»Zehn Pfennig fürs Stück, Herr Leutnant.«

»So. Hm. Das sind sie ja auch wert. Sehr schönes Holz, amerikanische Zeder. Das ist sehr hübsch von Ihnen, daß Sie daran gedacht haben. Nun bringen Sie mir aber vorläufig keine mehr, bis ich es Ihnen sage. Hier haben Sie zwei Mark. Siebzig Pfennige davon gehören Ihnen. Jetzt gehen Sie mal hinunter in die Restauration von Winkler, da ist heute Schlachtfest, holen Sie mir eine Bratwurst mit Sauerkraut. Kostet dreißig Pfennige. Lassen Sie sich einen großen Klecks Senf auf den Teller geben. Verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Halt! Warten Sie mal noch. Für wen sollen Sie die Bratwurst holen?«

Aha, jetzt kam es!

»Für mich selbst!«

Da mit einem Male wurde das heitere Kindergesicht furchtbar ernst, böse, die kurzen, sehr kräftigen Finger begannen auf dem Tisch zu trommeln, mit fast finsteren Augen blickte er den Burschen an.

»Für — Sie — selbst?! Wer hat Ihnen denn das gesagt? Etwa ich? Oder Pfitzmann? Oder wer sonst? Gut! Ich will es nicht wissen! Mir ist etwas zu Ohren gekommen! Lächerlich! Sie gehen in die Restauration und sagen mit vernehmlicher Stimme: eine Bratwurst mit — Sauerkraut — für — Herrn — Leutnant — von — Tonn! Verstanden? Der Herr Leutnant bittet um einen Klecks Senf. Verstanden? Und dann gehen Sie nebenan zum Krämer und sagen mit vernehmlicher Stimme: fünf Zigarren zu fünf für — Herrn — Leutnant — von — Tonn — — und noch fünf Zigarren zu vier Fengen für — Herrn — Leutnant von — Tonn! Verstanden? Gehen Sie.«

Ganz bestürzt verließ Artur das Zimmer. Und dann stieg es diesem dreißigjährigen Manne, der die Welt gesehen, der doch unter ganz besonderen Verhältnissen noch seiner Dienstpflicht genügte, plötzlich siedend heiß zum Herzen empor.

Gerede war es gewesen und war es noch, nichts als Gerede!

Diesen braven Spießbürgern hier genügte es schon, daß dieser junge Leutnant mit seinen 80 Mark auskam, ohne Schulden zu machen, das achteten sie schon hoch.

Aber was in diesem Manne sonst noch für ein Charakter steckte, das ahnten sie nicht, konnten sie nicht verstehen, das ging über ihren Horizont. Sie schlossen eben von sich auf andere, in aller Ehrenhaftigkeit.

Dieser Leutnant mit dem Kindergesicht — mochte er auch als Mensch seine Schwächen haben — war ein ganzer Mann vom Scheitel bis zur Sohle!

Und wie er den neuen Burschen in seine Wohnung geschickt hatte, wie er sie beschrieb, das Entree und so weiter, in dem kostbar geschnitzten Kleiderschrank gleich vorn die erste Uniform, nicht zu verwechseln — das war einfach Humor gewesen, spottende Witzelei über sich selbst und seine Verhältnisse.

Aber so etwas, wie er es sicher immer machte, wurde hier natürlich nicht verstanden. Und der Leutnant hielt es doch nicht etwa für nötig, seinen Burschen darüber aufzuklären, wie das nur ein Witz gewesen sei. Der belustigte sich eben selbst in seiner Weise.

Als Artur mit dem Gewünschten zurückkam, fragte der Leutnant nicht erst, ob der Bursche das auch so verlangt hatte. Das war für ihn ganz selbstverständlich und er befand sich wieder in rosigster Laune.

»Schön, mein Hauptmann von Batavia. Aaah, das ist wohl eine extra lange Wurscht. Wie sies nur für dreiBig Pfennige herstellen! Stimmt das Geld? Hier haben Sie einen Groschen.«

Natürlich, weil er seinem Burschen fürs Holen ganz unnötiger Weise immer noch extra etwas gab, eben bei aller Dürftigkeit und Sparsamkeit immer noch nobel, mußte ers dem »abkaufen«!

Ebenso natürlich aber hatte der Bursche den Groschen zu nehmen, durfte dafür kaum ein »danke, Herr Leutnant« sagen.

»Herr Leutnant?«

»Was gibts noch?«

»Darf ich Briefe an mich hierher adressieren lassen?«

»Selbstverständlich.«

Die Tage vergingen. Artur putzte, klopfte und bürstete, wischte die Dielen, stäubte im Salon ab oder saugte vielmehr mittelst eines ingeniös erdachten Apparates, von Leutnant Tönnchen selbst aus einer alten Radluftpumpe gefertigt, den Staub aus den zahllosen Schnitzereien ein, holte für seinen Herrn das Essen. Sonst hatte er nichts weiter zu tun, auch keine Wege zu gehen, ging auch selbst selten einmal aus, saß in seiner Kammer, las viel, schrieb auch viel Briefe.

Ebenso sein Leutnant, wie der es ja schon immer gehalten. Wenn er keinen Dienst hatte, saß er zu Hause, sägte, schnitzte und nagelte. Es war bei ihm eine Leidenschaft geworden. Er opferte seinen Schlaf dafür. Immer wieder riß er Schnitzwerk ab, um neues, besseres an die Wände zu nageln. Aber die Hauptsache war ja, daß es ihn glücklich machte.

Hungerleben? Jammerdasein? Elend?

Davon war bei dem nichts zu merken. Erstens aß er sich jeden Tag satt, und zweitens pfiff und trällerte der bei seiner Schnitzerei und überall, wo es nur angängig war, nicht nur aus Angewohnheit so vor sich hin, das kam bei ihm wirklich aus fröhlichem Herzen heraus. Dieser Mann war wirklich glücklich!

Näher kamen sich die beiden nicht, wies wohl sonst manchmal geschehen kann. Hier Leutnant von Tonn und dort Bursche Hennig — und wenn er ihn auch immer den Hauptmann von Batavia nannte, wenn er auch zu ihm von geradezu liebenswürdiger Freundlichkeit war — deshalb kam ihm Artur keinen Zoll näher. Es fiel ihm auch gar nicht ein, den für einen Soldaten doch schon so alten unsicheren Kantonisten einmal nach seiner Vergangenheit zu fragen, er wußte doch, daß er in Indien und Amerika gewesen war, sechs Jahre in der holländischen Fremdenlegion gedient, mörderische Kämpfe mitgemacht hatte, das hätte den jungen Offizier doch interessieren müssen.

Nein, keine einzige Frage deswegen. In dieser Hinsicht war der Bursche, den er sonst so freundlich behandelte, Luft für ihn.

Und Artur, wie wir gleich verraten wollen, war nun derjenige, der den Grund hierzu verstand. Aber dieser Grund ist mit Worten kaum zu erklären, deshalb sei es gar nicht erst versucht.

Wer die Verhältnisse in der Marine oder in der Kauffahrteischiffahrt kennt, der weiß es am besten. Es ist eine Undenkbarkeit, daß der Kapitän — gleichgültig, ob von einem Ozeandampfer oder von einem Ostseesegler — das Matrosenlogis betritt. Das kann sich ein Matrose im Geiste gar nicht vorstellen. Weshalb nicht? Weil es gegen die Bordroutine geht. Was ist das, die Bordroutine? Das vermag kein Matrose zu erklären. Das ist ein ungeschriebenes und unausgesprochenes Gesetz, und dennoch ein eisernes Gesetz. Der Kapitän kann sich mit jedem Matrosen freundlich unterhalten, sich von ihm erzählen lassen, im Dienst, auf Wache, aber es ist eine Unmöglichkeit, daß der Kapitän die Behausung der Matrosen betritt. Und außerdem, auch so eine Merkwürdigkeit, die vertrauliche Unterhaltung kann nur auf der Leeseite erfolgen, auf der Seite, wohin der Wind geht; in Luv ist der Kapitän unnahbar.

Der Leutnant hingegen kam häufig in des Burschen Stube; aber er unterhielt sich nicht mit ihm über persönliche Angelegenheiten.

»Herr Leutnant.«

»Nun, was gibts, edier Hauptmann von Batavia?«

»Herr Leutnant hatten doch einmal gesagt, wenn ich meine Kammer mit solchem Schnitzwerk . . . «

Artur kam gar nicht zum Aussprechen. Tönnchen war schon dabei. Mit einer wahren Wut stürzte er sich über das Austapezieren der Kammer seines Burschen. Zu der spottbilligen Wohnung gehörte auch noch ein Verschlag, den hatte Tönnchen schon mit solchen kerbgeschnitzten Stengelchen, Rädchen und Sternchen vollgepfropft, mit diesen benagelte er jetzt die Wände der Burschenkammer, den Tisch, den Stuhl, das Bett und was sonst noch zu benageln war. Aber das war alles erst pro forma‚, um den Eindruck vom Ganzen zu gewinnen. Das alles wurde nach und nach wieder abgerissen und durch neue Schnitzerei ersetzt. Hierbei wurde er auch gesprächig, wollte das Urteil des Burschen hören; das war ja auch wiederum etwas ganz anderes. Im Reiche der Wissenschaft und Kunst herrscht Freiheit.

»Hier werde ich lieber doppelten Kerbschnitt anbringen? Meinen Sie nicht? Oder wie würde sich hier einfacher Schwalbenschwanz mit Kreisschnitt ausnehmen? Treten Sie mal zurück. Halten Sie sich ein Auge zu. Wie nimmt sich das aus?«

Und dann fing er an zu sägen und zu spalten und zu raspeln und zu schnitzen, jetzt ging es erst recht immer die halbe Nacht durch, um seines Burschen Kammer zu schmücken. Es war wirklich rührend. Diese Kopfschmerzen, die sich der arme Mann machte, ob er seines Burschen Strohsacklager mit einfachem oder mit doppeltem Schwalbenschwanzschnitt verzieren sollte, und er nagelte und prüfte in den verschiedensten Entfernungen durch die Faust als Fernrohr und riß wieder ab und nagelte und nagelte, bis er das ganze Bett in Stückchen genagelt hatte und diese erst wiederzusammenleimen mußte. Und trotz der Kopfschmerzen, die ihm das machte, pfiff und trällerte und zwitscherte er doch dabei, wie nur ein Vögelchen im Hochzeitsmond pfeifen und trällern und zwitschern kann.

Mit einem Male aber, es war am vierten Tage dieser uneigennützigen Liebesarbeit, verstummte das Pfeifen und Trällern. Er schnitzte emsiger denn je, blieb in der Nacht noch länger aus, aber er war stumm dabei geworden. Grübelte er vielleicht darüber nach, ob es auch noch eine andere Melodie gebe als das jubsheidi, jubsheida des reisenden Studios?! Nämlich wenn der Kanarienvogel einen anderen Schlag und neue Roller beginnen will, was manchmal vorkommt, dann sitzt er auch immer erst so still da.

Aber bei Leutnant Tönnchen wollte kein neuer Schlag und kein neuer Roller kommen, er pfiff kein neues Lied, und überhaupt . . . bei dem mußte etwas nicht in der Ordnung sein. Das Kindergesicht war nicht mehr so sonnig heiter — es war überhaupt gar kein richtiges Kindergesicht mehr. Und dann beim Essen. Oder vielmehr beim Essenholen, wenn er den Burschen danach schickte, erst den Speisezettel wissen wollte, wenn er ihn, am Fenster der Wirtschaft hängend, nicht schon selbst studiert hatte, diese Wahl und Qual zwischen den beiden Fünfgroschengerichten, aus denen die ganze Speisekarte bestand! Das war bisher immer eine gar wichtige Angelegenheit gewesen.

»Rindfleisch mit Reis und Pflaumenkompott. Hm. Oder Schweinebraten mit Kartoffeln und Selleriesalat. Hm. Wenn ich wüßte, daß — hm. Am liebsten wäre mir ja der Schweinebraten mit dem Bouillonreis. Aber da kriege ich natürlich keine Kartoffeln. Bringen Sie mir — hm. Wenn ich den Selleriesalat nur erst einmal sehen könnte. Na, da bringen Sie mir Rindfleisch mit Reis und Pflaumenkompott.«

Das gabs jetzt nicht mehr.

»Bringen Sie mir, was Sie wollen!«

Er titschte die Sauce ja immer noch mit einem ganzen Pfund Brot auf, aber das Richtige war es nicht mehr.

Am dritten Tage dieser Periode bekam Artur Hennig mit der Morgenpost zwei Briefe, einen eingeschriebenen und einen einfachen.

Er öffnete den eingeschriebenen, nickte zufrieden, erbrach den anderen. Da nickte er nicht zufrieden. Er begann zu zu starren.

»Auf Ihr wertes gestriges Schreiben erwidern wir höflichst, daß wir Ihren übermorgen fälligen Wechsel über 4000 Mark nicht wieder prolongieren können . . . «

Alle Wetter! Da stand es ja darüber — Herrn Leutnant Th. von Tonn Hochwohlgeboren — und natürlich auch auf dem Kuvert! Der Briefträger hatte nichts gesagt, Artur hatte den Brief erbrochen, ohne einen Blick auf die Adresse zu werfen.

Na‚ das konnte ja gut werden. Was war da zu machen? Gar nichts. Jetzt hatte der Leutnant Felddienst, da konnte er ihn nicht aufsuchen, um elf‚, in zwei Stunden, kam er so wie so nach Hause.

Er kam.

»Herr Leutnant, ich habe versehentlich einen Brief von Ihnen erbrochen.«

»Macht nix, kann mal vorkommen. Ein ander Mal sehen Sie erst richtig auf die Adresse.«

Artur begab sich erleichtert wieder in seine Kammer.

Aber was war das? Es wurde Mittag, es wurde ein Uhr, und der Leutnant rief ihn nicht, daß er Essen hole. So spät wurde es sonst nie, auch nicht wenn er dienstfrei wie heute war, brachte immer einen Riesenappetit mit. Übrigens hätte er seinen Burschen auch sonst brauchen müssen, er hatte noch seine staubigen Sachen an, die ja nicht etwa nur aus der Dienstuniform und der einen Hose bestanden. Das wurde anderswo aufbewahrt.

Da endlich — »Hennig!«

Tönnchen saß vor dem Tische, untätig, noch in denselben Sachen, starrte vor sich hin, und jetzt war das erst recht kein Kindergesicht mehr.

»Herr Leutnant?«

Verwundert und verdrießlich blickte er auf.

»Was wollen Sie?«

»Herr Leutnant hatten mich gerufen.«

»Ich? Ach so. Nein. Schon gut.«

Artur ging wieder hinüber. Erst jetzt fing er richtig darüber nachzudenken an, was er da zufällig gelesen hatte.

Also doch Schulden! Wechselschulden. Na‚ warum denn nicht? Wer wußte denn, wie er dazu gekommen war? — Aber das sich so furchtbar zu Herzen nehmen? Sollte denn Leutnant von Tonn nicht die 4000 Mark auftreiben können, um übermorgen oder vielmehr nun morgen den Wechsel einzulösen? Lächerlich! Er brauchte deswegen auch nicht zum Holzhacker Noak zu gehen, weil er sich dort vielleicht anderweitige Verpflichtungen hätte aufladen können. Da gab es hier noch viele andere, die ihm sofort 4000 Mark verschafften.

Indem das dieser welterfahrene Offiziersbursche wußte, wußte er aber auch zugleich, daß über so etwas gar nicht zu debattieren ist.

Der eine spekuliert mit Millionen, verliert sie, schließt mit einer Unterbilanz von einer Million ab und fängt einfach von vorn an, tritt nicht nur als tadelloser Ehrenmann auf, sondern hält sich selbst wirklich für einen solchen, ist tatsächlich entrüstet und erstaunt, wenn ihm der Kredit verweigert wird. Ein anderer schämt sich zu Tode, glaubt, jeder auf der Straße müsse ihm ansehen, daß er nicht gleich beim ersten Termin seine Steuern bezahlt hat; hält eine Mahnung für eine unauslöschbare Schande. Und jener ist vielleicht in physischer Hinsicht ein elender Feigling, dieser ein tollkühner Draufgänger.

Das sind Charakterveranlagungen. Darüber läßt sich gar nichts weiter sagen.

Jetzt wurde drüben im Salon gegrübelt, und hier in der Burschenkammer auch.

Wieder verging eine Stunde.

Da stand Artur auf, nahm ein Papier, klopfte an, brauchte kein »Herein« abzuwarten, trat ein.

Herr Leutnant Tönnchen faßt noch genau so da, schien den Burschen gar nicht zu bemerken.

»Herr Leutnant.«

»Was gibts denn schon wieder? Ich habe Sie doch nicht gerufen.«

»Ich habe heute früh einen Scheck über zehntausend Mark bekommen.«

Er legte das Papier auf den Tisch, der Leutnant nahm es, machte ein erstauntes Gesicht

»Wie kommen Sie denn dazu?«

»Ich bin in Amerika . . . «

»Was geht mich nichts an!« wurde er gleich unterbrochen, das Staunen war sofort wieder verschwunden, der Scheck wurde ihm gleichgültig auf den Tisch hin geworfen.

»Na‚, was wollen Sie denn sonst noch?«

»Ich wollte den Herrn Leutnant fragen, wie ich diese zehntausend Mark anlegen könnte.«

»Hm. Ich weiß, es wird den Leuten in der Instruktionsstunde gesagt, sie sollen sich in solchen Geldsachen an den Hauptmann wenden. Der bin ich nicht. Es ist begreiflich, daß Sie erst zu mir kommen. Da kann ich Ihnen aber keinen Rat geben. Ich verstehe von Geldsachen gar nichts. Gehen Sie zu Herrn Hauptmann Weiße. Heute nachmittag. Von vier bis fünf ist er immer in der Kompanie. Gut.«

Der Bursche aber blieb stramm stehen.

»Na‚, was gibts denn nun noch!«

»Ich habe den Brief des Herrn Leutnant nicht nur versehentlich geöffnet, sondern auch gelesen!«

Eine lange Pause. Nein, daß war jetzt ganz und gar kein Kindergesicht mehr.

»Hennig! Eigentlich sollte ich Sie ja jetzt sofort hinausschmeißen. Aber ich will Ihnen in Ruhe etwas sagen. Ich habe über Sie einiges gehört. Sie sind in der Welt herumgekommen, haben vielleicht mehr durchgemacht als wir alle zusammen. Sie brauchten jetzt nicht als mein Bursche, der mir die Stiefeln putzt, hier zu stehen Sie hätten als Einjähriger dienen können, könnten unter Umständen jetzt Offizier, mein Vorgesetzter sein. Warum nicht. Aber das sind Sie eben nicht. Sie sind jetzt mein Bursche Hennig. Und wenn Sie hundert Millionen hätten und Ihr Vater der Fürst von, auf und zu Montcucculli wäre — Sie sind jetzt mein Bursche Hennig. Wenn Sie einmal eine Dummheit machen, so werde ich Ihnen verzeihen, wenn die Sache zu verzeihen ist, werde selbst sie zu vertuschen suchen. Aber geht die Sache nicht zu verzeihen, dann fliegen Sie in Arrest und in die Front zurück. Nun weiter: Sie haben ein gutes, mitfühlendes Herz. Sie wollen mir helfen. Schön, ich nehme die viertausend Mark von Ihnen an.«

Das hatte Artur nun eigentlich nicht mehr erwartet, nach dieser Einleitung! Er mußte sich beherrschen, daß ihm nicht wenigstens die Mundwinkel zuckten.

Das sonst so heitere Kindergesicht blieb tiefernst.

»Wieviel Zinsen nehmen Sie?«

»Am liebsten keine.«

»Das habe auch auch erwartet. Sie bekommen von mir auch keinen Schuldschein, denn . . . «

»Herr Leutnant, das ist auch gar nicht nötig.«

»Schweigen Sie! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich weiß am besten, was nötig ist und was nicht! . . . denn ein Schuldschein von mir hat gar keinen Wert. Aber etwas anderes Ihnen zu offenbaren ist meine Pflicht. Das Geld ist Ihnen auch ohne Schuldschein und ohne jede Quittung totsicher. Auf mein Ehrenwort! Hierzu bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. Ich bekomme dereinst ein großes Vermögen. Es ist ein Familienkapital, unantastbar, nur die Zinsen dürfen benutzt werden. Dieses Familienkapital befindet sich jetzt in den Händen meines Onkels, meines Vaters Bruder. Ich bin der einzige Erbe, kann auch nicht enterbt werden, kann aber dieses Vermögen testamentarisch schon jetzt bestimmen. Dieser mein Onkel ist ein Lump. Mein Vater hat stets verächtlich von ihm gesprochen, ich habe stets verächtlich von ihm gesprochen. Nie würde ich von diesem Menschen einen Pfennig annehmen, auch nicht nach seinem Tode. Jenes Familienkapital ist bereits mein Eigentum, wenn ich es auch noch nicht mitgenießen kann. Und nie würde ich daraufhin auch nur einen Pfennig Schulden machen. So lange es dieser Mensch noch in Händen hat. Aber sicher ist es mir. Auch noch nach meinem Tode. Das heißt, ich kann testamentarisch schon jetzt darüber verfügen. Was jener nicht kann. So, nun wissen Sie es. Daß Sie darüber nicht sprechen, ist ganz selbstverständlich. Noch manches andere ist selbstverständlich, worüber ich also gar nicht erst zu sprechen brauche. Können Sie mir noch weitere tausend Mark pumpen?«

Jetzt fings aber doch um Arturs Mundwinkel zu zucken an.

»So viel Herr Leutnant . . . «

»Ich frage nur um tausend!« wurde er nicht gerade angeschnauzt, aber doch ziemlich scharf unterbrochen.

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Also zusammen fünftausend Mark.«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Sie entbehren das Geld aber auch wirklich nicht?«

»Nein, Herr Leutnant.«

»Denn sonst wäre das ein Belügen eines Vorgesetzten.«

»Nein, Herr Leutnant, ich brauche das Geld wirklich nicht!« verteidigte sich der Angeklagte unter krampfhafter Anstrengung, seine Lachlust zu beherrschen.

»Bis wann können Sie das Geld besorgen?«

»Heute noch.«

»Sie müssen selbst nach der Residenz fahren?«

»Nein. Es kann auch ein anderer sein. Der Scheck wird an den Überbringer ausgezahlt.«

»Hm. Ich kann nicht. Fahren Sie lieber selbst. Bis wann ist die Kasse auf?«

»Bis um sechs.«

»Da haben Sie noch viel Zeit. Sie müssen aber um acht wieder hier sein, ich habe heute abend etwas vor, Sie müssen mir noch den Scheitel ziehen.«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Da fahren Sie mit dem Vieruhrzug, haben noch viel Zeit. Da holen Sie mir jetzt erst mal mein Mittagsessen, aber nicht aus der Kneipe unten, sondern aus der goldenen Sonne. Table d'hote. Für drei Mark. Und bringen Sie mir eine halbe Flasche Medoc mit. Hier haben Sie meine letzten fünf Mark. Trinken Sie ein Glas Bier auf meine Rechnung. Und dann von Simon an der Ecke eine Henry Clay zu fünfzig. Machen Sie schnell.«

Artur war schon so froh, die Türe erreicht zu haben, um seine Gesichtsmuskeln nicht mehr martern zu müssen, als er auch noch zurückgerufen wurde.

»Halt! Da fällt mir ein . . . die Frau Schönherr aus dem Zigarrenladen am Markt hat mir heute früh dreihundert Stück leere Zigarrenkisten angeboten. Für nur zwanzig Mark. Ich hab natürlich abgeschlagen — Unsinn — was soll ich denn mit dreihundert Kisten anfangen —— aber — man weiß ja niemals — wissen Sie was, Hennig, besorgen Sie sich einen Handwagen und holen Sie mir die dreihundert Zigarrenkisten aber gleich, noch vorm Essen — fix, eh die jemand anders bekommt — — Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida . . . «


Das große Ereignis war geschehen.

Die neue Rittergutsbesitzerin war in ihr Schloß eingezogen, hatte aus England drei Dutzend Diener mitgebracht, und nicht nur einen Marstall von Wagen— und gewöhnlichen Reitpferden, sondern ihren eigenen Rennstall, aus acht Pferden bestehend, darunter den berühmten »King of Cleveland«, den vorigen Derbysieger.

Sie war also schon vor zwei Jahren einmal hier gewesen, hatte einige Wochen sich im Kurhotel aufgehalten, viel Spaziergänge und Ausflüge gemacht. Ja, sie hatte Aufsehen erregt. Durch ihre Erscheinung, durch ihre schlanke, prächtige Gestalt, durch ihr klassisch—edles Gesicht, durch ihr reiches, aschblondes Haar. Nicht durch ihren Namen.

Es gibt in England eine Unmenge von Bristols, alle adlig. Zwar nur einen Lord, aber die Barone, Baronets und Honorables, die diesen Namen führen, sind wirklich zahllos. Das heißt, sie werden gar nicht gezählt, sind es gar nicht der Mühe wert. Es gibt gar arme Schlucker darunter.

Lady Ethel Bristol. Die Offiziere hatten damals Hilleys Register befragt, das gewissenhaft sämtliche Adlige Großbritanniens und Irlands aufführt. Eine Ladys Ethel Bristol war darin gar nicht angegeben. Deshalb durfte man noch nicht glauben, daß sich die Dame einen falschen Titel angemaßt habe. Da käme auch noch Indien, Australien, Südafrika, Kanada und überhaupt ganz Amerika in Betracht, wo die Adligen aber gar nicht mehr kontrolliert werden können.

Sie war damals äußerst bescheiden aufgetreten und ganz unnahbar gewesen.

Jetzt kam sie mit einem Gefolge zurück, das man schon einen kleinen Hofstaat nennen konnte. Das Rittergut mit neunmalhunderttausend Mark bar bezahlt, die Ökonomie dem bisherigen Besitzer für einen Preis in Pacht gegeben, der ihr kaum ein Prozent Zinsen einbrachte — eine Lady, die so viel Geld hat, die kann auch nicht so unbekannt sein.

Der »King of Cleveland« und ihr mitgebrachter Trainer namens Vetterson waren es, die über sie Licht verbreiteten. Es war der ganze Vettersonsche Rennstall, der aber, wie man schon immer gewußt, einem Bristol gehörte, der seine Pferde jedoch unter dem Namen seines Trainers laufen ließ. Und es war kein Besitzer, sondern eine Besitzerin, eben diese Lady Ethel Bristol, und nun stellte sich schnell heraus, daß sie einer amerikanischer Seitenlinie dieses uralten Adelsgeschlechtes angehörte, nur ihre Pferde noch unter englischer Flagge rennen ließ, wofür ihr Trainer einen fixen Gehalt von 40 000 Mark bekam. Schon ihr Vater, Sir Benjamin Bristol, hatte in Louisiana große Baumwollenplantagen besessen, dort war auch noch ein Bruder, davon war sie jedenfalls Mitbesitzerin. Oder sie war eben ausgezahlt worden. In Amerika sind überhaupt viele, viele englische Adlige landwirtschaftlich und industriell tätig, dort haben sie ihren Adel abgelegt, führen einen einfachen; gewöhnlich ganz anderen Namen, was in Amerika erlaubt ist, nehmen aber Adel und Titel wieder an, wenn sie auch nur einmal besuchsweise nach England oder sonst ins Ausland gehen.

So weit war die Person der neuen Schloßherrin aufgeklärt und das genügte. Alter 24 Jahre, unverheiratet, englische Nationalität. Letzteres würde schon stimmen. Selbstverständlich. Deshalb brauchte sie gar nicht in England geboren zu sein. Das Kind des englischen Vaters bleibt, auch im Auslande geboren, immer englisch. Hierin kommt England mit Deutschland in Konflikt, was aber wohl niemals die Ursache eines Krieges werden dürfte.

Die neue Schloßherrin entsprach nicht ganz den Erwartungen, die man in der Stadt von ihr gehegt hatte. Nur einige Lieferanten waren glücklich, und Handwerker hatten noch viel auf dem Schlosse zu tun. Sonst ließ die ganze englische und amerikanische Gesellschaft das Städtchen vollständig links liegen, sie alle fuhren, wenn sie frei hatten, die halbe Stunde nach der Residenz, brauchten auch auf dem Wege nach dem Bahnhofe das Städtchen nicht zu berühren. Nachdem das acht Tage so gegangen war, wußte man, daß sich daran nichts mehr ändern würde.

Lady Bristol selbst wurde von den Handwerksmeistern wie von den Gesellen, mit denen sie während der Arbeit über jede Kleinigkeit persönlich sprach als die liebenswürdigste Dame geschildert. Von jener stolzen Unnahbarkeit, die sie vor zwei Jahren im Kurhotel gezeigt, gar keine Spur mehr. Ganz das Gegenteil. Der derbste Maurer konnte sich mit ihr wie mit seinesgleichen unterhalten, sie liebte einen derben Witz, konnte herzlich lachen.

Aber das alles galt eben nur für ihr Haus, für ihr »castle«. Sie war eben eine Engländerin. Außerhalb desselben war und blieb sie einfach unnahbar. Der große Park genügte ihr zum Spazierengehen, trieb darin viel Landschaftsgärtnerei, sonst ward sie nur zu Pferd oder im selbstgelenkten Dogkart gesehen, bespannt mit einem wundervollen, mächtig ausgreifenden Traber, beobachtete stundenlang, wie auf der großen Wiese, die immer mehr zur regelrechten Rennbahn vorgerichtet wurde, ihre Pferde von Stalljockeis geritten wurden, gern sah sie auch den auf dem großen Exerzierplatze übenden Soldaten zu. Dabei schien es manchmal fast unvermeidlich, daß sie mit dem und jenem Offizier ins Gespräch kommen mußte, aber es geschah eben nicht, sie zog sich immer von allein rechtzeitig zurück, ehe der Offizier sie bitten konnte, aus der Linie des gleich zu eröffnenden Schnellfeuers zu gehen, sie nach einem anderen Platze geleitete, womit die Anknüpfung geschehen gewesen wäre.

Es war eben nicht möglich. Sie wollte nicht. Eine Einladung zum Abschiedsball der Kurgäste, an dem sämtliche Offiziere teilnahmen, mit ihren Damen, was ausdrücklich vermerkt worden, hatte sie mit zwei Zeilen dankend abgelehnt und an demselben Abend war sie im Mondschein spazieren gefahren. Das war fast ungezogen gewesen. Oder eben englisch.

In ihrer Gesellschaft zu Pferd und Wagen war meist eine junge, sehr hübsche Dame, als Mistreß Lucy Hockins, verwitwet, kinderlos, angemeldet. Die ins Schloß kommenden Handwerker sagten, es müsse die Dienerin, die Kammerzofe der Lady sein. Sie hatte ihr Schlafzimmer neben jener, frisierte sie und leistete ihr andere Handdienste, die man nur von einer Kammerzofe, nicht aber von einer Kammerdame verlangt. Dennoch schien zwischen den beiden ganz intime Freundschaft zu herrschen. Sie fuhren auch zusammen nach der Residenz, aber immer im eigenen Wagen, spannten in einem Hotel oder größeren Gasthofe aus, machten Einkäufe, fuhren gleich wieder zurück. Während die Lady vollkommen deutsch sprach, schien die Kammerzofe kein Wort davon zu verstehen. Bei ihrer englischen Unterhaltung lachten die beiden oft herzlich. Leutnant Tönnchen saß in seinem Salon und schnitzte. Es war das ja zu Hause seine einzige Beschäftigung.

Dabei pfiff er wieder wie ein Gimpel und trällerte wie eine Heidelerche. Aber immer noch das Jubheidi und Jubheida vom reisenden Studio, obgleich er gar nicht studiert, sondern die Kadettenschule besucht hatte.

Er hatte ja auch allen Grund, wieder so fröhlich zu sein. Hatte sich vollständig neu equipiert, was auch sehr nötig gewesen war, gleich drei neue Uniformen und ebensoviel Stiefelpaare, trug jetzt eine schwergoldene Uhr. Aber sie war schon alt, die hatte er irgendwo auf einen anderen Namen versetzt gehabt.

Nun schien es aber auch mit den tausend Mark alle zu sein. Artur merkte es so an verschiedenen Anzeichen. Doch nicht etwa, daß Tönnchen üppig gelebt hätte. Durchaus nicht! Nur an jenem Tage in der ersten Freude über die Befreiung von seiner schweren Sorge hatte er sich aus der »goldenen Sonne« das Diner, eine halbe Flasche Rotwein und eine Henry Clay geleistet, dann war er sofort wieder zu seinem Mittagsessen aus der Arbeiterkneipe und zu Fünfpfennigzigarren zurückgekehrt, als er auch noch über einige Hundertmarkscheine verfügte.

Mit diesen hatte er dann seine Uhr ausgelöst, jetzt schien er gar nichts mehr zu haben, oder doch nicht mehr, als er sonst für seinen täglichen Bedarf in der Tasche gehabt. Doch er hatte ja die dreihundert Stück Zigarrenkisten, das war ihm wohl die Hauptsache da konnte er nach Herzenslust sägen und schnitzen, pfeifen und trällern.

Sein Bursche war ihm durch das geliehene Geld keinen Zoll näher gerückt. Bei guter Laune, die er ja fast immer hatte, war Tönnchen gegen ihn so freundlich, sogar liebenswürdig so wie er auch im Dienst zu allen Leuten war; bei verdrießlicher Stimmung gab er seine Anordnungen mit militärischer Kürze, aber ohne jede Schroffheit eines Schimpfwortes, etwa eines doch ganz harmlosen »Esels«, war er gar nicht fähig; in anderer Hinsicht aber war der Bursche nach wie vor für ihn vollkommen Luft. »Bairisch Bier und Leberwurst, jubheidi, jubheida, und ein Kind mit voller . . . «

»Herr Leutnant.«

»Na‚, was gibts denn, mein lieber Hauptmann von Batavia?«

»Ich habe hier ein Bild . . . «

Er präsentierte es gleich, eine Photographie, in London gefertigt, ein sehr hübsches Mädchen darstellend.

Tönnchen hatte die Photographie genommen.

»Das ist doch die Kammerzofe der Lady Bristol!« sagte er ohne großes Staunen.

»Ihre Gesellschafterin, Herr Leutnant.«

»Na ja, ich weiß schon. Wie kommen Sie denn zu der?«

Tönnchen mußte es wissen, was die ganze Stadt und Garnison wußte: daß sein Bursche jeden Abend und manchmal auch am Tage, wenn er frei hatte, nach dem Schlosse ging, um die Kammerzofe, wie sie nun einmal genannt wurde, zu besuchen. Gleich am ersten Tage da die englisch—amerikanische Gesellschaft angekommen, Artur hatte etwas auf dem Bahnhof zu tun gehabt oder war von allein hingegangen — hatten sich die beiden angesprochen, es war ein äußerst freudiges Wiedersehen gewesen, Hennig hatte zu ihr immer Lucy gesagt — sonst hatte niemand etwas von der englischen Unterhaltung verstehen können. Seit dieser Zeit also war er so oft als möglich auf dem Schlosse, wenn er seinen Aufenthalt auch nie bis über Mitternacht ausdehnte. Er hatte mit der Kammerzofe, einer verwitweten Frau, die noch ganz wie ein Mädchen aussah, ein Verhältnis, hatte es sicher schon früher gehabt.

Das mußte auch Leutnant Tönnchen wissen. Darüber war unbedingt auch im Offizierskasino gesprochen worden. Denn dieser Bursche, ein Soldat, war eben der allereinzigste Mensch der Stadt und Garnison Beheim, der in dem Schlosse besuchsweise aus— und einging.

Aber Leutnant Tönnchen hatte zu seinem Burschen darüber noch kein Wort verloren. Es wäre auch seltsam gemessen, wenn ers getan hatte.

Daß er jetzt solch eine Frage stellte, wo er die Photographie der Kammerzofe in die Hand bekam, das war wiederum ganz selbstverständlich. Schließlich war dieser Leutnant doch auch nur ein Mensch. Übrigens war es wenig genug, was er fragte, die kürzesten Antworten genügten ihm.

»Wie kommen Sie denn zu der?«

»Hatte sie in Amerika kennen gelernt, als sie noch unverheiratet war.«

»Und hat einen anderen geheiratet?«

»Jawohl, Herr Leutnant.«

»Ihr Mann ist gestorben?«

»Vor einem Jahre.«

»Und nun ist es Ihre Braut?«

»O nein, Herr Leutnant, zwischen uns herrscht nur Freundschaft.«

»Na ja, weiß schon. Verkaufen Sie sich nicht so leicht, denn — doch das geht mich nichts an. Was solls nun mit der Photographie?«

»Lucy hat sie mir geschenkt — und ich dachte — ich wollte sie in meine Kammer hängen . . . «

»Sie wollen wohl einen Kerbschnittrahmen drum haben?«

»Wenn der Herr Leutnant so . . . «

Der Herr Leutnant war schon dabei, warf alles andere beiseite und stürzte sich über die Photographie her, vergaß heute die Bestellung seines Mittagsessens und hätte beinahe den Dienst verpaßt.

Es war merkwürdig, daß niemand anders ihn bat, etwas für ihn zu schnitzen. Das war doch Tönnchens höchste Wonne. Aber er bot sich eben nicht selbst an, machte mit seinen Schnitzereien keine Geschenke, das war es. Deshalb kam auch niemand mit solch einer Bitte zu ihm. Sonst — der Bürgermeister hätte nur ein Wort fallen zu lassen brauchen — Leutnant Tönnchen hätte sämtliche Häuser Beheims vollgenagelt, in— und auswendig, alles auf seine Kosten, hätte nur noch trocken Brot gegessen, um die nötigen Zigarrenkisten zu erstehen.

Noch am Abend desselben Tages bekam Artur die Photographie kunstvoll eingerahmt zurück, zwar nur einfacher Kerbschnitt, aber eben durch diese gleichmäßige Einfachheit wirklich schön wirkend. Diese Kerbschnitzerei ist überhaupt eine echte Kunst, über welche, wovon die sie ausübenden Liebhaber meist gar nichts wissen, eine ganze wissenschaftliche Literatur existiert Sie gehört zum Gebiet der Archäologie und Ethnographie, indem es kein Volk gegeben hat und noch heute gibt, welches die Kerbschnitzerei nicht selbständig erfunden hätte und heute noch ausübt, die alten Ägypter haben geschnitzt und von den Eskimos wird diese Kunst von jeher gepflegt. Die schönsten Schnitte haben die alten Skandinavier gemacht. Freilich nicht an Zigarrenkistenbrettchen, sondern an den Holzteilen ihrer Waffen; die Vikingerschiffe waren manchmal über und über mit Kerbschnitzerei bedeckt. Darüber berichtet ausführlich das Prachtwerk »Kerbschnittmeister aus dem nordischen Museum zu Stockholm« von Professor Oldenburg. Am andern Mittag stellte sich Artur, ohne daß er gerufen worden war, wieder in strammer Haltung vor seinen Herrn und Gebieter hin, hatte ein großes Kuvert in der Hand, die er aber an der Hosennaht halten mußte.

»Ich habe gleich gestern abend die eingerahmte Photographie der Lucy — der Missis Hockins gezeigt.«

»Na und? Hat sie sich gefreut?«

»Und wie, Herr Leutnant! So etwas kennen die Amerikaner und Engländen gar nicht, wenigstens nicht die besseren Leute. Das machen dort nur Matrosen und Schiffer.«

»Weils dumme Luder sind, die von echter Kunst so viel verstehen wie ein Bär vom Klavierspielen. Hm. Wollten Sie mir nur das sagen?«

»Missis Hockins hat es gleich der Lady gezeigt.«

»S50o000? Na und?«

»Die Lady war von der Schnitzerei ganz entzückt, ich mußte zu ihr kommen.«

»Soosooso? Na und?«

»Ob ich das selber geschnitzt hätte. Nein. Wer denn sonst. Mein Leutnant, bei dem ich Bursche bin, der Herr Leutnant von Tonn. Ach, sagte sie da, wenn ich doch auch so einen Rahmen bekommen könnte, — Na warum denn nicht, sagte ich, der Herr Leutnant tuts ganz gern. — Sie zögerte lange, dann gab sie mir das Bild, ihre letzte Photographie . . . «

Artur nahm sie aus dem Kuvert, großes Kabinettsformat‚, ein Brustbild, in der Residenz beim ersten Hofphotographen gefertigt. Ja, das war sie, die klassischen Züge, die edle Nase, das üppige Haar lose gewellt. Tönnchen hatte nämlich auf dem Exerzierplatz lange Zeit gehabt, dieses Gesicht studieren zu können.

»Was hat sie denn sonst noch gesagt?«

»Ich sollte den Herrn Leutnant bitten, er möchte doch auch so einen Rahmen drumschnitzen.«

Das war eigentlich ein starkes Verlangen. Oder es hätte doch ganz anders eingeleitet werden müssen, mindestens durch ein Briefchen. Aber so — vielleicht englisch.

Aber solche Gedanken hatte Tönnchen ja jetzt überhaupt gar nicht. Seine schwächste Seite war berührt worden.

»Da mache ich einen doppelten Schwalbenschwanz drum!«

Wieder war es eine wahre Wut, mit der er sich über die neue Arbeit stürzte, sofort, das Mittagsessen wurde nur so nebenbei verschlungen, dann in den Dienst, dann ging das Schnitzen wieder los.

Als Artur einmal in der Nacht erwachte und nach der Uhr blickte, war es schon früh um vier, und drüben pfiff und trällerte es noch immer, Tönnchen hatte die ganze Nacht durchgearbeitet, obgleich er sich in zwei Stunden schon wieder zum Dienst anziehen mußte. Jetzt aber nagelte er den Rahmen schon zusammen, und nicht lange mehr, so hörte ihn Artur zu Bett gehen, bald fing er an zu schnarchen, unterbrach dieses Geräusch plötzlich, pfiff einige Takte des reisenden Studio und schnarchte weiter. Er hatte im Traum gepfiffen, so wie es Star und Gimpel manchmal tun.

Als um sechs Arturs Wecker klingelte, war auch Tönnchen sofort auf den Beinen, die anderthalb Stunden Schlaf hatten ihm vollkommen genügt, er war in bester Laune. Und nun, während er schnell Kaffee trank und eine dicke Butterstulle hinunterwürgte, geschah etwas, was ganz gegen die Prinzipien dieses Leutnants ging. Es war eben das ewig Weibliche, was dazwischen gekommen, welches die ganze Hausordnung und alles, alles über den Haufen werfen — kann das ewig Weibliche, dessentwegen wohl sogar einmal das Ungeheuerliche passieren kann, daß der Kapitän das Matrosenlogis betritt.

»Sie, mein lieber Hauptmann von Batavia, Sie könnten mir einmal einen rechten Gefallen tun — Sie scheinen doch ein Krösus zu sein — könnten Sie mir nicht mal mit 'nem Taler aushelfen? Sie kriegen ihn am ersten wieder.«

»Gewiß, Herr Leutnant, so viel Sie . . . «

»Nur 'nen Taler. Nein, ich brauche ihn nicht. Gehen Sie mal um acht zu Gärtner Krause und lassen sich sein schönes Rosenbukett machen, die schönsten, die er hat, für 'nen ganzen Taler. Um zehn holen Sies ab, nehmen hier die eingerahmte Photographie mit, ich habe sie schon fein eingewickelt, um den Strauß lassen Sie sich so'n bißchen Seidenpapier machen, dann gehen Sie aufs Schloß, daß Sie so halb elf dort sind, lassen sich der Lady melden und sagen: Eine Empfehlung von Herrn Leutnant von Tonn. Nichts weiter. Geben ihr die beiden Sachen Verstanden?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant. Wenn die Lady nun nicht da ist?«

»Dann . . . sie wird schon da sein. Um diese Zeit sieht man sie nie außerhalb des Schlosses oder Parkes. Und Sie sind doch auch mit der Kammerzofe vertraut. Natürlich kommen Sie gleich wieder her. Ich bin um zwölf hier, will Antwort haben. Hier,« Tönnchen suchte in seinem Portemonnaie, das immer so vollgepfropft aussah, worin er aber nach Geld meist sehr lange zu suchen hatte, »hier haben Sie 20 Pfennige. Ich kann von meinem Burschen eigentlich nichts weiter verlangen, als daß er für mich putzt. Trinken Sie auf dem Rückweg, wenn Sie noch Zeit haben, ein Glas Bier.«

Er trällerte die Treppe hinab. Zum Mittag kam er staubbedeckt wieder.

»Nun?«

Stumm präsentierte ihm Artur ein zierliches, rosafarbenes Kuvert. Das nächstliegende Instrument war ein großes Stemmeisen, mit diesem wurde es aufgeschlitzt.

Lady Ethel Bristol erlaubte sich Herrn Leutnant von Tonnheute nachmittag zum five o'clock tea einzuladen.

Wenn der Bursche von allein nichts sagte, weil er eben nichts weiter zu melden hatte, so mußte das genügen, diese Einladung genügte doch auch vollkommen. Niemals hätte Leutnant Tönnchen früher den Burschen noch extra gefragt.

Arber einmal war es eine ganz besondere freudige Überraschung, und dann war es eben das ewig Weibliche, was hier dazwischenkam.

»Was hat sie denn gesagt?«

»Die Lady war außer sich vor Freude über den schönen Rahmen.«

»Außer sich? Was hat se denn gemacht?«

»O how nice, how beautiful!« rief sie immer wieder.

»Und das Bukett?«

»Da war sie auch ganz entzückt darüber. Wie doch so ein deutscher Offizier aufmerksam ist, sagte sie zu Missis Hockins. Dann mußte ein Diener gleich eine Vase mit Wasser bringen, aber die war ihr nicht schön genug, sie suchte selber eine aus, und als Missis Hockins das Bukett hineinstellen wollte, nahm sie es ihr schnell aus der Hand, das habe sie selber zu tun.«

»S0o00? Und dann schrieb sie das Briefchen?«

»Erst sprach sie darüber mit Missis Hockins, da müßten sie den Herrn Leutnant doch einmal einladen . . . «

»Mit ihrer Zofe sprach sie darüber?«

»Missis Hockins ist nicht ihre Zofe, sondern . . . «

»Na ja, ich weiß schon. Weiter?«

»Dann fragte die Lady mich, ob Herr Leutnant heute nachmittag wohl Zeit hätten: Ja, heute nachmittag wären Herr Leutnant dienstfrei. Da schrieb sie den Brief.«

»Und hat sie sonst noch was zu Ihnen gesagt?«

»Tausend . . . Dank, mein lieber Mann, sagte sie zu mir, sonst nichts weiter.«

Einen einzigen Moment hatte Artur zwischen dem ersten und zweiten Wort gestockt, es war ganz unmerklich gewesen, ebenso wie das Zucken seiner Mundwinkel dabei.

Hatte er vielleicht »tausend Grüße an den Herrn Leutnant« sagen wollen? Tönnchen kam nicht auf solch eine Idee.

»Und dann hat sie mir noch eine Mark gegeben!« setzte Artur noch hinzu. »Ich habe sie angenommen.«

»Natürlich natürlich. Das müssen Sie überhaupt! Sehen Sie, da profitieren Sie auch noch was Schönes dabei. Jetzt putzen Sie mal gleich hier die neuen Schwibbeln, sie werden nicht blank gehen, aber Sie wichsen so lange, bis Sie sie blank haben. Erst aber holen Sie mir mein Mittagsessen. Was gibts heute? Ä das ist mir heute egal. Bringen Sie nur irgendwas.«

Nach dem Essen oder schon während desselben vertiefte sich Tönnchen in ein Buch, welches englische Redensarten und dann besonders auch Vorschriften für den gesellschaftlichen Verkehr in England und englisch Amerika, was Beides ja so ziemlich übereinstimmt, enthielt.

Dort ist ja so manches in gewisser Beziehung ganz anders. Man nimmt in das Empfangszimmer Stock und Hut mit, ist erst wirklich als Besuch willkommen, wenn man ihm Stock und Hut abnimmt oder abnehmen läßt. Bei dem Offizier kam nur die Mütze in Betracht. Aber den rechten Handschuh ausziehen! Nur den rechten! Dann ist eine eigentümliche englische Sitte das »Treaten«, gerade umgekehrt wie bei uns. In England fragt der Besuch gleich nach dem Kommen: »what is yours? what is yours?« — gibt dem Dienstmädchen Geld und läßt das Gewünschte holen, Whisky und Portwein und Bier und Limonade, ist kein Dienstmädchen da, so setzt er selbst noch einmal den Hut auf und holt das Gewünschte aus dem Public house.

Und das wird nicht etwa nur in den unteren und mittleren Bürgerkreisen so gehandhabt, sondern das geht bis oben hinauf. Nur die Form ändert sich, im Grunde genommen bleibt es immer dasselbe, an eine feine Familie schickt der eingeladene Gast durch einen Diener eine Pastete und eine Flasche uralten Portwein.

»Sie, mein lieber Hauptmann von Batavia.«

»Herr Leutnant?«

»Können Sie noch einmal fünf Mark entbehren?«

»So viel Herr Leutnant . . . «

»Still! Ich frage, ob Sie noch fünf Mark entbehren können. Ja oder nein!«

»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«

»Sind Sie wirklich überzeugt, daß ich Ihnen für das geliehene Geld gut bin?«

»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«

»Aber keinen Vorgesetzten belügen! Borgen Sie mir weitere fünf Mark auch gern?«

»Zu Befehl ja, Herr Leutnant!«

»Dann gehen Sie mal zum Konditor Schurig, da steht im Schaufenster eine brillante Marzipantorte, die bringen Sie ins Schloß. Eine Empfehlung von Herrn Leutnant von Tonn. Nichts weiter.

Erst in der zehnten Stunde kam Tönnchen von dem five o'clock tea nach Hause, sein Bursche zwei Stunden später, und da hörte er den Leutnant noch zwitschern und pfeifen, obgleich er schon im Bette lag.

Am anderen Morgen mußte Artur wieder ein Rosenbukett für drei Mark hintragen, natürlich wieder für sein eigenes Geld, am dritten Morgen abermals und außerdem noch am Nachmittag eine Schokoladentorte, denn da war Tönnchen wieder zum five o'clock tea eingeladen.

»Hennig, können Sie das Geld auch wirklich entbehren?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Wehe, wenn Sie einen Vorgesetzten belügen! Alles kann ich verzeihen, nur das nicht. Sie fliegen sofort in den Kasten und für immer in die Front zurück!«

»Ich kann das Geld entbehren, Herr Leutnant.«

»Auch zehn Mark?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Dann pumpen Sie mir zehn Mark. Schön. Und jetzt schmieren Sie mal meine hohen Stiefeln. Aber nicht mit der Bürste, mit der Hand! Immer tüchtig rin mit dem Eett in die Poren.«

Wie Artur dann ja selbst aus dem Schlosse erfuhr, hatte Tönnchen jedem der drei in Frage kommenden dienstbaren Geister drei Mark in die Hand gedrückt.

»Und hier haben Sie auch eine Mark für Ihre viele Lauferei.«

»Danke, Herr Leutnant!« schmunzelte Artur. »Von der Lady bekomme ich ja auch immer eine Mark.«

»Sehen Sie, auf diese Weise werden Sie noch ein reicher Mann. Sparen Sies nur immer hübsch.«

Und so ging das weiter. Tönnchen verbrachte immer mehr seine ganze Freizeit auf dem Schlosse, schlief nur noch zu Hause, speiste jetzt auch regelmäßig in Gesellschaft der Lady zu Mittag, auch wenn er nachmittags Dienst hatte.

Was Stadt und Garnison dazu sagte, wollen wir nicht wissen. Wir sehen und hören nur mit seines Burschen Augen und Ohren, und auch nur insoweit, als es in des Leutnants Wohnung etwas zu sehen und zu hören gab.

Rund eine Woche war dies nun gegangen, und in dieser Zeit hatte Artur für seinen Leutnant rund hundert Mark ausgelegt, für Buketts, Torten, Baumkuchen, Gänseleberpasteten und dergleichen, wozu noch rund fünfzig Mark bares Geld kamen.

Übermorgen war der erste. Daß Tönnchen diese Schulden nicht mit seinen 80 Mark bezahlen konnte, war selbstverständlich. Er hatte darüber auch schon mit seinem Burschen gesprochen.

»Ich bin Ihnen doch gut dafür, Hennig?«

»Zu Befehl, Herr Leutnant.«

»Sie werden auch nicht auf den Tod meines Onkels zu warten brauchen,« machte er auch noch eine nähere Andeutung, »sehr bald wird in meinen pekunären Verhältnissen eine vollständige Umwandlung eintreten.«

Falls sein Bursche so beschränkt gewesen wäre, diese Andeutung nicht zu verstehen, hätte er nur irgend jemanden in Beheim deswegen zu fragen brauchen. Leutnant Tönnchen wandelte auf Freiersfüßen, es war nur eine Frage der Zeit, wann seine Verlobung mit Lady Ethel Bristol öffentlich verkündet würde.

Infolgedessen war Tönnchen natürlich vergnügter denn je. Er war ja jetzt selten zu Hause, immer im Schloß, die wenigen Stunden aber, die er außer der Schlafenszeit noch in seinem Salon verbrachte, wurden nach wie vor verkerbschnitzt, welche Schnitzereien, meist Rahmen, aber auch schon Verzierungen für Möbel und Wände, ins Schloß wanderten, und jetzt pfiff und trällerte er bei seiner Arbeit, wie er noch nie gepfiffen und geträllert hatte, setzte dieses Konzert immer häufiger auch im Traume fort.

Manchmal hörte Artur ihn auch Selbstgespräche führen, was er früher nie getan hatte, und das längste hielt er zwei Tage vor dem ersten, also als dieses Besuchen des Schlosses schon acht Tage gewährt hatte.

Die Arbeit ruhte einmal, jetzt blickte er nachdenklich vor sich, hin oder zur Decke empor, und Artur hörte in seiner Kammer, dessen Tür der Leutnant selbst vorhin offen gelassen hatte.

»Erstens sehr viel Geld; zweitens sehr viel Schönheit; drittens sehr viel Bildung; viertens sehr viel Rrrasse. Alles vorhanden, wofür sich Leutnant von Tonn verkauft. Außerdem uralter englischer Adel, der sehr gern noch mitgenommen wird. Und, last not least, an die dreißig Zimmer. Ha, dreißig Zimmer, über die ich verfügen kann, mein Eigentum! Nehmen wir einmal an: 4 Meter hoch und im Durchschnitt 5 Meter im Quadrat. Das ist ganz bescheiden, da kann ich Türen und Fenster gleich abziehen. Oder die Türen brauchen ja überhaupt so wenig abgezogen zu werden wie Schrank und dergleichen. 4 mal 5 ist 20, mal 4 ist 80. Also 80 Quadratmeter Wandfläche für das Zimmer. Mal 30 ist 2400. Ich will auf den Quadratmeter bescheiden 5 Zigarrenkisten rechnen. Das wären 12 000 Kisten. Ha, das wäre ein Lebenswerk! Und nur für mich selbst, für mein eigenes Heim! Da wüßte man doch am Ende seines Lebens, weswegen und wofür man eigentlich gelebt hat!«

Eine Pause. Dann, als das Selbstgespräch fortgeführt wurde, war die Stimme gar nicht mehr so begeistert, vielmehr recht gedrückt.

»Daß sie mich liebt, daran ist ja nun gar kein Zweifel. Die kann es gar nicht erwarten, bis ich mit der Sprache herausrücke. Wenn nur diese verdammte Kammerzofe nicht wäre. Das ist — das ist . . . einfach scheißlich mit der! Die klebt an unserem Tische; und wenn wir im Parke spazieren gehen, klebt sie an unseren Fußsohlen. Noch nicht eine Minute, ach, nicht eine Sekunde konnte ich mit der Lady allein sein. Die ist wie ihr Schatten.

Weshalb die Lady sie nur nicht einmal entfernt. Ich sehe es ihr doch deutlich an, wie unangenehm ihr selber diese Kleberei der Zofe ist, Sie möchte gern mit mir allein sein. Aber sie wagts nicht, sie fortzuschicken. Dieser Schatten ist ihr einfach zur Gewohnheit geworden, sie ist durch diese Gewohnheit sogar in ein gewisses Untergeordnetenverhältnis zu der Zofe gekommen. Das ist einfach scheißlich. Dieses aufdringliche Frauenzimmer muß weggeekelt werden. Das bin ich meiner Braut geradezu schuldig. Aber wie das machen?«

Eine längere Pause der Überlegung.

»Sie, Hauptmann von Batavial«

»Herr Leutnant?«

»Sagen Sie mal, Hennig — wie stehen Sie sich denn eigentlich mit der Kammerzofe?«

Zum ersten Male wieder berührte Tönnchen dieses Thema. Er wußte ja natürlich, daß auch sein Bursche ständig in dem Schlosse ein— und ausging, hatte aber hierüber noch nicht ein einziges Wort verloren.

»Herr Leutnant meinen Mistreß Hockins?«

»Na ja, wen denn sonst! Wie stehen Sie sichs mit ihr?«

»O, ganz gut, Herr Leutnant.«

»Wollen Sie se heiraten?«

»Das ist ganz ausgeschlossen, Herr Leutnant.«

»Aber Sie unterhalten mit ihr ein Verhältnis.«

»Herr Leutnant, es ist die reinste Freundschaft.«

»Ach zum Teufel mit Ihrer Freundschaft. Was machen Sie denn immer im Schloß?«

»Nun, ich helfe so mit, besonders im Stall . . . «

»Im Stall? Wie kommen Sie denn in den Stall?«

»Ich verstehe etwas von Pferden, Mister Vetterson, der Trainer, kennt mich, nach meiner Entlassung komme ich ganz ins Schloß . . . «

»Ach so. Aber Sie verkehren doch auch mit der Zofe.«

»Mit Mistreß Hockins? O ja, mit der komme ich auch oft zusammen.«

Tönnchen wußte auch, daß sich sein Bursche meist im Schlosse aufhielt, wenn er selbst Dienst hatte. War der Leutnant im Schloß, dann hatte die Zofe für ihr Verhältnis eben keine Zeit, dann verließ sie die Herrin mit keinem Schritt.

»Sagen Sie mal, Hennig, — im Vertrauen gefragt — können Sie denn nicht mit Ihrer Liebsten oder Freundin einmal eine Partie machen, am Tage? Mit ihr nach der Residenz fahren oder sonst einen Ausflug?«

Ehe Artur eine Antwort geben konnte, klopfte es. Es war in der neunten Abendstunde, Tönnchen war vom Mittag an bis zum Tee auf dem Schlosse gewesen, hatte sich dann doch wohl verabschieden müssen.

Es war der Hausknecht vom Kurhotel, er brachte Herrn Leutnant von Tonn eine Karte. Er möchte doch gleich ins Hotel kommen, unten in die Restauration, fast sämtliche Offiziere der Garnison hatten sich zufällig dort am Biertisch zusammengefunden, auch der Major hatte die humoristisch gehaltene Aufforderung kameradschaftlich mit unterschrieben.

Das war so gut wie Befehl.

»Mein Schwert her! Wir sprechen morgen weiter darüber Hennig, Sie Krösus, nun können Sie mir auch noch 'nen Taler pumpen — oder gleich fünf Mark. Schön. Schreiben Sie's dort selber ins Kontobuch ein.«

Er ging, trällerte die Treppe hinab. Und aus der Fortsetzung dieses Gesprächs sollte nichts werden. Oder es sollte doch eine ganz andere werden, als sich Tönnchen jetzt hätte träumen lassen.


In die Restauration des Kurhotels waren gegen Abend zwei Leutnants getreten, um schnell einen Schoppen Bier zu trinken, hatten den Major und einen Hauptmann beim sechsten Schoppen angetroffen, noch ein anderer Offizier kam zufällig dazu.

»Na‚, nun können wir auch gleich das ganze Bataillon zusammentrommeln.«

Gesagt, getan — Telephon, Hausknecht, Pikkolos und sonstige Leute wurden benutzt, um schnell alle Offiziere, die nicht Wachtdienst hatten, zusammenzuholen.

»Was ist das eigentlich für eine Geschichte mit Leutnant von Tonn und der Lady Bristol?« fragte der Major, der hier nichts weiter als Kamerad war.

Ehe hierüber noch ausführlich gesprochen werden konnte, kam schon Tönnchen, seine Gegenwart machte dieser Unterhaltung ein Ende, erstickte sie vielmehr im Keime. Nun stellte sich ein Offizier nach dem andern ein, wurde meist mit lautem Hallo begrüßt, dann kamen die letzten Erlebnisse, Garnisons— und andere Witze aufs Tapet‚, Anekdoten wurden erzählt.

Nur noch am Nachbartisch saßen drei Gäste, drei fremde Herren in Touristenkleidung. Sie hatten hier schon gesessen, als die Offiziere erst nachträglich den großen, runden Tisch belegten. Es waren Ausländer. Zwar unterhielten sie sich in einem perfekten Deutsch, zum Beispiel, wenn sie nach einem Reiseführer ihre weitere Fußwanderung besprachen kamen aber auch oft ins Holländische. Es war sehr entschuldbar, wenn sie über die Witze des Nachbartisches manchmal lachen mußten, sie hätten dies gar nicht so zu bemänteln versuchen brauchen.

Einmal aber mußte dieser teilnehmenden Distancen doch ein Ende gemacht werden, wenn die Herren nicht gingen, und Sache der hier dominierenden Offiziere war es, den Fremden, die auch in ihren stark benutzten Touristenkostümen noch ein sehr distinguiertes Aussehen hatten, entgegenzukommen.

»Wer sind die drei Herren?« wurde der Oberkellner bei der ersten Gelegenheit leise gefragt.

»Es sind Holländer, die eine Fußtour durch das Gebirge machen, sie bleiben über Nacht hier, haben sich noch nicht eingeschrieben, aber ich glaube sicher, es sind holländische Offiziere.«

Auf einen Wink des Majors ging ein Leutnant hin, lud die Herren an die Tafelrunde ein. Ja, es waren holländischer Offiziere, die einen längeren Urlaub benutzten, um Deutschland kennen zu lernen.

Nach einer kleinen Stockung ging die humoristische Unterhaltung weiter, die Holländer trugen das Ihrige dazu bei.

»Verzeihung,« sagte da der eine von ihnen, »wir mußten doch hören, was an diesem Tisch gesprochen wurde — da fiel uns ein Name auf — Lady Bristol.«

Es wurde ihnen über die neue Schloßherrin und Gutsbesitzerin erzählt, auch von ihrem Rennstall, worüber die Holländer noch besondere Fragen stellten.

»Jawohl, wir ahnten es doch gleich — das ist die Gräfin von Mohakare!« sagten die drei übereinstimmend.

»Gräfin von Mohakare?!«

»Ja, die Lady Ethel Bristol ist mit dem holländischen Grafen von Mohakare verheiratet.«

»Verheiratet?!« erklang es jetzt erst recht im Chor.

»Gar kein Zweifel. Das ist diese Lady Ethel Bristol. Der Vettersonsche Rennstall — das stimmt alles. Auch das haben wir erfahren, daß sich der Graf von Mohakare mit seiner Gattin in Deutschland niedergelassen hat. Nur, hier vermuteten wir sie nicht zu treffen.«

»Dieser Graf lebt noch?!«

»Gewiß, der ist noch gar nicht so alt.«

Jeder — in der Meinung, daß er der einzige sei, der dies täte — blickte nach Leutnant Tönnchen. Dessen gesundes Kindergesicht war plötzlich leichenblaß geworden.

»Sie — sie — hat sich als unverheiratete Lady Ethel Bristol angemeldet — als ledig . . . « konnte er nur hervorwürgen.

»Hat sie? Als ledig? Dazu mag sie auch einen Grund, ein Recht haben.«

»Wieso?« wurde von anderer Seite gefragt.

»Als englische Aristokratin darf sie überhaupt auch als verheiratete Frau ihren Mädchennamen mit Titel weiterführen. Das ist den Herren doch bekannt. Als unverheiratet darf sie sich allerdings nicht ausgeben, das stimmt. Aber haben die Herren nicht von der tollen Geschichte gehört, die vor einem halben Jahre in London passiert ist?«

»Nein. Was für eine tolle Geschichte?«

»Es ist Ihnen doch bekannt, daß in England entweder nur standesamtlich oder nur kirchlich getraut wird, beides zusammen gibt es nicht. In der Bartholomäuskirche der ältesten Kathedrale Londons, traut seit seinem halben Menschenalter der Bischof von Lancaster — ein protestantischer Bischof der anglikanischen Hochkirche. Da stellt sich vor einem halben Jahre durch einen Zufall heraus, daß dieser Bischof schon seit fünf Jahren gar kein Recht mehr hat, Trauungen zu vollziehen. Durch ein Versehen ist damals die staatliche Konzession nicht erneuert worden. Also sind alle Ehen, die der Bischof seit fünf Jahren vollzogen hat, ungültig, haben überhaupt nie existiert. Alle diese Paare haben in wilder Ehe gelebt, ihre Kinder sind illegitim. Na‚ so schlimm ist das natürlich nicht. Die Ehe wird eben nachträglich vollzogen, eine Rückwirkung hat das nicht etwa.«

Ja, hiervon hatten auch diese deutschen Offiziere fast alle gehört.

»Und unter diesen waren auch der Graf und Lady Ethel Bristol?«

»Jawohl. Die haben sich vor drei Jahren in der Bartholomäuskirche zu London trauen lassen.«

»Ja, die beiden haben sich aber eben nicht nochmals trauen lassen!« flüsterte Tönnchen.

»Vielleicht bis jetzt noch nicht. Das hat sich aus irgend einem Grunde noch verzögert. Aber die kommen schon wieder zusammen. Das war bei denen doch die reinste Liebesheirat. Ach das wurde doch damals bei uns in Holland so besprochen! Sie kennen den Grafen von Mohakare nicht?«

Die Offiziere verneinten.

»Nun ja — in Holland ist er eine Berühmtheit. Aber auch in England wird er noch immer als Held gefeiert. Freilich ist das alles ja schon lange her, und andere Länder interessiert es nicht weiter. Dieser Graf von Mohakare hat eine Vergangenheit hinter sich, eine Karriere gemacht, wie so etwas heutzutage nur sehr, sehr selten vorkommt. Eben nur in den Kolonien ist so etwas noch möglich — und dann Glück muß man haben! Vor etwa zwölf Jahren tritt in unsere Fremdenlegion ein blutjunger Russe namens Paul Urschinsky ein, kommt nach schneller Ausbildung gleich nach Sumatra, macht einen Feldzug gegen die Atschinesen mit. Natürlich als Gemeiner.

Seine Kompanie wird versprengt, die Hälfte fällt, alle Offiziere und Unteroffiziere weggeschossen oder im Sumpfe versunken, die ganze Kompanie ist rettungslos verloren. Da übernimmt Urschinsky die Führung, und er vollbringt das Wunder, bringt, was noch lebendig ist, nach dem Fort zurück, das heißt nach vielen Wochen, nach unausgesetzten Kämpfen mit den Atschinesen, schlägt sich eben überall durch. Auch den schwerverwundeten Hauptmann schleppt er mit zurück. Der sagt über ihn aus, Urschinsky wird zum Leutnant ernannt, ist gar nicht erst Unteroffizier geworden. Und die nötige Bildung hatte er auch.

Nun ging es schnell weiter zum Hauptmann und Major. Immer im Kampfe gestanden und immer ein fabelhaftes Glück gehabt. Nun war der junge Russe aber auch wirklich ein furchtbarer Draufgänger und ein militärisches Genie. Glück muß man freilich trotzdem haben.

Im fünften Dienstjahre als der gewöhnliche Legionär eigentlich höchstens Unteroffizier hätte sein können, war er also schon Major.

Da machen Mitglieder der englischen Königsfamilie eine Weltreise, besuchen Java, machen eine Fahrt durch die Provinz Mohakare, ihnen hat sich alles angeschlossen, was auf Java einen klingenden Namen hat, auch Verwandte des holländischen Königshauses sind dabei. In Fort Mohakare dessen Kommandeur Major Urschinsky ist, mitten in der Wildnis gelegen, wird Quartier genommen, um in den folgenden Tagen auf Tiger und Elefanten zu jagen. In der Nacht erheben sich die Mohaks, ein kriegerischer Malaienstamm, versuchen das Fort zu stürmen. Sie sind aufs beste bewaffnet und geschult, es ist ein schon längst im geheimen vorbereiteter Aufstand, er bricht nur schon vorzeitig aus, weil man hier gerade lauter so hohe Persönlichkeiten zusammen hat.

Ich will es kurz machen: im Sturm kann das Fort zwar nicht genommen werden, aber die Eingeborenen wissen das Wasser des Brunnens abzuleiten, ein Ausfall ist durch die Terrainverhältnisse und aus anderen Gründen ganz und gar unmöglich, die telegraphische Verbindung ist zerstört — — alles, was sich in dem Fort befindet, ist unrettbar mindestens dem Verschmachtungstode ausgeliefert.

Wer wagt es, sich durch die Feinde nach Balwore zu schleichen, der nächsten Garnison, aber doch zwei Tage entfernt. Niemand meldet sich. Auch der Verwegenste und Kundigste hält es für unmöglich. Da übergibt Major Urschinsky das Kommando dem nächsten Offizier, verkleidet sich als Malaie, schleicht bei Nacht hinaus. Ein Getümmel mit Schüssen zeigt den Zurückgebliebenen an, daß ihm der kühne Versuch mißlungen ist. Vier Tage vergehen. Die Soldaten sind vor Durst schon so entkräftet, daß sie nicht einmal mehr die Brandpfeile löschen können, die vornehmen und durchlauchtigsten Gäste die das letzte Selterwasser bekommen haben, selbst die Damen müssen es tun, und die Malaien rüsten sich zum neuen Sturm, rücken an.

Da — wohlbekannter Hörnerklang, aus dem Walde kommen im Sturmschritt die Truppen von Balwore, geführt von Major Urschinsky. So wurden sie in der letzten Minute noch gerettet. Sie wären alle massakriert worden.

Es war überhaupt wirklich eine grandiose Tat des Majors, und es handelte sich um Mitglieder des englischen und holländischen Königshauses, die er vor einem entsetzlichen Schicksale bewahrt hatte. Das mußte natürlich auch grandios belohnt werden. Major Urschinsky ging nach Holland, erhielt von unserer jungen Königin den Ritterschlag, wurde zum Grafen von Mohakare erhoben. Den Dienst quittierte er aber, er ist dann nach Amerika gegangen. Dort sah er Lady Ethel Bristol wieder, die damals auch mit unter den Gästen des Forts gewesen war, und hat sie geheiratet. Lady Bristol hat im Süden große Baumwollplantagen und ist Mitbesitzerin der größten Tranraffinerie in San Franzisko. Dort ist wohl auch der Graf mit eingetreten, obwohl er immer noch zu unserer Armee gehört. Jetzt ist er Oberst und außerdem, was aber nur für einen Kriegsfall gilt und überhaupt mehr ein Ehrentitel bei uns, Kommandant von Batavia, Hauptmann von Batavia.«

Der Erzähler schwieg.

Alle die Offiziere blickten wie fragend nach Leutnant Tönnchen. Sie wagten ja nicht, an solch eine Möglichkeit zu glauben, aber . . .

»Sie sprechen immer von einem Russen, von Major Urschinsky,« sagte da ein anderer der Holländer, »und ich wollte Sie nicht unterbrechen. Wissen Sie denn nicht, daß der Major, ehe er den Ritterschlag erhielt, gebeichtet hat, gar kein Russe zu sein, in der Fremdenlegion unter falschem Namen gedient zu haben? Was ihm übrigens gar nicht verübelt wurde. Dieser Graf von Mohakare, meine Herren, ist ein Landsmann von Ihnen, ein Deutscher, und heißt mit seinem richtigen Namen Artur Hennig.«

Da kam ein Soldat in Dienstuniform herein, ging an den Tisch, stellte sich stramm vor Leutnant Tönnchen auf.

»Eine Depesche an Herrn Leutnant von Tonn.«

Alle starrten in das von zwei malaischen Säbelhieben durchfurchte Gesicht, sie alle wußten, daß dieser Mann sechs Jahre in der westindischen Fremdenlegion gedient, ein Gesuch eingereicht hatte, hier noch nachträglich als Einjähriger dienen zu dürfen, daß er täglich auf dem Schlosse verkehrte . . .

Noch ehe den Gedanken Ausdruck gegeben werden konnte, erhob sich der Major.

»Hennig, kommen Sie mal mit heraus, hier ins Weinzimmer.«

Nur oder ganze zehn Minuten blieben die beiden dort drin zusammen, der Major und der Gemeine. Dann kam nur der Major zurück, Artur hatte eine andere Tür benutzt.

»Herr Leutnant von Tonn — ich habe Ihren Burschen aus besonderen Gründen auf unbestimmte Zeit beurlaubt.«

Wir wollen nicht dabei sein, wie es jetzt an dem Tisch zuging, als der Major wieder als Kamerad erzählte, was ihm der Soldat Hennig soeben offenbart hatte.

Am andern Morgen hatte Leutnant Tönnchen das Turnen der Offiziere zu leiten, die Reckstange, an der er gerade eine Übung vormachte, riegelte sich aus, er stürzte, erlitt einen komplizierten Oberschenkelbruch und ward im Lazarett untergebracht.

Noch am Nachmittage desselben Tages, als einmal kein Kamerad bei dem im Gypsverbande Liegenden war, meldete der Lazarettgehilfe den Grafen von Mohakare.

»Jawohl, Graf‚, Graf . . . der Kerl soll hereinkommen!«

Artur trat ein, in Zivil, ein gar vornehmer Herr.

»Hennig, Sie sind ein ganz gemeiner Lappen! Oder Sie denken wohl, ich rede Sie jetzt als Herr Graf an? Sie sind vorläufig als der ganz gemeine Soldat Hennig beurlaubt, verstanden? Mein Bursche sind Sie natürlich nicht mehr. So 'nen Kerl kann ich nicht gebrauchen. Nur weil Sie Zivillumpen anhaben, will ich Sie anders behandeln, noch anders, als Sie es verdienen, ich will meiner Verachtung Ausdruck verleihen. Setzen Sie sich dort hin — rücken Sie den Stuhl etwas mehr herum, daß ich Ihr infames Galgengesicht besser sehe — so — nun werden Sie mir Rede und Antwort stehen! Und wehe, wenn Sie einen Vorgesetzten belügen! Ich schmettere Sie sofort ins Loch! Feixen Sie nicht!«

Tönnchen verzog etwas schmerzhaft das Gesicht und fuhr fort:

»Na‚, mein lieber Hauptmann von Batavia, wie ich ahnungsvoller Engel Sie ja schon immer genannt halbe nun beichten Sie mal offen. Los!«

»Herr Leutnant, ich habe nichts zu beichten.«

»Nicht? Gut, ich werde Sie fragen, wie der Beichtvater fragt, und wenn Sie dann nicht vor Scham erröten, dann . . . haben Sie es eben nicht nötig. Weshalb haben Sie hier nicht gleich gesagt, wer Sie sind?«

»Ich bin der unsichere Heerespflichtige Artur Hennig.«

»Was Sie geworden sind.«

»Das zu sagen hatte ich absolut nicht nötig.«

Tönnchen starrte den Sprecher groß an.

»Hm. Sie sind ein . . . Prachtmensch. Nee, das hatten Sie eigentlich doch wirklich nicht nötig. Sie konnten Ihre Dienstzeit doch als Einjähriger abmachen.«

»Halte ich nicht das Gesuch eingereicht? Es ist abschlägig beschieden worden.«

»Hätten Sie aber gesagt, daß Sie der berühmte Graf von Mohakare sind, der Besitzer von ungezählten Millionen — ja, Bauer, das ist freilich etwas anderes.«

»Und das eben wollte ich nicht. War Artur Hennig nicht gut genug zum Einjährigen, dann sollte es auch der Graf von Mohakare nicht werden.«

Eine längere Pause. Tönnchen verzog wieder einmal schmerzhaft das Gesicht.

»Hennig,« sagte er dann leise, »wenn Sie nicht ein ganz gemeiner Soldat wären, dann würde ich Ihnen die Hand geben. Na‚ da haben Sie se.«

Es war ein ernstes Lächeln, mit dem Artur den kräftigen Händedruck erwiderte.

»Nun aber weiter. Für unverheiratet durften Sie sich ausgeben, das weiß ich jetzt. Überhaupt geht mich das gar nichts an. Und wie Sie mir gestern sagten, Sie kannten den Trainer, Sie würden nach Ihrer Entlassung aufs Schloß kommen, das haben Sie ja auch sehr fein gemacht. Sie schlauer Fuchs, der sich durch die Malaien zu schleichen gewußt hat, sind ja überhaupt gar nicht zu fangen. Soweit ist alles in Ordnung. Nun kommt aber die moralische Seite von der Sache. Jetzt ernsthaft, Hennig! Oder meinetwegen auch Herr Graf! Haben Sie gewußt, daß ich der Lady Bristol den Hof mache?«

Ja, es waren sehr, sehr ernste Augen, die den Gefragten anblickten.

»Da gestatten Sie mir zunächst eine ebenso ernsthafte Frage, Herr Leutnant: hat Ihnen Lady Ethel Bristol jemals irgendwie Hoffnung gemacht?«

Wieder eine längere Pause, Tönnchen schien angestrengt nachzusinnen.

»Hm — wenn ich mir alles so recht überlege — nee, eejentlich nich. Aber, mein schlauer Fuchs, diesmal kommen Sie nicht aus der Klemme. Sie haben dies alles erst arrangiert, um mich . . . «

Tönnchen bekam einen Hustenanfall, der aber künstlich zu sein schien.

»Hennig,« sagte er dann mit tränenden Augen, »erzählen Sie mir schnell etwas recht Trauriges von einer sauren Gurke, die sich in eine gepickelte Zwiebel verliebt hat — ich darf ja nicht lachen, sonst geht ja mein Gips aus dem Leime — — ich darf nicht an die Buketts und Torten und Gänseleberpasteten denken — für Ihr Geld — für Ihre eigene Frau — und Sie bringen diese Präsente als mein Bursche zu ihr hin . . . Himmel und Hölle, Hennig, so erzählen Sie mir doch etwas recht Trauriges, oder ich bekomme den Lachkrampf, und das darf nicht sein!«

Na‚ wenn er die ganze Geschichte von dieser Seite auffaßte, dann war es ja gut. Dadurch bewies er auch, daß er ein ganz kluger Kopf war. Klüger hätte er ja gar nicht handeln können.

»Herr Leutnant, ich bin nur auf einen Sprung hergekommen, muß mich um fünf beim Herrn Major melden, wollte nur in aller Schnelligkeit fragen, ob Ihnen morgen früh der Besuch der Lady Bristol und der Mistreß Hockins angenehm ist. Ich will Sie auch gleich noch auf etwas anderes vorbereiten. Meine Frau wird Sie innig bitten, daß Sie Ihr Schmerzenslager, sobald Sie transportabel sind, nach dem Schlosse verlegen. Sie waren im Schlosse ein so gern gesehener Gast, da ist gar keine Mache dabei gewesen, und inwiefern soll sich dann etwas ändern? Und dasselbe gilt von Mistreß Hockins, die wird Sie erst recht herzinniglich bitten, daß Sie . . . «

»Halt!« unterbrach Tönnchen den Sprecher. »Vor eines haben Sie sich doch noch zu verantworten, ehe ich Sie wieder als meinen Burschen annehmen kann! Sie wollten doch mit der Kammerzofe ein Verhältnis halten.«

»Mit Mistreß Hockins?! Ich?!« erklang es im Tone des vorwurfsvollen Staunens. »Ich habe doch niemals auch nur so eine Andeutung gemacht!«

»Hm. Eigentlich haben Sie ja recht. Sie haben vielmehr immer betont, daß es nur die reinste Freundschaft wäre. Das stimmt allerdings. Ja, wer ist denn diese Kammerzofe nur?«

»Kammerzofe? Herr Leutnant, wie kommen Sie nur dazu, die Mistreß Hockins eine Kammerzofe zu nennen?«

»Na weil — weil — weil . . . «

»Weil die ganze Stadt sie so tituliert?« kam Hennig dem Stockenden zu Hilfe. »Die ganze Stadt hat sich immer geirrt. Mistreß Lucy Hockins steht tatsächlich zu mir in einem Verhältnis; in einem verwandtschaftlichen — sie ist nämlich die Schwester von meiner Frau, ist ebenfalls eine Lady Bristol.«

Weit riß Tönnchen seine Augen auf.

»Es — ist — doch — nicht — mößöglich!«

»Ja warum denn nicht? Ihr Gatte, Mister Hockins, der nach kurzer, kinderloser Ehe starb, hatte in St. Louis eine Zigarrenkistenfabrik, die größte Amerikas, also überhaupt der Welt, von dieser ist meine Schwägerin noch jetzt alleinige Besitzerin . . . «

Artur mußte wohl erstaunt abbrechen, weil der im Bett halb aufrecht Sitzende plötzlich seinen Kopf wie eine Schildkröte gegen ihn vorreckte, als wäre der sonst etwas kurz geratene Hals aus Gummi elastikum, und dabei umspielte ein ungläubig—erstaunt—seliges Lächeln seine Lippen.

»Zigarren — — kisten — — macht se?!«

»Nun, sie macht sie nicht gerade selber, aber . . . Herr Leutnant, ich muß jetzt unbedingt gehen, muß schon Sturmmarsch anschlagen. Dürfen morgen früh meine Frau und Schwägerin kommen?«

Ja, sie durften.

Noch während seines Urlaubs wurde Artur Hennig, der er hier nur sein wollte, in der Kirche seiner Heimatsstadt zum zweiten Male mit Lady Ethel Bristol getraut, dann diente er als verheirateter Einjähriger noch ein halbes Jahr, worauf er die Bewirtschaftung des väterlichen Rittergutes übernahm, ein Ökonom, der ganz in dieser Beschäftigung aufging.

Das war ja auch die Sehnsucht gewesen, die ihn nach der Heimat zurückgetrieben hatte.

Leutnant Tönnchen ließ seinen Schenkelbruch im Schloß ausheilen unter der speziellen Pflege der Mistreß Hockins. Die Heilung verlief nicht ganz glatt, er hatte durch zu vieles Lachen wohl zu oft die Ruhe des geschienten Beines gestört, er behielt ein lebenslängliches Hinken, mußte den Dienst quittieren.

Nun, er hinkte nach Amerika, nach St. Louis, übernahm die Leitung der Zigarrenkistenfabrik seiner Frau, der geborenen Lady Lucy Bristol verwitweten Hockins.

Freilich war es eine etwas eigentümliche Fabrikleitung, wie sie der ehemalige Leutnant da ausübte.

»Ich habe ihn besucht. Er legt selbst tüchtig mit Hand an die Zigarrenkisten, nagelt sie allerdings nicht zusammen, sondern reißt sie im Gegenteil wieder auseinander, nagelt die kerbgeschmitzten Stengelchen und Scheibchen und Sternchen in seinem grandiosen Hause an die Wände und an die Möbel und wo es sonst noch etwas anzunageln gibt, und an die Portieren und Fenstergardinen heftet er sie mit goldenen Fäden, und dabei pfeift und trällert er nach wie vor das einzige Lied, das er kennt: Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida.«

So berichtete ein Beheimer Offizier, der einen längeren Urlaub zu einer Vergnügungs— oder wohl mehr militärischen Studienreise, wahrscheinlich in höherem Auftrage, durch die Vereinigten Staaten von Nordamerika benutzt hatte, und da hatte er auch seinen ehemaligen Kameraden aufgesucht, konnte nicht genug davon erzählen, wie fürstlich er von ihm aufgenommen worden war.

»Und was macht denn unser Graf von Mohakare?« fragte dann der Zurückgekommene.

»Der? Wissen Sie denn nicht, daß der gar nicht mehr hier ist?«

»Was? nicht mehr hier?!«

Nein, der war schon seit einem Vierteljahr fort, mit Gattin und seinem ganzen Hofstaate, hatte das Rittergut in Pacht gegeben.

»Ja warum denn nur?! Wohin denn nur?!«

Das wußte niemand. Die einen sprachen von Holland, die anderen von England, die anderen gar von Amerika. Da, als man hierüber noch debattierte, wo der Verschwundene geblieben sein mochte, brachten die führenden Zeitungen eine Meldung:

Brasilien hat einen neuen Präsidenten bekommen, den ersten demokratisch gesinnten Ivan Lopez. Sein erstes war eine vollständige Neuorganisation der verwahrlosten brasilianischen Armee. Bei solch einer Neuorganisation nimmt man gern einen tüchtigen Offizier von einer fremden Macht. Ein türkischer Offizier wird niemals die türkische Armee neu organisieren können. Bei Brasilien aber kam nicht nur europäischer Drill in Betracht, da mußte man auch an einen Guerillakrieg, an einen Schleichkrieg in Pampas und Urwald denken. England oder Frankreich? Aus politischen Gründen nicht gut angängig. Es gibt noch eine andere recht ansehnliche Kolonialmacht. Die Wahl des neuen Präsidenten war auf Holland gefallen. Auf einen Graf von Mohakare, der sich als gewöhnlicher Soldat die Offiziersepauletten auf Java und Sumatra verdient hatte.

Das war die erste Zeitungsmeldung gewesen.

Und einige Tage später:

»Der Graf von Mohakare ist bereits in Rio de Janeiro eingetroffen und hat als »General—Inspektor von Heer und Marine« die neue Organisation der brasilianischen Armee übernommen. Wie uns aus zuverlässiger Quelle mitgeteilt wird, ist dieser holländische Graf ein geborener Deutscher bürgerlicher Abkunft namens Artur Hennig. Weiter erfahren wir, daß sich in seiner Begleitung, als seine rechte Hand, ein nordamerikanischer Offizier befindet, ein Oberst von Tonn, der ebenfalls, wie auch schon sein Name sagt, ein geborener Deutscher sein soll. Wir werden noch darauf zurückkommen.«

Mehr war von den großen, führenden Zeitungen, die mit Beheim nicht eben in enger Fühlung standen, vorläufig auch nicht zu verlangen.

Wir haben diese Einleitung als eine humoristische Erzählung dem Leser nicht vorenthalten wollen.


79. KAPITEL.
IN DER BATTERIE UND AN LAND.

»Die ganze Kriegsflotte hat gemeutert! Großadmiral Macedo Almeida hat sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!«

Nur mit etwas erhobener Stimme hatte es Georg Stevenbrock gesagt, aber es wirkte auf den Präsidenten wie ein Donnerschlag, seine Hände brauchten nicht mehr festgehalten zu werden, daß sie nicht nach einer verborgenen Waffe griffen.

Denn Juan Lopez mußte wissen, daß in diesem Lande so etwas nicht unmöglich war, eine Meuterei der gesamten Kriegsflotte.

Ach Du armes, reiches Brasilien, Du unglückseliges Land!

Was könntest Du sein mit Deinen unermeßlichen Schätzen an Erzen, an Gold, Silber und Edelsteinen, an den kostbarsten Hölzern aller Art, mit Deinen ungeheuren Territorien von unerschöpflicher Fruchtbarkeit, mit Deinen Weiden, auf denen sich noch viel besser als in Argentinien Millionen von Rindern tummeln könnten! Wenn Du Dich nicht eben in den Händen einer Clique von einigen wenigen Männern befändest, welche aus krassestem Egoismus alle Industrie und allen Bergbau und alle Kolonisation unterdrücken, um keine anderen Großkapitalisten aufkommen zu lassen, um eben ganz allein das Heft in Händen zu behalten.

Wir wollen einmal die Sache von einer anderen Seite betrachten, obgleich es nur eine Folge von dieser Tyrannenherrschaft eines Geldkonsortiums ist.

Wann eigentlich hat Brasilien, Kaiserreich oder Republik, schon einmal einen ernstlichen Krieg mit einem anderen Staate geführt?

Gewiß, eigentlich sogar fortwährend. Aber über Grenzstreitigkeiten mit einigen Gefechten ist es niemals hinausgekommen. Dann haben die Kriegführenden immer sofort die Waffen gegen einen inneren Feind zu richten gehabt. Stets wurde ein Bürgerkrieg im eigenen Land daraus! Immer mußte die jeweilige Regierung schleunigst einen demütigenden Frieden mit dem feindlichen Nachbar schließen, um der inneren Revolution Herr zu werden.

Wann ist denn Brasilien überhaupt einmal ohne Revolution, ohne inneren Bürgerkrieg gewesen? Niemals! In Europa hat man sich nur schon so daran gewöhnt, daß man sich gar nicht mehr darum kümmert, die Zeitungen gar nichts mehr davon melden, es müsse sich denn gerade um ganz bedeutende Aufstände handeln. Einen wirklichen Frieden aber hat es in Brasilien noch nie gegeben.

Und schon einmal, im Jahre 1893, hat die gesamte brasilianische Kriegsflotte gemeutert, unter Admiral Gustodio de Mello, hat Rio de Janeiros ohne jeden triftigen Grund bombardiert, die Hälfte der Stadt in einen Trümmerhaufen verwandelt, welche Revolution nur mit Hilfe der Vereinigten Staaten unterdrückt werden konnte, und ebenso meuterte im Jahre 1904 noch einmal wenigstens die Hälfte der Kriegsflotte, und wiederum konnte die Regierung der Rebellen nur mit Hilfe einer anderen Macht Herr werden, mit Hilfe Argentiniens, da die Vereinigten Staaten unterdessen beschlossen hatten, sich in die inneren Unruhen Brasiliens nicht mehr einzumischen. Es konnte dem Präsidenten also gar nicht so überraschend kommen, was er da zu hören bekam. Eine Unmöglichkeit lag durchaus nicht vor.

Deshalb brach er im ersten Augenblicke fast zusammen.

Daß er dann an Stevenbrocks Behauptung zweifelte, das war wieder etwas ganz anderes.

So raffte er sich wieder empor.

»Das ist nicht wahr!« schrie er mit starker Stimme.

»Bei Gott — bei meinem Ehrenwort als deutscher Offizier: ich spreche die Wahrheit!«

Diese Worte wirkten besser als jeder andere Schwur. Wie der Präsident jetzt nicht mehr daran zweifelte, das bewies er dadurch, daß er nochmals zusammenbrach, noch ganz anders als vorhin, wenn er sich auch nochmals gleich wieder emporraffte, jetzt sogar eisern wurde.

»Woher wissen Sie . . . ? Wie kann Ihnen das bekannt geworden sein?«

»Mi sabe!« war es diesmal Stevenbrock, der diesen spanischen Ausdruck der stärksten Behauptung, die keine weitere Gegenfrage duldet, gebrauchte.

»Weshalb,« fuhr Lopez dann aber gleich fort, »hat sich denn das Geschwader nicht erst in San Movo gemeldet, so daß man sich auf seine Ankunft hier vorbereiten konnte?«

»Weil es eben ganz unerwartet hier eintreffen wollte. Damit sich Almeida umso leichter des Präsidenten bemächtigen konnte.«

»Sich meiner bemächtigen?!«

»Na selbstverständlich,« sagte Stevenbrock leichthin, »Ihrer Person und Ihrer ganzen Familie. Dann natürlich auch all der hohen Offiziere und Beamten. Die hatte man ja alle gerade so hübsch hier beisammen in Para. Sie alle hätten doch zuerst das Flaggschiff betreten — schwubb war mit einem Schlage die ganze Gesellschaft gefangen. Einesteils hätte der Rebellenkaiser nun die treu gebliebene Armee, die sich doch nur um Rio de Janeiro konzentriert, gar nicht mehr zu fürchten, weil gänzlich führerlos, anderseits hätte er eben die höchsten Persönlichkeiten als Geiseln in seinen Händen. Der ganze Plan ist doch so einfach, und er wäre ja auch geglückt, wenn ich Sie und all Ihre Getreuen nicht noch rechtzeitig entführt hätte.«

»Mann, Mann, woher ist Ihnen dies alles aber nur bekannt?! Haben Sie Spione auf den Schiffen?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie das sonst?«

»Wie nennt man dieses Schiff, auf dem Sie sich befinden?

»Die Argos.«

»Hat es nicht sonst so einen hübschen Namen bekommen, wegen seines Berufes, dem es und seine Mannschaft nachgeht?«

»Das Gauklerschiff.«

»Nun, unter Gaukler versteht man doch nicht nur Akrobaten, Seiltänzer, Taschenspieler und dergleichen. Besonders im Orient zählen zur Kaste der Gaukler auch die Wahrsager und ähnliche Berufsgenossen . . . «

»Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie hellsehend oder gar allwissend sind?!«

»Allwissend sind wir nicht, doch viel ist uns bewußt!« gebrauchte diesmal Stevenbrock dieses Zitat. »Und dies gilt nicht einmal von uns Argonauten, dazu sind wir viel zu nüchterne Menschen, sondern unter uns weilt nur als Gast ein Mann, der mehr als Brotessen kann. Bitte, lassen Sie sich das vorläufig genügen, Sie werden ihn selbst kennen lernen. Nun aber vor allen Dingen kommen Sie in die Batterie, in den Theaterraum, und beruhigen Sie Ihre Offiziere und Beamte, daß die nicht etwa an Bord unseres Schiffes selbst eine Meuterei machen.«

Der Präsident verstand sofort, er folgte dem Vorausgehenden.

»Sind unter diesen auch solche, die mit den Rebellen gemeinschaftliche Sache machen?« fragte er nur noch unterwegs.

»Nur ein einziger, und der ist bereits von anderen Seite in Gewahrsam genommen worden, damit er uns nicht etwa einen Streich spielt. Admiral Almeida war sehr vorsichtig, er hatte in Para nur einen einzigen seiner Getreuen als Spion zurückgelassen, sonst hatte er alle mit sich genommen.«

»Und wer ist das?«

»Benito Merveillas, der Hafenkapitän von Para.«

»Capitano Merveillas!« wiederholte der Präsident zähneknirschend, weil die Nennung dieses Namens ihm wohl die größte Enttäuschung bringen mußte. »Ihn, den ich mit Gunstbezeugungen überschüttete, ihm mein vollstes Vertrauen schenkte, ihn für den Getreuesten meiner Getreuen hielt! Ja aber . . . unter Ihren Gästen befindet sich doch auch die Gattin des Admirals Almeida nebst ihren drei Kindern!«

»Und ferner noch die Familie des Marinesekretärs, der gleichfalls mit den Meuterern gemeinschaftliche Sache macht. Aber diese Damen und Kinder wissen nichts von dem schmählichen Verrat, den ihre Gatten und Väter begangen haben, die ganze Geschichte ist in größter Heimlichkeit eingeleitet worden. Für uns ist es natürlich von größtem Vorteil, daß wir die Familien dieser beiden an der Spitze der Verschwörung stehenden Männer in Händen haben, wir haben den Spieß einfach umgekehrt. Die Rebellen werden sich jetzt wohl hüten, auf unser Schiff zu schießen.«

Sie hatten die Batterie erreicht, und es war auch die höchste Zeit gewesen, schon wurde dort drinnen mächtig gegen die Türen gedonnert.

Kaum hatte der letzte der ungefähr 200 Gäste den Zuschauerraum betreten, als sich das Schiff in Bewegung gesetzt oder doch gedreht hatte, was sie doch alle bemerkt haben mußten, und da donnerten auch schon die Salutschüsse, da sah man durch die Bollaugen hinter der Insel die ersten Linienschiffe hervorkommen.

Die Aufregung läßt sich denken. Die Kriegsflotte war unangemeldet gekommen, und alle die Hauptpersonen hier zu einem Schauvergnügen versammelt!

Also schleunigst zurück an Land, sich zum Empfang vorbereitet, so lange man noch Zeit dazu hatte!

Da zeigte es sich, daß die Türen hinter ihnen geschlossen waren. Und es waren eiserne Schiffstüren, die sich nicht so leicht eindrücken ließen. Und keiner von der Schiffsmannschaft zu sehen. Die Bühne war erreichbar, aber auch dort alles durch eiserne Türen geschlossen.

Allerdings kam niemand gleich auf den Gedanken, daß man hier in eine Falle gegangen wäre. Daß hier ein ehrbares deutsches Handelsschiff, mochte es auch ein auf Abenteuer ausgehendes Gauklerschiff sein, alle die höchsten Würdenträger der Republik Brasilien gefangen nahm, einfach einsperrte und mit ihnen auf und davon fuhr . . . so eine Möglichkeit war ja gar nicht auszudenken!

Wie der Präsident und der eine Kapitän zurückgehalten worden war, das hatten nur die wenigsten bemerkt, sie besaßen jetzt keine Gelegenheit, es den anderen mitzuteilen.

Dann freilich, als sich keine der geschlossenen Türen öffnen und niemand von der Schiffsmannschaft zeigen wollte, erwachte schließlich doch ein Mißtrauen, wenn man den Grund auch noch nicht definieren konnte, die Erregung ging zuletzt in ein Toben über.

Dabei aber ist zu bedenken, daß die Unterredung Stevenbrocks mit dem Präsidenten ja nur wenige Minuten in Anspruch genommen hatte.

Kurz, gerade als erst die Mißtrauischsten und Ungeduldigsten gegen die Türen zu pochen begannen, erschien auf der Bühne der Präsident, der sie durch eine der Seitentüren betreten hatte.

»Meine Herren, ich bitte um Ruhe! Furchtbares ist es, was ich Ihnen zu verkünden habe. Aber wollen Sie darüber nicht Ihre Fassung verlieren, die wir gerade jetzt am allernotwendigsten brauchen.«

Und es war denn auch eine Totenstille, die der Erklärung des Präsidenten folgte.

Die ganze brasilianische Kriegsflotte gemeutert, der sie heimführende Großadmiral Almeida sich zum Kaiser von Brasilien proklamiert!

Wenn auch alle diese Männer ebenfalls die Verhältnisse ganz genau kannten, so etwas nicht für ausgeschlossen halten kannten, weil es eben in Brasiliens Weltgeschichte schon mehrmals passiert war, so war es doch begreiflich, wenn sie es nicht gleich glaubten.

»Das ist nicht wahr! Das ist rein unmöglich!«

So und anders klang es durcheinander.

»Dieser Herr, der Kargokapitän dieses Schiffes, der bekannte Waffenmeister der Argonauten, hat mir versprochen, sofort den Beweis der Wahrheit zu erbringen. Denn einer der Hochverräter weilt als Spion des Admirals Almeida mitten unter uns, wenn er auch schon entfernt worden ist — — Capitano Merveillas muß und wird sofort alles gestehen.«

Wir können nicht die Einzelheiten schildern, wie sich alles entwickelte. Schon die Nennung dieses Namens löste wiederum einen Tumult aus. Und dann waren ja auch Damen und Kinder vorhanden, unter letzteren aber auch schon erwachsene Töchter, deren Gatten und Väter sich mit auf den Kriegsschiffen befanden, wenn man auch noch nicht wußte, ob sie mit den Rebellen gemeinschaftliche Sache machten oder nicht; sie konnten ja auch von diesen überwältigt worden und gefangen gehalten sein.

Nur eine einzige dieser Damen schien sich ihrer Sache ganz sicher zu sein, obgleich sie gerade durch ihren Ausruf ihre eigene Unschuld bewies.

»O, meine Ahnung, mein Traum!« stöhnte Sennora Almeida, die Gattin des Großadmirals, und fiel in Ohnmacht, und jammernd warfen sich die noch unerwachsenen Kinder über ihre Mutter.

Das waren solche Zwischenfälle, die wir eben nicht alle einzeln schildern können.

Und dann erhob der Präsident, der unterdessen mit Stevenbrock nochmals Rücksprache genommen hatte, wiederum seine Stimme:

»Ruhe, meine Damen und Herren! Alles bleibt hier unten! Wir dampfen jetzt den Strom hinauf. Weshalb und wohin, das werden Sie später erfahren. Herr Kapitän Stevenbrock hat mir seinen Plan soeben in aller Kürze offenbart, und ich heiße ihn gut. Also, wir alle bleiben hier unten, niemand läßt sich an Deck sehen. Mögen die Rebellen nur erst glauben, wir wären einfach von einem Hamburger Handelsschiff, dessen Kapitän plötzlich vom Wahnsinn befallen wurde, entführt worden. Jetzt wollen wir zunächst einmal den Capitano Merveillas vernehmen!«

Und es geschah.

»Die Szene wird zum Tribunal, Und es gestehn die Bösewichter, Getroffen von der Rache Strahl.«

So schließt Schillers doch allgemein bekanntes Gedicht »Die Kraniche des Ibikus.«

Und genau so war es auch hier.

Auf die Bühne, auf welcher die Argonauten die heitersten Szenen vorführen sollten, wurde ein reichuniformierter Seecoffizier geführt, der Hafenkapitän Benito Merveillas, der höchste Beamte von Para.

Er wurde von Juba Riata geführt, der ihn auch schon vorher, so wie Stevenbrock den Präsidenten, von der Gesellschaft weggelockt und in Empfang genommen hatte, und ferner war noch ein Herr mit einem langen, blonden Vollbart dabei, in dem wir den Mann erkennen, der sich den »Fürsten des Feuers« nannte.

Hatte dieser geheimnisvolle Mann mit dem Hafenkapitän schon ein Verhör angestellt, hatte er sonst etwas mit ihm vorgenommen, um ihn zu veranlassen, vielleicht direkt zu zwingen, die völlige Wahrheit zu sagen?

Jedenfalls war der verräterische Hafenkapitän ganz und gar geständig.

Wir brauchen nicht näher zu wissen, was er alles offenbarte. Nur die Hauptsache geben wir wieder.

Es handelte sich eben um eine von langer, langer Hand vorbereitete Revolution, für die man aber vorläufig nur die Mannschaften der Kriegsflotte gewonnen hatte, einfach durch großartige Versprechungen. An die Armee hatte man sich noch gar nicht gewagt, kein einziger Offizier des Heeres war daran beteiligt.

Das Ganze ging natürlich von jenen siebzehn Plantagenbesitzern aus, sie wollten mit dem Großadmiral Macedo Almeida über Brasilien einen Kaiser sehen, um durch ihn den jetzigen, unleidigen Präsidenten zu stürzen, überhaupt wieder die Macht in Händen zu bekommen.

Wie gewöhnlich sich der Hauptstadt des Landes zu bemächtigen, davon wollte man diesmal absehen, eben wegen der Treue des Landheeres.

Der ausgemachte Plan war, mit den Kriegsschiffen Para und die ganze Mündung des Amazonenstromes zu besetzen und hier ein Heer anzuwerben, mit dem man dann gegen Rio de Janeiro und überhaupt gegen die Landarmee vorgehen wollte.

»Was denn für ein Heer anwerben?« lassen wir den examinierenden Präsidenten einmal persönlich fragen.

»Ein Söldnerheer. In allen Ländern, die dabei in Betracht kommen, vor allen Dingen in Deutschland, Frankreich und Skandinavien, sind bereits unsere Agenten massenhaft angestellt, allüberall verteilt, welche, sobald der Telegraph die Revolution der Welt verkündet hat, die Werbetrommel rühren werden. Die feilen Söldner werden zweifellos massenhaft kommen, zumal ihnen nach Niederwerfung der jetzigen Regierung große Ländereien am Amazonenstrome versprochen werden. An einer Landung können die Passagierschiffe nicht gehindert werden, da unsere Kriegsflotte ja die See beherrscht.«

Das war die Hauptsache gewesen, die man von dem geständigen Hochverräter erfuhr.

Dann traten die Herren zu einer Beratung zusammen, und außerdem waren nun auch die äußeren Vorgänge zu beobachten.

Schon daß die »Argos« plötzlich abtaute, d. h. die Verbindung durch Taue mit dem Kai löste und nach der Mitte des Hafens ging, hatte an Land natürlich das größte Staunen mit nachfolgender Erregung hervorgerufen.

Oder war dieses Staunen nicht so »natürlich«?

Es kommt hierbei etwas in Betracht, womit in gewissen Romanen und Erzählungen, die nicht gerade für die Jugend bestimmt zu sein brauchen, sehr viel gesündigt wird. Weil sie dann eben von Autoren geschrieben worden sind, die von dem ganzen Seewesen nicht die geringste Ahnung haben.

Da fährt irgend ein Schiff in irgend einen Hafen hinein, weil es dem Herrn Kapitän gerade so paßt, oder er hat es auf irgend ein anderes Schiff abgesehen, er legt dicht neben diesem bei, »geht vor Anker«, und am nächsten Morgen, nachdem er seinen Zweck erreicht, ist er spurlos verschwunden, hat in der Nacht heimlich den Hafen verlassen.

Teufel noch einmal, diesen Kapitän würden die Seebehörden ja schnell beim Wickel haben! Der wird samt seinem ganzen Schiffe unter Piraterie erklärt! Der verliert, wenn er dann keinen genügenden Entschuldigungsgrund vorbringen kann, sein Kapitänspatent!

Kann man einem Küstenbewohner erzählen, bei uns im Binnenlande dürfte jeder Fremde, wenn er gerade müde ist, irgend ein Hotel betreten, in ein Zimmer gehen, sich ins Bett legen, ausschlafen und dann einfach wieder fortgehen, ob er nun den Zimmerpreis auf den Tisch geworfen hat oder nicht? Alles so ohne weiteres; ohne sich anzumelden, ohne den Portier oder einen Kellner zu fragen.

Nein, solch ein Märchen, daß im Binnenlande solche Hotelverhältnisse herrschen, das glaubt nicht einmal ein Ostfriese, der niemals aus seinem Kaff herauskam.

Nun, dann dürfen wir Binnenländer uns auch nicht solche Hafenmärchen aufbinden lassen.

Gewiß, jedes Schiff kann jederzeit jeden Hafen, der für den Weltverkehr freigegeben, anlaufen. Aber sobald es die weitvorgeschobene Hafengrenze überschritten hat, steht es unter den Hafengesetzen. Der Hafenmeister schreibt ihm vor, wo es vor Anker zu gehen oder festzumachen hat, und dort hat es liegen zu bleiben, bis es sich wieder abgemeldet hat, und will es einen anderen Platz im Hafen haben, so muß darum nachgesucht werden.

Von den Zollverhältnissen und der Sanitätspolizei wollen wir dabei gar nicht sprechen.

Kurz und gut, daß die Matrosen der Hamburger »Argos« plötzlich die Taue von den Bollern warfen und vom Kai absetzen, daß dieses Schiff nach der Mitte des Hafens manövrierte, das war für Para ein unerhörtes Ereignis, und wäre es auch für jeden anderen zivilisierten Hafen gewesen.

Hatte es sich denn abgemeldet? Oder hatte es die Erlaubnis erhalten, seinen Platz zu verändern?

Ach, kein Gedanke da dran! Da gab es so viele Hafenbeamte, die hätten davon unbedingt wissen müssen, und sie wußten nichts von solch einer Erlaubnis.

Oder etwa, weil sich die hohen Offiziere an Bord befanden, der militärische Hafenkapitän als Stadtkommandant, der Präsident selbst? Etwa deshalb wäre nicht erst eine vorschriftsmäßige Abmeldung oder ein Nachsuchen um solch eine Erlaubnis nötig gewesen?

Ebenfalls gar kein Gedanke daran! Man muß nur die Hafenverhältnisse kennen, um dies alles begreifen zu können.

Und um die Überraschung vollzumachen, tauchte jetzt hinter jener dem Hafen vorgelagerten Insel das erste Linienschiff auf, das ganze Geschwader folgte nach, seinen Salut abgebend.

Ganz unangemeldet war es gekommen! Und dort ging das deutsche Gauklerschiff hin, mit dem Präsidenten an Bord und all den Offizieren und Beamten, welche das Kriegsgeschwader hatten feierlichst empfangen wollen!


80. KAPITEL.
DER KLOPFENDE TISCH.

Wir zählen nicht die Tage.

Großadmiral Macedo Almeida hatte sich als neuer Kaiser von Brasilien Paras ohne einen scharfen Schuß und Schwertstreich bemächtigt.

Es hatte ja auch gar nicht anders sein können. Er war eben als Geschwaderchef gekommen, war als solcher von der ahnungslosen Bevölkerung empfangen worden, und dann hatte er sich einfach mit seinen gelandeten Mannschaften in allen Hauptpunkten, die bei einer Verteidigung der Stadt in Frage kamen, festgesetzt.

Einen Teil seiner Flotte schickte er den Amazonenstrom hinauf, alle anderen Plätze eben so leicht einnehmend, auch Manaos befand sich bereits in der Gewalt der Rebellen, ohne irgend welchen Widerstand geleistet zu hoben.

In der Hauptstadt war dies alles natürlich schon bekannt. Das Heer, im Frieden aus 30 000 Mann bestehend, war bereits mobilisiert worden und konnte bis auf 150 000 Mann gebracht werden, darunter 14 Regimenter Kavallerie. Sämtliche Truppen wurden in der Umgebung von Rio de Janeiro zusammengezogen, aber das hatte für den Rebellenkaiser gar nichts zu bedeuten.

Es fehlte ja an allen Transportschiffen für die Truppen. Und wenn solche auch aufgebracht werden konnten, was wollten die denn gegen die ganze Kriegsflotte ausrichten, die in den nordamerikanischen Häfen reich mit Munition versehen worden war. Ebensowenig würde sich eine fremde Nation in diesen inneren Streit Brasiliens einmischen.

Denn so klug war Almeida, um die strengste Neutralität zu wahren. Natürlich mußte der Amazonenstrom jetzt für fremde Schiffe gesperrt werden. Aber die einmal darauf befindlichen durften ihn ungehindert verlassen. Die in Para erfolgende Untersuchung war nur die übliche. Brasilianische Handelsschiffe freilich wurden von den Meuterern konfisziert, das war auch etwas ganz anderes. Eine fremde Macht hatte keine Ursache zum Eingreifen.

So hätte Almeida mit seinem Erfolge und seiner jetzigen Lage ganz zufrieden sein können. Er befand sich hier in einer totsicheren Position, von wo aus er seine weiteren Operationen in Ruhe leiten konnte. Von den Niederlassungen am Amazonenstrome konnte er mit Lebensmitteln im Überfluß versehen werden. Es galt nur ruhig abzuwarten, unterdessen trieben seine Agenten in allen Provinzen für den neuen Kaiser von Brasilien energische Propaganda, wenn auch immer auf die Gefahr hin, kriegsgerichtlich erschossen oder vom Volke am nächsten Baume aufgeknüpft zu werden. Aber die großartigen Versprechungen, die der neue Kaiser machte, vor allen Dingen Freigabe aller Kolonisation, mußten zuletzt doch ziehen. Sonst konnte ja auch einmal eine Demonstration gegen Rio de Janeiro gemacht werden.

Aber der Großadmiral war durchaus nicht zufrieden. Sein Plan war ein so ganz anderer gewesen. Er hatte im Gegensatz zu früheren Rebellen, die sich der Herrschaft bemächtigen wollten, jedes Blutvergießen vermeiden, hatte ganz und gar friedfertig vorgehen wollen. Dazu war nur nötig gewesen, daß er sich aller führenden Regierungspersonen bemächtigte. Dann waren Heer und das ganze Land eben ohne Führer. Und das hätte hier alles so schön geklappt. Alle, alle waren hier zum Empfang der Flotte versammelt gewesen, mit einem Schlage wären sie alle in seiner Gewalt gewesen, sogar ihre Familien dazu, Frauen und Kinder, was doch sehr viel zu bedeuten hat. Macedo Almeida wäre tatsächlich sofort unumschränkter Herrscher des Landes gewesen. Der Präsident hätte zurücktreten müssen, dafür hätte er schon gesorgt.

Da hatte ihm jenes deutsche Gauklerschiff so einen fürchterlichen Strich durch die Rechnung gezogen, hatte alle diese Hauptpersonen ihm einfach entführt.

Ja, wo war dieses Gauklerschiff nur geblieben?

Es war spurlos verschwunden.

Mit Zauberei hatte das freilich nichts zu tun.

Einmal hinterläßt ein Schiff im Wasser überhaupt keine Spur, und dann gibt es eben an den Ufern des Amazonenstromes Verstecke genug, in denen man sich unsichtbar machen kann.

Die »Argos« war stromaufwärts gefahren. Eine Stunde hatte es doch gedauert, ehe der Admiral des Geschwaders alles erfahren. Schäumend vor Wut, daß ihm die Hauptpersonen alle entgangen waren, hatte er sofort einige Torpedoboote nachgeschickt, allerdings mit der strengsten Weisung, keine Gewalt zu gebrauchen, das heißt keinen Schuß abzufeuern. Seine eigene Familie befand sich ja an Bord.

Das deutsche Handelsschiff machte nur 12 Knoten in der Stunde, das schnellste der nachgeschickten Torpedoboote 22 Knoten. Ehe dieses aber die »Argos« erreicht, war sie schon in die Mündung eines nördlichen Nebenflusses verschwunden gewesen, und das Torpedoboot hatte sie nicht wiederfinden können, auch das Suchen aller anderen Fahrzeuge war vergeblich gewesen.

Dabei war ja wiederum nichts Wunderbares. Es ist ja schon geschildert worden, wie es dort aussieht, die Küsten werden gerade an der Mündung des Stromes aus lauter Inselchen gebildet, und da niemand dort etwas zu suchen hat, von dort nichts zu holen ist, so sind diese Wasserwege auch noch gänzlich unbekannt.

Kurz und gut, die »Argos« wurde nicht gefunden. Zum Strome heraus konnte sie ja nicht, die Flotte sperrte die ganze Mündung, so breit diese auch sein mochte, aber zum Vorschein kam das deutsche Schiff mit seiner kostbaren lebendigen Ladung auch nicht wieder.


Es war nachts gegen zehn Uhr.

Macedo Almeida, der, wenn er sich nicht an Bord seines Flaggschiffes aufhielt, den Regierungspalast bewohnte, saß am Schreibtisch, die Ellenbogen aufgestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, und brütete finster vor sich hin.

Es war ein Mann mittleren Alters, eine magere, kleine, unansehnliche Figur, aber sein energisches Gesicht verriet schon, daß er wirklich durchsetzte, was er einmal durchsetzen wollte! Jene Plantagenbesitzer, von denen dies alles doch ausging, mußten sich wohl geirrt haben, wenn sie gerade diesen Mann als Werkzeug für ihre Pläne auserwählt hatten. Der blieb nicht lange ein Spielball in ihren Händen. Das mußte ihnen übrigens schon jetzt klar geworden sein, der neue Kaiser von Brasilien ging bereits ganz seine eigenen Wege, worauf wir aber nicht weiter eingehen wollen.

Schon seit einer halben Stunde brütete er so vor sich hin, bewegungslos, nur immer mit den Zähnen an seinem schwarzen Knebelbart nagend.

Seine Ordonnanz trat ein.

»Ein Signor Prodelli bittet Seine Exzellenza sprechen zu dürfen, hier seine Karte.«

Der Kaiser von Brasilien, der sich vorläufig aber lieber noch nicht Majestät titulieren ließ, wendete den Kopf, ohne die dargebotene Karte zu nehmen.

»Was will er?«

»Es handele sich um eine ganz dringende, hochwichtige Angelegenheit.«

»Bloß diese Andeutung?«

»Ja.«

»Er soll Ihnen erst klipp und klar sagen, was er von mir will.«

»Aber ich habe ihm schon . . . «

»Weg!«

Die Ordonnanz ging, der Admiral, in kleiner Uniform, fiel wieder in sein Brüten, bis die Ordonnanz kam.

»Der Herr, ein Kaufmann aus der italienischen Kolonie, will wissen, wo sich das Gauklerschiff befindet.«

Diese doch höchst wichtige Meldung machte anscheinend sehr wenig Eindruck auf den Admiral. Er lehnte sich nur in den Stuhl zurück, kreuzte die Arme über den Brust und stierte einige Minuten in die elektrische Tischlampe.

Doch wer diesen Mann näher kannte, konnte dabei nichts Besonderes finden. Großadmiral Macedo Almeida war wegen seiner Schweigsamkeit bekannt. Jedes Wort legte er auf die Goldwage, brauchte auch zur Antwort einer ganz unbefangenen Frage immer eine reichliche Überlegung. Schon dadurch verriet er, daß er kein gewöhnlicher Mensch war.

»Er soll kommen!« erklang es dann.

Der Admiral befand sich allein im Zimmer und wollte den ihm fremden Mann auch allein empfangen.

Das muß gewürdigt werden.

Wenn dieser Italiener jetzt auf den proklamierten Kaiser ein Attentat beging, so wäre es innerhalb von acht Tagen das fünfte gewesen, und wer weiß, ob es wieder so gut abgelaufen wäre wie die vier vorausgegangenen.

Also dieser kleine, unansehnliche Admiral war ein ganzer Mann. Daß er jetzt einen Revolver auf dem Schreibtisch handlicher legte und sich einmal überzeugte, ob sein Sitilett griffbereit in der Brusttasche stecke, das konnte man ihm freilich nicht verdenken. Der Angemeldete trat ein. Es war ein elegant gekleideter Herr von südländischem Aussehen, mehr braucht über ihn nicht gesagt zu werden.

Almeida drehte kaum merklich den Kopf nach ihm, behielt ihn aber ganz sicher in den Augenwinkeln, ließ, sich keine Bewegung entgehen.

»Was wollen Sie?«

»Exzellenz! Es ist ein ganz merkwürdiger Fall, der mir den Mut . . . «

»Sie wollen wissen, wo sich das sogenannte Gauklerschiff befindet?«

»Ich selbst weiß es nicht. Aber mir ist eine seltsame Mitteilung zuteil geworden und ich halte es für meine Pflicht . . . «

»Fassen Sie sich kurz — ganz kurz! — Oder verlassen Sie das Zimmer.«

Der Italiener, der zwischen jedem Worte einen Bückling gemacht hatte, raffte sich zusammen.

»Meine Tochter ist mediumistisch veranlagt. Schon seit Jahren halten wir fast jeden Abend in meinem Hause spiritistische Sitzungen ab. So auch heute abend. Da meldete sich ein Geist. Wie gewöhnlich zuerst um seinen Namen befragt, gab er sich für Ihre Frau Gemahlin aus, für die Donna Mercedes Almeida. Sie verlangte Sie zu sprechen. Sie will Ihnen sagen, wo sich das Gauklerschiff befindet, will Sie nach seinem Versteck führen. Immer energischer wiederholte sie ihre Forderung. Ich sollte Sie holen. Da hielt ich es für meine Pflicht, der Aufforderung nachzukommen. So sehr ich auch gezögert habe.«

Es war ausgesprochen.

Spiritismus!

Lieber Leser! Verlasse Dich darauf, daß es in — in Deutschland England und Frankreich sei zunächst nur behauptet — kein Dorf von über 100 Einwohnern gibt, in dem nicht Spiritismus getrieben wird. Immer hat sich ein spiritistisches »Cercle« zusammengefunden. Drei Bauern gibt es in jedem Kuhdorfe, die ab und zu des Abends mit ihren Frauen und erwachsenen Kindern zusammenkommen, um durch Tischklopfen die Seelen Verstorbener zu befragen.

Das haben Männer, die sich für so etwas interessieren, mit Gewißheit konstatiert, wenn sie deswegen auch nicht gerade in jedem einzelnen Dorfe der genannten drei Hauptländer der Erde nachfragen mußten. Was übrigens auf diese Weise auch sehr schwer zu erfahren ist. Denn dieser Spiritismus wird ganz geheim getrieben. Eben aus Schamgefühl.

Aber es ist schon so! Und was für Deutschland, England und Frankreich gilt, dürfte wohl auch für die anderen zivilisierten Länder der ganzen Welt gelten. Oder das »zivilisiert« kann man auch weglassen. Wilde Völker haben nur einen anderen Namen für diese Art von Geisterbeschwörung. Und für unsere deutschen Bauern ist das aus Amerika importierte Tischrücken und Tischklopfen nicht etwa was Neues, sondern ist als sogenanntes »Kloppeding« schon seit uralten Zeiten bekannt, das stammt schon aus grauer Germanenzeit.

Und je höher die Gesellschaftsklasse, desto intensiver wird der moderne Spiritismus betrieben, aller sonstigen zur Schau getragenen Freigeisterei zum Trotz, zum Hohn.

Das große Interesse für den Spiritismus rechtfertigt sich dadurch, daß einfach an der Sache etwas Tatsächliches ist. Es kommen Phänomene zustande, die wir uns nicht mit unserem natürlichen Menschenverstande erklären können, die allen physikalischen Gesetzen spotten.

Anderseits freilich ist der ganze Spiritismus und was damit zusammenhängt, der helle Blödsinn. Nicht nur Wahnsinn, in verdunkelten Gehirnen entstehend, sondern an sich der albernste Blödsinn. Und dennoch also ist der Spiritismus eine Tatsache. Die übernatürlichen oder vielmehr übersinnlichen Phänomene, die Botschaften aus einer unbekannten Welt können nicht hinweggeleugnet werden, oder der scharfe Beobachter ist nicht ehrlich. Aber ein ernster, selbstdenkender Mensch wird auch bald den Blödsinn erkennen, gerade wenn er sich von der Echtheit der Phänomene überzeugt hat, wird dann von dem ganzen Schwindel nichts mehr wissen wollen, dem ganzen Spiritismus als einem Humbug verächtlich den Rücken kehren.

Wie diese Gegensätze zu verstehen sind — echte Wahrheit und dennoch betrügerischer Schwindel — das werden wir später aus Georg Stevenbrocks eigenem Munde zu hören bekommen. »Glauben Exzellenz an Spiritisimus?« fragte der Italiener endlich zaghaft, als schon Minuten vergangen waren und der Admiral noch immer regungslos in die Tischlampe blickte.

Als gebildeter Mann, der er war, wußte er sicher davon —— aber ob er sich damit schon beschäftigt hatte, ob er daran glaube oder nicht, das würde er diesem fremden Manne sicher nicht sagen, oder es wäre nicht der Großadmiral Macedo Almeida gewesen, den seine Bewunderer schon mit dem deutschen Moltke verglichen.

Endlich brach er sein Schweigen. Und es war wirklich sehr eigentümlich wie er sein Examen begann.

Ein anderer hätte doch wohl zunächst gefragt, ob seine Gattin denn tot sei, daß sie solche Geisterbotschaften einem Medium zukommen ließ.

»Wie alt ist Ihre Tochter?« war seine erste Frage.

»Sie wird im November 18 Jahre.«

»Ist es Ihre einzige Tochter? Ihr einziges Kind?«

»Nein.«

»Sondern?«

»Die ältere von zwei Töchtern, und dann habe ich noch zwei Söhne. Der eine, Emilio, ist jetzt . . . «

»Gut. Wie heißt die betreffende Tochter?«

»Veronika.«

»Sind die anderen Kinder auch mediumistisch veranlagt?«

»Nein.«

»Wann ist ihre Mediumschaft erkannt worden?«

»Wir wollten einmal Tischrücken machen, es war in meinem Hause eine Dame zu Besuch, die behauptete, sie könne den Tisch drehen und klopfen lassen, Tote geben Antworten auf Fragen, sie buchstabierten das Alphabet bis der betreffende . . . «

»Lassen Sie das jetzt! Keine näheren Schilderungen davon. Nur die Hauptsache von dieser ersten Sitzung will ich hören!«

»Ich hatte wohl schon von dergleichen gehört, glaubte aber damals gar nicht an so etwas, wir alle nicht. Aber es geschah wirklich. Der Tisch wurde lebendig und begann zu klopfen . . . «

»Wie entdeckte Ihre Tochter Veronika ihre Mediumschaft? Das will ich hören!«

»Gleich darauf, noch an demselben Abend, legte Veronika zum Spaß einmal allein ihre Hände auf das Tischchen — »Ist jemand da?« — und da begann das Tischchen wirklich unter ihren Händen lebendig zu werden und zu antworten. Und seitdem gelingt das immer.«

Ruhig hatte der Admiral zugehört, er steckte jetzt, sich mehr zurücklehnend, auch noch die Hände in die Hosentaschen.

Er schien es nicht gerade sehr eilig zu haben, zu erfahren, wo sich das Gauklerschiff befände oder was ihm seine Gattin, ob nun lebendig oder tot, durch Geisterklopfen sonst mitzuteilen habe.

Aber durch diese Fragen bewies er auch, daß er im Spiritismus wohlbewandert war, jedoch nicht zu jenen Spiritisten gehörte, die gläubig alles hinnehmen, was die »lieben Geister« da zusammenkloppen, mit deren Spiritistenschädel man infolgedessen die solidesten Wände einrennen kann.

»Wann war das?«

»Vor ungefähr vier Jahren.«

»Also Ihre Tochter war damals 14 Jahre alt?«

»Jawohl.«

»War es zur Zeit des Eintritts ihrer Pubertät?«

Erst blickte der Italiener erstaunt auf, dann wurde er verlegen.

»Sie wissen nicht, weshalb ich diese Frage stelle?«

»Nein, Exzellenza.«

»So, hm. Ist Ihre Tochter verheiratet?«

»O nein, sie denkt gar nicht daran.«

»Weshalb denkt sie gar nicht . . . nun, lassen wir das.«

Der Admiral blickte wieder einige Zeit schweigend in die Flamme.

Daß er nicht weiter über geschlechtliche Verhältnisse des Mädchens forschte, dazu war er nicht zu rücksichtsvoll dem Vater gegenüber. Dieser Portugiese war in dieser Hinsicht gar nicht so rücksichtsvoll, es wäre in diesem Falle auch wirklich gar nicht angebracht gewesen.

Aber er durchschaute den Italiener eben, gleich hatte nun bereits erkannt, wes Geistes Kind der in Sachen des Spiritismus war, und da hatten solche intime Fragen eben auch gar keinen Zweck.

»Ist Ihre Tochter besessen?« fragte er dann ganz gemütlich.

»Besessen?!« wiederholte der Italiener, die Augen, vor Staunen weit aufreißend.

»Ist sie krank?«

»Ganz und gar nicht.«

»Bleichsüchtig?«

»Ja, bleichsüchtig ist sie allerdings sehr, aber sonst . . . «

»Sonst gesund?«

»Ganz und gar, treibt viel Sport, also auch sonst ganz kräftig, hat guten Appetit und . . . «

»Ist sie mondsüchtig?«

»O nein!«

»Nachtwandelt nicht?«

»O nein!«

»Spricht nicht im Schlafe?«

»Na ja, manchmal, aber das tut doch jeder.«

»Kommen in Ihrem Hause Spukphänomene vor?«

»Spukphänomene?!« wiederholte der Vater wiederum erstaunt. »Ich verstehe nicht, Exzellenza . . . «

»Erschallen bei nächtlicher Weile Klopftöne, werden Möbel gerückt oder gar umgeworfen, zerbrechen Fensterscheiben oder klingt es doch so, als wenn Glas zerbrochen würde?«

Immer verblüffter wurde das Gesicht des Italieners.

»O, Exzellenza, so etwas gibts doch gar nicht,« sagte er dann mit blödem Lächeln.

»So. Hm. Gut. Wie betreiben Sie nun das Tischrücken mit Ihrer Tochter?«

»Nun, wir setzen uns um ein leichtes Tischchen . . . «

»Wer, wir?«

»Nun, meine Frau und ich und die anderen Familienmitglieder, oder sonstige Personen, die ich eingeladen habe . . . «

»Aber Ihre Tochter Veronika muß immer mit dabei sein.«

»Ja natürlich!«

»Es könnte doch einmal ein anderes Medium sein.«

»Allerdings, und in den vier Jahren sind auch schon zwei andere Personen . . . «

»Bleiben wir bei Ihrer Tochter. Was nun weiter?«

»Sobald wir die magnetische Kette . . . Verzeihen Exzellenza, wissen — —«

»Ja, ich weiß, was man unter der magnetischen Kette versteht. Und wenn nun die Hände vorschriftsmäßig zusammengelegt sind?«

»Dann beginnt es in dem Tischchen sofort zu knacken.«

»Sofort?«

»Sofort. Augenblicklich. Und das ist auch der Fall, wenn nur Veronika allein ihre Hände auf den Tisch legt.«

»Auch dann knackt es in dem Tische?«

»Sofort.«

»Wenn sie ganz allein die Hände auf den Tisch legt?« vergewisserte sich der Admiral nochmals, wozu er wohl seinen Grund haben mochte.

»Auch dann.«

»Aber nur im Finstern.«

»Nein, auch am hellen lichten Tage.«

»Dann klopft auch der Tisch, am hellen Tage nur unter ihren Händen?«

»Ja. Sobald sie fragt: Ist jemand da? — beginnt der Tisch zu klopfen. Allerdings nur ganz schwach.«

»Wieviel beträgt dann die Gewichtszunahme des Tisches?«

»Gewichtszunahme?« wiederholte der Italiener verwundert.

»Bemerken Sie nicht, daß der Tisch dann viel schwerer wird?«

»Ja, allerdings, aber . . . «

»Haben Sie diese Gewichtszunahme noch niemals gemessen?«

»Wie denn gemessen?«

»Nun einfach mit einer Wage. Sie setzen den Tisch auf eine Tafelwage.«

»Nein.«

»Sind Sie auf solch einen Gedanken noch nie gekommen?«

»Nein!« gab der Italiener zögernd zu.

»Keine andere Person, die an den Sitzungen teilnahm?«

»Nein.«

»So. Hm. Was klopft denn nun der Tisch — oder meinetwegen der Geist — wenn Ihre Tochter allein am hellen Tage die Hände auflegt?«

»Dann sagt der Geist stets zuerst: zu hell; Kraft zu schwach; mehr Personen — oder so etwas ähnliches.«

»So, hm. Ich verstehe. Bleiben wir nun bei der geschlossenen Gesellschaft von mehreren Personen. Also der Tisch beginnt sofort zu klopfen.«

»Erst zu knacken, das sofort. Dann muß gefragt werden: ist jemand da? Dann —«

»Fragt das Ihre Tochter?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Die mag niemals fragen.«

»Weshalb nicht? Antwort!«

»Die — die — der — der . . . ist die ganze Sache überhaupt immer höchst unangenehm!« erklang es zögernd.

»Fällt sie dabei in Trance? Wissen Sie, was man hierunter versteht?«

»Ja. Aber einschlafen tut sie dabei eigentlich nicht. Ganz richtig ist es freilich auch nicht. Sie verdreht die Augen nach oben, seufzt und stöhnt, klagt über eisige Kälte im ganzen Körper . . . «

»Schon gut. Also kein eigentliches Trancemedium. Und doch, eines muß ich noch fragen. Sie wohnt solchen Sitzungen nicht gern bei?«

»Nein.«

»Und doch halten Sie solche Sitzungen fast jeden Abend ab?«

»Ja.«

»Sie befehlen Ihre Tochter dazu?«

»In diesem Falle läßt sie sich gar nichts befehlen.«

»Sondern? Wie bringen Sie sie dazu?«

»Durch — durch Versprechungen . . . «

»Sie bezahlen sie dafür?«

»O nein! Aber sie verlangt etwas dafür, ein neues Kleid oder einen Schmuck oder auch nur einen Ausflug, einmal Theater . . . «

»Gut, ich verstehe. Aber wenn fremde Gäste da sind, läßt sie sich gern als Medium gebrauchen, nicht wahr?«

»Ja, dann fordert sie selbst dazu auf . . . «

»Richtig. Es ist ihre Eitelkeit . . . «

»Nein, eigentlich ist meine Veronika ganz und gar nicht eitel . . . «

»Schon gut, schon gut. Es ist eine besondere Art von Eitelkeit. Oder mehr gekränktes Ehrgefühl. Man könnte an ihrer Ehrlichkeit zweifeln. Weiß schon. Lassen wir das. Was für Intelligenzen — oder Wesen, wollen wir sagen melden sich nun da?«

»Die allerverschiedensten Geister.«

»Geister?«

»Nun ja, es sind doch die Seelen von Verstorbenen, da darf man doch wohl von Geistern sprechen.«

»Kommen nicht auch manchmal noch lebende Personen?«

»Noch lebende Personen?!« wiederholte der Italiener im Tone des höchsten Erstaunens. »Ja, wie sollen die denn kommen können?!«

Zum ersten Male wendete der ausgedörrte, wie in der Kaffeetrommel geröstete Admiral ihm voll das Gesicht zu, um sich dieses menschliche Gewächs ordentlich zu betrachten. Kläglich sah dieses allerdings nicht aus, nicht so kläglich, wie der zusammengeschrumpelte Großadmiral.

Aber wußte der, wen er vor sich hatte, wes Geistes Kind?

Ganz sicher!

Eben solch einen Spiritisten, mit dessen Kopf man jede Mauer einrennen kann.

»So, hm!« wurde dann wiederum gebrummt. »Also es kommen immer nur die Seelen von Verstorbenen?«

»Ja natürlich. Dann allerdings manchmal auch noch andere Geister.«

»Was für andere Geister? Von welcher Sorte?«

»Ja, das sind eben Geister, die — die auch früher gar keine Menschen gewesen sind.«

»Sondern? Tiere?«

»Nein. Die kommen nie.«

»Engel?«

»So ungefähr.«

»Was man Elementargeister nennt, nicht wahr?«

»Ja — nein — vielleicht . . . sie geben über sich keine nähere Auskunft.«

»Sonst aber kommen nur Tote, nie noch lebende Personen.«

»Gewiß doch.«

»Demnach also wäre auch meine Frau tot.«

Zum allerersten Male berührte Almeida diese Frage. Doch sicher ganz seltsam. Der Italiener wurde sehr verlegen.

»Exzellenza, ich bedaure ungemein, daß gerade ich es bin, der Ihnen diese Hiobsbotschaft . . . «

»Schon gut, schon gut. Kommen diese Geister und Toten von selbst?«

»Ja freilich, sie beginnen von selbst zu klopfen . . . «

»Ich meine: kann man sie nach Willkür herbeirufen?«

»Ja, einer holt den anderen, wenn man ihn dazu auffordert. Ganz nach Wunsch. Allerdings wird einem die Bitte manchmal oder sogar sehr häufig abgeschlagen.«

»Und was sagen nun die Geister aus?«

»Alles was man sie fragt, beantworten sie. Wenn sie wollen.«

»Manchmal aber wollen sie wohl nicht, eh?

»Allerdings nicht, aber . . . «

»Befragen Sie die Geister über die Zukunft?«

»Ja, aber . . . «

»Dann ist die Antwort immer eine so dunkle, daß man gar nichts daraus entnehmen kann, eh?«

»Allerdings, aber . . . «

»Alle diese Geister geben doch vor, hellsehend zu sein?«

»Ja.«

»Haben Sie geprüft, ob solche Aussagen stimmen?«

»Ja, schon oft.«

»Nun?«

»Manchmal stimmts, manchmal stimmts nicht.«

»Unter zehn Malen stimmt die Angabe höchstens einmal, nicht wahr?«

»So ungefähr!« mußte der italienische Spiritist, der immer verlegener wurde, zugeben.

»Kommen bei Ihrer Tochter auch Phänomene zustande?«

»Phänomene?«

»Führt der Tisch selbständige Bewegungen aus?«

»Ei gewiß. Er wackelt hin und her, springt in die Höhe und tanzt nach der Melodie eines Walzers, der auf dem Klavier gespielt wird.«

»Steigt er auch in die Höhe und bleibt in der Luft frei schweben, wenn auch von den Händen der Umsitzenden berührt?«

»In der Luft schweben bleiben? Nein, das hat er noch niemals getan.«

»Wirft er Gegenstände um?«

»Jawohl, das tut er.«

»In welcher Weise?«

»Nun, wenn wir zum Beispiel eine Klingel auf einen Stuhl setzen, und wir befehlen, der Geist soll die Klingel herabwerfen, so marschiert der Tisch hin, bückt sich und wirft die Klingel vom Stuhle.«

»Oder aber mit Vorliebe wirft er einfach auch den ganzen Stuhl um?«

»Allerdings!« bestätigte der Italiener schon wieder mit verdutztem Gesichte. »Wenn wir nicht direkt befehlen, daß der Geist dabei den Stuhl stehen lassen soll, so wirft er regelmäßig den ganzen Stuhl um.«

»Wirft er die Klingel auch vom Stuhle, ohne daß er hinmarschiert?«

Jetzt bekam der Italiener ganz große Augen.

»Ohne daß der Tisch die Klingel berührt?!«

»Ja. In einiger Entfernung von dem Cercle.«

»Wie soll er denn das machen?!«

»Durch Fernwirkung.«

»Fernwirkung?« erklang es verständnislos zurück.

Wieder einmal wandte der Admiral jenem sein ganzes Gesicht zu.

»Haben Sie noch niemals in Ihren Sitzungen solche Forderungen gestellt?«

»Nein.«

»Haben Sie Materialisationen verlangt?«

»Nein.«

»Wissen Sie, was man hierunter versteht?«

»Daß der Geist sich sichtbar macht oder doch einen leuchtenden Körperteil erscheinen läßt, etwa eine Hand.«

»Und solche Forderungen haben Sie noch nie gestellt?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Weil — weil — — ach, so was gibts ja gar nicht!« wurde jetzt blöde gelächelt.

»So. So etwas gibts ja gar nicht!« wiederholte der Examinator in verächtlichem Tone. »Haben Sie denn noch keine spiritistischen Bücher gelesen?«

»Sehr wenige, ich habe keine Zeit dazu, und das ist ja alles auch Erfindung, was da drin steht.«

»Aha! Wie heißen Sie?«

»Leo Prodelli.«

»Was sind Sie?«

»Kaufmann.«

»Kaufmann, Kaufmann — womit Sie schachern, will ich wissen!«

»Ich bin Importeur!« sank der nicht eben freundlich Angeredete in sich zusammen.

»Was importieren Sie?«

»Hauptsächlich Petroleum, Stearinlichter und Streichhölzer — für ganz Brasilien.«

»So. Also Sie sorgen, daß Brasilien während der Nacht immer die nötige Helligkeit hat. Sehr löblich von Ihnen. Aber ich dachte eher, Sie handelten mit Nachtmützen, Sie haben in Ihrer Familie ein ausgeprägtes Medium, anscheinend sogar ein ziemlich starkes, und Sie begnügen sich damit, einen wackligen Tisch auf sinnlose Fragen alberne Antworten klopfen und ihn nach dem Takte eines Walzers tanzen zu lassen, das genügt Ihnen vollkommen, um an die Existenz von Geistern zu glauben, Sie denken nicht einmal daran, ein Phänomen zu fordern, das keines der Cerclemitglieder mit seinem ausgestreckten Beine ausführen kann. Ja, mein Herr, Sie sind gerade der Richtige, Sie haben in der Gemeinschaft der Spiritisten nur noch gefehlt, um den Blödsinn vollzumachen. Schämen Sie sich!«

Von einem anderen hätte dieser elegante Italiener sich ja schwerlich so etwas sagen lassen, danach sah er gar nicht aus, aber mit so einem selbstherrlichen Kaiser von Brasilien ist doch nicht gut Kirschen essen. Der ließ ihm, wenn es ihm beliebte, einfach eine Bastonade aufs Hinterteil geben oder hing ihn auch gleich am nächsten Laternenpfahl auf. Solche Fälle waren nämlich während dieser neuen, noch nicht anerkannten Kaiserherrschaft schon vorgekommen. Nein, mit diesem Männchen in Admiralsuniform war durchaus nicht zu spaßen, der machte kurzen Prozeß, wenn ihm etwas nicht paßte.

Also der so gemaßregelte Italiener knickte immer mehr zusammen, während Macedo Almeida wieder einige Minuten schweigend in die Lampe starrte.

»Also heute abend meldete sich bei Ihnen meine Gattin als Geist an!« nahm er dann wieder das Wort.

»Jawohl, Exzellenza!l« wurde geflüstert

»Wann heute abend?«

»Es mag jetzt ungefähr eine halbe Stunde her sein.«

»Hatten Sie sie gerufen?«

»O nein, Exzellenza.«

»Weshalb o nein?«

»Wie konnten wir erwarten, daß Donna Almeida tot seil«

»Hat sie gesagt, daß sie tot sei?«

»Das hat sie allerdings nicht direkt gesagt . . . «

»Haben Sie sie nicht deswegen gefragt?«

»Das war natürlich die erste Frage, die wir erschrocken stellten.«

»Nun und?«

»Da gab sie keine Antwort.«

»Weshalb wohl nicht?«

»Die Seelen der Abgestorbenen antworten niemals auf solche Fragen, niemals.«

»Weshalb nicht. Ihre Meinung hierüber will ich hören!«

»Mir scheint, als ob diese Seelen gar nicht wüßten, daß sie schon tot sind.«

»Stimmt!« nickte der Admiral gedankenvoll seiner Tischlampe zu. »Und was nun weiter?«

»Immer wieder forderte der Geist Ihrer seligen Frau Gemahlin uns auf, wir sollten sofort Eure Exzellenz herbeirufen.«

»Sagte sie nicht, weshalb?«

»Sie hätte Ihnen eine wichtige Mitteilung zu machen.«

»Sonst nichts weiter?«

»Auf immer energischeres Drängen gab sie an, sie könnte Ihnen sagen, wo das Gauklerschiff liege.«

»Wollte sie Ihnen selbst das nicht sagen?«

»Ich gestehe, daß ich immer wieder den Versuch machte, aber sie verweigerte hartnäckig. Nur Ihnen wollte sie es mitteilen und Sie dann direkt hinführen.«

»Auf welche Weise mich hinführen?«

»Das hat sie nicht gesagt.«

»Obgleich Sie deshalb fragten.«

»Ich gestehe, daß ich . . . «

»Da ist gar nichts weiter zu gestehen, das kann ich Ihnen nicht übel nehmen. Wo wohnen Sie?«

»In der Calle minores Nummer neun.«

»Wie weit ist das von hier?«

»Keine Viertelstunde.«

»Zu Fuß?«

»Jawohl.«

»Äußert sich die Mediumschaft Ihrer Tochter auch anderswo, außerhalb des ihr vertrauten Raumes?«

»Ich glaube ja . . . «

»Was heißt glauben!« wurde der Allmächtige schon wieder ungeduldig. »Ja oder nein! Doch können Sie auch ausführlicher sein.«

»Zweimal schon haben wir solche Sitzungen in anderen Häusern abgehalten, es glückte stets, einmal auch in Rio —«

»Gut! Wird Ihre Tochter kommen, wenn ich sie bitte, daß sie die Sitzung hier abhält?«

»Aber selbstverständlich doch, Exzellenza,« beeilte sich der Italiener zu versichern, »es gereicht ihr doch zur höchsten . . . «

»Still. Das ist gar nicht so selbstverständlich. Ich weiß sehr wohl, daß man solch einem Medium gar nichts befehlen kann, oder ihre Kraft verläßt sie, und dann greift sie gewöhnlich zum Be . . . «

Der Sprecher brach ab. Zum Betrug, hatte er sagen wollen. Daß er die letzte Silbe unterdrückte, das zeigte, daß dieser Mann doch noch einige Rücksicht kannte.

»Benutzen Sie bei Ihren Sitzungen immer ein und denselben Tisch?« fragte er dann weiter.

»Ja, einen kleinen, sehr leichten Bambustisch. Aber es braucht durchaus nicht immer derselbe zu sein, es geht auch mit jedem anderen Tische, selbst bei einem sehr schweren, nur daß dann . . . «

»Gut! Haben Sie Telephon in Ihrem Hause?«

»Ja.«

»Hier ist ein Telephon. Rufen Sie Ihr Fräulein Tochter an, ich lasse sie höflichst bitten, mir sofort einen Besuch abzustatten, um bei mir eine spiritistische Sitzung abzuhalten. Sie möchte den betreffenden Bambustisch mitbringen. In zehn Minuten wird meine Equipage dort sein, um sie abzuholen, in weiteren zehn Minuten erwarte ich die Signorina hier. Also keine Toilette! Sie kann auch jemanden mitbringen, ihre Frau Mama und Geschwister. Wen sie will?. Aber sofort! Bei so etwas kommt es nicht auf einen Schlafrock an. Sie können auch noch sagen, daß Sie, ihr Herr Vater, durch ihre Gefälligkeit den größten geschäftlichen Vorteil haben werden. Telephonieren Sie. Ordonnanz!«

Die Equipage, immer bereit stehend, fuhr schon davon, als Signor Prodelli noch sein Gehirn anstrengte, um sich seiner Telephonnummer zu erinnern, die er sonst im Schlafe wußte. So verwirrt war er geworden. Endlich hatte er mit seinem Hause Verbindung, einige Wechselreden, und dann: »Ja, Papa, ich komme sofort, erwarte nur den Wagen.«

Unterdessen hatte der Admiral das Zimmer verlassen, kehrte nach wenigen Minuten mit zwei Herren zurück, von denen der eine ein hoher Offizier war, der andere, im schwarzen Gehrock, ein glattrasiertes, höchst energisches Yankeegesicht hatte. Wer einigermaßen Erfahrung besaß, sah ihm den Detektiv gleich an. Mister Wilsley, wie er hieß — er führte aber noch hundert andere Namen — hatte innerhalb der letzten acht Tage dem Kaiser von Brasilien viermal das Leben gerettet, d. h. jedes Attentat noch rechtzeitig vereitelt.

Diese beiden hatte der Admiral draußen schon eingeweiht, wozu der ja nicht viel Worte brauchte.

Auch einige Männer kamen, Diener, welche verschiedene Vorbereitungen treffen mußten.

Der Teppich wurde zurückgeschlagen, an dem elektrischen Kronleuchter wurden zwei doppelte Isolierdrähte befestigt, unten kam ein doppelter Kontakt daran, die eine Glühbirne wurde mit einem schwarzen Flor umhüllt, so daß man mit einem Druck des Fußes sowohl ganz helles wie auch nur ganz schwaches Licht erzeugen konnte.

»Haben Sie es statt des langwierigen Buchstabierens noch nicht mit einem Psychographen versucht?« fragte der Admiral den Italiener einmal. »Wissen Sie, was man hierunter versteht?«

»Ja, ein hölzerner Zeiger, der sich über den im Kreise geordneten Buchstaben des Alphabets dreht. Wenn das Medium den Zeiger berührt, soll sich der Zeiger von selbst auf den betreffenden Buchstaben einstellen. Das haben wir wiederholt versucht, aber es ging niemals.«

»Dann haben Sie es nur nicht geschickt genug angefangen. Übrigens gibt es einen noch viel einfacheren Psychographen, nur aus einer Nußschale und einer Glastafel bestehend. Nun, bleiben wir nur beim Klopfen des Alphabets, wir haben jetzt keine Zeit mehr, solch einen Apparat zu fertigen.«

Dann berußte der »Kaiser von Brasilien« mit eigener Hand über einer Kerze einen weißen Porzellanteller, baute verschiedene Gegenstände auf, die in aller Schnelligkeit besorgt werden mußten, darunter recht merkwürdige Sachen, so zum Beispiel eine Schüssel mit Mehl, einen großen Gummiball und anderes, was sich ein Unkundiger nicht so leicht erklären konnte, auch der Italiener machte ein verdutztes Gesicht.

Der im Spiritismus Erfahrene aber wird merken, daß hier eine Sitzung von kundiger Hand vorbereitet wurde, von einem Manne, der die Echtheit des Mediums den schärfsten Prüfungen unterziehen wollte, der sich von keinem Taschenspieler betrügen ließ.

So ein echter, rechter Spiritist, der an die »lieben Geister« glaubt, alle ihre Offenbarungen für bare Münze nimmt, wird freilich mit diesen Ausführungen wenig zufrieden sein. Der ganze Spiritismus ist hier ja wiederholt ein alberner Blödsinn genannt worden. Desto zufriedener aber mit dieser Ausführung wird ein echter Okkultist sein, ein Mann, der zwar den Spiritismus mit all seinen Phänomenen als Tatsache anerkennt, ihn studiert hat, ihm dann aber als einer albernen Kinderspielerei den Rücken wendet.

Wie dieses Paradoxon zu verstehen ist? Nun, die drahtlose Telegraphie ist doch eine Tatsache. Wer glaubt da heute noch an eine Zauberei? Gewiß, es gibt solche Menschen. Hinterwäldler, Wilde, Blödsinnige. Die werden sich wohl entsetzen, wenn so ein Apparat plötzlich zu klappern beginnt. Es braucht nicht einmal drahtlose Übertragung der elektrischen Wellen zu sein.

Und diesen Naturmenschen gleichen ganz genau jene gläubigen Spiritisten, welche diesen Ausdruck einer psychischen Kraft für eine Art von Zauberei hinnehmen.

Was das für eine Kraft ist, wissen wir freilich noch nicht. So wenig wie wir wissen, was eigentlich Elektrizität und Magnetismus ist. Ja, wir haben ja noch nicht einmal die geringste Ahnung, weshalb eigentlich der Stein zu Boden fällt, d. h. weshalb ein größerer Gegenstand jeden kleineren anzieht. Aber in Wirklichkeit existiert doch diese Kraft. Und das ist doch keine Zauberei.

Mag diese erklärende Andeutung vorläufig genügen. Nur noch eines möchte hier gesagt werden: wer nicht selbst mit einem Medium experimentiert hat, der hat auch kein Recht, über den Spiritismus irgend welches Urteil zu fällen!

Diese Vorbereitungen waren gerade beendet, als Signorina Veronika Prodelli gemeldet wurde. Sie kam allein, brachte nur das Tischchen mit.

Eine zierliche Jungfrau, einen äußerst unschuldigen Eindruck machend. So ein halber Engel. Zumal sie im Gegensatz zum Vater rotblondes Haar und blaue Augen hatte, weil durch die Mutter venezianischer Abstammung. In Venedig ist das Rotblond zu Hause. Ihre Schüchternheit schien sie nicht nur vor dem Kaiser von Brasilien zu haben, sie war ihr angeboren. Überhaupt ein ganz einfaches Mädchen. Daß sie trotzdem für solche ihr höchst unangenehmen Sitzungen manchmal ein neues Kleid oder einen Schmuck oder etwas ähnliches verlangte, das war wieder etwas ganz anderes, das war ganz normal, oder es wäre eben kein richtiges Mädchen gewesen.

Doch nicht lange, so wurde sie von ihrer Schüchernheit verlassen, begann aufzutauen. Daran war nur Admiral Almeida schuld. Denn den erkannte man gar nicht wieder. So höflich war er gegen die kleine Person — nein, nicht nur höflich sondern so liebevoll zärtlich, so redete er mit ihr von diesem und jenem, von Alltäglichkeiten, so führte er sie in das Nebenzimmer, wo Erfrischungen aufgestellt waren, schob ihr die Bissen förmlich in den Mund, nötigte ihr wenigstens ein Glas Limonade auf.

Und dabei war Macedo Almeida sonst nicht etwa ein galanter Kavalier. Seine Brüskheit auch den Damen gegenüber war schon sprüchwörtlich geworden.

Aber er war eben im Spiritismus erfahren und wußte, woran es hierbei ankam. Wenn er die Tochter so barsch wie den Vater behandelt hätte, würden sie sich dann vergebens stundenlang um den Tisch gesetzt haben. Vor Gericht wird man nie eine spiritistische Sitzung mit Erfolg abhalten können. Aber das wollen ja die Herren nicht einsehen, können es nicht begreifen. Nein, das geht nicht. So wenig wie eine fette Nachtigall singt oder ein satter Poet dichten kann.

»Sind Sie jetzt bereit, mein liebes Fräulein, uns einige Beweise von Ihrer phänomenalen Kraft zu geben?«

»Mit dem größten Vergnügen, Exzellenza!l« konnte das junge Mädchen schon ganz unbefangen lächeln.

Jetzt aber mußte sie sich erst einige Untersuchungen gefallen lassen, freilich ganz harmlose, keine Leibesvisitationen.

Sie mußte auf eine Gummidecke treten und wurde von den beiden Seeoffizieren mit einem stabilen Kompaß gewissermaßen abgeleuchtet. Dasselbe galt vom Vater. Da die Nadel nicht abgelenkt wurde, konnten sie keinen Magneten bei sich verborgen haben.

Dann wurde auch auf einen Tisch, eine Gummidecke gelegt und der Kompaß darauf, das Mädchen mußte seine Hände darum schließen, die Fingerspitzen zusammen. Die Nadel drehte sich nicht.

Als aber nun der Kompaß frei auf dem Holztische lag, schlug zwischen ihren Händen die Nadel sofort einige Striche nach Osten aus.

Darüber schon das größte Staunen von Vater und Tochter! Auch dieser Versuch, um eine mediumistische Kraft zu erkennen, war ihnen ganz fremd. Allerdings schlägt die Nadel nicht immer aus. Erst muß das Medium wissen, daß es ein Medium ist. Erst muß das Bewußtsein in Kraft treten. Und dann kommt noch der Wille hinzu, der durch jede unfreundliche Störung aufgehoben werden kann.

Dann wurde auf eine Tafelfederwage ein dünnes Brett gelegt. Es wog ungefähr 200 Gramm. Wenn jemand ganz leicht die Fingerspitzen auflegte, kamen noch ungefähr 50 Gramm hinzu. Als aber nun Veronika ihre Fingerspitzen aufsetzte, so leicht als möglich, ging der Zeiger sofort bis auf ein Kilo herab.

Eine Täuschung war dabei ganz ausgeschlossen. Nicht etwa, daß das Mädchen irgendwie drückte. Man hat auch Apparate konstruiert, um diesen eigentlichen Fingerdruck zu messen, die hier aber fehlten, und sie waren auch wirklich nicht nötig. Beide Lampen brannten, es war ganz hell im Zimmer, und man kann doch deutlich unterscheiden, ob jemand mit den Händen einen Druck von einem Kilo ausübt oder nur mit den Fingerspitzen ein Brett eben berührt.

Und als nun die helle Flamme abgestellt wurde, die umflorte Birne nur einen schwachen Dämmerschein verbreitete, in dem man den Zeiger der Wage aber doch noch deutlich erkennen konnte, übten die leise aufgelegten Fingerspitzen des Mädchens sofort einen Druck bis zu vier Kilo aus.

Als aber nun gar auch die umflorte Lampe ausgedreht wurde, völlige Finsternis im Zimmer herrschte, sank die Wage noch viel, viel tiefer. Diese Gewichtszunahme konnte aber nicht mehr konstatiert werden. Denn in dem Augenblick, da das Licht angedreht wurde, schnellte auch der Zeiger wieder zurück.

Dann wurde das mitgebrachte Tischchen vorgenommen. Die runde, dünne Platte einen halben Meter im Durchmesser, die drei Füße aus leichtem Bambusrohr. Es wog anderthalb Kilo. Wie es so kopfüber auf der Wage lag, mußte Veronika ebenfalls ihre Fingerspitzen leicht auf die untere Seite der Tischplatte legen, und sofort ging der Zeiger bis zu acht Kilo herab, bei gedämpftem Lichte bis zu dreizehn Kilo.

Das Gewicht multipliziert sich mit dem Volumen, mit der Masse. Und daß das zarte, schwächliche Mädchen mit den Fingerspitzen solch einen Druck von mehr als zehn Kilo ausüben konnte, das war nun gänzlich ausgeschlossen. Und doch tat sie es. Aber eben nicht durch Muskelkraft, sondern durch ihre Nervenkraft — wollen wir gleich sagen. Obgleich das im Grunde genommen gar nichts sagt. Denn wir wissen nicht, was Nervenkraft ist,

Jetzt begann die eigentliche spiritistische Sitzung. Zuerst aber mußte Veronika allein ihre Hände, die beiden Daumen und Zeigefinger mit den Spitzen zusammen, in die Mitte der Tischplatte legen, sie setzte sich auch gar nicht, sondern blieb stehen,

Sofort knackte es in dem Tischchen heftig, man sah in dem vollen Lichte, wie sich die dünnen Füße stark bogen. Ein Mann, die Hand unter die Platte legend, könnte den Tisch kaum noch aufheben, jetzt mußte die Gewichtszunahme noch viel mehr als zehn Kilo betragen. Weil das Medium jetzt eben seine Nervenkraft in ein ihm vertrautes Möbel überfließen ließ.

»Los, fragen Sie!« kommandierte Almeida.

Und die Geschichte ging los. Noch sei erwähnt, daß ein einmaliges Klopfen Nein, ein dreimaliges Ja bedeuten sollte.

»Ist jemand da? fragte das Mädchen.

Nur wenige Sekunden, durch heftiges Knacken ausgefüllt, dann neigte sich der Tisch etwas und pochte einmal vernehmlich mit einem Fuße auf.

Also nein. Es sollte niemand da sein.

Hiermit ging also auch schon der Widersinn los.

Das Mädchen wurde denn auch gleich sehr verlegen.

»Das machen die Geister immer so, wenn sie . . . «

»Ich weiß schon, woher das kommt!« ermunterte sie gleich Almeida, »für mich ist das durchaus kein Widersinn. Fragen Sie nur weiter, ganz so, wie Sie es gewöhnt sind.«

»Ist jemand da?« wiederholte das Mädchen.

»Nein!« wurde einmal geklopft.

»Es ist aber doch jemand da!«

»Nein.«

»Willst Du uns Deinen Namen nennen?«

»Nein.«

»Hast Du uns etwas zu sagen?«

Ganz, ganz schwach, aber doch noch deutlich hörbar, wurde dreimal geklopft. Also ja.

»Bitte buchstabiere. A b c d.«

Das langweilige Buchstabieren begann. Wenn der betreffende Buchstabe kam, hörte das Klopfen auf.

»Keine Kraft!« kam heraus. Obgleich es ziemlich laut geklopft hatte. Dann hatte sich der Geist eben einmal sehr angestrengt, und das behagte ihm nicht.

»Ist es Dir zu hell?«

»Nein.«

»Brauchst Du mehr Personen?«

»Ja.«

Jetzt setzten sich alle um den Tisch, gingen gerade daran, und wollten sich nicht ganz eng zusammenquetschen, es mußte sowieso ein weiterer Kreis gebildet werden, so daß jeder bequem unter den Tisch blicken konnte.

Die sogenannte magnetische Kette wurde gebildet. Das heißt, sie legten die Hände so auf den Tisch, daß jeder seine eigenen Daumenspitzen und einer des anderen kleinen Finger berührte. Aber so genau kommt das gar nicht drauf an, und ist die Sache einmal im Gange, brauchst auch gar nicht mehr auf eine geschlossene Kette gehalten zu werden, es genügt schon, wenn jeder nur eine Hand irgendwo auf oder an den Tisch legt. Dann brauchen sich die Hände auch nicht mehr zu berühren. Dann, wollen wir sagen, pflanzt sich die Nervenkraft durch das nun einmal leitend gewordene Holz fort. Nur das Medium muß seine beiden Hände möglichst immer zusammenhalten.

Jetzt knackte es in dem Tische noch ganz anders, er krachte in allen Fugen, und man hätte die Platte eher abbrechen können, ehe man den ganzen Tisch heben konnte. Dies als geschah noch bei vollem Lichte.

»Ist jemand da?« übernahm jetzt Almeida, wie bereits ausgemacht, das Verhör.

Der Tisch neigte sich ganz auf die Seite, dorthin, wo Veronika saß, blieb so stehen, in einem Winkel von mindestens 45 Grad. Also auf zwei Beinen, das dritte seitwärts ausstreckend.

Plötzlich, wie der Tisch noch so stand, schlug der Detektiv von unten des Mädchens Hände weg. Aber es hatte keinen Zweck, auch ohne sie blieb der Tisch jetzt so stehen, überhaupt hatten ihre Hände wirklich ganz lose darauf gelegen, und trotzdem vermochte man den Tisch auf der anderen Seite kaum wieder herabzudrücken.

»Glauben Sie denn etwa, ich bin es, die den Tisch hier herabdrückt?!« fragte das Mädchen schwer beleidigt.

»Nein, nein, das glauben wir nicht!« beeilte sich Almeida zu versichern. »Sennor Wilsley! keine solchen Eingriffe mehr!«

Veronika legte die Hände wieder auf den Tisch und sofort ging der Tisch wieder herab, was also doch gerade den physikalischen Gesetzen entgegensprach.

Dreimal klopfte der freie Fuß sehr stark. Der Tisch hatte zu dieser Bejahung gewissermaßen ausgeholt. Was er manchmal tat, besonders für ein energisches Nein.

»Bist Du es, Mercedes?«

»Nein.«

»Willst Du mir Deinen Namen buchstabieren?«

»Ja.«

»Los! A b c d . . . «

»Fernando!« kam heraus.

»Fernando? Was für ein Fernando?«

Ein dreimaliger Doppelschlag erfolgte.

»Das bedeutet, daß der Tote noch weiter buchstabieren will!l« erklärte Prodelli.

»Also weiter.«

»Honjas!« kam heraus.

Der Admiral machte ein etwas erstauntes Gesicht.

»Fernando Honjas, mein Studienfreund aus Sevilla. An den habe ich jetzt nun freilich auch nicht im entferntesten gedacht! Und seit zwanzig Jahren schon sind wir auseinander, uns völlig fremd geworden! Hm, höchst merkwürdig!«

»Er ist tot und will Sie sprechen!« sagte Prodelli.

»Wir werden sehen. Fernando, bist Du tot?«

»Nein!« wurde höchst energisch geklopft.

»Du lebst also noch?«

Dreimal ein sehr starkes Pochen . . . jawohl ja gegewiß!

»Das ist so ein Truggeist, Lebende können gar nicht kommen, wie soll denn das möglich sein!« hielt sich Prodelli zur Erklärung für verpflichtet.

»Fernando, bist Du noch da?«

»Ja.«

»Wie geht es Dir? Gut?«

»Ja.«

Dann aber folgte hinterher noch eine Verneinung.

»Dir geht es nicht gut?«

»Nein.«

»Was fehlt Dir?«

Keine Antwort, nur ein heftiges Knacken.

»Bist Du krank?«

»Ja.«

»Was fehlt Dir. Buchstabiere Deine Krankheit.«

»Leber.«

»Du bist leberkrank?«

»Ja.«

»Wo wohnst Du jetzt?«

»Lissabon.«

»Wo da?«

»Paladina zweiundvierzig.«

»Sennor Wilsley, schreiben Sie sich diese und die weiteren Angaben einmal auf, damit wir dann kontrollieren können.«

>>Alll'ight.<<

»Bist Du verheiratet?«

»Ja.«

»Wie heißt Deine Frau?«

»Emilia.«

»Vatersname?«

»Sakko.«

»Hast Du Kinder?«

»Ja.«

Name und Alter, alles wurde befragt, beantwortet und aufgeschrieben.

»Was machst Du gegenwärtig?«

»Ich schlafe.«

»Träumst Du von mir?«

»Nein.«

»Was ist es, was jetzt zu mir spricht?«

»Mein Unbewußtes.«

»Ist das so viel wie Deine Seele?«

Wohl erfolgte eine Bejahung, aber zögernd erst nach einer Pause.

»Ist diese Deine Seele — oder Dein Unbewußtes — jetzt hier bei uns in diesem Zimmer?«

Erst ein kräftiges Ja, dann gleich hinterher ein eben so energisches Nein.

»Was soll das heißen?«

Keine Antwort.

»Deute durch ein Stichwort an, wie Du das meinst.«

»Raumlos.«

»Du meinst, für Deine Seele existiert kein Raum, keine Raumbegrenzung?«

»Nein.«

»Du bist sowohl in Lissabon wie hier wie allüberall.«

»Ja.«

»Kannst Du Dich auch auf fremde Planeten versetzen?«

»Ja.«

»Bist Du jetzt zum Beispiel auf dem Mars?«

»Ja.«

»Wie sieht es dort aus?«

Keine Antwort.

»Sind die Marskanäle Tatsache oder beruht das nur auf einer chromatischen Linsenstörung?«

Keine Antwort.

»Weißt Du das?«

»Ja.«

»Du willst mir hierüber nicht antworten?«

»Nein.«

Da lag schon der Hase im Pfeffer!

»Kennst Du die Hamburger »Argos«, das sogenannte Gauklerschiff?«

»Ja.«

»Weißt Du, wo es sich gegenwärtig befindet?«

»Ja.«

»Willst Du mir sagen, wo es sich befindet?«

»Nein.«

»Weshalb nicht? Willst Du mir durch ein Stichwort den Grund angeben, weshalb Du das verschweigst?«

»Befehl!« wurde buchstabiert.

»Wer hat Dir befohlen, darüber zu schweigen? Gott?«

»Nein.«

»Ein anderer Geist?«

»Nein.«

»Wer sonst? Buchstabiere.«

»Ich selbst.«

Es war gar nicht so unlogisch, was da gesagt wurde. Almeida verstand es denn auch sofort. Der hatte ja überhaupt schon seine Erfahrungen mit den »lieben Geistern«, das merkte man doch gleich an seinem ganzen Vorgehen.

»Es geht gegen Dein Gewissen, solche Fragen zu beantworten?«

»Ja.«

»Ist Dir in diesem Zustande die Zukunft enthüllt?«

»Ja.«

»Willst Du mir die Zukunft enthüllen?«

»Nein.«

»Ist die Seele unsterblich?« sprang der Fragende auf ein anderes Thema über.

»Ja.«

»Können auch Tote kommen und sich so manifestieren?«

»Nein.«

»Aber sie melden sich doch manchmal, sogar meistenteils.«

»Nein.«

»Was sind das dann sonst für Intelligenzen?«

Keine Antwort.

»Sind das trügerische Elementargeister, die sich für Tote ausgeben?«

Keine Antwort.

»Bist Du noch da, Fernando?

Der Tisch kippte erst stark um, um dann ein Nein zu klopfen.

»Ist jemand anders da?«

Jetzt wurde die Bejahung ganz anders geklopft, viel schneller und es klang auch viel hohler.

»Willst Deinen Namen buchstabieren?«

»Bunsen!« kam heraus.

»Doch nicht der berühmte deutsche Chemiker?«

»Ja.«

»Der zum Beispiel das Eisenoxydhydrat als Gegengift gegen arsenige Säure erkannt hat? Nach dem der Bunsenbrenner benannt worden ist?«

»Ja.«

Almeida fragte nicht erst, ob einer der Anwesenden zufällig gerade an diesen deutschen Chemiker gedacht habe. Der hatte eben seine Erfahrung.

»Ist jemandem bekannt, wann Robert Bunsen — seinen Vornamen weiß ich zufällig — gestorben ist?« fragte er hingegen. »In welchem Jahre und gar an welchem Tage?«

Nein, niemand wußte es. Es wäre auch viel verlangt gewesen.

»Herr Professor, sind Sie noch da?«

»Ja.«

»Sind Sie tot?«

Keine Antwort.

»Sie müssen doch zugeben, daß Sie im vorigen Jahrhundert gelebt und das Leben verlassen haben.«

»Ja.«

»Wann geschah das? Wann sind Sie gestorben? Wollen Sie mir das mitteilen?«

»Ja.«

»Gut. Wollen Sie also erst die Jahreszahl klopfen, bitte.«

Ein einzelner Schlag — acht — neun und noch einmal neun Schläge.

»Im Jahre 1899?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir nun auch den Todestag angeben bitte. Erst den Monat, dann das Tagesdatum.«

Es wurde achtmal, dann sechzehnmal geklopft.«

»Am 16. August 1899?«

»Ja.«

»Wollen Sie uns nun auch gleich noch Ihren Geburtstag angeben.«

Der 31. März 1811 kam heraus.

»Sennor Wilsley, wollen Sie in der Enzyklopkädie nachschlagen, ob das stimmt.«

Der Detektiv stand auf, ging in das Nebenzimmer, kam mit dem dritten Bande des englischen Konversationslexikons zurück, hatte den betreffenden Artikel schon aufgeschlagen.

»Es stimmt! Robert Bunsen, geboren am 31. März 1811, gestorben am 16. August 1899.«

Das war so ein Fall, den die Spiritisten für einen vollgültigen Beweis hinnehmen, daß der Mensch nach dem Tode mit voller Erinnerung weiterlebt.

Mit demselben Rechte aber könnte man vor einem Phonographen niederknien und ihn als eine Gottheit anbeten. Wie es Wilde ja auch wirklich tun.

Denn wenn auch keiner der Cerclemitglieder den Geburts— und Todestag dieses deutschen Chemikers kannte, sozusagen keine Ahnung davon hatte, sollte einer oder der andere nicht dennoch diese Daten einmal gelesen haben? Ganz sicher!

Und das Gehirn ist ganz mit einer Phonographenwalze oder —platte zu vergleichen. Nur eben noch viel, viel empfindsamer. Alles, was man mit den fünf Sinnen wahrnimmt, hinterläßt im Gehirn einen Eindruck. Wirklich eine Vertiefung, mag sie auch noch so winzig sein. Und dieser Eindruck, dieser Nadelstich verschwindet niemals wieder, wenn sich die Gehirnmasse auch ständig erneuert. So wie sich auch die charakteristische Struktur der Haut niemals ändert. Der Fingerabdruck des Kindes ist derselbe wie der des Greises, wenn sich die Linien auch vergrößert haben, Narben hinzugekommen sind, obgleich sich die Haut doch fortwährend abnützt und sich neu bildet. So ist es auch mit dem Gehirn. Das ist jetzt sogar schon mikroskopisch erwiesen.

Sind die Erinnerungseindrücke nun gar zu flüchtig gewesen, so genügen sie nicht, um den normalen Bewußtseinsnerv zu reizen. Aber in einem anormalen Bewußtseinszustand ist es dennoch möglich. Das zeigt sich doch ganz einfach im Traum, das zeigt sich im Delirium. Wo der Fiebernde längst vergessene Reden, die er vor Jahrzehnten gehalten hat, sie aber damals nicht einmal auswendig gelernt hat, wortgetreu herunterschnarrt. Eben genau so wie ein Phonograph.

Und so wirkt auch das Gehirn des in ganzem oder halbem Trance liegenden Mediums, und ist das Betreffende nicht in seinem eigenen Gehirn aufgestapelt, so kann es solche Kenntnisse in diesem Traumzustande mit Hilfe der magnetischen Kette auch den fremden Gehirnen entnehmen.

Für die meisten Leser wird diese Erklärung wohl genügen. Weiter läßt sich die Sache hier nicht ausführen. Und einem gläubigen Spiritisten ist überhaupt nicht zu helfen.

»Sind Sie noch da, Herr Professor?«

»Ja.«

»Ist Ihnen in diesem Zustande mehr bewußt als im irdischen Leben?«

»Ja.«

»Ist es möglich ein Element in das andere zu überführen?

»Ja.«

»Also kann man auch ein Metall in ein anderes verwandeln?«

»Ja.«

»Blei in Gold?«

»Ja.«

»Können Sie das jetzt machen?«

»Ja.«

»Wollen Sie mir sagen, wie das gemacht wird?«

»Nein.«

»Wollen Sie mir einmal ausführlich mitteilen, weshalb Sie mir das verschweigen.«

»Menschheit noch nicht reif dazu!« kam endlich heraus.

Natürlich! Immer dieselbe Geschichte!

»Also es wird noch entdeckt werden, wie man ein unedles Metall in Gold verwandelt?«

»Ja.«

»Wann?«

Keine Antwort, und dieser Admiral, der früher aber noch ganz andere Studien als nur Nautik getrieben hatte, wußte schon warum, hielt sich nicht weiter damit auf, hatte aber doch noch andere Fragen in dieser Beziehung zu stellen.

»Wird dieses künstliche Gold billiger herzustellen sein, als man das natürliche gewinnt?«

»Ja.«

»Viel billiger?«

»Ja.«

»Also wird das schon vorhandene Gold entwertet.«

»Nein.«

»Na doch ganz sicher. Da muß doch eine kolossale soziale Revolution stattfinden.«

»Nein.«

Jetzt allerdings durfte man wirklich darauf gespannt sein, wie sich da der tote Herr Professor Bunsen oder vielmehr das träumende Medium herausfitzen würde.

»Wie wäre das zu erklären? Bitte buchstabieren Sie.«

»Gold schon vorher entwertet.«

»Das Gold hat überhaupt keinen Wert mehr?«

»Nein. Andere Werte geschaffen.«

»Was für welche?«

»Arbeit.«

Der Herr Professor hatte sich herauszufitzen verstanden! Es ist diesen »Geistern« einfach gar nichts zu wollen. Der Mensch ist im Traume eben überaus schlau, niemals um eine Auskunft verlegen.

»Wird es noch gelingen, das Eiweiß auf künstlichem Wege darzustellen?«

»Ja.«

»Direkt aus der Atmosphäre?«

»Nein.«

»Auf andere Weise direkt aus den betreffenden Elementen?«

»Nein.«

»Überhaupt nicht auf synthetischem Wege?«

»Nein.«

»Ja wie in aller Welt denn sonst?!«

»Aus Hefe.«

Almeida fragte nicht weiter in dieser Beziehung.

»Herr Professor, können Sie sich materialisieren, sich uns hier sichtbar zeigen?«

»Ja.«

»Wollen Sie uns zunächst einmal Ihre Hand erscheinen lassen?«

»Nein.«

Almeida fragte nicht weiter, er kannte die Geschichte schon, obgleich er deshalb den Versuch noch nicht aufgab.

»Können Sie hier auf einen berußten Teller einen Strich ziehen?«

»Ja.«

»Wollen Sie es tun?«

»Nein.«

»Wollen Sie uns jemand anders rufen?«

»Ja.«

»Kennen Sie die Signora Prodelli, die Gattin hier eines Cerclemitgliedes?«

»Ja.«

»Wollen Sie uns dieselbe einmal rufen?«

»Ja.«

»Na dann gute Nacht, Herr Professor Bunsen, schlafen Sie wohl im Jenseits.«

Der Offizier war es, der bei diesem Abschiedsgruß seines Vorgesetzten in ein herzliches, sogar schallendes Gelächter ausbrach und merkwürdiger Weise fing auch das Mädchen so zu lachen an, und da begann auch der Tisch anhaltend zu klopfen, wobei es aber ganz ausgeschlossen war, daß etwa die Hände des lachenden Mediums dieses schnelle Klopfen hervorbrachten.

»Dieses anhaltende Klopfen bedeutet Lachen,« meinte Signor Prodelli erklären zu müssen, »die Geister lachen überhaupt sehr gern.«

Ja, die Seelen der Verstorbenen lachen überhaupt sehr gern, sind überhaupt Witzbolde, selbst diejenigen, die im Leben die mürrischsten Gesellen gewesen sind, auch die verzweifeltsten Selbstmörder. Vorausgesetzt ist nur, daß sich unter den Cerclemitgliedern eine humoristisch veranlagte Person befindet. In deren Lachen stimmen die »lieben Geister« regelmäßig mit ein.

Ein neues, wieder ganz anderes Klopfen ertönte — Signora Rosa Prodelli meldete sich.

»Sie brauchen sich nicht zu entsetzen,« sagte Almeida zu dem Italiener, »seien Sie nur ohne Sorge, Ihre Gattin lebt noch, Sie sollen sich gleich telephonisch davon überzeugen, erst aber will ich einige Fragen stellen. Leben Sie noch, Signorina?«

»Ja.«

»Gehst es Ihnen gut?«

»Ja ja ja ja ja ja.«

»Was machen Sie jetzt? Was treiben Sie gegenwärtig?«

Keine Antwort.

»Ist Ihnen bewußt, daß Sie mit uns sprechen?«

»Nein.«

»Sie meinen dabei Ihr normales Ich.«

»Ja.«

»Ihr Unbewußtes aber — Ihre Seele, will ich sagen weiß, daß sie sich jetzt mit uns unterhält.«

»Ja.«

»Sie können mir nicht sagen, was jetzt Ihre körperliche Person treibt?«

»Nein.«

Das war ein Widerspruch mit den Aussagen jenes ersten Geistes. Das findet man aber stets. Die »Geister« wissen sich eben immer jeder Kontrolle zu entziehen. Das heißt, das Medium weiß seinen Traum immer entsprechend einzurichten.

»Wissen Sie, wo sich das Gauklerschiff befindet?«

»Ja.«

»Wollen Sie es mir sagen?«

»Nein.«

»Haben Sie Mathematik getrieben, Signora?«

»Nein.«

»Was ist die Kubikwurzel aus 0,002,744?«

»Null Komma 1 4,« wurde augenblicklich geklopft.

»Das ist ja fabelhaft!« staunte auch einmal der Offizier.

»Meine Frau hat von so etwas gar keine Ahnung!« setzte Prodelli nicht minder verblüfft hinzu.

Nur Almeida lächelte. Dann machte er eine kleine Pause, ehe er fortfuhr

»Signora, können Sie den Tisch einmal heben?«

Keine Antwort, dafür knackte und krachte es in dem Tischchen heftig, man sah ganz deutlich, wie sich unter den lose gelegten Fingerspitzen des Mädchens die Tischplatte richtig bog.

Und da fuhren alle erschrocken zurück, auch der Admiral.

Plötzlich war der Tisch wohl einen halben Meter hochgesprungen mit einer schier ungeheuren Vehemenz, so heftig war er auch wieder niedergeschlagen.

»Ein Fuß oder Bein war das nicht, ich sah zufällig gerade unter den Tisch!« sagte der Detektiv.

Nein, solch eine Bewegung, solch ein Aufspringen und Niederschlagen des Tisches kann ein Mensch überhaupt gar nicht fertig bringen. Da sind nun wieder die Antispiritisten im Unrecht, wenn sie meinen, das könnte das Medium oder ein anderes Cerclemitglied mit dem Fuß oder Knie ausführen.

»Sehr gut!« lobte Almeida. »Können Sie den Tisch auch frei in der Luft schweben lassen?«

»Nein.«

»Haben Sie uns sonst etwas zu sagen?«

»Ja.«

»Buchstabieren Sie.«

»Zu hell!l« wurde geklopft.

»Ahso, es ist Ihnen zu hell! Soll ich es ganz finster machen?«

»Nein.«

»Nur etwas verdunkeln?«

»Ja.«

»Dann werden Sie den Tisch schweben lassen?«

»Ja.«

»So gestatten Sie mir erst noch eine Frage. Weshalb können Sie solche Kraftleistungen nur im Finstern ausführen? Wollen Sie das einmal ausführlich buchstabieren, wir haben Zeit genug.«

»Ihr könnt nur im Hellen arbeiten, wir nur im Finstern!« lautete die Antwort.

Das ist einmal eine der vernünftigen Antworten, die man von den »Geistern« bekommt, und es ist immer derselbe Bescheid. Hiergegen ist gar nichts einzuwenden. Die Forderung der Antispiritisten, die schwierigsten Phänomene sollen wegen der Kontrolle auch in hellem Licht ausgeführt werden, ist einfach eine Torheit. Diese Intelligenzen sagen ständig aus, daß sie im hellen Lichte keine Kraft haben, nur im Finstern schwierigere Phänomene zustande bringen können, und das müssen wir ihnen eben glauben. Denn das Unbewußte im Menschen arbeitet eben ganz anders als sein normales Bewußtsein. Wir können doch nicht auch im Finstern feine Arbeiten verrichten. Kein Lehrer verlangt, daß der Schüler seine Examenarbeit im Finstern niederschreibt. Da müssen wir diesen Intelligenzen auch glauben, daß sie im hellen Licht nichts leisten können. Das ist nur recht und billig. Oder die Kritik hört auf, eine ehrliche Kritik zu sein.

Hieraus dürfte es sich auch erklären, weshalb man des Nachts besser geistig arbeiten kann als am Tage. Das heißt schaffen, schöpfen, produktiv tätig, wie es etwa der Dichter ist, Weil die Phantasie doch offenbar mit dem Unbewußten zusammenhängt. Oder es müßte erst einmal jemand erklären, was überhaupt Phantasie ist. Während die frühen Tagesstunden, wenn sich das Gehirn durch Schlaf ausgeruht hat, wieder besser zum Auswendiglernen geeignet sind, oder etwa zum Lösen mathematischer Probleme, was aber mit dem Unbewußten, mit der Phantasie, doch gar nichts zu tun hat.

Die helle Kronleuchterbirne erlosch, nur die verhüllte leuchtete noch schwach, zuerst schien völlige Finsternis zu herrschen, doch gewöhnte sich das Auge bald daran, dann sah man noch deutlich die Hände auf dem Tische liegen.

Und ohne weitere Aufforderung begann sich jetzt das Tischchen zu heben, frei in der Luft zu schweben, nur von dem Magnetismus der leicht aufliegenden Fingerspitzen gehalten. Die Auftriebskraft war dabei so stark, daß sich ein Mann anstrengen mußte, um den Tisch niederzudrücken. Dabei brauchte auch nicht die magnetische Kette geschlossen zu bleiben, einer nach dem anderen konnte seine Hände wegnehmen, das Tischchen blieb schweben. Nur daß die Auftriebskraft dann immer geringer wurde. Aber erst als auch Veronika ihre Hände entfernte, oder nur die eine, fiel es herab.

Es blieb nicht nur bei einem ruhigen Schweben, sondern der Wunsch brauchte nur geäußert zu werden, so begann der Tisch auch in der Luft zu schwingen, zu tanzen, ganz wie man wollte.

Dieser Wunsch brauchte nicht einmal ausgesprochen zu werden. Sobald die psychische Kraft einmal in Aktion getreten, die Sache eingeleitet ist, werden die Gedanken desjenigen, der das Fragen übernommen, also den Cercle leitet, sofort erraten.

Almeida hatte daran gedacht, einmal zu fragen, ob sich der Tisch auf seinen Schoß setzen wolle, und noch ehe er das erste Wort ausgesprochen, neigte sich der Tisch in der Luft stark zur Seite, kippte halb um, schwebte herab und legte sich auf des Admirals Knie, dabei einen ganz bedeutenden Druck ausübend.

Sobald aber das helle Licht aufflammte, fiel der Tisch als tote Masse von selbst herab.

»Sind Sie noch da, Signora?«

»Ja.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Bemühungen.«

Das rasche, anhaltende Klopfen sollte wohl wiederum den Dank für diese Anerkennung ausdrücken. Almeida aber glaubte wohl, die Signora wolle etwas sagen.

»Haben Sie uns etwas mitzuteilen?«

»Ja.«

»Bitte.«

»Besser als Fernando und Bunsen!« kam heraus. Da war es! Alle diese »Geister« sind ungemein eitel. Wenn einer etwas nicht ausführen kann, so muß man nur einen anderen holen, ihn bei seiner Ehre angreifen, dann macht er alles, so weit es nur irgend möglich ist. Dabei kann es eine »Seele« sein, die bei Lebzeiten der allerbescheidenste Charakter gewesen ist, oder noch ist. Außerdem aber lügt auch ein Geist immer mehr als der andere.

»Ich habe hier einen berußten Teller. Können Sie auf denselben einen Strich ziehen?«

»Ja.«

»Nun gut. Wohin soll ich dazu den Teller setzen? Auf den Boden?«

»Ja.«

»Unter den Tisch?«

»Ja.«

»Muß es dazu völlig finster sein?«

»Nein.«

»Die umflorte Lampe darf dabei brennen?«

»Ja.«

Der berußte Teller wurde unter das Tischchen gesetzt, die helle Lampe gelöscht.

Sofort wieder ein heftiges Knacken in dem Tisch, dann neigte er sich auf zwei Beinen, marschierte auf diesen, eines nach dem andern bebend, etwas zur Seite, erst einige mißglückte Versuche, das dritte Bein auf den Teller zu heben, bis es gelang, und der Tischfuß zog in den Ruß einen weißen Strich.

Die Aufgabe war gelöst worden. Aber nicht so, wie es Almeida gewollt hatte. Der hatte an eine Geisterhand gedacht, die den Strich ziehen würde. An diese Möglichkeit, daß das Tischbein den Strich ziehen würde, hatte er überhaupt gar nicht gedacht.

»Können Sie den Strich nicht auch ohne Hilfe des Tisches ziehen?«

»Ja.«

»Wollen Sie es tun?«

»Nein.«

»Ich werde dort auf den Stuhl einen Gummiball legen. Können Sie diesen vom Stuhl werfen?«

»Ja.«

»Mit Hilfe des Tisches, indem sie den Ball herabstoBen?«

»Ja.«

»Aber Sie sollen ihn ohne Hilfe des Tisches herabwerfen, durch Fernwirkung.«

»Nein.«

»Wollen Sie uns einen anderen Geist rufen?«

»Ja.«

»Einen Geist, der stark genug ist, um dieses Experiment der Fernwirkung auszuführen.«

»Nein.«

»Sie wollen mir keinen solchen Geist rufen.«

Ein anhaltendes Klopfen erscholl.

»Was haben Sie zu sagen? Buchstabieren Sie.«

»Ich selbst.«

»Sie selbst wollen das Experiment ausführen. Den Ball ohne Hilfe des Tisches herabwerfen?«

»Ja.«

Der »Geist« war also bei seiner Ehre, bei seiner Eitelkeit gefaßt worden. Das kann keiner vertragen.

Almeida stand auf, legte den Gummiball von ungefähr 15 Zentimeter Durchmesser auf einen Stuhl, der, noch weit entfernt von der Wand, etwa drei Meter von dem Tische entfernt stand.

»Also wollen Sie diesen Gummiball von dem Stuhle werfen, ohne Hilfe des Tisches, bitte. Wollen Sie?«

Erst ein anhaltendes Klopfen

»Haben Sie noch etwas zu sagen?«

»Licht aus.«

Es wurde stockfinster, und nicht lange währte es, so begann das Mädchen in kläglicher Weise zu seufzen und zu stöhnen.

»Ist es ein Irrtum, daß ich über meine Hände einen kalten Hauch streichen fühle?« rief der Offizier.

Nein, es war kein Irrtum, diesen kalten Hauch fühlten besonders Almeida und der Detektiv, welche zu beiden Seiten des Mädchens saßen und dessen Hände nicht nur berührten, sondern gefaßt hielten, ganz deutlich Iher Hände wurden auch immer Falten kalt wie Eis, und sie schien vor Kälte zu zittern.

Ferner mußte man einen elektrischen Strom konstatieren, der durch die geschlossene Handkette ging. Zwar war das Prickeln nur ganz schwach, aber vorhanden war es, daran war kein Zweifel.

So vergingen einige Minuten, ganz unheimliche Minuten. In dem Tische hatte es wohl einige Male gekracht, dann aber nicht mehr; dagegen schien er jetzt ganz außerordentlich schwer zu werden.

Plötzlich ein schmetternder Krach, erschrocken, entsetzt sprang alles auf. Einmal, weil niemand in der Todesstille solch einen furchtbaren Krach erwartet hatte, und zweitens, weil sie alle einen ziemlich heftigen elektrischen Schlag erhalten hatten.

Aber Almeida hatte nicht vergessen, in demselben Moment mit dem Fuße das helle elektrische Licht anzustellen.

Nur Veronika war nicht mit aufgesprungen, saß noch mit verdrehten Augen an dem Tische, die Hände aufgelegt, wußte gar nichts, wie später konstatiert wurde, von dem ganzen Vorgange, wollte auch den Krach nicht gehört haben.

Der Stuhl war umgefallen, der Gummiball lag dicht daneben.

Wir wollen den Fall einmal mit eigenen Augen betrachten.

Der Schreiber dieses hat solch oder ein ähnliches Experiment wohl hundert Mal von den verschiedensten Medien ausführen lassen.

Um sich gegen einen Betrug zu sichern, daß nicht etwa ein Cerclemitglied den betreffenden Gegenstand herabwirft, dafür gibt es ja die verschiedensten Mittel. Unter Umständen gelingt dieses Experiment auch in einem anderen Raume, den man abgeschlossen hat.

Vor allen Dingen ist die Regelmäßigkeit merkwürdig, mit welcher die »Geister« lieber die ganze Unterlage umwerfen, als von dieser herab den leichtesten Gegenstand schleudern. Weshalb, das ist unerklärlich, Sie sagen eben, es sei ihnen leichter, geben aber weiter keine Auskunft. Auf den Wunsch, von einem entfernt stehenden Vertiko eine am Rande stehende Streichholzschachtel herabzuwerfen wurde das ganze Vertiko umgestürzt und es ging dabei in Trümmer.

Dieses Umwerfen ist stets mit einem ganz besonderen Klange verbunden. Niemals ein Poltern, sondern immer nur ein einziger Krach. Wenn man eine Stahlkugel auf eine Eisenplatte wirft, so springt sie erst einige Male in die Höhe, ehe sie liegen bleibt. Ist diese Platte aber magnetisch, so bleibt die Stahlkugel sofort fest haften, dadurch entsteht beim Aufschlagen ein ganz anderer Klang.

Genau so ist es, wenn ein Medium durch Fernwirkung einen Gegenstand umwirft, der aber auch aus Holz oder aus irgend einem anderen Material sein kann. Ferner rollt eine gleichzeitig herabgeworfene Kugel, ob nun aus Holz oder Eisen oder Gummi, nicht weiter, sondern bleibt sofort ruhig liegen. Sie schlägt auf und rührt sich nicht mehr. Im nächsten Augenblick freilich kann man sie weiter rollen.

Also es ist dabei zweifellos Magnetismus im Spiele, und zwar Elektromagnetismus, wie ja auch schon die elektrischen Ströme beweisen, die man kurz vor dem Ausführen der Leistung regelmäßig verspürt.

Was ist Elektrizität? Was Magnetismus? Wir wissen es nicht.

Und sollte es denn nur die beiden Arten von Elektrizität und Magnetismus geben, die wir kennen?

Der Mensche besitzt in sich oder ist selbst eine elektrische Batterie. So wollen wir uns ausdrücken. Wahrscheinlich ist es eine ganz besondere Art von Elektrizität. Besonders veranlagte Menschen vermögen diese Elektrizität ausströmen zu lassen, dabei setzt sie sich auch in Magnetismus um. Auf diese Weise kommen solche Fernwirkungen zustande.

Eine Erklärung ist das an sich ja nicht, aber jedenfalls fällt da doch alle »Zauberei« fort. Oder wir müßten eben auch die drahtlose Telegraphie für Zauberei halten.

Nach einer Erfrischungspause wurde die Sitzung wieder aufgenommen. Veronika erklärte sich vollkommen fähig dazu, obgleich das sonst ganz frisch aussehende Mädchen schon tiefe Ringe um die Augen bekommen hatte. Sie mochte dem Kaiser von Brasilien wohl bloß nichts ausschlagen.

»Ist jemand da?«

»Ja.«

»Sind Sie es noch, Signora?«

»Nein.«

»Wollen Sie uns Ihren Namen buchstabieren.«

»Mercedes,« wurde buchstabiert.

»Du bist es, Mercedes?« fragte Almeida jetzt erstaunt.

»Ja.«

»Weißt Du, wo sich das Gauklerschiff befindet?«

»Ja.«

»Wo?«

Es erfolgte eine geographische Ortsbestimmung, welche lautete:

»2 Grad 14 Minuten 8 Sekunden nördlicher Breite, 56 Grad 36 Minuten 11 Sekunden westliche Länge.«

Die Wiederholung wurde als richtig bezeichnet, und dann ließ Almeida eine lange Pause eintreten, die niemand zu unterbrechen wagte.

Jedenfalls wußte er doch, wie all diese Geister logen.

Dann mußte der Detektiv eine Spezialkarte holen, sie wurde befragt. Der angegebene Punkt lag in jener Urwaldswildnis, die wir schon beschrieben haben, in einem gänzlich unbekannten Gebiet.

»Bist Du noch da, Mercedes?«

»Ja.«

»Wie soll ich dorthin gelangen? Antworte ausführlich.«

»Ich führ Dich.«

»Wie führen?«

»Kompaß.«

»Du willst die Kompaßnadel immer dorthin zeigen lassen, wohin wir zu fahren haben?« hatte der Admiral sofort begriffen.

»Ja.«

»Durch die Kraft eines Mediums?«

»Ja.«

»Durch Signorina Prodelli hier?«

»Ja.«

»Soll sie etwa die Hände um den Kompaß legen?«

»Ja.«

»Kannst Du mir gleich jetzt eine Probe geben, daß Du durch sie die Kompaßnadel nach Willkür ablenken kannst?«

»Ja.«

Ein Kompaß wurde auf den Tisch gelegt, Veronika mußte die Finger darum schließen, aber ohne ihn zu berühren — die Nadel wurde nach den verschiedensten Richtungen abgelenkt, zeigte auf Personen, auf Gegenstände — ganz wie Almeida wünschte.

»Auf diese Weise willst Du mir also immer die Richtung angeben, die ich zu fahren habe?«

»Ja.«

Wieder eine lange Pause des Sinnens. Daß es keinen Zweck hatte, weitere Fragen zu stellen, etwa was auf dem Gauklerschiffe für Zustände herrschten, wußte dieser Mann.

»Mercedes, ich traue Dir nicht, daß Du es wirklich bist. Gib mir Beweise dafür.«

»Fordere.«

»Kannst Du Dich hier manifestie . . . au!l«

Almeida war ganz empfindlich in die Wade gekniffen worden. Als er sich erschrocken niederbückte, sah er, wie es sich unter dem Kleide des neben ihm sitzenden Mädchens bauschte.

Ein ganz gewöhnlicher Vorgang, daß der »Geist«, wenn er sich materialisieren will, bei Helligkeit die Röcke des Mediums als Dunkelkabinett benutzt. Merkwürdig ist, daß das Medium immer davon gar nichts merkt, so wie es auch hier der Fall war.

Almeida hatte sich schnell wieder gefaßt.

»Bist Du das gewesen, Mercedes?«

Das Kleid des Mädchens sank wieder zusammen, die Frage wurde bejaht, dann das Zeichen gegeben, daß der »Geist« zu sprechen wünsche.

»Großes Tuch über Tisch decken, Licht aus!« wurde buchstabiert.

»Willst Du Dich materialisieren, Dich uns sichtbar zeigen?«

»Ja.«

Es geschah ein Tischtuch wurde über das Tischchen gedeckt, das Licht verlöscht.

Aber es sollte keine Materialisation stattfinden, oder doch eines ganz andere, als man erwartet hatte, und Admiral Almeida sollte nicht nötig haben, das Gauklerschiff erst in den brasilianischen Urwäldern aufzusuchen.

Erst wenige Sekunden hatten sie so im Finstern gesessen, wohl niemand wußte, daß unterdessen schon der junge Tag angebrochen war, als sich die nach dem Korridor führende Tür öffnete, volles Tageslicht drang herein, und mit ihm zugleich ein halbes Dutzend Offiziere die Degen gezogen und Revolver in den Händen, und hinter ihnen zeigten sich noch eine Menge anderer Uniformen.

Ganz lautlos waren sie gekommen, und ihr Anblick wirkte besonders auf den Admiral noch ganz anders, als wenn ihm seine Gattin hier im Finstern als grünphosphoreszierende Gestalt erschienen wäre.

Entsetzt war er aufgesprungen, um dann wie gelähmt wieder zurückzusinken.

»Graf Mohakare!« stöhnte er.

»Ergeben Sie sich, keinen Widerstand!«

Im nächsten Augenblick waren alle die Cerclemitglieder ohne Unterschied von starken Fäusten ergriffen, daß niemand mehr Gebrauch von einer Waffe machen konnte.

»Graf Mohakare, mein Gefangener!« stöhnte der Admiral nochmals.

Die Fenstervorhänge waren aufgerissen worden, man hatte von hier aus einen Überblick über den Hafen, in dem es von Kriegsschiffen wimmelte, diese ganze Szene vom goldenen Scheine der Morgensonne übergossen.

Und der noch junge Mann in der Generalsuniform eines brasilianischen Garderegimentes streckte die Hand aus.

»Sie haben nicht nötig, das sogenannte Gauklerschiff in den Urwäldern aufzusuchen, dort fährt es soeben in den Hafen ein, von Rio de Janeiro kommend, wo es schon alle seine Gäste abgesetzt hat. Aber sie kommen bereits wieder zurück, Präsident Lopez selbst, um von den Mannschaften der Kriegsflotte wieder als Regierungsoberhaupt empfangen zu werden. Denn die Meuterer waren schon längst Ihrer Tyrannenherrschaft überdrüssig, sie sind reumütig unter das Gesetz zurückgekehrt, auch wenn sie den Lohn für ihre Rebellion bekommen sollten. Sie aber, Admiral Almeida, waren mit Blindheit geschlagen, daß Sie von alledem nichts gemerkt haben. Nun ja Sie halten ja hier eine spiritistische Sitzung ab, wie ich merke, und von einem Spiritisten ist ja auch nichts anderes zu verlangen.«


81. KAPITEL.
IN PETERSBURG.

Der Leser wird nicht glauben, daß wir die ganze Zeit

untätig im Urwald versteckt gelegen haben.

So lassen wir Georg Stevenbrock wieder persönlich erzählen.

Oder wenn er es geglaubt hat, so hat er sich eben geirrt. Dann aber kennt er uns auch noch nicht richtig.

Der Plan, den ich dem Präsidenten vorlegte, bestand einfach darin, daß wir die ganze Gesellschaft, die wir dem Rebellenkaiser im letzten Moment noch aus den Zähnen gerückt hatten, nach Rio de Janeiro brachten. Es konnte ja auch gar nichts anderes geben.

»Da hätten Sie aber gleich den Ausgang nach dem offenen Meere gewinnen müssen!« meinte der Präsident und die anderen Herren.

»Nein, das wäre uns nicht gelungen, wir können nur 12 Knoten dampfen, da hätten uns die schnellen Kriegsschiffe bald am Enterhaken. Wir müssen uns vorläufig in der waldigen Küstenregion verstecken und dann bei Nacht uns hinausschleichen.«

»Wird Ihnen das auch gelingen?«

»Es wird schon gelingen.«

Und es gelang. Nur daß wir nicht den Strom benutzten, nicht den Hafen passierten, sondern einfach durch eine Bifurkation nach jenem geheimen Kanal fuhren und dann ins freie Meer hinaus.

Die Herrschaften erfuhren von diesem Schleichweg freilich nichts, nicht ein einziger. Die mußten sich am Abend, oder als es überhaupt so war, unter Deck begeben, natürlich fuhren wir mit gelöschten Lichtern, alle Bollaugen waren geschlossen, niemand durfte sich an Deck zeigen, und als wir uns schon drei Stunden später im freien Meere weit ab von der Küste befanden, mochten die nur glauben, wir hätten uns durch die Wachlinie der Kriegsschiffe geschlichen.

Nach viertägiger Fahrt erreichten wir Rio. Ich will nicht schildern, wie wir empfangen worden, was es für einen Eindruck machte, als wir die ganze Gesellschaft, alle Oberhäupter des Staates, ausfrachteten.

Bemerken will ich nur, daß man in Para von diesem Ereignis nicht so leicht erfahren konnte. Wir waren wohl schon unterwegs mehrmals gesichtet worden, aber Para wurde doch von keinem Schiffe mehr angelaufen, und daß von Rio aus das nicht telegraphiert werden konnte, dafür wurde natürlich gesorgt. Auch nicht das unschuldigste Telegramm wurde durchgelassen, es hätte dennoch chiffriert sein können.

Weiter muß ich noch erwähnen, daß in der brasilianischen Armee und überhaupt im Volke unterdessen ebenfalls eine Revolte ausgebrochen war, die sich aber nur gegen die Fremden richtete, hauptsächlich gegen die fremden Offiziere, welche der neue Präsident als Instrukteure angenommen hatte. Vor allen Dingen richtete sich der Volkshaß gegen den Grafen von Mohakare, der sollte an der ganzen Rebellion der Kriegsflotte schuld sein. Jedenfalls ganz ungerechtfertigter Weise. Aber die Brasilianer hassen nun einmal alles Fremde. Übrigens waren der Graf Mohakare und sein Adjutant Major von Tonn selbst auf dem Admiralsschiff als Gefangene, denn sie hatten die Reise nach Neuyork, um die neuen Kriegsschiffe abzuholen, mitgemacht. Aber es hieß eben, sie hätten diese Rebellion erst angezettelt, wenn auch indirekt.

Noch an demselben Tage verließen wir Rio wieder.

»Wohin nun?« fragte ich den famosen Price O'Fire, den ich immer lieber gewann, ein so kurioser Kauz er auch war.

Andere freilich hätten ihn eine ganz geheimnisvolle rätselhafte Persönlichkeit genannt. Mir aber war die Hauptsache, daß er kein Duckmäuser war, der um sich etwa einen geheimnisvollen Nimbus verbreiten wollte, was durchaus nicht der Fall. Seine sonstigen Privatverhältnisse gingen mich ja gar nichts an. Da mochten sich andere den Kopf darüber zerbrechen, ich tat es nicht.

»Würden Sie noch einmal nach Para zurückgehen?«

»Wozu denn? Wir wollen uns doch nicht etwa noch weiter in diese politischen Wirren mischen? Habe nicht die geringste Lust dazu. Mögen diese Brasilianer nur die Suppe allein auslöffeln, die sie sich eingebrockt haben.«

»Wollen Sie nicht Kaiser von Brasilien und ganz Amerika werden?«

»Nich in de Diete!« lachte ich. »Oder soll etwa die Prophezeiung jenes verrückten Spaniolen wirklich in Erfüllung gehen? Da habe ich doch auch ein Wörtchen mitzusprechen.«

»Nein, das ist nur so ein Aberglauben. Die Prophezeiung über jenes Schwert des Cid geht ja wirklich so, aber jeder Mensch hat einen ganz freien Willen, daran scheitert auch die Macht des Schicksals.«

»Na also! Und ehe ich mich zum Kaiser von Brasilien krönen lasse, hänge ich mich lieber selber auf. Was wollen wir sonst noch in Para?«

»Zwei Personen aufnehmen. Wenn Sie sie an Bord Ihres Schiffes als Gäste dulden wollen.«

»Wen?«

»Zwei Landsleute von Ihnen: den Grafen von Mohakare und seinen Adjutanten, den Major von Tonn.«

Er berichtete mir von diesen beiden, in welchen Schwulitäten die sich als Gefangene der Meuterer jetzt befänden.

»Ja, wir werden aber in Para doch nicht gerade festlich empfangen werden.«

»Wenn wir dort eintreffen, wird die ganze Rebellion bereits niedergeschlagen sein.«

»Wie das?«

»Die Mannschaften, besonders die Offiziere, sehen ein, was für einen törichten Streich sie begangen haben, sie werden sich mit dem gefangenen Grafen von Mohakare in Verbindung setzen, dieser selbst wird sich an die Spitze setzen und den Rebellenkaiser gefangen nehmen.«

So sprach Price O'Fire. Also war er ein allwissender Prophet? Mir ganz gleichgültig.

»Und dann sollen wir die beiden an Bord nehmen?«

»Nebst ihren Frauen, die sich an Bord des Admiralsschiffes noch als Gefangene befinden. Kinder sind nicht vorhanden. Es wäre wenigstens sehr angebracht, um die beiden Männer weiteren Verwicklungen zu entziehen.«

»Werden Sie freiwillig mit uns kommen?«

»Sie werden selbst den Antrag stellen.«

»Passen sie auch zu uns?«

»Es sind die liebenswürdigsten Menschen.«

»Allright. Und wohin dann weiter?«

»Nun, ich dächte, dann machten wir uns einmal auf die Suche nach dem Kapitän Satan, um dem seine Schätze abzunehmen, die er sich unrechtmäßig angeeignet hat.«

»Noch allrighter! Wir haben die Goldklumpen und Kisten voll Edelsteine auch recht nötig. Mich wundert schon, daß in Rio nicht bereits ein Haftbefehl für uns vorlag, ausgewirkt von jener Alice Powell, die doch dem Vernehmen nach, wie Sie sagen, ihre von uns verpulverte Million Dollars oder wieviel es nun ist, wieder haben will.«

»Dieser Haftbefehl wird auch noch kommen.«

»Ja, und was machen wir dann?«

»Sie erlauben wohl, daß ich diese Schuld begleiche!« lächelte O'Price.

»Gewiß, wenn es Ihnen Spaß macht. Da bin ich nicht so. Und wenn wir erst die Flibustierschätze haben, können wir es Ihnen ja mit guten Zinsen zurückzahlen. Wo werden wir nun diesen lebendig gebliebenen Teufelskapitän finden?«

»Bestehen Sie darauf, daß ich Ihnen den Ort schon jetzt nenne?«

»Wenn Sie uns eine Überraschung bereiten wollen recht so! Mir nichts lieber als das.«

»Nur unser nächstes Ziel muß ich Ihnen wohl schon nennen.«

»Das wäre allerdings angebracht. Gar so an der Nase herumführen lassen möchten wir uns doch nicht.«

»Petersburg.«

»Was, in Petersburg werden wir den Kapitän Satan finden?!« rief ich doch etwas überrascht.

»Nicht direkt dort, sondern Petersburg ist nur der Ausgangspunkt unserer weiteren Reise.«

»Gut, dann genügt mir das. Da fällt mir aber noch ein — Sie wollten uns doch auch sagen, wo die anderen Indianer geblieben sind, so weit sie sich nicht gegenseitig abgemurkst haben.«

»Sie werden sie wiederfinden.«

»Gut, dann frage ich nicht weiter. Nur nicht wieder in diesen vermaledeiten Urwald hinein!«

Denn diese tropischen Urwälder hatten wir nun zur Genüge genossen.

Ach, wie war uns so wohl hier wieder auf dem freien Meere! Nein, wir waren nicht für solche Kolonisationsversuche geschaffen. Überhaupt wieder einmal hinein in kühlere Breiten! Wir sehnten uns nach Schnee und Eis und einem tüchtigen Nordsturm. Nun, schon auf der Fahrt nach Petersburg würde daran ja kein Mangel sein, wir kamen gerade so hübsch in die richtige Jahreszeit hinein. »Herr Kapitän, glauben Sie an Spiritismus?«

So fragte mich Price O'Fire am Anbruche der Nacht, die uns noch von Para trennte.

»Ich? Neel. Oder meinetwegen ja. Mir ganz schnuppe, ob es Geister gibt oder nicht. Nur in meine persönlichen Verhältnisse dürfen sie sich nicht mischen. Sonst roochts. Und wenn in meine Kabine ein Geist unangemeldet eintritt, dann mag der Kerl einen noch so ätherischen Hosenbund haben — ich will ihn schon dran packen und ihn mit Schwung in sein Geisterreich zurückversetzen, wohin er gehört.«

»Dann erst einmal eine andere Frage!l« lächelte O'Fire, wozu er ja Grund haben mochte, obgleich ich nicht etwa humoristisch sein wollte, sondern ich sprach ganz ernsthaft meine Meinung über diese Sache aus. »Wir hätten doch Gelegenheit gehabt, uns eines oder des anderen meuternden Kriegsschiffes zu bemächtigen, indem wir sie einfach in den Urwald lockten.«

»Ich weiß, was Sie meinen,« entgegnete ich, »und ich will Ihnen hierüber gleich meine offene Meinung sagen. Wenn nach Bismarcks Ausspruch alle Balkanstaaten nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert sind, so ist ganz Brasilien nicht einen kleinen Finger eines einzigen meiner Jungen wert. Niemals würden und werden wir uns in diese politischen Wirren einlassen. Nicht so lange ich hier an Bord dieses Schiffes etwas zu sagen habe. Und mehr habe ich darüber überhaupt nicht zu sagen.«

»Nun gut. Aber bitte, wollen Sie doch einmal darauf eingehen. Wir hätten also doch eines oder das andere Kriegsschiff in den Urwald locken können, um die Meuterer zu überwältigen.«

»Ja, das hätten wir allerdings können.«

»Es wäre nur schwer gewesen, solch ein Lockmittel zu finden.«

»Nun, das hätte sich schon machen lassen.«

»Das möchte ich bezweifeln. Dieser Macedo Almeida ist ein überaus schlauer Fuchs.«

»Ja, was wollen Sie eigentlich damit sagen?«

»Ich will mich Ihnen offenbaren. Es handelt sich um Folgendes. Ich kenne diesen Almeida sehr gut. Er ist Spiritist. Aber kein ganz gläubiger, sondern ein überaus mißtrauischer. Nun findet heute abend in Para eine spiritistische Sitzung statt, im Hause eines gewissen Prodelli. Woher ich das weiß, das werden Sie mich nicht fragen, das ist ja eben das Schöne bei Ihnen. In diese Sitzung werde ich mich einmal einmischen. Ich werde das Medium, seine Tochter, durch Fernwirkung suggerieren. Auch die Gattin des Admirals soll sich melden. Sie will wissen, wo sich das Gauklerschiff befindet, will ihren Gatten hinführen. Ob dieser Admiral Almeida so geistergläubig ist, daß er in diese Falle geht, das will ich dabei erfahren, weiter nichts. Geändert wird dadurch an der Sachlage nichts, sein Schicksal ist bereits besiegelt, heute nacht noch meutern die Rebellen gegen ihn selbst.«

So hatte Price O'Fire zu mir gesprochen.

Und er hat es ausgeführt.

Auf welche Weise, d. h. wie er es fertig brachte, sich als »Geist« in die spiritistische Sitzung zu mischen, das weiß ich nicht. Wohl hat er es mir später erklärt, aber ich habe ihn nicht verstanden, wollte ihn damals gar nicht verstehen.

Ich habe diese spiritistische Sitzung ausführlich beschrieben, wie sie mir später in Para von Prodelli und seiner Tochter und ganz besonders von Mister Wilsley geschildert wurde.

Es wurde dann später an Bord unseres Schiffes ebenfalls eifrig Spiritismus getrieben, indem sich unter meinen Leuten zwei Medien fanden, Kerls, denen man das nimmermehr angesehen hätte.

Ihre Namen will ich nicht nennen, auch keine solche Sitzung beschreiben, obgleich bei uns noch viel wunderbarere Phänomene zustande kamen als bei jener in Para geschilderten, auch sichtbare Materialisationen von ganzen Gestalten, die sogar sprechen konnten.

Aber ich will nicht mehr von Spiritismus anfangen, und eben deshalb habe ich jene Sitzung in Para so ausführlich beschrieben.

Nur das eine will ich noch hinzufügen:

Was kann denn eigentlich so ein »Geist« mehr als ich? Absolut gar nichts!

Ich kann auch einen Tisch springen und tanzen lassen.

Ich kann auch einen Tisch umschmeißen.

Sogar ohne daß ich ihn dabei anfasse. Durch Fernwirkung. Wie ich das mache? Indem ich einen starken Wasserstrahl gegen den Stuhl richte. Oder durch einen starken Luftstrom. Oder durch Elektromagnetismus. Auf diese oder ähnliche Weise kann man auch einen Gummiblall zu Boden werfen, ohne daß er springt oder rollt.

Wenn das die »Geister« auf eine andere Weise machen, so ist das ihre Sache. Nur auf den Effekt kommt es an, und dieser ist derselbe.

Und dasselbe gilt von den sichtbaren Erscheinungen von leuchtenden Händen und ganzen Gestalten. Die kann ich ebenfalls erzeugen, durch Laterne magika oder ganz freischwebend durch Hohlspiegel oder durch einfachen Spiegel mit Glasscheibe, wie es in jedem physikalischen Experimentierbuch beschrieben ist.

Wer sich gewissenhaft und vorurteilslos einmal mit Spiritismus beschäftigt hat, muß zugeben, daß es einen menschlichen Bewußtseinszustand gibt, in dem ganz besondere Fähigkeiten entwickelt werden, die wir mit unserem normalen Verstande nicht begreifen, nicht erklären können.

So ist es einem kräftigen Medium ein leichtes, auch ohne Berührung, zwei nahtlose Metall— oder Holzringe ohne Verletzung zusammenzustecken. Wie dies möglich ist, versuchte der Leipziger Professor Zöllner in seinen »Wissenschaftlichen Abhandlungen« durch eine vierte Dimension zu erklären. Daß es noch etwas anderes gibt als Länge, Breite und Höhe. Ein zweidimensionales Wesen könnte keinen Knoten knüpfen, würde einen solchen als ein »Wunder« ansehen.

Nun kann ich aber denselben Effekt, dasselbe Resultat erzielen. Zwei nahtlose Ringe ohne sichtbare Verletzung zusammenstecken. Bei hölzernen lasse ich sie aus einem Blocke drehen, bei Eisenringen feile ich den einen auf und schweiße die Stelle wieder zusammen.

Gewiß dieses Zusammenstecken habe ich auf andere Weise vollbracht als der »Geist«. Aber das Resultat ist doch dasselbe, und darauf kommt es an!

In Anbetracht alles dessen bin ich auf den Gedanken gekommen, eine Aufgabe zu stellen, deren Lösung ein echtes Wunder bedeuten würde, das ich mit der Post in alle Welt senden könnte.

Ich habe einen Ring aus Eichenholz und einen zweiten aus Buchsbaumholz drechseln lassen und gefordert, diese beiden Ringe zusammenzustecken.

Wenn das geschieht, so ist ein echtes Wunder geschaffen worden, kann jedem Zweifler gezeigt werden! Eine Naht müßte man durch mikroskopische Untersuchung erkennen.

Dieses Problem ist von keinem meiner Medien gelöst worden!

Übrigens, wie ich aber erst hinterher erfuhr, ist auf denselben schlauen Gedanken auch schon Professor Zöllner gekommen, er hat gleichfalls zwei Ringe aus verschiedenen Holzarten drehen lassen. Oder es genügt auch schon, zwei Ringe aus einem Stück Leder zu schneiden.

Das haben dann noch zahllose Spiritisten und Antispiritisten nachgemacht, mit derselben Forderung, und noch nie, niemals sind zwei solche Ringe zusammengesteckt worden!

Da sieht man also ganz deutlich, daß diese Geister nichts machen können, was der Mensch nicht auch in seinem normalen Bewußtseinszustand fertig brächte.

Und was nun gar die Antworten und sonstigen Botschaften ans dem »Geisterreiche« anbetrifft, so ist das erst reicht alles ganz ungereimtes Zeug. Entweder Behauptungen die gar nicht zu kontrollieren sind, oder Orakel, die sich jeder nach Belieben auslegen kann wie die von Delphi.

Mit dem ganzen Spiritismus ist es nichts! man vergeudet nur seine Unmenge Zeit damit, ohne irgend einen Vorteil davon zu haben.

Anderseits aber schadet es gar nichts, dieser geheimnisvollen Sache — denn geheimnisvoll, ganz rätselhaft ist sie, das muß man ihr lassen — einmal ernsthaft zu Leibe zu gehen. Denn wer sich nur mit einigen Sitzungen begnügt, ohne weiter zu prüfen, der verfällt leicht dem traurigen Schicksal, aus dem Spiritismus eine Religion zu machen. Und das ist Abgötterei, die nicht einmal etwas einbringt. Da ist es immer noch gescheiter, den Gott Mammon anzubeten.

Wer aber diesen Geisterbecher bis zur Hefe ausleert, dem wird es zuletzt genau so gehen, wie es allen meinen Leuten ergangen ist: erst staunten sie, fürchteten sich sogar vor den Phänomenen; dann belustigten sie sich über den Hokuspokus; bis sie schließlich von dem albernen Blödsinn nichts mehr wissen wollten.


Als wir in Para einliefen wurde der »Kaiser von Brasilien« gerade als Gefangener auf sein Flaggschiff gebracht, die braunen, hundsföttischen Kriegsschiffsmatrosen speiten ihn an und sangen dazu patriotische Lieder zur Ehren der brasilianischen Republik und ihres Präsidenten. Nicht viel länger als acht Tage hatte diese ganze Komödie gewährt, von der die Welt kaum etwas erfahren hat, und dann zum Danke, daß wir ihren geliebten Präsidenten gerettet, verlangten diese Schufte auch noch, daß wir ihnen einige Vorstellungen geben sollten, womöglich gratis, wofür wir nun freilich nicht zu haben waren. Doch kam es wegen unserer Weigerung nicht zu Streitigkeiten — leider nicht, möchte ich fast sagen — alle meine Jungen hatten schon die Gummiknüppel und Hundepeitschen in den Hosenbeinen stecken.

Dann kamen der Graf von Mohakare und Major von Tonn zu uns an Bord, begrüßten uns als Landsleute, trugen eine Bitte vor. Ich will die Unterredung nicht wiedergeben. Die Hauptsache war die, daß die Verpflichtungszeit der beiden fremden, gewissermaßen nur gemieteten Offiziere bereits abgelaufen war, diese Reise, um die neuen Kriegsschiffe mit abzunehmen sollte ihre letzte Tat gewesen sein, sie hatten sogar schon ihre Frauen mitgenommen um sie gleich in Neuyork zu lassen, aber aus gewissem Grunde waren diese doch wieder mit zurückgekehrt. Die anderen Verhältnisse habe ich schon geschildert oder doch angedeutet. Wie sich der Unwille des ganzen brasilianischen Volkes gegen diese fremden ArmeeInstrukteure kehrte. Daran änderte auch nichts, daß jetzt der Graf Mohakare alias Artur Hennig tatkräftig mit in die Rebellion eingegriffen hatte. In Rio de Janeiro waren bereits die Wohnungen der beiden vom Pöbel vollständig demoliert worden, da hätten sie unbedingt Rechenschaft und Genugtuung fordern müssen, wenn sie nun einmal zur Stelle waren, oder sie wären Waschlappen gewesen, das hätte nur noch böseres Blut gegeben, und so zogen die beiden vor, für einige Zeit von der Bildfläche zu verschwinden.

Wir waren das einzige fremde Schiff in Para. Ob wir sie aufnehmen würden. Gleichgültig, wohin die Reise ging. Wenn nur nicht gerade zur Erforschung des Nord— oder Südpols. Selbstverständlich! So bekamen wir wiederum zwei Menschenpaare als Gäste an Bord.

Dieselben wurden schon in einer besonderen Erzählung zur Genüge geschildert. Besonders der brasilianische Major von Tonn war noch ganz derselbe, der er als deutscher Leutnant gewesen, nur daß er jetzt etwas hinkte.

Seine erste Frage, sobald er seine Siebensachen untergebracht und wieder an Deck erschien, war, ob das nicht recht hübsch aussehen müsse, wenn alle die Holzboote mit Kerbholzschnitt verziert seien und ob er das ausführen dürfe.

Ich kannte ja seine Leidenschaft damals noch gar nicht, und außerdem war diese Frage auch etwas seltsam gestellt, so ungefähr mit der schüchternen Wahnsinnsglut eines verliebten Jünglings, der die Auserwählte fragt, ob sie ihn will oder nicht, und dabei hatte das kleine, dicke Kerlchen auch schon heimlich so eine Art von Skalpiermesser gezückt.

Aber gewiß! Das ist eigentlich ein Gedanke! Die Matrosen treiben ja überhaupt gern Kerbschnitzarbeiten und warum nicht auch die Boote so verzieren? Die alten Wikinger haben ja sogar ganze Schiffe so beschnitzelt.

Und kaum hatte ich so gesprochen, erst eine Andeutung gemacht, als das Kerlchen auch schon mit geschwungenem Skalpiermesser auf die große Jolle losstürzte und zu schnipseln begann. Und so hat er geschnipselt, so lange er bei uns war, keine Mitarbeiterschaft duldend. Nun aber hatte er unterdessen zu seinem Kerbholzschnitt noch einen modernen Blumenschnitt hinzu gelernt, also er schmückte unsere Boote auch mit Gänseblümchen und Vergißmeinnicht — andere Sorten schien er nicht zu kennen — was nun freilich zu den Seebooten paßte wie die Faust aufs Auge.

Dann später verzierte er die Holzeimer und was sonst noch schneidbar war. Schade, daß das Schiff von Eisen und nicht von Holz war. Oder eigentlich gut für uns. Sonst hätte der unser ganzes Schiff zerschnipselt. Nun, dafür machte er sich dann an die Kojen und an die sonstigen Möbel, bedeckte auch alle Wände mit Räderchen und Sternchen, und dazu sang er nach wie vor unermüdlich sein »Studio auf seiner Reis', jubheidi, jubheida.«

Am achten Tage sichteten wir einen mittleren Dampfer, der Notsignale gab.

Es war ein Franzose, von Neu—Orleans nach Marseille unterwegs, der die Schraubenwelle gebrochen hatte. Doch nicht etwa, daß er deswegen Notsignale gab, er wollte sich auch nicht ins Schlepptau nehmen lassen, was ein Heidengeld kostet. Denn auch auf See wird es nur von den Lebendigen genommen, von den Toten ist nichts mehr zu wollen.

Seit drei Tagen wurde der Dampfer schon getrieben, man hatte die Welle bereits einmal geflickt, die Flickerei war wiederum gebrochen, und nun wurde weitergeflickt.

Es befanden sich auch einige Passagiere darauf, und diese hatten das Warten endlich satt, zumal sie sonst nicht satt wurden, auf dem französischen Dampfer herrschten die kläglichsten Verpflegungsverhältnisse, und endlich mußte Kapitän Fernais ihrem Drängen nachgeben, der nächste in Sicht kommende Dampfer wurde angerufen.

Ja, wir waren gern bereit, die acht Passagiere an Bord zu nehmen und nach Frankreich zu bringen. Allerdings nicht nach Marseille, sondern nach einem Hafen der West— oder Nordküste. Wir einigten uns auf Bordeaux.

Dann begab ich mich selbst mit dem Abholungsboot hinüber. Denn ehe die Franzosen ihr Boot ausgeschwungen hatten, waren wir schon drüben. Als ich, hörte, daß es Vergnügungsreisende waren, die auf eigene Kosten führen und nicht gerade zu den mit Gütern gesegneten Sterblichen gehörten, und daß der Kapitän den prozentualen Teilpreis nicht zurückzahlen wollte, wozu er auch kaum gezwungen werden konnte, sagte ich kurzerhand, daß wir die Passagiere als Gäste kostenlos nach Bordeaux befördern wollten.

Als das Kapitän Fernais vernahm, hatte das Männchen die Dreistigkeit, mich zu bitten, sein ganzes Schiff kostenlos nach Bordeaux zu schleppen. Da gab es aber nun freilich nichts. Jetzt ging ich auch auf den zuerst geforderten, sehr bescheidenen Preis nicht mehr ein, den der Kapitän nur deshalb nicht angenommen hatte, weil er, wenn er das Schiff nicht selbst wenigstens in den nächsten Hafen brachte, um seine Dividende kam.

Vor allen Dingen aber erwartete mich eine große Überraschung. Wie die acht Passagiere, nur Männer, mit ihren Siebensachen angetreten sind, da sehe ich unter ihnen einen Ritter von der traurigen Gestalt . . .

»Herr Gott, wo hast Du denn den Kerl schon einmal gesehen — diesen schwarzen Spitzbart und den pomadisierten Poposcheitel — — ach, der Monsieur Leblanc, der Revolverjournalist, der in Paris seine Schmähschrift gegen uns als Salat mit Essig und Öl und Senf auffressen mußte!l«

Ein merkwürdiges Wiedersehen, hier auf hoher See!

Ich hätte natürlich nichts mehr davon gesagt, ihn gar nicht erkannt. Aber er hatte schon gemerkt, daß ich ihn erkannt, und er mußte Grund haben, selbst unsere »Argos« zur Weiterreise zu benutzen, und so näherte er sich mir in gedrückter Haltung.

»Monsieur Kapitän,« begann er wie ein junger Hund zu winseln, »bei Gott, ich habe nichts mehr gegen Sie geschrieben — parole d'honneur — und ich muß am ersten unbedingt in Paris sein, oder ich verliere meine Stellung.. <

»Schon gut, schon gut, die Sache ist vergessen.«

Als wir sie an Bord hatten, ging die Schweinerei gleich los. In der ersten Viertelstunde wurden fünf von den acht Herren seetoll, ganz fürchterlich, spien das ganze Deck voll.

Dabei waren sie alle doch eigentlich seefest hatten ja schon eine Hinreise gemacht, kamen doch von einem Dampfer, auf dem sie Zeit genug gehabt hatten, dem Neptun zu opfern, und der Seegang war doch hier wie dort der gleiche, der Dampfer rollte noch ganz anders, als unsere scharf auf Kiel gebaute »Argos«, und auf dem Dampfer waren sie nicht seekrank gewesen, wurden es erst bei Betreten unseres Schiffes.

Die Seekrankheit ist eben ganz unberechenbar. Der robusteste Mann wünscht sich den Tod, und das zarteste Dämchen mit den schwächsten Nerven bleibst ganz verschont. Wobei allerdings ein festgeschnürtes Korsett mit helfen mag, was schon die alten Kreuzfahrer wußten, indem sie auf dem Schiff einen besonderen Gürtel fest um die Hüften schnürten. Wohl auch das einzige Mittel, um sich gegen die Seekrankheit zu schützen. Um den Magen, der die Stampfbewegungen des Schiffes, das Auf- und Niedergehen, nicht so schnell mitmachen kann, also immer oben und unten gegen die Wände der Bauchhöhle schlägt, fester zu halten.

Aber schließlich hilft das alles nichts. Manch alter Kapitän oder sonstiger Seebär wird immer wieder fürchterlich seekrank, sobald der Wind umspringt oder das Schiff von einem anderen Wellenschlag getroffen wird, andere Bewegungen macht. So wie auch der Weltumsegler Cook, wie schon einmal erwähnt, fortwährend seekrank wurde.

Es handelt sich also meist um andere Bewegungen des Schiffes, als die, an die sich der Magen schon gewöhnt hat. Nun macht aber ein Dampfer ganz andere Bewegungen als ein Segelschiff. Der Dampfer bricht durch die Wellen, der Segler hebt sich darüber hinweg. Das Schlingen und Stampfen mag scheinbar dasselbe sein — es sind dennoch ganz andere Bewegungen. Wer nur auf einem Dampfer zu fahren gewöhnt ist, wird zum ersten Male auf einem Segler regelmäßig wieder seekrank, wenn er überhaupt dazu disponiert ist, und umgekehrt.

So war es auch hier. Die fünf Herren waren auf dem Dampfer seefest geworden, aber wir benutzten den Wind zum Segeln, und diese neuen Stampfbewegungen konnte ihr Magen nicht vertragen.

So konnten wir gleich kontrollieren, was es auf dem französischen Dampfer für einen Schlangenfraß gegeben hatte. Die Mittagszeit war kurz vorüber. Als Hauptsache Maraschgemüse. Das sind die getrockneten Stiele von besonderen Pilzen, welche in den Südstaaten Nordamerikas massenhaft wachsen. Nur die Stengel kann man essen, sie schmecken ganz gut, müssen aber stundenlang mit Soda gekocht werden, ehe sie halbwegs verdaulich werden, man benutzt sie nur, um der Bouillon einen angenehmen Geschmack zu geben. Und dieses spottbillige Luderzeug hatte auf dem französischen Dampfer das Hauptgericht gebildet!

Ich würde bei dieser unappetitlichen Geschichte ja gar nicht so lange verweilt, sie vielleicht gar nicht erwähnt haben, wenn ich nicht seiner Zeit, als der Monsieur Leblanc seine Broschüre auffressen mußte, erwähnt hätte, daß über diese Sache einer unserer Heizer noch nachträglich einen famosen Witz vom Stengel ließ, und dieses Versprechen muß ich nun einlösen.

Also die fünf Herren haben sich an Deck verteilt und streuen verschwenderisch die schwarzen, unverdauten Maraschstengelchen aus, vermischt mit der nötigen Majonnaise. Darunter befindet sich auch Monsieur Leblanc, der halb über einer Winde hängt und immer feste den Inhalt seines Magens ausschüttet.

Da gehen zwei Heizer vorüber, sie ziehen auf Wache.

Von der damaligen Komödie in Paris hatten sie natürlich alle erfahren, das hatte ja gar nicht ausbleiben können, das hatten wir doch ausführlich in der Kajüte erzählt — und jetzt hatte ich auch gleich der Patronin gesagt, wen wir hier wieder trafen, das hatte Siddy gehört, der hatte wieder einmal sein Maul nicht halten können . . .

»Hört, der da mit dem schwarzen Spitzbart und dem Scheitel in der Mitte, das ist der Franzose, den damals unsere Patronin in Paris seine von ihm verfaßte Broschüre auffressen ließ.«

Also die beiden Heizer gehen vorüber und wissen, wen sie vor sich haben. Anzüglichkeiten durften sie sich ja nicht leisten, das wußten sie, aber bei dieser Gelegenheit, wie der Franzose die schwarzen Pilzstengel massenhaft an Deck streut, da blitzt dem einen Heizer ein genialer Gedanke auf, und da kann er sich doch nicht halten.

»Du, sieh mal, Garl,« sagt der Heizer Felix, ein gelernter Buchdrucker, dessen Wiege in Sachsen gestanden, ganz erstaunt zu seinem Kollegen, »sieh mal, der schbuckt Lettern — — setzt se glei zusamm — na‚, da guck doch, da schteht ja: Madame Helene Neubert et les argonautes.«

Ich hatte es gehört.

Ich weiß nicht, ob dieser Witz so wirkt, wie er damals auf mich gewirkt hat.

Man muß wohl dabei gewesen sein.

Wie der Buchdrucker—Heizer die schwarzen Stengelchen mit der vor drei Jahren ausgefressenen Broschüre zu verquicken weiß, und wie er nun mit dummerstaunten Gesicht das hervorbringt, auch das Französische!

Ich machte schleunigst, daß ich fort kam. Seit langer Zeit hatte ich nicht wieder so herzlich gelacht, habe mich fast ausgeschüttet vor Lachen.


In Bordeaux gaben wir eine Vorstellung. In dieser Hafenstadt tagte gerade ein Kongreß von Gelehrten aus ganz Frankreichs über Tiefseeforschung, und da war es, wo die schon ermahnte Geschichte mit dem dressierten Igel passierte, wie der eine Professor der Akademie einen langen Vortrag über die Darwinsche Anpassungstheorie hielt, wie der Igel an Bord eines Schiffes so ganz seine Natur geändert habe, daß er jetzt sogar die Wände hinaufklettern könne. Und dann entpuppte sich der Igel als eine nur in eine Igelhaut eingenähte schwanzlose Ratte. Es war schon eine andere, von dem Segelmacher aber vielleicht noch besser dressiert als die erste.

Dann ging es nach Hamburg. Wir konnten doch nicht am Heimatshafen vorbeifahren, ohne ihn einmal anzulaufen. Jeder, der wollte, bekam zwei Wochen Urlaub, um die Seinigen zu besuchen. Es war ungefähr nur ein Drittel der Mannschaft, die davon Gebrauch machte.

Wegen seiner Militärpflicht hatte sich nur Hans zu stellen, der noch einmal zwei Jahre zurückgeschrieben wurde.

Lord Harlin stand zwar noch unter der Anklage des Hochverrates, wurde aber, wie wir uns schnell orientiert hatten, von den deutschen Behörden nicht an England ausgeliefert, und er hatte keine Lust, sich selbst zu stellen.

Wegen der kleinen Peeresse von Suffolk bekamen wir einen anonymen Brief aus England, man wolle sie uns, wenn eine diplomatische Auslieferung versage, entführen. Da aber eine hohe Summe gefordert wurde, wenn der Schreiber angebe, wie wir das umgehen könnten, so handelte es sich nur um den Erpressungsversuch eines Gauners. Wir wußten schon, wie äußerst schwer es war, auch auf diplomatischem Wege die noch unmündige Herzogin auf einem deutschen Schiffe von der Seite des Onkels und Vormunds zu reißen, so lange er nur angeklagt, nicht verurteilt war.

Dagegen erfolgte eine Beschlagnahmung des ganzen Schiffes auf Antrag des Generalkonsuls der Vereinigten Staaten. Aber das war nur ein Versehen gewesen, die Siegel wurden gleich wieder gelöst. Price O'Fire hatte die Angelegenheit mit der Alice Powell schon von Para aus geregelt, ihr eine Million Dollar angewiesen, wovon wir gar nichts gewußt hatten.

Wir waren gegen derartige Geldgeschichten schon dermaßen abgebrüht, daß wir uns um so etwas gar nicht mehr kümmerten. Wenn wir so einen famosen Mann an Bord hatten, der uns Berge von Gold und Edelsteinen verschaffen wollte — na‚, da konnte doch nichts schief gehen, und dann konnte der diese Lappalie auch einstweilen für uns auslegen.

Ich selbst meldete mich gleich in den ersten Tagen bei dem Seemannsamte zum Kapitänsexamen, bestand es, dann fuhr ich mit Helene nach Kiel, umarmte meinen alten Vater, den ich wohlauf fand — was ich natürlich schon gewußt hatte — und als wir nach Hamburg zurückkehrten, waren auch schon alle Urlauber wieder eingetroffen. Bei manchem hatte sich zu Hause gar viel geändert, bei uns an Bord nicht das geringste, wir waren alle wieder vollzählig beisammen, so verließen wir Hamburg und trafen am 18. Oktober in Petersburg ein, um hier zu überwintern.

Jawohl, den ganzen Winter wollten wir in Petersburg oder doch in Kronstadt eingefroren bleiben. Das war bereits ausgemacht worden. Denn unterdessen hatte mir O'Fire doch Einiges darüber offenbart, wohin er uns führen wollte. Wenigstens Einiges. Wir sollten abermals eine große Strompartie ins Binnenland hinein machen. Den Jenissei hinauf und dann weiter den Tunguska, einen rechten Nebenfluß dieses Hauptstromes.

»Was, in den sibirischen Urwald soll es hineingehen?!« rief ich wirklich erstaunt, nachdem ich einen Blick auf die Karte geworfen hatte.

»Ja, und zwar immer noch ein ganz anderer Urwald als der des Amazonenstromes, der größte der Erde, vom Ob bis zur Jana sich erstreckend, 500 geographische Meilen lang und 300 breit, fünfzehn mal so groß als Ihr ganzes Deutschland, dabei ebensowenig erforscht, so unbekannt wie der brasilianische Urwald, obgleich fast überall passierbar, und in das Herz dieses Riesenwaldes will ich Sie führen. Wenn es Ihnen recht ist.«

O ja, mir war es schon recht, und die anderen würden gegen solch eine abenteuerliche Fahrt in die sibirische Wildnis wohl auch nichts einzuwenden haben.

»Dort werden wir den Kapitän Satan mit seinen oder vielmehr mit unseren Schätzen finden?!«

»Wünschen Sie, daß ich Ihnen alles offenbare?«

»Nein, wenn Sie uns Überraschungen bereiten wollen, dann sind mir diese lieber. Nur noch eine Frage: können wir denn mit unserem Schiffe so hoch diese Ströme hinauffahren?«

»Ja. Wenigstens bis ziemlich an unser Endziel. Aber ich möchte fast, daß Sie und Ihre Auserwählten dem Schiffe voraus fahren, ich möchte Ihnen den Genuß einer winterlichen Schlittenpartie auf den sibirischen Strömen verschaffen. Das Schiff folgt dann einen Monat später nach, immer unter sicherster Führung, die ich selbst stellen werde.«

Er erklärte mir weiter, was er beabsichtigte. Er wollte eine großartige Expedition arrangieren, hauptsächlich zur Freude für uns unternehmungslustige Abenteurer. Ich will es jetzt nicht schildern, da wir es dann ja ausführten.

Vor allen Dingen aber mußte unsere »Argos« unbedingt einmal in das Dock, sie hatte gar viele Reparaturen unter der Wasserlinie nötig. Der ganze Kupferbeschlag mußte erneuert werden. Es hatten sich schon so viel Muscheln angesetzt, daß wir kaum noch acht Knoten dampfen konnten, noch hinderlicher war diese Reibung beim Segeln. Wer eine Masse erfindet, die vor dem Ansetzen der kleinen Seemuscheln schützt, der kann sich gleich als Multimillionär fühlen. Am besten hat sich das Kupfer bewährt, aber ganz erfüllt es seinen Zweck eben auch nicht. Oder wenigstens eine kupferhaltige Farbe erfinden, die nur aufgestrichen zu werden braucht und dann so wirkt wie metallisches Kupfer! Aber das gibt es auch noch nicht. Und die Muschelkruste erst abklopfen, mit Hammer und Meißel und dann die rauhe Fläche glatt schleifen, das würde viel, viel teurer zu stehen kommen als ganz neue Kupferplatten.

Ich hätte unser Schiff schon in Hamburg aufdocken lassen, wenn mir O'Fire seinen Plan nicht schon damals offenbart hätte, und Kronstadt ist durch seine Bekupferung berühmt.

Einige Monate konnte das dauern, und so blieben wir gleich den ganzen Winter in Kronstadt liegen, was aber gleichbedeutend mit Petersburg ist. Die russische Hauptstadt ist mit ihrem eigentlichen Hafen durch einen 25 Kilometer langen Kanal verbunden. Nur darf man das nicht falsch verstehen. Sankt Petersburg liegt ja selbst direkt am Meere, hat eigene Häfen, sogar mitten in der Stadt. Aber nur für Schiffe bis zu 1000 Tonnen. Der Kanal geht durch den Busen von Kronstadt, es ist eine künstlich angelegte Fahrrinne im Wasser.

Wir haben in dem glänzenden Petersburg einen herrlichen Winter verlebt.

Wir sind als Gäste am Zarenhofe gewesen, und wir haben den ganzen Zarenhof an Bord unseres Schiffes bewirtet.

Besonders ich habe dabei einige mächtige Klatsche auf der Brust abbekommen, mehr als alle anderen.

Ich glaube, wir hätten jahrelang in Petersburg liegen können, und Abend für Abend wäre unsere Batterie, tausend Sitzplätze enthaltend, gefüllt gewesen. In Rußland gibt es noch ganz anderes Geld als in Amerika, das heißt es ist noch viel ungleichmäßiger verteilt und drängt sich hauptsächlich in Petersburg zusammen, und der Rubel rollt noch viel leichter als der Dollar, und es gehörte zum guten Tone, daß man unsere Vorstellungen besuchte.

Wir konnten ja auch, wenn wir wollten, jeden Abend etwas anderes bieten, Monate lang. Man mußte es nur einteilen. Schon der schwimmende Affe war eine Sehenswürdigkeit für sich, auch Juba Riata konnte sowohl als Peitschenjongleur wie mit seinem zugerittenen Büffel einen ganzen Abend ausfüllen, und so gab es noch hunderterlei anderes, und wir verstanden Preise zu nehmen.

Nein, wir hätten gar nicht mehr nötig gehabt, in den sibirischen Urwald zu dringen, um den Schätzen des Flibustierkapitäns nachzuforschen. Weniger als 5000 Rubel nahmen wir keinen Abend ein, manchmal aber auch das dreifache, und so konnten wir schon nach vier Wochen Price O'Fire die eine Million Dollars zurückerstatten, oder wir hätten es können, wenn er noch anwesend gewesen. Er hatte uns bereits verlassen. Weshalb und wohin, das werde ich später sagen.

Außerdem gab es fast tagtäglich Sportwettkämpfe aller Art, und unser gemeinschaftlicher Siegesschrank füllte sich mit kostbaren Ehrenpreisen, wenn die Prämie nicht in barem Gelde bestand. Und wir waren nicht mehr so wie früher, daß es gegen unsere Ehre gegangen wäre, solches anzunehmen. Dazu waren wir nun schon viel zu sehr abgebrüht.

Ich will nicht weiter schildern, was wir, die Helden und Löwen von Petersburg während der fünf Monate alles getrieben und erlebt haben. Es würde dicke Bücher füllen.


82. KAPITEL.
AUF DEM EISE DES JENISSEI.

Am 2. April trafen wir in Krestowsk ein, an der äußersten Mündung des Jenissei gelegen.

In sechzehn Tagen hatten wir ganz Skandinavien und Nowaja Semlja umschifft. Wir hatten zwar oft schwer gegen Eis anzukämpfen gehabt, aber bei den heutigen Dampfern spielen die Eisverhältnisse gar keine Rolle mehr. Etwas anderes ist es natürlich in den hohen Polarkreisen, da hört es im Winter freilich auf. Aber sonst wenn in Hammerfest, der nördlichsten Stadt Europas, im Winter alles tot liegt, kein einziges Schiff mehr einläuft, so kommt es eben daher, weil im Winter dort kein Schiff etwas zu suchen hat. Die modernen Eisbrecher könnten sonst recht wohl Luft schaffen.

Krestowsk sieht aus wie ein elendes Fischerdorf, bedeutet aber für Sibirien mit seinen 500 Einwohnern eine ansehnliche Stadt, im Sommer konzentriert sich auch hier der ganze Stromhandel.

Von den eingefrorenen Fahrzeugen löste sich alsbald, noch ehe wir signalisiert hatten, ein ganz moderner Eisbrecher ab, hielt auf uns zu. Aber wie! Furchtbar war es, wie der massive Stahlkoloß, mochte er auch nur sehr klein sein, so etwa ein riesenstarker Zwerg Alberich durch das Eis brach, wie er zurückfuhr und mit aller Kraft gegen die Eisbarriere rammte, wie er förmlich in die Luft sprang und mit seinem Gewicht meterdickes Eis durchbrach. In Hamburg bekommt man ja so etwas oft genug zu sehen, noch mehr in Halifax und anderen nördlicheren Hafen, aber solch einen furchtbaren Kampf mit den Eisschollen oder vielmehr mit Packeis hatte ich noch nicht beobachtet.

In einer Stunde hatte er uns erreicht, die wir noch in eisfreiem Seewasser lagen. Bepelzte Männer blickten zu uns herauf, alle die schwarzen, blonden oder roten Haare halblang, und zwar so geschnitten, wie man es wohl macht, wenn man jemandem die langen Haare kürzen will und von der Frisierkunst nichts versteht, man stülpt eine Schüssel über den Kopf‚, und was darunter hervorsieht, schneidet man weg, und ein Gesicht immer schmutziger und fettiger als das andere. Na‚ eben echte Russen aus dieser sibirischen Gegend. Mich wunderte nur, daß sie nicht schon nach Schnaps schrien, nach Wodka oder Wutki, was wörtlich übersetzt »Wässerchen« heißt.

Als erster kletterte das Fallrepp ein Mann herauf, der aber kein Russe sein konnte. Dazu hatte er ein gar zu mongolisches Affengesicht, in dem die Backenknochen wie Eckpfeiler hervortraten. Er erinnerte sehr an unseren Mister Tabak, besonders auch seine unansehnliche Gestalt mit mächtig krummen Beinen. Außerdem war er nicht wie die anderen in Pelze, sondern in Renntierfelle gekleidet, die freilich noch mehr von Dreck und Eett starrten. Und trotzdem eine ganz sympathische Erscheinung. Besonders taten es einem gleich die so listig und lustig wie schwarze Karfunkelsteine blitzenden Schweinsaugen an.

Doktor Cohn stand schon als Dolmetscher der russischen Sprache bereit, aber es war gar nicht nötig.

»Biehscht Du der Waffenmeister von dieschem Schiff?« fing da der Samojede, der er doch sicher war, da schon im schönsten Schwäbisch an.

»Ich werde Ihnen überall die sichersten Führer zur Verfügung stellen, denen Sie sich bedingungslos anvertrauen können.«

So hatte Price O'Fire gesagt, als er uns verließ um schon an Ort und Stelle Vorbereitungen für unsere sibirische Expedition zu treffen, weiter nichts.

Es gibt ja in Rußland, auch im asiatischen, viele Deutsche, Schwaben bewohnen massenhaft die Täler des Kaukasus, aber der war doch etwas weit von hier.

»I woher kannst Du denn Deutsch?« entfuhr es mir überrascht.

»Nu ihsch hab doch vier Jahre den Doktor Schbießle aus Schtuggart geführt!«

Ahso, der langjährige Führer eines deutschen, eines schwäbischen Forschungsreisenden! Da war das Rätsel gelöst.

Ich halte mich nicht weiter dabei auf, was ich sonst noch erfuhr, wie Price O'Fire schon hier gewesen war und alles arrangiert hatte. Kurz, es war alles aufs Sorgfältigste vorbereitet worden, und dieser Samojede hier, der auf den schönen Namen Jilibeambärtje hörte, führte diejenigen, die ich zur ersten Expedition ausgewählt hatte, zunächst bis nach Turuchansk, an der Mündung des Tunguska in den Jenissei gelegen, rund 100 geographische Meilen von hier, die wir auf Renntier— und Hundeschlitten in höchstens zehn Tagen zurücklegen würden. In Turuchansk nahm uns ein anderer Führer in Empfang, dann ging es weiter nach Osten, in die eigentliche Urwaldwildnis hinein. Unser Schiff blieb einstweilen hier in Krestowsk liegen, bis es uns im Anfang Mai, wenn der obere Jenissei eisfrei wurde, nachfolgte.

Vor allen Dingen aber muß ich noch eines erwähnen. Wir waren auf eine zweijährige Expedition gefaßt und hatten uns danach natürlich ausgerüstet. Zum Teil schon in Hamburg, dann weiter in Petersburg, je nachdem, wo die betreffenden Waren billiger zu haben waren. In Hamburg hatten wir vor allen Dingen mächtige Quantitäten von Tabak und Spirituosen eingenommen, ohne welche »Tauschartikel« im sibirischen Rußland ja gar nicht durchzukommen ist. Jeder eingeborene Arbeiter oder Jäger will von dem europäischen Reisenden für jede Handreichung einen Schnaps haben, oder er macht eben nicht mehr mit, diesen Schnaps ersetzen ihm keine Berge Gold, nicht einmal der Tabak, den er so wie so ebenfalls beansprucht.

Diese Sachen hatten wir im Hamburger Freihafen eingenommen, also zoll— und steuerfrei. Nun gibt es aber in Rußland kaum einen Artikel, der zollfrei eingeführt werden darf. Und gerade auf Spirituosen und Tabak liegt ein enormer Zoll. Und wir durften doch nicht etwa so ohne weiteres mit unserem Schiffe den Strom hinaufdampfen und diese Waren nach Belieben freigebig verteilen. Das mußte alles, alles erst versteuert werden. Auch unser eigener Proviant und was wir sonst für uns selbst zu verbrauchen gedachten. Oder aber, es wurde alles versiegelt. Schon diese erste Untersuchung hätte mindestens eine Woche gedauert. Wir hätten, um das Schiff frei zu bekommen, eine Kaution von mindestens hunderttausend Rubel hinterlegen müssen. Die weiteren Verwicklungen wären überhaupt gar nicht abzusehen gewesen. Das ist es ja eben, was die Erforschung des noch gänzlich unbekannten Sibiriens dem fremden Reisenden so ungeheuer schwierig macht.

Für uns aber trat ein Fall ein, der nur im heiligen Rußland möglich ist.

Wir waren nicht umsonst am Zarenhofe gewesen, nicht umsonst hatte sich der Kaiser aller Reußen als Gast bei uns an Bord befunden.

Wir besaßen einen Generalpaß von ihm mit seiner eigenen Unterschrift, wir besaßen einen Ukas.

Das heißt wörtlich übersetzt Befehl, Verordnung — bedeutet aber Gesetz.

Durch seine eigenhändige Unterschrift, durch einen »Vysocajsijie Ukazy« hatte der Zar für uns ein besonderes Gesetz geschaffen. Wenn es auch nur, ohne ins Staatsarchiv zu kommen, auf einem Blatte Pergamentpapier stand, das ich in der Brusttasche hatte und von dem Price O'Fire eine Kopie besaß.

Danach hatte jeder russische Beamte zu unserer Verfügung zu stehen. Wir befahlen, er mußte gehorchen, jeder Nachtwächter sowohl wie jeder Stadtkommandant wie jeder Regimentskommandeur, oder er hatte die Folgen seines Ungehorsams zu tragen. Und weiter konnten wir alles, was sich an Bord unseres Schiffes befand, zollfrei ins Land bringen, wohin wir wollten, ohne jede Untersuchung.

Was das zu bedeuten hat, das weiß wohl nur der richtig zu würdigen, der schon einmal an der russischen Grenze oder auch an anderen kujioniert worden ist.

So etwas aber ist heutzutage auch nicht mehr in Persien und nicht mehr in der Türkei möglich, obgleich diese Reiche doch ebenfalls absoluten Monarchismus haben. So etwas ist heute nur noch im heiligen Rußland möglich! Daß ein Federzug des Landesvaters alle bestehenden Gesetze einfach auf den Kopf stellt!

Danach also wurden wir in Krestowsk empfangen, von den Behörden und von der ganzen Bevölkerung. Daß wir unsere Allmacht nicht mißbrauchten, brauche ich wohl nicht erst zu sagen.

Die Patronin, Ilse, Lady Evelyn und Klothilde — ich, Doktor Cohn, Juba Riata, Kabat, Wenzel—Attila, Maler Gerlach und acht Matrosen, darunter auch die Turner Schneider—Schnipplich und Kretschmar — diese achtzehn Personen waren von vornherein für die erste Expedition bestimmt gewesen, danach hatte sich O'Fire richten müssen.

Fünfzehn Schlitten standen für uns schon bereit, sechs mit Renntieren, neun mit Hunden bespannt.

Es sind in Bezug auf diese Zugtiere in Lappland und Grönland ganz andere Verhältnisse als im nördlichen Sibirien.

Der Lappe fährt nur mit zwei Renntieren, denen er höchstens 16 Wog oder etwa 5 Zentner zumutet, verlangt täglich höchstens 8 Meilen — der Samojede und Tunguse spannt vier vor, läßt sie 12 Zentner ziehen und bringt es dennoch bis auf 12 Meilen den Tag. Die sibirischen Renntiere sind allerdings auch viel größer und stärker als die norwegischen, hauptsächlich aber ist besonders der Tunguse gegen seine Zugtiere rücksichtslos bis zur Grausamkeit, läßt sie lieber zusammenbrechen und verenden, ehe er sein vorgenommenes Ziel nicht erreicht, was es bei dem Lappen nicht gibt. In Sibirien sind die Renntiere eben viel billiger, man hat schon Herden bis zu 70 000 Stück gezählt, einer einzigen Familie gehörend! Außerdem reitet der Sibirier auch das Renntier, was für dessen Größe und Stärke spricht.

Sie sind viel größer und stärker als die der Eskimos, müssen eine Last von 640 Pfund ziehen und täglich bis zu 20 deutsche Meilen zurücklegen. Wer das nicht glaubt, der lese in Brehms »Tierleben« nach. Das sind nun allerdings Ausnahmsleistungen.

Das Verladen der mitzunehmenden Sachen und die Verteilung der Personen in die Schlittenboote — richtige Wasserboote aus Birkenpflanzen, auf Kufen ruhend — begann.

Es waren interessante Beobachtungen, die ich da machte. Na‚ was ich überhaupt noch erleben sollte! Besonders mit diesen höllischen Hundekötern! Doch davon später.

Mit einem Male sehe ich, wie »Bärtchen«, — so hatten meine Jungen den Samojeden—Führer Ilibeambärtje gleich getauft — mit ausgebreiteten Armen auf unsere Patronin zugeht, sie an seine Brust drückt, dabei sie auch etwas in die Höhe hebt und herumschwenkt.

Na‚ ich denke doch der Kerl ist verrückt geworden. Ich bin ob dieser Liebkosung dieses schwierigen Jünglings eben so erstarrt wie Helene, die ebenfalls kein Wort findet, sich die Umärmelung ruhig gefallen läßt.

Und wie er sie wieder hingesetzt hat, geht der Samojede auf mich zu, schließt auch mich in die Arme, hebt mich hoch.

Ich will es kurz machen. Nicht etwa, daß dies Abschiedsformalitäten waren.

»Ihsch musch doch wische, wie schwer Du bihscht.«

Der Samojede bestimmte also das Gewicht jeder Person, dann auch aller der Ballen und Kisten, nur durch einfaches Aufheben. Wir haben dann Verschiedenes nachgewogen, und ich habe mich von der Wahrheit dessen überzeugen lassen müssen, wovon ich schon früher gehört und gelesen hatte: nämlich daß diese Samojeden und Tungusen, Schlittenführer wie Jäger wie Kaufleute, durch einfaches Aufheben das Gewicht eines jeden Gegenstandes fast genau bis zum Gramm bestimmen können! Wenn so ein Pelzjäger ein Pfund Tabak bekommt, kann er sofort sagen, daß daran fünf Gramm fehlen! Bei größeren Lasten können sie sich ja um einiges Pfund irren — aber immerhin, es ist ganz wunderbar, schier fabelhaft, wie diese Menschen jedes Gewicht durch einfaches Aufheben bestimmen!

Nachmittags um zwei fuhren wir los, ich mit Helene in einem Renntierschlitten, gelenkt von Herrn Bärtchen, doch änderte sich diese Verteilung während der zehntägigen Reise fortwährend, jeder wollte doch auch einmal in einen Hundeschlitten, wollte selbst fahren lernen, und deshalb bedarf das einer näheren Beschreibung.

Von einer Dressur, einem Abrichten zum Ziehen ist gar keine Rede, weder bei den Renntieren noch bei den Hunden.

Der Samojede fängt mit dem Lasso — in dessen Handhabung er sich aber nicht mit dem nordamerikanischen Indianer oder Cowboy vergleichen kann — beliebige Tiere heraus, auch solche, die noch nie vor einem Schlitten gegangen sind. Durch vieltausendjährige Benutzung zum Ziehen scheint das diesen Tieren in Fleisch und Blut übergegangen zu sein. Die vier Stück werden nebeneinander eingespannt, in einer Weise, die ich mit Worten nicht so leicht zu schildern vermag, ganz einfach und dennoch genial ausgedacht, sie lassen sich willig das Maul zusammenschnüren, sie ziehen beim Zügelschlag sofort an und bieten ohne Peitschenschlag bis zum letzten Augenblick, bis sie zusammenbrechen, ihre ganze Kraft auf. Das Lenken geschieht durch Zug genau wie bei den Pferden, und sie gehorchen sofort ohne jede Dressur.

Ganz anders bei den Hunden. Während der Eskimohund mehr ein großer Spitz ist, sind diese sibirischen echte Wolfshunde, Kreuzungen zwischen einem unbekannten Haushunde und dem Wolfe, werden durch eine Wölfin immer wieder einmal aufgefrischt, ihrem wilden Ahnherrn wieder näher gebracht.

Bei diesen Hunden ist von einer Abrichtung erst recht gar keine Rede. Daß sie sich zum Menschen halten, das ist das einzige, wodurch sie unseren Haushunden gleichen. Sonst aber sind sie völlig selbständig, folgen keinem Rufe. Sie halten sich beim Menschen nur in der Hoffnung auf, von ihm gefüttert zu werden. Geschieht dies nicht, wird der ewige Heißhunger gar zu groß, so verlassen sie ihn treulos, die Ansiedlung wie den einzelnen Jäger, um durch Jagd oder bei anderen Menschen Nahrung zu suchen. Was übrigens auch die Eskimohunde tun, wie manche Polarforscher zu ihrem Schaden erfahren haben. Daß eines Tages alle Hunde durchbrennen. Was bei unserem kultivierten Haushund doch ganz undenkbar ist.

Sie werden durch einen Fisch angelockt, gepackt und vor den Schlitten gespannt, ihrer sechs oder auch acht und noch mehr in einer Längsreihe, im Gegensatz zur Einspannung der Renntiere, die also nebeneinander laufen.

Es fällt den Hunden gar nicht ein, anzuziehen. Lieber lassen sie sich totschlagen. Da wirft der Lenker einen getrockneten Fisch von der Größe eines Herings voraus, so weit er ihn werfen kann. Und nun die sechs verhungerten Köter drauf los wie das Kreuzmillionendonnerwetter! Jeder will doch den Fisch haben. Aber an der Art der Bespannung liegt es, daß nur der erste den Bissen erhascht und verschlingt. Trotzdem geht jetzt der rasende Lauf weiter. Offenbar — ich nehme es an, ein Hundegehirn habe ich nicht — glauben die anderen fünf immer noch, der erste Kamerad hat den Bissen noch im Maule, sie wollen ihn ihm abjagen. Und der erste muß nun auch mitlaufen.

Das geht so weiter, bis nach etwa zehn Minuten die Tiere vollkommen erschöpft sind. Sie werfen sich mit lang heraushängender Zunge hin, bleiben liegen. Da nützt keine Peitsche.

Aber es braucht nur ein neuer Fisch geworfen zu werden, dann gehts wieder los wie das Kreuzmillionendonnerwetter. Mir fällt wirklich gar kein anderer Ausdruck ein. Wie diese Hunde, die total erschöpft erscheinen, aufschnellen und auf den Bissen losschießen. Und wieder halten sie ungefähr zehn Minuten aus, bis sie eben nicht mehr können. Und so geht das weiter von früh bis abends, manchmal zehn geschlagene Stunden lang, in welcher Zeit sechs Hunde mit einer Last von sechs und mehr Zentnern bis zu 20 geographische Meilen zurücklegen!

Diese sibirischen Eingeborenen wissen schon, was sie tun. Es hat gar keinen Zweck, die Hunde anderweitig abzurichten. Nur der ewige Heißhunger ist die Triebfeder, welche diese halbwilden Tiere zu solch schier unglaublichen Leistungen befähigt. Wären sie dressiert, dem Menschen wirklich anhänglich und dienstbar, wüßten sie, daß sie regelmäßig gefüttert würden, dann würden sie ihre Kräfte gar nicht so anspannen. Denn es ist ganz ausgeschlossen, daß ein Haushund solch eine Leistung vollbringt. Bei unseren Bordhunden war erst recht nicht daran zu denken. Nur der Ahnherr der Hunde, der wilde Wolf, scheint im Laufen einfach unermüdlich zu sein. Was ich gehört habe, welche Strecken ein jagender Wolf in einer Nacht durchmißt, will ich nicht wiedergeben, denn es klingt mir selbst unglaublich. Bei dem Wolfe ist es ebenfalls der ewige Heißhunger, und das gilt also auch von diesen seinen halbwilden Nachkommen. Nur am Abend oder nach Beendigung der vorgenommenen Strecke werden sie mit gedörrten Fischen richtig gefüttert, können fressen so viel sie wollen, dann müssen sie wieder 24 Stunden und noch länger hungern.

Bei solchen Fahrten kommen nun die verschiedensten Zwischenfälle vor. Manchmal — oder vielmehr oft genug geraten die Hunde unter sich in Streitigkeiten, fallen mitten im Laufe über einander hier, bilden ein wirres, in sich verbissenes Knäuel. Dann muß sie die Peitsche des Lenkers auseinander bringen, und dazu gehört eine Kunst, die anfangs weder Juba Riata noch Mister Tabak fertig brachte, das muß gelernt werden, und Mancher von uns hat das später überhaupt niemals gelernt.

Dasselbe ist der Fall, wenn der erste Hund einmal über den vorgeworfenen Leckerbissen hinausschießt, dann ist die Balgerei und Beißerei erst recht fürchterlich.

Und wenn man nun einmal keinen Fisch mehr hat, nichts anderes Eßbares, was man vorwerfen kann? Nun, etwas Eßbares braucht es gar nicht zu sein. Diese Köter verschlingen eine alte Stiefelsohle oder einen wollenen Handschuh oder einen Segeltuchfetzen mit demselben Appetit wie ein Beefsteak. Sie verschlingen überhaupt alles, was nicht von Holz oder Metall oder Stein ist

Ist alles Verschlingbare erschöpft, so wirft man anfangs ein Stück Holz vor. Doch nicht lange, so fallen die Hunde nicht mehr drauf rein. Und was dann? »Aha, der hat nichts mehr!« sagen dann die Hunde und gehen ihren eigenen Weg, laufen nach der nächsten Ansiedlung, die sie mit unfehlbarer Sicherheit in direktester Richtung zu finden wissen, und da hilft keine Peitsche und gar nichts.

Das ist aber doch nicht etwa eine Untugend. In diesem Falle hat der Führer doch selbst keinen Proviant mehr. Oder will er davon den Tieren nichts mehr abgeben, so geschieht ihm nur ganz recht, wenn sie ihn anderswo hinziehen.

Aus diesem Grunde aber kann sich ein Mensch im Hundeschlitten auch niemals verirren, ist niemals verloren. Er braucht den Hunden nur einige Zeit nichts vorzuwerfen, dann suchen diese die nächste Ansiedlung auf, und auch der wütendste Schneesturm, der den Tag zur Nacht macht, kann sie nicht in der Richtung beirren. Außerdem ist man durch diese Hunde vor Wölfen geschützt. Der Renntierschlitten wird auf größeren Strecken von Ansiedlung zu Ansiedlung während der Nacht unfehlbar von Wölfen angegriffen. Vor seinem halbzahmen Nachkommen, der sich dem Menschen angeschlossen, hat, der Wolf einen heiligen Respekt. Es ist fast unerklärlich. Die Wölfe, die nur in großen Rudeln jagen, könnten doch leicht so ein paar Hunde überwältigen. Aber sie tun es nicht, halten sich in scheuer Entfernung. Ebenso haßt der Wolfshund seinen ganz wilden Ahnherrn glühend. Wehe dem Wolfe, der sich in eine Ansiedlung schleichen wollte! Ein gefangener Wolf wird in furchtbarem Grimm zerfetzt. Hinwiederum läßt sich der Wolfshund nicht zur Jagd auf seinen wilden Vetter verwenden, er verfolgt ihn überhaupt nicht. Das ist auch etwas Rätselhaftes. Nur der Begattungstrieb hebt manchmal allen Haß und gegenseitigen Respekt auf.

Zehn Tage haben wir zu der rund hundert Meilen langen Fahrt an dem Eise des Jenissei gebraucht. Die Hunde wurden geschont, d. h. ihre Freßgier nicht so zum Laufen ausgenützt, die Renntiere wurden täglich gewechselt.

An diesem Oberlaufe des Jenissei liegen an beiden Ufern zahlreiche Ortschaften, sogar Städte genannt, und Dörfer, deren Bewohner abgesehen von einigem Flußhandel ausschließlich von Fischfang und Jagd auf Pelztiere leben. Denn schon hier ist alles Urwald, von dem wir freilich vorläufig noch nichts zu sehen bekamen. Denn einmal ist der Jenissei, wenn er auch nicht mit dem Amazonenstrom zu vergleichen ist, an seiner Mündung drei Meilen breit und bei Turuchansk immer noch eine, und dann kommt an diesem Oberlaufe erst noch eine Überschwemmungsregion an beiden Ufern in Betracht, ebenfalls mehrere Meilen breit, die sogenannte Tundra, ein baumloser Morast, allerdings im Jahre acht Monate lang zugefroren und daher passierbar.

Immerhin, in diesen Ortschaften des Jenissei liefern die Waldjäger ihre erbeuteten Pelze ab, hier haben sie ihre Familien wohnen. Ein gut Teil von ihnen sind schon Verbannte. Doch will ich mich bei diesen Verbannten nicht weiter aufhalten. Jedenfalls darf man sich unter solchen nicht nur in Ketten schmachtende Bergwerksarbeiter vorstellen, die stets auf Flucht bedacht sind.

Eine langweilige Reise war es durchaus nicht. Jeder Tag, fast jede Stunde brachte eine Abwechslung. Wir waren nicht nur auf die Schlitten angewiesen. Wenn hier auch noch voller Winter herrschte, so äußerte die Aprilsonne doch manchmal schon ihre Wirkung. Zur Mittagszeit, wenn der Himmel wolkenlos war, taute die körnige Schneedecke oftmals auf, gefror dann wieder, und so gab es dann die herrlichste Schlittschuhbahn. Und Schlittschuhe hatten wir natürlich mitgenommen. Dann aber trat auch wieder Schneefall ein, und auch mit Schneeschuhen waren wir versehen. So konnten wir uns Bewegung neben den Schlitten machen.

Dazu muß ich noch bemerken, daß man die Hunde vor den Schlitten auch noch in anderer Weise vorwärts bringen kann. Man geht oder rennt einfach vor oder neben ihnen her. Dann laufen sie willig mit. Diese Hunde halten sich eben immer zum Menschen.

Vor allen Dingen aber mußten wir das Lenken der Renntiere und Hunde erlernen, dazu hielt unser Führer während der zehntägigen Fahrt jeden einzelnen von uns persönlich an, zeigte auch alle Reparaturen, die an den Bootsschlitten vorkommen können, führte solche Defekte absichtlich herbei, Ilud manchmal Schlitten um, zeigte wie die Sachen verpackt werden müßten, und so weiter.

»Denn von Turuchansk aus müßt Ihr die Schlitten selbst fahren, denn Ihr seid ganz auf Euch allein angewiesen!« sagte er.

»Weshalb? Können wir dort nicht als Führer Tungusen bekommen?« fragte ich.

»Das wohl, aber . . . Du wirst später erfahren, weshalb Ihr dann keine Tungusen und auch keine Samojeden mehr gebrauchen könnt.«

Dieser Meister Bärtchen hatte überhaupt seine Heimlichkeiten. Ein offenen ewig heiterer Charakter, aber auf gewisse Sachen wollte er sich durchaus nicht einlassen.

Nun, Price O'Fire hatte ja gesagt, daß er uns Überraschungen bereiten wollte, und auch dieser samojedische Führer stak schon mit ihm unter einer Decke.


83. KAPITEL.
IM REICHE DER OBIS.

Am 12. April erreichten wir Turuchansk, eine Stadt mit 200 Einwohnern, und die Hälfte davon sind kleine Kinder. Hier gibt es auch Verbannte, die in Kupfer—, Zinnund Kohlenbergwerken arbeiten, denn hier treten schon Gebirgszüge auf.

Bei der ersten Gelegenheit, nachdem wir in der gastlichen Karawanserei untergebracht waren, nahm mich Meister Bärtchen allein vor. Ich gebe sein Schwäbeln nicht mehr wieder.

»Bist Du mit meiner Führung bis hierher zufrieden gewesen?« fragte er.

»Na und ob, mein lieber . . . «

Ich brach ab, weil der Samojede seine mongolischen Schlitzaugen plötzlich ganz erschrocken aufriß, so starrte er mich da an, wahrhaft entsetzt.

»Was sagtest Du da?!«

Ich wußte gar nicht mehr, was für eine Redensart ich zur Einleitung gebraucht hatte.

Er hatte sich auch schnell wieder beruhigt.

»Ach so, ich weiß — ich hörte ein Wort — es war ein Irrtum — aber doch ein seltsamer Zufall. Also Du bist zufrieden mit mir gewesen. Du wirst Dich meiner weiteren Führung anvertrauen, durch ein Gebiet, in dem es keine menschlichen Niederlassungen mehr gibt?«

»Ja natürlich, mein liebes Bärtchen.«

»So darf ich Dir jetzt mitteilen — der Mann, den Du Price O'Fire nennst, erlaubt es mir — weshalb wir als Schlittenlenker keinen Samojeden und Tungusen mehr mitnehmen können! Du hast doch also schon von den Obis gehört.«

Ganz leise hatte er das Letzte gesagt, sich dabei scheu umsehend, wie er mich schon in die äußerste Ecke des Bretterraumes geführt hatte.

Und ich horchte erstaunt auf.

Aus zweierlei Gründen.

Der Leser entsinnt sich meiner Unterredung mit Kapitän Satan an Bord seines »Seeteufels«.

Er hatte mir etwas von der Sekte der Proslewiten erzählt, die dem Obi dienten, dem Gotte der Vernichtung, einfach dem Teufel.

Ich hatte dann später Doktor Cohn hiervon erzählt, und der wußte schon Bescheid.

Kapitän Satan hatte gesagt, dieser Obi sei eine altfinnische Gottheit, aber es ist eine schamanische, welchem heidnischen Götterglauben alle diese sibirischen Eingeborenen angehören. Aber in Finnland ist der Schamanismus auch heute noch stark verbreitet.

Das Wort Obi ist uns ja gar nicht fremd, einer der mächtigsten Ströme Sibiriens heißt doch Ob oder richtiger Obi. Und das bedeutet eben Teufelsfluß. Oder gleich der Teufel selbst.

Weshalb die Eingeborenen diesen Strom der für Sibirien gerade der wichtigste und segensreichste ist, den »Teufel« genannt haben, dafür liegt ein besonderer Grund vor. Alle wilden oder halbwilden Völker, also überhaupt alle Naturvölker, geben mit Vorliebe einer recht schlechten, gefährlichen Sache einen heiligen Namen, und einer guten Sache einen bösen Namen. Im ersteren Falle, um der bösen Sache die Gefährlichkeit zu nehmen, im anderen Falle, um die böse Gottheit zu versöhnen. Ich komme nicht gleich auf das Fremdwort, mit welchem diese Verdrehung benannt wird, die, wie gesagt, bei allen Naturvölkern üblich ist. Ein besserer Lateiner, als ich einer bin, wird es sofort wissen.

Wir hatten während der Schlittenreise daran gedacht, hatten die Samojeden gefragt, ob sie etwas von den Proslewiten und dem Gotte Obi wüßten.

Nein, absolut nichts. Auch jenen westlichen Hauptstrom kannten sie nur unter dem Namen Omar oder Aß oder Kolta. Und das stimmt allerdings. Auch in der Provinz Tobolsk durch welche der Ob fließt, wird er allgemein so genannt. Das Wort Ob oder Obi wird nur bei Gelegenheit mit feierlicher Scheu ausgesprochen. Aber das weiß doch unsereiner nicht, der noch nicht dort gewesen ist.

Ebenso wenig freilich wollten diese Samojeden auch von anderen bösen Geistern etwas wissen, wollten uns überhaupt in ihre Religion gar nicht einweihen. Was man ihnen auch nicht verdenken kann. Sie wissen, daß sie mit ihrem Schamanismus einer Religion der Zauberei, des gröbsten Aberglaubens, von uns Europäern meistenteils doch nur ausgelacht werden. Nun wollen sie aber auch die ernsten Forscher nicht aufklären.

Entweder wichen die Befragten mit äußerster Schlauheit aus oder sie schwiegen, in die Enge getrieben, ganz still. Auch die Fetische, kleine Götzenbilder aus Holz, die sie um den Hals hängen hatten, unter ihren Pelzen verbargen sie ängstlich vor unseren Blicken. Heimlich beschäftigten sie sich freilich nur um so öfter mit ihnen.

Und jetzt fing dieser Samojede von dem Obi an!

»Das ist der Teufel, der Obermeister der Hölle.«

»Nicht so laut! Nein, es sind lauter Teufels, lauter böse Geister!« flüsterte Bärtchen.

»Ihr Name darf wohl gar nicht genannt werden?«

»Nein, sonst zieht man sie an, und dann hat man den Schaden. Und in dieses Reich der Obis soll ich Dich führen.«

»Wo liegt dieses Reich der Obis?«

»Sechs Schlittentage östlich von hier.«

»Du warst schon dort?«

»Ja.«

»Was wohnen dort für Menschen? Tungusen?«

»Menschen? Wie können denn im Reiche der Obis Menschen wohnen! Denen würden doch gleich die Hälse umgedreht werden.«

»Von den bösen Geistern.«

»Gewiß, von wem denn sonst?«

»Also ein ganz menschenleeres Gebiet. Wie groß ist es wohl?«

»Es geht von der westlichen Grenze an bis an das Ende der Welt.«

Ich wollte diesen Samojeden nicht weiter über die Größe des Weltalls belehren.

»Davon ist also den umwohnenden Tungusen, die doch nur in Frage kommen, bekannt, sie wagen dieses Gebiet nur nicht zu betreten, die Grenze nicht zu überschreiten, nicht wahr?«

»Niemals! Auch würdest Du vergebens irgend jemanden danach fragen, niemand will etwas von dem Reiche der Obis wissen.«

»Bist Du nicht selbst ein guter Schamane?«

»Ich glaube an Nuhm und alle seine Geister, an die guten wie an die bösen!« war die feierliche Antwort.

»Und trotzdem wagst Du das Gebiet der Obis zu betreten?«

»Der Herr der Obis ist mir freundlich gesinnt. Weshalb, was ich ihm einmal für einen Dienst geleistet habe, darf ich nicht verraten.«

»Der Herr der Obis ist doch entweder Nuhm, Euer höchster Gott, oder der Meister aller Teufel.«

»Es ist ein Mensch.«

»Und dennoch gehorchen ihm die bösen Geister?«

»Es ist ein Nuhmajili, der sich nur einmal als Mensch verkörpert hat.«

Wie er mir weiter erklärte, oder wie ich so aus ihm herausbrachte bedeutet Nuhmajili soviel wie Gottessohn, also etwa unserem Christus entsprechend.

»Dieser Nuhmajili wird Euch an der Grenze in Empfang nehmen und Euch weiter in das Reich der Obis einführen.«

»Das hat Dir Price O'Fire schon gesagt?«

»Gewiß, das ist alles schon ausgemacht.«

Auch von diesem Nuhmajili hatte mir jener kuriose Kauz, Price O'Fire, kein Sterbenswörtchen gesagt!

Und eben so wenig konnte ich daraus klug werden, wie dieser Samojede eigentlich mit ihm stand. Der »Fürst des Feuers« mußte hier doch eine ganz bekannte Persönlichheit sein. Hinwiederum . . .

Ach, ich wollte mir über diese Geschichte nicht den Kopf zerbrechen! Ich nahm einfach alles, wie es kam, nur mein möglichstes tuend, um alles Böse auch ins Gute zu verdrehen.

Mir hat mancher gescheite Kopf gesagt, daß dies die glücklichste Natur ist, die der Mensch haben kann.

Andere Fragen waren natürlich gerechtfertigt, ich bin doch nicht etwa ein Stockfisch.

»Du meinst, kein Samojede oder Tunguse würde uns bis dorthin bringen? Auch nicht bis an die Grenze?«

»Nein, Du würdest keinen Führer und keinen Schlittenlenker finden. Deshalb mußtet Ihr das selbst lernen.«

»Wir brauchten ihnen doch nicht zu sagen, wohin wir fahren wollen.«

»Das mußt Du. Du mußt doch ein Ziel angeben.«

»Das ist nicht unbedingt nötig. Wir machen eben eine Forschungsexpedition nach Osten.«

»Ihr würdet an die Obigrenze kommen, die Führer erkennen sie sofort, sie wollen nicht weiter, liegen bleiben können sie nicht, sie wollen zurück, dazu brauchen sie die Schlitten mit dem Proviant, und überhaupt, es wäre die grenzenloseste Beleidigung, wenn Du dann, unterwegs, die Führer und Lenker entlassen wolltest . . . ich könnte mir das alles gar nicht ausmalen. Du mußt die hiesigen Verhältnisse nur kennen.«

»Nun gut, ich glaube Dir, daß es unmöglich ist, von hier aus eingeborene Führer und Lenker mitzunehmen, wenn wir in jenes Gebiet wollen. Sie erkennen die Grenze gleich, sagtest Du?«

»Sofort.«

»Woran?«

»Weil dort überall der Obibaum vorkommt.«

»Was ist das für ein Baum?«

»Den kennst Du doch recht gut. Bei Dir zu Haus und auch im westlichen Rußland ist er doch ein ganz gewöhnlicher Baum. Bei Euch ist er heilig, Ihr betet ihn an. Bei uns aber ist er ein Baum des Teufels.«

Ich hätte eigentlich gleich darauf kommen können, was der für einen Baum meinte, aber mir war einmal der Kopf viernagelt.

»Ein Baum, den wir Deutschen anbeten sollen?!«

»Gewiß, der Obibaum ist Euch heilig.«

»Nein, mein lieber Freund, wir beten keine Bäume an!«

»Ihr tut es doch, ich weiß es ganz bestimmt.«

Ich sann und sann — ich kam nicht auf den Trichter.

»Was ist denn das nur für ein rätselhafter Baum?!«

Er konnte ihn beschreiben. Es war ein Laubbaum, der sehr große Dimensionen erreichte, ein knorriger Stamm mit knorrigen Ästen, sich auch seitwärts sehr verbreitend.

Ich konnte das Rätsel nicht lösen.

»Kannst Du mir nicht seine Blätter beschreiben?«

Er malte solch ein Blatt sogar an die Wand, freilich unsichtbar, mit sehr großer Scheu, aber es genügte, jetzt erkannte ich den Baum sofort.

Eine Eiche wars!

Der Samojede, der vier Jahre lang einem deutschen Gelehrten als Führer gedient hatte, mochte etwas von den alten Germanen gehört haben, denen die Eiche heilig war. Das brachte er jetzt an. Im nördlichen Sibirien gedeihen alle Nadelbäume, so weit sie die lange Winterkälte vertragen können. Von Laubbäumen aber kommt nur die Birke vor. Auch Eichen fehlen gänzlich. Für diese ist die Winterkälte eben doch schon zu groß, der Sommer zu kurz.

Nun kann es aber doch einmal vorkommen, daß an einem geschützten, besonders warmen Orte einige Eichen gedeihen, der Samen ist irgendwie dorthin verschleppt worden. Dann entsteht um solch einen fremden Baum eine Sage. Weshalb, das läßt sich nicht so leicht erklären, aber wir haben ganz genau dasselbe bei uns in Deutschland.

Die heute überall verbreitete Eberesche, der Vogelbeerbaum, ist ein fremder Eindringling, ist aus dem Süden gekommen. In dem naßkalten Klima des alten Germaniens, mit Sümpfen und Urwäldern bedeckt, konnte er überhaupt nicht gedeihen. Noch im Mittelalter galt er als ein Baum des Teufels. Weshalb, das ist freilich nicht mehr zu sagen. Er mag diesen Aberglauben gleich mitgebracht haben.

Aber ist es denn nicht heute noch so? Uns Kindern wurden diese roten Beeren als giftig bezeichnet. Und in den meisten Gegenden Deutschlands gelten die Vogelbeeren noch heute als giftig. Obgleich gar keine Spur von Gift vorhanden ist. Im Gegenteil, aus den roten Beeren kann man mit Zucker ein ganz ausgezeichnetes Muß und Gelee machen!

Merkwürdiger Weise ist es in England ganz genau so mit der Heidelbeere, die dort massenhaft wächst. Aber in England ißt niemand Heidelbeeren. Das ist ein Teufelskraut, diese schwarze Beere ist giftig! Die Engländer entsetzen sich, wenn man im Walde Heidelbeeren pflückt und ißt. Und das lassen die sich nicht ausreden.

So ist es in Sibirien auch mit der Eiche. Wo sie vorkommt, wird sie als ein Baum der Hölle betrachtet, den der Teufel gepflanzt hat. Deshalb sind ihre Früchte auch so bitter, daß man sie nicht essen kann. Daß die Wildschweine die Eicheln so gierig fressen, ist nur wieder ein Beweis, daß es ein Obibaum ist. Denn die Schweine gehören dem Teufel.

»Dort kommen also viel solche Obibäume vor?« fragte ich weiter.

»Alles, alles ist dort Obibaum, von der Grenze an bis zum Ende der Welt, so weit der große Nuhm den bösen Obis den Aufenthalt gestattet.«

»Ist es denn dort besonders warm?«

»Ja natürlich, wo die Höllengeister wohnten, muß es wohl warm sein.«

»Ist der Winter nicht so streng wie hier?«

»Lange, lange nicht so kalt.«

»Aber auch jetzt liegt dort noch Schnee?«

»Ja natürlich, wir haben doch noch Winter, da muß doch auch noch Schnee liegen!«

Es war mit diesem Samojeden, so klug er sonst auch sein mochte, doch schwer, sich über so etwas zu unterhalten. Wahrscheinlich war es eine durch Gebirgszüge besonders geschützte Gegend, in der sich ganze Eichenwälder entwickelt hatten.

»Sechs Tage brauchen wir zu der Fahrt?«

»Sechs Tage, wir müssen aber etwas schneller fahren als bisher.«

»Immer auf dem Tunguska entlang?«

»Nein, diesen Weg kenne ich nicht.«

»Liegt der Ort, wohin Du uns bringen sollst, nicht nahe am Tunguska, weil doch unser Schiff später nachfolgen soll?«

»Ja, aber auf dem Tunguska könnte ich mich verirren.«

»Man braucht doch nur immer stromauf zu fahren, das heißt immer auf dem Eise des Stromes, da kann man sich doch nicht verirren.«

»Aber die vielen Nebenflüsse, und das ist doch überhaupt ganz anders, als Du denkst.«

Der Samojede hatte recht, ich sah meine Dummheit auch gleich ein.

Die Quelle des Nils aufzufinden ist von jeher die Sehnsucht aller Afrikaforscher gewesen. Kann denn das so schwierig sein? Man fährt einfach den Nil hinauf, oder geht am Ufer entlang. Der Nil hat ja nicht einmal Nebenflüsse, da muß man doch also schließlich an seine Quelle kommen. Jawohl! Auf dem Papiere geht das ganz gut, aber nicht in Wirklichkeit.

»Wie führst Du uns sonst?«

»Erst über die Tundra, dann durch den Wald.«

»Du führst uns nach einem ganz bestimmten Ziele?«

»Ja.«

»Was ist das für eines?«

»Dort, wo uns der Nuhmajili schon erwartet.«

Näher konnte oder wollte er es mir nicht beschreiben.

»Und Du weißt dieses Ziel in sechstägiger Fahrt, wobei wir also mehr als 60 Meilen zurücklegen werden, zu finden, immer durch den pfadlosen Wald?«

»Zweifelst Du etwa daran?«

Nein, ich zweifelte nicht daran, daß dieser Naturmensch das konnte.

»Na‚ dann mal los!«

Die anderen Schlittenlenker wurden reichlich belohnt und beschenkt entlassen, ihr Gewicht durch neuen Proviant ersetzt, hauptsächlich mit getrockneten Fischen für die Hunde, und wir brachen auf, die Zügel nur noch in eigenen Händen.

Zuerst über die gefrorene Tundra hinweg, und dann ging es in den Wald hinein.

0, dieser Urwald!

Solch ein nordischer Urwald ist doch etwas ganz anderes als ein tropischer! Wobei man natürlich gar nicht an die winterliche Szenerie denken darf. Es kommt doch auch hier der Sommer, sogar ein sehr, sehr heißer Sommer, der alles blühen und üppig wuchern läßt.

Den brasilianischen Urwald habe ich ausführlich geschildert. In den ist ja überhaupt gar nicht hinein zu kommen. Entweder schwarzer Morastboden, zwischen den wie Säulen aufsteigenden Stämmen herrscht ewige Nacht, die grüne Vegetation entwickelt sich erst oben in unersteiglicher Höhe, und der Mensch ist doch kein Affe; oder ein undurchdringliches Dickicht, außerdem alles noch starrend von winzigen oder meterlangen Dornen, zum Teil sogar giftig; oder aber im günstigsten Falle wird jeder Spaziergang zu einer halsbrecherischen Kletterpartie, so mächtig ragen überall die Wurzeln empor.

Den schönsten tropischen Urwald gibt es wohl auf Java. Das heißt, den kann man am leichtesten passieren. Der ist schon mehr parkähnlich. Weil das Unterholz fehlt, der Boden nicht überall sumpfig ist und die Wurzeln nicht so in die Höhe streben. Aber auch hier gibt es Dornen genug, und gerade hier sind sie giftig, jede Verwundung erzeugt heftiges Fieber. Brennesseln im Großen, in Dornenausgabe. Und dann diese vermaledeiten Blutegel, die einem den Aufenthalt in den indischen Wäldern zur Hölle machen. Von Schlangen und anderen Überraschungen gar nicht zu sprechen.

Aber nun hier dieser nordische Urwald! Jetzt in seiner winterlichen Pracht! Alles überzuckert. Und im Sommer wird er noch schöner. Dann aber, wenn der Winter kommt, denkt man, daß er da wieder herrlicher ist.

Ach Ihr armen Tropenbewohner, die Ihr keinen knospenden Frühling und keinen buntfärbenden Herbst kennt, von einem weißglitzernden Winter gar nicht zu sprechen.

Tannen und Kiefern und Lärchen herrschten vor, riesige Bäume, und dann Birken von einer Mächtigkeit wie ich sie in diesen hohen Breiten gar nicht erwartet hätte. Gar kein Unterholz. Weit, weit konnte das Auge zwischen den Stämmen hindurch blicken.

Ein denkender Leser dürfte die Frage aufwerfen, wo denn im Urwald eigentlich die vor Altersschwäche oder durch eine Katastrophe stürzenden Bäume bleiben. Das müßte doch im Laufe der Jahrhunderte ein undurchdringliches Tohuwabohu von übereinander liegenden Stämmen geben.

Mir ist diese Frage schon als Kind aufgetaucht. Wenn in Jugendschriften von den Urwäldern erzählt wird, durch welche die Indianer oder sonstige Eingeborene marschieren.

Wo bleiben denn nur die alten Bäume, die schließlich doch einmal stürzen müssen!

Nun, ich wurde von sachlicher Seite belehrt, habe es dann selbst beobachten können.

In den tropischen Gegenden sind es hauptsächlich die Termiten, welche die gestürzten Baumstämme, sobald sie saftlos werden, austrocknen, in fabelhaft kurzer Zeit in Holzmehl verwandeln, woraus dann wieder Humus wird.

In gemäßigten Breiten besorgen dasselbe Geschäft gewisse Ameisenarten — ich unterscheide überhaupt die Termiten gar nicht von den Ameisen — wozu natürlich auch noch zahllose andere Insekten kommen, die wir wahrscheinlich noch nicht einmal dem Namen nach kennen. Sie mögen ja auch mikroskopisch klein sein.

Hier in diesen nordischen Breiten ist es hauptsächlich die Larve, die Made einer Kriebelmücke, die dieses nützliche Zerstörungswerk verrichtet. Welche Mücke selbst zwar im Sommer auch entsetzlich werden kann. Zwar sticht sie nicht, aber sie erfüllt die Luft mit Myriaden, daß man nicht mehr atmen kann. Doch wir würden uns schon zu schützen wissen.

Dann freilich gibt es auch Flecke, auch hier im sibirischen Urwald, wo die gestürzten Baumstämme massenhaft übereinander liegen, undurchdringliche Barrieren bildend, richtige bizarre Gebirge. Dann ist dort regelmäßig Sumpfboden. Das Holz kann nicht austrocknen, die vernichtenden Insekten, die hierbei in Frage kommen, gehen nicht dran. Dann vermodert es eben im Laufe der Zeit, eben durch die immerwährende Feuchtigkeit oder die Stämme versinken nach und nach im Sumpf. Auf diese Weise sind die Kohlenlager entstanden.

Ebenso weiß es die Natur mit dem Nachwuchs einzurichten. Der müßte sich doch zuletzt gegenseitig ersticken. Solch ein parkähnlicher Urwald mit freiem Durchblick wäre doch gar nicht möglich. Ein junges Bäumchen müßte doch dicht neben dem anderen stehen!

Da hat die weise Natur — ich gehöre zu diesen Naturanbetern — wieder andere Tiere als Waldhüter eingesetzt. Gleich die aufsprossenden Keime der neuen Bäumchen werden von den Renntieren und anderen Hirscharten mit Vorliebe gefressen. Ja, es gibt Tiere, welche richtige Gärtnerarbeit besorgen. Bei uns in Mitteleuropa, in Deutschland spielt diese Rolle das Eichhörnchen. Das beißt die Keime nur zum Zeitvertreib ab. Der geistreiche Naturforscher Radde hat zuerst auf diesen notwendigen Zweck des sonst als total unnützen, sogar höchst schädlichen Eichhörnchen hingewiesen. Nein, so etwas wie Zwecklosigkeit kennt die Schöpfungskraft überhaupt nicht. Übrigens gilt dasselbe auch für Amerika und Asien, gerade in Sibirien betreiben tausende von Jägern nur den Eichhörnchenfang.

Ab und zu weiß doch ein junger Baumsprößling dem allgemeinen Schicksale zu entgehen, und nun bleibt er für hundert oder einige hundert Jahre gesichert stehen. So erhält sich der Urwald immer in seiner ursprünglichen Gestalt.

Und nun diese Luft und dieser Duft! Mich und uns alle hatten allerdings auch die Düfte des brasilianischen Urwalds entzückt und berauscht. Anfangs! Bald hatten wir nur noch Pomade gerochen. Besonders der Vanillegeruch wurde zum widerlichen Gestank. Diese intensiven Düfte entzückten nicht mehr, noch weniger erquickten sie, sie berauschten nur noch und erzeugten einen Katzenjammer.

Aber nun hier, diese klare, kalte Luft, dieser Ozongehalt! Und im Sommer sollten wir erst die köstlichen Düfte kennen lernen, die solch ein nordischer Urwald aushauchen kann!

Sechs Tage lang ging es immer in fast schnurgerader Richtung dem Osten zu. Wir erlebten manches Abenteuer, aber keines ist so interessant, daß ich es schildern möchte. Besonders die massenhaften Spuren von Luchsen und Vielfraßen verrieten, was es hier für Wild geben mußte, wenn man nicht glauben wollte, daß einzelne Renntiere und andere Hirscharten nur immer hin und her gelaufen seien. Diese Raubtiere wollten sich doch ernähren. Wir selbst bekamen freilich nicht viel Wild zu sehen, dazu war unsere Fahrt mit fünfzehn Schlitten doch zu laut, und wir wollten auch schnellstens unser geheimnisvolles Ziel erreichen, uns daher nicht mit Jagd aufhalten. Auf einen Auerochsen oder Wisent, der sich zeigte, hätten wir gern Jagd gemacht, trotz aller Warnung unseres eingeborenen Führers, der dieses Ungehener wohl mit Recht für eine Ausgeburt der Hölle hielt, aber das bepelzte Ungetüm war schon, ehe wir in Schußnähe kamen, in einem undurchdringlichen Gewirr von gestürzten Baumstämmen verschwunden.

Ein brauner Bär, der schon aus dem Winterschlafe erwacht war — übrigens halten gar nicht alle Bären Winterschlaf — lieferte uns drei Zentner Fleisch, so fett durchwachsen, daß auch dieser Bursche sicher den ganzen Winter hindurch gefressen haben mußte. Wir ließen es gefrieren, hatten so auch wieder frischen Proviant für die Hunde. Hätten wir aber jagen wollen, so hätten wir überhaupt für die Hunde gar keine getrockneten Fische mitzunehmen brauchen.

Und womit wir die Renntiere fütterten? Nun, deren Futter wuchs hier überall. Eine besondere Art von Moos, welches das Renntier fast ausschließlich frißt, ohne daß es gar nicht existieren kann, wie die Erfahrung gelehrt hat, eben Renntiermoos genannt. Unter der Schneedecke konnten sie es sich freilich nicht hervorscharren, dazu war diese zu hoch und zu fest. Aber unter den Bäumen, besonders unter den Lärchen lag der Schnee doch viel weniger hoch, da holten es sich die Tiere mit leichter Mühe hervor.

Kein Dorf, keine Ansiedlung, keine Hütte, kein einziger Mensch! Am ersten Tage hatten wir ein Zeltlager von Samojeden gesehen, die eine unübersehbare Renntierherde bewachten, am zweiten Tage begegneten wir noch einigen Jägern, dann niemandem wieder . . .

Auch im neuesten Konversationslexikon steht, daß dieses Urwaldgebiet, fünfzehn mal so groß wie ganz Deutschland, noch gänzlich unerforscht ist. Nur einige Flußläufe hat man verfolgt und in die Karte eingetragen, mehrere Gebirgszüge angedeutet, weil man sie eben nur vermutet, noch nicht weiter bestimmt hat.

Wie ist denn das nur möglich? Unsere Forscher sind doch sonst so hinter jeder Gegend her, die für die Geographie noch nicht aufgeschlossen ist? Weshalb sucht sich niemand in diesem Teile Sibiriens seine Rittersporen zu verdienen, den Ruhm als Entdeckungsreisender zu ernten?

Nun, solche Forschungsreisende haben diesen Wald ja schon genug durchzogen, ganze Expeditionen, jahrelang haben sie darin vermessen.

Aber man bedenke nur die ganzen Verhältnisse. In solch einem Walde, mag auch alles Unterholz fehlen, kann man doch nicht weiter als einen Kilometer nach links und einen nach rechts zwischen den Baumstämmen hindurchblicken, dann hört es auf. Also kann jede Expedition doch immer nur einen Streifen von zwei Kilometern Breite durchstöbern.

Der ganze Urwald ist aber ungefähr 500 geographische Meilen lang und 300 breit. Der Breite nach könnte man ihn, wenn man täglich zehn Meilen macht, in 30 Tagen durchqueren; was freilich auch besser auf dem Papiere als in Wirklichkeit geht. Das müßte aber mehr als tausendmal gemacht werden, dann wäre man durch den ganzen Urwald gekommen, das heißt hätte alle Streifen von zwei Kilometer Breite gesehen.

Nein, so einfach ist das nicht. So lange sich die aus Übervölkerung verhungernde Menschheit nicht auch auf diesen Urwald stürzt, wird er uns immer ein terra incognita, ein unbekanntes Land bleiben.

»Wir befinden uns in einem Gebirge!« sagte Bärtchen am dritten Tage zu uns.

Wir wollten es nicht glauben, daß sich links und rechts riesige Gebirgswände erhöben, zwischen denen wir uns bewegten, also in einem Tale fuhren. Nichts war davon zu bemerken, die Schneebahn war genau so eben wie bisher.

Aber wir bogen einmal ab von der Richtung und erreichten diese Gebirgswände die zum Teil auch ersteigbar waren.

Ja, wie soll man solche Gebirge auch erblicken, wenn man sich ihnen durch Zufall nicht dicht nähert, sozusagen mit der Nase daraus stößt? Diese mächtigen Bäume hindern doch auch den freien Durchblick seitlich nach oben, sie können im Winter auch entlaubt sein, was aber bei den Nadelbäumen ja nicht einmal der Fall ist. Und eine Eigentümlichkeit dieser nordsibirischen Gebirge ist es, daß sie ganz jäh aus der Ebene emporspringen, und hebt sich oder senkt sich in den Tälern und Pässen der Boden, so verteilt sich das doch auf riesige Strecken, man merkt kaum etwas von einer Steigung.

Also man kann in einer Entfernung von zwei Kilometern an einem riesigen Gebirge vorbeifahren, man hat gar keine Ahnung davon!

Nun aber läßt sich denken, was man da auch sonst noch alles entdecken kann. Was solch ein ungeheures Waldgebiet für Geheimnisse und Naturwunder bergen kann, von denen die Menschheit nichts weiß, nichts ahnt! Wir sollten es erleben. Wir verbrachten die sechste Nacht in unseren Schlafsäcken.

»Morgen erreichen wir unser Ziel, oder doch das meine!« sagte Meister Bärtchen, ehe er sich anschickte, in den seinen zu kriechen, und dieser Samojede schnürte ihn auch bei dieser ertragbaren Kälte immer über seinem Kopfe zu. »Dann übernimmt Nuhmajili die weitere Führung. Da sind wir aber schon zwischen den Obibäumen.«

»Hat der auch einen Schlitten?« fragte sie kleine Ilse, wie eben so Kinder fragen.

»Nein, wenn Merlin nicht zu Fuß kommt, dann reitet er auf einem Ochsen.«

»Was, auf einem Ochsen reitet er?!« erklang es erstaunt von verschiedenen Seiten. »Auf einem Auerochsen?1l«

»Ach was, — auf einem Tjunkarna, meine ich natürlich!« war Bärtchens verdrießliche Antwort.

Da war der Irrtum aufgeklärt. Hätte er dieses samojedische Wort gleich gebraucht, so hätten wir ihn sofort verstanden, hätten uns nicht erst einen zweiten Juba Riata auf einem sibirischen Büffel vorgestellt. Aber der deutsch sprechende Samojede hatte den einheimischen Ausdruck wörtlich übersetzt.

Denn Tjunkarna heißt so viel wie »Rennochse«, man versteht darunter ein Renntier, das man zum Reiten benutzt, wozu es allerdings auch erst abgerichtet werden muß. Man verwendet dazu natürlich nur die stärksten Tiere männlichen Geschlechts. Die norwegischen Renntiere — oder ich werde fernerhin lieber Rens sagen, dieses Wort hat mit unserem »Rennen« gar nichts zu tun, der Norweger schreibt es sogar Reen — hat im Durchschnitt eine Rückenhöhe von 1,08 Metern. Das ist kein geeignetes Reittier für einen Mann. Der Lappländer denkt auch gar nicht daran, sich auf seinen Rücken zu setzen. Das sibirische Ren hingegen ist viel größer und auch viel stärker gebaut, Tiere von 1,20 Meter Höhe sind gar keine Seltenheit, das ist schon die Größe eines Ponys, darauf läßt es sich recht wohl reiten. Schwere Männer können natürlich nicht drauf sitzen, oder das Reittier würde das Gewicht nicht lange tragen können.

Wir hatten hin und wieder einen Renreiter gesehen. Bärtchen hatte uns Erklärungen gegeben, daher kannten wir schon das Wort Tjunkarna.

Mir aber war noch ein anderes Wort aufgefallen.

»Merlin heißt der Mann?!« fragte ich überrascht

»Ach Papperlapapple, ihsch weisch nit wie er heischt und worauf er reite tut!« war diesmal die noch mehr als verdrießliche, sogar unhöfliche Antwort, und Meister Bärtchen verschwand in seinem Schlafsacke, schnürte ihn innen über seinem Kopfe doppelt und dreifach zu. Wie der Kerl da drin atmen konnte, weiß ich nicht. Doch das bringen auch alle Eskimos und Lappländer fertig, sie lassen sich in solch einem luftdicht abgeschlossenen Pelzsacke gleich tagelang einschneien.

Aber hieran dachte ich jetzt nicht. Mir gingen andere Gedanken durch den Kopf, als auch ich in meinem behaglichen Schlafsacke lag, aber nur bis zum Halse eingeschnürt, noch die qualmende Pfeife zwischen den Zähnen und so in die verglimmenden Lagerfeuer blickte.

Es war etwas Eigentümliches mit diesem unseren samojedischen Führer. Sonst die liebenswürdige Gefälligkeit selbst, er konnte mit seiner Hilfsbereitschaft geradezu aufdringlich werden, nahm einem das Messer, mit dem man etwas schneiden wollte, aus der Hand weg. Und dabei geschwätzig wie eine Elster, tat sich auf seine Kenntnisse, die er bei dem schwäbischen Forschungssreisenden erworden, ungemein viel zugute; wollte auch sonst immer alles erklären, wir brauchten gar nicht zu fragen.

Aber das ging nur bis zu einer gewissen Grenze. Sobald wir von Price O'Fire anfingen, was er von diesem wisse, was der mit uns hier vorhabe, oder was jener Nuhmajili für eine Person sei — dann verstummte der geschwätzige Samojede regelmäßig; oder er wußte überaus schlau unseren Fragen auszuweichen; oder er konnte in seinem Abweisen geradezu beleidigend werden. So wie er es jetzt geworden, weil er versehentlich gesagt, daß jener geheimnisvolle Nuhmajili auf einem »Rennochsen« reite, weil er sogar einmal seinen Namen genannt hatte.

Doch diese Geheimniskrämerei des Samojeden war es auch noch nicht, was jetzt meine Gedanken beschäftigte.

Jener Name wars.

Merlin! Merlin der Wilde!

Auch Merlin der Zauberer genannt.

Es ist der Held einer uralten englischen Sage, in zahllosen Liedern und Romanzen verherrlicht.

Der Teufel zeugt mit einer Jungfrau einen Sohn, den er Merlin nennt. (Die Bedeutung dieses Namens ist nicht mehr zu ergründen, obgleich die englischen Mythologen eine ganze Bibliothek darüber zusammengeschrieben haben.) Nach zahllosen Abenteuern, die er schon als Kind zu bestehen hat, kommt Merlin an den Hof des Königs Uther-Pendragon. Er wird der gefeiertste Dichter, ist ein unbesiegbarer Kämpe, und nachdem er Geist und Körper bis zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet hat, findet er auch noch in einer Ruine, in die man ihn einmal eingemauert hat, ein Zauberbuch. Jetzt kann er auch noch zaubern, es ist ihm einfach nichts unmöglich. Aber diese seine Zauberkünste benutzt er, der Sohn des Teufels, wie schon früher seine Geistes— und Körperkraft nur zu guten, edien Zwecken. Und das eben ist der tiefsinnige Kern dieser ganzen Sage, nämlich daß der Charakter der Menschen ein Erbteil der Mutter ist! Er ist der Held der edlen Entsagung, der unverbrüchlichen Treue gegen seinen Herrn. Er liebt die schöne Iguerne, aber auch der König liebt sie, und Merlin selbst führt sie ihm zu. Er muß dabei seine Zauberkünste gebrauchen, anders ist es nicht möglich. Dieser illegitimen Ehe entspringt Arthur (der bekannte Arthur von der Tafelrunde, also spielt das Ganze im 5. Jahrhundert), und auch seiner nimmt sich Merlin an, erzieht ihn zu einem gewaltigen Helden. Dann fällt Merlin zum zweiten Male in Liebe, zur noch schöneren Viviana. Sie wird seine Geliebte. Sie möchte gern wissen, worin das Geheimnis seiner unüberwindlichen Kraft besteht. Endlich gibt Merlin ihrem Schmeicheln nach. Wenn er sich auch noch nicht deutlich ausdrückt. Alle Kraft besteht darin, daß man, auf gut Deutsch gesagt, das Maul hält. Oder feiner ausgedrückt: in der Kraft des Schweigens in der Bewahrung eines Geheimnisses. Nun natürlich fängt Viviana erst recht zu schmeicheln an. Und er läßt sich betören. Er kann in der Zukunft lesen. Da er nun aber einmal A gesagt hat, muß er auch B sagen. Er gibt der Geliebten einen Beweis von seiner Prophetengabe. Alsbald fühlt er, wie ihn seine Kraft verläßt. Aber noch immer gibt es ein Mittel, um sich dieselbe zu erhalten: er flieht in die Waldeinsamkeit, hüllt sich in ewiges Schweigen. Und dort in Robin Hoods Walde haust Merlin der Zauberer noch heute, man sieht ihn manchmal auf einem mächtigen Hirsche reiten, immer in wilder Flucht vor den Menschen, und so hat man auch Merlin den Wilden aus ihm gemacht, eine Art wilden Jäger der deutschen Sage.

Das erste Buch, das man mir als Lektüre in die Hand gegeben, hatte diese altenglische Sage behandelt, und es hatte auf mich siebenjährigen Bengel einen mächtigen Eindruck gemacht.

Nicht etwa, daß ich den tiefen symbolischen Sinn verstanden hätte. Auch aus Merlins Zauberei machte ich mir gar nicht so viel. Sondern Merlin der Wilde war es, der mir so imponierte, wie er dann in die Wälder geflohen war und auf einem Hirsche herumritt, das war es gewesen.

Das füllte damals meine ganze kindliche Phantasie aus. Ich wurde selbst Merlin der Wilde. Auf mein Steckenpferd setzte ich ein Hirschgeweih aus Ästen, so tummelte ich mich in dem nahen Wäldchen herum, mied meine bisherigen Spielkameraden, hüllte mich in unergründliches Schweigen, sprach auch zu Hause nicht mehr, als unbedingt nötig, blieb sogar in der Schule dem Lehrer die Antworten schuldig, obgleich ich sie wußte, nahm die Wichse für meine vermeintliche Unkenntnis mit höchster Genugtuung hin, mit dem beglückenden Stolze des Märtyrers, der freiwillig Qualen erduldet, unverständlich für alle anderen.

»Kindertraum, Kinderspiel -
Wollet sie mir nicht schelten . . . «

Diese Periode, in der ich als Knirps mit kurzen Höschen Merlin den Wilden spielte, hat wohl einen starken Einfluß auf meinen späteren Charakter gehabt. Ich brauche noch heute keine Gesellschaft, könnte mich für immer in der Einsamkeit vergraben, würde nie Langeweile verspüren. Und außerdem, wenn ich mich recht entsinne, war es wohl die glücklichste Periode in meiner sonst überhaupt fröhlichen Kinderzeit, da ich stundenlang träumend in dem Walde lag, neben mir mein Steckenhirsch angebunden, oder das Binden war auch nicht nötig, das hölzerne treue Vieh folgte mir natürlich auf jeden Pfiff, immer nur darauf bedacht, mich des Anblicks jedes Menschen zu entziehen, und wie ich damals in der Schule die meisten Wichse wegen meines Gelübdes der freiwilligen Dummheit bekam.

Ja, ich glaube sogar, ich habe damals doch schon etwas den tiefen Sinn dieser englischen Sage verstanden. Ich glaube, ich habe damals sogar die Symbolik einer biblischen Legende verstanden, die heute den meisten Menschen und auch Religionslehrern in ihrem Kern ganz unverständlich ist.

Wir hatten damals nämlich gerade die Geschichte vom Simson vor. Sollte dessen ganze Riesenkraft etwa nur in seinen langen Haaren stecken? Weil ihm die Delila dieses Haar abschnitt, sollte er plötzlich ein Waschlappen geworden sein? So sagte der Lehrer. Und er wußte es sicher auch gar nicht anders, machte sich eben weiter keine Gedanken darüber. Mir aber kam das schon damals geradezu albern vor. Nein, weil er sein Maul nicht hatte halten können, weil er ein ihm anvertrautes Geheimnis »ausgebabelt« hatte, deshalb verließ ihn plötzlich seine Kraft!

Das war es, woran ich jetzt dachte.

Und mit solchen Gedanken schlief ich ein.

Was Wunder, daß ich davon auch träumte, daß ich Merlin den Wilden auch mit dem Manne verquickte, den wir morgen kennen lernen sollten?

Nuhmajili — das ist also so viel wie Gottessohn.

Mir träumte, ich sehe den Heiland, unseren Jesus Christus mit seinem typischen Leidensgesicht — aber es war ein Samojede, in Pelze gehüllt — und er ritt auf einem Renntier, das aber dann plötzlich ein Hirsch wurde denn es war Merlin der Wilde . . .

Was ich etwa mit der Traumgestalt gesprochen habe, und ich sonst mit ihr erlebt habe, weiß ich nicht.

Ich wachte auf.

Die Morgendämmerung war schon angebrochen.

Und da sehe ich . . .

Da sehe ich etwas, was noch viel märchenhafter ist, als mir der Traum vorgegaukelt hat.

Unsere neunzehn Schlafsäcke liegen im Kreise um die verlöschten Feuerstellen, und in der Mitte dieses Kreises steht ein Hirsch, —— kein Ren, sondern ein Edelhirsch aber einer von einer ganz riesenhaften Größe, am Widerrist mindestens anderthalb Meter hoch — erst denke ich an einen Elch, aber der ist viel plumper gebaut, während dieser die schönsten, harmonischen Formen hat, ich muß ihn für einen Wapiti halten, für einen kanadischen Edelhirsch — und dieser Hirsch ist schneeweiß, hat aber ein blutrotes Geweih, ein mächtiges, stolzes Geweih, es funkelt wie Rubinglas und ist außerdem noch mit goldenen Punkten gesprenkelt — und dieses herrliche Tier ist mit roten Riemen gezäunt — auf dem Rücken hat es eine Art Sattel von Pantherfell — und in diesem Sattel sitzt ein Mann, in gelbes Leder gekleidet, aber ein wahrhaft elegantes Kostüm, als zierlich mit roten Fäden genäht, die auf dem gelben Grunde als Muster hervortreten — außerdem ist dieses Gewand noch mit weißen Arabesken verziert — in der rechten Hand hält er den roten Zügel, in der linken einen langen Bogen — auf dem Rücken trägt er einen Köcher mit Pfeilen — es ist ein alter Mann, ein sehr alter Mann, denn sein langes, lockiges Haar ist schneeweiß, und sein bartloses Gesicht von zahllosen Fältchen durchzogen . . .

Und wie ich noch so starre und mir die Augen reibe, ob ich nicht nur noch träume, da bricht zwischen den Bäumen der erste goldene Morgensonnenstrahl hervor, trifft gerade dieses Gesicht — und da plötzlich sehe ich keinen alten Mann mehr, sondern das faltige Gesicht hat sich plötzlich in das jugendfrische, schöne Antlitz eines Jünglinge verwandelt, die Locken sind nicht mehr weiß wie Schnee, sondern ich denke, jetzt sind sie von blitzendem Silber . . .

Und da kommt mir gleichzeitig noch etwas anderes ganz Märchenhaftes oder doch Rätselhaftes zum Bewußtsein. Neun der fünfzehn Schlitten wurden von 54 Hunden gezogen. Des Abends wurden sie freigelassen. So lange sie wissen, daß noch etwas Proviant vorhanden ist, gehen sie auch nicht eigenmächtig auf die Jagd. Wir konnten jede Nacht sorglos in unsere Schlafsäcke kriechen, diese Hunde waren die besten Wächter. Ganz unangenehme Wächter. Bei jedem Uhu, der des Nachts über unseren Lagerplatz flog, machten diese Höllenhunde einen Mordsspektakel. Doch daran gewöhnt man sich schnell. Wir waren so müde, daß wir nichts mehr davon hörten. War aber eine wirkliche Gefahr vorhanden, hätten wir zur Stelle sein müssen, dann hätten sie uns geweckt, dafür hätten sie schon gesorgt. Dann trampeln sie einem so lange auf dem Schlafsack oder auch gleich im Gesicht herum, bis man erwacht. Einen fremden Menschen, der ins Lager kommt, fallen sie zwar nicht an, nageln ihn aber fest, umringen ihn, heulen ihn wütend an, zeigen ihm die Zähne, und wenn sich der Fremde rührt, dann hat er diese Zähne auch wirklich im Leibe.

Auch diesen Hirschreiter hatten unsere 54 Hunde umringt. Aber in ganz, ganz anderer Weise. Die Wolfshunde schienen es zu sein, die von dem Anblick festgenagelt worden waren. So lagen sie da, ganz still und friedlich, blickten die fremde Erscheinung vertrauensvoll oder geradezu zärtlich an. Für mich, der ich den Charakter dieser Wolfshunde nun schon zur Genüge kannte, lag dabei wirklich ein märchenhaftes Wunder vor.

Und der Reiter, der jugendfrische Greis, möchte ich sagen, blickte nicht auf die Schlafsäcke nieder, nicht auf die Hunde, sondern hatte seine großen, blauen, strahlenden Augen träumend geradeaus gerichtet, der aufgehenden Sonne entgegen.

»Hallo, wer ist denn das?!«

Oskar, der Segelmacher, war es gewesen, der das gerufen hatte, sich ebenfalls wie ich die Augen reibend, als wolle er einen seltsamen Traum verscheuchen.

Und da plötzlich verwandelte sich der eine Schlafsack, derjenige des Samojeden, in eine Kanone, die abgefeuert wurde.

Denn nicht anders war es, nur daß es dabei nicht knallte und keinen Pulverrauch gab, wie Meister Bärtchen plötzlich mit Vehemenz aus seinem Pelzsacke hervorschoß und vor dem Hirschreiter platt auf den Bauch fiel, sein Gesicht in den Schnee steckend.

»Nuhmajili, der Herr der Obis!«

Noch immer saß der Reiter regungslos auf dem herrlichen Hirsch, und auch dieser stand so merkwürdig regungslos da, wie aus Stein gemeißelt, nur daß aus den Nüstern weiße Dampfstrahle quollen, noch immer blickte er träumend in die aufgehende Sonne.

Dann aber öffnete er den Mund, jedoch ohne uns einen Blick zu schenken.

»Frühstückt, dann folgt meiner Spur. Ich will nicht angeredet sein.«

Sprachs — sagte es auf Deutsch, dabei mit einer Stimme, die wie volles Glockengeläut klang — wendete seinen Hirsch, beugte sich, als er an der kleinen Ilse, die wie die meisten von uns schnellstens aus dem Schlafsack geschlüpft war, vorbeiritt, etwas in dem steigbügellosen Sattel herab, strich, im Vorbeireiten dem Kinde sanft über das blonde Haar, richtete sich wieder auf, hatte plötzlich ein Lasso in der Hand, ließ das eine Ende fallen und noch länger nachschleifen, wir sahen eine kleine Kugel, es begann in dem hartgefrorenen Schnee zu zischen und zu dampfen, der Hirsch setzte sich in Trab, und die Erscheinung war zwischen den Bäumen ostwärts verschwunden.

Wir blickten einander an.

»Onkel,« sagte da die kleine Ilse zu mir, »der ist elektrisch — wie der mir übers Haar strich, das knisterte gerade so, als wenn man eine Katze streichelt, die am Ofen gelegen hat.«

Wir begaben uns hin, wo die Kugel an dem Lasso gezischt hatte. Dort fing der tiefe Strich an, der sich weiter durch den hartgefrorenen Schnee zog. Auf diese Weise hatte er also die versprochene Spur hinterlassen, und das war auch gut, denn die Schneedecke war so hart gefroren, daß der mächtige Hirsch nicht die geringste Spur erzeugt hatte.

Wie er das gemacht, darüber zerbrachen wir uns nicht weiter den Kopf. Auch Price O'Fire hatte ja in der Westentasche immer so eine Kugel, die er nach Belieben erglühen lassen konnte, sogar ohne sich dabei die Finger zu verbrennen.

Nein, darüber wunderten wir uns am allerwenigsten.

»Bärtchen, ist denn dieser Nuhmajili ein Deutscher, da er so gut deutsch spricht?!«

»Ihsch weisch nischt, gar nischt!« wehrte der schleunigst ab.

»Es war ein Wapiti, ein kanadischer Edelhirsch,« sagte Juba Riata, sich zunächst für das Reittier interessierend, »und zwar ein Albino, eine weiße Spielart, aber das rote Geweih kann nur angemalt sein.«

»War das eigentlich ein alter Greis?« fragte ein anderer, und er hatte ganz recht, es gibt auch junge Greise, wie es auch alte Jünglinge gibt.

»Ach, das war doch noch ein ganz junger Mensch!« erklang es von anderer Seite.

Da aber mußte Meister Bärtchen doch einmal Einspruch erheben.

»Mensch?! Dasch ihscht kei Mensch, dasch ihscht ein Geischt.«

»Geischt?!« echote Oskar. »Nee, mein Junge, das war kein Geist. Frühstück! — das ist sein erstes Wort gewesen — und was wissen denn solche traurige Geister vom Frühstücken.«

Oskar hatte ganz recht, der Bann war gebrochen, wir befolgten den uns gegebenen Befehl. Eiligst wurde Kaffee gekocht, wir aßen schneller denn je. Denn der Spur dieses geheimnisvollen Mannes zu folgen, das war jetzt doch die Hauptsache.

Bei diesem Frühstück nun ereignete sich eine Szene, die ich doch einmal schildern möchte.

Unser Meister Tabak war ja überhaupt immer gefräßig, jetzt aber, da es darauf ankam und ich zur Eile antrieb, leistete er im Schlingen extra etwas ganz Außerordentliches.

Er hatte sich von dem noch vorhandenen Bärenspeck einen Streifen abgeschnitten, ungefähr so dick und breit wie eine Streichholzschachtel und reichlich einen Meter lang. Diesen Streifen hielt er übers Feuer, bis der ganze Speck brannte, erstickte die Flammen schnell — so, nun war der Braten fertig, nun konnte die Mahlzeit beginnen.

Sonst aber benutzte er wenigstens ein Messer, um sich Viertelpfundstücke abzuschneiden, die er dann ohne weiteres Kauen mit einem Druck der Halsmuskeln hinterschluckte. Heute, weil wirs eilig hatten, benutzte er die Gelegenheit, wieder einmal nach echter, rechter Eskimoweise zu »speisen«.

Also er steckte das Ende des Streifens in den Mund und begann zu schlucken. Ob er dabei auch kaute, war nicht zu unterscheiden. Er schluckte eben und ließ den angekohlten Speckstreifen so nach und nach verschwinden.

Wie ihm nur noch die Hälfte zum Munde heraushängt, kommt plötzlich ein Hund angeschossen. Vor diesen verhungerten Wolfskötern mußte man sich beim Essen überhaupt höllisch in acht nehmen. Sie holten einem die Bissen vom Teller, aus den Fingern weg. Man brauchte nur einmal den Kopf zu wenden.

Ein Schnapp, und der Hund hatte das andere Ende des Streifens im Maule, wollte damit das Weite suchen.

Aber weit kam er nicht, denn Mister Tabak hatte schleunigst die Zähne zusammengebissen, wurde freilich auch gleich durch den heftigen Ruck vornüber gerissen, so daß er auf den Knien zu liegen kam.

Und da auch der Hund den Bissen nicht fahren lassen wollte, mußte er sich umkehren.

Und so standen sich nun die beiden auf allen Vieren gegenüber, auf der einen Seite der Hund auf der anderen der Eskimo.

Durchschneiden wollte er den Streifen nicht, er hatte überhaupt gar kein Messer bei sich, und mit den Händen nachzufassen, das ging auch schlecht, denn sobald er nur eine Hand hob, um zuzufassen, wurde er von dem kräftig ziehenden Hunde über die glatte Schneedecke fortgeschleift. Also er benutzte seine beiden Hände lieber dazu, um sich festzustemmen.

Und die beiden, der Hund und der Eskimo zogen nun an dem Speckstreifen, ruckten immer hin und her.

Dabei aber brachten es die beiden dennoch fertig, immer weiter zu fressen, immer mehr von dem Streifen in ihrem Schlunde verschwinden zu lassen. Also näherten sich ihre Nasen immer mehr.

Ich überlegte schon, ob die beiden wohl auch ihre Nasen und dann sich gegenseitig verschlingen würden, wie sie das wohl fertig brachten, da sollte die Katastrophe eintreten, die den Sieg entschied.

»Hat . . . « sagte der verzweifelt ziehende Eskimo.

Natürlich, nicht so einfach. Es war nur ein »ha« gewesen, das er brüllend hervorgestoßen.

Aber da war der Zweikampf schon entschieden.

Da erwies es sich wieder einmal, daß ich mit meiner Ansicht recht hatte: Mensch, wenn Du etwas in Dir hast, ein Geheimnis oder sonst etwas — halts Maul!

Wenn der Eskimo sein Maul gehalten, fest die Kinnbacken zusammengepreßt hätte, nicht zu quasseln angefangen hätte, er wäre in diesem Zweikampfe zuletzt doch noch Sieger geblieben. Er hätte zuletzt den Hund bei den Ohren bekommen, und ihm vielleicht auch noch das Stück Speck aus dem Schlund gezogen, um es selbst zu verzehren.

Aber Mister Tabak fing an zu quasseln, und da hatte er das Spiel verloren, da war der schweigsame Hund derjenige, welcher.

»Ha . . . !« sagte der Eskimo, nichts weiter.

Das aber genügte schon, in demselben Augenblick, da jener die Zähne auseinander machte, riß ihm der Hund mit einem Rucke den ganzen Speckstreifen aus Schlund und Magen, und lief wies Kreuzmillionendonnerwetter mit eingeklemmtem Schwanze auf und davon. Nun war nichts mehr zu machen.

Mister Tabak richtete sich empor, strich sich den leer gewordenen Magen und schaute mit trübseligem Gesicht um sich.

Und nun vollendete er, was er schon vorhin hatte sagen wollen.

»Hat man denn schon je solch eine Gefräßigkeit von einem Hundevieh gesehen?!«

Ach, haben wir gelacht!

Schon diese ganze Szene, und nun auch noch diese Bemerkung!

Ich dachte, mir müßte mein Kopf platzen.

Wie gesagt, während der ganzen Schlittenfahrt war ja kaum eine Stunde ohne Zwischenfall verlaufen, meist war es ein humoristischer gewesen, aber diese letzte Szene am Ende der Reise habe ich beschreiben müssen.

Doch das Ende der Fahrt war es ja noch gar nicht.

Hastig gefrühstückt, die Hunde eingefangen und vorgespannt, und fort ging es, der in den Schnee durch Feuersglut gezogenen Furche nach.

»Ein Obibaum!« flüsterte der Samojede scheu.

Wie schwach es mit meinen botanischen Kenntnissen bestellt ist, habe ich wohl schon einmal gesagt. Ich kann nicht eine Linde von einer Buche unterscheiden, und nun gar im Winter, wenn die Blätter fielen.

Daß dieser Baum, der seine schwarzen, kahlen Äste in die Luft streckte, keine Birke war, das freilich wußte ich sofort, aber als eine Eiche hätte ich ihn nicht erkannt.

Und diese hier fremden Bäume mehrten sich, und immer mächtiger wurden sie. Merkwürdig war, sogar mir auffallend, daß an diesen Bäumen auch nicht ein einziges verdorrtes Blatt vom vorigen Sommer mehr hing, was aber auch schon von den Birken galt, über welche Merkwürdigkeit ich noch später sprechen werde. Denn bei uns gibt es doch im Winter keinen so vollständig entblätterten Laubbaum, einzelne vertrocknete Blätter sieht man doch an jedem Baume noch hängen.

Die Gegend wurde felsig. Das heißt, man mußte aus Erfahrung wissen, daß unter den bizarren Schneehaufen, die ja auch der Wind so geformt haben konnte, Gestein steckte.

Dann tauchte vor uns zwischen den Bäumen eine weiße Wand auf, eine Gebirgswand, wie immer ganz jäh aus der Ebene sich erhebend.

An dieser Felsenwand, die nur an geschützten Stellen ein schwarzes Gestein zeigte, führte die Furche entlang. Manchmal sahen wir großartige Gebilde von Eiszapfen.

Wohl eine Stunde ging es an dieser Wand entlang. Dann wurde sie, durch eine Spalte unterbrochen, kaum breit genug, daß sich zwei Schlitten ausweichen konnte, und die gezogene Spur führte hinein.

Aber Bärtchen lenkte nicht gleich hinein. Er hielt seinen Hundeschlitten an, wartete, bis ich, der ich ihm mit einem Renntiergespann als zweiter folgte, neben ihm war.

»Führe Du jetzt weiter an!« sagte er.

»Weshalb?«

»Ich — ich — ich — ich . . . «

»Du fürchtest Dich wohl?«

»Hier bin ich noch nicht gewesen, hier fängt erst richtig das Reich der Obis an!« flüsterte Bärtchen.

»Weißt Du eigentlich, daß hier ein Gebirge ist?«

Nein, nicht einmal das wußte er. Weiter, als wo man die ersten Eichen erblickte, war er noch nicht gekommen, und dort, mehr als eine Meile von hier entfernt, war ja von der Felswand noch nichts zu sehen gewesen, immer wegen der Bäume, und dort hatte es auch noch nicht solche Felsformationen gegeben, durch die man wohl auf die Nähe eines Gebirges schließen darf, obgleich man sich da auch irren kann.

Ich lenkte als erster in die Schlucht ein. Nach zehn Minuten Fahrt mußte ich einen Bogen beschreiben, und wie ich den hinter mir hatte, schimmerte mir ein unübersehbarer Wasserspiegel entgegen.

Erst hinterher, als ich schon aus der Schlucht heraus war, in der dichten Nähe des Sees mich befand, kam mir zum Bewußtsein, daß hier doch ein Naturwunder vorlag.

Weshalb war denn dieser See nicht gefroren?! In der ganzen Nacht war es sehr kalt gewesen, mein Thermometer, gleich vorn an der Brust befestigt, zeigte noch immer minus fünf Grad Celsius an. Dabei muß man bedenken, daß wir schon Ende April hatten.

Nun, ein so großes Naturwunder brauchte schließlich nicht vorzuliegen. Entweder hatte dieses Gewässer warme Quellen, oder es war sehr salzhaltig. Das Meerwasser mit seinen drei Prozent Salzgehalt friert bekanntlich erst bei vier Grad Kälte.

Ich hielt mich jetzt mit keiner Untersuchung auf, folgte der Spur weiter, die nahe am Ufer entlang führte, dabei Umschau haltend.

Der Landstreifen zwischen der Felswand und dem See mochte anderthalb Kilometer Breite betragen, schien aber immer breiter zu werden. Auch hier gab es Fichten und Kiefern und Birken, vor allen Dingen aber herrschte jetzt die Eiche vor, und zwar Exemplare von kolossalen Dimensionen. Bäume mit Stämmen von drei Metern Durchmesser waren gar keine Seltenheit, es gab aber auch noch ganz andere.

Ob dies ein Tal war, welches von jener Felswand eingeschlossen wurde, konnte ich noch nicht unterscheiden.

Dann mußte es eben ein mächtiges Tal sein. So weit das Auge reichte, erblickte es den blauen Wasserspiegel.

Nach etwa halbstündiger schneller Fahrt trat die Felswand wieder näher an das Wasser heran, immer näher und näher, bis es nur noch einen Landstreifen von 20 Metern Breite gab, und da schwenkte die Spur links ab, führte direkt auf die Felswand zu, endete vor der Öffnung einer großen Höhle, mußte enden, weil in der selben kein Schnee mehr lag.


84. KAPITEL.
AM MERLINSEE.

Aus dem dunklen Hintergrunde der Höhle trat die gelbe Gestalt des Hirschreiters hervor, jetzt aber zu Fuß, hob die Hand und winkte mir.

Ich stieg aus dem Schlitten, näherte mich.

»Laß Deine Leute draußen warten, bis ich Dich eingeweiht habe, sie können unterdessen schon abladen. Du allein folge mir.«

So erklang die glockenartige, aber tiefe Stimme, er wandte sich, ich folgte ihm.

Eine wahre Backofenhitze empfing mich. Aber das war eine Täuschung. Es war nicht wärmer als 10 Grad. Wir waren an solch eine Wärme im Freien nur nicht mehr gewöhnt, nur in unserem Schlafsack.

Dasselbe galt auch von der Finsternis, die hier zu herrschen schien. Schnell gewöhnte sich das Auge daran, wir befanden uns ja überhaupt noch nahe dem weiten Eingange, ich hatte nur wenige Schritte in die Dunkelheit getan, da sah ich die helle Gestalt des Hirschreiters emporschweben, da erkannte ich aber auch schon die steinerne Treppe, die er seitwärts benutzte.

Ich ihm nach.

Als es wirklich finster werden wollte, sorgten Fensteröffnungen, allerdings keine regelrechten, für Tageslicht, immer höher ging es hinauf, manchmal aber zweigten schon Gänge ab, und in einem nackten Felsenraume wandte sich mein Führer gegen mich um.

Ja, es war ein alter Mann, der sich aber jugendfrisch erhalten hatte, und das macht gewöhnlich das Herz aus, oder die Seele, möchte ich lieber sagen, weil das Herz heute für die meisten Menschen doch nur eine Blutpumpe ist, und der Spiegel der Seele ist das Auge. Wunderbare große, blaue Augen!

Im übrigen war es eine mittelgroße, schlanke Gestalt, der freie Hals verriet den sehnigen Bau, und die Muskelkraft noch mehr die Hände. Schöne, feine, weiße Hände, aber starrend von Muskeln.

»Seid mir willkommen!« begann die Glockenstimme.

»Ich heiße Merlin. So sollt Ihr mich nennen, wenn Ihr untereinander über mich sprecht. Den Namen Nuhmajili, dessen Bedeutung Ihr doch jetzt kennt, sollt Ihr nicht gebrauchen. Ich bin ein Mensch wie Ihr.

Ich kenne Euch und Eure Wünsche.

Ihr wünschtet Euch immer einen Ort, wo Ihr unbekannt und unangefochten von aller Welt Euren Neigungen leben könntet. — 2390 Zweimal schon wies Euch jene Gesellschaft, der auch ich angehöre, solch einen Ort an. Einmal im brasilianischen Urwald, dort sogar wieder zweimal, erst die Sandbank und dann das Eldoradoplateau, dann immer seid Ihr geleitet worden, wenn Ihr das zuerst auch gar nicht gemerkt habt, und dann wurde Euch der Seelandsfelsen bei Australien angewiesen.

An allen drei Punkten hat es Euch auf die Dauer nicht gefallen, am wenigsten auf dem Seelandsfelsen, und ich weiß warum.

Jetzt wissen wir es! Denn auch wir sind Menschen, die nur durch Erfahrung lernen können.

Jetzt aber wissen wir auch, daß wir Euch in eine Gegend geführt haben, in der Ihr bis an Euer Lebensende hausen könnt, und nie werdet Ihr es überdrüssig bekommen, Euch von hier fortsehnen, wieder nach dem freien Meere oder anderswohin, denn jeder Tag wird hier neue Überraschungen bringen. Es liegt nur an Euch, sie zu suchen.

Ihr befindet Euch hier in meinem Reiche. Ich trete es Euch gern ab. Aber glaubt nicht etwa, daß ich Euch ein Opfer bringe. Ihr könnt mich nicht stören. Es ist meine eigene Lust, Euer Treiben zu beobachten.

Die geographischen Bestimmungen könnt Ihr selbst machen.

Also nur noch einige kurze Angaben und Erklärungen.

Es ist dies ein von Gebirgswänden eingeschlossenes Tal, ungefähr acht geographische Meilen lang und fünf Meilen breit. Die Hälfte davon nimmt ein See ein. Süßwasser. Er hat sehr viele heiße Quellen, so daß sich erst bei 30 Grad Kälte, die hier aber höchst selten im Januar eintritt, eine dünne Eisdecke bildet. Sonst habt Ihr auch im Winter eine freie Wasserfläche, auf der Ihr nach Herzenslust segeln könnt, Ihr könnt Euch wie auf dem Meere fühlen, und es wird auch nicht an Stürmen fehlen, die haushohe Wellen werfen.

Dies gilt aber nur von dem südwestlichen Teil des Sees, wo Du Dich jetzt befindest. Der andere Teil, ungefähr die Hälfte, hat im Gegenteil sehr kalte Quellen, wodurch dieser Teil des Sees sofort gefriert. Die beiden Wasserteile von ganz verschiedenen Temperaturen vermischen sich überhaupt nicht so leicht, außerdem sorgt dafür noch ein Abfluß, an dem wir uns hier gerade befinden, überhaupt an der Grenze, was Du bisher aber noch nicht bemerken konntest. Sieh es jetzt.«

Er winkte mir, wir traten an eine der Öffnungen, die nischenartig in die Felswand eindrang.

Ich blickte in eine Seitenschlucht, ungefähr 25 Meter breit. Mir gegenüber erhob sich also wiederum eine Felswand, und unter mir, die ganze Schlucht ausfüllend, floß Wasser. Doch mit sehr geringer Strömung.

Nun aber befanden wir uns gerade an der Ecke dieser Seitenschlucht, so daß ich auch auf den See blicken konnte, und da sah ich, daß dieser doch nicht so eisfrei war, wie es von weitem aus geschienen hatte. Nach Nordosten zog sich durch den ganzen See, so weit das Auge reichte, eine scharfe Grenze. Dort drüben war eine einzige Eisfläche, hier freies Wasser. Wie das möglich war, hatte mir Merlin bereits erklärt. Es ist dies übrigens kein besonderes Naturphänomen, es kommt sehr häufig vor, beruht auf einem ganz einfachen physikalischen Gesetz. Warmes und kaltes Wasser vermischen sich eben gar nicht so leicht, besonders wenn noch wie hier eine gewisse Strömung hinzukommt, und dann kann auch solch eine scharfe Eisgrenze entstehen, die man bis dicht an den Rand begehen kann. Auch auf dem Müggelsee bei Berlin, bei Friedrichshagen, entsteht alljährlich ein Phänomen. Bei genügender Kälte friert der See wohl gleichmäßig zu, sobald aber ein Dampfer noch eine Fahrtrinne schafft, friert diese nicht mehr zu, auch bei der strengsten Kälte nicht. Man hat sich daran gewöhnt, die meisten Menschen finden gar nichts Wunderbares dabei, fragen nicht, wie das möglich sein kann. Man muß es sich von einem Physiker erklären lassen.

Hier lagen andere Ursachen vor, aber das Resultat war dasselbe, nur in viel großartigerem Maßstabe.

»Dort auf jener Eisfläche,« fuhr Merlin fort, »könnt Ihr Euch tummeln. Allerdings nur im Winter. Anfang Mai schmilzt sie, dann bleibt der ganze See bis zum Anfang November offen.

Aber auch im Sommer, der hier sechs Monate währt, wirklicher Sommer, könnt Ihr dem Wintersport huldigen. Wie und wo, das zu entdecken bleibt Euch überlassen. Ich will jetzt nur diese eine Andeutung machen.

Ihr sollt selbst suchen. Ihr sollt Überraschungen erleben. Ich mische mich nicht in Euer Treiben ein. Nur das rate ich Euch, daß Ihr Euer festes Quartier hier in dieser Höhlenregion nehmt. Denn hier durch diese Wasserschlucht wird in zwei Wochen Euer Schiff kommen, hier kann es am bequemsten beilegen.

Was ich sonst noch zu sagen habe, ist Folgendes: Das ganze Tal steht zu Eurer Verfügung. Natürlich freie Jagd und alles. Auch ein Tier, welches Euch selten erscheinen mag, braucht Ihr nicht zu schonen.

Ihr werdet die ganzen Felswände durchhöhlt finden. Ihr werdet erkennen, daß dies nicht natürliche Höhlen sein können, wie schon hier nicht, und es sind ja auch gemeißelte Treppen vorhanden.

Das bedarf noch einer kurzen Erklärung.

Die Erde ist viel älter, als die heutige Wissenschaft annimmt, auch das Menschengeschlecht reicht viel, viel weiter zurück.

In diesem Tale, wie überhaupt in ganz Sibirien, hat schon einmal ein Volk mit hochentwickelter Kultur gehaust. Wenn auch mit einer ganz, ganz anderen Kultur als der heutigen. Sie wohnten in diesen Höhlen, die vorhandenen erweiternd, sich darin einrichtend. Sucht, ob Ihr noch Spuren von diesen Menschen findet.

Sonst überlasse ich Euch ganz Euch selbst, verirren könnt Ihr Euch in diesen Höhlen nirgends, auch ohne Hilfe des Kompasses nicht. Sollte doch einmal solch ein Fall eintreten, so werde ich Euch oder dem Betreffenden helfend zur Seite stehen.

Ich könnte Euch sofort viele Vorteile verschaffen. Bequemlichkeiten und dergleichen, aber ich will nicht, denn ich weiß, daß Ihr selbst es nicht wollt, Ihr wollt Euch aus eigener Kraft einrichten.

Nur hin und wieder werde ich für Beleuchtung sorgen. Wie das gemeint ist, werdet Ihr später erkennen.

Ich habe gesprochen. Hast Du etwas zu fragen? Tue es. Obgleich ich Dir vielleicht die Antwort verweigere.«

»Über Deine Person darf ich Dich nicht fragen?«

»Nein!« erklang eis kurz, obgleich liebenswürdig wie immer.

»Werden wir hier den Mann wiederfinden, der sich Price O'Fire nennt?«

»Nein.«

»Ist dieses ein noch unentdecktes Tal?«

»Ja. Das heißt, es ist noch auf keiner Karte eingetragen.«

»Ist schon einmal ein Forscher hier gewesen?«

»Nein. Weshalb stellst Du solche Fragen? Ich halte sie für unnütz.«

»Ich meine, ob wir hier einmal von anderen Menschen entdeckt werden können.«

»Nein.«

»Weshalb nicht? Es können doch andere Menschen unseren Spuren folgen.«

»Sie würden in dieses Tal nicht eindringen können, überhaupt gar keines vorfinden.«

»Wie ist denn das möglich?!«

»Ich hindere sie daran.«

»Ich verstehe nicht.«

Da legte der jugendliche Greis seine Hand auf meine Schulter, blickte mich lächelnd und gütiger denn je an.

»Mein lieber Sohn. Es existiert überhaupt gar keine Welt. Es gibt nichts anderes als Dein Ich. Du bist das einzig existierende Zentrum der Welt. Alles, was Du für Wirklichkeit hältst, träumst Du nur.

Du verstehst mich nicht? Ich glaube es Dir. Aber es wird die Zeit kommen, da auch Du es verstehen wirst. Eine Zeit nach Deinen Begriffen. Denn es gibt so wenig Zeit wie Raum. Auch das sind nur Begriffe, die sich der Mensch gemacht hat, weil er die ganze Täuschung der Maja nicht begreifen kann. Sobald man aber diese Täuschung überwunden hat, ist man auch Herr über diesen Lebenstraum, kann ihn nach Willkür gestalten, wie man will.«

Nein, ich verstand den Sprecher nicht.

Aber etwas Neues war es mir auch nicht, was ich da zu hören bekam. Es ist die Lehre einer uralten Religionsphilosophie, welche auf der Erde 660 Millionen Anhänger hat, während sich zum Christentum nur 560 Millionen Menschen bekennen, und von diesen schwenken immer mehr zu jenem Glauben ab, besonders in Amerika, wo diese Theosophen schon nach Millionen zählen, und zwar sind es gerade die praktischsten Männer, welche zu diesem Glauben übergehen, weil sie ihn für wahr anerkennen, Männer wie Edison und Carnegie.

Ob sie den Kern dieser Lehre verstehen, weiß ich nicht. Ich verstehe ihn nicht.

Und doch, manchmal habe ich intuitiv so eine Ahnung, daß es so ist!

Manchmal, besonders in der Nacht, wenn ich einsam im Freien stehe, da habe ich solche Momente.

Manchmal, wenn eine Eule ruft,
Oder ein Hund bellt im fernen Gehöft,
Oder ein Wind geht in den Zweigen -
Dann muß ich schauernd lauschen und schweigen.

Dann flieht meine Seele zurück,
Bis wo vor zahllos vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
Mir ähnlich und meine Brüder waren.

Dann wird meine Seele ein Tier
Und ein Wind und ein Wolkenweben.
Verwundert kehrt sie zurück und fragt mich. -
Wie soll ich ihr Antwort geben?«

Und dann, in solchen feierlichen Momenten, wird mir plötzlich auch ganz klar, daß alles nur eine Täuschung, nur ein Traum ist. Es gibt in der Welt, die jedoch ebenfalls gar nicht existiert, gar nichts weiter als mein eigenes Ich. Dieses träumt nur, daß dies alles Wirklichkeit sei.

Im nächsten Moment ist das wieder verschwunden. Nur eine dumpfe Erinnerung bleibt zurück. Aber es war wie ein Zuckblitz gewesen, der die Nacht einmal tageshell erleuchtet hat.

Und haben wir denn nicht genau dasselbe in der christlichen Religion?

Christus verspricht immer und immer wieder das Himmelreich, als eine ganz reelle Sache. »Noch zu dem Schächer sagt er am Kreuz: »Heute wirst Du mit mir im Paradiese sein.«

Da er aber einmal direkt gefragt wurde: »Meister, wo ist denn das Himmelreich?« — da antwortete er: »Das Himmelreich ist nicht hier und nicht da, sondern das Himmelreich ist inwendig in Euch!«

Und so sagt er auch wiederholt: »Ich hätte Euch noch mehr zu sagen, aber Ihr würdet mich nicht verstehen.« Merlin zog seine Hand von meiner Schulter zurück.

»Ich habe gesprochen, ich kann gehen. Du wirst Deinen Leuten mitteilen, was ich Dir jetzt gesagt habe.«

»Ich werde es tun.«

»Ich will nicht immer unsichtbar bleiben. Gestattest Du, daß ich mich manchmal in das Treiben Deiner Leute einmische?«

»Aber selbstverständlich, so oft Du willst, Du sollst uns immer herzlich willkommen sein!«

»Nur daß ich dann nicht angeredet werde.«

»Mit keinem Worte.«

»So lebe jetzt wohl, wir sehen uns wieder.«

Er wandte sich, ging nach dem Hintergrunde des Raumes, verschwand in einer schmalen Spalte.

Ich begab mich hinab, sagte, was ich zu sagen hatte. Viel war es ja nicht. Dann begannen wir uns mit unserem Schlittengepäck häuslich in den Felsenkammern einzurichten, wozu wir die geeignetsten aussuchten, das war ja bald geschehen, und nun ging es an eine weitere Untersuchung der ausgehöhlten Felswände und der weiteren Umgebung im Freien.

Dabei jagte eine Überraschung die andere. Zunächst wurde konstatiert, daß, je tiefer man in die Felswand eindrang, es desto wärmer wurde, bis man es vor Hitze einfach nicht mehr aushalten konnte.

Also befanden wir uns auf vulkanischem Gebiet. Aber daß wir eines Tages in die Luft flogen oder mit glühender Lava übergossen wurden, darum brauchten wir uns nicht zu sorgen, sonst hätte dieser Merlin der Zauberer schon etwas davon gesagt.

Übrigens konnte es sich auch um heiße Quellen handeln, die gar nicht auf vulkanischem Gebiet selbst zu entspringen brauchen, sie kommen eben aus sehr großer Erdtiefe hervor, und daß es so war, davon sollten wir uns bald überzeugen.

Gar nicht weit von unserem Quartier, übrigens, wie später gefunden wurde, auch durch Felsengänge direkt zu erreichen, wurde eine andere Höhle entdeckt, aber noch an der Felswand gelegen, durch Öffnungen mit Tageslicht erleuchtet, in der eine mächtige, kochend heiße Quelle entsprang.

Uns nichts angenehmer als das! Hier wurde ein Dampfbad eingerichtet, in Verbindung mit einer Garküche. Auch auf Vancouver hatten wir solch eine Dampfgrotte gehabt, aber die war nicht zu vergleichen mit dieser hier gewesen, zu deren Benutzung hätten wir aus verschiedenen Gründen erst mindestens ein halbes Jahr lang schwere Arbeit gehabt, hier dagegen waren die Bassins schon von unseren Vorgängern eingemeißelt worden, wenn man nicht glauben wollte, daß die Natur gleich alles so vorgerichtet hatte.

»O Wunder über Wunder!« erklang da der Ruf.

Ich wurde von den Entdeckern des Wunders geholt, die anderen schlossen sich mir an, es wurde uns aber nichts verraten, wir sollten mit eigenen Augen schauen.

Den Weg, den wir zum Eindringen in die Felswand nahmen, kann ich nicht beschreiben, zumal da er sich, wenn man die Gänge erst kannte, immer mehr verkürzte.

Wir benutzten unsere Benzinlampen. Mit einem Male hatten wir sie nicht mehr nötig, in dem Gange, den wir gerade passierten, begann es zu dämmern, es wurde heller und heller, ohne daß die Lichtquelle zu ergründen war, gleichzeitig wurde es kälter und kälter, und wie wir um eine Ecke bogen, erwartete uns ein grandioser Anblick.

Eine ungeheure Eisgrotte war es, in die wir blickten. Eine weite Eisfläche, aus der hier und da eine Säule emporwuchs, wahrscheinlich aus Gestein bestehend, aber mit Eis bekleidet, und zwar nahm es die bizarrsten Gestaltungen an, und diese Säulen endeten an einer schwarzen Decke. Was, wie gleich gezeigt werden soll, von besonderer Wichtigkeit war. Daß also die Decke selbst nicht mit Eis überzogen war.

Ein gleichmäßig herrschender Luftzug sagte uns sofort, daß wir eine dynamische Eisgrotte vor uns hatten, die sich, auch wenn draußen der heißeste Sommer herrschte, nicht verändern würde. Das heißt derjenige erkannte das gleich aus dem Luftzug, der überhaupt etwas von den Eisgrotten weiß. Ich selbst wußte nur theoretisch etwas davon, hatte einmal bei Gelegenheit viel über solche Eisgrotten gelesen. Gesehen hatte ich noch keine bisher.

Es gibt sehr viele Eishöhlen oder Eisgrotten, sicher viel, viel mehr, als die wir kennen. Sie werden einmal so durch Zufall entdeckt, beim Bergbau, oder beim Tunnelbau, oder spielende Kinder finden einen Höhlengang, dringen ein und kommen plötzlich, während draußen der schönste Sommer herrscht, in eine mit Eis gefüllte Höhle.

Mit der Gegend, ob die heiß oder kalt ist, haben diese Eisgrotten gar nichts zu tun. Man hat schon genug solcher Naturphänomene direkt unter dem Äquator gefunden.

Als Entstehungsursache kommt in der Hauptsache dreierlei in Betracht. Entweder das Eis bildet sich in der Höhle im Winter, meist im Gebirge, durch Gletscherwasser, wie das Geldloch am Ötscher in Niederösterreich, schmilzt im Sommer zwar bedeutend ab, erneuert sich aber doch immer wieder. Das sind die periodischen Eishöhlen. Oder, wie hauptsächlich in heißen Gegenden, es ist ein Überbleibsel aus der Eiszeit, die sich einst über die ganze Erde erstreckt hat. Das in dem geschlossenen Raume aufgehäufte Eis strahlt eine so große Kälte aus, daß es niemals zum Auftauen kommt. Das sind die statischen Eishöhlen. Oder es handelt sich um eine natürliche Eismaschine, die mit verdünnter Luft arbeitet. Dann ist gewöhnlich ein unterirdischer Wasserfall in der Nähe, der durch eine Röhre aus der Höhle die Luft mit sich reißt, es entsteht also ein luftverdünnter Raum, durch andere Spalten strömt von draußen Luft wieder nach, sie dehnt sich in dem luftverdünnten Raume rasch aus, dadurch entsteht nach physikalischen Gesetzen große Abkühlung, die bis zum Gefrieren des Wassers gesteigert werden kann. Diese Eishöhlen nennt man dynamische. Dabei ist es fast gleichgültig — allerdings nicht immer ob die nachströmende Luft an sich schon kalt ist oder warm. Ja, da die warme Luft dünner ist als kalte, kann es sogar vorkommen, daß im Sommer die Temperatur in solchen Höhlen noch tiefer sinkt als im Winter.

Die größte dynamische Eisgrotte, die wir in Europa kennen, ist die von Dobschau in Ungarn. Ich hatte schon Lichtbilder von ihr gesehen. Herrlich! Sie ist elf Meter hoch, 120 Meter lang und durchschnittlich 50 Meter breit. Eine Treppe von 145 Stufen führt zu einer Eisgalerie hinauf. Wunderbare Gebilde! Besonders die sogenannte Orgel.

Aber mit dieser sibirischen hier konnte sich die ungarische nicht vergleichen. Wir maßen gleich im Anfang einen Durchmesser von mehr als 400 Metern, und das war nur der erste große Saal, einer reihte sich an den anderen, und mit den Eisgängen sind wir überhaupt niemals fertig geworden. Und nun diese Galerien, diese erstarrten Wasserfälle, diese sonstigen Gebilde! Ganze Eispaläste, so kolossal und doch so zierlich, von so einer verschnörkelten Architektur, daß man sie höchstens mit indischen Bauwerken vergleichen konnte.

Die konstante Kälte betrug drei Grad, die nur an den heißesten Sommertagen um ein Grad fiel. Die Hauptsache aber war, daß an der Decke die riesigen Eiszapfen fehlten, welche das Betreten jener ungarischen Eishöhle so furchtbar gefährlich machen. Jeden Augenblick kann einem der Schädel eingeschlagen werden.

Hier fehlten sie gänzlich. Überhaupt gar keine Eisbildung an der schwarzen Decke.

Ja, schwarz war sie, und dennoch konnte nur von ihr das gleichmäßige Licht ausstrahlen, welches die ganze Grotte erfüllte, diese wie jede andere, jeden Eistunnel.

Was war das für ein rätselhaftes Licht? Nun, eben dasselbe, das uns auch schon im Seelandsfelsen geleuchtet hatte. Hier brauchte es aber nicht erst angestellt zu werden.

Unser Schutzpatron hatte gesagt, daß wir auch im heißen Sommer Gelegenheit zum Eissport haben würden, daß er hin und wieder für Beleuchtung sorgen wird, und hier hatte er sein Versprechen eingelöst.

Lange Zeit trieben wir uns in den Eisgrotten herum, viele schon auf Schlittschuhen, und wir wurden immer von neuem Staunen über die grandiosen Gebilde erfüllt.

»Moin, Käpten, feines Wetter heute.«

So erklang es über mir mit bekannter Stimme.

Ich blickte empor.

Da flezte sich Oskar schon mit qualmender Pfeife aus dem Fenster des zweiten Stockes solch eines Eispalastes heraus.

Er hatte einen Aufstieg gefunden, einen inneren, ich fand ihn auch. Aber nicht etwa, daß es regelrechte Treppen und Räume und dergleichen gab. Alles wilde Natur, wie es die Eisbildung eben schafft. Eben dadurch noch viel großartiger. Doch wir brauchten nur mit Feuer oder glühendem Eisen zu arbeiten, oder sonst ein Mittel zu erfinden, um bequem abzuschmelzen, so könnten wir solch einen Eisberg in ein wirkliches Wohnhaus verwandeln. Solche Experimente wurden ja später auch viel gemacht.

Erst nach zwei Stunden verließ ich die Eisgrotten wieder, war ständig unterwegs gewesen und hatte doch vielleicht nur den hundertsten Teil gesehen. Wir sollten in dieser Eisregion noch manches erleben, sie war nicht so unbewohnt, wie wir zuerst glaubten.

Ich suchte wieder die Seitenwand auf, die den Abfluß begrenzte, um zu sehen, wo da unser Schiff am besten anlegen könnte.

»Eine Werft, Käpten, eine ganze Werft mit allem, was dazu gehört!« erklang es mir da jauchzend entgegen.

Entgegen? Ich blickte doch zu so einer Fensteröffnung hinaus, in beträchtlicher Höhe.

Jawohl, auf der anderen Seite des also ungefähr 25 Meter breiten Wasserkanals befanden sich in der glatten Felsenwand auch solch unregelmäßige Fensteröffnungen, und aus der einen blickte ein Matrose, ein zweiter gesellte sich gleich noch hinzu.

»Wie seid Ihr denn dort hinüber gekommen?!« mußte wohl meine erste Frage sein.

»Immer die Treppen hinunter, dann kommt ein Gang, der unter dem Wasser wegführt!«

Man konnte nicht fehlgehen. Alle in die Tiefe führenden Treppen mündeten in einer weiten Halle, von der aus ein breiter und hoher Tunnel unter dem ungefähr acht Meter tiefen Wasserlauf hinwegführte, nach der anderen Felswand hinüber.

Auch hier wieder zahllose Säle und Kammern.

Der eine Saal war mit Brettern von allen Längen und Breiten und den verschiedensten Holzarten angefüllt, ein anderer enthielt alles, was zum Bau eines hölzernen Schiffes vom Kiel bis zum Flaggenkopf nötig ist, also eine vollständig eingerichtete Werft mit allen dazu nötigen Werkzeugen.

Hatte unser Schutzpatron Merlin nicht gesagt, er könne uns ja mit allen möglichen Vorrichtungen und Bequemlichkeiten versehen, aber er wolle es nicht tun, weil er unseren Charakter kenne, weil wir doch wohl alles aus eigener Kraft schaffen wollten? Und jetzt stellte er uns hier eine vollständig eingerichtete Werft zur Verfügung!

Nun, ein so großer Widerspruch lag nicht darin. So ganz und gar als Robinson anzufangen, das ist nicht gerade angenehm, besonders wenn man es wiederholen muß. Wir wollten schon aus eigener Kraft etwas schaffen, aber »alles« war gar nicht möglich oder wir hätten Jahre dazu gebraucht. Dazu gehörte auch die Herstellung des einfachsten Brettes. Die Erfindung der Bandsäge ist von weltbewegender Bedeutung gewesen. Daran aber denkt wohl niemand, wenn er ein Brett in die Hand nimmt, was es vordem für unsägliche Mühe gekostet hat, um aus der Hälfte eines Baumstammes ein Brett abzuspalten, indem man einen Meißel neben den anderen setzte, so wie man schon den ganzen Stamm spaltete, was solche Bretter, mit der man eine ebene Fläche herstellen konnte, damals für einen Wert repräsentierten.

Wo kam diese ganze Werfteinrichtung, die einen so neuen Eindruck machte, hierher? Nun, darüber zerbrachen wir uns nicht den Kopf. Jedenfalls aber hätte der geheimnisvolle Mann uns doch auch gleich fertige Boote und sonstige Fahrzeuge zur Verfügung stellen können, wir zweifelten nicht daran. Er hatte es nicht getan. Nur für Bretter und Werkzeug hatte er gesorgt.

Die kamen so wie so mit unserem Schiffe nach, Price O'Fire hatte uns schon in Petersburg geraten, noch besonders viel zum Schiffsbau geeignetes Holz mitzunehmen. Darauf hätten wir so wie so gewartet. Nun aber konnten wir gleich anfangen. Die Schlittenboote aus Birkenrinde waren doch recht untauglich.

Also es wurde gleich der Kiel zum ersten Klinkerboote gelegt. Der Engländer Sam war ein gelernter Schiffsbauer. Aber etwas verstehen wir Seeleute ja alle davon, und hätten wir unsere Kunstfertigkeit auch nur an kleinen Modellen erlernt. Es wurde auch schon von einer Segeljacht und von einer Rudergaleere und von anderen Fahrzeugen geschwärmt, mit denen wir den See beleben wollten, um uns gegenseitige Seegefechte zu liefern.

Ich kann nur sagen, daß wir auf unseren bisherigen Stationen, auf denen wir uns hatten einrichten wollen, niemals Gelegenheit gehabt hatten, solchen Bootsbau zu betreiben. Es gehört gar vielerlei dazu, was ich hier nicht weiter ausführen kann. Mister Tabak hatte sich an Bord des Schiffes ein neues Walfischboot gebaut, er hatte tüchtige Hilfskräfte zur Seite gehabt, aber etwas Brauchbares war nicht herausgekommen. Der Bootsbau ist eine Kunst, die gar vieler Vorrichtungen bedarf. Nicht umsonst kostet ein gutes Seeboot mehrere tausend Mark. Und was meint man denn wohl, was so eine Rennjacht kostet, nur so ein kleines Ding? Da ist unter einer halben Million Mark nicht viel zu wollen.

Die Hauptsache war, daß sich auch hier gleich nebenan ein Dampfraum mit heißer Quelle befand. Die Bootsplanken können nur mit Wasserdampf regelrecht gebogen werden. Oder es wird ein Kasten daraus, aber kein Boot.

Ich verließ die Matrosen, die über ihren Bootsbau alle weiteren Untersuchungen vergaßen, sogar das Mittagsessen.

»Kommen Sie mit?« fragte mich Juba Riata, als ich auf der anderen Seite der Wasserstraße wieder ins Freie trat.

Er war damit beschäftigt, wieder sechs Hunde vor einen Schlitten zu spannen.

Ich bemerke noch nachträglich, daß Peitschenmüller während der sechzehntägigen Schlittenfahrt drei von den neun Hundegespannen, die wir nie gewechselt, so eingefahren hatte, daß sie jetzt auch ohne vorgeworfenen Fisch anzogen und weiterliefen. Zum allergrößten Staunen des Meister Bärtchens. Diese Samojeden und Tungusen geben sich eben gar keine Mühe, ihre Hunde regelrecht einzufahren, und weil sie gar nicht auf solch einen Gedanken kommen, halten sie es überhaupt für unmöglich. Ungefähr ebenso, wie noch vor 25 Jahren die Zähmung, das Einfahren und Reiten des Zebras für unmöglich galt. Auch Brehm behauptet es noch. Bis als erster der Londoner Baron Rothschild im Hydepark mit zwei Zebras spazieren fuhr. Er hatte extra dazu aus Amerika einen gewissen Raleigh, der für den berühmtesten Pferdebändiger galt, kommen lassen. Dieser Amerikaner hat es fertig gebracht, diese afrikanischen vierbeinigen Teufel zu bändigen, zu zähmen. Heute sind zugefahrene und zugerittene Zebras schon gar keine Seltenheit mehr. Es hat eben nur am ersten Versuche gefehlt, der Gedanke, daß so etwas überhaupt unmöglich sei, mußte erst einmal gebrochen werden.

In anderer Hinsicht aber haben die sibirischen Hundezüchter ganz recht. Freiwillig, ohne vorgeworfene Fische, entwickelten diese drei Hundegespanne ihre ganze Schnelligkeit nicht mehr, machten täglich keine 15 Meilen mehr.

»Wohin?«

»Nun, einmal die weitere Umgebung des Sees abfahren.«

»Jawohl, ich komme mit.«

Es war eine Stunde nach Mittag, als wir los fuhren, wir nahmen nichts weiter mit als unsere Büchsen, jeder eine schwere, einen doppelläufigen »Knochenschmetterer«, der eine Lauf auch für Schrot, dessen Benutzung wir aber verschmähten, und das englische Infanteriegewehr, auf das wir vorzüglich eingeschossen waren. Mancher von uns hätte als Kunstschütze auftreten können. Revolver und Munition brauchten wir nicht extra mitzunehmen, die hingen so wie so immer an unseren Gürteln. Da wir sicher am Abend zurück sein wollten, blieben auch die Schlafsäcke »zu Hause«.

Wir fuhren etwa eine Stunde, ohne daß sich etwas Neues bot. Immer dieselben schneebedeckten Fichten und Kiefern und Lärchen und Birken und Eichen, höchstens daß diese letzteren immer mehr den Hauptbestandteil des Waldes ausmachten und immer mächtiger wurden.

Hin und wieder sahen wir ein Stück Wild, hauptsächlich Rens, aber auch echte Hirsche, die jedoch immer schleunigst hinter dem nächsten Baume verschwanden, um diesen als Deckung zur weiteren Flucht zu benutzen.

»Hier ist schon tüchtig gejagt worden, das Wild kennt den unbarmherzigen Menschen und seine furchtbaren Mordwaffen!« sagte Juba Riata. »Mir ist das nur lieb, ich jage nicht gern in einem Parke, in dem das Wild erst zahm gemacht wird, um es dann wie auf dem Scheibenstand niederknallen zu können.«

Übrigens bewies schon das zahlreiche Vorkommen von echten Hirscharten, daß dieses Tal sein eigenes, sehr mildes Klima haben mußte. In diesem Teile Sibiriens kommen noch keine Hirsche vor. Das heißt nicht im Winter. Die sibirischen Hirsche wandern, legen kolossale Strecken zurück. Im Winter gehen sie wieder nach Süden. Jetzt war hier noch vollständiger Winter. Er mußte aber für die Hirsche noch erträglich sein, sie wanderten gar nicht mehr aus.

An diesem milden Klima war einfach das warme Wasser des Sees schuld. Es hatte 18 Grad, war im Gegensatz zu der sechs Grad kalten Luft, wenn man schnell die Hand hineinsteckte, förmlich heiß zu nennen. Dabei aber reichte die Schnee— und Eisgrenze doch bis dicht an das Wasser herab. So weit, daß auch die nahe Umgebung des Sees abgetaut wäre, reichte der Einfluß der Wasserwärme eben doch nicht. Sie verteilte sich über das ganze Tal, wenigstens auf dieser eisfreien Seite des Sees. Wir hatten ihn verlassen, drangen mehr in den Wald ein. Bald sahen wir wieder die Felswand zwischen den Bäumen auftauchen.

»Die schwarze Stelle dort scheint eine Höhle zu sein,« sagte Juba Riata, »wir wollen sie doch einmal untersuchen, vielleicht daß Ihr Merlin uns da wieder etwas vorzaubert, wir sollen uns ja überall auf Überraschungen gefaßt machen, wir müssen nur suchen.«

Hatte Peitschenmüller eine Ahnung? Nein, er hatte nur so gesprochen.

Ehe wir aber die Höhle erreichten, sollten wir ein Abenteuer erleben, zum Zeichen, daß wir hier nicht etwa in ein Paradies versetzt worden waren, zwar in ein winterliches, in dem es aber auch Gefahren gab.

Plötzlich tritt keine zehn Schritt von uns entfernt hinter einer Eiche ein mächtiges Vieh hervor. Ein Wisent! Der as Ur— oder Auerochse einst das ganze nördliche Europa bewohnt hat, jetzt nur noch in dem russischen Walde bei Bealowies vorkommt, dort aber geschont und sogar gehegt wird, soweit man in einem richtigen Urwalde von 2000 Quadratkilometern Wild hegen kann. Jedenfalls darf er nicht gejagt werden. In Sibirien dagegen ist der Wisent ein ganz gewöhnliches Wild.

Mit dem amerikanischen Bison läßt sich der Wisent nicht vergleichen. Der indianische Büffel ist und bleibt mit seinen zwei Metern Höhe das gewaltigste Rind, wozu nun noch die gewaltige Mähne kommt. Der Wisent wird höchstens anderthalb Meter hoch, hat keine solche Mähne, auch keinen Buckel.

Das heißt, solche Vergleiche stellte ich damals nicht an. Es war immerhin ein furchtbares Ungeheuer, das uns da plötzlich in den Weg trat.

In zehn Schritt Entfernung, sagte ich. Das stimmt nicht. Wir waren ja in voller Fahrt. Aber näher kamen wir jedenfalls nicht heran.

Da schoß schon der alte Bulle, der er war, mit gesenkten Hörnern auf uns los.

Daß unsere sechs Hunde diese Begegnung nicht weiter erwarteten, war ihnen nicht zu verdenken. Im rechten Winkel herumgeschwenkt, daß der Schlitten beinahe umgekippt wäre und mit eingekniffenem Schwanze losgelegt, mit einer Schnelligkeit wie sie auch der fetteste Fisch nicht erzeugte, der ihnen vorgeworfen wurde.

Aber weit kamen sie nicht. Wir freilich auch nicht. Peitschenmüller hatte die Herrschaft über sie verloren. Wenn da mit dem Zügel überhaupt etwas zu machen gewesen wäre.

Im nächsten Augenblick schmetterte unser Schlitten an einen Baum, verwandelte sich in einen Trümmerhaufen vor Birkenrindenstücken.

»Hoch, für Christi Sache hoch!« schrie Peitschenmüller und hing schon oben in den Zweigen. Ich ihm schleunigst mit affenartiger Behendigkeit nach. Ein Glück war es, daß wir uns in den letzten Jahren so turnerisch ausgebildet hatten. Aber so schnell bin ich nie wieder einen Baum hinaufgekommen zumal nicht in solch einem schweren Pelzkostüm.

Und ein weiteres Glück, daß es gerade eine Lärche mit tief herabhängenden Zweigen war, an denen wir Schiffbruch erlitten. Sonst wären nämlich wir Lerchen gewesen. Ich denke dabei an einen Witz, der damals in ganz Deutschland zirkulierte. Nicht erfunden in einem Witzblatt, sondern unabsichtlich gemacht in einer ernsten, angesehenen Tageszeitung. In Hagenbecks Tiergarten hatte ein toll gewordener Elefant hingerichtet werden müssen, das wurde berichtet, und da hieß es am Schluß: »Ein Sprenggeschoß zwischen die Augen und der riesenhafte Elefant war eine Lerche.«

Wie gesagt, dieser famose Witz, den der Druckfehlerteufel da vom Stapel gelassen, machte damals die Runde durch ganz Deutschland. Es gab keine Leichen mehr, nur noch Lerchen.

Und so wären auch wir im nächsten Augenblick Lerchen gewesen, hätte uns die Lärche, an der wir Schiffbruch erlitten, nicht gütig ihre niedrigen Äste entgegengestreckt. Im nächsten Moment schmetterte der Schädel des Wisent gegen den Stamm, daß wir, wenn wir uns nicht genügend festgeklammert hätten, wie die reifen Pflaumen abgefallen wären.

Wir waren dem Tode entgangen, aber nicht unsere armen Hunde. Die waren, hinter sich am Riemengespann noch einige schlagende Bootsbretter schleifend, nur bis an den nächsten Baum gekommen, eine junge Kiefer, keine zehn Schritt von unserer Lärche entfernt, die einen wollten links um den Baum, die anderen rechts herum, und da verfingen sie sich eben mit den Riemen, saßen fest.

Und das Ungetüm war sofort nach dem Anprall gegen unseren Baum draufzugestürzt und auf den Hunden herumgetrampelt. Etwas Näheres war schwer zu unterscheiden. Der Schnee war dort nicht sehr hoch und ganz fest gefroren, von Grund auf. Eine schrecklich heulende und winselnde Masse von Hundeleibern und Hundebeinen, auf denen das Ungeheuer herumstampfte. Dann wurde es still, und der Wisent verließ den rotgefärbten Schneeplatz, um wieder nach unserer Lärche zurückzukehren.

Das hatten wir beobachtet, während wir uns zwischen den Ästen der Lärche häuslich einrichteten, und es war alles schneller geschehen, als ich hier beschreiben konnte.

»So,« sagte Peitschenmüller gemächlich, auf seinem Aste sitzend und mit den Beinen baumelnd, »ich habe einmal gesagt, ich würde niemals wieder so einen wilden Büffel bändigen, weil man gar zu schreckliche Hülfsmittel dabei anwenden muß. Aber diesen Wisent dort unten werde ich mir noch einmal vornehmen, den werde ich noch einmal dressieren. Das bin ich schon den Manen unserer sechs braven Hunde schuldig.«

»Zunächst aber,« entgegnete ich, »scheint mir dieser Wisent derjenige zu sein, der uns dressiert!«

Juba Riata lächelte über meine Bemerkung, allerdings ein etwas verlegenes Lächeln.

Ihm, dem erfahrenen Jäger, war nämlich dieselbe fatale Sache passiert, die bei mir schon eher verzeihlich war.

Unsere Gewehre hatten wir so wie so im Stiche lassen müssen, das hatte nicht anders sein können. Aber ich hatte während der Schlittenfahrt aus Bequemlichkeit auch meinen Gürtel mit dem schweren Revolver und dem Jagdmesser abgelegt, und dasselbe hatte auch Peitschenmüller getan, für mich schier unbegreiflicher Weise, daß er sich einmal von seinen Handwaffen getrennt hatte.

Das lag jetzt dort unten im Schnee verstreut, zum Teil weit ab vom Baume, und kein Gedanke daran, daß wir hinabspringen und es holen konnten, so lange es das Ungeheuer nicht wollte.

»Oder haben Sie noch einen anderen Sackpuffer bei sich?« setzte ich noch hinzu. »Ich nicht.«

Er hatte seine augenblickliche Verlegenheit überwunden

»Nein, ich auch nicht, und was nützt mir denn auch eine Feuerwaffe, wenn ich den Stier bändigen will. Dazu habe ich hier etwas anderes.«

Und er wickelte seinen Lasso ab, den er quer über Brust und eine Schulter trug.

Allerdings, an diese seine Waffe hatte ich im Augenblick gar nicht gedacht.

Zunächst bemerke ich, daß er mit seiner Wurfschlinge ja auch recht gut unsere Schußwaffen wieder herbeiholen konnte, mochten sie auch noch so flach auf dem Schnee liegen. Die Cowboys heben ja im Wettkampf mit ihren Lassos kleine am Boden hineilende Schlangen auf.

Aber damit wollte sich Juba Riata nicht aufhalten, schon befestigte er das eine Ende sorgfältig an einem starken Aste in der Nähe des Hauptstammes, machte die Schlinge bereit, sie dem Stiere über den Kopf zu werfen.

Da muß ich nun zunächst etwas anderes erwähnen.

Wer diesen Lederriemen sah, nur fingerbreit und ziemlich dünn, würde es nicht für möglich gehalten haben, mit ihm solch ein Ungeheuer festzuhalten, wenn es seine ganze Kraft anstrengte, und noch weniger hätte jemand geglaubt, daß dieser Riemen solch einen furchtbaren Ruck aushielt, wie ihn der Wisent dann gab. Das mußte man mit eigenen Augen gesehen haben.

Unzerreißbar ist ja schließlich nichts in der Welt, aber ich hatte schon öfters Gelegenheit gehabt, zu beobachten, was dieser dünne Lederlasso in Peitschenmüllers Hand aushielt, deshalb zweifelte ich von vornherein nicht an dem Experiment.

Mit diesem Lasso war ein Geheimnis verknüpft, wie es überhaupt mit dem ganzen Leder der Fall ist.

Die Umwandlung von roher Tierhaut in Leder ist wohl eine der ältesten Erfindungen der Menschheit, es gibt heute kein wildes Volk, welches diese Kunst nicht versteht — in der Steinzeit war sie aber noch nicht bekannt — und dennoch steht unsere moderne Wissenschaft dabei noch vor einem ungelösten Rätsel. Man weiß nicht, weshalb der Saft gewisser Baumrinden oder gewisse Chemikalien oder eine gewisse Fäulnis oder eine gewisse Art der Bearbeitung Tierhaut in. Leder verwandelt. Beide zeigen noch genau dieselbe Struktur, aber es ist etwas ganz anderes daraus geworden. Etwas total Verschiedenes. Der Unterschied ist so groß wie zwischen Eisenerz und gediegenem Stahl, oder wie zwischen Holz und Eisen. Man kann das Leder auch nicht wieder zurückverwandeln.

Verzeihe der Leser mir diese lederne Abhandlung. Aber man frage nur einmal einen Techniker aus der Lederindustrie, oder einen universellen Chemiker oder Physiker, was hier für ein Rätsel vorliegt, wie sich diese Herren den Kopf zerbrechen!

Und mir ahnt, daß die Menschheit dereinst mit der Tierhaut noch etwas ganz anderes anfangen wird. Die Umwandlung in Leder ist erst das Allerprimitivste, darüber sind wir im Laufe der Jahrtausende noch nicht hinausgekommen. Ich muß immer daran denken, wenn ich herrlich leuchtende Farben sehe, und es wird mir gesagt, daß es Anilinfarben sind, aus Teer hergestellt. Mich sollte es gar nicht wundern, wenn man noch einmal aus Tierhaut undurchdringliche Panzerplatten einerseits und anderseits seidenartige, in allen Farben schillernde Gewänder herstellen kann.

Für den Rinder— und Pferdehirten Amerikas ist der Lasso ein unentbehrliches Werkzeug geworden. Von ihm hängt seine Ehre und sein Leben ab. Ich glaube, nur ein indischer oder japanischer Schwertfeger verwendet auf die Herstellung einer Klinge, die ihn unsterblich machen soll, so viel Sorgfalt wie so ein Cowboy auf die Herstellung seines Lassos. Man denkt vielleicht, da wird eben eine Ochsenhaut in Streifen zerschnitten, dann ist der Lasso fertig. Jawohl. Ich habe es mir erzählen lassen. Das bedarf vieler Jahre tagtäglicher Arbeit!

Sie fängt schon mit dem Kalbe an. Nein, schon mit der zukünftigen Mutter, die das Tier erzeugt, welches einst das Leder liefern soll. Denn so wie die Inder Stiere mit riesigen Hörnern erzeugen können, die sie zu ihren religiösen Zeremonien bedürfen, was aber nur auf Kosten des ganzen übrigen Körpers geschieht, das Tier selbst verkümmert dabei, so wollen die Cowboys schon bei lebendigen Tieren eine ganz besondere Art von Haut, schon bei lebendigem Leibe richtiges Leder erzeugen können. So behaupten sie, und ich glaube es ihnen

Der Cowboy, der sich einen neuen Lasso zulegen will, sondert eine trächtige Kuh von der Herde aus — wenn er nicht schon für einen besonderen Vater gesorgt hat widmet ihr seine ganze Sorgfalt, füttert sie in besonderer Weise, wofür jeder sein Geheimnis hat. Noch mehr gilt das, wenn das Kalb geboren wird, am Euter liegt. Dann, wenn es abgesetzt ist, bekommt es nur noch abgerahmte Milch. Bis wegen Fettmangel die Haut rissig zu werden droht. Zusätze von gepulverten Schildkrötenund Schneckenschalen mögen dabei doch nicht nur so auf Aberglauben beruhen. Dann aber bekommt es wieder massenhaft blanke Butter zu fressen, bis es das Fett aus den Poren schwitzt Auch äußerlich wird es mit besonderen Salben eingerieben. Dazu wird es geschoren, sogar rasiert, täglich gebadet, keine Zecke darf sich einfressen, keine Bremse darf es stechen. Dazu immer wieder eine besondere Fütterung, einmal ganz trocken, einmal recht feucht. Und das geht jahrelang so fort. Es tuen sich dazu immer mehrere Hirten zusammen.

Bis frühestens im dritten Jahre das Rind getötet wird. Am besten soll es sein, wenn es sich bei großer Kälte durch Öffnen einer kleinen Ader langsam verblutet. Aus der kolossal dick gewordenen Haut werden zwei Streifen von gleicher Länge geschnitten. Erst jetzt werden diese gegerbt, müssen ein halbes Jahr in der Erde faulen, müssen andere Prozeduren durchmachen, immer mit geheimnisvollen Ingredienzien. Dann, wenn es so weit ist, wird jeder Lederstreifen dem Durchschnitt nach dreimal gespalten. Offenbar also werden die drei verschiedenen Hautschichten, Lederhaut, Unterhautzellgewebe und Epidermis, von einander getrennt. Sehr bezeichnend aber ist schon, daß diese amerikanischen Hirten von fünf verschiedenen Schichten sprechen, wovon unsere Wissenschaftler nichts wissen wollen. Die Russen, deren Juchtenleder wir nicht nachahmen können, sprechen wenigstens von vier verschiedenen Hautschichten.

Zwei von diesen verschiedenen Bändern werden ganz, ganz dünn geschabt, so daß also zusammen vier Bänder entstehen, und diese werden nun zusammengenäht, also vierfach, in abwechselnder Reihenfolge, der offene Rand wird gesteppt.

So entsteht nach jahrelanger Arbeit ein echter Lasso, die Riata der Mexikaner und Texaner. Da darf man wohl glauben, daß solch ein Lederband seinem Besitzer um nichts feil ist. Das ist überhaupt schon etwas ganz anderes als Leder. Weich wie ein Seidenband, und dabei noch viel fester als Seide. Und das Gespinst der chinesischen Seidenraupe ist heute das Festeste, was wir kennen. Das heißt, es hält die größte Zugkraft aus. Da kann kein Metalldraht mit. Solch ein Lasso war es, dessen eines Ende Juba Riata, nach der spanischen Bezeichnung dieses Instrumentes so genannt, anknüpfte, die Schlinge wurfbereit machend.

Unten stand das Ungeheuer, schielte mit seinen tückischen Augen zu uns empor. Wenn ihm die Schlinge nur über die kurzen Hörner, nicht über den ganzen Kopf fiel, so war das natürlich Absicht. Peitschenmüller konnte, wie wir erprobt hatten, aus zehn Meter Entfernung eine an einem Faden schnell hin und her pendelnde Apfelsine »einfangen«, wozu er also die Schlinge mit einem besonderen Ruck auch noch von unten nach oben dirigieren mußte!

Die zugezogene Schlinge saß fest. Der Stier fühlte etwas Unangenehmes, schüttelte sich, stieß — zum ersten Male — ein dumpfes Brüllen aus, rieb den Kopf an dem Baume, daß dieser wie Espenlaub zitterte. Und nun geschah dasjenige, was niemand für mögliche gehalten hätte. Aber es war sogar ein dreifaches Wunder. Erstens, wie ganz genau dieser ehemalige Cowboy die ausgestreckte Länge seines Lassos berechnen konnte; zweitens, wie er sich dann dem Stiere gegenüber benahm, was er noch extra für ein Kunststückchen leistete; und drittens eben, was dieses dünne Lederband aushielt.

»Haben Sie sich fest, es gibt einen gewaltigen Ruck!«

So rief Peitschenmüller, sprang mit gleichen Beinen von seinem Ast und rannte davon. Der Stier sofort ihm nach.

Aber weit ging es nicht. Plötzlich blieb Juba mit einem Ruck stehen, wandte sich blitzschnell um, kreuzte gleichzeitig die Arme über der Brust. Es ist schwer zu schildern, worauf es hierbei ankam, worin das Fürchterliche und Grandiose der ganzen Situation lag. Bei spanischen Stiergefechten mag man Ähnliches zu sehen bekommen.

Der Stier, dicht hinter ihm, mit gesenkten Hörnern auf ihn los, in vollem Galopp. Aber da, wie sich Juba Riata umgedreht hatte, wie ich schon die spitzen Hörner in seinem Leibe sah, gab es in dem Baume einen furchtbaren Ruck, der mich trotz aller Vorsicht fast herabgeschleudert hätte.

Die Sache war eben die, daß Peitschenmüller ganz genau die Länge des Lassos berechnet und sich so hingestellt hatte, daß die Hörner des Ungeheuers gerade seine Kleidung berühren konnten. Im übrigen kann ich, wie gesagt, die Fürchterlichkeit dieser Szene gar nicht schildern.

Ich hatte einen Schreckensschrei ausgestoßen, kalter Angstschweiß um meinen Kameraden brach mir plötzlich hervor. Da war es schon geschehen. Das Kunststückchen, wie in der Arena ausgeführt, war gelungen, und der Lasso hatte die furchtbare Kraft des Ruckes ausgehalten.

Jetzt begann Juba im Kreise zu gehen, der Stier ihm immer nach, schäumend vor Wut, daß er den Menschen nicht erreichen konnte, dabei nicht merkend, wie er sich selbst an dem Riemen um den Baum aufwickelte. Oder er merkte doch vielleicht, wie er immer mehr zurückgedrängt wurde, dachte aber nicht daran, sich durch Laufen nach der entgegengesetzten Richtung wieder abwickeln, nur daß er ab und zu etwas zurückwich, um mit einem neuen Anlauf gegen seinen Bändiger loszugehen.

»Ruhig, nur ruhig, mein Tierchen, wir werden schon noch die besten Freunde!« sagte Peitschenmüller, dem Wisent den ungeheuren Kopf streichelnd.

Es sah ganz, ganz merkwürdig aus, wie der das wutschäumende Ungeheuer zwischen den Hörnern kraulte. Aber was wollte der Wisent dagegen machen? Beißen tuen diese Rinder nicht. Auch nicht ausschlagen. Sie kennen keine andere Angriffs— und Verteidigungswaffe als ihre Hörner. Und die konnten den Mann immer nur gerade mit der äußersten Spitze berühren.

Der Lasso hatte sich vollständig aufgewickelt, der Wisent stand mit dem Kopfe dicht am Stamme. Wie sich das Ungetüm gebärdete, in seiner ohnmächtigen Wut, kann ich gar nicht beschreiben

Da sprang Peitschenmüller davon, dort, wo unser Schlitten in Trümmern gegangen war, zwar an diesem Lärchenstamme, aber als Haupttrümmerhaufen doch etwas abseits liegend, er hob einige Riemen auf, sprang auch dorthin, wo die sechs Hunde ihr Ende gefunden hatten, sammelte auch dort einiges blutiges Riemenzeug aus, schnitt es ab und kehrte zurück.

»Soll ich Ihnen helfen?« fragte ich.

»Nein, bitte, bleiben Sie oben, mir noch aus der Schußlinie.«

Infolgedessen sah ich nicht deutlich, wie er es anfing, den Stier zu fesseln. Dieser gebärdete sich ja fürchterlich, sonst aber schien die ganze Sache spielend vor sich zu gehen.

Als dann Juba wieder um den Baum marschierte, um das Lasso sich wieder etwas aufwickeln zu lassen, sah ich nur, daß der Stier zwischen seinen Füßen sich kreuzende Riemen hatte. Wie Juba es fertig gebracht hatte, sie anzulegen, weiß ich nicht. Jedenfalls aber hinderten sie das Tier jetzt noch nicht an seiner Bewegungsfreiheit.

Da, wie sich der Wisent wieder drei Meter von dem Stamme entfernt hatte, ein Ruck von Müller, gar nicht so gewaltig, aber im Nu brach das Ungeheuer zusammen, wälzte sich schrecklich brüllend auf die Seite und auf den Rücken, die eng zusammengefesselten Füße in die Luft reckend, brachte sich auch wieder auf die Seite, aber nicht mehr auf den Bauch.

»So, es ist geschehen,« sagte Juba Riata gleichmütig, »nun kommen Sie herab, nun wollen wir unseren Weg nach jener Höhle fortsetzen.«

Ich sprang herab, am ganzen Leibe zitternd. Vor Aufregung, vor Begeisterung. Es war ein gewaltiges Schauspiel gewesen, wie das Menschlein diesen Riesen des Urwaldes besiegt hatte, durch nichts anderes als durch Anwendung einiger Riemen. Und durch seine Erfahrung, seine Gewandtheit und Kaltblütigkeit — was dabei wahr die Hauptsache ist. Immerhin, es war doch etwas ganz anderes gewesen, als wenn man solch ein Ungeheuer oder ein Raubtier durch eine Kugel zur Strecke bringt, wozu aber ein Gewehr und Pulver gehört, was beides der betreffende Jäger sicher nicht erfunden und selbst hergestellt hat.

Der Leser versteht wohl, was ich meine! Im Grunde genommen ist es nicht der Jäger, sondern der Gelehrte am Schreibtisch und im Laboratorium, der durch seine Geisteskraft die Erde von Raubtieren befreit, solch ein pflanzenfressendes Ungeheuer bezwingt, tötet. Hier hatte aber einmal die Menschenkraft allein gesiegt. Die fesselnden Riemen durfte man als gerechte Zugabe betrachten. Das war noch mehr gewesen als der Kampf eines alten Germanen, der solch einem Ungetüm mit der selbstgefertigten Lanze zu Leibe ging.

»Sie wollen den Stier hier liegen lassen?«

»Ja, er muß erst einige Zeit hier liegen bleiben, ehe ich ihn mir zur Dressur vornehme. Er muß erst tüchtig ausgehungert sein.«

»Die Fesseln werden halten?«

»Da können Sie beruhigt sein. Unsereiner versteht ebenfalls Knoten zu schürzen, die sich bei dem Bemühen, sie zu lockern, nur immer fester zusammenziehen.«

»Wie lange werden Sie ihn hier liegen lassen?«

»Bis morgen früh.«

»Werden sich nicht Raubtiere an den hülflosen Gefangenen machen, Bären und Wölfe, die es hier doch sicher gibt?<<

»Wenn ich von dem amerikanischen Büffel auf solch einen Wisent schließen darf — nein. So lange der Stier lebhaft genug ist, sich unter einem Brüllen aufzurichten, das heißt, es nur zu versuchen, wird der stärkste Bär und das verhungertste Wolfsrudel ihn nicht anzugreifen wagen, und dasselbe würde vom Löwen und Tiger gelten. Ich kenne das. Diese wilden Urtiere sind die gefürchtetsten Tiere von allen. Aber gespannt bin ich, wenn ich diesem asiatischen Wisent einmal meinen amerikanischen Büffel gegenüber stelle, wer da im Kampfe Sieger bleiben wird.

»In einem regelrechten Zweikampfe auf Leben und Tod?« fragte ich interessiert.

»Ja. Sobald ich meinen Teufel hier habe, werde ich die Sache einmal arrangieren. Amerika gegen Asien. Wenn ich auch die spitzen Hörner durch Kugeln unschädlich machen werde. Aber um Tod und Leben werden die beiden dennoch kämpfen, oder es müßten nicht zwei alte Bullen sein, zumal verschiedener Rasse. Die gehen sofort auf einander los. Ich bin nicht gerade ein Freund von solchen Kampfspielen, aber das ist man geradezu der Wissenschaft schuldig, und außerdem gewährt man den beiden Tieren selbst die größte Freude. Es ist ihnen sogar sehr gesund, sonst können sie leicht tiefsinnig und dadurch toll werden, gehen ein. Solch ein Kampf gibt ihnen immer wieder neue Lebenslust. Nur muß man sie eben gegen ernste Verwundungen schützen.«

Ja, auf solch einen Kampf zwischen dem amerikanischen Bison und dem asiatischen oder auch europäischen Wisent, dem germanischen Auerochsen, durfte man allerdings gespannt sein.


85. KAPITEL.
VON SIBIRIEN NACH TEXAS.

Wir wandten uns nun der schon erwähnten Höhle zu,

oder die wir doch vermuteten.

»Haben Sie den Mister Merlin vielleicht wegen der Schätze des Flibustierkapitäns gefragt, ob wir die hier finden werden?« meinte Peitschenmüller, als wir noch auf dem Wege nach der Felswand waren, jetzt bescheiden auf Schusters Rappen.

Nein, daran hatte ich gar nicht gedacht! Und nicht die Patronin, niemand anders hatte mich gefragt, ob ich hierüber jenen geheimnisvollen Mann gesprochen hätte.

Da sieht man, wie geringschätzend wir alle über den schnöden Mammon dachten. Zumal wir durch den sechsmonatlichen Aufenthalt in Petersburg unseren Neuyorker Verlust wieder ersetzt hatten.

Manchem Leser dürfte es unglaublich erscheinen, daß man mit Zirkusvorstellungen innerhalb von sechs Monaten mehr als acht Millionen Mark verdienen kann. Es ist durchaus nicht unglaublich, wenn man die Verhältnisse kennt. Petersburg mit seinen anderthalb Millionen Einwohnern hat zwei ständige Zirkusse, einen mit 4000, den anderen mit 1500 Plätzen. Im ersten wollte der amerikanische Zirkus Stokis für den Winter gastieren, im zweiten der Franzose Loisset. Beide verzichteten unseretwegen auf das Petersburger Winterspiel, hatten andere Gastreisen unternommen, und gegen den Franzosen, der dadurch schwere Verluste gehabt, waren wir sehr nobel gewesen. Das war bereits in Bordeaux telegraphisch und durch Agenten erledigt worden. Stokis hatte täglich 6000 Mark Unkosten. Ein Riesenwanderzirkus wie Barnum und Bailey hat fast die doppelten. Wer sich für solche Verhältnisse interessiert, der lese das Buch »Buntes aus der Zirkuswelt« von Signor Domino, wo die Höhen der Gagen und alle anderen Unkosten eines Zirkus angeführt sind, als zur Peitsche und dem »Panneau«, dem flachen Polstersattel. Wobei aber zu bedenken ist, daß dieses Buch die Zirkusverhältnisse der Jahre 1860 bis 1880 schildert. Heute hat sich das noch bedeutend geändert, heute ist ein guter Clown unter 2000 Mark gar nicht mehr zu haben. Nun, und wir hatten tagtäglich Vorstellungen gegeben, jene 5500 Plätze wurden auf unsere 1000 reduziert, deshalb waren sie auch täglich besetzt, deshalb konnten wir auch ganz andere Preise fordern, und wir hatten ja überhaupt gar keine Unkosten.

Dabei will ich noch etwas anderes erwähnen, nur zwei Fälle will ich von hundert anderen herausgreifen. Ich tue es nicht gern, die ganze Sache behagt mir nicht. Ich will nur zeigen, wie wir gestellt waren.

Der Matrose Albert hatte eines Tages in Begleitung eines rosafarbenen Billettchens eine Busennadel zugeschickt bekommen, die noch vor kurzem in einem Juwelierladen mit 4000 Rubel ausgezeichnet gewesen war.

Ja, das war Albert, der Evangeliumsänger, der mit seiner Stimme immer mehr alles in seinen Zauberbann schlug! Wer hat von solchen Tenören nicht schon gehört, wie die vergöttert werden! Für den allein konnten wir ja auch den zehnfachen Eintrittspreis fordern, und unsere Batterie wurde knallvoll. Aber nein, es brauchte nicht gerade Albert der göttliche Sänger zu sein.

Eines Morgens war der Heizer Ferdinand — der Nante — mit einem Viergespann von vier prachtvollen tscherkessischen Hengsten vorgefahren gekommen. Schon allein das Zobelpelzwerk des Schlittens repräsentierte ein großes Vermögen. Dies alles war über Nacht sein Eigentum geworden Weshalb, weiß ich nicht. Ich meine: ich bin kein Weib, keine Fürstin X. Ich weiß nicht, wie die an dem geradezu häßlichen, pockennarbigen Kerl einen Narren gefressen haben konnte. Eben Faszination, erzeugt durch öffentliches Auftreten.

Er freute sich nicht lange an dem Geschenk, das Viergespann wurde ziemlich preiswert verkauft, und da wir das Geld durchaus nicht in unsere Schiffskasse aufnehmen wollten, schickte er die Hälfte davon nach Hause, die andere überwies er einer Lepra—Kolonie, einer Station für Aussätzige.

Das sind nur zwei von hundert oder vielmehr hunderten von Fällen. Und es sind noch lange nicht die extremsten. Mehrere von uns wurden in Petersburg Hausbesitzer, oder hätten es doch werden können. In Petersburg sind die Verhältnisse noch viel lockerer als in Paris, und mehr Geld ist ganz sicher vorhanden.

Aus Geldmangel konnten wir also nicht verderben, das wollte ich hiermit nur sagen, sonst hätte ich gar nicht davon angefangen. Denn diese Geschichten waren mir höchst unangenehm — und noch vielmehr natürlich unserer Patronin.

Wir hatten unser Ziel erreicht.

Ja, es war eine Öffnung, die tiefer in die Felswand hinein ging, also eine Höhle, groß genug, um mit einem Fuder Heu hineinfahren zu können.

Zunächst wurde unsere Aufmerksamkeit durch eine Inschrift gefesselt. Die Felswand hing etwas über, direkt über der Höhle war sie noch besonders durch vorspringendes Gestein gegen Schneefall geschützt, und hier nun hatte ein Meißel mit großen Buchstaben sechs Zeilen eingehauen, in deutscher Sprache. Sie lauteten:

Ist einer Welt Besitz für Dich zerronnen,
Sei nicht in Leids darüber, es ist nichts;
Und hast Du einer Welt Besitz gewonnen,
Sei nicht erfreut darüber, es ist nichts.
Vorüber gehn die Leiden und die Wonnen.
Geh an der Zeit vorüber, es ist nichts.

Ich bemerke im voraus, daß wir solcher Inschriften noch viele fanden, Sinngedichte weise Aussprüche, Lebensregeln und dergleichen, über Höhlen oder sonstwo in die Felswand eingemeißelt, ohne daß der Inhalt einen Bezug auf diesen Ort hatte. So wie man eben ein Zimmer mit Sinn— und Bibelsprüchen schmückt, die gewöhnlich wie die Faust aufs Auge passen. So wie über mancher Haustür die schöne Einladung steht: »Gott segne Deinen Eintritt« — und wenn man eintritt, dann fährt einem die Hausfrau mit dem Besen ins Gesicht. Wie es mir einmal ergangen war, als ich einen schief geladenen Kapitän nach Hause gebracht hatte. Der wußte sich zu schützen, ich bekam als Segen Gottes die Prügel.

Diese Sprüchlein schufen die Namen, die wir den verschiedenen Gegenden und besonderen Punkten des weiten Tales gaben, um uns in der Unterhaltung orientieren zu können, wir entwarfen dann auch eine topographische Karte, in die diese Namen eingetragen wurden.

Diese Höhle hier zum Beispiel wurde »Nixenhöhle« getauft.

Weswegen? Weil es hier drin Nixen gegeben hatte? Absolut nicht, keine Spur von Nixen. Ich sagte ja auch schon, daß der Inhalt solcher Verse und Sprüche nur Veranlassung zu den Namen gaben, welche selbst den Ort oder die Umgebung nicht etwa charakterisierten.

Und nun sehe man sich daraufhin jene sechs Strophen noch einmal an. Drei von ihnen enden mit den resignierten Worten: es ist nichts.

Nun, da hatten meine Jungen, sobald sie diese Höhle und diese Verse kennen lernten, sie eben das »Nischtloch« getauft.

»Du Hein, geihst mit mi ins Nischtloch?«

Das ging wohl unter den Matrosen, aber doch nicht unter dem besseren Kreise unserer Bordmannschaft oder vielmehr Damenschaft.

Nichtsloch Nixloch Nixhöhle ——— auf diese Weise entstand endlich Nixenhöhle, so wurde der Punkt in der Karte eingetragen, obgleich es dort gar keine Nixen gab, weshalb die Matrosen auch ganz recht hatten, wenn sie bei ihrem »Nischtloch« blieben.

Oder, um noch ein anderes Beispiel zu zeigen, wie bei uns die Ortsnamen entstanden: da gab es auch eine Petersilienschlucht.

Eine Schlucht war es wohl, aber von Petersilie gar keine Ahnung.

Wie die dann zu diesem Namen gekommen war?

In dieser Schlucht stand in der Felswand ein Vers aus der Bibel eingemeißelt:

Da sprach Petrus: sie lieben die Hoffahrt der Welt und so weiter.

So, das genügte zur Namenstaufe! Die Matrosen nahmen einfach die Worte oder Silben heraus, aus Petrus Peter machend: Peter sie lie . . .

Da war eben die Petersilienschlucht fertig.

Nur immer geistreich!

Da sieht man aber auch, daß ich von solchen Sachen gar nicht erst anfangen darf. Denn meine Jungen wurden von solchem Geistreichtum dermaßen geplagt, daß ich, wenn ich da ausführlich werden wollte, ein Werk im Format eines zwanzigbändigen Konversationslexikons schreiben müßte. Geordnet nach hunderttausend Stichwörtern. Und dabei wären die humoristischen Handlungen noch ganz ausgeschlossen. Also lieber gar nicht erst anfangen.

Aber wirklich, der Schriftsteller fehlt uns noch, der sich die Wiedergabe des deutschen Matrosenwitzes zum Lebenszweck macht. Nachdem einem der Saphir und der Baron Mikosch und der jüdische Witz und ähnliches nun schon zum Halse heraushängt. Freilich muß man das meiste selbst, im Mannschaftslogis und an Deck hören, die Wiedergabe dürfte schwer sein. —— Es machte auf uns beide den gewaltigsten Eindruck, was wir da über der Höhle lasen.

Weshalb, das ist schwer zu sagen.

Es war das . . . ganze Milieu, wie man wohl sagte, wodurch diese Verse so mächtig auf uns wirkten. Diese Verse in deutscher Sprache, die grenzenloseste Weltverachtung predigend, wie sie da plötzlich in dem verschneiten Walde, im Herzen Sibiriens vor uns hintraten.

Dreimal schon hatte sie Peitschenmüller laut gelesen, immer feierlicher und feierlicher.

»Großartig, großartig!« rief er dann. »Ob das von diesem Merlin selbst ist?«

Ich wußte es nicht.

Nein, es war nicht von ihm. Doktor Cohn hat es mir dann gesagt. Es ist aus Saadis Gulistan.

Scheich Mußlich eddin Saadi war ein persischer Philosoph und Dichter, im 12. Jahrhundert, lebte lange Zeit in Damaskus am Hofe, bis er sich in die Wüste zurückzog, in ein Felsenloch.

»Meiner Freunde in Damaskus müde, beschloß ich in die Einsamkeit zu gehen.«

So fängt eine seiner Liedersammlungen an, Gulistan betitelt, das ist »Rosengarten«, gedichtet in der öden Wüste. Die er sich aber in seiner Einbildung in einen Rosengarten umzugestalten wußte.

Die unübertreffliche Übersetzung ins Deutsche ist von Graf. Unübertrefflich deshalb, weil sie alle Feinheiten des persischen Originals bis ins Kleinste wiedergibt. Man beachte den reimenden Wohllaut auch innerhalb der Verse.

»Was werden wir wohl in dieser Höhle finden, die solch eine bedeutungsvolle Überschrift trägt?« fragte Peitschenmüller.

»Na‚,« entgegnete ich poesieloser Mensch, »wenn alles in der Welt nischt ist, dann dürfen wir auch nicht erwarten, in dieser Höhle viel mehr als nischt zu finden.«

Also war eigentlich ich derjenige, der schon den Grund zur »Nischthöhle« legte.

Und meine Weisheit sollte denn auch recht behalten. Unsere Benzinlampen, die wir bald anstecken mußten, beleuchteten nichts weiter als nackte Felswände, und das war noch der Fall, als wir schon mindestens 30 Meter tief eingedrungen waren.

Und dort war schon das Ende der Höhle zu sehen, gleichfalls wieder eine nackte Felswand.

Da blieb Peitschenmüller stehen, witterte wie ein Jagdhund.

»Riechen Sie nichts?«

Auch ich schnüffelte, mehr mit den Augen, indem ich mich nämlich dabei umsah, was hier riechen könnte.

»Ich rieche nichts.«

»Doch!«

»Geh am Geruch vorüber, es ist nischt!« deklamierte ich.

»Ich rieche es ganz deutlich.«

»Na was denn nur?«

»Es riecht hier nach — nach . . . Patriarchen.«

»Waaas?! Wonach solls hier riechen?!« staunte ich natürlich nicht schlecht.

»Nach Patriarch, nach Lebenseiche! Und ich irre mich nicht, immer lebhafter fühle ich mich in die texanische Savanne versetzt!«

Mit diesen Worten eilte Müller vorwärts, auf die abschließende Felswand zu, wandte sich seitwärts und blieb mit einem Rufe der Überraschung stehen, und dann, wie ich neben ihm stand, starrte und staunte auch ich.

Diese Felswand schloß die Höhle eben nicht ab. Der Gang machte eine scharfe Biegung, und da . . .

Ja, da erblickten wir etwas!

Diese Biegung mündete sofort ins Freie, und vor uns lag unübersehbar eine blumige Prärie, in dem bunten Grasmeere ab und zu eine einförmig grüne Waldinsel, und gleich neben dem Höhlenausgange stand ein riesenhafter Baum mit silberweißen Blättern, dessen Zweige bis auf den Boden herabhingen das Ganze einem silbernen Berge vergleichbar, und solcher erhob sich noch hier und da, immer ganz einzeln stehend, Lebenseichen, wegen ihrer weißen Blätter und überhaupt ehrwürdigen Aussehen »Patriarchen« genannt, welche die texanische Prärie charakterisierten.

»Bei Gott, die texanische Savanne!« rief Juba Riata außer sich. »Ich irrte mich nicht, der balsamische Duft, den die Patriarchen aushauchen, sagte es mir gleich, und auch dieses kurze Gras, diese Blumen sind nur der texanischen Savanne eigen . . . Kapitän, Kapitän, erklären Sie mir dieses Rätsel!l«

Ich antwortete nicht, fand keine Worte, ich stand und staunte und starrte.

Für mich war jedenfalls ein noch viel größeres Rätsel vorhanden als wie für meinen Begleiter.

Ich als alter Seemann starrte vor allen Dingen in die Sonne, so weit man in die blendende Sonne starren kann, und dann war mein nächster Griff nach der Taschenuhr. Gleich halb vier.

Das mußte nach Ortszeit, auf welche ich meine Uhr hier eingestellt hatte, wohl stimmen, dafür sorgte schon Doktor Cohn.

Ja, was war denn da mit der Sonne passiert?! Die stand jetzt ganz anderswo. Wohl im Südsüdosten, wie mir der Kompaß sagte, aber jetzt nachmittags halb vier noch in einer Höhe, die sie in dieser nördlichen Gegend Sibiriens auch nicht am 22. Juni zur Mittagsstunde erreichte! Das weiß unsereins, der immer mit Sonnen— und Gestirnzeiten zu rechnen hat, doch gleich aus dem Kopfe. Ganz abgesehen davon, daß wir dort drüben einen wolkenbedeckten Himmel gehabt hatten, während er hier ganz blitzblau war.

Ich mich umgedreht, um wieder in und durch die Höhle zu rennen, schon mein Taschenbesteck in der Hand, mit Sextant und was sonst noch dazu gehört.

Ich kam nicht weit.

Da trat hinter jener Biegung die gelblederne Gestalt mit den silbernen Locken hervor.

»Gib Dir keine Mühe, Freund,« sagte die glockenartige Stimme. »Ich kann Dir sagen, was Du bestimmen würdest, vorausgesetzt, wenn es Dir gelänge, alle die komplizierten Verwicklungen zu lösen: Du würdest ungefähr den 100. westlichen Längengrad und den 33. nördlichen Breitengrad herausrechnen.«

»Das wäre dann wirklich Texas!« durfte ich sofort rufen.

»Du sagst es. Nur das wirklich mußt Du weglassen.«

»Du meinst, dies alles hier wäre gar keine Wirklichkeit?!« stutzte ich, und dabei sah ich Peitschenmüllern schon in dem kniehohen Grase stehen, sah, wie er eine Prärierose abpflückte.

»Ja und nein und nein und ja!« lächelte der jugendliche Greis. »Ich könnte Dir alles erklären, aber Du würdest mich nicht verstehen. So lasse mich einmal fragen. Ihr habt an Bord Eures Schiffes einen alten Araber, der Euch in einem besonderen Raume wunderbare Sachen vormacht. Ist das, was er Euch da vormacht, Wirklichkeit?«

»Nein, es ist alles eben nur Gaukelei, er versetzt uns in einen Zustand, in dem wir alles für Wirklichkeit hinnehmen, was er uns suggeriert, durch erzählende Worte oder auch nur durch Gedankenübertragung.«

»Aber unterscheidet sich das, was Ihr in dem Raume seht und erlebt, von der Wirklichkeit?«

»Das allerdings nicht.«

»Nun, dasselbe ist auch hier der Fall. Was aber Vater Abdallah nur in einem engen Raume vermag, den er mit seiner Einbildungskraft ausgefüllt hat, weil sie eben nicht weiter reicht, das kann ich hier in diesem meinem Reiche in endlose Weiten ausdehnen.«

Plötzlich, wie der geheimnisvolle Mann dies sagte, zuckte mir eine Erinnerung durch den Kopf.

Wir hatten es sogar in der Schule gehabt.

Der größte Gelehrte des 13. Jahrhunderts war Graf Albert von Bollstädt, genannt Albertus Magnus. Auch in der Magie soll er Unvergleichliches geleistet haben, aber er trieb nur »weiße Magie«, keine schwarze, also er war ein guter Zauberer, dem niemals der Prozeß gemacht wurde. Die merkwürdigsten Sagen zirkulierten über ihn.

So besuchte ihn einmal der damalige Gegenkaiser: Friedrichs II., Graf Wilhelm von Holland, in seinem Hause zu Köln, es war strenger Winter, Albertus fährte ihn und sein ganzes Gefolge in einen paradiesischen Garten, bewirtete die Herren und Damen mit Pommeranzen und anderen Südfrüchten, die er von den Bäumen pflückte die sie sich selbst pflücken konnten.

So wurde uns vom Lehrer in der Schule erzählt, so habe ich es auch in anderen Büchern gelesen, so steht es auch in älteren Konversationslexikons, welche noch solche Einzelheiten aufführten, weil sie sich noch nicht so viel mit den modernen Erfindungen zu beschäftigen hatten, und dies alles ist Kölner Chroniken entnommen, die heute noch im Stadtarchiv existieren.

Nun müssen wir das aber doch auf natürliche Weise erklären, sonst wären wir doch keine modernen Menschen.

Und da heißt es, daß Albertus Magnus in seinem Hause einen Wintergarten besessen habe, ein Treibhaus, damals in Deutschland noch unbekannt.

So! Und von diesem Wintergarten zu Köln hätten alle die Chronisten nichts gewußt, die über Albertus Magnus und das ganze Treiben in der Stadt berichten?

Nein, meine Herrschaften, dann glaube ich lieber, daß der alte Albertus wirklich zaubern konnte! Und nicht anders ist es auch gewesen. Der hat schon etwas von Hypnotismus gewußt, wahrscheinlich sogar noch viel mehr, als wir heute davon wissen. Der hat der ganzen Gesellschaft nur eine Halluzination vorgegaukelt. So wie es Goethe so köstlich schildert, wie die Studenten in Auerbachs Keller herrliche Weintrauben sehen, die sie abschneiden wollen, bis Mephistopheles sie erwachen läßt, und da haben sich die Studenten gegenseitig bei den Nasen gefaßt.

Noch etwas anderes fällt mir ein. Im Jahre 1898 führte Lord James Churchill die Kommission nach Teheran, welche als neutrales Schiedsgericht die Grenze zwischen Beludschistan und Persien bestimmen sollte. Er verkehrte freundschraflich mit dem Schah Muzaffer Mirza. Es war im Januar, vom Winter war dort freilich nichts zu merken, alles sonnenverbrannt.

»Ach, wäre ich jetzt in meinem winterlichen England!« seufzte da eines Tages Lord Churchill, wie er im Salon unter einem Windventilator sich den Schweiß abtrocknete.

»Das kannst Du haben, nur einige Minuten Geduld!« sagte der Schah.

Bald kam ein alter Derwisch, ließ die Fenstergardinen zuziehen, kauerte sich nieder, holte unter seinem Kaftan einen Blechteller hervor, legte Kräuter darauf, brannte sie an, atmete den Qualm ein, dann zog er seine Zunge endlos weit aus dem Munde heraus, bis zur Stirn empor, band sie dort mit einem Tuche fest, und nun klatschte er immer mit dem Kopfe vorn gegen die Brust und hinten gegen den Rücken, als gäbe es so etwas wie Halswirbel gar nicht.

Hierzu bemerke ich, daß ich genau dieselben Vorbereitungen, um Illusionen auszuführen, von indischen Fakiren gesehen habe, an Bord eines Schiffes, wo wir sie heimlich beobachten konnten. Die Sache wird eben die sein, daß diese Gaukler, um solche Massensuggestionen ausüben zu können, sich erst selbst in Hypnose versetzen, wovon wir im Abendlande noch gar nichts wissen. Ich meine: daß der Hypnotiseur, ehe er andere hypnotisiert, sich selbst hypnotisiert.

Jetzt stand der Derwisch auf, anscheinend ganz normal, zog die Fenstergardinen zurück. Man blickte von dem Fenster in einen morgenländischen Garten, mit Mandelbäumen und dergleichen, trotz aller künstlichen Bewässerung alles von der Hitze verwelkt, verdorrt. Eben der Winter in jener Gegend. Das heißt, man hatte sonst diesen verwelkten Garten erblickt. Jetzt sah Lord Churchill eine winterliche Landschaft mit nordischen Nadel— und anderen Bäumen, alles schneebedeckt, der Schnee lag fußhoch auch auf dem Fenstersims. Und nicht etwa, daß man dies nur durch die Scheiben sah. Lord Churchill durfte auch das Fenster öffnen, bittere Kälte schlug ihm entgegen, er konnte den Schnee greifen, Bälle daraus formen. Freilich hatte das seine Grenzen. Diese waren dort gezogen, wo sich die Fensterscheiben befunden hatten, jetzt also zwischen den Fensterrahmen. Nur wenn er den Kopf oder die Hand über diese Grenze hinaus streckte, empfand er die Kälte. Ins Zimmer selbst drang sie nicht. Und der Schneeball verschwand in seiner Hand, sobald er sie über diese Grenze zurückzog.

Als der Schah von dem Derwisch verlangte, er solle den englischen Gast auch hinausführen, ihn in dem Schnee herumwaten lassen, sagte jener, daß er dies zwar könne, aber es würde ihn zu sehr anstrengen, er weigerte sich entschieden, wofür der arme Kerl dann auch noch eine Tracht Prügel erhielt. Das konnte also nicht ausgeführt werden, und dieser Derwisch war zur Zeit in Teheran der beste Illusionist.

Lord Churchill begab sich hinaus und fand prompt den verdorrten morgenländischen Garten. Wieder zurück von diesem Fenster aus war wieder die Winterlandschaft zu sehen. Leute, die in den Garten geschickt wurden, waren nicht zu erblicken. Gegenstände, die sie von unten in dieses Zimmer der ersten Etage werfen mußten, kamen plötzlich wie von unsichtbarer Hand geschleudert hereingeflogen. Lord Churchill nahm sein Taschenmesser, schrieb auf die Elfenbeinschale seinen Namenszug und die gegenwärtige Uhrzeit bis zur Sekunde, warf es hinaus, sah es etwas in den Schnee einsinken, schnell hinaus und hinab, die Uhr in der Hand — er fand das Messer auf dem Gartensand liegen.

Jetzt berechnete er, noch im Garten selbst, die Stelle, wo ein großer Baum mit dickem Stamm stand, wie er dann zu werfen habe, begab sich ins Zimmer zurück, nahm eine Porzellanfigur, schleuderte sie nach der betreffenden Richtung, wo jetzt aber nichts mehr stand.

Den Erfolg will Churchill nicht richtig gesehen haben. Die Figur schien wie in der Luft zu verschwinden. Wie er wieder unten war, fand er die Porzellanfigur zerschmettert an dem Baum liegen. Von dem Zerbrechen war nichts zu hören gewesen.

Dann wollte der Lord auch zum Fenster hinaus und an einer Leiter hinab klettern, aber ehe diese kam, erklärte der Derwisch, daß ihn seine Kraft verlasse, und die Winterlandschaft verwandelte sich im Nu wieder in den morgenländischen Garten. Der arme Kerl nahm als Lohn für seine Bemühungen dankend eine Bastonade auf seine Fußsohlen in Empfang. So berichtet Lord James Churchill in seinen »Erinnerungen an Persien«. Es wäre geradezu töricht, zu glauben, daß dieser Mann dem Publikum etwas habe vorflunkern wollen. Hätte er lügen wollen, dann hätte er auch noch etwas ganz anderes zusammenlügen können. Außerdem gibt es tausende von Menschen, die im Morgenlande noch ganz andere Illusionen gesehen haben, und zu diesen gehöre auch ich.

Wir Abendländer kommen erst jetzt auf den Standpunkt, daß wir wieder — diese Ära ist schon einmal dagewesen, es gibt nichts Neues unter der Sonne, es ist eine ewige Wiederholung — an Magie zu glauben beginnen. Daß es Seelenkräfte gibt, die in jedem Menschen unbewußt schlummern, die sich ausbilden lassen, so daß sie sichtbare Effekte erzielen. Das zeigt die heutige Anerkennung des Hypnotismus durch die Wissenschaft. Über den man noch vor 25 Jahren in keiner gebildeten Gesellschaft sprechen durfte, ohne ausgelacht zu werden. Das zeigt auch der Spiritismus, dessen Phänomene ebenfalls auf unleugbaren Tatsachen beruhen. Man darf nur keine Religion daraus machen. Aber das ist es eben, was die Menschen nun einmal nicht lassen können. Und das haben alle Religionsstifter, die doch gewiß kluge, weitsichtige Köpfe waren, im voraus gewußt, weswegen sie jegliche »Zauberei« streng verboten, Moses, Buddha, Zoroaster, Mohammed.


»So wäre dies alles gar keine Wirklichkeit?« fragte ich, nachdem Merlin den Vergleich mit Vater Abdallahs Gaukeleien gezogen hatte.

»Für Dich ist es Wirklichkeit, gewiß.«

»Kann ich hier in Texas eine Blume pflücken und sie mit hinüber nach Sibirien nehmen?«

»Selbstverständlich kannst Du das, oder es wäre doch keine Wirklichkeit.«

»Es gibt hier doch auch Tiere.«

»Alle die Tiere, welche nach Texas gehören.«

»Wir können sie mit nach dem nordischen Tal hinüber nehmen, tot oder lebendig?«

»Sicher. Fangt Euch Pumas und Panther und zähmt sie, woran Ihr ja so große Freude habt — fangt Euch Mustangs und reitet sie zu, falls Euch das nicht bei den Kulans und Tarpans gelingt, die Ihr noch in Sibirien finden werdet. Nennst Du dies alles keine Wirklichkeit?«

Ich machte eine Pause, versank in Gedanken, bis ich mich wieder emporraffte, mit einem Körperruck.

»Mann, den ich mit Du anrede, weil Du kein zeremonielles Sie kennst — Du willst doch nicht behaupten, daß Du uns hier wirklich, wenn wir die 30 Meter lange Eishöhle passieren, nach der anderen Hälfte der Erdkugel nach Texas versetzen kannst?«

Über das ernste und doch so überaus gütige Gesicht des jugendlichen Greises huschte ein Lächeln.

»Nein, das behaupte ich nicht, und Du verlangst überhaupt viel von mir, Freund, wenn Du so etwas für möglich hältst. Dann müßte ich Gott selbst sein, der aber auch nicht gegen die von ihm einmal bestimmten Gesetze verstößt. Nein, es ist nur eine Theaterdekoration die ich hier für Euch aufgestellt habe, daß Ihr Euch ergötzen könnt, aber keine aus Pappe und Leinewand, überhaupt nicht aus materieller Substanz, sondern es ist eine geistige Dekoration, der nur scheinbar reelle Wirklichkeit verliehen ist, aber so, daß ein Mensch sie mit seinen fünf irdischen Sinnen nicht von der Täuschung unterscheiden kann.

Eine andere Erklärung kann ich Dir nicht geben, Freund, Du würdest mich nicht verstehen und wenn ich nicht wüßte, daß Du derjenige bist, der sich hieran genügen läßt, was auch von allen Deinen Gefährten gilt, weil Du auch ihr geistiger Führer bist, so hätte ich für Euch gar nicht dieses Reich der Illusion geöffnet, hätte Euch nur auf jenes Tal beschränkt.

Nur noch eine einzige Andeutung will ich Dir machen, um Dich auf den Weg zu lenken, wie dies alles zu erklären ist. Denn nach einer Erklärung zu suchen, das soll Euch ja gar nicht vorenthalten sein, oder Ihr wäret keine denkenden Menschen. Hast Du schon einmal etwas von Bewußtseinsebenen gehört, die sich gegenseitig durchdringen?«

Ja, von dieser okkultistischen Lehre hatte ich schon gehört, von der irdischen Ebene, der Astralebene, der Devachanalebene, und so weiter, die sich gegenseitig durchdringen, ohne daß ihre Bewohner etwas davon merken. So daß jetzt vielleicht hier in meinem Zimmer, in dem ich einsam sitze und schreibe, ein astrales Meer brandet‚, auf dem Bewohner dieser Astralebene um ihr Leben ringen, oder ich werde von einem astralen Kaffeekränzchen durchdrungen, in diesem Augenblick wird mir ein Kaffeelöffel durch den Kopf geschoben, und ein Mitglied dieser Gesellschaft wird ausgelacht, weil es die Behauptung aufgestellt hat, daß es vielleicht noch eine andere Bewußtseinsebene gibt, die ihre Ebene durchdringt, von »Geistern« bewohnt — die also wir Menschen sind, deren Existenz jene anderen Wesen leugnen.

Wer es fassen kann, der fasse es. Ich kann es fassen. Und nicht nur intuitiv, ahnungsvoll. Denn ich sehe Korrespondierendes mit vollem Bewußtsein. Ich sehe, wie sich die Ätherschwingungen des Lichtes, die Luftschwingungen des Schalles gegenseitig durchdringen, ohne einander zu stören. Weiter will ich mich hierüber nicht auslassen.

So hatte ich auch jetzt meine Ansicht über diese verschiedenen Bewußtseinsebenen, auf deren eine wir uns im Traume bewegen, mit kurzen Worten ausgesprochen.

»Und so ist es auch. Wenn Du dafür auch nicht die richtigen Worte findest, nicht finden kannst, weil wir Menschen für das, woraus es ankommt, gar keine Worte haben, so wenig wie man eine Farbe definieren kann. Ich fragte deshalb, ob Du etwas von diesen verschiedenen Bewußtseinsebenen weißt, weil ich Euch noch auf etwas vorbereiten wollte. Daß Ihr dann nicht etwa tiefsinnigen Gedanken nachhängt, die schließlich zum Trübsinn führen können. Doch das ist ja bei Euch ausgeschlossen. Oder Ihr wäret mir gar nicht zugewiesen worden. Immerhin, ich muß Euch noch auf etwas vorbereiten.

Diese Höhle hier werde ich wieder verschließen. Den Ausgang nach dieser Bewußtseinsebene, meine ich. Ihr werdet dort, wo Ihr Quartier genommen, mehrere Türen finden, dicht nebeneinander liegend. Jede führt in eine andere Bewußtseinsebene. Zwar von demselben Grade, auf derselben Stufe liegend, aber doch immer etwas anderes bietend. Kurz gesagt: durch die eine Tür werdet Ihr etwa in eine sonnenverbrannte afrikanische Wüste treten, durch die zweite Tür, dicht daneben liegend, kommt Ihr in eine nordische Gebirgsgegend mit Gletschern. Diese beiden Ebenen durchdringen sich also. Auch die Menschen, die sich darin bewegen, durchdringen einander. Verstehst Du?«

Es war gar viel, was man mir da aufpackte, aber ich verstand. Weil ich eben in dieser Hinsicht schon gewappnet war. Obgleich ich nicht glaube, daß es die Seelen von Verstorbenen sind, welche mit dem Tischbein das Alphabet klopfen und sonstige Allotria treiben, nicht einmal morsen können. Weil ich mich dazu zu hoch einschätze.

»Gut, ich verstehe, und auch meine Jungen werden es verstehen, nicht neugierige Fragen stellen, wenn sie sich gegenseitig durch den Bauch kriechen, sonst bläue ich ihnen das Verständnis für solch ganz einfache Vorgänge mit der neunschwänzigen Katze ein. Nur eine Frage habe ich noch.«

»Frage!« lächelte der gelbe Mann.

»Wenn ich nun durch solch eine Tür in eine andere Bewußtseinsebene, in eine andere Welt trete, und ich habe gerade tüchtigen Hunger, und ich fülle mir in jener anderen Welt den Magen, und ich kehre nach einiger Zeit zurück in die normale Ebene — bin ich dann auch wirklich gesättigt? Oder klappt dann mein Magen unter unwilligem Knarren wieder wie ein leerer Strick zusammen?«

Da zeigte es sich, daß dieser geheimnisvolle Mann, der er doch war, nicht nur gütig lächeln, sondern auch herzlich lachen konnte. Ich wußte erst gar nicht warum. Mir war es mit meiner Frage höllisch Ernst gewesen.

»Aber gewiß doch! Es ist nicht etwa nur ein Traumzustand, in den Ihr versetzt werdet, und auch die Zeit geht regelrecht weiter.«

»Na dann ist es ja gut. Dann kannst Du uns vorgaukeln, was Du willst. Wenn es nur in dieser Hinsicht nichts an Realität einbüßt.«

Plötzlich wurde das lachende Gesicht wieder sehr ernst.

»Nein, Ihr sollt nicht das geringste an Realität vermissen. Und das ist es eben, wovor ich Euch noch warnen habe. Wenn einer von Euch in solch einer anderen Welt seinen Tod findet, so ist er auch wirklich tot, also nicht etwa, daß er dann in das Tal zurückgebracht, wieder lebendig würde. Ihr werdet einen Toten zurücktragen.«

»Das ist sehr schade!« sagte ich, wohl so trocken, daß Juba Riata, der in einiger Entfernung im Grase saß und mit einem Messer seine Tabakspfeife auskratzte, ein kurzes Lachen ausstieß.

»Werden wir hier Tote zu beklagen haben?«

»Willst Du es wirklich wissen?« lautete die tiefernste Gegenfrage.

»Nein!« besann ich mich schnell eines anderen.

»Ich würde Dir den Schleier der Zukunft auch nicht lüften. Also Ihr seid gewarnt! Ich kann Euch wohl in Gefahr beistehen, aber nicht ein böses Schicksal von Euch wenden. Ich bin nicht Herr des Schicksals. Hast Du sonst noch Fragen?«

Ja, da ich diesen Zaubermenschen nun einmal wieder vor mir hatte, wollte ich auch noch mehr fragen.

»Ist jenes Tal dort drüben durchaus reelle Wirklichkeit?«

»Ja, es liegt auf der irdischen Ebene, es wird sich darin also auch nichts andern, so weit es nicht mit der Natur im Einklange steht.«

»Die Eisgrotte?«

»Gehört mit zu dem Tale. Es ist eine dynamische, wie Du gleich ganz richtig erkannt hattest. Ihr werdet auch noch andere merkwürdige Gebilde finden, die mit zu dem Tale gehören.«

»Was für Gebilde?«

»Suchet danach.«

»Werden wir in den anderen Welten auch auf Menschen stoßen?«

»Nein. Wohl könnte ich es arrangieren, aber die Sache würde zu kompliziert, für mich wie für Euch. Ebenso rate ich Euch nicht immer den Sonnenstand zu berechnen, Euch nicht danach zu richten, denn da können unvermeidliche Irrungen vorkommen.«

»Gut, wir werden uns um Sonne und Gestirne gar nicht kümmern, wenn sie uns nur leuchten. Werden wir in dem Tale selbst auf andere Menschen stoßen?«

»Suchet danach, oh Ihr welche findet!« lautete wiederum die ausweichende Antwort.

»Mister Price O'Fire sagte, daß wir in Sibirien die Schätze des Flibustierkapitäns wiederfinden würden, auf die wir ein größeres Anrecht haben als jener Teufelskapitän, der noch leben soll und den wir noch zur Strecke bringen sollen.«

»Wenn dieser Price O'Fire Euch so weit die Zukunft enthüllt hat, was er auf seine eigene Verantwortung nehmen muß, so wird es sich wohl erfüllen. Ich weiß davon, aber ich spreche nicht darüber. Sonst noch etwas?«

»Nicht daß ich gleich wüßte.«

»So kommt, ich verschließe den Ausgang dieser Höhle wieder, und das für immer, und Ihr habt noch einen weiten Weg zu Fuß zu machen, woran ich jetzt auch nichts ändern kann.«

»Könnten wir nicht auch den Weg durch diese texanische Prärie nehmen, immer die Felswand entlang?«

»Ihr könntet es wohl, aber tut es nicht. Ihr sollt fernerhin diese fremden Gebiete nur noch durch die Eingänge aus Eurem Quartier betreten. So geht jetzt durch die Höhle in das Tal zurück.«


86. KAPITEL.
ABENTEUER AUF DEM RÜCKWEGE.

Wir gehorchten der Aufforderung. Mir war es schon deshalb lieb, weil mir bereits unter meinem Pelzkostüm das Wasser am Leibe herablief, ich hätte mich der warmen Kleidung entledigen müssen und war darunter für einen längeren Marsch durch die Prärie nicht eingerichtet.

Als wir mit wieder brennenden Benzinlampen die Ecke passiert hatten, drehte ich mich um, in der Meinung, hinter mir Merlin zu erblicken. Als dies nicht der Fall war, kehrte ich noch einmal um, vielleicht schon von einer kleinen Ahnung erfaßt.

Richtig, die gelbe Gestalt war nicht mehr zu sehen aber das war das Wenigste, was ich vermißte — ich blickte jenseits der Ecke auch nicht mehr in die sonnige Prärie mit ihren Waldinseln, sondern das Licht meiner Lampe, durch einen Reflexspiegel verbreitert, erleuchtete eine Grotte mit nackten Wänden ohne Ausgang!

Also nicht etwa, daß nur vor den zweiten Teil des rechtwinkligen Höhlenganges jetzt eine Wand geschoben worden wäre, sondern jetzt war hier eine geschlossene Grotte von wenigstens zehn Metern Durchmesser, die bei unserem ersten Passieren und auch bei dem Rückweg überhaupt gar nicht vorhanden gewesen war!

Mein Ruf brachte schnell Peitschenmüllern an meine Seite. Der machte natürlich ebenso große Augen wie ich.

»Sollten wir denn das alles mit der texanischen Savanne nur geträumt haben?!«

»Ja, Juba, das ist eine Frage! Sollte es uns in dem Augenblick, da wir diesen zweiten Teil der Hölle betraten, so ergangen sein, wie wenn wir das schwarze Kabinett von Vater Abdallah betreten, daß wir in demselben Augenblick in einen Traumzustand kommen? Haben wir vielleicht hier eine halbe Stunde lang schlafend am Boden gelegen? Oder dabei auf zwei Beinen gestanden?«

»Ich mußte es für Wirklichkeit halten.«

»Ich auch. Aber das muß man im schwarzen Kabinett ebenfalls, alles für Wirklichkeit halten, was einem da Vater Abdallah zu suggerieren beliebt.«

»Ach, lassen wir die dumme Geschichte, zerbrechen wir uns doch nicht den Kopf!« meinte Müller verdrießlich, sich gleich wieder umdrehend. »Wir werden ja sehen, ob wir solche Türen finden oder nicht.«

Die Folge davon war, daß wir den anderen nichts von diesem unseren Abenteuer, ob nun erlebt oder erträumt, erzählten, das machten wir gleich jetzt aus, und daran änderte sich auch nichts, als draußen im hellen Tageslichte Peitschenmüller an seinen Stiefelsohlen und in der Pelzkleidung frische Grashalme fand, die unmöglich in diesem winterlichen Tale wuchsen.

Wir schlugen uns diese ganze Sache vorläufig aus dem Kopfe.

Der Wisent lag noch an seiner alten Stelle, ganz still, begann sich erst wieder zu wälzen und gegen seine Fesseln zu wüten, als er unser Kommen bemerkte.

Es war gleich vier Uhr, und da wir zu der Schlittenfahrt eine Stunde gebraucht hatten, ohne uns aufzuhalten, so mußten wir wenigstens zweieinhalb Stunden tüchtig marschieren, wir erreichten unser Quartier also nicht vor Anbruch der Nacht.

Peitschenmüller hätte ruhig bei seinem Wisent bleiben können, aber er wollte nicht, und nicht etwa, daß er um mich besorgt gewesen wäre.

»Der Büffel muß unbedingt eine ganze Nacht mit seinen Gedanken allein bleiben, darf keinen Menschen wittern, und dazu mußte ich mich so weit entfernen, daß ich ihn nicht kontrollieren könnte. Außerdem brauche ich verschiedenes Riemenzeug, das ich unbedingt selbst auswählen muß.«

So traten wir zusammen den Rückweg per pedes apostolorum an. Und diese Fußwanderung war uns in gewisser Hinsicht viel günstiger als die Fahrt im Hundeschlitten, die immer von einem ganz gehörigen Spektakel begleitet wurde. Wir bekamen jetzt viel mehr Wild zu sehen, das sonst schon das Schleifen der Schlittenkufen auf fabelhaft weite Entfernungen hörte — wie wir später noch konstatierten — wozu auch die starke Ausdünstung der Hunde kommen mochte, und es waren die Vettern ihres Erbfeindes, des Wolfes, so daß die Tiere schon in einer Entfernung flohen, daß man sie zwischen den Bäumen überhaupt niemals zu sehen bekam.

Jetzt, wie wir geräuschlos durch den Wald schritten, erblickten wir geradezu zahllose Renntiere und Hirsche aller Art, deren massenhaftes Vorkommen in diesem Tale wir bisher weniger aus den Spuren, da hierzu der Schnee zu hart gefroren war, als aus ihrer Losung hatten ahnen können. So ohne weiteres wären wir freilich niemals zum Schusse gekommen, so weit unsere Büchsen auch trugen. Wir hätten uns immer regelrecht anschleichen müssen. Sobald wir die Tiere erblickten, wußten sie sich auch schon wieder unsichtbar zu machen. Dabei brauchte man gar nicht anzunehmen, daß sie hier schon mit dem Menschen und seinen Mordwaffen Bekanntschaft gemacht hatten. Es genügte schon, daß sie vom Wolfe gejagt und von Luchs und Vielfraß belauert wurden, dann trauten sie auch dem fremden Wesen nicht viel zu, das aufgerichtet auf zwei Beinen ging, es kam überhaupt der natürliche Instinkt hinzu.

Immerhin, jetzt erst merkten wir richtig, sahen es mit eigenen Augen, in was für einer wildreichen Gegend wir waren, und daß dieses Tal kein Paradies, kein Park war, in dem das Wild gehegt und gepflegt wurde, so daß man es bequem auf kurze Entfernung hin nieder knallen konnte, das war uns, wie schon gesagt, nur sehr angenehm. So wurden wir hier auf unsere Jagdfertigkeit geprüft. Nur wer stundenlang ein scheues Wild verfolgen oder sich unter den größten Anstrengungen, immer das Terrain und den Wind beobachtend, anschleichen muß, oder wer die ganze Nacht auf dem Anstand sitzt, regungslos allen Unbilden der Witterung trotzend, nur der kann sich dann doch der Jagdbeute wirklich erfreuen. Nur dann wird die Jagd wirklich zum edien Waidwerk.

Da sauste in einer Entfernung von tausend Schritt eine Herde großer Tiere durch den Wald.

Ich sage tausend Schritt, um die größte Entfernung anzugeben auf die man hier zwischen den Bäumen, wenn auch fast alles Unterholz fehlte, überhaupt etwas erblicken konnte.

Ich hatte nur schattenhaft große Tiere gesehen, größer als Rens und die bisher gesichteten Hirsche, ich konnte höchstens an Elche denken, Juba Riatas leuchtende Adleraugen aber hatten gleich noch mehr unterscheiden können.

»Das waren Pferde mit Eselsschwänzen!«

»Dann sind es Kulans gewesen!« konnte ich nun auch gleich sagen.

»Kann man die zähmen und zureiten?« war des ehemaligen Cowboys nächste Frage die er sofort stellte

Er hätte Gelegenheit genug gehabt, sich über die Tiere Sibiriens zu orientieren, wir hatten Brehms »Tierleben« an Bord und auch andere Spezialwerke über dieses Land, und ich hatte meine Jungen schon so weit gebracht, daß sie, ehe sie in eine ihnen neue Gegend kamen, diese Bücher auch benützten, wenn sie es nicht von jeher von selbst getan hatten.

Juba Riata tat es nie. Nicht, daß er ein Bücherverächter gewesen wäre, sondern er hatte keine Zeit dazu, er war wohl der vielbeschäftigtste Mann bei uns an Bord, er ging ganz in unserer immer größer werdenden Menagerie auf, nicht etwa nur mit Dressuren, sondern da gab es noch tausenderlei anderes zu beobachten und zu besorgen, und daß unter diesen Tieren, aus den verschiedensten Weltgegenden stammend, an Bord eines Schiffes immer aus einem Klima ins andere kommend, niemals eine Seuche ausbrach, daß überhaupt ihr Gesundheitszustand immer ein so vorzüglicher war, das hatte man nur diesem rastlosen Manne zu verdanken, der deswegen überhaupt wohl niemals in ein Bett oder eine Koje kam.

Ich denke hierbei an den alten Renz, der mehr als 40 Jahre lang Zirkusdirektor gewesen ist, und während dieser ganzen Zeit, nachdem er von früh 7 bis abends 11 tätig gewesen war, noch in seinem siebzigsten Jahre, wohl keine Nacht, wie seine Mitarbeiter versichern können, in einem richtigen Zimmer geschlafen hat. Immer mußte sein Feldbett in der Box eines kranken Pferdes aufgeschlagen werden, damit er selbst dem Tiere die Umschläge erneuern, oder ihm stündlich die vorgeschriebene Medizin einflößen konnte. Und in solch einem großen Marstall gibt es doch immer ein verschrammtes oder innerlich krankes Pferd. Auf diese Weise bringt man einen Zirkus hoch. Auf diese Weise wird man vom armseligen Jahrmarktsgaukler zum Millionär! Aber daran denkt wohl niemand im Publikum, wenn er den Stallmeister oder Direktor einige Dutzend Pferde in freier Dressur vorführen sieht. Und als eines Abends im Hamburger Zirkus in der Manege ein Panneauschimmel, also ein Pferd mit Matratzensattel, auf dem jemand stehend reitet, unglücklich stürzte und sich gleich das Genick brach, sofort tot war, und als der alte Renz herbeigeeilt kam und sich weinend und jammernd über den toten Gaul warf und ihn immer wieder küßte, da hielt man das für eine ganz unangebrachte sentimentale Mache. Weil niemand ahnte, daß der noch so stattlich aussehende Schimmel, der »Hippolyt« schon mehr als 30 Jahre alt war, daß auf ihm der alte Renz noch als junger Mann selbst geritten war, auf dem Jahrmarkt unter dem elenden Leinwandzelt. Den alten »Hippolyt« ließ er nur deshalb noch arbeiten, weil das Tier eben sonst krank wurde, aus beleidigtem Ehrgefühl, wenn es nicht noch jeden Abend den Panneausattel aufgeschnallt bekam, nicht in der Manege nach den Klängen der Musik tanzen konnte. Vielleicht war es auch ganz gut, daß Juba Riata keine solchen Bücher las. Sonst hätte er sich vielleicht so weit entmutigen lassen, gar nicht erst den Versuch zu machen. Denn nach Brehm und allen anderen Sachverständigen ist es noch niemals gelungen, einen Kulan zu zähmen, von einem Zureiten gar nicht zu sprechen. Was sich auch zumal Kirgisen schon für Mühe gegeben haben.

Ein erwachsener Kulan ist lebendig gar nicht zu bekommen. Das ungemein scheue Tier spottet dem schnellsten Kirgisenpferde, dabei im Gebirge nicht nur wie eine Ziege, sondern wie ein Steinbock kletternd. In gelegte Schlingen und Fallen geht er absolut nicht. Nur durch rossige, zahme Stuten läßt er sich anlocken und muß eine tödliche Kugel bekommen. Nur angeschossen, rennt er so weit, bis er verendend zusammenbricht. Ab und zu wird ein von der Herde versprengtes Füllen gefangen. Es wird so weit zahm, daß es aus der Hand seines Pflegers frißt, auf seinen Ruf herbeikommt, eben in der Hoffnung, etwas zu fressen zu bekommen. Weiter geht es nicht. Und wenn es älter wird, beißt und schlägt es auch seinen Pfleger. Außerdem kann es nur in seiner Heimat existieren, die ja allerdings groß genug ist. Hier scheint seine Gesundheit unverwüstlich zu sein. Hier stürzt es sich nach stundenlanger Flucht durch die sonnenverbrannte Steppe schweißbedeckt in den eisigen Gebirgsstrom, es schadet ihm nichts. Aber es verträgt eben nur das Klima seiner Heimat. Entweder sehr kalt, oder sehr heiß. Worüber ich noch später sprechen werde. In Deutschland reicht ein einziger naßkalter Tag, wie wir ihrer so viele im Frühjahr und Herbst, aber auch im Winter und Sommer haben, hin, um den Kulan zu ruinieren. Er die kommt sofort die Klauenseuche, oder eine ähnliche Krankheit, das Horn des Hufes schält sich in großen Stücken ab, daran geht er ein.

Meines Begleiters Adlerauge hatte gleicht das Richtige erkannt, während ich nur Schatten gesehen hatte.

»Pferde mit Eselsschwänzen!« hatte er gleich gesagt.

Was wir können, kann die Natur doch auch. Sie kann sogar noch vielmehr, indem sie als echten Wildling ein Mittelding zwischen Maultier und Maulesel hervorgebracht hat.

Der Kulan gleicht ganz einem Pferde, hat also auch kurze Ohren, aber den Schwanz eines Esels. Der Größe nach gleicht er einem stattlichen Maultiere ist, aber weit graziöser, könnte recht gut einen ziemlich gewichtigen Reiter tragen und wohl auch mit diesem alle anderen Arten seiner Gattung an Schnelligkeit und Kletterkunst übertreffen. Wenn eben seine Zähmung möglich wäre.

»Ich werde solch ein Tier fangen und zureiten!« sagte Peitschenmüller, ohne meine Antwort abzuwarten, und ich hätte ihm auch keine Belehrung zuteil werden lassen. Nur den Namen hatte ich ihm genannt. Bei den Kirgisen heißt der Kulan aber Tischiggetai, zu Deutsch »Langohr«, weil seine Ohren doch ein klein wenig länger sind als die der Pferde.

Schon wollten wir den Marsch fortsetzen, als ein eigentümliches klagendes Schreien in unser Ohr drang.

»Das ist ein Füllen dieser Kulans,« sagte Juba Riata sofort, »so schreit ein Pferd unter einem Jahre in Todesangst, wenn es auch anders klingt als von einem Pferde oder Esel.«

Hast Du, lieber Leser, schon einmal ein Pferd in Todesangst oder Todesschmerz schreien hören? Es klingt ganz fürchterlich, hat mit dem gewöhnlichen Wiehern nichts mehr gemein. Aber es ist ein Unterschied, ob ein erwachsener Mann oder ein kleines Kind vor Schmerzen brüllt. Das hier war mehr ein klägliches Quieken zu nennen.

Wir hin, wo das wiederholte Schreien erklang, die Büchsen entsichert, denn wir dachten an ein großes Raubtier, an einen Bären oder an Wölfe, obgleich wir von diesen letzteren hier noch keine Spuren und keine Losung gefunden hatten.

Nicht lange, so erblickten wir die Szene.

Ein junges Füllen von der Größe eines Rehes mochte gar zu übermütige Sprünge gemacht haben, es hing mit dem einen Vorderfuße in dem Gabelste eines Bäumchens, machte die verzweifeltesten Versuche sich zu befreien, so kläglich zu schreien fing es wohl jetzt erst an, nachdem es uns gewittert hatte.

Aber was war das?

Wir hatten natürlich nur an ein Füllen jener Kuhherde gedacht.

Aber dieses Tierchen hatte einen regelrechten Pferdeschwanz!

Ein Tarpan!

Daß solche hier vorkamen, hatte schon Merlin uns gesagt.

Das verriet wiederum, daß der Winter in diesem Tale viel milder sein mußte, als es dem Breitengrade entsprochen hätte, denn wenn der Tarpan auch tüchtige Kälte verträgt, so läuft doch seine nördliche Grenze durch Sibirien auf dem 49. Breitengrade hin, und wir befanden uns auf dem 64., das ist, ein gewaltiger Unterschied!

Der Tarpan ist ein echtes wildes Pferd. Ganz echt insofern, als die Mustangs und Cimmarones Amerikas ja nur die verwilderten Nachkommen von spanischen Pferden sind. Er hat die Größe und Figur eines stattlichen Ponys, kann ebenfalls nicht eingeholt, nur durch List erlegt werden, ist noch weniger zähmbar als der Kulan, beißt und schlägt, sobald er das Jugendkleid abgelegt hat, alles zusammen. Die Kirgisen fürchten ihn mehr als die Wölfe, suchen ihn auf alle Weise wenigstens zu verscheuchen. Fürchten ihn nicht direkt, nicht daß er auf den Menschen los ginge, sondern einmal entführt der von seiner Herde ausgestoßene junge Hengst mit Vorliebe zahme Stuten, und zweitens sind zwei Tarpans imstande, in einer Nacht einen ganzen Heuschober aufzufressen. Was das für ein Quantum ist, weiß ich zwar nicht, aber ich weiß, daß der Tarpan einfach unersättlich ist, er frißt, bis er rund wie eine Kugel ist, und nach zwei Stunden geht die Fresserei schon wieder los. Dafür freilich kann er auch wieder drei Tage und noch länger hungern und dabei in dieser Zeit unglaubliche Strecken zurücklegen.

Das heißt, diese meine Kenntnisse brachte ich Peitschenmüllern jetzt nicht bei, dazu hatte ich keine Zeit. Bei mir fing sofort ein Kampf um die Hose an.

Da kam nämlich hinter einer dicken Eiche schon ein erwachsener Tarpan hervor, die Mutterstute, die ihr Füllen nicht im Stiche gelassen hatte. Nein, angreifen tut der Tarpan den Menschen nicht, aber wenn es seinen Sprößling zu verteidigen hat, dann hat die Gemütlichkeit ein Ende.

Es war nur ein Pony, das auf uns los ging. Aber dieses Pony hatte ganz fürchterlich tückische Augen, hatte die Nase so grimmig gerunzelt wie ein bissiger Köter vor der Hundehütte, und aus dem Maule ragten mächtige Zähne hervor.

So ging das Pony auf uns los.

Man kann mir gewiß nicht den Vorwurf der Feigheit machen. Aber ich will auch nicht von besonderem Heldenmut sprechen, den ich in diesem Augenblicke zeigte. Ich will zu meiner Entschuldigung sagen, daß ich nur deshalb nicht von meinen Schußwaffen Gebrauch machte, weil ich sah, wie Peitschenmüller schon seinen Lasso abwickelte und ich guter Kerl ihm den Spaß, diesen Tarpan lebendig zu fangen, nicht verderben wollte. Glauben tue ich diese meine Entschuldigung ja allerdings selber nicht, aber . . . na kurz und gut, ich suchte an diesem gesegneten Tage mein Heil zum zweiten Male auf einem Baume.

Diesmal aber wäre es mir beinahe traurig ergangen. Dieses Pony hatte die Sache besser weg als der Wisent.

Noch hing ich an dem Aste, schickte mich eben erst an, den Bauchaufschwung zu machen, als ich mich an der Kehrseite dieses Bauches gepackt fühlte, und im nächsten Augenblick fühlte ich an derselben Stelle so eine unangenehme Ventilation, so ein angenehmer, kühler sibirischer Lufthauch umsäuselte die Kehrseite meiner Medaille von keinem Pelze und auch keinem Hemdchen mehr bedeckt.

In demselben Moment brachte ein Schuß. Von Müllers Revolverkugel hinters Ohr getroffen, brach der Tarpan zusammen. Es war auch die höchste Zeit gewesen. Ganz sicher hätte er noch einmal zugeschnappt, und dann hätte ich wohl Zeit meines Lebens nicht mehr sitzen können. Wenigstens nicht mehr auf meinem natürlichen Polster.

Ich will die weitere Angelegenheit dieses Falles gleich jetzt erledigen. Ich verwarf die Lehren des neuen Testamentes, ging wieder zum alten über — »Zahn um Zahn« das heißt ich vergalt Gleiches mit Gleichem. Also nicht, daß ich dem Tarpan nun die Zähne einschlug, das hatte er mir ja auch nicht angetan, sondern jetzt war ich derjenige, der ihm hinten das Fell abschnitt. Dann freilich ging ich in meiner Revanche noch weiter, schnitt auch noch einige gute Stücke Schinken heraus. Schließlich war es gar keine so übertriebene Rache, denn das hatte der Tarpan bei mir doch auch gewollt, hatte sein Vorhaben nur nicht ausführen können, aber der Gedanke ist doch schon Tat.

Jetzt war keine Zeit, mir dieses Roßbeef — diese Schreibweise ist in diesem Falle richtiger als Roastbeef — zuzubereiten und mir zu Gemüte zu führen, so hing ich mir die rohen Schinkenscheiben dann über den Rücken. Dann aber, wie es so weit war, merkte ich, wie sehr recht Peitschenmüller hatte, wenn er nicht sehr viel Achtung gegen naturwissenschaftliche Bücher hegte. Die sibirische Fachliteratur hatte mir nämlich erzählt, daß die Kirgisen vom Tarpan am liebsten die Hinterschenkel essen, weil diese eben das zarteste Fleisch haben sollen. Mir kam diese Sache gleich ein bißchen spanisch vor, aber ich glaubte doch den Herren Zoologen und Ethnologen und Forschungsreisenden und war wieder einmal gründlich hiereingefallen. Oder die Kirgisen müssen ganz andere Zähne als ich und einen ganz besonderen Geschmack haben. Rücken— und Rippenstück des Tarpans fand ich dann später ganz ausgezeichnet, aber dieses Hinterteil war kaum kaubar.

So weit war ich aber noch nicht. Zunächst ging ich, während sich Peitschenmüller mit dem Füllen beschäftigte, daran, meinen dem Tarpan aus den Zähnen gerückten Hosenboden wieder dort einzufügen, wohin er gehörte. Nadel und Zwirn hatte ich als Seemann und Forschungsreisender natürlich bei mir. Dazu mußte ich natürlich meine Pelzhose ausziehen und fror nun ebenso natürlich wie ein junger Hund — oder wie ein Schneider — im Schnee, will ich mich feiner ausdrücken. Immerhin, ich war doch besser daran wie Peitschenmüller. Während ich mich unten verbesserte, verschlechterte der sich oben immer mehr. Als meine Pelzhose wieder heil war, hatte der keinen Pelzrock mehr. Das kleine Teufelsvieh hatte ihm bei seinen Bemühungen, es zu befreien, buchstäblich mit den Milchzähnen den Pelz vom Leibe gerissen, und da war auch gar nichts mehr zu flicken.

Endlich lag es gefesselt am Boden, auch das beißende Kindermäulchen mit Riemen umwickelt. Aber die Fesselung sollte nur eine vorübergehende sein.

»Es darf nicht gefesselt sein, wir dürfen es nicht tragen, es muß unbedingt mit uns laufen, es muß den Willen des Menschen sofort anerkennen, oder ich kann es niemals bändigen!« sagte Juba Riata und löste die um die Füße gewickelten Lederschlingen wieder, nötigte das Tierchen zum Aufstehen, begann zu locken und an dem Lasso zu ziehen.

Ich will es kurz machen, gleich die Pointe verraten. Von hier aus hätten wir bei normalem Marschieren in zwei Stunden in unserem Quartier sein können. Statt dessen haben wir sechs Stunden gebraucht. Sechs ganze Stunden haben wir uns mit dem kleinen Teufelsvieh herumgebalgt. Was wir alles anstellten, um das Tierchen, nicht größer als ein Reh, aber rund wie eine Nudel, Schritt für Schritt vorwärts zu bringen, vermag ich gar nicht zu schildern. Ein störrisches Schwein, das immer rückwärts will, ist nichts dagegen. Kräfte hatte das kleine Ding schon wie ein ausgewachsener Bär. Ich war wirklich manchmal der Verzweiflung nahe. In meinem Galgenhumor machte ich den Vorschlag, ich wolle vorauseilen und den Doktor Cohn holen, er solle es chloroformieren. Oder, ernstlich gesprochen, ich wollte einen Schlitten holen, um es darauf zu transportieren. Aber Peitschenmüller wollte nicht. Es müsse unbedingt mit uns laufen. Und er hatte ja auch ganz recht, sonst hätten wir es ja auch gleich tragen oder auf einer Schleife ziehen können.

»Wenn Sie nicht mehr mitmachen wollen, so gehen Sie voraus und schicken mir ein paar andere Leute zu.«

Das ging gegen meine Ehre, ich beteiligte mich weiter an der Balgerei, und der Vollmond lachte dazu.

»Wie meinten Sie?«

Ich hatte gar nichts gesagt. Mein Magen war es, der so rebellisch knurrte. Ich hatte seit Mittag nichts mehr gegessen, und ich bin doch kein Tarpan, der einen Zentner Heu einnehmen kann, um dann drei Tage zu hungern. Dasselbe galt zwar auch für Peitschenmüllern, aber dessen Magen ging mich nichts an.

Doch wirklich, so gegen zehn Uhr, wir sahen schon den Schein eines mächtigen Holzfeuers, das im Quartier unseretwegen als Wegweiser angezündet worden war, besann sich das Füllen plötzlich eines anderen. Plötzlich ging es ganz artig zwischen uns. Der Wille des Menschen hatte gesiegt. Wenn das nur einige Stunden früher eingetreten wäre.

Wenn die Zurückgebliebenen um unser langes Ausbleiben bis in die späte Nacht hinein, wovon wir nichts gesagt hatten, besorgt gewesen waren, so ließen sie sich doch nichts davon merken, nach uns gesucht worden wäre erst morgen früh und auch nicht so direkt durch eine Hülfsexpedition, und im Quartier herrschte überhaupt eine sehr aufgeregte Stimmung, es mußte auch hier etwas Besonderes vorgefallen sein.

Wir hatten nur ganz kurz über unsere Abenteuer berichten können, was ich übrigens Peitschenmüllern überließ, und der war alles andere als ein Schwätzer, über die Geschichte mit der Höhle und der texanischen Prärie wurde also überhaupt Stillschweigen beobachtet, und dann ging es gleich los!

»Waffenmeister, was wir hier unterdessen gefunden haben?!«

Doktor Cohn war es, der als erster mich anredete.

»Na was denn? Ein Faß mit tausendjährigem Kognak, noch von den Ureinwohnern dieses Tales stammend?«

»Etwas ganz, ganz anderes!«

Dann allerdings mußte es etwas ganz Besonderes sein, was den Doktor Cohn noch in solche Aufregung versetzen konnte.

»Denken Sie nur, wir haben hier . . . «

»Nichts verraten, nichts verraten!« fiel ihm die vorbeigekommene Patronin eifrig ins Wort. »Er muß es selbst sehen! Kommen Sie, Waffenmeister, ich führe Sie gleich hin, es sind nur fünf Minuten . . . «

Fünf Minuten? Hatte die eine Ahnung!

Und wenn ich nur eine Minute gebraucht hätte, um in den siebenten Himmel zu kommen, wo mich 10 000 Huris erwarteten, ich wäre nicht mitgegangen Ich machte mich über die Reste des gemeinschaftlichen Abendessens her, auch gleich die Tarpansteaks in die Bratpfanne legend, fand sie dann ungenießbar, überließ sie dem Eskimo, für den waren sie gut genug, der brauchte ja auch nicht zu kauen, der verschlang sie gleich.

Dann legte ich mich auf die Felle und fing zu schnarchen an.

Der Leser dürfte sich etwas wundern. Nämlich wenn ich sage, daß ich mit keinem Wörtchen gefragt hatte, was die denn unterdessen so ganz Außergewöhnliches hier gefunden hätten. Aber meine Leute und die sonstigen Herr— und Damenschaften wunderten sich nicht. Die kannten mich zur Genüge, wußten, was ich in dieser Hinsicht für ein kurioser Kauz war. Wenn die mir nicht von selbst sagen wollten, was sie entdeckt hatten — gut, ich wurde von keiner Neugier geplagt. Morgen war auch noch ein Tag. Jetzt hatte ich meinen Hunger gestillt und nun war ich müde. Basta.


87. KAPITEL.
NEUE ENTDECKUNGEN.

Die sechsstündige Balgerei mit dem kleinen Teufelsvieh hatte mir einen gesegneten Schlaf gebracht, und da ich mich mit dem Bewußtsein niedergelegt hatte, nicht zu einer bestimmten Zeit aufstehen zu müssen, wachte ich erst auf, als die Sonne schon ziemlich hoch am Himmel stand.

Sie schien durch die unregelmäßige Fensteröffnung in die Felsenkammer, die ich mit den männlichen Hauptpersonen unserer Expedition als Schlafzimmer geteilt hatte. Außer mir war niemand mehr da. Durch das Fenster blickte ich auf den See und Umgebung, sah ebenfalls niemanden. Nur einige Dutzend Hunde waren am Strande des offenen Wassers eifrig mit Fischen beschäftigt. Das haben diese Köter ausgezeichnet weg. Jeder Fisch, der sich in erreichbarer Nähe des Ufers an der Wasseroberfläche zeigt, ist verloren, wird mit einem blitzschnellen Prankenschlag aufs Trockene geworfen. Freilich wimmeln alle diese sibirischen Gewässer geradezu von Fischen. Deshalb gehen diese Hunde, die sonst so selbstständig sind, niemals auf andere Wildjagd, so lange Wasser in der Nähe ist, und man braucht ihnen nur ein Loch ins Eis zu hacken, dann ernähren sie sich selbst.

Ich befand mich nach dem mehr als zehnstündigen Murmeltierschlaf in einer wunderbaren Stimmung. Wie ich mir ausrechnete, war heute Sonntag. Ja, so eine richtige Sonntagvormittagsstimmung. Dieser Ausblick nach dem See, in den schneeglitzernden Wald, diese Stille — es war auch gar zu schön.

Meine Sonntagstimmung wurde noch feierlicher, ich hörte in meinen geistigen Ohren gewissermaßen schon die Kirchenglocken läuten, als ich gleich nebenan auch noch den Proviantraum und die Küche fand, alles erst provisorisch eingerichtet.

Ich öffnete eine Zweipfunddose echt bayrische Steinpilze, im eigenen Saft eingekocht, setzte sie in einem Topfe auf unserem Patentpetroleumofen an, von dem aber nur noch eine Flamme funktionierte. Es war auch noch ein Spiritusofen vorhanden, der aber natürlich wieder leer war, und den Spiritusvorrat fand ich nicht. Es war überhaupt eine heikle Geschichte mit diesem Spiritusofen. Wenn man ihn frisch gefüllt hatte, so brauchte man ihm nur den Rücken zu wenden, dann hatte ihn Meister Bärtchen sicher ausgesoffen. Der Samojede liebte nämlich denaturierten Brennspiritus über alles.

Also ich mußte mich mit der einzigen Flamme des Petroleumofens begnügen, wollte aber zum »Morgenkaffee« doch noch etwas anderes haben als nur bayrische Steinpilze. Nach einigem Nachdenken wählte ich eine Pfunddose mit gerollter Rindszunge, wischte sie fein säuberlich ab, machte oben in den Deckel vorläufig nur ein Löchelchen hinein und packte sie so zwischen die Steinpilze. Auf diese Weise wird der Inhalt am schnellsten warm, schneller, als wenn man den ganzen Deckel abmacht. Dann entkorkte ich noch eine halbe Flasche Chateau Lafitte — man sieht, wir lebten im traurigen Sibirien nicht schlecht — fand den Wein zu kalt, so packte ich auch diese Flasche zwischen die Steinpilze, um sie etwas anzuwärmen.

Inzwischen brannte ich mir eine Pfeife an. Nicht lange währte es, so gab es einen Knacks, und wie ich, das Unglück schon ahnend, die Flasche aus den Pilzen nahm, fand ich sie leer, sie hatte auch unten eine Öffnung bekommen, der Boden war abgesprungen, meine Steinpilze schmorten in Chateau Lafitte. Na‚ das sollte mich nicht stören, in ein und denselben Magen kam ja doch alles.

Wieder nicht lange, und durch die Küche zog ein säuerlicher Geruch. Meine Pfeife wars nicht, die so sauer stank. Ich rauchte sogar Honeydew, mit Honig getränkten Tabak. Dort das Löchelchen in der Fleischbüchse schien es zu sein, aus der der saure Duft kam. Ich ging der Sache auf den Grund — richtig, die Affen in der Hamburger Konservenfabrik hatten wieder einmal die Etiketten verklebt, es waren nicht gerollte Rindszungen, sondern zwei Dutzend gerollte Häringe, marinierte, auch Rollmöpse genannt, die ich wärmte.

Warmen Rollmops mit Steinpilzen in Chateau Lafitte habe ich zwar noch auf keiner Speisekarte gelesen, aber es hat mir ganz ausgezeichnet geschmeckt, ich kann dieses Gericht warm empfehlen. So hatte ich die edle Kochkunst wiederum um eine Erfindung bereichert. Freilich ohne meinen Geist besonders anzustrengen. Wirklich große Erfindungen werden eben nur im Dusel gemacht.

Ich habe hierbei so lange verweilt, um meine behagliche Sonntagsvormittagsstimmung zu schildern, in der ich mich befand. Nun beschloß ich eine Entdeckungsfahrt anzutreten. Oder gleich in bestimmter Absicht: ich gedachte in der Dachkammer ein warmes Bad zu nehmen. Ich halte es nicht für gesund, mit leerem Magen zu baden. Alle Vögel baden sich erst, nachdem sie sich satt gefressen haben. Ich gehöre zwar nicht zu den Vögeln, aber . . . na kurz und gut, ich halte einen leeren Magen überhaupt für ungesund.

Unten vor dem Höhleneingang stand der Matrose Fritz und schippte Schnee, oder sollte doch einen Weg schaufeln — jetzt visierte er mit dem Schippenstiel nach dem blauen Himmel.

»Sind Sie schon wach, Herr Waffenmeister?« begrüßte er mich, seine Visierschippe senkend.

»Na so ziemlich.«

»Wenn Sie wach sind, dann soll ich Ihnen sagen, daß für Sie das Frühstück bereit steht.«

»Wo denn?«

»In der Küche.«

»Wo denn da?«

»Na in der Wärmkiste, Kaffee und Rinderzunge und Steinpilze, alles gewärmt.«

Auf dieser Wärmkiste hatte ich gesessen, als ich meine Kocherei beobachtete.

»Und wenn Sie gefrühstückt haben, soll ich Sie nach . . . dorthin führen, wo die anderen sind.«

»Wo sind denn alle die anderen?«

»Dort, wo ich Sie hinbringen soll. Ich darf nichts verraten.«

Ach so, das große Geheimnis!

»Nur Peitschenmüller ist mit Mister Tabak im Hundeschlitten fort, sie wollen den Wisent holen.«

»Gut, ich werde frühstücken, vorher aber will ich ein Bad nehmen.«

»Wollen Sie nicht vorher frühstücken?«

»Nein, ich halte es für ungesund, mit vollem Magen zu baden.«

Mit dieser ungeheuerlichen Lüge wandte ich mich. Aber ich drehte mich noch einmal um, und ich muß gestehen, daß mir nicht die Schnmröte ins Gesicht getreten ist, als ich jenen wieder anblickte.

»Wo hat Juba Riata das Tarpanfüllen gelassen?«

»Dort steht es ja.«

Da erst bemerkte ich es. Neben dem Eingange zu der großen Höhle befanden sich zu beiden Seiten der Felswand noch kleinere, nur Grotten, nur Vertiefungen, stets erblickte man von draußen die hintere Wand, wir nannten sie Nixchen, und in solch einer stand das Füllen, reckte den Kopf halb heraus, schaute mich neugierig an.

Wie ich sofort bemerkte, war es weder gekoppelt noch angebunden, vor der Nische keine Barriere angebracht.

»Flieht es denn nicht?«

»Juba Riata hat es hyp — hyp — hypnotisiert.«

Es war mir nichts Wunderbares, was ich da von schwerer Matrosenzunge zu hören bekam, was ich beim Nähertreten erblickte. Quer vor der Nische war auf dem schneefreien, schwarzen Boden mit weißer Farbe ein Strich gezogen, der abwechselnd wieder von Querstrichen und Ringen unterbrochen wurde. Diese gemalte Barriere wagte das Tier nicht zu überschreiten, anders konnte man doch nicht annehmen.

Weshalb nicht? War es wirklich hypnotisiert worden?

Ich weiß es nicht.

Aber ich kenne korrespondierende Beispiele genug.

Der nordamerikanische Indianer kennt keine Dressur seiner Pferde. Und doch übt er auf seinen Gaul eine Macht aus, wobei man manchmal an einen geheimnisvollen Zauber glauben möchte. Der Pawnee steigt ab, steckt seine Lanze in den Boden, hängt den Zügel seines Pferdes darüber und entfernt sich. Das Pferd, sonst ein vollkommener Wildling, das seinem Herrn sonst bei jeder Gelegenheit zu entfliehen sucht, bleibt ruhig stehen. Kommt der Pawnee nicht zurück, so verhungert es an dieser Lanze. Es wittert ein Raubtier, es zittert an allen Gliedern, es schreit vor Entsetzen, es wäre ihm doch ein Leichtes, die Lanze aus dem Boden zu reißen, aber es denkt nicht daran, es wird ein Opfer des Raubtieres.

Da möchte man doch wirklich an eine hypnotische Suggestion glauben. Es ist dem nur ein grausamer Dressurakt vorausgegangen.

Das gebändigte Pferd bekommt ein Stachelhalsband, so wird es an der eingerammten Lanze befestigt. Indianerstämme, die keine Lanze führen, legen auch nur einen besonderen Gegenstand an den Boden hin, das Pferd bleibt unerschütterlich daneben stehen. Zuerst will es natürlich fliehen, dann später jagt man es sogar durch Prügel weg, aber es wird durch eine lange Leine festgehalten, das Stachelhalsband zerfleischt es fürchterlich. An diesen Schmerz denkt das Pferd dann später immer, sobald es an der Lanze angehangen wird, oder wenn es nur den betreffenden Gegenstand am Boden liegen sieht, es hütet sich, sich wieder solche Schmerzen zu erzeugen, und daraus wird zuletzt eine Gewohnheit, es muß schließlich wie gebannt neben der Lanze stehen bleiben.

Also könnte man schließlich doch von einer Art von Hypnose sprechen.

Wir müssen nur erst einmal definieren können, was Hypnose und Hypnotik überhaupt ist. Das beste Lehrbuch über Pferde— und Hundedressur ist wohl das von Oberländer, hat auch die meisten Auflagen erlebt, es führt den Titel »Die mnemonische Dressur«. Es sollte richtiger heißen »Mnemotechnisch—hypnotische Dressur«.

Man kann tatsächlich Tiere hypnotisieren, ganz leicht. Man nimmt ein gewöhnliches Huhn, legt es auf den Tisch, drückt den Kopf besonders fest herunter und zieht nun schnell mit Kreide vom Auge an einen Strich über die Tischplatte. Das Hahn verdreht das Auge, schielt nach dem Kreidestrich und bleibt so, losgelassen, stundenlang unbeweglich liegen. Es ist der Meinung, es würde noch festgehalten, durch einen Strick, der sich über seinen Körper spannt, glaubt in dem Kreidestrich die Fortsetzung dieses Strickes zu sehen.

So heißt es. Aber eine Erklärung ist das durchaus nicht. Man hat ja gar keinen Strick angewendet. Es scheint vielmehr ein ganz echter hypnotischer Zustand zu sein, in dem sich das Huhn befindet. Wenn wir nur eben wüßten, was das ist, Hypnose.

Daß das Pferd neben der lose eingesteckten Lanze ruhig stehen bleibt, das ist ihm ja auf eine ganz besondere Weise beigebracht worden, aber man darf doch nicht etwa von einem freiwilligen Gehorsam sprechen, überhaupt nicht. Von beigebrachter Dressur, hier liegt etwas ganz anderes vor. Man möchte es eine mnemotechnische Hypnose nennen.

So werden auch Löwen und Tiger und andere Raubtiere gezähmt und dressiert. Oder vielmehr gebändigt. Von einer richtigen Zähmung ist ja gar keine Rede. Es ist immer nur eine vorhandene Angst, die sie abhält, sich auf ihren Herrn und Meister zu stürzen.

Man wird beobachten, daß der Tierbändiger immer eine rotgefärbte Eisen— oder Holzstange bei sich hat; oder der Stiel seiner Peitsche ist rot gefärbt; oder er hat sonst etwas Rotes bei sich, wenn es das Publikum auch gar nicht merkt. Bleiben wir bei der roten Stange. So bald er diese, nur eine Holzplatte, dem widerspenstigen Tiere vorhält, kriecht es zu Kreuze, flieht in eine Ecke.

Weil das ursprünglich eine rotglühende Eisenstange gewesen ist, mit der sich der Bändiger vor den wilden oder halbwilden Tieren geschützt hat. Zuletzt braucht es nur noch eine rote Farbe zu sein, sie kann auch auf andere Gegenstände übertragen werden, zuletzt auch ganz weggelassen werden. Sobald das Tier den betreffenden Gegenstand sieht, empfindet es auch den früheren brennenden Schmerz.

Aber das rotglühende Eisen war schon vorher mehr eine Angriffswaffe, um sich den Gehorsam zu erzwingen.

Zum Schutze hatte der Dompteur noch ein anderes Mittel.

Man sieht, wie die Raubtiere die Pranken erheben und murrend nach dem Dresseur zucken, ohne wirklich zu schlagen, obgleich sie doch so gern möchten. Das macht, der Dompteur war zuerst mit einem Kostüm bekleidet, das ganz mit feinen Stacheln bedeckt war. Auch solche Handschuhe solch eine Maske vorm Gesicht. Er ist geschützt wie ein ausgerollter Igel. Die Raubtiere verletzen sich empfindlich, wenn sie ihn schlagen. Daran denken sie, wenn sie noch einmal die Pranke gegen ihn erheben, und sie schlagen eben nicht mehr. Durch das glühende Eisen wird er selbst zum Angreifer, wird zum Herrn und Meister.

Das ist die Feuer— und Stacheldressurmethode, die heute nur allein noch angewandt wird. Es gibt oder gab noch andere Methoden. Die holländische. Das Schießen, um die Raubtiere einzuschüchtern, ist heute nur noch ein Knalleffekt, bei der holländischen Methode war es wirklich die Hauptsache. Aber nicht um Knall und Feuerstrom handelte es sich, sondern der Revolver oder die Pistole war nichts weiter als eine Spritze, durch Federdruck spritzte sie gegen das unbändige Tier Ammoniak, Salmakgeist, wenn eine Patrone dabei explodierte, so war das nur eine Verstärkung, das Feuer schlug in einer besonderen Kammer nach oben. Man kann sich denken, was es bedeutet, wenn ein Tier solch eine Ladung scharfen Salmakgeist ins Gesicht bekommt. Es ist sofort blind. Es vergeht ihm Hören und Sehen. Daran denkt es,wenn es dann die Pistole vorgehalten bekommt. Aber es konnte auch für immer blind werden, konnte eingehen. Heute ist das Schießen nur noch eine Effektspielerei.

Jedenfalls sieht man, daß die ersten Dressuren, die man doch wohl für die gefährlichsten hält, wenn der Bändiger die ersten Male den Raubtierkäfig betritt, gerade die ungefährlichsten sind. Da kann gar kein Unglück passieren, so gut wissen sich diese Dompteure zu schützen. Die Gefahr fängt erst dann an, wenn man diese Hilfsmittel wegläßt, nur mit der mnemotechnischen Hypnose rechnet. Denn die kann natürlich einmal versagen.

So ging auch Juba Riata gegen neue Raubtiere vor, mit Feuer und Stacheln, wozu noch Schreckmasken und andere Hilfsmittel kamen. Ich habe etwas aus der Schule geplaudert. Aber das letzte Geheimnis gab er doch nicht preis. Denn da mußte noch irgend etwas anderes vorhanden sein, daß er solche Macht über die Tiere bekam. Offenbar bediente er sich auch der wirklichen Hypnose. Wenn man darunter sich auch nicht vorstellen darf, daß er die Tiere durch Anblicken und Manipulationen einschläferte. Sonst hätte er das doch gleich gestern getan, wir hätten uns nicht erst sechs Stunden mit dem kleinen Teufelsvieh herumzubalgen brauchen.

Jedenfalls aber stand es jetzt frei in der Nische, wagte den weißen Farbenstrich nicht zu überschreiten, wobei doch irgend ein Geheimnis vorliegen mußte.

»Peitschenmüller ist die ganze Nacht bei dem Tiere gewesen!« sagte der Matrose noch. »Wir sollen es nicht anfassen und nicht füttern.«

»Hat es denn etwas zu fressen?«

»Nein, nur eine Pfütze Wasser hat es drin, es soll erst hungern.«

Ich nahm im Dampfraum ein Wannenbad, dann begab ich mich wieder in die Küche und ließ mir mein »erstes« Frühstück schmecken, wenigstens das erste nach Fritzens Meinung, der es mir selbst servierte, also wieder Steinpilze, diesmal aber dazu wirkliche Rindszunge, und anstatt des Chateau Lafitte Kaffee, wie es sich am frühen Morgen gehört.

»Da ist wieder jemand über unserm Proviant gewesen,« murrte Fritz, »natürlich war es Mister Tabak, hat sich Steinpilze gewärmt und dazu eine große Dose Rollmöpse aufgefressen, auf so einen Gedanken kommt doch nur so ein Eskimo, und dabei hat er bei unserem Frühstück wie ein Wolf geschlungen.«

»So ein verfressener Kerl!« machte ich den armen Mister Tabak herunter.

Natürlich hätte ich nicht die geringste Ursache gehabt, meinen Appetit zu leugnen. Aber ich wollte doch dabei sein, wenn sich dann der unschuldige Eskimo gegen den ihm gemachten Vorwurf verteidigte. Denn daß er das mußte, dafür wollte ich schon sorgen. Steinpilze mit Rollmöpsen — das kann doch eben nur so ein Eskimo fertig bringen.

»So, Fritz, nun kannst Du mich führen.«

Mit Lampen bewaffnet, schritten wir durch finstere Gänge, Treppen hinab, unter der Wasserschlucht hinweg, auch noch unter der Werft, stiegen wieder hinauf, in dem Gang begann es zu dämmern, es kamen ganz, helle Felsenkammern, von jenem rätselhaften Licht erleuchtet, das aus den Wänden heraus kam, von allen Seiten, so daß also keine Schatten geworfen wurden, ich hörte Stimmen, Geräusch der Arbeit, und dann stand ich vor dem großen Geheimnis, mit dem man mich hatte überraschen wollen.

Ja, ich war allerdings höchlichst überrascht, hier so etwas vorzufinden.

Es war ein Zirkus, in den ich blickte, von jenem tageshellen Lichte erfüllt. Also in der Mitte eine ebene Kreisfläche, um die sich herum die Zuschauerplätze amphitheatralisch erhoben, einfach steinerne Stufen, gerade so hoch und breit, daß man bequem darauf sitzen konnte.

Aber nun was für ein Zirkus, was für Dimensionen!

Ach, wo sind wir modernen Menschen bei all unsrer Technik und sonstigen Erfindungen geblieben, wenn es sich um kolossale Bauten handelt!

Ich will dabei nicht von den Pyramiden und anderen auch nützlichen Bauwerken anfangen, von den chinesischen Mauern und Kanälen, von den Landstraßen der alten Peruaner und Mexikaner, gegen welche so eine Arbeit wie etwa die Durchstechung der Landenge von Suez oder Panama das reine Kinderspiel ist, welche Arbeiten wir schon deshalb gar nicht mehr fertig bringen, weil wir nicht mehr hunderttausende von Sklaven während ganzer Generationen arbeiten lassen können, ihnen nichts weiter als den kärglichsten Lebensunterhalt gebend, weil sich heute jedes angelegte Kapital auch verzinsen muß, womit man früher nicht rechnete.

Ich bleibe nur beim Theater, beim Zirkus.

Als größter Zirkus der Welt oder sonstiger Raum, der sich für Schaustellungen eignet, gilt heute eine ehemalige Vereinshalle in Frankfurt am Main, die 15 000 Menschen faßt.

Was will das aber heißen gegen die Zirkusse der alten Griechen und Römer!

Ich nehme gleich den größten heraus, zum Teil noch erhalten, genau beschrieben von Plinius. Es ist der Zirkus Maximus in Rom, der, wie man besonders nach alten Münzen sehr genau bestimmen kann, in den Jahren 328 bis 176 vor Christi erbaut wurde, der Hauptsache nach, er wurde beständig vergrößert. Die Arena war 640 Meter lang und 130 Meter breit, unter Vespasian faßte er 200 000 Zuschauer, im 4. Jahrhundert nach Christi Geburt waren 385 000 Sitzplätze vorhanden! Dann wurde er von einem Erdbeben zerstört.

Nun mache man sich eine Vorstellung! 385 000 Sitzplätze!

Solch riesenhafte Zirkusse waren natürlich ungedeckt, oben offen. Das konnte nicht anders sein.

Dieser Zirkus hier aber hatte eine gewölbte Decke, konnte eine haben, denn er war ganz aus dem Felsen herausgehauen. Die Maße seiner Dimensionen will ich nichts weiter angeben, was auch schwer zu machen wäre, weil da noch viel andere hinzukam, ich will nur sagen, daß wir dann später ungefähr 150 000 Sitzplätze herausrechneten.

Dagegen muß ich Näheres über die Manege sagen. Es war also keine langgestreckte Arena wie bei den alten Zirkussen, in denen hauptsächlich Wettläufe und Wagenrennen stattfanden, sondern sie war wie bei den modernen kreisrund, hatte aber einen ganz anderen Durchmesser.

Dieser hat heute das feststehende, internationale Maß von 13 Metern. Sonst könnten die Artisten nicht aus einem Zirkus in den anderen gehen. Die Pferde würden beim Herumlaufen im Kreise bei verschiedenem Durchmesser eine andere Neigung annehmen, die Artisten würden sich verspringen, oder sie müßten in jedem Zirkus alles neu einüben.

Der Durchmesser dieser Manege hier betrug 82 Meter. Die unterste Stufe, 3 Meter hoch, wurde, und zum Teil auch noch die darüber liegenden Sitzstufen, zweimal unterbrochen. Auf der Westseite durch eine 5 Meter breite und entsprechend hohe Öffnung, gegenüber war eine glatte Wand, sich bis zur Wölbung der Decke erstreckend, nur in der Mitte gähnte noch ein schwarzes Loch. Hin und wieder führte von der ersten hohen Stufe noch ein Treppchen in die Arena hinab.

Das war es, was ich zuerst überschaute, nachdem ich durch einen der Tunneleingänge, der auf die unterste Sitzstufe führte, eingetreten war. Dort unten in der Manege kriebelten meine Jungen herum, brachten aus dem Ausgange Balken angeschleppt, die sie zusammensteckten und aufrichteten, auf eine mir noch nicht bekannte Weise.

»Na‚, was sagen Sie dazu, Herr Waffenmeister?« begrüßte mich Doktor Cohn.

Ja, was sollte ich dazu sagen! Merlin hatte mir ja schon wenigstens eine Andeutung gegeben. Daß hier schon einmal, vielleicht vor vielen Jahrtausenden, ein Volk gehaust hatte, das bereits eine hohe Kultur besaß.

»Die Erbauer dieses Zirkus haben übrigens eine leichte Arbeit gehabt,« fuhr Doktor Cohn fort, »selbst wenn nicht erst eine natürliche Riesenhöhle vorhanden war, auch wenn sie alles aus dem Felsen herausholen mußten. Erst jetzt ist es mir eingefallen, die Gesteinsart zu untersuchen. Da wird sich Mister Tabak freuen, da kann er sich Pfeifenköpfe schnitzen. Das ist nämlich alles Meerschaum, schneidet sich frisch wie Butter.«

»Was, Meerschaum?!«

Es war nicht wörtlich zu nehmen. Es war eine schwarze Abart des chinesischen Agalmalotith, der wie der Meerschaum zum Speckstein, dieser zum Talk gehört. Man kennt vielleicht die grünen oder gelben Figuren und Gerätschaften wie Tintenfässer und dergleichen, mit denen manchmal Japaner hausieren, überaus zierlich und pitoresk geschnitten, mit den feinsten Ranken, man wundert sich, wie das bei diesem ungemein harten Stein möglich ist, bei dieser Billigkeit.

Es ist Agalmalotith, hauptsächlich in China vorkommend, der nicht nur wie Meerschaum und unser gewöhnlicher Speckstein, sondern wie richtiger Speck geschnitten werden kann, in frischem Zustande, erst nach einigen Tagen geht er mit dem Sauerstoff eine andere Verbindung ein, jetzt erst wird er hart wie Granit. Und vorher kann auch etwas abbrechen, man braucht, so lange sie weich sind, die Bruchstellen nur anzufeuchten, dann kitten sie wieder zusammen, wie auch der Meerschaum begierig Wasser aufsaugt, freilich ohne so hart zu werden.

Diese ganzen Felsmassen bestanden aus schwarzem Agalmalotith. Die Dicke der harten Außenschicht war ganz verschieden, jedenfalls aber stieß man nach Bohren eines Tunnels immer auf eine Region, aus der man die Bausteine wie aus Speck mit dem Messer schneiden konnte, gleich gebogene Platten, wovon wir später ausgiebigen Gebrauch machten.

Ein hober, dicker Balken fiel um. Mich wunderte, was er trotz seines offenbar großen Gewichtes beim Aufschlagen auf den dunklen Steinboden nur für einen schwachen, kaum hörbaren Schall gab.

»Was ist denn das für ein Balken oder für ein Boden?!«

»Kommen Sie nur herab!«

Ich stieg eines der Treppchen hinab. Es war kein harter Stein, der Boden war elastisch wie Gummi.

Doktor Cohn zeigte mir eine Platte von etwa 10 Zentimeter Dicke.

»Mit diesem Zeuge ist der ganze Steinboden wie mit einem Teppich belegt, nur daß man ihn in Kreisausschnitten abheben kann. Ich möchte es fast mehr für schwarzen Bernstein halten als für Gummi oder Kautschuk. Doch alles dreies ist ja das Harz von Bäumen, nur daß der Bernstein von einer prähistorischen Konifere stammt, die heute also nicht mehr existiert. Diese an sich dunkle Masse ist durchsichtig, blicken sie so durch das Licht, da sehen Sie eine Mücke eingeschlossen, eine Art, die es heute nicht mehr gibt, die man aber noch in manchem Bernsteinstücken wohlerhalten findet. Hingegen ist dieser schwarze Bernstein hier etwas weich und elastisch wie Kautschuk und hat davon in den Jahrtausenden, mit denen wir doch wohl rechnen müssen, nichts davon eingebüßt. Das ist sehr, sehr merkwürdig.«

»Und was haben die Balken zu bedeuten?«

»Das ist auch eine große Merkwürdigkeit. Doch zunächst von der Holzart abgesehen, die sich durch viele Jahrtausende so gut erhalten hat. Sie sehen an dem schwarzen Boden hier und da einen runden Fleck von hellerer Farbe. Das sind besondere Ausschnitte, die Matrosen heben sie schon aus. Denn unter jedem Kreise befindet sich im Steinboden ein Loch, da kann immer so ein Balken hineingesteckt werden, so ein langer, tief, sehr tief, dann steht er wie ein Ast, ohne im geringsten zu wackeln, und die halblangen Balken ergeben wieder die Querstangen, und das paßt alles zusammen, da ist auch keine Nummerierung nötig, ganz egal, wie man steckt, ein Ausschnitt paßt immer genau in den anderen!«

»Und was wird da für ein Gerüst daraus?«

»Ja, das lasse ich eben erst ausprobieren. Es wird eben ein Gerüst, dem man aber eine ganz beliebige Gestalt geben kann. Man scheint es bis in den Himmel hinan bauen zu können, oder auch beliebig seitwärts, und überall sind Löcher vorhanden!«

»Wo haben Sie denn diese Balken gefunden?«

»Nu in den Requisitenkammern.«

»Requisitenkammern?«

»Ach, was wir schon alles gefunden haben — kommen Sie nur mit — ich sage Ihnen — mir ist schon ganz schwach geworden — haben Sie nicht einen Kognak bei sich?«

Das hatte ich leider nicht, und Doktor Cohn vermochte mich auch ohne solch eine Stärkung noch zu führen.

Wir wandten uns dem Manegenausgange zu, der aber gerade verschlossen wurde. Matrosen hatten in der Steinwand kupferne Handgriffe entdeckt, als sie daran zogen, schob sich eine dicke hölzerne Wand hervor, wie eine Tür den Ausgang verschließend, auf der anderen Seite genau in eine Spalte passend; sie konnte eben so leicht wieder zurückgeschoben werden.

Nicht weit hinter dieser Schiebetür befand sich links in der Seitenwand des Ganges eine größere Öffnung, vor der kupferne Gitterstäbe angebracht waren.

Hinter diesem Gitter wurden die Ichtysosauren gehalten, kurz vor der Vorstellung, bis sie in die Manege geführt worden, war die unverfrorene Antwort des Schiffsarztes und ich fiel wirklich darauf herein.

»Was, Ichtyosauren? Vorsündflutliche Riesenkrokodile?!«

»Jawohl, die wurden hier dressiert vorgeführt. Ich weiß es doch, ich bin doch dabei gewesen. Ich war doch damals hier erster Stallmeister, ritt die hohe Schule aus Höhlenbären und Höhlenlöwen. Sie glaubens nicht? Na kommen Sie nur mit.«

Wir wanderten weiter, ich gab diesem Gerede jetzt wenig Gehör. Es war eben unser Doktor Isidor, der so schwatzte.

Ich blickte in Kammern, in ganze Säle, alle von jenem rätselhaften Lichte erleuchtet, alle angefüllt mit Balken und Brettern und anderen Gegenständen, zum Teil auch aus Erz, wahrscheinlich eine Kupferlegierung. Näher beschreiben kann ich die verschiedenen Sachen nicht, sie kamen mir alle ganz fremd vor. Zum Beispiel riesenhafte Becken, deren Zweck man sich nicht leicht erklären konnte.

Nur einen Apparat erkannte ich gleich wieder, an dem diese prähistorischen Artisten ihre Künste in der Manege einem hochverehrten Publikum vorgeführt hatten. Es war das Pferd. Diesen Turnapparat kennt wohl jeder. Auf vier Beinen ein langgestreckter Holzbock, gepolstert und mit Leder überzogen, oben noch zwei Handgriffe, auf die man sich stützt und dann mit den Beinen herumquirlt. Hier fehlte die Polsterung und das Leder, dagegen schienen diese vorsündflutlichen Künstler auf so einem Pferd gleich en gros geturnt zu haben, auf den längeren Pferden — es gab deren eine ganze Masse von verschiedenen Größen — waren gleich vier und sechs und noch mehr Handgriffe vorhanden.

Übrigens ist dieses Pferd nicht etwa ein neuer Turnapparat, etwa vom Vater Jahn erfunden. Schon die alten Römer kannten dieses hölzerne Pferd, das Turnen darauf war beim Militär obligatorisch, auch die Legionäre, die Fußsoldaten, wurden damit gezwiebelt. Wie uns die alten Schriftsteller berichten, Reck und Barren waren unbekannt, dagegen spielte die Leiter eine Hauptrolle.

»Was sagen Sie aber nun hierzu!l«

Wir waren weitergewandert. In den Gängen kamen wieder Nischen, vergittert mit Kupfer— oder wohl richtiger Bronzestäben. Denn wir waren offenbar in die Bronzezeit entrückt worden.

Und hinter diesen Gittern lagen ungeheure Knochen, ganze Skelette, riesige Köpfe mit furchtbaren Zähnen.

Höhlenbären und Höhlenlöwen, gar kein Zweifel. Und diese Menschen, die hier einst gehaust, hatten sie gefangen gehalten, hatten sie zu Schaustellungen im Zirkus verwendet.

»Und dieses kolossale Skelett hat nicht einem Elefanten, sondern einem Mammut angehört, so viel verstehe ich davon, und es sind noch eine ganze Menge Mammutskelette vorhanden!« sagte Doktor Isidor.

Ob der Mensch schon zusammen mit Mammut und Höhlenbären und Höhlenlöwen gelebt hat, diese einst heiß umstrittene Frage darf jetzt als bejaht gelöst gelten. Aber das war der Mensch der Steinzeit, und zwar der ersten Steinzeit, als er den Feuerstein erst spalten, ihn noch nicht schleifen und polieren konnte. Hier aber hatten wir Menschen aus der viele Jahrtausende später liegenden Bronzezeit vor uns. Auch der trojanische Krieg ums Jahr 1200 vor Christi, gehört noch der Bronzezeit an.

Nun, in diesem Tale hier hatten sich die Menschen eben entweder schneller entwickelt, oder die Urtiere hatten sich länger erhalten.

So hatte ich gesprochen.

»Urtiere? Was verstehen Sie denn unter Urtieren? Sehen Sie mal hierher.«

Die ungeheuren Skelette, die ich da erblickte, gehörten jenen Tieren an, die man — zwar nicht wissenschaftlich, aber doch allgemein üblich — als vorsintflutliche bezeichnet. Saurier. Ichtyosaurus, Plesiosaurus, Teleosaurus und wie sie alle heißen. Gerade im Petersburger prähistorischen Museum hatte ich Gelegenheit gehabt, diese Reste einer Urwelt zu bewundern.

Und diese Menschen hier hätten solche ungeheuerlichen Tiere, meist nur im Wasser lebend, noch lebendig gefangen gehalten, sie zu Vorstellungen im Zirkus verwendet?

Nun wußte ich nicht mehr, was ich dazu sagen sollte.

Mindestens will ich den Leser damit verschonen, was ich mit Doktor Cohn darüber disputierte.

Übrigens konnte die Sache ja auch ganz anders sein. Auch diese Menschen hatten nur Knochen zusammengetragen, hatten sie hier als Schaustücke zu Skeletten zusammengestellt, so wie wir es auch machen.

Wir standen vor einem Käfig, der das zusammengebrochene Skelett eines straußähnlichen Vogels beherbergte, der aber vier bis fünf Meter hoch gewesen sein mußte, wie man solche Skelette eines ausgestorbenen Riesenvogels noch heute findet, auch in Europa, die größte der drei Zehen — unsere jetzigen Strauße haben nur zwei Zehen — war nicht weniger als 54 Zentimeter lang, als uns Schreien und ein prasselndes Donnern aus unserem Staunen riß.

Wir erschrocken in die Manege zurückgeeilt, konnten sie freilich schon nicht mehr betreten, mußten ein Treppchen benutzen, um auf die Stufen hinaufzugelangen

Aus der Öffnung, die sich oben in der glatten Wand befand, ergoß sich donnernd ein gewaltiger Wasserfall in die Manege herab. Die Sache klärte sich bald auf. Ein Matrose hatte unten in einem Seitengang in der Wand einen dicken Stöpsel entdeckt, aus jenem elastischen Bernstein bestehend, hatte ihn herausgezogen — da war das Wasser dort oben auch schon hervorgesprudelt gekommen.

Ich erkläre gleich weiter, was wir erst später auskundschafteten, aber noch im Laufe dieses Tages. In einiger Entfernung von diesem Zirkus floß ein unterirdischer Wasserstrom vorbei, also im Felsen, aber noch hoch über dem See gelegen, in den er sich dann an anderer Stelle im Freien ergoß. Es war eine genial ausgedachte pneumatische Vorrichtung, bei der aber auch die Natur mitgeholfen hatte. In einer besonderen Höhle herrschte ein starker Luftdruck, die Luft wurde eben durch dieses eingeschlossene Wasser zusammengepreßt. Zog man nun hier den Stöpsel heraus, so entwich pfeifend die Luft, der Strom wurde in einen anderen Kanal gelenkt, ergoß sich hier in die Manege. Sobald der Pfropfen wieder eingesteckt wurde, hörte das Wasser auch zu fließen auf, so daß man die Höhe des Wasserstandes nach Belieben regeln konnte. Allerdings nicht höher als drei Meter, denn höher war die unterste Stufe nicht und auch nicht die den Ausgang abschließende Tür, die eben ein Wehr war, sonst floß das Wasser über dieses hinweg und ergoß sich in den Stallgang, wie ich ihn fernerhin bezeichnen will.

Aber es schadete auch nichts, wenn es darüber hinwegfloß. Dann floß es in dem vergitterten Loche ab, welches Doktor Isidor scherzhaft als einen Käfig für Ichtyosauren bezeichnet hatte. Dann kam das abfließende Wasser draußen in einer Höhle wieder zum Vorschein und ging in den See.

Nur mußte erst noch ein zweites Wehr vorgeschoben werden. Sonst allerdings hätte es eine Überschwemmung im Stallgange gegeben.

Meine Jungen hatten das erste Wehr gerade vorgeschoben gehabt, und auch alles Weitere hatten wir bald heraus. Das erste Wehr hielt ja nicht ganz dicht, zumal bei dem hohen Druck von drei Metern, aber das Wasser, das sich durch die Seitenspalten und unten durchdrängte, konnte leicht in dem Loche abfließen, dafür sorgte auch schon wieder eine Bodenneigung, und dann fanden wir noch besondere Bernsteinplatten, offenbar für diesen Zweck bestimmt, mit denen man das erste wie das zweite Wehr vollkommen wasserdicht abschließen konnte.

In noch nicht einer halben Stunde war die ganze Manege bis zum Rande der ersten Stufe, also drei Meter hoch, gefüllt. In derselben Zeit floß es auch wieder ab. Das Wasser hatte eine Temperatur von 24 Grad Celsius. War also warm wie Brühe. Meine Jungen jubelten. Ein Wasserzirkus. Wer hätte den hier vermutet? Nun, etwas Neues war es gerade nicht. Auch die alten römischen Zirkusse konnten meistenteils unter Wasser gesetzt werden. Immerhin, das war ja etwas für meine Jungen, was für Wasserspiele wollten sie hier arrangieren, die Roten gegen die Grünen, zumal man hier noch solche Gerüste errichten konnte, was draußen im freien See doch nicht gut möglich war, was konnte man da nicht alles ausführen!

Sollten diese Ureinwohner nicht auch für die Wasserspiele Boote und andere Fahrzeuge gehabt haben? Sie wurden nicht gefunden. Nun desto besser, so mußte man sich alles erst selbst fertigen, was ja erst recht Spaß machte, wenn man nicht nur die Seeboote des Schiffes benutzen wollte.

»Nun lassen Sie sich weiter zeigen, was wir schon alles entdeckt haben,« sagte Doktor Isidor zu mir, »obgleich es erst ein geringer Teil von allem sein mag, was die ehemaligen Bewohner dieses Tales hier aufgehäuft haben, denn das scheint ein Labyrinth von schier endloser Ausdehnung zu sein, mit dessen Erforschung man vielleicht niemals fertig wird.«

Wir begaben uns in die Stallgänge zurück.

»Haben Sie schon Überreste von diesen Menschen selbst gefunden?« fragte ich.

»Nein, keine Mumie und keinen einzigen Knochen, wohl aber wissen wir schon, daß diese Menschen nicht größer und nicht kleiner gewesen sind als die heutige Generation.«

»Woraus kann man das schließen?«

»Nun, woraus wohl?«

»Haben Sie Bekleidungsgegenstände gefunden?»

»Erraten! Ihr Scharfsinn ist bewundernswert.«

»Richtiges Kleidungsstücke? Gewebe?«

»Nein, da verlangen Sie zu viel. Mit vielen Jahrtausenden muß man hier doch unbedingt rechnen, und da kann sich kein Gespinst und kein Gewebe erhalten. Nicht einmal Lederzeug. Und doch sind Merkmale vorhanden, daß es hier so etwas gegeben hat. Außer Knochen und Erz und jenem merkwürdigen Holz, ganz leicht aber eisenhart wie Teakholz, ist alles dem Zahne der Zeit zum Opfer gefallen. Und dann die nicht minder rätselhafte schwarze Bernsteinmasse. Doch unser gelber Bernstein stammt ja auch aus einer Zeit, da es sicher noch keine Menschen gab.«

»In den ägyptischen Mumiengräbern findet man auch noch wohlerhaltene Kostüme aus Stoff.«

»Ja, das sind aber eben Mumiensachen, immer unter Luftabschluß gehalten, vielleicht noch besonders konserviert, überhaupt in einer heißen Gegend, die sich durch ganz besondere Trockenheit auszeichnet. Hier aber ist es doch ziemlich feucht, hier kann sich so etwas nicht erhalten. Vielleicht finden wir auch noch Mumiengräber, in denen sich auch Tuchstoffe erhalten haben, bis jetzt ist es noch nicht der Fall. Und trotzdem haben wir schon Anzüge entdeckt, in die sich jene Menschen hüllten, so daß wir ihre Größe bestimmen können, nur sind es Kostüme ganz besonderer Art. Ahnen Sie, was für welche?«

Diesmal konnte Doktor Isidor meinen Scharfsinn nicht loben, ich kam nicht darauf, und seine Examineren war überhaupt albern, was ich ihm auch sagte.

»Verzeihen Sie, ich dachte nur, weil Sie doch der Waffenmeister von heldenhaften Jünglingen sind, die sich die Argonauten der trojanischen Zeit zum Muster genommen haben — hier schauen Sie es mit eigenen Augen.«

Es war eine Rüstkammer, die wir betraten, ein ganzer Saal, angefüllt mit ehernen Panzern, den Menschen vom Scheitel bis zur Sohle einhüllend, mit Schilden, mit Schwertern und Streitäxten und Keulen und Dolchen und anderen Waffen, teils dunkle Bronze, teils vergoldet oder versilbert, und der Überzug dieser edlen Metalle hatte die Jahrtausende überdauert, besonders die Vergoldung strahlte noch in ungetrübtem Glanze.

O, wie ward mir bei diesem Anblick! Denn das war ja so etwas für mich.

Die schönste und größte Sammlung ritterlicher Rüstungen und Waffen des Mittelalters und einer noch früheren Zeit befindet sich im Londoner Tower. Aber was war das gegen hier! Wenn diese Sammlung hier auch gleichmäßiger war. Aber die Masse machte es, und dann das Blitzen und Gleißen der goldenen Panzer, der vergoldeten Bronzeschwerter.

Also alles aus Bronze! Oder, wo Verbindungsteile schmiegsamer sein sollten, aus reinem Kupfer. Eisen und Stahl hatte man hier noch nicht gekannt.

Hierzu muß ich eine Bemerkung machen.

Die meisten Menschen dürften gar nicht wissen, was es mit diesen Bronzewaffen für eine geheimnisvolle Bewandtnis hat.

Wenigstens gilt es für sehr viele Bronzegegenstände, angefertigt in der sogenannten Bronzezeit, die der Steinzeit folgte.

Wer das Rätsel löst, kann sich 50 000 Pfund Sterling verdienen, eine Million Mark, als Prämie ausgesetzt von der Londoner Akademie der Wissenschaften, der Kanonenfabrikant Armstrong hat noch weitere 20 000 Pfund hinzugefügt, und das sind erst Aufmunterungsprämien, dem Rätsellöser würden dann wohl noch unermeßliche Belohnungen zufließen.

Hier liegt nämlich wieder einmal der Fall vor, daß schon vor vielen Jahrtausenden die Menschheit eine Erfindung besessen hat, die wieder verloren gegangen ist, von der wir gar nichts mehr wissen.

Bronze ist eine Legierung von Kupfer und Zinn. Man verwendet diese Legierung heute noch zu den verschiedensten Gegenständen, besonders bei Maschinen zu Lagerteilen, England versucht es noch immer mit Bronzegeschützen, es sind die verschiedensten Gründe vorhanden, den Stahl, der heute allein in der Geschützfabrikation herrscht, durch etwas anderes zu ersetzen, er hat große Nachteile, vor allen Dingen gestattet er nur eine mäßige Anzahl von Schüssen, dann wird der Stahl kristallinisch, springt, was die Bronze nicht tut, während sie freilich alle die anderen guten Eigenschaften des Stahles nicht besitzt. Und im Schiffsbau würde nun gar eine Bronze, welche den Stahl voll und ganz ersetzt, eine Revolution hervorrufen. Denn die Ablenkung des Kompasses durch die vielen Eisenmassen ist eine ganz fatale Geschichte, und der Kreiselkompaß steckt erst in den Kinderschuhen, es scheint auch niemals etwas Richtiges daraus werden zu wollen. Wissenschaftliche Forschungsschiffe baut man heute wieder aus Holz, alles Eisen wird vermieden, die ganze Maschine ist aus Bronze, jeder Nagel aus Kupfer.

Wenn man aber nur der Bronze die Härte, die federnde Elastizität und die sonstigen Eigenschaften des Stahls verleihen könnte! Dieses Problem hatten bereits einmal die Menschen vor Jahrtausenden gelöst. Die Bronzewaffen, die man jetzt in alten Gräbern findet, besitzen alle diese Eigenschaften. Sie sind ganz dem Stahl vergleichbar, blau oder auch gelb angelassen. Sie können haarscharf geschliffen werden, ritzen dann ungehärteten Stahl, man kann sie auch im rotglühenden Zustande schmieden, ohne daß sie diese Eigenschaften verlieren aber man kann sie nicht umgießen. Sobald das Metall flüssig geworden ist, ist wieder gewöhnliche Bronze daraus geworden. Und doch sind diese Waffen ursprünglich gegossen worden, das erkennt man aus den Gußrändern.

Das ist das vorliegende Rätsel! Wie haben die damaligen Menschen das gemacht! Chemische und physikalische Untersuchungen haben noch zu keinem Resultate geführt. Es ist immer eine Kupferlegierung mit Zinn, dessen Gehalt zwischen 10 und 25 Prozent schwankt. Mehr wissen wir nicht. Es konnte noch keine entweichende Gasart, kein anderes Element festgestellt werden, so weit fremde Bestandteile nicht überhaupt immer vorkommen. Der Zusammensetzung nach gleicht diese alte Bronze ganz der unsrigen, aber wir können ihr nicht mehr die Eigenschaften des Stahles geben. Wir stehen vor einem unergründlichen Rätsel.

Übrigens muß dies auch schon für die Bronzemenschen ein Kunststück bedeutet haben. Denn nicht etwa alle Bronzegerätschaften besitzen diese Eigenschaften. Schmucksachen niemals, und von den Waffen auch nur die besseren, deren sorgfältige Arbeit man gleiche erkennt. Immerhin sind solche stahlharte Bronzewaffen und Rüstungen, letztere besonders durch Schliemanns Ausgrabungen auf den Gefilden Trojas zu Tage gefördert, doch gar nicht so selten.

Ganz merkwürdig ist es nun, daß auch in Amerika, das auch seine Bronzezeit gehabt, dieselben stahlharten Bronzewaffen gefunden werden wie in Europa und Asien, neben anderen Bronzesachen, die nicht gehärtet wurden.

Und dieser Unterschied ist erst von Alexander von Humboldt erkannt werden. Der hat zuerst überhaupt gemerkt, daß einige solcher Bronzewaffen diese Eigenschaften des Stahles besitzen. Seine erste Entdeckung machte er an einem Dolche, den er in einem Inkagrab fand. Und dann konstatierte er weiter, daß dies auch auf die in Asien und Europa gefundenen Bronzewaffen zutrifft, wenigstens sehr häufig. Es klingt schier unglaublich. Nämlich daß man schon immer solche alte Bronzewaffen gefunden hatte, daß sie von forschenden Gelehrten untersucht wurden, und daß erst ein Alexander von Humboldt kommen mußte, der diese stählerne Eigenschaft erkannte.

Dann aber setzte die Bewegung ein, die noch heute besteht. Wer löst das Problem, wie jene alten Heiden der Bronze die Eigenschaften des besten Stahls verleihen konnten! Es würde, wie gesagt, eine Revolution besonders in der Geschützfabrikation und im Schiffsbau bedeuten. Man hat aber tatsächlich schon Bronzewaffen gefunden, die jeden Stahl an Härte weit, weit übertreffen! Ich will nicht mit Zahlen der Bruchfestigkeit und so weiter kommen, sondern nur anführen, daß man vor einigen Jahren in einem englischen Bankhause solch einen Bronzedolch fand, von einem nächtlichen Einbrecher zurückgelassen, mit dem es ihm gelungen war, einen Panzerschrank halb aufzumeißeln. Dieser Bronzedolch war, wie sich später ergab, aus dem Britischen Museum gestohlen worden, stammte aus einem altindischen Tempel. Aber auch die heutigen Inder kennen dieses Geheimnis nicht mehr.

Hier hatten wir solche Bronze vor uns, und zwar war alles ohne Ausnahme von dieser stahlharten gefertigt. Eine Schuppenrüstung vom Scheitel bis zur Sohle einhüllend, wog kaum 20 Pfund, so dünn waren die Schuppen, wunderbar fein mit Kupferdrähtchen übereinander geordnet, und dennoch wurden sie auf keiner Entfernung von der stählernen Spitzkugel des englischen Infanteriegewehres durchschlagen. Einen blauen Fleck bekam man freilich von ihr, wie später durch Zufall konstatiert wurde. Hinwiederum konnte man mit solch einem Bronzeschwert eine zolldicke Stahlstange glatt durchhauen, ohne daß dann in der Schneide die geringste Scharte zu bemerken war. Deshalb eben, für solchen Nahkampf, mußte es auch stärkere, massive Panzer geben. Es waren solche bis zu einem Zentner Schwere vorhanden. Dieses Gewicht hatten auch die unserer letzten Ritter, als sie sich noch gegen die Feuerwaffen schützen wollten. Es mußten also gar kräftige Männer gewesen sein, welche diese Rüstungen einst getragen hatten.

Übrigens konnten wir die Waffen und Rüstungen auch nach Belieben umschmieden. Nur mußte man dabei sehr vorsichtig sein. Nur über die schwächste Rotglut erhitzt, im Dunkeln eben zu bemerken, und die Eigenschaften des Stahls verflogen, gewöhnliche Bronze blieb zurück. Weshalb, das konnte auch Doktor Isidor später nicht in seinem Laboratorium ergründen.

Was wir sonst noch alles entdeckten, auch noch im Laufe dieses Tages, darüber werde ich später berichten, wenn wir es benutzten, wie es der Lauf der Erzählung mit sich bringt.


88. KAPITEL.
STATUEN, DIE LEBENDIG WERDEN.

Am Abend kam Juba Riata auf dem Wisent angeritten. Viel mehr bekamen wir nicht zu sehen, er sperrte das Tier gleich in eine Höhle ein, niemand hatte Zutritt. So weit war es eben doch noch nicht, er mußte den Stier noch weiter vornehmen.

Er brachte eine bittere Kälte mit, die wir gar nicht mehr gewohnt waren, das Thermometer sank in dieser Nacht noch bis auf 20 Grad.

Aber besonders Meister Bärtchen freute sich darüber.

»Das ist der Frühling!« jubelte der Samojede.

Er sollte recht behalten. Das ist eben immer so im sibirischen Klimawechsel. Der sibirische Winter scheint am Ende seines Daseins noch einmal seine ganze Kraft zusammenzunehmen. Es mag mit einer Luftverdünnung durch besondere atmosphärische Einflüsse zusammenhängen, denn hinterher folgt auch regelmäßig ein furchtbarer Sturm aus Süden.

Das Schönste aber ist dabei, daß man in diesen Gegenden gar keine Nachfröste kennt. Ist der Winter einmal vertrieben, dann setzt auch sofort der Frühling oder sogar der Sommer ein, und das bleibt so, bis im Herbst wieder einmal eine kalte Nacht kommt, dann beginnt der Winter, der keinen warmen Tag mehr kennt.

Gegen Morgen stieg das Thermometer wieder rapid, gleichzeitig setzte auch der erwartete Südsturm ein. Erst aber fing es noch einmal zu schneien an, und wie! Am Mittag konnten wir die Höhle schon nicht mehr verlassen, die Schneedecke reichte schon bis zu den untersten Fensteröffnungen, die sich mehr als zehn Meter über dem Boden befanden. Nicht, daß der Schnee überall so hoch gelegen hätte, aber so wehte er hier an. Und drei Meter hoch lag er am anderen Tage doch überall.

Vier Tage lang wehte ununterbrochen der furchtbarste Sturm, immer wärmer wurde er, sichtlich schmolz der Schnee zusammen, die Eisdecke des natürlichen Sees zerbrach, er warf wirklich haushohe Wellen, schrecklich donnerten die Schollen zusammen.

Verlassen konnte man die Höhlen gar nicht, man wurde von dem Sturme sofort gegen die Felswand gepreßt, wurde fortgeschleudert, konnte keinen Schritt gehen.

Endlich am fünften Tage legte sich der Sturm, und da hatte sich wie mit einem Schlage die ganze Natur verwandelt. Von Schnee gar keine Spur mehr, auch an der kältesten, schattigsten Stelle nicht mehr, und im Walde knospte und sprießte alles mit Macht. Wunderbar war es, wie schnell sich auch an den höchsten Eichen und Birken die grünen Blättchen entwickelten. Das machte nicht nur die große Wärme, die jetzt sofort einsetzte, sondern das machte hauptsächlich der ausgiebige Winterschlaf, in dem die Natur ununterbrochen gelegen hatte. Und das ist es eben, was man in den heißen Gegenden gar nicht kennt, dieses Erwachen der Natur nach langem Winterschlaf. Wohl gibt es ja auch in den Tropen solch eine ähnliche Periode, in der heißesten Zeit verdorrt alles, bis dann die Regenzeit wieder einsetzt, aber das läßt sich nicht vergleichen mit dem Frühlingsanfang nach solch einem langen Winterschlafe, und das findet man in dieser Weise auch nicht in Europa, nicht einmal in dessen kälterem Teile wie in Schweden und Norwegen. Denn da kommen doch auch einmal wärmere Tage vor, in denen es zu keimen beginnt, Nachtfröste verderben dann alles wieder. So etwas bringt nur ein kontinentales Klima wie das in Asien und Nordamerika mit sich.

Ach, dieser köstliche Duft, der den ganzen Wald erfüllte! Er ging schon von dem sich immer grüner stirbenden Moose aus, das auf jedem Quadratfuß tausende von Hälmechen reckte, von denen man noch nicht wußte, was daraus werden würde. Beeren sollten es werden, hauptsächlich Heidelbeeren und Erdbeeren, selbst die ersteren von einem köstlichen Wohlgeschmack, gegen den keine westindische Ananas konkurrieren kann.

Wir waren in den fünf Tagen unserer unfreiwilligen Gefangenschaft nicht müßig gewesen, hatten uns nicht nur in der Manege mit Turnen belustigt und in dem Felsenlabyrinth nicht nur Forschungsreisen angestellt, sondern heute in aller Frühe machte unser selbsterbautes Boot auf dem wieder stillgewordenen See seine erste Probefahrt — ein sechsriemiges Rennboot, das sich sehen lassen konnte.

In dem Wasserzirkus hatten wir es doch nicht richtig auf seine Schnelligkeit und sonstige Leistungsfähigkeit prüfen können, es war überhaupt erst heute früh ordentlich wasserdicht geworden, nun ging es aber gleich auf den See hinaus.

Es sollte keine größere Expedition werden, sonst hätten wir auch die Damen mitgenommen. Nur erst einmal ein Manövrieren, wir wollten gleich wieder zurückkehren. Aber es sollte wieder einmal anders kommen.

Ja, auf dem Rückweg waren wir bereits, nachdem wir, sechs pulende Matrosen und ich am Steuer, unser Boot tadellos gefunden hatten. Aber weshalb nicht gleich, ehe wir wieder anlegten, einen Abstecher in den Wasserkanal hineinmachen? Es war noch nicht geschehen, die ersten beiden Tage hatten wir anderes zu tun gehabt und dann waren wir ja eingeschneit gewesen. Ich meine also die Wasserschlucht, die unser Hauptquartier von der Werft und dem Zirkus trennte, in welcher auch unser Schiff demnächst beilegen sollte.

An beiden Seiten führten zwar im Felsen Gänge hin, in mehreren Etagen übereinander. Fenster waren überall vorhanden, aber nur ungefähr 100 Meter weit, dann hörten die Gänge entweder wirklich auf, oder wir hatten ihre Fortsetzung noch nicht erforscht.

Gut, wir lenkten in die Wasserschlucht ein. Es war also ein Abfluß des Sees nach Norden, die Strömung war eine nur ganz mäßige.

Ich paßte gut auf Merkmale an den sonst ziemlich glatten Felswänden auf, um ungefähr die zurückgelegten Entfernungen taxieren zu können. Später sollte das alles ja topographisch aufgenommen werden. Denn daß wir hier, wenn wir wollten und sonst nichts dazwischen kam, Zeit unseres Lebens aushalten konnten, ohne uns je zu langweilen, das war ja, ohne Zweifel, hier würden wir auch nie das freie Meer vermissen, das war hier doch etwas ganz, ganz anderes als dort auf dem Eldoradoplateau im brasilianischen Urwalde oder auf dem Seelandsfelsen mit Schololadenautomaten, und unsereins läßt sich doch nicht in einer Gegend häuslich nieder, ohne nach und nach alle Punkte topographisch zu bestimmen.

Die wie gemauerten Felswände, ursprünglich also etwa 30 Meter von einander entfernt, traten bald näher zusammen, bald entfernten sie sich wieder von einander, ohne aber scharfe Krümmungen zu bilden. Ich schätzte die bisher zurückgelegte Strecke auf 400 Meter, als richtig wieder auf beiden Seiten in den Felswänden Fensteröffnungen zu sehen waren. Es lag also nur an uns, die Fortsetzung jener Seitengänge zu finden. Wenn diese Fenster vom Boot aus auch nicht mit bloßen Händen zu erreichen waren, so hatten wir doch Seile und Haken bei uns, hätten hineinklettern können, hielten uns aber vorläufig damit noch nicht auf.

Wieder ungefähr 200 Meter weiter, da machte die sehr breit gewordene Schlucht einen großen Bogen, so sanft, daß sich das Wasser kaum staute, und wie ward uns, als wir diesen Bogen hinter uns hatten!

Schwer ist es, zu beschreiben, was wir erblickten.

Ich will es ganz sachlich tun, nicht von dem ersten Eindruck sprechen, den wir staunend empfingen.

Die Felsbände hörten plötzlich auf, die Ebene links und rechts von der Wasserstraße waren ursprünglich nur noch mit Felsblöcken bedeckt gewesen, an diesen hatten die Ureinwohner dieses Landes ihre Kunst ausgeübt, als Bildhauer.

Ein Gebiet von fast, wie wir später ausmaßen, vier Quadratkilometern war über und über mit Figuren bedeckt, Menschen und Tiere darstellend.

Ich will gleich bemerken, daß — es gibt eben nichts Neues unter der Sonne — so etwas ja auch in unserer Zeit geschaffen worden ist: der Campo santo von Genua, der ungeheure Friedhof, auf dem man stundenlang zwischen Steinfiguren wandeln kann, alle aus carrarischem Marmor, meist Heiligenbilder und biblische Szenen darstellend, wozu dann aber leider auch noch die Geschmacklosigkeit gekommen ist, daß die Überlebenden ihre toten Angehörigen in modernen Kostümen, sogar mit Frack und Zylinder haben aushauen lassen.

Dieses ausgestorbene Urvolk hier war ein kriegerisches, kampesfreudiges gewesen. Überall Kampfesszenen mit sich kreuzenden Schwertern oder Streitäxten oder anderen Waffen, und stand ein Mann allein, so nahm er doch wenigstens eine Fechterstellung ein. Und dann hauptsächlich auch Tierkämpfe, das heißt Kämpfe zwischen Menschen und Tieren, mit riesenhaften Bären und Löwen und Tigern und dann mit Ungeheuern ganz scheußlicher Art, mit Drachen und Lindwürmern, und wenn wir nicht irrten, konnten wir schon jetzt die Gestalten von vorsintflutlichen Tieren erkennen, die also wirklich einmal existiert haben.

Alle diese Figuren waren von voller Lebenswahrheit erfüllt, das durften wir behaupten, wenn sonst auch niemand von uns etwas von echter Kunst verstand. Niemand an Bord unseres Schiffes. Vielleicht Meister Hämmerlein ausgenommen. Jedenfalls hatte niemand etwas an diesen Bildhauerarbeiten auszusetzen, wir konnten immer nur staunen, und wenn wir uns auch wochenlang in dieser Skulpturensammlung unter freiem Himmel ergingen, die übrigens noch eine Fortsetzung in geschlossenen Räumen hatte.

Nur die Dimensionen ließen die Wirklichkeit vermissen. Denn manchmal waren die menschlichen Figuren und entsprechend die Tiere dreimal so groß, als man nach normalen Verhältnissen annehmen mußte, dann gab es wieder zwerghafte Gestalten, und man durfte doch nicht annehmen, daß hier solche Riesen und spannenlange Zwerge nebeneinander gehaust hatten.

Die Sache war die, wie wir uns später überzeugten, daß diese Figuren nicht anderswo gemeißelt und dann hier aufgestellt worden waren, sondern daß die Felsmassen mit dem Boden verwachsen waren, und da hatte man sich eben nach der einmal vorhandenen Größe der Steinblöcke gerichtet, um Figuren herauszuhauen.

Steinerne Figuren? Daran dachten wir zuerst gar nicht. Wir hielten zuerst alles für pures Gold. Denn das glänzte und gleißte alles in der Morgensonne. Freilich bald erkannten wir den Kern. Hier und da war doch eine Hand oder sonst etwas abgeschlagen. Da zeigte sich der schwarze Stein, ebenfalls Agalmalotith. Es war alles nur vergoldet, aber auch so stark, und vielleicht noch durch eine besondere Methode, die auf Stein überhaupt gar nicht so einfach ist, daß diese Vergoldung den vielen Jahrtausenden vollständig getrotzt hatte.

Nun kann man sich vorstellen, wie uns zumute war, wie wir mit einem kräftigen sechsriemigen Ruderschlag, hinter der Krümmung hervorkommend, plötzlich zwischen diese goldenen Figuren hineinschossen!

Noch bemerke ich, daß sich an den Kämpfen auch sehr viele Weiber beteiligten. Da, wo ich das Boot stoppen ließ, spielte sich linkerhand an der hier sehr schmal gewordenen Wasserstraße eine ganze Amazonenschlacht ab.

Die jungen Weiber balgten sich auf der Erde herum, eine kniete mit erhobenem Dolche auf der anderen, wieder andere kreuzten stehend die Schwerter und Streitäxte, wieder andere hoch zu Roß, auf ganz gewaltigen Gäulen sitzend, die prachtvolle Stellungen einnahmen, sie stürzten aus dem Sattel, dazwischen aber auch wieder Kämpfe mit ungeheuren Bären und Löwen und anderen Ungetümen — ach, wie soll ich nur diese eine Szene beschreiben, die sich hier linkerhand an uns hinzog! Da will ich lieber jede einzelne Figur des Genueser Campo santo schildern. Wenn man das sagt: »Der betende Mönch», »Flöte spielender Hirt«, da weiß man doch gleich, was die Figur darstellt, kann sie sich auch gleich ganz klar im Geiste vorstellen. Das ist hier nicht möglich da müßte ich erst solch einen Lindwurm beschreiben, wie der mit seinem Schuppenschweif ein Pferd umstrickt, wie furchtbar sich dieses wehrt, wie seine Reiterin gewaltig mit der Lanze ausholt.

Es waren durchweg junge, bildschöne Weiber mit klassischen Zügen, wenn auch ab und zu eine Nase weggeschlagen war, was ja nun freilich weniger schön aussah. Alle wie die Männer strotzend von athletischer Muskulatur, was man besonders bei denen beurteilen konnte, die keine Panzer und auch keine Schuppenhemden anhatten. Denn alle die Panzerung, die wir in der Rüstkammer gefunden, war auch hier vertreten, die Panzerschuppen waren bis ins Feinste gemeißelt, und um die vergoldeten Rüstungen von den Fleischteilen unterscheiden zu können, waren letztere in dunklerer Vergoldung gehalten, so daß man fast daraus schließen könnte, daß dieses Urvolk eine dunklere Hautfarbe besessen hatte. Besonders aber die Tierkämpfer rangen meist ganz nackt mit den Ungeheuern, und sorgsam war darauf geachtet, daß man deutlich sah, wie Klauen und Zähne das Fleisch zerrissen, wie das Blut hervorsickerte.

»Hein, o Hein, wat seggst tau!« machte sich zuerst das Staunen eines Matrosen Luft, wie wir so mit gestopptem Boot auf Riemen vor jener Amazonengruppe lagen.

»Wenn als diese Frunslüt nur lebendig wären!« meinte Hein zunächst.

»Nu, diese roocht doch!«

Was, Teufel, der Mann hatte recht!

Ich sehe da eine Amazone, die eine andere am Boden liegende abwürgt, und die goldene Figur hat eine halblange Pfeife zwischen den Zähnen, raucht aber nicht nur kalt, sondern raucht wirklich, qualmt wie ein Schornstein!

Im nächsten Augenblick klärte sich der Irrtum auf. Es war nur eine optische Täuschung gewesen. Hinter der goldenen Amazone kam Mister Tabak hervor. Er hatte gerade so gestanden, daß es ausgesehen, als ob jene die qualmende Fuhrmannspfeife im Munde gehabt habe.

»Wie kommen denn Sie hierher?!«

Erst spuckte der Eskimo den braunen Saft seines Kautabaks verächtlich einem Lindwurm in den weitaufgerissenen Rachen, dann nahm er auch noch eine Prise, ehe er Antwort gab.

Er hatte heute früh mit Juba Riata eine größere Forschungsreise in dem Felsenlabyrinth angetreten, sie hatten einen Gang entdeckt, der schließlich hier auf der Nordseite ins Freie mündete, in dieses offene Skulpturenmuseum.

»Auch die Höhlen dort sind mit lauter solchem Plunder angefüllt!« setzte er noch hinzu, seinen Pelzstiefel auf das Hinterteil einer sich bückenden Amazone stemmend.

Da kam auch schon Peitschenmüller herbei.

»Das sind gerade solche belgische Bierwagengäule, wie wir sie auf dem Eldoradogebirge wild fanden!« war dessen erste Bemerkung. »Ob die Pferde in früheren Zeiten wohl alle so groß und stark und dick gewesen sind?!«

Ja, auf diese Vermutung möchte man fast kommen.

Daß die Ritter mit ihrer manchmal bis zu einem Zentner schweren Rüstung nur die allerstärksten Gäule ritten, die sie selbst auch noch panzerten, das läßt sich begreifen. Merkwürdig ist aber, daß auch die alten Griechen und Römer nur die allerschwersten, dicksten Pferde geritten und sie vor ihre Wagen gespannt haben, wie man ja auch in Skulpturen und Reliefs deutlich erkennt.

Damals war die Zucht solcher mächtiger Gäule eben Modesache. Die Zucht magerer Tiere mit feinen, aber stahlharten Knochen kannte man vielleicht noch gar nicht oder überließ sie den wilden Asiaten und Sarazenen.

Ferner bemerkt man auf solchen alten Bildern, wie diese mächtigen Pferde immer so eigentümliche Stellungen einnehmen, sie bäumen sich so viel, aber auch beim Stehen haben sie unter dem Leibe eingeknickte Hinterbeine.

Das macht, alle Pferde wurden früher an Hinterhand zugeritten, wie der technische Ausdruck lautet. Das heißt, der Reiter legt sein Gewicht mehr nach hinten, weshalb dem Pferde die Hinterbeine durch Dressur mehr nach vorn gezogen werden. Auch jetzt wird noch allgemein auf Hinterhand geritten, in Europa. Auch alle Kavallerie mit Ausnahme der nordamerikanischen. Diese reitet wie alle wilden Reitervölker auf Vorderhand, ebenso auch wie die Jockeis, welche das Gewicht möglichst nach vorn zu legen versuchen. Dadurch kommt zwar eine schlechte Haltung des Reiters heraus, der Jockei sitzt zuletzt wie der Pawnee und der Kirgise ganz vorn auf dem Halse des Pferdes, aber zweckmäßiger ist es jedenfalls, denn das Tier soll sich mit seinen Hinterfüßen doch nicht abstützen, sondern sich vorwärtsschnellen.

Alle diese Pferdefiguren hier zeigten eine ungemein starke Ausbildung auf Hinterhand. Sie saßen manchmal förmlich auf dem Hinterteil. Das fiel nicht nur einem Manne wie Juba Riata auf, sondern jedem, der so etwas nur irgendwie beobachtet. Man wurde gleich an die alten Bilder der Griechen und Römer erinnert, zumal die Gäule sonst auch so nackt, wie rasiert aussahen, aber in Zöpfchen geflochtene Mähnen hatten. Und außerdem glichen sie bis auf diesen künstlichen Schmuck wirklich ganz jenen starken, mächtigen Rossen, die wir in wilder Freiheit auf dem Eldoradoplateau gesehen hatten, und ich sagte schon damals, daß wir gleich an Bierwagengäule dachten, wie man sie am dicksten vor englischen und belgischen Bierwagen sieht. »Brabanter« heißt dieser Schlag, am nächsten kommt ihm der Percheron.

Die anderen mußten geholt werden, um diese neuen Wunder zu schauen, das waren wir ihnen schuldig. Am einfachsten war es, das Boot holte sie hierher, das ging am schnellsten, und so geschah es, meine Jungen ruderten zurück. Ich aber blieb gleich hier.

Wir drei schritten langsam an dem Wasser entlang, uns auch einmal mehr zwischen die Figuren begebend, immer wundersamere Szenen sehend. Die Bewunderung mochte freilich eine sehr verschiedene sein.

»Ach wäre doch solch ein Gaul richtig von Fleisch und Blut, was müßte der für Beefsteaks abgeben!«

Das waren ganz sicher Mister Tabaks sehnsuchtsvolle Gedanken, wenn er so einem vergoldeten Vieh zärtlich aufs Hinterteil klopfte.

Nach ungefähr einem Kilometer hatten wir die Grenze dieses Figurenparkes erreicht, ganz scharf gezogen, weiter hatte sich eben das Trümmerfeld von Gesteinsmassen nicht erstreckt, und vor uns lag die unübersehbare Steppe im ersten Frühlingsgewande.

Und nicht etwa, daß wir, Juba Riata und ich, daran gedacht hatten, daß uns hier wieder nur eine unbegreifliche Illusion vorgegaukelt würde. Kein Gedanke daran. Die Sonne hatte den vorschriftsmäßigen Stand, das war hier eine echte sibirische Steppe in den ersten Frühlingstagen, sie wurde von dem waldigen Tale durch diese Felsenwand geschieden.

Da war es mir, als ich noch einmal rückwärts zwischen die Statuen blickte, als ob ich einen blitzenden Schimmer huschen sehe. Ich achtete gar nicht weiter darauf, hier glänzte und gleißte ja alles, und ich hatte gerade gegen die im Südosten stehende Sonne geblickt.

»Dort ist so eine goldene Figur davongelaufen!« sagte da auch schon Meister Tabak.

»Es war eine Spiegelung!« meinte ich.

»Was denn für eine Spiegelung? Wer hat denn hier einen Spiegel? Nein, es war so eine goldene Figur, die dort fortgerannt ist.«

»Ach, machen Sie doch keinen Unsinn.«

»Herr!« trumpfte der Eskimo auf. »Ich behaupte, daß dort so eine goldene Figur weggelaufen ist, ich habe es ganz deutlich gesehen — ich behaupte sogar, daß es so ein Weibsbild im goldenen Hemde gewesen ist, und wenn ich mich geirrt habe, dann sollen Sie meinen ganzen Tabaksvorrat bekommen.«

Wenn dieser Eskimo seine Behauptung so begründete, da mußten wir beiden anderen allerdings stutzig werden.

Wir also hin, und jener führte uns gerade dorthin, wo ich den blitzenden Lichtschein hatte huschen sehen.

»Hier ist das Luder gelaufen, oder ich lasse mich hängen und will nie wieder eine Speckseite kauen.«

»Und hier ist ein frischer Fußabdruck!« ergänzte Juba Riata.

Ich konnte in dem kurzen Steppengrase, das mit seinen ersten zarten Spitzen schon unter der Schneedecke gesproßt hatte, zwar absolut nichts sehen, mußte diesem ehemaligen Pfadfinder aber wohl glauben.

»Oder könnte es nicht seine Spur von uns selbst, von einem der Leute sein? durfte ich höchstens noch zweifeln.

»Ausgeschlossen! Es könnte höchstens der kleine Fuß der Ilse oder der Prinzeß in Betracht kommen, schon nicht einmal der von der Patronin, und dann müßten die eine andere Fußbekleidung haben als ihre Pelzstiefeln, was aber nicht der Fall ist. Es ist ein sehr kleiner Frauenfuß, der hier gelaufen ist, er war bekleidet, aber ohne Hacke, man muß an Mokassins denken oder an so eine Sandale, wie diese Amazonenstatuen sie tragen, wenn ihr Fuß nicht gepanzert ist.«

Nun wurde die Sache allerdings bedenklich!

»Na‚, die sind doch wirklich tot, nur aus Stein und mit Gold überschmiert!« meinte Mister Tabak, wieder solch eine weibliche Statue beklatschend.

»Merlin hat ja schon gesagt, daß wir hier Menschen finden werden, hat uns geradezu dazu aufgefordert, sie zu suchen. Vorwärts, wir müssen der Spur nach!«

Im Eilmarsch ging es fort, Juba Riata als Späher an der Spitze.

Die Spur führte zwischen den Statuen hindurch, dem Wasser zu, von dem wir uns etwas entfernt hatten.

»Da schwimmt sie!«

Es war ein grandioser Anblick!

Nämlich wie die goldschimmernden Arme, also mit goldenen Panzerschuppen bedeckt, kraftvoll das Wasser teilten, wie der mit ebensolchen Goldschuppen bedeckte Nacken in der Sonne gleißte, zwischen den silbernen Wassertropfen, und nun schließlich noch ein goldener phantastischer Helm, ein Ungeheuer darstellend, wie auch die gepanzerten Statuen solche trugen.

Sie war schon sehr nahe dem jenseitigen Ufer, schwang sich die niedrige Böschung hinauf, wandte sich uns zu.

Es war ein schlankes, aber vollbusiges Weib, das goldene Schuppenhemd ging ihr noch nicht bis zu den Knien, darunter sah man eine dunkle, wohl braune Haut, von derselben Farbe war das Gesicht, unter dem phantastischen Helm quollen schwarze, kurze Locken hervor. In der linken Hand hielt sie, wovon wir beim Schwimmen gar nichts bemerkt hatten, einen ziemlich langen Bogen und offenbar ein Bündel Pfeile.

Mehr war jetzt nicht zu unterscheiden, denn es ging überhaupt alles sehr schnell.

Kaum war sie mit wunderbarer Elastizität ans Ufer gesprungen, so wandte sie sich auch schon um, hob die rechte Hand gegen uns, schüttelte sie und war schon wieder mit einem Sprunge hinter den nächsten Statuen verschwunden, die also auch auf dem jenseitigen Ufer standen.

»Vorwärts, ihr nach!« rief ich, mich schon anschickend, ins Wasser zu springen, und ich hatte nichts bei mir, was vor Nässe zu schützen war. Die modernen Patronen können ein langes Wasserbad vertragen.

»Sie hat uns gedroht!« sagte der Eskimo. »Und sie ist mit Bogen und Pfeilen bewaffnet.«

»Nein, das war nur eine abwehrende Handbewegung, daß wir ihr nicht folgen sollen!« versetzte Juba Riata und warf sich, seine kurze Büchse über den Kopf erhebend, noch vor mir ins Wasser.

»Das läuft auf ganz dasselbe hinaus. Wenn sie will, schießt sie einen nach dem anderen weg. Gut, ich bleibe hier und fange sie ab, falls sie nochmals durchs Wasser geschwommen kommt.«

So rief uns Mister Tabak nach, während wir schon die Schwimmtour machten.

Dieser Eskimo war alles andere als ein Feigling. Er hatte ganz recht. Wir mußten darauf gefaßt sein, einen Pfeilschuß abzubekommen. Aber wenn man sich vor so etwas fürchtet, darf man nicht den Kriegspfad betreten oder auf eine Menschenverfolgung gehen. Dann muß man überhaupt lieber zu Hause bleiben.

Kurz und gut, uns waren die Fitschepfeile höchst gleichgültig, Mister Tabak hatte uns nur gewarnt und hatte auch darin ganz recht, wenn er als dritter hier zurückblieb.

Der Fluß war hier nur 20 Meter breit, das aus dem warmen See kommende Wasser dünkte uns immer noch wie Brühe.

Auch auf dem jenseitigen Ufer ging die Spur immer zwischen den Statuen hindurch, mehr als einen Kilometer weit, und dann führte sie in die freie Steppe hinaus. Doch nicht lange, so wandte sie sich wieder nach der Felswand zurück, die auch hier ganz glatt war, nur mit zahlreichen Höhlenlöchern durchsetzt, in einem solchen verschwand sie.

Jetzt hätte das kriegerische Weib erst recht Gelegenheit gehabt, uns aus dem Hinterhalte mit einem Pfeilschuß zu beglücken, aber es geschah nicht. Freilich war auch unser Nachsetzen zwecklos. Unsere Taschenlampen beleuchteten einen nackten Höhlengang, auf dessen glattem Steinboden auch Juba Riatas Späherauge versagte. Ohne seine Hundenase war da nichts zu machen. Wir verirrten uns in ein ganzes Labyrinth von Gängen und Höhlen, die aber hier einen ganz natürlichen Eindruck machten, hier hatte nirgends die Hand des Menschen mit dem Meißel oder bei schneidbarem Steine mit dem Messer nachgeholfen.

Bald gaben wir unsere weiteren Bemühungen auf, fanden nur mit Hülfe des Kompasses den Rückweg ins Freie, und es wäre uns nicht so leicht gelungen, wenn nicht alle Gänge miteinander verbunden gewesen, so daß wir schließlich zu einer ganz anderen Höhle wieder herauskamen.

Da hatten wir nochmals einen überraschenden Anblick.

In einiger Entfernung weidete in der freien Steppe ein Pferd! Solch ein mächtiger Gaul, wie ihn dort die Bildhauer in Menge dargestellt hatten. Ein schwarz und weiß gefleckter Schecke, bei aller Mächtigkeit ein herrliches Tier von den edelsten Formen.

»Genau derselbe Schlag wie aus dem Eldorado—Plateau!« setzte Juba Riata auf meine Bemerkung noch hinzu.

»Ob er der Amazone gehört?«

»Er ist vollständig ungezäumt, und wenn ich ihn fangen kann, dann gehört er mir.«

Peitschenmüller machte sich daran, auf Umwegen heranzuschleichen. Es war gar nicht nötig. Das Tier bemerkte doch sicher den Menschen, hatte überhaupt schon nach uns geblickt, jetzt ließ es sich aber im Genusse der jungen Grasspitzen durchaus nicht stören.

Die Lassoschlinge legte sich um den Hals — das Tier beobachtete es gar nicht. Juba Riata klopfte ihm den Nacken, und das stolze Roß neigte dankend für die Liebkosung den Kopf, nachdem es den Mann schon vertraulich beschnüffelt hatte, nicht anders, als suche es in der Tasche nach Zuckerchen.

Da, wie Peitschenmüller auf die andere Seite getreten, ich unterdessen herangekommen war, stieß er einen Ruf der Überraschung aus.

»Mein Totem — mein Brand!«

Ich sah auf dem weißen Schenkel einen schwarzen Schnörkel, eine Art von Violinschlüssel, wußte aber noch gar nicht, was Peitschenmüller meinte, hatte noch nie ein solches Zeichen von ihm gesehen.

»Ja, es ist mein Eigentumszeichen. Und das ist die Schecke, die ich auf dem Eldorado—Plateau gebrannt habe!«

Der Leser entsinnt sich. Juba Riata hatte bei unserem Aufenthalt auf dem Eldorado—Plateau wohl einige solcher großen Gäule gefangen und zugeritten, er selbst war vollkommen Meister über diese ungemein unbändigen Tiere geworden, aber für meine Jungen, die das Reiten erst lernen mußten, waren sie nichts gewesen, sie hatten sich dann an die leicht zähmbaren sanften Ponys gehalten. Und Juba Riata hatte dann später nur noch Interesse für seinen Büffel gehabt.

»Es ist meine Schecke, die ich bei unserem zweiten Aufenthalt auf dem Plateau nicht wiederfand, da ist jeder Irrtum ausgeschlossen. Wie kommt das Tier jetzt hierher nach Sibirien?«

Vergebliche Frage!

Oder auch ganz einfach zu beantworten: sie war eben hierher gebracht worden.

Von wem? Nun eben von denjenigen Personen, die uns auch hier auf geheimnisvolle Weise umgaben, ohne sich sichtbar zu machen.

Wir nahmen das Tier mit. Peitschenmüller brauchte es nicht zu reiten, es folgte wie ein Lamm an der Schnur. Wenn die Amazone Anspruch auf das Pferd machte — gut, so mochte sie es sich nur holen, sie würde uns schon zu finden wissen, dann lernten wir uns ja gleich näher kennen.

Das sagten wir den anderen, die unterdessen mit dem Boote eingetroffen waren. Es konnte nur beim Staunen bleiben, was schon für die weitere Besichtigung der Statuen galt.


89. KAPITEL.
DAS SCHIFF KOMMT.

Sechs weitere Tage vergingen, und immer herrlicher wurden sie.

Denn immer herrlicher grünte und duftete der Wald, und jetzt hatte er sich auch noch mit zahllosen Scharen von Singvögelchen angefüllt, die ihr Brautliedchen jubilierten, überall balzte der Birk— und Auerhahn, und gar erst in dem Schilf, das überall am Rande des Sees emporzuschießen begann, wimmelte es von Wasservögeln aller Art.

Jeden Morgen wurde ich von neuem Entzücken erfüllt, immer glaubte ich, ein herrlicherer Tag könne doch niemals unter Gottes Sonne anbrechen, und dann wurde ich jedes Mal sentimental, bis zu Tränen, und ich wußte nicht warum. So wie es mir noch heute an jedem schönen Frühlingsmorgen im einsamen Walde ergeht.

Ich schildere nicht, was wir in diesen sechs Tagen für Expeditionen machten, was wir fanden, erlebten und trieben — ich gebe nur das Resultat wieder.

»Uns nicht stören lassen!«

Das war die Parole, welche die Patronin gab, noch ehe ich es aussprechen konnte, als am vierzehnten Tage unseres Hierseins, wie Merlin prophezeit hatte, unvermutet unsere »Argos« durch die Wasserschlucht gerauscht kam.

Nur ich allein stand an einer Fensteröffnung und kommandierte, wo sie beilegen sollte, sprang an Deck. Einige scherzende Begrüßungsworte, ein Händedruck mit Kapitän Martin — nichts weiter.

»Alles wohl?«

»Well.«

»Gute Fahrt gehabt?«

»Well.«

»Wer hat geführt?«

Kapitän Martin deutete mit der Fußspitze nach einem schmierigen Kerl, einem Meister Bärtchen in zweiter Ausgabe.

»Hat er etwas gesagt, wo er Sie hinführt?«

»Nichts. Stockfisch. Aber bannig sein hier, alles so scheun greun.«

Dabei aber hatten sie erst während der letzten zweitägigen Fahrt die grüne Steppe gesehen, zwar ebenfalls schon »bannig fein«, weil eben »scheun greun«, aber die war doch nicht mit diesem Walde zu vergleichen, und von dem konnten sie von hier aus noch nichts sehen, sie hatten nur den freien Wasserspiegel des Sees vor sich.

»Na‚, da kommt mal alle mit — jawohl alle, alle! — Du auch, Kännchen, laß nur ruhig Deine Suppe eindampfen — Sie auch, Kapitän — nu Sie erst recht, Vater Abdall . . . «

Die letzte Silbe konnte ich nicht mehr aussprechen.

Nein, sonst fand keine Begrüßung statt. Wenigstens nicht seitens der zweibeinigen Wesen unseres Schiffes. Ich hatte die anderen vergessen.

Plötzlich öffnet sich eine Luke, eine bunte Masse quillt hervor, und da liege ich auch schon platt auf den Planken, bin so ungefähr von drei Dutzend Hundekötern zugedeckt, von etlichen Bären, einem Löwen, einem Tiger und anderem Viehzeug, das mich mit seinen Liebkosungen erdrücken will.

Endlich befreite ich mich von der freudetollen Bande oder wurde befreit.

»Nun mir nach, alle, alle!«

Die aus mehr als hundert Personen bestehende Menschenschlange folgte mir durchs Fenster. Ich führte sie so, daß sie nicht erst schon bewohnte Räume passierte, führte sie direkt ins Freie.

Da standen sie und staunten den grünen Wald an.

Bis zuerst einer von den gelben Knirpsen, die freilich nun alle schon vier Jahre älter und dementsprechend größer geworden waren, das Schweigen brach.

Etwas ganz Merkwürdiges geschah.

»Waffenmeister, dürfen wir da hinaufklettern?«

Nicht weit von dem Höhlenausgange stand eine mächtige Eiche, bei Sonnenhöhe bedeckte der Schatten ihrer Zweige ein Gebiet von einem Viertel Hektar, und überall sproßten jetzt die grünen Blättchen hervor.

Merkwürdig fand ich diese erste Frage besonders deshalb, weil auch die schon anwesenden Matrosen bei jeder Gelegenheit auf dieser Eiche herumgeklettert waren, und ich mit, nur bedauernd, daß wir nicht das nötige Tauzeug besessen hatten, um das Geäst noch miteinander zu verbinden, um sozusagen dort oben ein Spinnengewebe herzustellen, aber eines nach allen drei Dimensionen, um dann erst recht nach Herzenslust herumzuspringen.

Wirklich ganz merkwürdig, was diese Eiche schon immer für eine Anziehungskraft auf uns ausgeübt hatte, und jetzt war dieses kleinen Jungen erste Frage, ob er mit seinen Kameraden da oben herumklettern dürfe.

Natürlich durften sie.

Und mit einem Jubelschrei kletterten sie hinauf, wie auf Verabredung gleichzeitig alle 32 Bengels. Dabei war das Hinaufkommen gar nicht so einfach. Kein Ast hing so weit herab, daß ihn selbst ein großer Mann mit den Händen im akrobatischen Sprunge hätte erreichen können. Doch diese Bengels wußten schon hinaufzukommen. Es waren Schiffsjungen, und ich hatte sie noch in ganz besonderer Weise ausgebildet. Sie kletterten einander auf die Schultern, drei übereinander, so bauten sie lebendige Leitern, an denen die anderen hinaufkletterten, ja die gewandtesten kletterten sogar direkt am Stamme empor, obgleich dieser gar keine sichtbaren Vorsprünge bot, nur eine sehr rissige Rinde hatte — wie die Affen, nein, wie die Eichhörnchen.

Und nun ging es dort oben los, von den untersten Ästen bis hinauf in den Wipfel, ich schätzte eine Höhe von wenigstens 30 Metern, das ist noch ein halb mal so hoch als ein vierstöckiges Haus, immer von einem Ast zum andern gesprungen und geschwungen.

»Seile her, Seile her!« erklang da auch schon der Ruf. Sie hatten denselben Gedanken gefaßt, den auch wir Erwachsenen schon gehabt.

»Dürfen wir?«

Ja selbstverständlich durften sie.

Zurück an Bord und geeignete Seile und Tauwerk geholt, ein Bündel folgte dem anderen in schier endloser Anzahl. Da war aber auch noch eine zweite solche mächtige Eiche in der Nähe, und nun ging es gleich los wie immer: Gelb gegen Blau! Welche Partei ihren Baum am schnellsten und am schönsten in Tauwerk eingewickelt hatte, daß man auch von einer Astspitze zur anderen klettern und sich schwingen konnte, und wer dabei stürzte, dessen Partei bekam einen Fehlpunkt.

Genug, weiter will ich nicht schildern, was das für ein Leben oben auf den Bäumen war, es ist überhaupt gar nicht zu schildern. Jedenfalls aber war es herrlich! Nur der eine bedauernde Gedanke stieg mir manchmal auf, wieviel Knaben es doch in der Welt gibt, die zu solch einem Spiele keine Gelegenheit, daher von solch einem herrlichen Genuß überhaupt gar keine Ahnung haben.

»Wo sind denn nun aber die anderen?«

Da kam schon der eine: Juba Riata.

Aber wie kam er an!

In einem Birkenschlitten, dessen Kufen durch Räder ersetzt waren, einfach aus einem Brette gefügt, mit Reifen von jenem schwarzen Bernstein, also auf Gummirädern, und vor diesen Schlittenwagen nun nicht weniger als 49 Hunde gespannt, in sieben Reihen zu je sieben geordnet!

Wir hatten 54 Hunde mitgebracht, sechs davon hatte der Wisent zerstampft; vier waren eingegangen oder im letzten Schneesturm verschwunden. Dafür aber hatte Juba Riata fünf junge Wölfe gefangen und sie bereits zwischen den anderen Hunden eingefahren.

Ach, was für unsägliche Mühe hatte er gehabt, um die Hunde an ihre wilden Vettern zu gewöhnen, zu verhindern, daß sie nicht sofort über sie herfielen und sie zerfleischten! Was für Mühe, um die Wölfe im Joch an die Hunde zu gewöhnen! Und nicht minder für Mühe, um das Entsetzen unseres Meister Bärtchen zu bemeistern! Denn für die Samojeden wie überhaupt für alle diese sibirischen Völkerschaften sind die Wölfe sämtlich böse Menschen, die sich zeitweise in Wölfe zu verwandeln wissen. Da gibt es gar keine Ausnahme.

Jetzt liefen diese fünf jungen Wölfe schon ganz willig zwischen den anderen Hunden mit, und großartig sah es nun aus, wie Juba Riata mit 49 Tieren angefahren kam, wie der schöne, stattliche Mann vorn in dem eigentümlichen Gefährt aufrecht stand, das Bein vorgestemmt, in der einen Faust sieben Zügel vereinigt, in der anderen die endlos lange Peitsche, bald einen ungehorsamen Hund strafend, bald einem anderen einen mehr liebkosenden Schlag versetzend.

Da aber kam die Katastrophe.

Ein donnerndes Gebrüll, und alle wars mit jeder Dressur und Fahrkunst.

Unser Leo, jetzt ein ausgewachsener Löwe — und was für ein stattliches Exemplar der abessinischen Rasse war er geworden — hatte es ausgestoßen.

Diese Hunde gingen vor keinem Bären und keinem Wisent mehr durch, aber den ihnen noch fremden Anblick des Königs der Tiere vermochten sie doch nicht zu ertragen.

Zum Überfluß kam auch noch die Marchesse angesetzt, die Königstigerin, und ihr nach noch eine ganze Menge von Bestien, um den trotz all seiner Strenge doch so geliebten Herrn und Meister zu begrüßen.

Da war es natürlich mit aller Dressurfestigkeit der 49 sibirischen Hunde und Wölfe vorbei.

Ach, gab das ein Theater!

Wie diese in sieben Reihen wohlgeordneten 49 Tiere plötzlich nach allen Richtungen davonstoben!

Im nächsten Augenblick war wiederum einer unserer Birkenschlitten an einem Baumstamm zerschellt.

Aber nicht etwa der zweite, sondern von unseren fünfzehn Birkenschlitten, die wir mitgebracht, schon der achte! Denn diese allgemeine Hundedressur hatte bereits sechs andere Schlitten gekostet!

Vielleicht noch großartiger aber war nun das Weitere, wie Juba Riata diese Sache nun noch einzurichten wußte. Wohl hatte er trotz seiner sieben Zügel die Gewalt über die Hunde verloren, wohl erlitt er Schiffbruch, aber Herr und Meister über die Tiere blieb er schließlich dennoch!

Er selbst war nicht zu Boden gestürzt, aufrecht ging er aus den Trümmern hervor. »Nach allen Richtungen stoben die Hunde davon!« hatte ich zuerst gesagt. Das ist nicht wörtlich zu nehmen. Daran wurden sie ja schon durch die Art der Bespannung gehindert. Außerdem hatten diese 49 Hunde durch ihr wiederholtes Durchgehen nun schon so viel Erfahrung gesammelt, daß sie wußten, wie ihr Heil gerade im Zusammenbleiben lag, wenn es auch nicht mehr ein so geordnetes war, und ebenso wußten sie jetzt, daß sie nicht an beiden Seiten eines Baumstammes vorüber durften, sonst verfingen sie sich und waren geliefert.

Durch diese gewitzigte Erfahrung aber wäre ihr Lenker geliefert gewesen, auch wenn er nicht die Zügel aus der Hand verlor. Was wollte denn da ein Mensch machen. Mitrennen konnte er nicht. Klammerte er sich an einen Baumstamm an, so konnte ihm, wenn er nicht losließ, doch gleich ein Arm ausgerissen werden. Oder er kam schließlich doch zum Sturz und wurde geschleift, mußte also endlich doch die Zügel fahren lassen.

Aber Juba Riata ließ sie eben nicht fahren! Vielmehr fuhr er selbst weiter, nur ohne Räderschlitten, in ganz besonderer Weise. Per pedes apostolorum. Er hatte sich aus Erz eine Art von Sporen gefertigt, sie in genialer Weise an seine Hacken befestigt, daß sie felsenfest saßen, und so ließ, er sich schleifen, ganz zurückgeneigt, in der einen Faust die sieben Zügel, mit der Peitsche die Hunde karbatschend und mit den Füßen in den Moosboden zwei wahre Ackerfurchen ziehend.

Ich hatte solche auf diese Weise von ihm gezogene Ackerfurchen schon anderswo gesehen, hatte dasselbe Manöver auch schon einmal beobachtet, aber nur von weitem, hier sah ich es zum ersten Male in meiner dichten Nähe ausgeführt, und ich kann nur sagen, daß es geradezu fürchterlich anzuschauen war, wie sich dieser Mensch auf solche Weise von den 49 Wolfshunden schleifen ließ, halb mit dem Rücken am Boden liegend und dennoch auf den Füßen stehend, wie er dabei die Hunde karbatschte, und so ruhte er nicht eher, als bis er sie schließlich dennoch seinem Willen unterworfen hatte und sie in geordneten Reihen an Ort und Stelle zurückbrachte.

»Ja, wo sind denn aber nun die anderen?!« erklang es immer wieder.

Im Zirkus fanden wir sie alle zusammen. Und das waren jetzt keine Gaukler mehr, sondern es waren aus ihnen bereits richtige Zirkuskünstler geworden, es fand gerade eine Probe statt, oder sie übten, was man aber schließlich auch als eine richtige Zirkusvorstellung betrachten konnte.

Hatten wir vielleicht die Absicht, nun wirklich unter die Zirkusmenschen zu gehen, auch in anderen Zirken öffentliche Vorstellungen zu geben?

Sei dem, wie es wolle — jedenfalls hatten wir uns den im Zirkuswesen üblichen Verhältnissen angepaßt.

In der Mitte der Manege war eine kleinere errichtet, einfach indem im Kreise solche elastische Bernsteinplatten aufgeschichtet waren, denen man leicht die nötige Rundung hatte geben können, und diese zweite Manege hatte genau den vorschriftsmäßigen Durchmesser von 13 Metern. Das war es nämlich, wodurch ein wirklicher Artist leicht auf den Gedanken kommen konnte, daß wir Seegaukler ihm Konkurrenz machen wollten. Und vielleicht hatte er ja gar nicht so Unrecht. Jedenfalls hatten wir uns jetzt dem Kunstreitersport ergeben.

In dieser Manege trabten oder vielmehr galoppierten zwei Pferde, zwei mächtige Gäule. Der eine hieß »Viola«, von meinen Jungen nach dem ihm von Juba Riata schon auf dem Eldorado—Plateau eingebrannten Violinschlüssel so getauft, der andere hörte auf den Namen »Zeus«, aber schon so weit waren wir im Pferdesport gekommen, daß wir dieses Wort »Ze-us« aussprachen — jeder Kavallerist und sonstiger echte Pferdejunker weiß sofort Bescheid und das waren nicht die beiden einzigen Riesengäule, die wir besaßen, sondern im Stalle standen noch drei andere, ebensolche mächtige Tiere.

Woher wir die hatten? Nun eben von dort, wo wir auch die Schecke mit dem Violinschlüssel gefunden hatten. Von der Steppe jenseits der Felsenwand. Dort tummelte sich noch eine große Herde solcher Riesenpferde herum, vielleicht auch viele Herden. Ob die erst von dem Eldorado—Plateau extra unseretwegen hierher verpflanzt worden waren, darum kümmerten wir uns nicht, über solche Neugier waren wir schon längst erhaben. Juba Riata hatte vier weitere von ihnen gefangen, die aber diesmal wirklich gehascht werden mußten, hatte sie schon ganz brauchbar für Reit, und Zirkusdienst dressiert, und dasselbe galt von einem Dutzend Tarpans und Kulans, so daß wir schon über einen ganz stattlichen Marstall verfügten. Peitschenmüller brauchte nur Erfahrung zu sammeln, dann wurde er auch mit Tarpans und Kulans fertig, sogar mit schon älteren Tieren. Der wußte ihnen bald alle Mucken auszutreiben.

Jetzt also galoppierten Viola und Zeus im Kreise herum, mit dem Panneau gesattelt, dem flachen, tischähnlichen Polstersattel, dessen Herstellung uns eine Kleinigkeit gewesen war, und Hans und die Prinzeß waren es, die sich im Stehendreiten übten, oder vielmehr schon in wagehalsigen Sprüngen, wozu sie noch an die »lange Longe« genommen wurden.

Ich bin mit der Zeit im ganzen Zirkuswesen perfekt geworden. Der Artist, womit ich hierbei Akrobaten, Seiltänzer, Forcereiter und ähnliche Leute meine, keine Komiker, kennt der Hauptsache nach dreierlei Arten von Hülfsmitteln bei seinen halsbrecherischen Übungen, die er im allgemeinen mit dem Namen »Longe« bezeichnet. Woher dieses Wort kommt, weiß ich allerdings nicht, hat mir niemand erklären können. Die Hand—Longe besteht aus Riemen, die am Körper festgeschnallt werden, mit Handgriffen, der Lehrmeister greift direkt zu, um dem Übenden behilflich zu sein und ihn vor Stürzen zu bewahren. Bei der kurzen Longe besteht die Verbindung zwischen Lehrmeister und Schüler in einem Seil; sie wird hauptsächlich beim Stehendreiten angewendet, verhindert aber nur, daß der Übende nach außen stürzt, er kann nur nach innen in die Manege fallen, was ungefährlicher ist. Bei der langen Longe schließlich ist die Verbindung noch indirekter, das Seil läuft erst durch eine Rolle, die von der Decke herabhängt, hierbei ist ein Sturz überhaupt ganz ausgeschlossen, der Fallende bleibt in der Luft schweben, denn das andere Ende wird von einigen Männern gehalten, angezogen und nachgelassen, wie es der Bedarf erfordert. Aber die lange Longe kann nicht immer angewendet werden, wenn sie eben hinderlich ist, wie zum Beispiel beim Saltomortale—Schlagen. Da muß man mit der kurzen Longe auskommen, trotz aller Gefährlichkeit. Doch leisten diese artistischen Lehrmeister in der Handhabung der kurzen Longe auch ganz Erstaunliches. Der Schüler kann stürzen wie er will, solch ein Trainer weiß ihn durch einen eigentümlichen Ruck an der Leine immer vor dem Schlimmsten zu bewahren, bringt ihn, auch wenn der Stürzende kopfüber durch die Luft saust, noch immer auf die Beine. Wofür sich solche Lehrmeister freilich auch bezahlen lassen. Oder sie fesseln eben den Schüler durch jahrelangen Kontrakt an sich nützen ihn ab, was aber ganz verzeihlich ist.

Wir benutzten nur die lange Longe. Für die mehr als 50 Meter hohe Decke hätten wir gar kein Seil gehabt, aber wir konnten ja, wie schon geschildert, quer über die ganze Manege ein Gerüst bauen, nur 20 Meter hoch, das genügte schon, solch ein langes Seil besaßen wir, es wurde in der Mitte leicht drehbar befestigt, oder vorläufig, weil die doppelte Länge fehlte, saßen einige schon gut eingeschulte Matrosen oben, welche die Sache handhabten, den Übenden am Gängelbande hielten.

Wir waren in den zirzensischen Künsten bereits tüchtig vorgeschritten. Hans übte gerade den freien Sprung auf das ungesattelte Pferd, war ja allerdings auch unser bester Springer, aber daß die kleine Prinzeß im kurzen Röckchen mit Pumphöschen, auf dem Panneausattel schon die ganze Pirouette fertig brachte, das Umsichselbstdrehen im Sprunge, bei senkrechter Haltung des Körpers, das hatte wirklich schon viel zu bedeuten. Wenn sie es auch noch sehr ängstlich tat, dabei die Hände immer ausstreckte, als wolle sie sich an etwas festhalten. Schneider—Schnipplich und Kretschmar dirigierten als Stallmeister mit der Peitsche die beiden Pferde, die ja nie aus den Augen gelassen werden dürfen und die freilich erst von Juba Riata so weit gebracht worden waren, daß sie ohne Leine gleichmäßig im Kreise liefen und willig Menschen auf sich herum trampeln und hopsen ließen.

So war das Bild beschaffen, als nun die ganze Schiffsbesatzung, von mir geführt, den Zirkus betrat.

Das allgemeine Staunen galt im Augenblick weniger dem kolossalen Felsenbau als vielmehr diesen artistischen Übungen, worin sich die Teilnehmer gar nicht stören ließen.

»Well,« nahm zunächst an meiner Seite Kapitän Martin etwas spöttisch das Wort, »das hat die Herzogin und Peereß bei ihren zukünftigen Regierungsgeschäften ja auch sehr nötig, daß sie so auf einem Pferde herumhopsen kann.«

»Gelernt ist gelernt,« versetzte ich, »und ich sehe nicht ein, inwiefern solche Kunstreiterei unangebrachter ist, als ein anderer Sport, als etwa das Lawntennisspiel, und Sie geben doch wohl zu, daß eine englische Herzogin, die nicht perfekt Lawntennis spielen kann, einfach eine englische Unmöglichkeit ist.«

»Well, da haben Sie ganz recht!« gab der biedere und welterfahrene Kapitän denn auch gleich zu.

»Herr Kapitän, machen Sie mir das einmal nach!« rief jetzt die kleine Prinzeß, nicht mehr Pirouetten schlagend, nur noch graziös im Stehen mit den Beinen schlenkernd, tanzend, was sie aber auch schon ganz famos heraus hatte.

»Well,« fing der alte Seebär wieder an, sich aber nur an mich wendend, oder an die Patronin, die daneben stand, auch schon im Turnerkostüm, »ich bin ein ganz tüchtiger Reiter.«

»So?!« lachte die Patronin. »Ich habe Sie aber noch nie auf einem Pferd gesehen!«

»Weil ich mich in Ihrer Gegenwart noch nie auf eins drauf gesetzt habe. Weil ichs nicht nötig hatte. O ja, in meinen jüngeren Jahren machte mir niemand so leicht im Reiten etwas vor.«

»Konnten Sie auch stehend reiten?«

»Das nicht grade. Das heißt, ich hab nie probiert. Weil ich nie nötig hatte. Aber da ist doch gar nichts dabei.«

»Sie meinen, das ist so leicht, auf dem Rücken des galoppierenden Pferdes zu stehen?« fragte die Patronin mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Well, das meine ich. Wenigstens wenn das Vieh so einen großen Tisch auf den Buckel geschnallt hat. Auf dem nackten Rücken zu stehen, wie es der Hans da macht, will ich ja nichts sagen, das mag schwierig sein, aber auf so einem flachen Tischsattel — bah! Man macht einfach die Bewegungen des Pferdes mit, hopst immer bei jedem Galoppsprunge und hat dabei nur gut aufzupassen, daß man weder nach rechts noch nach links herunterfällt, nur hübsch Balance halten — was soll da weiter dabei sein?«

Ich dachte schon, jetzt würde die Patronin den Kapitän beim Wort nehmen, ihn auffordern, zu zeigen, daß es wirklich so einfach sei, aber sie tat es nicht. Auch sie hatte vor dem alten Seebären den größten Respekt.

In anderer Weise wollte sie die Schwierigkeit dieses einfachen Stehendreitens beweisen.

»Leute — wer von Euch kann stehend reiten! Wer dreimal im Stehen auf dem Panneausattel in der Manege herumreitet, der der der — soll fernerhin den Ehrentitel Argonautenschiffsrittmeister führen!«

Jubelnd von allen Seiten wurde diese humoristische Aufforderung begrüßt. Sie alle hatten ja schon nur darauf gewartet, auch einmal ihre Kunst probieren zu dürfen.

Und die Geschichte ging los! Einer nach dem anderen wurde an die lange Longe genommen.

Es war nicht gerade etwas Neues, was sich da in unserem Felsenzirkus abspielte.

Jeder Zirkus nimmt heute die betreffende Nummer für einige Zeit in seinem Programm auf. Nachdem eine Reitkünstlerin den ersten Teil ihrer Evolutionen auf dem Panneau absolviert hat, fordert der Stallmeister oder ein Clown nach einer humoristischen Unterhaltung das Publikum auf, es soll einmal jemand dieses Stehendreiten nachmachen. Jeder, der dreimal stehend in der Manege herumreiten kann, ohne herabzufallen, erhält eine gewisse Geldprämie.

Es melden sich aus dem Publikum junge Leute, einer nach dem andern wird an die lange Longe genommen, er klettert hinauf oder wird hinaufgehoben, der Gaul setzt sich sofort in den üblichen kurzen Galopp, und sofort oder nach kürzerer oder längerer Zeit verliert der Jüngling die Balance und fängt an zu »schwimmen», zappelt an der Leine in der Luft herum. Das Publikum amüsiert sich über die lächerlichen Kapriolen.

Wer die Sache kennt oder zu beobachten versteht, der weiß oder merkt sofort, daß die Betreffenden, die sich melden, mit zum Zirkuspersonal gehören. Ganz abgesehen davon, daß unter den fremden Leuten ja welche sein können, welche diese Kunst verstehen, sich dann die ziemlich hohe Geldprämie verdient haben. Aber die Polizei gestattet so etwas überhaupt gar nicht. Oder der sich Meldende müßte erst in die Unfallversicherung eingekauft werden oder einen Verzicht unterschreiben.

Gesetzt aber den Fall, es würden sich Fremde melden, so würde die Sache durch unfreiwillige Komik noch viel lächerlicher werden. Nur daß wohl niemand auch nur zwei Galoppsprünge aushalten könnte oder er hat das Stehendreiten auf dem Panneau eben wirklich durch lange Übung gelernt. Denn es ist eine ganz verflixte Geschichte! Und da hilft kein Reit— und kein Seiltänzergenie. Das Pferd macht nur den ersten Galoppsprung, setzt nur dazu an, und sofort liegt man unten oder zappelt in der Luft herum.

Hier bei uns war es keine abgekartete Mache, und wir kannten einander, das war es, was die Komik verdoppelte und verdreifachte. Keiner wollte es glauben, daß es so schwer, daß es unmöglich sei, auch nur einmal im Kreise stehend zu reiten, einer nach dem andern wurde an die Leine genommen, kletterte oder vielmehr schwang sich elegant hinauf, sie alle waren doch schon mehr ganze als nur halbe Akrobaten und Seiltänzer — und, ach, dann diese Gesichter, wenn sie plötzlich in der Luft schwammen, diese possierlichen. Bewegungen! Bei uns kam eben noch die Individualität eines jeden einzelnen hinzu, die wir doch kannten, was für ein Unterschied, ob der dreizentrige August der Starke oder der federleichte und spinnendürre Siddy abgeworfen wurde und dann in der Luft herumkrebste! Und bei diesem letzteren, dem indischen Meisterschaftsgaukler, der auf einem ganz schräg gespannten Telegraphendrahte in unbegreiflicher Weise hinaufgleiten konnte, hatte ich eigentlich geglaubt, daß er es fertig brächte. Nein, auch er wand sich nach dem zweiten Galoppsprung wie ein verhungerter Regenwurm in der Luft. Und als nun gar unser »Bandlwurm« von 2,30 Meter Länge in der Luft schwabbelte, da war eben richtig der am Seile hängende Bandwurm fertig.

Ach, dieses homerische Gelächter, das die Riesenhalle erfüllte, daß die Felsenwände widerhallten! Das war doch etwas ganz anderes, als was man sonst Ähnliches in einem Zirkus vorgemacht bekommt.

Merkwürdig war, daß Kapitän Martin sich durchaus nicht von der Schwierigkeit der Sache überzeugen lassen wollte. Wie sich dieser alte Seebär überhaupt plötzlich echauffierte!

»Dösköppe seid Ihr, Ihr fangt es nur falsch an! Das ist doch ganz einfach! Ihr müßt die Hände ausbreiten — so, so — und immer nur auf einem Beine hopsen — so, so immer die Galoppsprünge des Pferdes mitmachen — so, so — immer nur auf einem Beine und dazu so mit den Händen — so, so . . . «

Und, in der Mitte der Manege stehend, führte er die Bewegungen auch aus, zeigte, wies gemacht werden mußte, hopste auf einem Beine herum, mit dem anderen in der Luft herumquirlend, dabei mit den Armen wie mit Flügeln wedelnd.

Wie ein lahmgeschossener Engel im langschößigen Gehrock mit graumeliertem Vollbarte!

Einfach zum Totschießen!

Wenzel—Attila, der Zwerg, der übrigens noch etwas ganz anderes konnte als dieses Stehendreiten, lachte, daß ihm die Tränen über das Kindergesichtchen rannen.

»Herr Kapitän, Herr Kapitän — Sie haben Ihren Beruf verfehlt! Clown hätten Sie werden müssen! Sie brauchen kein Engagement unter monatlich 3000 Mark anzunehmen, mit freiem Hotel und Equipage!«

Der kleine Mann hatte recht! Unser ehrwürdiger Kapitän gab einen Clown ab, wie ich noch keinen gesehen hatte! Und daß er dies nun ganz unfreiwillig tat‚, selbst sich gar nichts davon bewußt war, das war ja eben der Hauptwitz dabei!

Ich saß auf einer der Stufen und hielt mir den Bauch vor Lachen.

»So so,« machte der Kapitän immer weiter, »immer nur auf einem Beine hopsen — so die Hände halten — so, so.. <

»Na‚ da versuchen Sie es doch einmal selbst auf dem Pferde!« ermunterte da die Patronin.

Wurde denn unser Kapitän vom Teufel geritten? Wahrhaftig, er war bereit dazu!

»Well, ich wills Euch mal zeigen, wies gemacht werden muß, wie einfach die Geschichte ist. Nehmt mich mal an dee Lien!«

Und er ließ sich anschnallen, biß sich erst noch ein tüchtiges Stück Kautabak ab, dann schwang er sich hinauf, trotz seiner alten Knochen gar nicht so ungeschickt, kam gleich zum Stehen.

»So — nun das eine Bein zur Balance seitwärts gestreckt — und die Hände natürlich auch — so, so nun gebt dem Gaul mal Volldampf . . . «

Der Gaul ging ab — und mein Kapitän auch!

Es war eben nichts mit der Theorie gewesen, die Praxis fehlte!

Nun aber passierte etwas, was an Komik alles Vorangegangene übertraf, wenn es auch nur einen Moment währte.

Also Kapitän Martin purzelte sofort als lahm—geschossen: Engel herab, kam natürlich nicht zu Fall, blieb an der Leine hängen.

In Folge des Beharrungsvermögens machte der Herabgefallene natürlich erst immer noch die Kreisbewegung etwas mit, schwebte hinter dem galoppierenden Pferde her.

In demselben Augenblick nun, da Kapitän Martin von dem Pferderücken herabschwebte, steckte er, auf beiden Backen Tabak kauend, schnell seine beiden Hände in die Hosentaschen, spritzte dem abgehenden Pferde eine Ladung Tabakssaft nach und versuchte ihm auch noch mit seinem endlos langen Beine einen Tritt zu geben.

»Satan! Well, die Sache ist doch nicht so einfach — laßt mich wieder herab, Jungens.«

Es läßt sich eben nicht schildern. Wie der siegesbewußte alte Herr mit den langen Schoßröcken in der Luft flatterte, dem Gaule nach wie er blitzschnell die Hände in die geliebten Hosentaschen steckte und dem Pferde nachspuckte und mit seinem langen Beine nachtrat . . . das war nicht mehr nur ein homerisches Gelächter, das die Riesenhalle erfüllte, das war noch etwas ganz anderes.

Und so ging es den ganzen Tag weiter, auch die nächsten Tage noch, wenn nicht immer ab und zu etwas anderes dazwischen kam.


90. Kapitel.
DAS SCHLOß DER ENTSAGUNG.

Ich für mein Teil hatte mich nach diesem letzten Intermezzo hinauf begeben, ich konnte nicht mehr, der Kopf drohte mir zu springen.

Die Bengels turnten noch in den beiden Eichen herum.

»Waffenmeister, was ist denn das für eine Burg dort?« wurde mir zugerufen.

»Was für eine Burg?«

»Na,‚ die dort oben auf dem Felsen liegt!«

Ich wußte nichts davon, wir hatten noch nichts von einer Burg gesehen. Obgleich die oberen Etagen in den Felsen noch viel höher waren als diese Bäume. Allerdings war heute auch eine ausnahmsweise klare, durchsichtige Luft.

Ich kletterte hinauf, jetzt war es ja leicht genug gemacht — jawohl, dort im Südosten konnte ich schon mit bloßen Augen etwas Burgähnliches unterscheiden, und mit meinem Taschenfernrohr sah ich sie ganz deutlich, eine vollkommene Burg mit Türmen und Zinnen, jede Täuschung durch ein Naturgebilde war ausgeschlossen.

Ob sie dicht am See lag, das war jetzt nicht zu unterscheiden. Wenn ich mich nicht irrte, war erst noch ein Höhenzug vorgelagert, dann erst erhob sie sich auf einem Felsen oder einem Berge.

Unten ging gerade Juba Riata vorüber, der seine Hundemeute entlassen hatte. Nein, der wußte natürlich auch nichts von dieser Burg, kam ebenfalls herauf und besichtigte sie.

»Da müssen wir einmal hin.«

»Sofort!«

»Sofort? Ich wollte eigentlich jetzt mit meinem Pluto nach jener Höhle, in der die Amazone damals verschwand, vielleicht daß der Bluthund doch noch eine Witterung findet . . . na,‚, meinetwegen, ich komme gleich mit. Zu Pferd?«

»Die Pferde haben jetzt genug zu tun. Aber gehen Sie nicht in den Zirkus, ich möchte Sie nicht so lachen sehen, das steht Ihrer Würde nicht. Wir nehmen die beiden Kutter, die Blaugelben mögen um die Wette rudern.«

Gesagt, getan. Dazu aber mußten wir uns natürlich erst an Bord begeben, was Peitschenmüllern um so lieber war, er hatte noch nicht einmal seinen »Teufel«, seinen Büffel begrüßt. Er wurde auch noch von anderen Tieren stürmisch begrüßt, alle verließen das Schiff doch nicht ohne Zwang, so die kleineren Katzen nicht.

Pluto und Chloe kamen gleich mit in die Boote, dann schlossen sich uns noch die beiden Walrosse und die vier Seehunde an, die in dem Kanal und auch weiter draußen im See bereits eifrig der Fischjagd oblag en. Das heißt, sie folgten uns schwimmend im Wasser, blieben allerdings hinter den racenden Booten bald zurück, aber wir wiesen sie nicht zurück, forderten sie im Gegenteil dazu aus, uns zu folgen, wir wollten sehen, ob sie uns dann zu finden wüßten. Daß sie sich nicht verirrten, dann später den Rückweg fanden, das war ganz selbstverständlich, diese Wassertiere konnten noch etwas ganz, ganz anderes.

Im Wettkampf ging es über den spiegelglatten See, Gelb gegen Blau. Juba steuerte die erstere Farbe, ich die letztere. Doch bald gaben wir das Wettrudern auf, wir hatten uns Verschiedenes zu sagen. Ich hätte gleich von unserem Quartier aus eine trigonometrische Berechnung, so weit möglich, von der Lage jener Burg machen sollen, mit Zuziehung von Doktor Cohn, der darin etwas los hatte. So aufs Geratewohl war unser Ziel außerordentlich schwer zu finden.

Wir hatten im Laufe der Tage schon den ganzen See abgefahren, immer am Ufer hin, und von einer Burg hatten wir nichts gesehen. Freilich war das mit dem »Am Rande—Hinfahren« hier ebenso schwierig, wie die Quelle des Nils zu entdecken. Überall zweigten sich Seitenarme oder Zuflüsse ab. Erst den allergeringsten Teil von ihnen hatten wir befahren, und auch immer nur eine kleine Strecke hinauf.

»Wir müssen dort den Gebirgszug besteigen, dort hinten hat die Burg bestimmt gelegen, von dort werden wir sie schon wieder sehen.«

So wurde es auch gehalten. Die von Süden nach Norden verlaufende Felsenmasse erstreckte sich als steiles Vorgebirge etwas in den See hinein. Es wurde umfahren, wir legten bei, begannen den Aufstieg, der zwar beschwerlich, aber doch nicht gerade halsbrecherisch war. Außerdem sammelte sich nach oben auf dem erst nackten Felsboden immer mehr Humus an, es gediehen Sträucher, dann stattliche Bäume, so daß wir uns fortziehen konnten. Also wir erstiegen schon den jenseitigen Abhang. Von der anderen Seite aus hätten wir ja die ganze, sehr beträchtliche Höhe erklettern müssen, ehe wir nach der anderen Seite blicken konnten, und dort lag die Burg bestimmt.

»Da liegt sie ja!l«

Ja, da sahen wir sie zwischen den Bäumen hindurch liegen, sozusagen in handgreiflicher Nähe, hoch oben auf einem Felsen, eine stattliche Burg, schon mehr ein Schloß zu nennen, ein imposantes Gebäude mit Türmen und Zinnen und zahllosen Söllern und Erkern und Galerien und anderen Vorsprüngen — so deutlich lag sie im Abendsonnenschein vor uns, daß wir die mächtigen Quadersteine erkennen kannten, aus denen sie zusammengesetzt war, und wenn diese auch im Laufe der Jahrtausende sehr verwittert sein mochten, verfallen war absolut nichts.

Aber von hier aus in erreichbarer Nähe war die Burg noch nicht. Da kam erst noch ein Wasserarm dazwischen und dann noch ein anderer Höhenzug. Jedenfalls aber wußten wir nun, wie sie zu erreichen war.

Wieder hinab zu den Booten.

»Da kommt die Tantel«

Das weibliche Walroß war das erste, das wie ein Pfeil durchs Wasser geschossen kam. Der Leser entsinnt sich wohl: ich hatte das Tier nach der Seenixe Dandea getauft, meine Matrosen hatten schleunigst Tante daraus gemacht.

Dann folgte Neptun, ihr Gatte. Und dann in einiger Entfernung die vier Seehunde, die, wie schon einmal gesagt, die schönen Namen Kasper, Nauke, Pimberle und Knipperdolling bekommen hatten.

Den zehnriemigen Kuttern, von geschulten Matrosenhänden gerudert, von gestählten Armen, wenn diese auch erst Knaben angehörten, hatten diese Tiere nicht folgen können, hatten uns sogar sicher aus dem Gesicht verloren, aber sie hatten uns zu finden gewußt. Das heißt: die Tante hatte die Führerin gespielt. Eben ein Weib. Daß die weiblichen Tiere klüger sind als die männlichen, findiger, das wissen alle Jäger und Dompteure und Dresseure. Übrigens spricht ja Schopenhauer auch dem menschlichen Weibe mehr Intellekt zu als dem Manne, Artur Schopenhauer, dieser ausgemachte Frauenverächter! Freilich ist Intellekt nicht mit Intelligenz zu verwechseln. Schnelle Auffassungsgabe, wollen wir sagen, leichtes Lernen, und darin ist das Mädchen dem gleichaltrigen Knaben ja auch zweifellos überlegen.

Die Ruderpartie wurde fortgesetzt, wir ließen auch den zweiten Gebirgszug hinter uns, fanden jenseits eine breite Wasserstraße, sie mündete nach kurzer Fahrt in einen ansehnlichen See, und jetzt hatten wir die Burg direkt vor uns oder noch mehr über uns.

Es war noch viel imposanter, als wir erwartet hatten. Die Burg lag nicht an dem See, sondern in ihm. Mitten in dem See erhob sich, eben ein Naturspiel, ein kolossaler Felsblock, von rechteckiger Form, ungefähr, wie wir später ausmaßen, 80 Meter lang und 60 Meter breit, mindestens 200 Meter hoch, und oben dran lag die Burg, die Plattform gänzlich einnehmend, denn oben hingen noch die Balkons und andere Vorsprünge vor.

Wir fuhren näher. Schnurgerade wie die künstlichen Mauern stiegen die Felswände empor. So war es auf dieser Seite, und als wir um den ganzen Felsen herumgefahren waren, wußten wir, daß es auch auf den anderen drei Seiten so war.

Keine Treppe, kein anderer Aufstieg, kein Loch — gar nichts! Nur einmal streckte Juba Riata schweigend seine Hand aus.

Dort in von einem Boote erreichbaren Höhe hatte wieder einmal ein von deutscher Hand geführter Meißel Worte eingegraben —— oder einen Sinnspruch nur aus vier Worten bestehend.

»Gewinn — Enttäuschung.
Entsagung — Gewinn.«

Nichts weiter.

Wenn man das einen Sinnspruch nennen kann.

Natürlich liegt ein tiefer, tiefer Sinn in diesen vier Worten.

Wer war der Mann, der in deutscher Sprache hier allüberall solche Verslein eingemeißelt hatte?

Ich will mich dabei nicht weiter aufhalten.

Für uns hatte dieses Sprüchlein nur insofern Bedeutung, weil dadurch der Name »das Schloß der Entsagung« entstand.

Und dieser kleinere See wurde der schwarze getauft, weil er, wohl wegen der Bodenbeschaffenheit, ein sehr dunkles Wasser zu haben schien, obgleich es sonst ganz klar war. Man konnte auch bei höchstem Sonnenstand keinen halben Meter unter Wasser blicken.

Aber dieser Sinnspruch stand über keinem Tore, nichts Ähnliches war zu sehen — das war für uns jetzt die Hauptsache.

»Wie sind die ehemaligen Bewohner dieser Burg da hinauf gekommen?«

»Mit einem Aufzug,« meinte Juba Riata, »einfach indem sie ein Seil herabließen und hinaufzogen. Dort oben gibt es ja Vorsprünge genug.«

»Aber da muß doch erst einmal der erste Mensch hinaufgeklettert sein, der die anderen nachzog.«

»Der ist mit einem Luftballon hinaufgeflogen!« bemerkte ein vorwitziger Junge.

Er wurde von den anderen, die nun schon gehört hatten, daß es sich hier sicher ums Jahrtausende handelte, ausgelacht.

»Na‚, warum denn nicht,« nahm ich aber den Knirps in Schutz, »die haben vor Jahrtausenden vielleicht schon lenkbare Luftschiffe gehabt. Ihr werdet hier noch manches sehen, was wir jetzt nicht mehr nachahmen können.«

»Ja, aber wir haben kein lenkbares Luftschiff,« versetzte Juba Riata, »nicht einmal einen Luftballon, der einen Mann trägt, können mit Gummiblasen, die Doktor Isidior in seinem Laboratorium mit Wasserstoffgas füllt, nur kleine Ballons aufsteigen lassen.«

»Und so ein kleiner Ballon genügte vielleicht. Wir dirigieren ihn bei günstigem Winde so, daß die dünne Schnur, nur ein Seidenfaden, dort über einen Vorsprung zu liegen kommt, natürlich muß der Ballon so weit, daß wir auch das andere Ende des Seidenfadens zu fassen beisammen, an diesem ziehen wir eine stärkere Leine hoch, und so weiter, bis daraus eine Strickleiter wird.«

»Ich glaube das läßt sich besser erzählen als ausführen.«

Natürlich, da hatte Juba Riata recht. Da war schon besser, wir versuchten es mit einem richtigen Aufstieg. Denn unersteigbar ist doch schließlich überhaupt keine Felswand. In erreichbarer Höhe werden nebeneinander zwei Löcher eingemeißelt, in diese Eisenstangen einzementiert, über diese ein Brett gelegt, auf dieses stellt sich der Arbeiter und fängt wieder in etwa zwei Meter Höhe zu meißeln an.

Aber da war eine kleine Berechnung doch angebracht. Zunächst überzeugten wir uns, daß es Basalt von außerordentlicher Härte war. Und der Felsen war mindestens 200 Meter hoch, dann erst begann die Burg. Und wir wollten nicht zu fix arbeiten, meißeln, in der Phantasie, wir hatten da schon einige Erfahrung. Wenn da ein Mann jeden Tag zwei solche Löcher fertig brachte, so wollten wir zufrieden sein. Also jeden Tag um zwei Meter höher. Das ging auch nicht schneller, wenn zwei oder drei Mann nebeneinander arbeiten konnten. Also hätten wir zur Überwindung dieser Höhe hundert Tage gebraucht.

Es hat sich doch etwas, solche glatte Felswände zu erklimmen! Und wir sind doch keine Chinesen, die geduldig von Generation zu Generation an einem Bohrloche arbeiten, mit dem primitiven Fallbohrer am Seile mit dem Schöpflöffel, und wenn dort das Gewünschte nicht gefunden wird, dann wird daneben wieder einige hundert Jahre gebohrt. So viel Zeit wie solche Chinesen hatten wir nicht.

Nein, da probierten wir es doch lieber einmal mit dem Luftballon. Na‚ wir würden schon hinaufkommen. Es war zuletzt nur scherzhaft so gesprochen worden.

Heute abend war doch nichts mehr zu machen, aber zurückkehren wollten wir auch nicht, sondern hier nächtigen und den Jungen eine Jagd gönnen. Ihre Jagdgewehre und was sie sonst brauchten, hatten sie natürlich mitnehmen müssen, sonst wäre es doch keine richtige Expedition gewesen, ich brauchte nur immer an meine eigenen Kinderjahre zu denken, dann vergaß ich auch diese »meine« Kinder niemals. Die Ufer des Sees waren nur wenig hügelig und dicht bewaldet, dort gab es sicher Wild in Masse, wir hatten auch schon ein großes Rudel Elche gesehen.

Also wir suchten eine Landungsstelle und ein idyllisches Lagerplätzchen aus. Vorher aber, ehe ich weitere Arrangements traf, setzte ich einen Bericht darüber auf, was wir hier gefunden hatten. Jeder der sechs Robben trug immer ein Halsband mit wasserdichter Kapsel daran, so daß sie sich, wenn sie einmal die Boten spielen mußten, nicht erst daran zu gewöhnen brauchten. Als Ordonnanz wählte ich den Seehund Kasper, er wurde von der Frau Nauke begleitet. Ich bemerke nachträglich, daß die weiblichen Robben, zwei Seehunde sowohl wie das Walroß, uns schon wiederholt mit Jungen beschenkt hatten, daß es uns aber nie geglückt war, sie groß zu bekommen. Sie wurden von den Müttern, obgleich die Robben doch sonst so ungemein zärtlich gegen ihre Jungen sind, stets dermaßen vernachlässigt, daß sie bald eingingen. Das Leben an Bord war für die Tiere eben doch ein zu unnatürliches, hier versagte auch Juba Riatas Kunst, obwohl er noch immer hoffte, das fehlende Mittel zu entdecken, um eine Nachkommenschaft großzuziehen, um den Müttern die richtige Liebe zu geben. Denn diesen Robben fehlte offenbar irgend etwas, was sie in der Freiheit im Überfluß hatten. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit. So etwa wie die Hühner keine Eier legen oder nur unbebrütbare Windeier, wenn sie keinen Kalk zu fressen bekommen.

Nur einige freundliche Worte, mit Nachdruck gesprochen, ein freudiges, verständnisvolles Bellen, und das Seehundsehepaar schwamm ab, nach dem Schiffe zurück, sie würden sich bemerkbar zu machen wissen und diejenigen, welche dieses Schloß in Augenschein zu nehmen wünschten, hierher führen. Das war ich den Zurückgebliebenen schuldig.

So, nun wurde die Jagd arrangiert. Immer wieder ein Wettkampf, Blau gegen Gelb. Welche Farbe bis Mitternacht die meiste Beute machte oder vielmehr hier am Lagerplatz ablieferte, die hatte gewonnen, die bekam eine Prämie, welche dann bei der nächsten solchen Jagd von ihr zu verteidigen war. Geschont brauchte nicht zu werden, das erlegte Wild kam dann ausgeweidet in die Eisgrotte, hielt sich dort ewig — nein, bis es aufgezehrt war. Die Beute wurde dann gewertet, etwa daß zwei Birkhühner einen Auerhahn rechneten, vier Auerhühner einen Hirsch, zwei Hirsche einen Elch, und so weiter. Jeder Unglücksfall, den ein Junge erlitt, zog für seine Farbe eine erkleckliche Anzahl Strafpunkte nach sich. Da konnte dann, wenn es zum Austrag kam, nicht viel Streit entstehen, höchstens zwischen Peitschenmüller und mir, denn ich war wie immer blau, jener gelb, und jeder wahrte natürlich die Interessen seiner Partei.

»Nun vorwärts, verschwindet! Wenn es Mitternacht ist, das wißt Ihr aus der Stellung des Mondes und der Sterne, wie ich Euch eben erklärt habe. Sonst entscheidet das Ende der Jagd mein Chronometer. Die Beute, die punkt zwölf Uhr nur noch einen Schritt außerhalb dieses Kreises ist, den wir um den Lagerplatz gezogen denken, zählt nicht mehr mit. Denkt an die Strafpunkte! Daß Ihr Euch gegenseitig anschießt, kann überhaupt nicht vorkommen. Wer sich von einem Eber anlaufen und verwunden läßt, der muß ihn, nachdem er ihn zur Strecke gebracht hat, dann auf einem Sitz auffressen. Verduftet!«

Lachend zerstreuten sich die 32 Jungen in dem dämmernden Wald, einzeln oder sich in Gruppen haltend. Daß sie die Jagdbeute auch hierher tragen mußten, das bewirkte besonders ein solidarisches Zusammenhalten.

Doch nur wenige Schritte in den Wald hinein, so verstummte das Lachen und Schwatzen. Jetzt verwandelten sich diese Knirpse in echte Jäger, deren waidmännische Kunst jeder nordamerikanische Indianer bewundert hätte. Besonders auf dem Eldorado—Plateau hatten sie unter Juba Riatas Leitung etwas gelernt.

Wir beiden zündeten das Lagerfeuer an, eines, an dem man schon nach einer halben Stunde einen ganzen Ochsen hätte braten können.

Zwischen einer Waldlichtung hindurch sahen wir vor uns die alte Burg hoch oben auf dem Felsen liegen, vom ersten halben Mond beschienen, sich im schwarzen Wasser spiegelnd.

Aber wir unterhielten uns nicht über die uralten Erbauer dieser Burg, sondern wir blieben beim Leben, wir unterhielten uns über diese Jungen, über »unsere« Kinder, die wir einst als durch und durch verdorbene Taugenichtse, die fast sämtlich schon den Verbrecherstempel an der Stirn getragen, dem wracken Zirkusschiffe entnommen hatten.

Was war aus diesen Kindern geworden! Eine Pracht war es! Und was würde noch dereinst aus ihnen werden? Nun, jedenfalls ganze Männer vom Scheitel bis zur Sohle, die sich dereinst in jeder Lebenslage zurecht fanden und die dann im Herzen noch dasjenige hatten, was nicht allein den ganzen Mann, sondern den wahren Menschen ausmacht!

Die Schüsse hallten im Walde, und ab und zu wurde die Beute angeschleppt gebracht. Es gehörten sechs kräftige Burschen dazu, um einen Elch von fünf Zentnern eine halbe Stunde lang über Stock und Stein zu tragen

»Ich hätte einen erlegen können, der wenigstens noch eineinhalbmal so schwer war, aber er war zu weit von hier.«

»Und ich einen Wisent, aber wie hätten wir den fortschleppen sollen.«

Das war es eben, was einen Massenmord verhinderte, ganz abgesehen davon, daß das Wild hier den Jäger schon gar nicht so nahe herankommen ließ.

Schon taxierten wir beiden Schiedsrichter, oftmals ins Wortgefecht kommend, und auch die Art der Schüsse fielen ins Gewicht, je nach ihrer Tödlichkeit, und auch Fehlschüsse oder nur angeschossene Tiere, welch letztere morgen mit den Hunden gesucht werden sollten, mußten gemeldet werden, und da gab es bei diesen Jungen nichts von einem Verschweigen.

Mit dieser Beschäftigung und mit Schmausen verging noch eine Stunde, dann wickelte sich jeder in seine dünne, aber warme und wasserdichte Decke, und wer die Augen zumachte, der war sofort eingeschlafen, wie es auch mir erging. Die Hunde wachten für uns, wenn man hier überhaupt einen Wächter nötig hatte.

Da wurde ich am Arm gefaßt und gerüttelt. Der halbe Mond war bereits um Mitternacht untergegangen, auch hatte sich der Himmel bewölkt, das Lagerfeuer glühte nur noch, außerhalb dieses schwachen Scheines herrschte Stockfinsternis.

Über mich gebeugt stand Juba Riata.

»Was gibt es? Welche Zeit ist es?«

»Noch nicht um zwei.«

Dann hatte ich also auch noch keine Stunde geschlafen.

»Was gibt es denn?«

»Eben ist es wieder verschwunden, was ich Ihnen zeigen wollte . . . da da da ist es wieder!«

Wo die Burg lag, wußte ich. Es war von ihr absolut nichts zu sehen. Plötzlich aber hing dort, wo sie lag, in der Luft ein leuchtendes Viereck.

»Ein erleuchtetes Fenster!«

»Nichts anderes. Und vorhin waren drei Fenster nebeneinander erleuchtet.«

»Sonst nichts weiter?«

»Da sind Menschen drin.«

»Es braucht nur einer zu sein, der ab und zu die Lampe ansteckt und wieder ausbläst.«

»Jener Merlin?«

»Was weiß ich?«

»Da da — jetzt wird einige Etagen höher eine ganze Zimmerreihe erhellt!«

»Na wissen Sie was, Juba — wenn sonst noch etwas passiert außer dieser Illumination, dann wecken Sie mich wieder. Es muß aber auch wirklich von Wichtigkeit sein. Illuminationen habe ich schon ganz anderes gesehen. Gute Nacht.«

Sprachs und legte mich wieder aufs Ohr, hörte noch von Juba ein kurzes Lachen, dann war ich wieder eingeschlafen.

Diesmal weckte mich erst der grauende Morgen, das tat er aber auch ohne Rütteln.

So ganz gleichgültig war mir diese Illumination natürlich nicht gewesen, ich lasse mich nur nicht gern in der Befriedigung meiner natürlichen Bedürfnisse stören.

»Na,‚, was haben die Fenster sonst noch gemacht?«

»Bis gegen drei waren sie erleuchtet, immer verschiedene, dann blieben sie finster.«

»Da wollen wir einmal ernstlich das Problem überlegen, wie wir dort hinaufkommen, um den Bewohnern dieses Schlosses unsere Visitenkarte abgeben zu können.«

»Dieses Problem ist bereits gelöst,« lächelte Peitschenmüller.

»Nun?«

»Wir schießen eine Leine hinauf, mit der Cordesschen Büchse.«

Ich schnellte empor, stürzte mich auf die nächsten kleinen Schläfer, die nicht von jeder Morgendämmerung geweckt wurden.

»Auf auf! Na habt Ihr Euch nun endlich überlegt, wie wir da hinauf kommen? Immer noch nicht? Auch im Schlafe ist Euch nichts eingefallen? Wozu schlaft Ihr denn eigentlich? Jungens, Jungens, seid Ihr dämlich! Ich wollte es Euch gestern nur nicht gleich sagen, ich hoffte, Ihr würdet von alleine drauf kommen. Na wozu haben wir denn die Rettungsraketen an Bord, die Cordesschen Büchsen? Wir schießen einfach eine Leine hinauf!«

»Es ginge aber ooch mit'n Drachen!« meinte einer der Knirpse.

Ich wurde still, kratzte mich unbewußt hinterm Ohre. Der Junge hatte recht. Ja, ein Drache, mit gutem Winde steigen gelassen, war doch noch vielleicht besser als solch eine Cordessche Büchse, welche die Leine nur 400 Meter weit trägt, bei einem Winkel von 45 Grad, aber wie hoch, das weiß man nicht, das heißt das kann man nicht berechnen, es gibt überhaupt noch kein ballistisches Gesetz, das muß immer von Fall zu Fall ausprobiert werden.

Jedenfalls ging gleich wieder ein Seehund ab, mit der schriftlichen Bitte, daß uns sofort eine Cordessche Donnerbüchse mit mehreren Leinen nachgeschickt würde. Kaum war das Tier abgeschwommen, als die Pinaß ankam, mit der Patronin und einigen Mitglieder ihrer Gesellschaft, von Matrosen und Heizern gerudert, die freiwillig mitgegangen waren, weil sie dieses aufgefundene Schloß interessanter fanden als die Zirkusvorstellungen. Oder sie wollten doch einmal eine Abwechslung haben, sich überhaupt die Umgegend einmal besehen.

Etwas ändern an der Sachlage taten die neuen Ankömmlinge ja nicht. Sie konnten das Schloß nur von außen bewundern, konnten um den Felsen herumfahren, mußten warten, bis nun das zweite Boot mit den gewünschten Raketenapparaten kam. Die Fahrt dauerte ungefähr dreiviertel Stunden, also mit zwei Stunden mußte man mindestens rechnen.

Unterdessen ließ Juba Riata die Jungen mit den Hunden verwundetes Wild suchen, woran ich mich aber nicht beteiligte. Ich bummelte am Ufer herum, erging mich in der Einsamkeit.

So mochte eine Stunde vergangen sein, als ich einen seltsamen Reitersmann sah. Allerdings nicht mehr seltsam für mich. Aber was hätte wohl ein anderer gesagt, der so etwas noch nicht gesehen, und er sieht da im Wasser ein gewaltiges Walroß mit mächtigen Hauern schwimmen, auf dem ein Mensch als Reiter sitzt.

Daß wir die Walrosse als Reittiere benützten, habe ich ja schon einmal erzählt, habe auch schon einmal meine diesbezügliche Ansicht gesagt. Nachdem der Mensch den Hund schon seit Jahrtausenden zu seinen Gefährten gemacht hat, ist er heute endlich, auf den genialen Gedanken gekommen, die feine Hundenase auch im Polizeidienst zu benützen, um mit ihr Bösewichter habhaft zu werden und sie unschädlich zu machen, und den Seehund, der meiner Überzeugung nach noch viel klüger ist als der vierbeinige Hand, hat er heute glücklich so weit gebracht, daß dieses Tier eine Petroleumlampe auf der Nase balanciert, mit Bällen spielt und den Leierkasten dreht.

Nein, ich habe vor dem Herrn der Schöpfung in dieser Hinsicht sehr wenig Achtung. Wenn er das, was ihm die Natur ganz von selbst fix und fertig bietet, so außer acht läßt, da lassen mich alle die Erfindungen der Mechanik und Chemie kalt.

Aber ich sehe schon die Zeit kommen, da man den überaus pfiffigen Seehund und den schlangengleichen Seelöwen noch in ganz anderer Weise benutzen wird, und das mächtige Walroß, bis zu sieben Meter lang und dreißig Zentner schwer werdend, jung eingefangen bei geeigneter Behandlung jeder Dressur zugänglich, als Reittier des Wassers. Erst wirds ein Sport werden, zuletzt ein Bedürfnis. Genau so, wie ein reicher Mann einmal auf den Gedanken gekommen ist, die Unmöglichkeit zu widerlegen, sein Zebra zu zähmen, es ihm gelungen, der Sportsman paradierte mit seinen eingefahrenen und zugerittenen Zebras — in Bälde wird die Zucht des Zebras den ganzen Charakter aller jener afrikanischen Gegenden umkrempeln, in denen die für Pferde und Rinder tödliche Tsetsefliege auch den Aufenthalt des Menschen so gut wie unmöglich macht.

Der Eskimo war mit dem zweiten Schub nachgekommen, hatte mir bereits Vorwürfe gemacht, daß ich ihn nicht gleich mitgenommen hatte.

Ich stand gerade auf einer Sandbank, die sich etwas in den See erstreckte, als er auf seinem Reittiere angeschwommen kam. Ohne Sattel saß er auf dem speckigen Riesenleibe, kaum berührten seine Füße das Wasser, ohne Zaum und alles lenkte er das Tier. Ein unmerkliches Zeichen, und es stoppte sofort, an einer tiefen Stelle dicht neben der Sandbank, nahm nur gleich die Gelegenheit wahr, einige Muscheln zu verschlingen, die es hier in Menge gab. Muscheln bilden die Hauptnahrung des Walrosses, dazu scheint ihm auch die Natur die Elefantenhauer verliehen zu haben, um die Muscheln vom Meeresboden losreißen zu können. Sie werden wohl aufgeknackt, aber ein guter Teil der Schalen geht doch mit in den Magen und wieder ins Freie. Außerdem frißt es noch Fleisch aller Art und Algen, gewöhnt sich schließlich überhaupt an alles. Aber ohne Muscheln geht es zuletzt ein, und vielleicht sind ihm gerade die Schalen, die eine Wanderung durch den Darm machen müssen, ein unablässiges Bedürfnis.

Dieses Tier war noch jung, wahrscheinlich sogar noch sehr jung, war erst fünf Meter lang und wog vierzehn Zentner.

»Was machen Sie hier?« begrüßte mich Mister Tabak.

»Nichts.«

»Das ist nicht viel. Worauf wartet man hier eigentlich? Weshalb besichtigt man nicht die Burg dort oben?«

»Na das wissen Sie doch ganz genau! Wir warten auf die Cordessche Büchse, um ein Seil hinaufzuschießen.«

»Ja wozu denn ein Seil hinaufschießen?«

»Ach stellen Sie sich doch nicht so!«

Der Eskimo blickte sich um.

»Ich war schon oben!« sagte er dann.

»Was?«

»Ich habe einen Eingang gefunden. Kommen Sie mit, ich zeige ihn Ihnen.«

Ich kannte diesen Eskimo. Der schrie nicht: »Kommt mal alle mit, ich habe einen Eingang gefunden!« Er war ein Menschenverächter und überhaupt ein sonderbarer Kauz. Er war eitel, ein bißchen sehr, wollte zu allem eingeladen werden. Und wenn er nicht an erster Stelle sitzen konnte, kam er nicht. Juba Riata war sein einziger Freund gewesen. Nicht daß ein Knax dazwischen gekommen wäre, so etwas kam bei solchen Männern überhaupt nicht vor, höchstens, daß sie Todfeinde werden konnten aber seitdem der sich einsam fühlende Junggeselle trotz meiner Bemühungen keine Frau bekommen, hatte er sich ganz und gar an mich angeschlossen. Und daß ich ihm in Hamburg eine Meerschaumpfeife geschenkt hatte, bei der beim Anrauchen nach und nach ein weißes Männchen zum Vorschein kam, das vergaß er mir auch nicht. Da, wie er die Entdeckung machte, daß auf dem Ulmer Kopf sich ein Männchen zeigte, da hatte ich ihn vor seliger Rührung sogar weinen sehen, und er hatte mich in seine Arme geschlossen und mich an seine Brust gedrückt, daß ich den Tran— und Tabaksgestank jetzt noch nicht los geworden war, ihn wenigstens immer noch in der Nase hatte.

Also wenn der Eskimo den von ihm entdeckten Eingang nur mir zeigen wollte, nur mir allein, da war nichts dagegen zu machen. Oder man könnte den Orden, der einem vom Landesvater überreicht wird, kaput brechen und die eine Hälfte dem Lakaien geben, der einem die Tür geöffnet hat. So was gibts doch nicht.

Ich watete etwas ins Wasser und schwang mich hinter ihm auf den Speckrücken. Es hätten auch noch drei andere drauf Platz gehabt, und das riesige Tier sank nicht viel tiefer ein. Nur daß meine Füße tiefer ins Wasser hingen. Weil dieser menschliche Dackel von Eskimo überhaupt gar keine Waden hatte, weil dessen Füße gleich an den säbelförmig gebogenen Schenkelknochen saßen.

Wir ritten ab. Wenn erst einmal Walroßwettrennen abgehalten werden, mit Jockeis auf den Rücken, auch Hindernisrennen, nur daß es nicht über die Hürden weggeht, sondern drunter hinweg, unter Wasser, kein Jockei kann mehr Knochen und Hals brechen, wohl aber hat er die beste Gelegenheit zum Ersaufen, darauf freue ich mich.

Das sehe ich mir mit an. Da will ich nicht so sein wie der Schah von Persien.

Kennt man das Urteil, das der Schah von Persien über das moderne Pferderennen fällte? Mir fällt immer einmal so etwas ein. Unsereiner hört so vieles, vielleicht mehr als ein Weinreisender. Das Geschichtchen ist historisch.

Als im Jahre 1896 Muzaffer Mirza' den persischen Thron bestieg, war sein erstes, daß er nach Europa fuhr, um sich seinen fürstlichen Kollegen vorzustellen. Sehr mit Erfolg — er nahm überall einen mächtigen Pump auf. Hatte es auch sehr leicht, denn damals wollten alle Mächte in Persien die Vorderband bekommen.

Dementsprechend wurde der Schah denn auch überall empfangen, mit mehr als fürstlichen Ehren, ganz besonders auch in Frankreich. Präsident Loubet tat, was er nur tun konnte, nahm seinen exotischen Gast überall mit hin.

So ging es auch einmal in ein Konzert. Als es nach zwei Stunden beendet war, fragte Loubet:

»Welches Stück hat Eurer Majestät am besten gefallen?«

Ja Du lieber Gott, welches Stück! Wie sollte das die persische Majestät erklären!

»Das eine, das hat mir am besten gefallen — das — das das . . . diedeldie, diedeldäää, diedeldädädä — das möchte ich gern noch einmal hören.«

IMozaffar ad—Din Schah, 1853 - 1907. (HP)

Gewiß, das konnte er. Wenn man nur gewußt hätte, was das gewesen wäre, diedeldie, diedeldäää, diedeldäda.

Nun, da wurde eben probiert, ein Stück nach dem anderen.

»Ist es das?«

»Nein, das ist es nicht, es, war viel, viel schöner.«

Nach einer halben Stunde hielt es der Präsident für das Beste, das ganze Konzert noch einmal von vorn spielen zu lassen. Einem Schah von Persien, der in seinem Reiche den Eisenbahnbau und andere Konzessionen zu erteilen hat, ist man schon so eine Gefälligkeit schuldig, mögen die Musikanten dabei auch krepieren.

»Ist es das?«

»Nein, das ist es nicht, es war viel, viel schöner.«

»Also es geht weiter. Endlich müssen wieder einmal die Geigen gestimmt werden.

»Das ists, das ists!« ruft da Seine persische Majestät entzückt.

Diese Geschichte ist historisch.

Oder wie ihm in London das Newgate gezeigt wurde, die Richtstätte, wo die zum Tode Verurteilten gehangen werden, die Vorrichtung des Galgens mit dem Fallbrett wird ihm erklärt, wie die ganze Vorrichtung funktioniert.

Aber diese theoretische Erklärung genügt Seiner persischen Majestät noch nicht, er findet sich nicht richtig hinein.

»Hängen Sie doch mal einen.«

»Bedaure, es ist gerade kein zum Tode Verurteilter auf Lager.«

»Na da hängen Sie einen anderen Verbrecher.«

»Das geht nicht, Majestät, er muß erst verurteilt werden.«

»Dann verurteilen Sie einen.«

»Es ist unmöglich, Majestät, wir bedauern lebhaft — es geht gegen die guten Sitten dieses Landes.«

»Na‚ da hängen Sie mal den hier auf.«

Der edle Schah sprichts, dreht sich um, packt einen seiner Minister beim Halsband und zieht ihn vor.

Natürlich konnte auch dieser persische Minister beim besten Willen nicht gehangen werden. Der Schah mag einen schönen Begriff von englischer Gastfreundschaft bekommen haben.

Doch das war es ja nicht, was ich erzählen wollte. Wir bleiben in Frankreich, wo dieser selbe Schah einen klassischen Ausspruch über das Pferderennen tat.

Also es ging auch einmal zum Pferderennen. Oder es wurde erst dazu aufgefordert

»Pferderennen, was ist das?«

»Nun, Pferdewettrennen.«

»Pferdewettrennen? Ich verstehe nicht.«

Der Präsident von Frankreich erklärt es seinem exotischen Gaste näher.

Endlich begreift der Schah, aber noch immer schüttelt er nachdenklich den Kopf, und dann bricht er in die denkwürdigen Worte aus, hier auf Deutsch wiedergegeben:

»Daß ein Pferd schneller als das andere ist, das weiß ich — und welches nun von diesen Pferden, die nicht mir gehören, das schnellste ist, das ist mir piepschnuppe!«

Das habe ich nicht dem Leser erzählt, sondern das erzählte ich meinem Vordermanne, während wir auf Walrosses Rücken durchs Wasser nach dem Felsen ritten, und Mister Tabak schüttelte sich vor Lachen, und das Walroß hielt sich verpflichtet, mitzubrüllen, obgleich den Witz einer so wenig wie der andere verstand. Aber der Eskimo lachte so gern. Freilich kam es ganz darauf an, wer ihn zum Lachen bringen wollte. Sein Freund Juba Riata machte überhaupt keine Witze, und irgend ein anderer hätte ihn mit Witzen totkitzeln können, Mister Tabak hätte seinen Mund, der schon von einem Ohre bis zum andern reichte, keine Linie weiter verzogen, während ich den allerdümmsten Witz reißen konnte, dann fing der Kerl zu lachen an, daß ich so wie jetzt seine Mundwinkel von hinten sehen konnte.

So erreichten wir den Felsen.

»Wo ist denn nun der geheime Eingang?«

»Na kommen Sie nur mit.«

Wenn ich nicht nachschwimmen wollte, mußte ich wohl mitkommen.

Es ging um den Felsen herum. Das Walroß stand im Wasser.

»Hier ist er.«

»Wo denn?!«

»Hier unten.«

Und Mister Tabak deutete neben der Felswand ins Wasser hinein.

»Unter Wasser. Es list gar nicht tief, keine vier Ellen, und dann haben Sie kaum drei Ellen zu schwimmen, dann tauchen Sie wieder auf und können Luft schnappen. Also tauchen Sie mal unter.«

Na das heißt — so fix ging das bei mir nicht! Da wollte ich doch erst einmal mein Testament machen.

»Wie haben Sie diese unterseeische Öffnung gefunden?«

»Wie ich vorhin um den Felsen ritt, sah ich hier Blasen aufsteigen, dachte mir gleich etwas, Knipperdolling war bei mir, den schickte ich zuerst hinab, er blieb lange aus, erzählen konnte er mir ja nicht, aber er nieste doch so freundlich —— na‚ da kalkulierte ich weiter, und da bin ich einmal hinunter gejumpt und fand richtig das Loch. Ausgemessen hab ich ja noch nicht, aber ich kalkuliere, daß ein Walfisch durch kann.«

Dieser Eskimo schwamm und tauchte wie ein Fisch, das wußte ich, wenn er sich auch nicht zum Wettschwimmer eignete, weil er da überhaupt nicht mitmachte, und verwegen war dieser Kerl wie ein Teufel, wenn ers auch nicht so von sich gab.

»Der Felsen ist hohl?«

»Wie ein ausgelutschtes Ei.«

»Sie waren drin?«

»Na‚, sonst wüßt ich doch nicht, daß er hohl ist.«

»Und was ist denn nun da drin?«

»Sie werdens schon sehen.«

»Sie wollens nicht sagen?«

»Nee. Ich will Ihnen die Überraschung nicht verderben.«

»Wirklich etwas ganz Merkwürdiges?«

»Da staunt der Laie, selbst der Kenner stutzt!« gebrauchte der Eskimo eine Redensart, die damals neu aufgekommen war und die er in Hamburg aufgeschnappt haben mochte. Possierlich war nur, wie das aus dem breiten Maule herauskam.

»Waren Sie auch oben?«

»Wo oben?«

»In der Burg.«

»Nee.«

»Weshalb nicht?«

»Weil keine Treppe und nicht einmal eine Tür vorhanden war.«

»Es war also nur eine einzige Öffnung?«

»Ja, sozusagen ein geschlossenes Loch, aber ein sehr, sehr großes Loch, hübsch erleuchtet und auch sonst sehr hübsch drin. Na‚ schwimmen Sie nur mal hinunter und besehen Sie sich die Geschichte selber, und dann vergessen Sie nicht, wieder den Mund zuzumachen.«

»Kommen Sie nach?« lachte ich.

»Noch nicht gleich. Ich will erst meine Pfeife ausrauchen, sie brennt gerade so hübsch, es quatschelt schon.«

Denn natürlich hatte er seine qualmende Fuhrmannspfeife zwischen den Zähnen.

Ich war bereits aufrecht auf den Rücken unseres Reittiers geklettert, entledigte mich der Sachen, die mir beim Tauchen hinderlich sein konnten, hing zum Beispiel mein Gewehr über Mister Tabaks Schulter.

»Was ich noch fragen wollte . . . können Sie eigentlich noch nicht unter Wasser rauchen?« sagte ich dabei.

»Ich? Nee. Ist das möglich, unter Wasser zu rauchen?«

»Sie müssens mal probieren.«

Ich hatte meine Toilette beendet, schickte mich zum Hechtsprung an, der mich gleich tief hinabbefördern sollte.

»Also vier Ellen tief?«

»Höchstens.«

»Und drei Ellen weit dann zu schwimmen?«

»Kaum.«

Ich setzte zum Abschnellen an.

»Halt halt halt halt!« schrie da Mister Tabak und packte mich, mußte auch tüchtig zupacken, denn ich war schon in halber Fahrt gewesen, mußte krampfhaft nach rückwärts arbeiten, um mich noch halten zu können.

»Was gibts?« fragte ich erschrocken, was sich begreifen läßt.

»Meinen Sie wirklich, daß es möglich ist, auch unter Wasser zu roochen?«

»Na ich wills mir mal unter Wasser überlegen!« lachte ich aus vollem Halse und jumpte kopfüber hinab.


91.Kapitel.
»DA STAUNT DER LAIE . . . «

Wenn man solch eine Partie unter Wasser vorhat, muß man sich erst etwas vorbereiten, darf vorher nicht lachen und lachend verschwinden, sondern man muß, so lange man dazu noch Gelegenheit hat, mehrmals ruhig atmen, dann sich die Lungen voll Luft pumpen, so schwimmt man kopfüber nach unten, die Bewegungen der Füße genügen schon, so kann man bis sechs Meter tief tauchen, tiefer geht es beim normalen Menschen nicht, dann wird der Druck zu groß — bei den Perlentauchern ist das ja etwas ganz anderes — dann stößt man langsam die Luft aus, die nach oben perlt, so kann man sich, wenn man auf dem Grunde etwas zu suchen hat, leichter unten halten, und auf diese Weise kann man es bei einiger Übung bis zu einer Minute bringen. Wobei natürlich auch das Wiedernachobenschwimmen inbegriffen ist. Denn das darf man natürlich nicht vergessen.

Ich hatte mich nicht gut vorbereitet, ich hatte gelacht. Aber wäre es nicht eine Kinderspielerei gewesen, eine Kinderspielerei für einen nur einigermaßen guten Schwimmer und Taucher — an jene menschlichen Froschimitationen, die man in unseren Schwimmbädern für gewöhnlich im »Tiefen« herumkrebsen sieht, darf man dabei freilich nicht denken — dann hätte mich mein grönländischer Freund schon gewarnt, mir noch andere Instruktionen gegeben.

Also es ging auch mit lachendem Abfahren, ich schoß hinab, half mit den Füßen nach, ließ dabei die eine Hand an der Felswand herabgleiten, die sich ganz schleimig anfühlte, und ich hatte sekundenweise noch nicht bis fünf gezählt, als ich die Kante schon fühlte.

Noch ein wenig tiefer und unter der Kante weg, ich konnte nach Belieben austreten, bei der zwölften Sekunde einmal nach oben getastet, immer höher hinauf, die Augen aufgemacht, hellgrünes Licht gesehen — und da war ich schon oben, konnte Luft schöpfen.

Es war ein weites Wasserbassin, über das sich die Felsenwand kuppelförmig wölbte, rings herum lief eine Galerie, und dort, wo sich die Wand noch nicht wölbte, sondern noch senkrecht abfiel, befanden sich Fenster, eines neben dem andern, durch welche das helle Tageslicht fiel.

Ja aber von diesen Fensteröffnungen war doch von draußen nichts zu bemerken gewesen?!

Nun, ich mußte erst einmal auf die Galerie klettern, um dieses Rätsel lösen zu können. Von hier im Wasser konnte ich nicht hindurchblicken, und vielleicht waren es nur angemalte Fenster, das Licht ging wahrscheinlich wieder von der ganzen Wand aus.

Also ich schwang mich hinauf, mit leichter Mühe stellte mich auf die Beine und . . .

Ja, da staunt der Laie, selbst der Kenner stutzt!

Ich will erst noch etwas bemerken.

Seit damals, wo wir durch die Nixengrotte in die texanische Prärie gekommen waren, hatte sich Merlin noch nicht wieder gezeigt.

Und weder Peitschenmüller, noch ich, noch ein anderer hatten in der Nähe unseres Quartiers oder anderswo solch eine Tür oder eine Höhle gefunden, durch die man in eine fremde, gewissermaßen illusionistische Gegend gekommen wäre.

Die anderen hatten freilich auch noch nicht gesucht, mir, Peitschenmüller und ich, hatten ihnen noch immer nichts von unserem Abenteuer mitgeteilt, im Schweigen waren wir beide eben sehr beharrlich.

Sollten wir nun hier in dieser Burg oder schon hier unten in dem hohlen Felsen diese Zugänge zu den fremden, auf einer anderen Bewußtseinsebene liegenden Regionen gefunden haben?

Mein Blick durch das Fenster fiel auf eine tropische Landschaft. Ich mußte sie für eine indische halten. Eine Waldblöße, eingeschlossen von riesenhaften Bäumen, an denen sich herrlich blühende Schlingpflanzen emporrankten. Oder eine natürliche Schneiße im Urwald, will ich lieber sagen. Denn im fernen Hintergrunde erhob sich ein hohes Gebirge, dessen schneebedeckte Gipfel in der Sonne, die man aber nicht selbst sah, glitzerten.

Und diese Szenerie nun in vollem Leben. Die Blätter bewegten sich im leisen Winde, prachtvolle Schmetterlinge gaukelten umher, ich sah, wie sich ein starker Grashalm unter der Last eines mächtigen, goldschillernden Käfers bog.

Und dies alles in handgreiflicher Nähe. Das heißt, so weit man eben seine Hand hätte ausstrecken können.

Diesen Käfer hätte ich zum Beispiel greifen können müssen. Aber es war nicht möglich. Denn es war keine einfache Fensteröffnung von ungefähr einem Meter Breite und anderthalb Meter Höhe, sondern es war ein richtiges Fenster, mit Glasscheibe, nicht zu öffnen. Die Scheibe war in das Gestein eingelassen.

Wahrheit oder Illusion? Nur das letztere konnte in Betracht kommen. Wie mir mein Kompaß sagte, wie ich überhaupt wußte, hätte ich in dieser Richtung auf den See und auf den westlichen Höhenzug blicken müssen, der durch die Wasserstraße unterbrochen wurde. Statt der sibirischen Landschaft im Frühlingsschmuck also eine tropisch—indische.

Na‚ was war da überhaupt erst zu grübeln, ob das nur eine Illusion sein könne oder nicht. Ganz selbstverständlich.

Doch was ist eine Illusion?

Ist nicht jede Kinematographie eine Illusion?

Ja, nicht schon jedes andere Bild, vor das man sich hinsetzt, sich im Geiste in das versenkend, was es vorstellt?

Nevermind!

Ich ergötzte mich an dem, was ich hier erblickte, an dieser tropischen Urwaldspracht, an den gaukelnden Schmetterlingen, an den summenden Bienen . . .

Halt! Summten sie wirklich? Nein, zu hören war absolut nichts. Das war etwas Unnatürliches. Ich hätte die Bäume rauschen hören müssen. Oder war die Glasscheibe zu dick?

Diese war durchsichtig wie — wie Luft, ich hätte gar nichts von ihr bemerkt, wenn ich sie nicht gefühlt hätte, und ferner mußte ich konstatieren, daß ich wohl ihre diesseitige Ebene wahrnahm, eben durch Gefühl, daß es mir aber unmöglich war, ihre Stärke zu erkennen. Wie ich auch seitwärts blickte, nach der Fassung in der Felswand lugte.

Nun, das war Nebensache, ich beobachtete weiter.

Alles realistisches Leben! Aber nicht nur ein harmloses Spiel der aus Blumenkelchen naschenden Insekten. Ich sah eine Art von großer Heuschrecke mit riesigen Fangarmen, eine sogenannte Gottesanbeterin, und ich sah, wie sie sich auf eine Fliege stürzte, sie im Sprunge erhaschte und zu verzehren begann.

Mein Taschenfernrohr rückte mir diese Szene zehnmal näher vors Auge, und ich sah, wie die furchtbaren Freßwerkzeuge den Fliegenleib zermalmten.

Und so der Kampf ums Dasein allüberall, der Stärkere fraß immer den Schwächeren auf, wenn man nur scharf beobachtete. Dort stach eine Wespe eine Schmetterlingslarve an, legte ihre Eier hinein, auf daß die auskriechenden Maden an der Larve Nahrung fanden, und als die Wespe mit diesem ihr von instinktiver Mutterliebe diktiertem Geschäft fertig war, da flatterte aus dem Busch ein Vogel hervor, fing die Wespe weg, trug sie im Schnabel davon, wahrscheinlich seinen Jungen im Neste zu.

Was war nun durch die anderen Fenster zu erblicken? Ich wandte mich dem nächsten zu, drehte mich dabei mehr zur Seite als nötig gewesen wäre, und da hatte ich zunächst eine vollständig realistische Erscheinung.

Daß der Eskimo wirklich schon hier gewesen war, das hatte ich gleich an dem hinterlassenen Duft von Tran und Tabakschmant gerochen, und jetzt kam die Fortsetzung.

In diesem Augenblick, wie ich mich umdrehte, schoß Mister Tabaks bepelzter Kopf aus dem Wasser empor, er reckte sich noch höher, nahm die Pfeife aus den Zähnen, die Hand von dem Pfeifenkopf, auf den er sie gepreßt gehalten, und blies eine mächtige blaue Wolke von sich.

»Sehen Sie, es geht!« frohlockte er. »Richtig rauchen unter Wasser kann ich zwar noch nicht, aber ich habe die brennende Pfeife doch mit herübergebracht, das ist schon ein guter Anfang. Sehen Sie nur, wie sie noch brennt.«

Und wie ein Schlot qualmend, schwamm er mit der einen Hand ans Ufer, kletterte ebenfalls herauf.

»Na‚, was meinen Sie dazu? Daß Sie hier drin einen Kientopp fanden, das hatten Sie doch sicher nicht erwartet.«

Der hatte es also gleich erfaßt.

Ich wandte mich, wie beabsichtigt, dem nächsten Fenster zu und wurde etwas fassungslos.

Keine indische Urwaldsszenerie mehr, sondern eine nackte Steingrotte, aber oben offen, von Sonnenlicht erfüllt, ungemein pittoresk, in der Mitte ein Wasserbassin, und in diesem plätscherten ein halbes Dutzend Nixen, aber ohne Fischschwänze, ganz natürliche Jungfrauen mit schneeweißen Leibern, plätscherten herum, spritzten sich, trieben allerhand Allotria, kletterten die Felsen hinauf, jumpten wieder ins Wasser, und auf den Felsen lagen auch ihre Gewänder, anscheinend orientalische Kostüme.

»Fein, was?« meinte der Eskimo. »Aber in Amsterdam habe ich doch eigentlich besser gesehen, da war die Geschichte auch mit einem Phonographen verbunden, da hörte man die Mädels auch quieken.«

Das war hier nicht der Fall. Gewiß, sie lachten und »quiekten«, aber es war davon nichts zu hören, es war eine stumme Pantomime.

Der Eskimo trank den Schmant aus dem Stiefel seiner Pfeife aus, trat näher, spuckte erst noch einmal kräftig aus und klopfte mit dem Knöchel gegen die Fensterscheibe.

»He, Du da — Du kleine Blonde mit der Stulpnase komm mal her.«

Die kleine Blonde mit der Stulpnase kam natürlich nicht.

»Na da komm doch mal her, Mädel! Guck mal, was ich hier Schönes habe. Eine seidene Schürze mit goldenen Klunkern dran — willst die haben? Nee? Sehen Sie, Waffenmeister, das ist alles nur zappelnde Malerei, was die Gelehrten gewöhnlich Kientopp nennen. Denn wenn ein Mädchen, dem man so eine seidene Schürze mit goldenen Klunkern schenken will, sie nicht nimmt, dann ist eben kein richtiges Mädel, dann ists nur Kientopp.«

Es war nur gut, daß ich diesen Eskimo bei mir hatte, der an Realistik nicht mehr zu überbieten war. Freilich mußte man erst näher mit ihm bekannt werden, ehe er richtig vom Leder zog.

»'s ist alles nischt mit der ganzen Kientopperei,« fuhr er fort, »ich halte die Kientopperei überhaupt für einen großen Rückschlag in der menschlichen Kultur. Sehen Sie, so vor zwanzig Jahren, als es so etwas noch nicht gab, da habe ich ganz dasselbe schon in Neuyork gehabt, aber nun in voller Wirklichkeit — na‚ vielleicht kann hier ja auch noch kommen.«

Vorläufig aber blieb es beim harmlosen Plätschern und Springen und Purzelbaumschießen. Köstlich genug!

»Diese badenden Mädchen waren schon vorhin da?«

»Nee.«

»Was war denn sonst an diesem Fenster hier zu sehen?«

»Nu, diese Felsenschlucht hier mit dem Wasserbassin, die war schon da, das stimmt, aber noch keine Mädels badeten sich drin. Wollen wir einmal diese Fensterscheibe einhauen?«

Und schon hatte Mister Tabak seinen gewaltigen Nickfänger aus der Tasche gezogen, war bereit, die Scheibe zu zertrümmern.

»Wozu denn das?!«

»Na um zu sehen, wie hier die Kientopperei gemacht wird.«

»Es ist eben Kinomatographie, Sie sagen es doch selbst.«

»Ja, aber was für seine Sorte, darauf kommt es an. Sehen Sie, es gibt doch ganz verschiedene Art von Kientopperei. Eine von hinten und eine von vorne, es gibt Kientopps mit durchsichtiger Leinewand und Kientopps mit Glastafeln. Wir haben hier eine Glastafel vor uns, das stimmt, aber wenn Sie nur einigermaßen in der Kientopperei bewandert sind, so müssen Sie doch zugeben, daß hier eine ganz besondere Art von Kientopperei vorliegt, denn wir sehen die zappelnden Figuren doch nicht eigentlich auf der Glastafel, sondern hinten der Glastafel, und wie das zustande kommt, das müssen wir doch ergründen. Ich wollte schon vorhin eine Fensterscheibe zerschmeißen, aber dann hätten Sie wahrscheinlich nichts mehr gesehen, und das wollte ich Ihnen nicht antun . . . «

»Sehr gütig von Ihnen, und ich bitte Sie, auch jetzt Ihre Fenstereinschmeißerei zu unterlassen.«

»Weshalb denn?«

»Nun, weil es mir genügt, hier den Effekt zu beobachten. Wie er zustande kommt, das ist mir ganz gleichgültig.«

»So0o?! Hören Sie, Waffenmeister, da bin ich doch eigentlich wissenschaftlich gebildeter als Sie, obgleich ich keine Universität besucht habe, nicht einmal den Konfirmandenunterricht, von einer sonstigen Schule ganz abgesehen. Sehen Sie, als ich in Neuyork zum ersten Male in einen Kientopp ging — ich habe ja nicht schlecht gestaunt, das muß ich gestehen — aber da war auch gleich mein erstes, daß ich so einer Dame, die vor mir an der Wand herumzappelte, eine Ladung Tabakssaft ins Gesicht spritzte. Da sie das nun gar nicht weiter genierte, wo doch ein Walfisch davon blind geworden wäre, so war doch hierdurch für mich wissenschaftlich erwiesen, daß es auch kein richtiges lebendiges Frauenzimmer sein konnte, und dann fügte ich zur Sicherheit noch einen zweiten wissenschaftlichen Beweis hinzu, indem ich dann bei einem Wettrennen auf so ein Pferd mit dem Revolver schoß.«

»Nun, und was war der Erfolg?« lachte ich.

»Das Pferd rannte weiter, denn es war eben nur eine mit lebenden Farben gemalte Figur — oder wie man die Geschichte nun sonst macht, jedenfalls ganz einfach, sonst würde es doch nicht nur zehn Cents Entree kosten — also das Pferd rannte weiter, aber dort, wo ich es hatte erschießen wollen, war in der Wand ein Loch, und außerdem war die ganze Glasscheibe zersplittert. Das war eben eine Glasscheibe gewesen, das hatte ich hiermit wissenschaftlich konstatiert.«

»Und wie faßte man diesen Scherz auf?«

»Na‚ ich sollte die Glasscheibe einfach bezahlen.«

»Das mag ein teurer Scherz gewesen sein.«

»Gar nicht. Nicht einen Cent habe ich bezahlt. Ich hatte keinen roten Cent mehr. Ich hatte schon vorher alles durchgebracht. Ein anderer hatte für mich den Eintritt bezahlt.«

»Und da hat man Sie so einfach gehen lassen?«

»Nu nee! Ich mußte sechs Wochen in Sing—Sing singen. Aber ich habe keine Woche gesungen. Die Saison hatte begonnen, Mister Kabat wurde doch als Harpunier wie eine Stecknadel gesucht, ein Waljäger löste mich aus. Der Kapitän hat mir dann ja die Strafe oder überhaupt das Geld abgezogen, aber davon habe ich nichts gemerkt. Also Sie meinen nicht, daß ich hier die Glasscheibe einschmeißen soll?«

»Nein, bitte nicht, jetzt nicht, vielleicht später einmal.«

»Na‚ dann also später!« sagte der wissenschaftliche Eskimo und steckte seinen Nickfänger wieder ein. Inzwischen hatten sich die Nymphen weiter im Wasser getummelt. Die Unterhaltung hatte ja nur fünf Minuten gewährt, da kann man viel sprechen. Langweilig wurde einem diese Baderei überhaupt nicht, immer wieder andere Tollheiten.

Jetzt aber schien die Geschichte in ein anderes Sitadium zu treten. Ein allgemeiner Schreck, dann glaubte ich die Mädels förmlich aufkreischen zu hören. Raus aus dem Wasser, auf die Kleider gestürzt, sie übergeworfen. Ich hatte erst von orientalischen gesprochen. Jetzt merkte ich, daß die Szene wohl im alten Griechenland spielte, solche Tunikas waren es, welche die Weiber trugen, daher auch die eigentümliche Haartracht, mit Goldstreifen und anderem Schmuck festgehalten. Im Körperbau werden die alten Griechinnen wohl nicht viel von den heutigen Weibern abgewichen sein, und wenn man ihnen nicht allen so ein edles griechisch—römisches Profil mit entsprechend gebogener Nase gegeben hatte, so hatte der, der die kinematosgraphische Aufnahme geleitet, wohl auch ganz recht gehabt, denn ich still mich doch hängen lassen, wenn es im alten Rom und Hellas nicht auch solche reizende Stumpfnäschen gegeben hat.

Die Sandalen bekam keine an, die meisten begnügten sich, auch ihre Gewänder nur unter den Arm zu nehmen, um nach einer Höhle zu fliehen, die wohl den Ausgang dieser Grotte bildete, der einen gelang auch das nicht, die begnügte sich nur mit ihren Sandalen, was zur Bekleidung des Körpers ja nicht eben viel ist, sie konnte ihren fliehenden Schwestern auch nicht folgen, sie hatte über die Felsen einen andern Weg genommen, hatte sich auf einen Felsblock verirrt.

Und da kam schon das störende Prinzip, ein bildschöner Judenbengel — nein, ein antiker Griechenjüngling wars wohl, kletterte hastig die Felsen herab, stürzte sich prompt auf die zurückgelassene Bekleidung, an der nur die Sandalen fehlten.

Und oben auf dem Felsblock stand die arme Maid wie eine verstiegene Ziege und hatte zur Verhüllung ihrer Reize nichts weiter als ihre Stiefeln ohne Schäfte!

»Jetzt wird die Sache interessant!« meinte Mister Tabak.

Ich dachte im Augenblick etwas anderes. Wenn ich gewußt, daß hinter der Glasscheibe wirkliches Leben gewesen, jetzt hätte auch ich die Scheibe sofort eingehauen. Um den edlen Griechenbengel zu ohrfeigen. Das Feixen in der klassisch—griechisch—römisch—jüdischen Visage war gar zu widerlich.

Die beiden schienen wegen der Herausgabe der Gewänder einen Pakt zu schließen. Weiter sah ich nichts, denn ich hatte einen Blick nach dem nächsten Fenster geworfen, und schnell sprang ich hin.

Hei, das hier war etwas anderes!

Ich starrte, ich staunte, ich geriet außer mir!

Ebenfalls eine Szene aus dem antiken griechischen Leben, aber nun was für eine!

Im Hintergrunde eine ummauerte Stadt, und vor ihr tobte ein furchtbarer Kampf.

Eine Szene aus dem Kampfe von Troja, gar kein Zweifel!

Mehr oder weniger in gleißende, phantastische Rüstungen gehüllte Krieger, sie schlugen auf einander los, daß die Funken stoben und das Blut spritzte. Streitwagen, von vier Rossen gezogen, die an den ehernen Rädern befestigten Sichelschwerter mähten lange Furchen in die Reihen der Feinde. Wenn sich zwei Streitwagen begegneten, so sprangen die Helden neben den Rosselenkern herab und lieferten einander furchtbare Zweikämpfe.

»Nischt wars,« wandte sich in diesem Augenblick Mister Tabak von seinem Fenster ab, »da habe ich in Amsterdam im Kientopp etwas ganz anderes gesehen.«

Das konnte sein. Amsterdam ist die verludertste Stadt in der ganzen Welt. Wenn es auf einem anderen Planeten keine Sittenpolizei gibt, schlimmer kanns dort nicht getrieben werden.

»Was ist denn das?«

»Ein Kampf vor Troja.«

»Hm. Die vertobaken sich ja nicht schlecht. Aber da habe ich in Neuyork einmal etwas ganz anderes gesehen.

In der Waterstreet, englische Matrosen gegen skandinavische und deutsche, na‚ da flutschte es ja noch ganz anders!«

»Hatten die auch solche Streitwagen?«

»Nee. Die hatten sie gar nicht nötig. Solche Memmen waren die nicht. Aber hinterher kamen die Leichenwagen und sammelten ein.«

»Da da da — der mächtige Riese in der goldenen Rüstung, das ist, der Achilles!«

»Ja, ja, ich weiß. Wo ist denn nun der David?«

»Was für ein David?«

»Na‚ der den Achilles mit der Schleuder totschmiß.«

»Sie meinen wohl den Goliath. Das war aber ein Philister oder sonst ein Feind der Juden.«

»War er? Achilles oder Goliath — das ist mir egal.«

»Oder nein, es dürfte der gewaltige Ajax sein.«

»Ajax hatte nur 500 Tonnen und war ein blutig gottverdammter Trankocher!« fing der Eskimo wieder von einem Schiffe zu phantasieren an.

»Da — »das aber ist gewiß Hektor!«

»Hunde sind auch mit dabei? Wo denn?«

»Ja, wie kann aber so etwas nur gemacht werden?! Einmal muß es doch erst in Wirklichkeit photographiert werden!«

»Ach das ist ganz einfach,« belehrte mich der Eskimo, »da nimmt man solche Schauspieler und andere Vagabunden von der Straße her, die kriegen einen Dollar, dann zappeln die herum, ganz wies verlangt wird.«

»Ja, die töten sich aber doch wirklich, da fließt doch Blut!«

»Blut? I keene Spur. Das ist nur rote Tinte oder so Was.«

»Da — da . . . jetzt wurde dem einen der Kopf vom Scheitel bis zu den Kinnbacken gespalten. Haben Sies gesehen?«

»Yes! Und Sie meinen, daß das Wirklichkeit ist? Nee, Waffenmeister. Die Photographen haben da solche Tricks. Wies gemacht wird, weiß ich auch nicht, aber Humbug ist schließlich doch alles, alles Vorspiegelung falscher Tatsachen. Sehen Sie, da habe ich mal im Kientopp gesehen, wie ein Nigger innerhalb von fünf Minuten einen ganzen gebratenen Ochsen verschlang. Das bringt auch der gefräßigste Mensch nicht fertig, nicht einmal ich. Aber auf etwas anderes will ich Sie aufmerksam machen. Die Täuschung kann manchmal doch nicht so richtig herausgebracht werden. Haben Sie jetzt gesehen, wie der Riese Goliath seine Lanze warf? Das war ganz jämmerlich. Der würde als Harpunier keine fünf Cents verdienen, den würde jeder Walfisch auslachen. Hallo, was ist denn das?!«


92. KAPITEL.
SPUK!

Ich folgte seinen Blicken, mußte mich dazu umdrehen.

Der Wasserspiegel des Bassins war, von uns unbemerkt, um mehr als drei Meter gesunken.

Dadurch war uns ziemlich gegenüber eine Öffnung freigelegt worden, die bisher von dem dunklen undurchsichtigen Wasser bedeckt gewesen, und so weit es sich von hier aus unterscheiden ließ, führte von der Galerie auch eine Leiter hinab.

Ehe wir uns aber dorthin begaben, um diese Öffnung näher zu untersuchen, war anderes zu überlegen.

Wenn hier das Wasser sank, mußte nicht auch draußen der Spiegel des Sees sinken? Natürlich, oder alle physikalischen Gesetze waren aufgehoben.

»Oder das Loch, durch das wir gekommen, ist verstopft worden,« sagte Mister Tabak, »und man hat hier das Bassin halb ausgepumpt.«

»Wahrscheinlich nur, um uns einen anderen Ausweg zu zeigen, der nach oben führt.«

»Das ist mir egal. Ich bin gewohnt, zu dem Loche zu dem ich hereinkomme, wieder hinauszukriechen, es mir wenigstens ohne triftigen Grund nicht heimlich hinter mir verstopfen zu lassen.«

Der Eskimo sprachs und war schon hinab ins Wasser gejumpt, nur daß er diesmal seine Pfeife nicht mitnahm.

Pustend tauchte er wieder auf.

»So eine infame Gemeinheit! Haben die wahrhaftig das Loch verstopft! Es ist wie eine Platte vorgeschoben!«

»Können Sie sich auch nicht geirrt haben? Waren Sie an der richtigen Stelle?«

»Na ganz sicher! Da gibts bei mir doch keinen Irrtum. Nun müssen wir das andere Loch dort untersuchen. Aber gefallen lasse ich mir das nicht, daß man mich hier so wie in einer Mausefalle gefangen setzt.«

Er schwamm gleich hin. Wäre dort keine Leiter gewesen, so hätte er es gar nicht so leicht gehabt, dann wieder heraufzukommen, bei einer Höhe von drei Metern. Doch er hatte schon Stricke bei sich, die er mir in diesem Falle zugeworfen hätte.

Ich begab mich auf der Galerie nach der anderen Seite, ohne die anderen Fenster vorläufig weiter zu beachten. Die kupferne Leiter reichte nicht ganz bis zur Galerie herauf, deshalb hatten wir sie auch vorhin nicht bemerkt, sie war noch etwas unter Wasser gewesen, aber man konnte sie doch ohne Schwierigkeit betreten. Die zwei Meter hohe Öffnung, eben so breit, war vom Wasser gerade freigegeben worden.

Kabat war darin bereits verschwunden, ich folgte schnell nach.

Nur drei Schritte in dem etwas düsteren Tunnel, und ich stand wieder in hellem Tageslichte.

Grenzenloses Staunen bemächtigte sich meiner, oder ich wäre kein Mensch gewesen.

Der Felsen war also außen regelrecht vierkantig, das Wasserbassin mit seinen Wänden war rund gewesen. Jetzt standen wir in einem etwa vier Meter breiten Treppengange, dessen eine Wand der schwarze Basaltfelsen bildete, die andere Seite war offen, war einfach Luft.

Dort drüben war das Ufer, an dem sich unsere Gefährten beschäftigten, wir sahen sie ganz deutlich.

Es war also nicht anders, als ob der Treppengang außen um den Felsen frei herumführe, nur mit einer schwarzen Decke über sich.

Wie war das möglich?

Nun, wir hatten ja auch schon von den unteren Fenstern nichts von außen bemerkt. Hier freilich war die Sache noch anders, hier konnte man wirklich ins Freie blicken.

Im nächsten Augenblick hatte ich mich überzeugt, daß wir uns nicht im Freien befanden, sondern meine ausgestreckte Hand stieß gegen einen Widerstand, gegen luftklares Glas. Wie soll man sich anders ausdrücken. Diese ganze Außenwand bestand aus Glas von absoluter Reinheit und Durchsichtigkeit, so daß man weder den Anfang noch das Ende der Außenflächen erkennen konnte.

Auch Mister Tabak klatschte mit seinen Pfoten darauf herum, spuckte dagegen, und diese Fett— und anderen Spuren blieben sichtbar.

»Hier möchte ich ja nicht Fensterputzer sein. Waffenmeister, Sie behaupten doch, in eine Schule gegangen zu sein — was ist das eigentlich, Glas?«

»Wenn man Sand mit Metalloxyden zusammenschmilzt, mit Hülfe von Soda, welche die Sache erst in Fluß bringt, so entsteht eine durchsichtige Masse, die man Glas nennt.«

»Weshalb ist diese Masse durchsichtig?«

»Weil sie die Lichtstrahlen durchläßt.«

»Weshalb läßt sie die Lichtstrahlen durch?«

»Hören Sie, Kabat, da fragen Sie mich zu viel. Und ich glaube, diese letzte Frage kann Ihnen auch kein Physiker beantworten, so wenig, wie weshalb der Stein zur Erde fällt und nicht in der Luft schweben bleibt. Der letz.te Grund ist uns immer unbegreifbar.«

»Wer hat das Glas erfunden?«

»Es sollen phönizische Schiffer gewesen sein, die einmal an Land ein Feuer anmachten auf sandigem Boden, ihre kupfernen Kessel auf Blöcke von natürlicher Soda setzten, die Geschichte fing an zu schmelzen, es entstanden durchsichtige Massen. Nicht gerade gleich Biergläser und Schaufensterspiegescheiben, aber immerhin doch durchsichtige Platten und Barren. So erzählt Plinius, und das soll tausend Jahre vor Christus passiert sein. Möglich ist die Sache ja schon, aber bereits die Sanskritbücher, mindestens 6000 Jahre vor Christi Geburt verfaßt, sprechen von durchsichtigem Kristall, den man künstlich herstellen konnte und den man Kelasa nannte. Ich jedoch bleibe lieber dabei, daß es phönizische Seeleute gewesen sind, welche diese hochwichtige Erfindung gemacht haben, weil nur Seeleute, wie ich einer bin, so pfiffig sein können, wenn auch eine gute Portion Dusel dazu gehört.«

»Was haben denn da die phönizischen Matrosen gesagt, als sie plötzlich solches durchsichtiges Zeug im Sande fanden?«

»Hurra, Boys, haben sie geschrien, jetzt haben wirs Glas erfunden!«

Der Eskimo hatte schon vorher sein Froschmaul bis hinten in den Nacken auseinander gezogen, und jetzt fing er vor Lachen zu brüllen an, daß die gläserne Mauer sicher sehr dick sein mußte, sonst wäre sie gesprungen.

Dann, nachdem er mir noch einen Knuff in die Seite gegeben und noch einmal gegen die Glaswand gespuckt hatte, wurde er wieder ernst.

»Also aus Sand, Soda und einem Metall. Muß es gerade Sand sein? Kann es nicht auch ein anderer Dreck sein?«

»Nein. Die Hauptsache ist möglichst reiner Sand, das ist eine Verbindung der Kieselsäure.«

»Und das Zeug muß unbedingt schmelzen?

»Unbedingt.«

»Es geht noch nicht auf kaltem Wege, nicht irgendwie anders?«

»Nein, im Grunde genommen machen wirs noch genau so wie jene phönizischen Schiffer.«

»Hören Sie, Waffenmeister — ich bin mal mit 'nem Käpten zusammengefahren, das Luder log den Himmel grün, und der erzählte, sein Vater hätte eine Erfindung gehabt, eine Flüssigkeit, wenn er mit dieser irgend einer Steinplatte angepinselt hätte, dann wurde die Steinplatte durchsichtig wie Glas. Pinselte er sie auf beiden Seiten an, dann wurde sie auch von beiden Seiten durchsichtig. Sonst konnte man nur von der Seite aus durchsehen, auf der sie mit der Flüssigkeit angepinselt worden war, auf der anderen Seite war sie dann duster. Halten Sie so etwas für möglich?«

Hm. Da könnte man nachdenklich werden!

Wir sind, wie schon gesagt, im Grunde genommen noch nicht über jenen Vorgang hinausgekommen, den einmal phönizische Schiffer oder andere gemacht haben. Sand und Metalloxyde würden mit Hilfe von Soda in Feuersglut zusammengeschmolzen.

Das dürfte man doch wohl einen physikalischen Vorgang nennen.

Bei uns wird der Delinquent physikalisch oder mechanisch hingerichtet, indem man ihn aufhängt oder ihm den Kopf abhackt. Die alten Griechen hatten eine chemische Hinrichtung, die gaben dem zum Tode Verurteilten, wenigstens manchmal wie dem Sokrates, einen Giftbecher zu trinken. In Nordamerika dagegen muß sich der Betreffende heute auf ein elektrisches Stühlchen setzen, um ins Jenseits zu segeln.

Sollte dementsprechend — ein etwas gewagtes Gleichnis — die Herstellung des Glases nicht auf chemischen oder auf elektrischem Wege erfolgen können? Mir schwant so etwas, als ob dereinst noch die ganze Glasmacherei umgekrempelt würde.

Jedenfalls also hatten wir hier eine Gesteinsart oder eine sonstige Masse vor uns, die wohl das Licht von außen durchließ, aber nur von der einen Seite, nur von innen durchsichtig war, woran gar nichts so Wunderbares, denn man kann doch auch sehr schwer von außen durch eine Fensterscheibe ins Innere des Zimmers blicken, und ist es gar eine besondere Art von Milchglas, so wird es überhaupt unmöglich. Und das läßt sich doch noch bedeutend vervollkommnet denken.

Wir stiegen die Treppe hinauf, die immer im rechten Winkel um ein festes Rechteck herumführte An jeder Ecke war ein größerer Absatz, sonst nichts weiter. Keine Tür und gar nichts. Und die Außenwand blieb immer durchsichtig. Weiß.

»Hätten die hier nicht einen Fahrstuhl anlegen können?« brummte der Eskimo.

»Der dürfte wohl vorhanden sein, hier in diesem schwarzen Kern, den wir immer umgehen. Wir müssen nur den Zutritt ausfindig machen.«

Häher und höher ging es hinauf. 200 Meter — das ist die Höhe von zehn übereinandergestellten vierstöckigen Häusern. Morgen würden uns die Wadenmuskeln schrecklich schmerzen, trotz aller athletischen Ausbildung. Denn mit den Kniekehlen eines Stadtbriefträgers kann kein Athlet und kein Fußequilibrist konkurrieren.

Wieder erreichten wir einen Absatz, der aber diesmal anders beschaffen war. Auf drei Seiten von undurchsichtigen Mauern eingeschlossen, diese von richtigen Türöffnungen durchbrochen.

Wir merkten es gleich: jetzt befanden wir uns schon oben in der eigentlichen Burg.

Ein Raum schloß sich an den anderen, kleine Kammern und große Säle und Korridore, und ab und zu führte auch eine Treppe weiter nach oben. Hier änderte sich die Art der Beleuchtung. Hier waren die aus mächigen Quadersteinen zusammengesetzten Mauern nicht mehr durchsichtig, sondern für die Beleuchtung war durch richtige Fenster gesorgt.

Ganz richtige moderne Fenster mit Glasscheiben. Nur daß die Rahmen aus Erz, aus Bronze bestanden, und daß ich eine Handhabe fand, um sie zu öffnen.

Sollten die Menschen in der Bronzezeit schon solche Fenster mit Glasscheiben besessen haben? Na‚ warum denn nicht. Wenn nicht anderswo, dann eben hier in Sibirien.

Nun gab es aber auch Räume genug, die nicht von außen durch Fenster mit Tageslicht versehen wurden. In diesen strahlte wieder von den Wänden das rätselhafte Licht, das keinen Schatten warf, wenn auch nur deshalb nicht, weil es eben von allen Seiten kam. Da kann doch ein Schatten entstehen.

»Die Fenster müssen aber doch jeden Tag geputzt werden?« meinte der Eskimo in fragendem Tone, wieder einmal gegen solch eine luftklare Scheibe spuckend.

Es war das letzte gewesen, was ich von meinem Gefährten für lange Zeit gehört und gesehen haben sollte.

Was ich aber noch nicht sogleich bemerkte.

Ich war linkerhand durch eine unverschließbare Tür, nur eine Türöffnung, wieder in einen großen Saal getreten, so nackt wie alle anderen Räume. Die Fugen in den Wänden kaum sichtbar, so genau waren die Quadersteine übereinander geschichtet, anscheinend ohne Mörtel oder dergleichen — man nennt derartige Mauern zyklopische, findet ihrer gerade im europäischen Rußland und asiatischen Rußland genug, von einem prähistorischen Menschengeschlechte errichtet, die Jahrtausende überdauert haben — die Decken immer kunstvoll gewölbt, der Boden ebenso kunstvoll mit großen Steinplatten belegt. Nirgends eine Spur von Schutt oder Verwitterungsmaterial oder auch nur von Staub. Als würde hier täglich sorgfältig gefegt und gewischt.

Aus diesem Sale führte wieder einmal eine breite Steintreppe nach oben.

»Die wollen wir doch einmal hinaufsteigen,« sagte ich, »wir haben doch von unten Balkone gesehen, ob man auf einem solchen nicht ins Freie treten kann.«

Als ich keine Antwort bekam, blickte ich mich nach meinem Gefährten um.

Der war nicht zu sehen.

»Mister Kabat, wo sind Sie?!l«

Ganz schauerlich hallte meine erhobene Stimme in der weiten, nackten Halle wider.

Ich rief noch mehrmals, ging auch in den nächsten Raum zurück, machte mir aber, als ich den Eskimo nicht sah, keine Antwort bekam, nichts weiter daraus. Er war eben seine eigene Wege gegangen, so tat auch ich, stieg allein die Treppe hinauf.

Trotzdem — ich muß es gestehen, weil ich ein ehrlicher Kerl bin — es war mir sehr unheimlich zumute. In solchen großen, nackten Räumen herumzugehen, wo jeder Schritt hallt, ganz allein — es hat doch etwas auf sich. Furcht ist ja natürlich etwas ganz anderes.

Also ich stieg die Treppe hinauf, kam in die nächste Etage, wo alles ganz genau so beschaffen war wie dort unten.

Und doch nicht.

Merkwürdig! Weshalb lag hier am Boden der Staub drei Zentimeter dick? Nun, er hätte sich ja im Laufe der Jahrtausende so hoch aufhäufen können, hier oben wurde eben nicht gefegt und gewischt. Weshalb aber lag er nur am Boden, nicht auch auf den Fenstersimsen?

Ja, und was war denn das überhaupt für ein merkwürdiger Staub?!

Ich begann zu staunen.

Das war — das war —— mehr Wasser!

Das heißt, dieser Staub schien die Eigenschaften des Wassers zu besitzen.

Mein Fuß sank tiefer ein, eben drei Zentimeter tief, aber sofort, wenn ich ihn hob, verschwand die Spur wieder, der Staub rieselte im Nu wieder zusammen.

Das macht feiner Sand ja auch. Aber bei dem geht das doch nicht so schnell. Es war auch kein dünnflüssiger Schlamm. Es war ein richtiger Staub, der sich wie Wasser verhielt. Anders kann ich mich nicht ausdrücken.

Natürlich war mein erstes, nachdem ich diese Entdeckung gemacht hatte, daß ich mich bückte und etwas von dem schmutziggrauen Staube in den hohlen Händen aufhob.

Ganz auffallend schwer! Ich erschrak förmlich. Schwerer als Eisenfeilspäne, als Blei — ich schätzte das spezifische Gewicht auf das des Quecksilbers. Aber nicht etwas Quecksilber! Es war und blieb ganz feiner Staub!

Und wie ich noch so dastehe und das rätselhafte Metallpulver, für das ich den Staub halten muß, durch die Finger laufen lasse, da fange ich erst recht zu starren an und eiskalt läuft es mir über den Rücken. Denn da sehe ich in einiger Entfernung, von mir plötzlich in diesem Staube die Spur eines Menschenfußes entstehen!

Ein kleiner, zierlicher Menschenfuß, nackt, jede Zehe ist deutlich erkennbar.

So drückt er sich Schritt für Schritt in dem Staube ab! Ist ja immer gleich wieder verschwunden, weil der schwere Staub eben gleich wieder zusammenläuft, aber dann entsteht auf kurze Schrittweise schon wieder ein neuer Fußabdruck!

Nur von dem Menschen, von dem Wesen, das diese Fährte erzeugt, ist nichts zu sehen!

»Kabat, Mister Kabat, kommen Sie mal schnell her!« schreie ich aus voller Lunge.

Ja, da soll man wohl nicht nach seinem Gefährten schreien, wenn man so etwas erblickt, in solch einem einsamen Schlosse, in solch einem leeren Raume so etwas erlebt!

Daß es mir eiskalt über den Rücken gelaufen war, habe ich ja schon gesagt.

Als ich aber nun von meinem Gefährten keine Antwort bekam, worauf ich auch nicht lange wartete, da sprang ich sofort los, dorthin, wo die Spuren entstanden, mit ausgestreckten Händen.

Ich griff ins Leere!

Aber nicht, daß ich durch den wesenlosen Schatten, der trotzdem sichtbare Fußspuren hinterließ, hindurchgerannt wäre, sondern nach diesen Spuren begann das Wesen jetzt selbst zu rennen. Es war ganz deutlich zu merken, an der größeren Entfernung der Spuren, auch an deren Form, wie sich die Zehen fester eindrückten, die Fersen den Staub manchmal kaum noch berührten, und außerdem hielt sich ja die Fährte vor mir, der ich noch immer hinterher rannte.

Aber fassen hätte ich das Wesen schon einmal müssen, wenn es zu fassen gewesen wäre.

Der Schatten lief in dem weiten Saale im Kreise herum, ich hinterher, und immer mehr merkte ich, daß er es geradezu darauf abgesehen hatte, mich hinter sich her zu locken, er machte die verschiedensten Bogen, schlug Haken — wollte einfach Haschens mit mir spielen.

Ich blieb stehen — der unsichtbare Schatten ebenfalls, in zwei Schritten Entfernung von mir. Zum ersten Male sah ich gleichzeitig die zwei Menschenfüßchen nebeneinander abgedrückt, und zwar die Zehen gegen mich gekehrt.

»Wer bist Du?«

Keine Antwort, auch kein kühler Hauch traf mich.

»Bist Du ein Geist?«

Keine Antwort.

Da aber entstand plötzlich zwischen jenen Füßen und mir in dem Staube der Abdruck einer kleinen Hand.

Ich mußte annehmen, daß sich der Schatten niedergekauert hatte, um seine Hand abzudrücken.

Es war eine menschliche Hand, etwa die eines zehnjährigen Kindes, wie auch die Füße einem solchen angehörten. Um Größenverhältnisse zu geben.

Und es blieb nicht bei dieser Hand, eine zweite kam hinzu, der ganze Körper.

Wie dies geschah, will ich auf andere Weise schildern. Wir hatten dasselbe als Kinder gemacht, im Schnee, in den wir unser Konterfei abdrückten, die Umrisse der Figur mit Ausfüllung. Schneephotographien nannten wir das. Es ist ein ziemlich schwieriges Kunststückchen, das geübt werden muß, denn es muß dabei doch vermieden werden, daß nebenbei andere Abdrücke entstehen. Auf einer Böschung läßt es sich viel leichter ausführen, aber unsere Ehre bestand darin, die Figur auf völlig flacher Schneefläche hervorzubringen. Dazu läßt man sich mit gestreckten Beinen nach hinten fallen, daß man zum Sitzen kommt, legt nun auch den Oberkörper hinten über, drückt ihn samt Kopf fest in den Schnee, die ausgestreckten Arme, die ausgespreizten Finger, die Füße möglichst seitwärts — und dann kommt das Aufstehen, welches noch schwieriger ist, um störende Nebenabdrücke zu vermeiden.

Ist es gelungen, hat man sich mit einem letzten Sprunge entfernt, dann ist die »Schneephotographie« fertig.

So geschah es auch hier. Nur daß dieses Wesen es viel leichter hatte, weil Nebenspuren, die beim Hinlegen entstanden, ja gleich wieder verrannen.

Vor mir entstand nach und nach der Abdruck eines Menschen, der ungefähr anderthalb Meter groß war, den Kopf natürlich nur als Kugel markiert und folgerichtig sehr klein ausfallend, mit ausgestreckten Armen und gespreizten Fingern, aber die Beine nicht einzeln, sondern der Zwischenraum ausgefüllt, so daß ich annehmen mußte, daß ich ein Weib vor mir hatte, oder doch ein menschliches Wesen, das mit einem bis zu den Füßen gehenden Rocke bekleidet war.

Zunächst beging ich die große Ungezogenheit, mich auf die geisterhafte Dame zu werfen, gleich mit den Füßen auf ihren Bauch zu springen.

Vergebens — ich sprang in den weichen Staub, die Form rann zusammen, oder war überhaupt plötzlich verschwunden, dafür waren neben mir gleich wieder die beiden Fußspuren da, aber nicht stillstehend, nicht schreitend, sondern die Füßchen machten unverkennbar tanzende Bewegungen.

Das Wesen schien sich zu amüsieren, daß meine List nicht geglückt war, drückte seine Freude darüber durch Springen und Tanzen aus.

Also jedenfalls ein ganz harmloser Geist, mit dem man sich unterhalten konnte.

»Hörst Du mich sprechen?«

Sofort blieben die Füßchen stehen, die Zehen mir zugewandt.

»Können wir uns nicht verständigen? Obgleich Du unsichtbar und sogar gegenstandslos bist, kannst Du doch nicht gewichtlos sein, sonst würdest Du keine Spuren erzeugen. Oder überhaupt vermagst Du solche Abdrücke auf irgend eine Weise hervorzubringen. Bitte, drücke noch einmal Deine Hand ab.«

Sofort erschien im Staube der Abdruck der kleinen Hand.

»Nun die andere daneben.«

Es wurde sofort ausgeführt.

»Zwei Hände bedeuten ein Ja, nur eine Hand bedeutet ein Nein. Verstehst Du mich?«

Die beiden Hände verschwunden, erschienen sofort wieder. Also eine Bejahung.

»Kannst Du nicht sprechen?«

Die eine Hand verschwand, nur eine blieb — also nein.

»Kannst Du schreiben?« war meine nächste Frage, in der Hoffnung gestellt, daß wir dadurch unsere Unterhaltung sehr abkürzen könnten.

Die eine Hand verneinte.

»Bist Du ein Geist?« begann ich nun zu examinieren. Zwei Hände bejahten.

Der Leser dürfte sich wundern, wenn ich gestehe, daß ich an die Existenz von Geistern glaube.

Ich zitiere hier eine Stelle aus dem englischen Romancier Bulwer. Er läßt seinen Helden Mesnour sprechen:

»Der Mensch ist im Verhältnis so anmaßend als er unwissend ist. Des Menschen natürlicher Hang ist auf Egoismus gerichtet. Der Mensch in der Kindheit seines Wissens meint, die ganze Schöpfung sei nur für ihn gemacht. Jahrhunderte lang sah er in den zahllosen Welten, welche durch den unendlichen Raum funkeln wie die Schaumblasen eines uferlosen Meeres, nur die hübschen Lichter, die nützlichen Fackeln, welche der Vorsehung gefallen habe anzuzünden zu keinem anderen Zwecke, als dem Menschen die Nacht angenehmer zu machen. Die Astronomie hat diese Täuschung berichtigt, und der Mensch gesteht jetzt mit Widerstreben zu, daß die Sterne Welten sind, größer und herrlicher als die seine, daß die Erde, auf der er herumkrabbelt, ein kaum sichtbarer Punkt ist auf der ungeheuren Karte der Schöpfung. Aber im Kleinen wie im Großen strömt Gott das Leben gleich verschwenderisch aus. Der Wanderer sieht hinauf zum Baume und bildet sich ein, seine Zweige seien dazu bestimmt, ihm vor der Sommersonne Schatten zu gewähren oder Brennstoff gegen die Kälte des Winters. Aber auf jedem Blatt in diesen Zweigen hat Gott eine Welt geschaffen; es wimmelt auf jedem Blatte von unzähligen Tiergeschlechtern. Jeder Tropfen Wasser in einem Teich ist eine Kugel, bevölkerter als ein Königreich es mit Menschen ist. Daher bringt überall in diesem unermeßlichen Plane die Wissenschaft neues Leben zu Tage. Das Leben ist das eine allverbreitete Prinzip, und selbst das Wesen, das zu sterben und zu vermodern scheint, erzeugt neues Leben und geht in neue Formen der Materie über. Daher nach augenfälliger Analogie zu schließen, — wenn ein jedes Blatt, jeder Tropfen Wasser, nicht minder wie jeder Stern, eine bewohnbare und atmende Welt ist, ja wenn der Mensch selbst eine Welt ist für andere Leben, und Millionen und Myriaden von anderen Lebewesen in den Bächen seines Blutes hausen und den Leib des Menschen bewohnten wie der Mensch die Erde: sollte der gesunde Menschenverstand — wenn die Schulgelehrten ihn hätten — genügen, um sie zu belehren, daß die die Erde umfließende Unendlichkeit, welche ihr den Raum nennt, das grenzenlose Ungreifbare, das die Erde vom Mond und den Sternen trennt, — auch erfüllt ist von einem ihm entsprechenden eigentümlichen Leben. Ist es nicht eine handgreifliche Abgeschmacktheit, zu glauben, während jedes Blatt von Wesen wimmelt, werden sie fehlen in der Unermeßlichkeit des Raumes? Das Gesetz des großen Systems verbietet die Verschleuderung auch nur eines einzigen Atoms; es kennt keinen Ort, wo nichts Lebendiges atmet. Das Beinhaus selbst ist eine Stätte der Erzeugung und Belebung. Ist dies wahr, nun so könnt Ihr auch annehmen, daß der Raum, welcher die Unendlichkeit selbst ist, allein eine Öde, allein leblos sei, minder entsprechend dem einen Plan eines allgemeinen Seins als das Gerippe eines Hundes, als das bevölkerte Blatt, als der wimmelnde Wassertropfen? Das Mikroskop zeigt Euch die Geschöpfe auf dem Blatte, auf dem Grashalm; noch ist der mechanische Tubus, die Brille nicht erfunden worden, um die edleren und begabteren Wesen zu entdecken, welche im unbegrenzten Äther wohnten, und doch ist zwischen diesen und dem Menschen eine geheimnisvolle und fruchtbare und furchtbare Verwandtschaft. Und daher ist durch Sagen und Legenden, nicht ganz falsch und nicht ganz wahr, der Glaube an Erscheinungen und Gespenster entstanden. Wenn dieser bei den früheren einfacheren Geschlechtern gewöhnlicher war als bei den Menschen unserer stumpfen Zeit, so rührt dies nur daher, daß bei jenen die Sinne schärfer und lebhafter waren. Und wie der Wilde auf Meilen die Spur eines Feindes sieht oder wittert, welche den plumpen Sinnen des zivilisierten Tieres ganz entgeht, so ist auch die Scheidewand zwischen jenem und den Geschöpfen der Luftwelt weniger dicht und dunkell«

Das ist auch mein Glaubensbekenntnis.

Daß ich kein Spiritist bin, ist deshalb keine Inkonsequenz. Ich bin ja überhaupt von den Phänomenen des Spiritismus überzeugt. Ich bestreite nur ganz entschieden, daß die albernen Abgeschmackheiten, die dabei zu Tage kommen, von den Seelen verstorbener Menschen herrühren.

»Kannst Du irgendwelche Töne von Dir geben?« begann ich das geheimnisvolle Wesen wieder zu befragen.

Die eine Hand sagte Nein

»Verstehst Du nur deutsch?«

Nein.

»Kann ich auch Englisch zu Dir sprechen?«

Ja.

»Kannst Du überall sein im Weltenraume?«

Nein.

»Du kannst also nicht überall sein, wo Du willst, etwa nur innerhalb dieser Mauern?«

Zu meinem Staunen erschienen gleich vier Hände nebeneinander! Das intelligente Wesen wollte eine starke Bejahung geben, weil ich gleich so richtig gefragt hatte, aber anstatt die beiden Hände zweimal hintereinander abzudrücken, erschienen gleich vier nebeneinander.

»Hast Du denn vier Hände?!«

Die vier Hände verschwanden, dann kamen wieder zwei, dann nur eine, welche stehen blieb.

Also Ja und Nein. Ich verstand.

»Du hast wohl beliebig viele Hände?«

Ja wurde durch zwei Hände ausgedrückt.

»Hast Du überhaupt wirklich eine Menschengestalt?«

Wiederum erst ein Ja und dann ein Nein.

»Du kannst Dir wohl jede beliebige Gestalt geben?«

Ja.

»In Wirklichkeit?«

Nein — und das hatte ich fast erwartet.

»Vielleicht nur in Deiner Einbildungskraft?«

Eine wiederholte Bejahung erfolgte.

»Du hast mich wohl nur nicht erschrecken wollen?«

Ja.

»Nur deshalb machtest Du Dich durch menschliche Fußspuren bemerkbar.«

Ja.

»Kannst Du auch Deine Fußspuren verschwinden lassen?«

Statt weiterer Antwort verschwanden diese jetzt sofort.

»Kannst Du nun noch immer Deine Hände abdrücken?«

Sofort erschienen die beiden Handabdrücke wieder im Staube, die der Füße blieben unsichtbar.

»Kannst Du auch andere Abdrücke als die von menschlichen Händen und Füßen in dem Staube erzeugen?«

Ja.

»Bitte tue es. Irgend welche.«

Eine kleine Pause, und dann begannen Gänsefüße in dem Staube herumzumarschieren.

Mein Staunen läßt sich denken. Obgleich ich doch schon darauf gefaßt gewesen war.

»Jetzt bist Du wohl eine Gans?«

Die Gänsefüße blieben stehen, vor ihnen erschienen zwei menschliche Hände — ja.

»Hast aber menschliche Hände.«

Ja.

»Drücke Deinen jetzigen Leib, wie Du ihn in Wirklichkeit oder nur in Deiner Einbildung besitzest, im Staube ab, bitte.«

Die Gänsefüßchen und die beiden Hände verschwanden, dafür entstand fast sofort wie mit einem Schlage der deutliche Abdruck einer Gans.

»Und nun ein Krokodil.«

Die Gans verschwand, dafür entstanden die Umrisse eines großen Krokodils, sechs Meter lang, und nicht nur mit Linien gezeichnet, sondern so, als hätte solch ein Krokodil im Schlamme gelegen.

Ich atmete tief. Mir weitere Tierformen zeigen zu lassen, danach begehrte ich nicht.

»Weißt Du, was ein Kreuz ist?«

Das Krokodil verschwand, in dem Staube entstand ein Kreuz. Also ein horizontaler und ein senkrechter Strich, die sich kreuzten, jeder 20 Zentimeter lang. Die Striche wurden nicht gezogen, sondern das ganze Kreuz war plötzlich da.

»Nun setze einen Kreis daneben.«

Es geschah.

»Nun daneben ein Dreieck.«

Es entstand.

»Lasse den Kreis verschwinden.«

Er verschwand.

»Ziehst Du diese Figuren mit der Fingerspitze oder mit sonst einem Hülfsmittel?«

Zu den beiden Figuren kam noch eine verneinende Hand hinzu.

»Bist Du unsterblich?«

Nein.

»So bist Du als Geist geboren worden?«

Ja.

Ich dachte an die uralten Sagen von den Nixen und Kobolden, die sich alle als vergänglich bekennen.

»Wie lange führst Du dieses Dein jetziges Dasein? Schon hundert Jahre?«

Es kam keine Antwort.

»Bist Du nur an dieses Schloß gebunden?«

Ja.

»Weißt Du mehr als wir Menschen, als ich?«

Ja.

»Weißt Du, daß wir zu zweit hier drin sind, daß ich einen Gefährten habe?«

Ja.

»Weißt Du, wo er sich jetzt befindet?«

Ja.

»Willst Du ihn holen?«

Nein.

»Kannst Du Dich gleichzeitig auch ihm bemerkbar machen?«

Nein.

»Leben in dieser Burg, in diesem Felsen Menschen?«

Nein.

»Nur Du allein hausest hier drin?«

Nein.

»Noch andere Geister?«

Ja.

»Können sich diese mir bemerkbar machen?«

Ja.

»Bitte, sie mögen es tun.«

Nein.

»Wer bist Du denn?!«

Keine Antwort.

»Ich soll es wohl erraten?«

Ja.

»Kenne ich Dich persönlich?«

Ja.

»Von Fleisch und Blut?«

Ja.

»Ich denke, Du bist niemals Mensch gewesen?«

Ja.

»Jetzt bist Du tot?«

Nein.

»Du lebst wohl gar immer noch?«

Ja.

»Wo denn da? Hier in diesem Schlosse?«

Ja.

Ich wollte mich bei dieser Inkonsequenz nicht weiter aufhalten.

»Und ich soll Dich persönlich kennen?«

Ja.

»Willst Du mir nicht Deinen Namen sagen?«

In dem Staube entstand ein großes Eichenblatt.

»Soll das Dein Name sein?«

Nein.

»Ein Erkennungszeichen?«

Ja.

»Hiermit willst Du symbolisch Deinen Namen ausdrücken?«

Ja.

»Das ist mir unverständlich.«

Nein, sagte ganz energisch das eine Händchen.

Na‚ wenn die es besser wußte als ich! Mein Scharfsinn hat aber seine Grenzen. Wenn es überhaupt so weit mit ihm her ist.

»Bitte, bitte, schreibe mir doch einmal Deinen Namen!«

Und es wurde geschrieben, nachdem das Eichenblatt wieder verschwunden war.

»Vivianal« kam heraus.

Da war es!

Dieses intelligente Wesen gab sich für die Geliebte jenes Merlins aus, die ihn treulos verraten hatte. Die Eiche mochte ihm heilig gewesen sein, deshalb hatte sie sich erst durch ein Eichenblatt legitimieren wollen.

Da sie nun annahm oder wußte, daß ich diese ganze Geschichte kannte, sagte sie, daß ich sie auch persönlich kenne.

»Aha, also Du bist die Viviana, die Geliebte Merlins des Wilden oder des Zauberers.«

Nein.

»Was denn sonst? Bist Du überhaupt verwandt mit diesem Merlin?«

Ja.

»Seine Tochter?«

Diesmal eine rasche Wiederholung beider Hände, ein verstärktes Ja.

»Du bist Merlins Tochter, die Tochter des Mannes, der hier haust, der sich Merlin nennt?«

Ja.

»Kannst Du Dich mir nicht sichtbar machen?

Ja.

»Jetzt sofort?«

Nein.

»Heute noch?«

Ja.

»Kannst Du mir nicht jetzt gleich noch etwas vormachen?«

Es kam keine Antwort, mit einem Male aber entstand in der Mitte des Saales in dem Metallstaub ein Ring, der sich schnell vergrößerte, bis er den ganzen Boden bedeckte, während in der Mitte immer neue Ringe entstanden. Es war eben nicht anders, als wenn dies Wasser gewesen wäre und man hätte einen Stein hineingeworfen. Bald jedoch änderte sich das, es kamen andere Linien hinzu, Striche, geometrische Figuren entstanden, die sich fortwährend verschoben und ineinander flossen.

Ein ganz wunderbares Schauspiel, das ich nicht weiter zu schildern vermag.

Diese geometrischen Figuren verschwanden, in dem Metallstaube entstand der Abdruck eines Pferdes in natürlicher Größe, und jetzt begann sich dieses Pferd in Bewegung zu setzen, zu traben und zu galoppieren, erst gewissermaßen als Schattenbild, dann aber wendete es auch, ich bekam es in perspektivischer Verkürzung zu sehen, und dann färbte es sich, es wurde ein schwarzes Roß mit weißen Flecken darauf, und plötzlich hatte es auf seinem Rücken einen gelben Sattel, und dann saß in diesem ein Reiter, erst farblos, schon aber erkannte ich das indische Kostüm und dann plötzlich schillerte dieses in den herrlichsten Farben, verwandelte sich wieder, jetzt hatte der Reiter einen goldenen Schuppenpanzer an, eine Lanze in der Hand, und da entstand dort in der Ecke am Boden ein Felsengebirge, ich sah eine Höhle, und da kroch aus dieser ein scheußlicher Lindwurm, er öffnete den Rachen und spie Feuer, und der Reiter auf ihn los mit eingelegter Lanze, der Kampf begann, inmitten einer grotesken Felsenszenerie . . .

Mein Staunen war grenzenlos.

Und gleichzeitig stieg mir eine Ahnung auf.

»Viviana, ich muß Dich erst einmal sprechen!« rief ich außer mir.

Die Figuren, die an lebendiger Wirklichkeit nicht das Geringste eingebüßt hatten, zerrannen in nichts, zu meinen Füßen lag wieder der graue Staub.

»Wie machst Du denn das nur? Willst Du es mir nicht erklären?«

Nein und Ja.

»Kannst Du es mir nicht erklären?«

Diesmal ein direktes Nein.

»Ich würde Dich gar nicht verstehen?«

Nein.

»Du kannst auf diese Weise in diesem Staube alle beliebigen Bilder erzeugen, wie Du nur irgend willst?«

Ja.

»Du weißt doch natürlich, daß sich unten in der Wasserhalle Fenster befinden, durch welche man lebendige Szenen sieht.«

Ja.

»Weißt Du, was wir unter Kinematographie verstehen?«

Ja.

»Handelt es sich hierbei um Kinematographie?«

Ja . . . dann aber wurde wie zögernd wieder die eine Hand zurückgezogen — doch noch nein.

»Wohl eine besondere Art von Kinematographie?«

Ganz lebhaft wurden die beiden Hände abgedrückt.

»Die Bilder werden hier erzeugt und dann kinematographiert?«

Ja.

»Handelt es sich hierbei überhaupt um eine ganz andere Art von Photographie?«

Ja.

»Beruht diese vielleicht auf elektromagnetischem Prinzip?«

Wieder ein ganz lebhaftes Ja.

Ich hatte es erraten. Hatte es geahnt. Weil ich mich schon einmal mit einem amerikanischen Ingenieur, einem alten Diftelbruder, über so etwas unterhalten hatte.

Der Phonograph, eine Edisonsche Erfindung, beruht auf mechanischem Prinzip. Die Schallwellen werden mittelst eines Stiftes in einer nachgiebigen Masse als Punkte und Striche eingegraben, bei der Wiedergabe fährt ein anderer Stift über diese Vertiefungen und Unebenheiten hin, dadurch wird eine Membrane in Schwingungen versetzt, so hört man die Töne wieder.

Der Däne Poulsen hat dasselbe Problem der Aufnahme und Wiedergabe von Tönen auf elektromagnetischem Wege gelöst. Die Schallwellen werden auf einem laufenden Stahlband oder Stahldraht elektromagnetisch festgehalten und bei der Wiedergabe wieder ausgelöst. Das Wie verstehe ich nicht. Aber ich habe bereits solch ein »Telegraphon« gesehen und gehört. Im Berliner Postmuseum. Die Wiedergabe der Töne läßt an Wirklichkeit absolut nichts mehr vermissen, der mechanische Phonograph läßt sich mit diesem Apparat gar nicht vergleichen. Außerdem kann man auch stundenlang hineinsprechen, der Stahldraht kann ja endlos lang gemacht werden. — Auch sind Korrekturen während des Sprechens möglich, Unrichtiges kann wie ausradiert werden. Aber der Apparat ist noch sehr teuer und braucht eine elektrische Spannung von 220 Volt, so daß er nicht so bald den mechanischen Phonographen verdrängen wird.

Unsere heutige Photographie, die sich von ihren ersten Anfängen im Grunde genommen nicht unterscheidet, beruht der Hauptsache nach auf chemischem Prinzip. Ich bin überzeugt, daß wir dasselbe Resultat, das Bannen der Lichtstrahlen auf einer Platte, noch einmal auf elektromagnetischem Wege erzielen werden.

Wie diese farbigen, beweglichen Bilder hier in dem grauen Metallstaube erzeugt wurden, anscheinend ganz nach freier Willkür, das freilich war und blieb mir ein Rätsel. Nur an Zauberei brauchte man deswegen nicht zu glauben. Hier war man eben der Technik der Menschheit um einige Jahrhunderte voraus, oder gar um Jahrtausende, und was dann die Menschheit erfunden haben wird, das kann sich auch nicht die kühnste Phantasie ausmalen. Jedenfalls wurde hier zum Erzeugen von Bildern etwas anderes als Papier oder Leinewand und etwas anderes als Bleistift oder Pinsel mit Farben benutzt. Nun male man auf einen Streifen Papier nebeneinander Punkte, einer immer etwas tiefer oder höher als der andere, lege den Papierstreifen in einen runden Kasten, der mit Ausschnitten versehen ist, befestige den Kasten drehbar auf einem Stativ, lasse ihn schnell rotieren, und wenn man nun gegen die Ausschnitte blickt, so sieht man statt der einzelnen Punkte eine sich bewegende Linie. Das ist das Lebensrad, das Spielzeug unserer Jugend, das man vor 25 Jahren aus der Rumpelkammer hervorgeholt hat, um auf ihm die Kinematographie aufzubauen. Jedenfalls also ist doch die Möglichkeit gegeben, jede Linie beweglich zu machen, und nun denke man sich noch eine kompliziertere Vorrichtung, als die ganz einfachen Schlitze in dem Kasten, und unsere Nachkommen werden vielleicht aus freier Hand sofort bewegliche Bilder malen können. Vor mir erschienen im Staube wieder die beiden Menschenfüßchen, trippelten hin und her, schienen mich einzuladen, ihnen zu folgen.

»Soll ich folgen? Willst Du mich führen?« brauchte ich ja nur zu fragen.

Die beiden Händchen, für einen Moment abgedrückt werdend, bejahten, und ich folgte den voraustrippelnden Füßchen.

Es ging durch einige Kammern und Säle, deren Boden immer mit dem grauen Metallstaube bedeckt war, manchmal aber noch in viel dickerer Lage.

Sonst waren alle diese Räume leer. Nur in dem weiten Saale, den ich jetzt betrat, sah es ganz anders aus. Auch hier lag der graue Staub mindestens 20 Zentimeter dick, in der Mitte aber befand sich eine schwarze, kreisrunde Fläche von etwa drei Metern Durchmesser, und dann vor allen Dingen war der ganze Saal ein wahres zoologisches oder anatomisches Beinhaus.

Allüberall lagen massenhaft Knochen verstreut, oben auf und halb im Staube verborgen, Knochen der verschiedensten Art und der verschiedensten Größe, menschliche und tierische, diese riesigen Knochen mochten einem Elefanten angehören, es war wohl ein Schenkel, oder er gehörte einem vorsintflutlichen Ungeheuer an, und dieses Knöchelchen da stammte entweder von einem Sperling oder von einem Frosche — ich verstehe verflucht wenig vom anatomischen Knochenbau — und nun Rippen und Wirbelknochen und Totenschädel und was sonst noch dazu gehört.

Alle diese schneeweiß gebleichten Knochen lagen bunt durcheinander.

Die Füßchen führten mich nach dem schwarzen Kreis, wo sie, da hier der Steinboden staubfrei war, verschwanden.

Offenbar sollte ich diese schwarze Fläche betreten, ich fragte nicht erst, sondern tat es.

Von dieser schwarzen, staubfreien Kreisfläche muß ich erst noch sprechen. Also der Staub war hier einfach von dem schwarzen Steinboden zurückgefegt, an dem Rande türmte er sich auf. Auffallend war nur, wie ungemein sorgfältig, wie ganz genau zirkelrund das besorgt worden war.

Und da merkte ich schon, daß die Sache doch nicht so einfach war.

Beim Betreten der Kreisfläche schleuderte ich unabsichtlich mit der Fußspitze eine gute Portion hinein. Sofort rieselte der Staub bis zum letzten Partikelchen wieder zurück, bis er sich wieder mit der Staubmasse der Grenze vereinigt hatte! Und das geschah immer wieder, wenn ich auch ganze Hände voll Staub auf die schwarze Fläche warf. Es war nicht anders, als ob Wasser auf eine schiefe Platte, deren Oberfläche gewachst oder leicht geölt ist, gegossen würde. Nur daß diese Kreisfläche hier durchaus nicht geneigt war, nach keiner Seite.

Jedenfalls handelte es sich hier um positiven und negativen, oder überhaupt um verschiedene Arten von Magnetismus, will ich vorsichtiger sagen, die sich gegenseitig abstießen. Der Staub konnte sich auf der schwarzen Platte nicht halten, wurde sofort zurückgeschleudert. Dabei suchte er sich immer den nächsten Weg. Denn als ich eine Handvoll Staub über das Zentrum des Kreises hinauswarf, huschte er schnell nach der anderen Seite.

Dabei bemerkte ich auch erst jetzt, daß es nicht möglich war, mit diesem Staube Hügel zu bilden. Er verhielt sich ganz wie Wasser, oder wie Quecksilber, verteilte sich sofort zur wagerechten Ebene. Daran mochte ja seine ungemeine Schwere schuld sein, aber so einfach war es doch nicht zu erklären. Da mußte bei dem Staube, so außerordentlich fein er auch war, doch noch etwas anderes in Betracht kommen. Ich mochte fast annehmen, daß sich diese Pulvermasse in einem besonderen Aggregatzustande befand, der zwischen fest und flüssig in der Mitte lag, oder, möchte ich fast sagen, zwischen fest und gasförmig. Wenn man sich hierunter überhaupt etwas vorstellen kann.

Meine Experimente wurden durch ein klapperndes Geräusch unterbrochen.

Wie ich seitwärts blicke, sehe ich, wie sich einzelne Knochen selbständig bewegen, sie schusseln und springen über den Staub, ein Knochen fügt sich an den anderen, die Wirbelknochen reihen sich klappernd zusammen, ein Totenschädel rollt herbei und sitzt mit einem Knacks am vorschriftsmäßigen Halswirbel fest, unterdessen springen schon andere Knöchelchen herbei, sie ordnen sich zu regelrechten Füßen und Händen, und wie das menschliche Skelett fertig ist, fast schneller, als ich hier erzählen kann, erhebt es sich und macht vor mir eine Verbeugung.

Ich bemerke hierzu, daß ich etwas ganz Ähnliches schon einmal gesehen hatte, mehrmals, und jeder Leser kann dieses selbe Wunder gegen Bezahlung von fünf Groschen anstaunen. Im Crystall—Palace zu Sydenham bei London. In der großen Haupthalle sind Buden eingebaut, Jahrmarktsschaubuden. Unter anderem ist da auch das Marionettentheater eines Italieners, es ist heute noch da, wie ich weiß. Fabelhaft ist schon, was dieser Mann mit seinen Püppchen macht. Er scheint ihnen wirkliches Leben einhauchen zu können. Was man da in anderen Marionettentheatern zu sehen bekommt, in italienischen Städten oder wie in München, das verblaßt alles dagegen. Es ist einfach unerklärlich, wie der seine Puppen lenkt. Da reichen Drähte nicht aus, der muß mit Elektromagnetismus arbeiten oder sonst sein eigenes Geheimnis haben. Es ist auch wirklich sein Patent, oder eben sein Geheimnis, das er nicht preisgibt. Dieser Italiener — seines Namens entsinne ich mich nicht — war früher Direktor am Marionettentheater des Fürsten von Monaco wo man auch schon ganz erstaunliche Sachen zu sehen bekommt — hat eben eine Erfindung und sich mit dieser selbständig gemacht, hat sich im Crystal—Palace bei London niedergelassen, reist auch nicht mehr, obgleich er Berge von Gold verdienen könnte.

Wie er die Püppchen tanzen und jonglieren läßt, das ist an sich schon ganz und gar unerklärlich. Am Fabelhaftesten aber sind seine Evolutionen mit Skeletten. Auf die Bühne werden Knochen geworfen, bunt durcheinander. Plötzlich ein Ruck, ein Knack, und sie fügen sich zusammen, ein menschliches Skelett steht da, bewegt sich, tanzt und springt. Es ist eine Imitation, soll einen erwachsenen Menschen darstellen, ist aber kaum einen Meter groß. Dann bricht es wieder zusammen, die Knochen werden durcheinander geworfen — ein Klapp, und das Skelett steht wieder auf. Dann kommt unter anderem auch eine Riesenspinne, aus lauter einzelnen Knochen bestehend, bricht auch so zusammen und baut sich wieder auf, sie tanzt mit dem menschlichen Skelett einen Cancan, und dann beginnen die beiden Skelette ihre Knochen zu vertauschen, die Spinne bekommt den Menschenschädel, der Mensch die Spinnenbeine, und so wechselt es immer hin und her, alles bricht einmal zusammen, wird durcheinander geschleudert, fügt sich immer wieder zusammen, immer verrückter und immer verrückter, immer tanzend und springend.

Hier geschah etwas Ähnliches, nur in anderer Weise und in meiner handgreiflichen Nähe.

Das menschliche Skelett, aber eines von normaler Größe, hatte sich also in aller Schnelligkeit zusammengesetzt, machte vor mir eine Verbeugung, dabei die Zähne in dem Totenschädel noch ganz besonders fletschend, wandte sich um, machte einige Schritte, ohne jedes Klappern, kniete nieder, begann mit seinen fleischlosen Eingern andere Knochen auszuwählen und zusammenzusetzen. Ich konnte zwar alles deutlich sehen, es spielte sich nur drei Schritt von mir entfernt ab, aber es ging ganz außerordentlich schnell, ich sah nur, wie er die Knochen zusammensetzte, und mit einem Male war das Skelett eines Tieres fertig, das ich für einen Hund oder noch eher für einen Fuchs hielt, und kaum war das Gerippe von den Knochenhänden freigelassen, als es auch schon in großen Sprüngen in dem Saale herumzujagen begann.

Die menschlichen Knochenhände arbeiteten weiter, jetzt war es etwas ganz Zierliches, was sie zusammensetzten, mit zauberhafter Schnelligkeit, an den Boden gesetzt, und vor mir in dem Staube lief das Gerippe einer Maus herum, verbarg sich bald unter einem größeren Knochen, aber ich hatte doch schon gesehen, daß selbst der Schwanz in allen seinen Wirbelchen vorhanden gewesen war.

Immer weiter arbeitete das menschliche Skelett, das aufgestanden war, jetzt wählte es die größten Knochen aus, baute, wie ich bald erkannte, einen Elefanten zusammen, und nun merkte ich auch, daß es keine so ganz natürliche Arbeit war, sondern die Knochen flogen ihm von allen Seiten von allein in die Hände, obschon es auszuwählen schien, aber es brauchte nur die Hand nach dem betreffenden Knochen auszustrecken, so erhob sich dieser mit einem Ruck und flog ihm zu, etwas Unnatürliches war auch, daß die vier Beine des Elefanten gleich aufrecht standen, aber die Hauptsache war, daß es dadurch ganz außerordentlich schnell ging, innerhalb von fünf Minuten war der ganze Elefant fertig, trottete davon, den Rüssel bewegend.

Weiter arbeitete der Knochenmann, wieder kam etwas ganz Zierliches daran, wozu er sich wieder hingesetzt hatte, und wieder nach fünf Minuten hüpfte in dem Staube das Skelett eines Frosches herum.

Jetzt stand der Knochenmann wieder auf, machte vor mir abermals eine Verbeugung, wackelte mit den Kiefern, machte mit der Hand einladende Bewegungen.

Offenbar sollte ich die schwarze Kreisfläche verlassen — ich tat es. Wollte das Gerippe meine Hand schütteln, weil es die seine so hinhielt? Gut, das konnte es haben, ich ergriff die mir gebotene Hand.

In demselben Augenblick, da ich sie berührte, brach das ganze Gerippe zusammen, aber nicht so in sich selbst, sondern sämtliche Knochen wurden wie auseinander geschleudert, so daß sie dann ganz verstreut lagen.

Was sollte das? Nun, jedenfalls war Elektromagnetismus im Spiele, meine Berührung hob sie auf, oder erzeugte getrennte Elektrizitäten, die Knochen stießen sich von einander ab, daher auch das plötzliche Herumschleudern.

Ich fing den noch herumhüpfenden Frosch — im Moment der Berührung spritzten auch dessen Knöchelchen nach allen Richtungen auseinander. Der Elefant kam, von allein auf mich zu; in ganz bedrohlicher Weise in vollem Galopp und mit hochgehobenem Rüssel, wäre ein natürlicher Elefant gewesen, so hätte ich mich verloren gegeben, auch jetzt noch hätte es mir traurig ergehen können, der knöcherne Rüssel sauste herab, um mir einen furchtbaren Schlag zu versetzen — aber kaum, daß ich eine Berührung fühlte, so wurde das ganze Skelett in seinen einzelnen Teilen auseinandergeschleudert.

Ich befand mich wirklich wie in einem Knochenregen, die großen, schweren Knochen hätten mich noch immer verletzen können, aber merkwürdig war, daß mich kein einziger traf. Ich konnte beobachten, wie sie vor mir niederfielen, ehe sie mich berührt hatten, wie sie von meinem Körper in der Luft geradezu abgestoßen wurden, und so beobachtete ich auch, wie einige Knochen auf die schwarze Kreisebene fielen, von der sie aber sofort durch eine unsichtbare Kraft herabgeschleudert wurden. Eben alles ohne Zweifel elektromagnetische Vorgänge, verschiedener Magnetismus stieß sich gegenseitig ab.

Was nun? Die Maus und den Fuchs sah ich nicht mehr. Ich hob einige der Knochen auf. Es schienen ganz echte zu sein, schneeweiß gebleicht. Aber bei mir wollten sie nicht zusammenhaften. Doch wozu war dort wohl die schwarze, staubfreie Kreisfläche vorhanden? Ich will mich nicht meines Scharfsinnes rühmen, jedenfalls aber ahnte ich gleich etwas. Ich trat wieder in den Kreis, und jetzt blieben die Knochen in meiner Hand sofort aneinander kleben. Ja, es war ein richtiges Kleben. Oder ich fühlte eben ganz deutlich die magnetische Kraft, mit der sie zusammengehalten wurden, ein Abreißen gelang mir gar nicht, aber ziemlich leicht ein Voneinanderziehen, so seitwärts, wie man auch den Anker vom Magneten entfernt. Dabei war es ganz gleichgültig, wo ich sie zusammenbrachte. Ein Knochen hing sofort fest am anderen, kreuzweise oder wie ich sonst wollte. Für die natürliche Lage mußte man sie eben richtig aneinander passen, die Kugeln in die Gelenkhöhlen und so weiter.

Also jetzt wurde ich der Knochenbaumeister, suchte mir die passenden Knochen zusammen, trug sie nach dem schwarzen Kreis, heftete sie aneinander. Na‚ da wurde ja etwas Schönes daraus. Mir flogen die Knochen nicht so zu, ich hatte wählen müssen und war auch sonst ganz auf meine eigenen Kenntnisse angewiesen. Ein menschliches Skelett hatte ich fabrizieren wollen, weil ich glaubte, dieses am besten zu kennen, hatte das Material auch hauptsächlich dort aufgesammelt, wo der Knochenmann auseinandergeplatzt war, aber als der Brustkasten so ungefähr fertig war, kam ich zur Überzeugung, daß es doch eigentlich mehr ein großer Hund wurde, also nun suchte ich Hundeknochen zusammen und baute am Hunde weiter, wollte schon einmal abschwenken und lieber eine Riesenschildkröte drausmachen, bis ich zur Überzeugung kam, daß es doch wohl die größte Ähnlichkeit mit dem Skelett eines Schweines habe — na,‚, nun gab ich dem Schweinehunde wenigstens einen Menschenschädel, und als es so weit fertig war, bemerkte ich, daß das Vieh ja gar kein Rückgrat habe, die Wirbelknochen aneinander zu kleben dauerte mir doch zu lange, also ich steckte einfach einen großen Knochen durch, es war wohl der Schenkelknochen eines Esels, von richtigen Beinen natürlich gar keine Spur, das linke Vorderbein bestand zum Beispiel, wie ich mich später entsann, als ich meine osteologischen Kenntnisse erweiterte, zur oberen Hälfte aus einem menschlichen Unterarm, zur unteren Hälfte aus dem Flügelknochen eines Storches — aber das war ja auch ganz egal, das konnte ich als Schöpfer eines Schweinehundes doch machen wie ich wollte — na,‚ und da gab ich dem Vieh nun auch noch Flügel, leimte die Knochen zusammen, wie sie mir gerade in die Hand kamen, wenn sie nur ungefähr die passende Länge hatten, auf diese Weise entstanden zwei drachenähnliche Gestelle, die ich links und rechts an den Brustkasten klebte.

So, meine Schöpfung war fertig. Nun mußte ich ihr nur noch Odem einpusten. Denn vorläufig war von Leben noch keine Spur zu bemerken. Nicht einmal auf seinen vier Beinen konnte das Vieh mit den Engelsschwingen stehen, es klappte immer zusammen, ganz folgerichtig, wie das Knochengerüst eines toten Schweinehunds auch zusammenklappen muß. Aber sonst hielt alles fest. Nur eben das Lebensprinzip fehlte noch.

Nun, ich wußte mir schon zu helfen, wußte, worauf es ankam. Und richtig, ich brauchte das Skelett nur außerhalb der schwarzen Kreisfläche auf den grauen Staub zu setzen, wobei ich mich aber hütete, den Staub selbst zu berühren, denn sonst wäre ganz sicher meine Schöpfung wieder in die Brüche gegangen — sofort begann der Schweinehund lustig zu galoppieren. Er galoppierte umsomehr, weil, wie ich jetzt merkte, das rechte Hinterbein ganz bedeutend zu kurz ausgefallen war. Dafür aber konnte er prächtig mit den Flügeln schlagen. Also ein Pegasusschweinehund mit Menschenkopf.

Ich lachte aus vollem Halse.

Da erschienen vor mir im Staube wieder die Kinderfüßchen und bezeugten die Teilnahme ihrer Besitzerin an meiner Freude durch Tanzen.

»Das ist hier wohl eine Geisterkinderspielstube?« fragte ich.

Lebhaft bejahten die sich jetzt abdrückenden Händchen.

»Deine eigene?«

Ja.

»Wie alt bist Du denn, mein Kind?

Als der dritte Händeabdruck kam, begann ich zu zählen, und ich zählte bis achtzehn.

»Achtzehn Jahre?«

Ja.

»Oho, entschuldigen Sie gütigst, da muß ich doch Fräulein Viviana sagen, wenn nicht Fräulein Merlin!«

Nein, wurde abgewehrt.

»Du bist also gar kein so echter Elementargeist, sondern eigentlich ein Mensch aus Fleisch und Blut.«

Ja.

»Es ist nur Deine Seele, Dein Astralkörper, oder wie man das Ding nun nennt, den Du aussenden kannst, und mit dem ich hier verkehre.«

Ja.

»Und Du hältst Dich in Fleisch und Brut auch hier in diesem Schlosse auf?«

Ja.

»Kann ich Dich denn nicht einmal in Natura zu sehen bekommen?«

Da entstanden in dem Staube wieder Schriftzüge.

»Nicht eher, als bis Du errätst, wer ich bin.«

»Ja, Viviana, wie soll ich das erraten.«

Die Schriftzüge verschwanden, neue entstanden.

»Du kennst mich ganz genau.«

»Persönlich?!«

Auch diese Schriftzüge verschwanden, nur die beiden Hände wurden zur Bejahung abgedrückt.

»Ich hätte Dich schon einmal gesehen?!«

Ja.

Wer sollte denn das gewesen sein?

»Bist Du Schwester Anna?«

Nein.

»Gehörst Du mit zu jener geheimen Gesellschaft?«

Ja.

»Und ich wäre Dir wirklich schon einmal persönlich begegnet?!«

Ja.

Mehr erfuhr ich nicht, ich konnte fragen wie ich wollte, Viviana wollte aber auch nicht mehr schreiben, blieb nur bei der Behauptung, daß ich sie ganz, ganz genau kenne, von Angesicht zu Angesicht.

Ich zerbrach mir vergeblich den Kopf, wer das sein könne. Lang freilich hielt ich mich mit der Kopfzerbrecherei nicht auf.

»Kannst Du mir sonst noch etwas Hübsches vormachen? Ich gestehe, daß ich mich wenig zum Osteologen eigne, ich habe an dieser meiner ersten Knochenschöpfung vollständig genug, möchte mich nicht zum zweiten Male blamieren.«

Die Füßchen begannen hin und her zu trippeln, ich sollte ihnen offenbar folgen und ich tat es.

Es ging nach dem nächsten Raume. Ehe ich diesen betrat, blickte ich noch einmal zurück.

Was wurde denn nun aus diesen Knochentieren? Mein Pegasusschwein galoppierte noch dort hinten herum. Da war es mir, als ob durch den mit weißem Tageslicht erfülltem Saal ein violetter Schein husche — jawohl mein geflügeltes Schwein erschien plötzlich in violettem Lichte, und in demselben Augenblicke auch brach es in seine einzelnen Knochen zusammen.

Der nächste Saal enthielt am Boden wieder eine dicke Schicht grauen Staub, aber keine Knochen mehr, dagegen nur in der Mitte wiederum eine schwarze Kreisfläche.

Als mich die Füßchen bis hierher geleitet hatten, merkte ich, daß diese schwarze Kreisfläche aber anders beschaffen war. Hier war der graue Staub nicht bis auf den schwarzen Steinboden entfernt, sondern die Fläche wurde von einem schwarzen Staub gebildet. Eine Probe ergab, daß hier auch wieder so ein Phänomen vorlag. Der graue Staub ließ sich nicht mit dem schwarzen vermischen. Stets strebten die grauen Staubpartikelchen unter die schwarzen gebracht, wieder zur Grenze zurück, um sich mit ihresgleichen zu vereinen, und umgekehrt. Wir kennen dasselbe von Flüssigkeiten. So läßt sich doch auch nicht Öl mit Wasser vermischen, sie trennen sich sofort wieder. Hier war dasselbe mit einer festen, wenn auch pulverisierten Masse der Fall. Deshalb kam ich immer mehr zur Überzeugung, daß hier ein besonderer Aggregatzustand vorlag.

Da begannen unsichtbare Hände in dem grauen Staube zu formen, zwei Meter von dem schwarzen Kreise entfernt, in dem ich stand.

Und plötzlich backte der graue Staub zusammen, schien sich in schmiegsames Wachs zu verwandeln, so konnte die Masse bearbeitet werden von den unsichtbaren Händen, und mit zauberhafter Schnelligkeit entstand ein Männchen, einen halben Meter hoch.

Zauberhaft? Ich habe einen Künstler gekannt, einen Maler, noch mehr ein berühmter Karrikaturenzeichner, der mit Bleistift in wenigen Strichen aufs Papier jeden gewünschten Charakterkopf hinwarf, einen Bismarck oder Moltke oder sonst einen bekannten Kopf, wozu er manchmal keine fünf Sekunden brauchte, und die Ausführung war immer klassisch zu nennen. Das hat er uns in der Kneipe oft genug vorgemacht.

Sollte so etwas nicht auch in der Plastik möglich sein, durch Modellieren? Natürlich nicht gerade in fünf Sekunden. Es dauerte denn auch länger. Aber jedenfalls nicht länger als eine halbe Minute, dann war das Männchen fertig. Es schienen auch mehr als nur zwei Hände daran zu arbeiten, denn während ich das Gesicht entstehen sah, wie die Nase herausgedrückt wurde, wurden gleichzeitig die Beine und Füße geformt.

Wie das Männchen fertig war, stand es auf und machte vor mir eine Verbeugung. Es sollte wohl ein Heinzelmännchen sein, hatte so eine Kapuze auf dem Kopf, ein kurzes Röckchen an, Kniehosen und dann vor allen Dingen einen langen grauen Bart. Grau war freilich überhaupt alles, auch der Bart nicht aus richtigem Haar bestehend, und dennoch alles vollkommen beweglich, auch diesen Bart konnte er streichen und biegen, ebenso auch die Augen verdrehen, wenn diese auch aus Stein zu sein schienen, und so konnte er mich ja auch anlächeln, also das Gesicht verziehen.

Jetzt, nachdem es seine höfliche Verbeugung vor mir gemacht, begann das Heinzelmännchen mit seinen Fingerchen im Staube zu formen. Es war ein Topf‚, den es fertigte, sozusagen im Handumdrehen, und dann kam ein Stengelchen daran, unten mit einer Quaste, — ich erkannte einen Pinsel, der in den Topf gesteckt wurde, dieser auf den Boden gesetzt.

Dann nudelte das Männchen aus dem knetbar gewordenen Stabe eine Platte auseinander, ganz dünn, etwa 20 Zentimeter im Quadrat, legte sie auf den Boden, machte vor mir wieder eine Verbeugung, nahm den Topf und den Pinsel, begann auf der Platte zu malen. Ich sah eigentlich keine Farbe, die Pinselquaste war und blieb grau; aber sobald er die Platte berührte, entstanden farbige Striche und Punkte und Kreise und Arabesken, und im Nu war ein schönes Muster in allen Farben fertig, und nun erkannte ich, daß die ganz dünne, rollbare Platte einen kleinen Teppich vorstellen sollte.

Jetzt fing das Heinzelmännchen wieder zu formen an, geschwind entstand unter seinen Fingern ein Tischchen, nicht für ihn selbst bestimmt, ein winziges Puppentischchen, 6 Zentimeter hoch, es wurde aus dem Topfe, der alle gewünschten Farben enthielt, blitzschnell schneeweiß angestrichen und in die Mitte des Teppichs gesetzt.

Weiter wurde der knetbare Staub geformt, immer zierlichere Sachen entstanden, ich konnte sie so im Stehen trotz meiner guten Augen gar nicht mehr erkennen, und schon mehrmals hatte das Heinzelmännchen so einladende Handbewegungen gegen mich gemacht, ich verstand, streckte mich innerhalb des schwarzen Kreises aus, legte den Kopf auf die gekreuzten Arme, hatte nun die ganze Geschichte kaum einen Meter vor meinen Augen, da konnte mir nichts entgehen.

Es waren Puppenspielsachen, die der kleine Künstler mit wunderbarer Geschicklichkeit und Schnelligkeit fertigte. Ein winziger Reifen, ein Körbchen, erbsengroße Brille, die mit einem Pinselstrich golden angemalt wurden, und dann noch viele andere Gegenstände, deren Zweck ich mir noch nicht erklären konnte. Das alles wurde, nachdem es in verschiedenen Farben angemalt worden, fein säuberlich auf den Teppich gelegt, und es hätte nicht so außerordentlich schnell zu gehen brauchen, denn da hätte ich stundenlang zusehen können, es war gar zu reizend, wie das alles zwischen den Fingerchen entstand. Jetzt wurde eine menschliche Puppe gefertigt, 10 Zentimeter groß. Mit dem Gesicht gab sich der Künstler einmal besondere Mühe, arbeitete längere Zeit daran herum, schien auch mit einem Instrument zu modellieren — zu bossieren, wie der Kunstausdruck lautet — aber das Instrument war so klein, daß ich es nicht näher unterscheiden konnte.

Die Figur war fertig, wurde zauberhaft schnell angepinselt, und entstanden war ein winziger Zirkusmensch in fleischfarbenen Trikots mit rotem Höschen, aber selbst die reiche Goldstickerei fehlte nicht.

Zunächst blieb das Figürchen liegen, der Modelleur fertigte ein zweites, eine kleine Künstlerin entstand, ein winziges Mädchen, noch nicht 10 Zentimeter hoch, bekam ein flitterbesetztes Röckchen angemalt, sonst auch in fleischfarbenen Trikots.

Wie die beiden Figürchen jetzt auf die Beine gestellt wurden, waren sie plötzlich lebendig, sprangen auf den Teppich, machten zierliche Verbeugungen und Knixe und warfen Kußhändchen, und die Vorstellung begann.

Auf dem weißen Tischchen lag bereits ein rotes Gestell von eigentümlicher Form. Der winzige Künstler rieb seine Füßchen auf einer weißen Platte ein, gipste sie, schwang sich elegant auf den Tisch, legte sich mit dem Rücken in das rote Gestell hinein, klappte wiederholt die Füße zusammen, rückte sich nochmals zurecht, jetzt nahm das kleine Dämchen ein weißes Holzkreuz, warf es hinauf, der Künstler fing es mit den Füßen, balancierte es in verschiedener Weise, begann es zu drehen, schneller und immer schneller.

Also ein Fußequilibrist! Und so ging es weiter. Die verschiedensten Gegenstände wurden mit den Füßen jongliert. In den Zwischenpausen, wenn sich der Künstler von seinen Anstrengungen erholte, produzierte sich das Mädchen, das ihn sonst bediente, schlug um den Tisch herum auf dem Teppich Räder und Saltomortales, sprang dabei auch durch den Reifen, oder schwang sich auf den Tisch, jetzt bediente sie ihr Partner, nahm aus dem Körbchen eine goldene Kugel nach der anderen, warf sie ihr zu und das Mädchen jonglierte damit.

Ich rieb mir die Augen.

Obgleich es eigentlich für mich nichts Neues war. Ich betone nochmals, daß man ganz Ähnliches im CrystallPalace zu Sydenham bei London zu sehen bekommt, heute noch! Die Puppen sind größer, vielleicht einen viertel Meter hoch, aber auch sie machen solche Kunststückchen, spielen miteinander Ball, jonglieren Kugeln, turnen am Reck, bauen Pyramiden, und ihre Bewegungen sind absolut natürlich, man kann das beste Opernglas benutzen! Es ist rätselhaft, wie das dieser Marionettenmensch macht. Man möchte manchmal an bewegliche Lichtbilder glauben. Aber gerade deswegen betritt ab und zu ein Mann die Bühne, hebt die umfallenden Püppchen auf, zeigt, daß sie an Drähten hängen, schlägt sie um seinen Arm, setzt sie wieder hin und läßt sie wieder lebendig werden.

Das hier war freilich etwas ganz anderes.

Ich hatte das größere Heinzelmännchen von unsichtbaren Händen aus Staub entstehen sehen, es hatte die winzigen Püppchen aus Staub geformt, und hier konnte doch von keinen Drähten die Rede sein.

Es gab nur eine einzige Erklärung.

Diese Menschen, die hier hausten, hatten zur Erzeugung solcher Spielerei eine Erfindung gemacht, die wir vielleicht auch noch einmal machen werden, von der wir heute aber noch gar nichts ahnen.

So wie vor 25 oder 30 Jahren noch niemand etwas von der heutigen Kinematographie ahnte.

Mit Ausnahme von denjenigen, die Tag und Nacht über dieses Problem brüteten.

Aber die anderen? Ich entsinne mich noch, wie die deutschen Zeitungen berichteten, ein englischer Journalist habe Edison besucht, den »Zauberer von Orange«, dieser habe ihm seine neueste Erfindung gezeigt, bewegliche Photographien — es war das Mutoskop — ein Schmied arbeitete am Amboß, ein Lehrjunge zog den Blasebalg, holte ein Glas Bier, der Schmied nahm es, trank es aus, und arbeitete weiter — und dieser Bericht des englischen Journalisten, der durch alle deutschen Zeitungen ging, war betitelt »Eine fette amerikanische Entel!l«

Ein halbes Jahr später sah ich in einem Hamburger Varietee das erste kinematographische Bild an der Wand. Ein in den Bahnhof einlaufender Zug, die Passagiere stiegen aus.

Also wir können heute Bilder beweglich machen, als wären sie lebendig. Daß diese Bilder erst Photographien von natürlichen Szenen sind, hat dabei nichts zu sagen. Man kann sich vorstellen, daß man die Films auch malen könnte, wie es beim Lebensrad ja auch gemacht wird. Dabei kommt freilich nur etwas ganz Primitives heraus, aber das kann man sich auch bis zur höchsten Vollendung vorstellen.

So könnte man sich statt der gemalten Bilder auch plastische Figuren vorstellen, die durch irgend ein Mittel scheinbar lebendig werden.

Es ist eine Erklärung — wenn man das eine Erklärung nennen darf.

Jedenfalls sind es logische Schlußfolgerungen.

Oder es gab auch noch eine andere Erklärung.

Ich dachte an Vater Abdallah, der uns in seinem schwarzen Kabinett ja auch alles mögliche und unmögliche vormachte, was wir freilich gar nicht in Wirklichkeit sahen, nur durch Suggestion träumten.

Das war es, weshalb ich mir jetzt die Augen rieb.

Träumte ich etwa nur?

Nein.

Aber das konnte ich in jenem schwarzen Kabinett ja auch nicht unterscheiden.

»Viviana, ich muß Dich noch einmal sprechen!« rief ich außer mir.

Als ob es ein Kommando der Vernichtung gewesen wäre, so zerfielen bei meinem ersten Worte alle die Figuren und alles andere in farblosen Staub, auch kein Häufchen blieb davon übrig, das schwere Metallpulver, oder was es nun sonst war, ebnete sich sofort wieder.

Dafür wurden vor mir die beiden Händchen zur Bejahung abgedrückt.

»Ist das nur Illusion oder Wirklichkeit! Träume ich das nur?«

Nein.

»Keine Gaukelei, keine Illusion?«

Nein.

»Volle Wirklichkeit?«

Ja.

»Sage mir, wie das gemacht wird!«

Nein.

»Du willst es mir nicht sagen?«

Ja.

»Du kannst es mir nicht sagen?«

Ja.

»Ich würde Dich nicht verstehen?«

Nein.

»Gib mir eine Erklärung, so weit ich sie verstehen kann, meinen Bildungsgrad kennst Du doch sicher, gib mir nur ein Stichwort, ich flehe Dich an!«

Da wurde in dem Staube wieder geschrieben

»Diagonaler Magnetismus.«

Ja, es genügte für mich, mußte genügen.

»Es gibt noch andere Arten des Magnetismus, als den positiven und negativen?«

Ja.

»Der diagonale würde sich also gewissermaßen kreuzen?«

Ja.

»Gibt es immer noch andere Arten?«

Ja.

»Auch von der Elektrizität, von der wir ebenfalls nur positive und negative kennen?«

Ja.

Es genügte mir, was nützten da auch weitere Fragen. Aber Schlüsse verstand ich zu ziehen.

Was wußten wir früher vom Licht. Na ja, es sind Schwingungen des Äthers. Ohne daß wir wissen, was »Äther« überhaupt ist. Und diese Theorie wird jetzt auch schon wieder umgekrempelt. Es sollen elektromagnetische Schwingungen der Luft sein, nicht mechanische wie beim Schall. Jedenfalls aber war doch Licht immer Licht, bis man entdeckte, daß es Lichtstrahlen gibt, die wir mit unseren Augen überhaupt gar nicht sehen. Die ultravioletten. Dann machte Professor Röntgen seine Entdeckung. Jetzt konnte man organische Körper durchleuchten. Dann wurde das Radium entdeckt, dessen selbsterzeugte Strahlen auch Metallplatten durchdringen. Und so scheint das weiter gehen zu wollen, immer neue Lichtstrahlen mit ganz neuen Eigenschaften werden gefunden. Was daraus noch werden wird, das kann noch kein Mensch ahnen.

Wir kennen nur positiven und negativen Magnetismus, dasselbe gilt von der Elektrizität. Wenn nun dereinst noch eine dritte Art, noch andere Arten entdeckt werden? Weshalb sollen sich diese beiden Ströme, oder wie man es nun sonst nennen mag, nicht diagonal kreuzen, oder parallel nebeneinander laufen, oder sich diametral entfernen? Und wird nicht selbst eine Substanz wie Harz oder Gummi, die man doch eigentlich als unelektrisch bezeichnet, durch Reiben mit einem Seidentuche elektrisch, zieht eine geriebene Siegellackstange nicht Papierschnitzelchen an, kann man aus ihr nicht sogar Funken herauslocken? Unsere Nachkommen werden darüber lächeln, daß die heutige Wissenschaft nichts von einem tierischen Magnetismus wissen will, ihn ins Reich der Fabel, des Betrugs oder der Selbsttäuschung gehörend erklärt. Ist aber der Mensch selbst eine elektrische Batterie, die man nur in Betrieb zu setzen verstehen muß, dann sind auch sofort alle die spiritistischen Phänomene erklärt. Ich selbst begann den grauen Staub zu formen. Wie ich mich dabei verhalten mußte, hatte ich bald heraus. Hob ich ihn außerhalb des schwarzen Kreises auf, so hatte ich eben feines Pulver in den Händen. Befand ich mich dabei aber auf der schwarzen Fläche, so backte er zu einer schmiegsamen Masse zusammen, die ich dann auch außerhalb des Kreises niederlegen konnte. Auf dem schwarzen Staube zerfiel sie sofort wieder in graues Pulver, das heißt wenn sie mit diesem in Berührung kam, vermischte sich aber nicht, blieb nicht liegen, sondern, wie schon geschildert, der graue Staub rann davon, um sich wieder mit der großen Masse zu vereinen. Also da war doch zweifellos Magnetismus im Spiele.

Ich bin ein noch schlechterer Modelleur als Zeichner. Am besten hätte ich eine Kugel, einen Kloß fertig gebracht — ich bin doch einmal als Schiffskoch gefahren statt dessen verstieg ich mich gleich zur Schöpfung eines Menschen. Was da für ein Männchen herauskam, läßt sich denken. Der Oberkörper wurde ein Ei, daran unten zwei Würste geklebt, oben als Arme zwei kleinere Würste, eine Kugel als Kopf darauf, an diesen machte ich sogar noch eine Nase, aber weiter gings nicht, dann war Adam geschaffen.

Als ich aber nun diese Jammerfigur auf den grauen Staub setzte, ohne diesen selbst mit einer Fingerspitze zu berühren, da ward Adam sofort lebendig. Machte vor mir eine Verbeugung, schwang die Wurstarme, trippelte herum, mit ganz natürlichen Bewegungen, so weit man bei solchen Gliedmaßen von natürlichen Bewegungen sprechen kann.

Es war ja schließlich nichts anderes als bei den zusammengehefteten Knochen, die doch auch als Skelette auf dem grauen Staube lebendig geworden waren, ich ließ mich nur durch die Form irritieren, ich geriet nochmals außer mir vor Staunen.

»Viviana, gib mir nochmals eine Erklärung, nur ein Stichwort, wie ist das nur möglich, daß solch eine aus Staub geformte Masse plötzlich so beweglich, wie lebendig wird?«

Und ich erhielt die Erklärung diesmal aber nicht nur durch ein Stichwort.

Plötzlich verdunkelte sich der Saal, es wurde stockfinster, und da erschien an der einen grauen Quaderwand mein Männchen als Lichtbild in Riesengröße.

Es war ein ganz besonderes Lichtbild. Was dabei für Lichteffekte in Betracht kamen, ist schwer zu schildern.

Vor allen Dingen sah ich nicht die Lichtquelle, keinen Blendstrahl. Dagegen gingen von dem Lichtbilde selbst Strahlen aus, die sich genau auf die Figur konzentrierten, so daß diese vor mir in schwärzester Finsternis im Brennpunkt von blendenden Strahlenbüscheln stand, jetzt noch bewegungslos.

Da hob das Lichtbild den rechten, ungeheuren Wurstarm, und gleichzeitig hob meine Figur den linken. An dem Wurstarm des Lichtbildes entstand eine Hand, und auch mein Figürchen bekam eine solche. Das Lichtbild begann sich zu färben, die Beine wurden rot, der Oberkörper blau, das Gesicht fleischfarben, und so färbte sich auch meine Figur.

Versteht der Leser, worauf es hierbei ankam?

Ich hatte die Erklärung gefunden. So weit mein Verstand und mein Bildungsgrad hierzu ausreichten.

Nicht meine Figur wurde zuerst bewegt und angepinselt, dieser Vorgang durch Lichtstrahlen gegen die Wand projiziert, sondern es geschah gerade umgekehrt. Das Lichtbild wurde auf irgend eine Weise gefärbt und bewegt, das wurde dann durch Lichtstrahlen auf meine Figur projiziert, hier setzte sich die Lichtmalerei in Plastik um so kamen reelle Bewegungen heraus.

Ich will es noch auf andere Weise zu erklären versuchen, durch ein Gleichnis.

Auf einer großen Wasserfläche fährt ein Boot. Es besitzt wohl einen Motor, aber niemand befindet sich drin, diesen zu bedienen. Und dennoch fährt dieses Boot hin und her, kreuzt und wendet, stoppt und setzt sich wieder in Fahrt.

Am Ufer steht ein Mann, er kommandiert und das führerlose Boot gehorcht ihm.

Wie ist das möglich?

Noch vor 20 Jahren wäre das absolut unerklärlich gewesen. Vielleicht noch vor 200 Jahren hätte man diesen Mann, der das Boot so aus der Ferne lenken kann, als Hexenmeister auf dem Scheiterhaufen verbrannt.

Heute weiß jedes Kind, mindestens jedes Berliner Kind, daß dieses Boot auf dem Wannsee durch elektrische Wellen gelenkt wird. Drahtlose Telegraphie, aber zur Erzeugung von mechanischem Effekt verwendet. Wenigstens wird das Steuer gedreht, der Gang des Motors geregelt. Man kann aber sogar die Schiffsschraube selbst durch Fernwirkung sich drehen lassen.

Dasselbe lag auch hier vor.

Die Figuren, aus Metallstaub bestehend, wurden durch elektrische Fernwirkung gelenkt. Sonst unsichtbar, waren mir jetzt einmal diese elektrischer Wellen als Lichtstrahlen sichtbar gemacht worden.

Erst wurde das Lichtbild beweglich gemacht, dessen Bewegungen übertrugen sich auf die Figur.

Ja, wie aber nun konnte man das Lichtbild sich so ganz nach Willkür bewegen lassen?

Wenn ich hierfür auch keine Erklärung fand, so konnte ich mir doch wenigstens eine Möglichkeit ausdenken.

Bewegliche Lichtmalerei, die Malkunst der Zukunft.

Und ich glaube, ich glaube, daß es schon einmal im 15. Jahrhundert einen Menschen gegeben hat, der eine Erfindung gemacht hatte, die unsere heutige Kinematographie noch bei weitem übertraf! Der muß dieses Problem der beweglichen Lichtmalerei schon gelöst haben!

Ich habe einmal seine ganz merkwürdige Geschichte gelesen.

Ich mag 12 Jahre alt gewesen sein, als mir einmal ein alter Schmöker in die Hände fiel, ein altes, abgegriffenes Buch mit vergilbten Blättern. Unser Dienstmädchen las es, hatte es auch erst geborgt. Weiß nicht mehr den Titel des Buches, nicht von wem es war. Mein Vater verbot es mir, suchte mich durch Spott von solcher »Schundlektüre« zu kurieren. Desto gieriger nur verschlang ich es. Und wenn heute noch ein einziges Exemplar dieses Buches existierte, es wird »ausgegraben«, in einer Rumpelkammer entdeckt, dann — »staunt der Laie, auch der Kenner stutzt!« Dann würden die Herrn Kritiker vielleicht ganze Bibliotheken über den einst verachteten Schmöker schreiben. Man weiß doch, wie es in dieser schnöden Welt zugeht, und die niederträchtigste Abteilung von ihr ist die literarische.

Wunderbare Geschichten! Der Held einer solchen war kein anderer als der berühmte italienische Maler Leonardo da Vinci, der Schöpfer des unvergleichlichen Wandgemäldes »Das heilige Abendmahl« in dem ehemaligen Kloster St. Maria delle Grazie zu Mailand, bekannt durch zahllose Kopien und Kupferstiche.

Geboren 1452 sind über die ersten vierzig Jahre seines Lebens nur spärliche Nachrichten vorhanden. Vor allen Dingen wissen wir, daß er ein tüchtiger Zechbruder und Raufbold gewesen ist. Als Abenteurer ging er in die Fremde, kam auch nach Ägypten, soll hier großartige Festungsbauten ausgeführt, überhaupt als Baumeister und Ingenieur gewirkt haben, soll eine wunderbare Kanone erfunden haben — hauptsächlich aber trat er am Hofe des Königs als Gaukler und Ilusionist und Wahrsagen und Sterndeuter auf.

Dieser Leonardo da Vinci muß überhaupt ein Universalgenie gewesen sein. Seine hinterlassenen Schriften umfassen Kunstlehre, Architektur, Anatomie, Astronomie, Geographie, Chemie, Mechanik und den verschiedensten Teufelskram. Sie sind kaum zu entziffern, denn er schrieb wohl Italienisch, aber sein eigenes, hatte seine eigene phonetische Orthographie, wenn er sich nicht überhaupt einer Geheimschrift bediente, und so war alles an ihm originell, er wußte einen geheimnisvollem mystischen Schleier um sich zu breiten, ließ sich nicht hinter die Kulissen blicken.

In jenem Buche nun wurde erzählt, wie er seine Freunde in intimem Kreise belustigte. Er führte ihnen bewegliche Lichtbilder vor, konnte die wunderbarsten Szenen hervorbringen, alles lebendig, ganz natürlich. So auch das heilige Abendmahl, wobei aber Christus Brot und Wein wirklich verteilte, wobei sich alle die Jünger wirklich wie im Leben bewegten.

Wie er das fertig brachte, verriet er nicht. Während seiner Abwesenheit drangen seine Freunde einmal in die Wohnung ein, in den Raum, von dem aus er die Lichtstrahlen gegen die Wand lenkte. Noch sei bemerkt, daß er diese beweglichen Lichtbilder in voller Farbenpracht erscheinen ließ. Die Eindringlinge fanden nichts weiter als viele Glastafeln regellos mit bunten Farbenklecksen bedeckt. Keine Figur war zu erkennen.

Der sehr jähzornige Leonardo war über diesen Vertrauensbruch so erbost, daß er in seiner ersten Wut alle die beklecksten Glastafeln zerschmetterte und alle seine Freunde forderte, einige von ihnen mehr oder weniger schwer verwundete, einen tötete. Nur durch die Gnade des Papstes entging er selbst dem Tode durch Henkershand.

Dies bildete den Inhalt einer Erzählung in jenem Buche.

Wie kam nun der Verfasser jenes alten Buches dazu von solchen beweglichen Lichtbildern zu sprechen, wo man damals, als dieser Verfasser lebte, oder meinetwegen noch zu meiner Kinderzeit, noch gar keine Ahnung von so etwas hatte?

Es gibt zu denken!

Und in einer Biographie später habe ich gelesen, daß Leonardo da Vinci tatsächlich einmal ein Massenduell gehabt hat und deshalb beinahe hingerichtet worden wäre!

Die Lichtfigur an der Wand wurde weiter geformt, und ebenso formte sich auch mein Männchen, es wurde ein wirklicher Mensch daraus.

Freilich war da ja noch nicht zu unterscheiden, ob nicht die plastische Figur gegen die Wand projiziert wurde, das Umgekehrte war nur eine Theorie von mir.

Aber ich sollte gleich noch eine andere Belehrung bekommen, welche die Richtigkeit meiner Theorie bestätigte.

Das Lichtbild an der Wand verschwand, gleichzeitig stürzte auch mein schon wohlausgebildetes Männchen in Staub zusammen.

Da tauchte ein neues Lichtbild auf, im Nu stand es fix und fertig da.

Es war die bekannte Laokoon—Gruppe.

Der Sage nach war Laokoon ein Priester in Troja. Weil er seine Landsleute vor dem hölzernen Pferde gewarnt hatte, welches die arglistigen Griechen bei ihrem Abzuge zurückgelassen, wodurch dann Troja erobert wurde, schickte Apollo dem braven Manne zur Strafe — auch so eine echt—griechische Gemeinheit — zwei ungeheure Schlangen zu, die Laokoon samt seinen beiden Söhnen umstrickten und erwürgten.

Diese Gemeinheit ist von einem unbekannten Bildhauer verherrlicht worden, wahrscheinlich im zweiten Jahrhundert vor Christi Geburt, man hat die über lebensgroße Statuengruppe in Rom bei den Titusthermen aufgefunden, hat einen ungeheuren Quark deshalb gemacht.

Es mag ja eine wunderbare Bildhauerei sein, aber für mich ist und bleibt diese ganze Geschichte eine niederträchtige Gemeinheit, so wie ich die Göttin Athene, die in dem Zweikampfe des Achilles und Hektor die Gestalt eines Freundes des letzteren annahm, um ihm beizustehen, obwohl sie auf Seiten des Achilles war, und wie nun Hektor seinen Speer verschleudert hatte und sich nach dem zweiten umsah, da war dieser schöne Freund samt dem Speere verduftet — so wie ich diese Göttin Athene, wenn ich sie erwischen könnte, überschnallen und ihr jeden Tag drei Dutzend auf ihr göttliches Hinterteil erteilen würde.

Also diese Laakon—Gruppe stand als Lichtbild an der Wand, in Riesengröße, plötzlich fix und fertig.

Der arme Teufel von Priester verzog sein Gesicht in schrecklichem Schmerze, wozu er auch allen Grund haben muß, denn in die linke Hüfte beißt ihn eine Schlange, deren hinteren Leib er mit dem rechten Arm von sich hält, links und rechts neben ihm stehen seine beiden Söhne, ebenfalls schon von Schlangen umstrickt, vergebens sich aus den Umschlingungen zu befreien suchend.

Vor mir in dem Staube aber war noch nichts.

Da jedoch gingen von dem Lichtbilde rote Strahlen aus, sie konzentrierten sich vor mir in einem Punkte, und alsbald begann sich der graue Staub zu bewegen, erst bildete sich ein Hügelchen, schnell wuchs er, er folgte den roten Lichtstrahlen, und ehe drei Minuten vergangen waren, stand auch vor mir diese ganze Gruppe in voller Plastik da.

Also war meine erklärende Theorie eine ganz richtige gewesen. Erst wurde das Lichtbild erzeugt, nach diesem aus dem Metallstaub die plastische Masse geformt.

Wenn das vorher ein Männchen mit seinen Händen getan hatte, so war das nur eine Spielerei gewesen, um eine besondere Illusion hervorzubringen. So etwa, wie man in früheren Zeiten mit Vorliebe die Zeiger der Uhr von Figuren drehen ließ, als ob diese die Uhrzeit anzeigten, während doch immer nur das Räderwerk mit der treibenden Kraft dahintersteckt.

Es blieb nicht bei der unbeweglichen Gruppe. Es kam Leben in die Schlangenungeheuer und in die drei Menschen. Der furchtbare Kampf begann.

Aber ehe es eigentlich richtig losging, wurde es in dem Saale wieder tageshell, und obgleich deshalb die Geschichte ruhig ihren Fortgang hätte nehmen können, sank die ganze Gruppe plötzlich in Staub zusammen, der sich sofort auch wieder ebnete, wie Wasser oder Quecksilber zu einer Fläche ausrann.

Die Vorstellung war gestört worden. Der Störenfried war kein anderer als Merlin, der in seinem gelben Lederkostüm plötzlich neben mir stand. Seit jener Begegnung in der texanischen Prärie sah ich ihn zum ersten Male wieder.

»Deine Gefährten versuchen vergeblich,« redete er mich ohne weiteres in seiner freundlichen Weise an, »nach der Burg eine Leine hinaufzuschießen, um so hinaufzukommen.

Begib Dich auf dem Wege, den Du gekommen bist, hinab und sage ihnen, daß sie es nicht mehr nötig haben. Da Du durch eigene Tatkraft einen Weg ins Innere dieses Felsens gefunden hast, kann ich Euch nun auch nicht mehr den Eintritt verweigern, wenn dies auch anfangs meine Absicht war.

So habe ich Euch unten ein Tor geöffnet, durch das Ihr mit den Booten direkt in das Wasserbassin fahren könnt.

Deine Gefährten sehen es nur noch nicht, weil sie sich auf der anderen Seite befinden.

Also Ihr könnt Euch hier nach Belieben belustigen, und Ihr werdet auch noch genug anderes finden, für Euch Erstaunliches.

Meine dienstbaren Hände werden dabei Euch immer zur Verfügung stehen, aber eine Erklärung kann ich Euch nicht geben, Ihr würdet sie gar nicht verstehen.

Dagegen muß ich Dir, mein Freund, etwas verweigern.

Meine Tochter Viviana hat Dir versprochen, sich Dir heute zu zeigen.

Es war ein unbedachtsames Versprechen, ich muß es rückgängig machen.

Ein ander Mal, nur heute nicht. Heute ist es nicht möglich.

Aber in anderer Weise will ich ihr Versprechen gleich jetzt lösen.

Sie versicherte doch, Du kenntest sie persönlich, nicht wahr?«

»Ja, das sagte sie allerdings!« konnte ich nur bestätigen.

Lächelnd blickte mich der Jüngling mit den weißen Haaren an.

»Nun, fällt Dir nicht ein, wo Du ihr schon einmal begegnet sein könntest?«

Nein, mir fiel nichts ein.

»Meine Tochter ist doch an Bord Deines Schiffes gewesen.«

»An Bord unseres Schiffes, der Argos?!«

»Jawohl, sogar ziemlich lange Zeit.«

»Ziemlich lange Zeit?!«

»Gewiß doch, und sie gab ja auch hier ein Erkennungszeichen.«

»Was denn für ein Erkennungszeichen?«

»Das Eichenblatt, das sie im Staube abdrückte.«

Da plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen!

Plötzlich sah ich vor mir im Geiste ein braunes Weib, ein junges, schönes Mädchen, ein Kind fast noch, in bunte, baumwollene Gewänder gehüllt — und ich sah, wie diese Gewänder auf dem Rücken zurückgeschlagen wurden, und da erblickte ich auf dem sammetartig glänzenden Nacken, oder vielmehr auf dem einen Schulterblatt, auf dem linken, ein weißes Muttermal, ganz genau einem Eichenblatt gleichend, auch von natürlicher Größe . . .

»Ist es möglich, jenes Mädchen, das wir in dem chinesischen Piratenschlupfwinkel fanden, in einem sargähnlichen Kasten, in Todesstarre liegen?«

Lächelnd nickte der geheimnisvolle Mann.

»Es war meine Tochter Viviana. Ihre Mutter ist eine Inderin. Sie war mir geraubt worden, von einem Mächtigeren als ich, der aber nun nicht mehr existiert. Sie war nicht tot‚, und nur körperlich war sie mir entführt worden. Im Geiste befand sie sich immer hier bei mir. Daß ich aber auch körperlich sie wiedererlangte, das habe ich nur Dir und Deinen Gefährten zu verdanken, und eben deshalb bin ich Euch so großen Dank schuldig, stehe ganz zu Euren Diensten.«

»Und jener Mister Carlistle?! Der sie seine Traumkönigin nannte?«

»Es war ein Wahn von ihm. Oder vielleicht auch nicht nur so ein Traumgebilde. Doch das verstehst Du nicht, ich könnte es Dir nicht erklären. Jedenfalls aber war meine Tochter ganz unschuldig an diesem seinem Wahne.«

»Und was macht dieser Carlistle jetzt?«

»Er weilt nicht mehr unter den Lebenden.«

»Tot?!«

»Ja, er hat in Australien seinen Tod gefunden, einen sehr schönen. Somit hat sich diese Angelegenheit geklärt. Du wirst meine Tochter später noch kennen lernen, sie wird Euch allen danken.«

Sprachs, wandte sich und ging der nächsten Tür zu. Ich konnte ihm nur nachstarren.

Da aber zeigte sich, daß dieser rätselhafte Mann nicht besonders prophetisch veranlagt sein konnte.

Der Eskimo hatte sich wieder hinabbegeben, hatte ein offenes Wassertor gefunden, hatte die anderen geholt.

Da kamen meine Jungen schon angestürmt, und jetzt wurde die Sache in diesen Geisterkinderspielstuben fortgesetzt, in noch ganz anderer Weise.

Jedenfalls konnten wir hier Zeit unseres Lebens verweilen, dieses Spieles konnte man nie überdrüssig werden, und immer neue Überraschungen fanden sich, man mußte nur suchen und sich gewöhnlich erst einige Neckereien gefallen lassen.


93. KAPITEL.
EIN ALTER BEKANNTER.

»Waffenmeister, in der Eisgrotte halten sich fremde Menschen auf oder haben sich doch noch vor kurzem darin aufgehalten.«

So sprach Juba Riata zwei Tage später zu mir, an Bord des Schiffes, in meiner Kabine, wo ich mich aufhielt, um mein in letzter Zeit arg vernachlässigtes Tagebuch zu führen.

»Woher wissen Sie das?« fragte ich überrascht

»Plutos Nase und Benehmen sagt es mir. Ich hatte mich vorhin in die Eisgrotte begeben, um meine heutige Jagdbeute aufzuhängen. Pluto war bei mir. Er stöberte etwas auf eigene Faust herum, schlug plötzlich an, läutete, kam auch, um mich zu holen, führte mich ziemlich weit in eine Gegend, in der ich noch gar nicht gewesen war, vielleicht noch keiner von uns, zeigte auf dem Eise eine Spur an, die einem fremden Menschen angehören muß, vor noch gar nicht so langer Zeit hinterlassen. Und der Bluthund irrt sich nicht.«

»Er hat die Spur jenes gepanzerten Weibes in der Höhle nicht verfolgen können.«

»Das ist etwas ganz anderes, darüber war schon zu lange Zeit vergangen, und ich bin sogar überzeugt, diese Fährte wurde künstlich verwischt, was sehr leicht zu machen ist, wenn man die Mittel dazu kennt. Schon etwas Spiritus genügt. Jetzt aber hat Pluto eine fremde menschliche Spur gefunden, die er verfolgen will.«

»Haben Sie es nicht gleich getan?«

»Das Benzin in meiner Taschenlampe war alle geworden, ich wollte neues holen, oder lieber gleich eine Petroleumlampe.«

»Ist denn die Eisgrotte nicht wie immer erleuchtet?«

»Die Grotte wohl, aber die Spur führt in einen Tunnel hinein, in dem es finster ist. Kommen Sie mit?«

Natürlich war ich sofort bereit dazu, nur daß ich erst wärmere Sachen anzog, wenn auch nicht gerade ein Pelzkostüm.

Es war die neunte Stunde abends, als wir das Schiff verließen. Nur ein kurzer Gang die Felswand entlang, und wir betraten die Eisgrotte.

Sie war wie immer von jenem rätselhaften Lichte erfüllt. Gleich vorn in einer großen Nische hing an Stangen die Jagdbeute, die wir nicht immer gleich verzehrten, so daß der Jagdlust keine Schranken gezogen zu werden brauchten. Überdies hatten wir ja auch an Bord eine Eiskammer, nur daß zur Erzeugung dieser künstlichen Kälte der Donkey gehen mußte, die kleine Hilfsmaschine, wenigstens ab und zu, und wozu das, wenn wir hier einen natürlichen Eisschrank besaßen.

Meine Jungen belustigten sich oftmals hier mit Schlittschuhlaufen und anderem winterlichen Sport, hatten auch schon eine grandiose Rodelbahn geschaffen — jetzt war niemand hier.

»Halten Sie schon einem anderen von Ihrer Entdeckung gesagt?«

Nein, das hatte Juba Riata nicht, das war nicht die Art und Weise dieses Mannes. Nur mich hatte er zu der weiteren Erforschung geholt, hätte dies wahrscheinlich auch bei seinem Freunde dem Eskimo getan, aber der war heute abend wieder einmal seine eigenen Wege gegangen.

Der Bluthund begrüßte mich. Wir hätten besser noch andere Hunde mitnehmen sollen, aber da wäre wieder Pluto in seiner Ehre gekränkt worden. Das war immer so eine eigentümliche Geschichte bei uns, bei den Tieren wie bei den Menschen.

Er führte uns tief in die ungeheure Grotte hinein, durch Spalten und Löcher hindurch, in die wohl nur zufällig einmal jemand gekrochen sein konnte, denn hier wimmelte ja alles von solchen Löchern und Tunnels. Aber immer kamen neue Eissäle, alle erfüllt von jenem tageshellen Lichte.

Da aber verschwand Pluto in einem Loche, aus dem es finster herausgähnte.

»Hier führt die Spur hinein!« sagte Juba Riata.

»Wie kommt es, daß diese Öffnung nicht erleuchtet ist?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht ist die Beleuchtung in Abteilungen geteilt, gerade hier versagt einmal der Mechanismus. Denn irgend ein Mechanismus muß doch dabei sein.«

Der Hund kam wieder hervor, lud uns ein, ihm zu folgen, wir taten es. Hinter dem Tiere Peitschenmüller, dann ich, der ich mich ebenfalls mit einer Petroleumlampe bewaffnet hatte — und dann freilich auch mit richtigen Waffen.

Das Loch war von vornherein so niedrig, daß wir gebückt gehen mußten, und bald blieb uns nichts anderes übrig, als auf Händen und Knien zu kriechen.

Da hörte das Eis auf, eine nackte schwarze Felswand kam. Zum ersten Male, daß man in dieser Eisgrotte außer der Felsendecke solch eine schwarze Steinwand sah.

Und weiter und weiter ging es, immer auf Händen und Knien. Ich hatte nicht nach der Uhr gesehen, jedenfalls aber waren schon zehn Minuten vergangen, das ist für solch eine Kriecherei eine höllisch lange Zeit.

Dazu kam auch noch etwas anderes, im Scheine unserer Lämpchen.

»Juba, mir wirds ganz grausig zumute!« gestand ich offen, wenn auch in flüsterndem Tone.

»Pluto verfolgt noch immer eine Spur, erklang es ebenso flüsternd zurück.

»Vielleicht ist ein Felsenmaulwurf gewesen, dessen Spur er verfolgt.«

»Nein, es war ein Mensch.«

»Dann aber sicher ein menschlicher Maulwurf. Wie kann denn nur ein richtiger Mensch hier in solch einem Mäusegange auf dem Bauche spazieren gehen und sich dabei wohl fühlen! Und ich bin weder ein Straßenpflasterer noch eine alte Betschwester, die schon Horn auf den Knien hat, ich halts kaum noch aus!«

»Wollen Sie sich etwas ausruhen, sich auf den Rücken legen?«

»Na‚ ein bißchen warte ich noch damit.«

Wir krochen weiter, wieder vergingen mindestens fünf Minuten, und dieser Gang wollte kein Ende nehmen, wollte auch nicht höher werden.

Da aber schimmerte uns ein Licht entgegen! Vor mir erbob sich Peitschenmüller, hinter ihm konnte ich es tun.

Wir standen in einem höheren Gange, in dem wir nur deshalb etwas sehen konnten, weil wir aus der schwärzesten Stockfinsternis kamen.

Das Licht selbst kam seitwärts aus einer Fensteröffnung heraus, oder noch mehrere waren erleuchtet. Wir schlichen uns hin nach der nächsten, in Brusthöhe angebracht, also eine Öffnung in der nackten Felsenwand, aber mit Glasscheiben versehen.

Ein unvermuteter Anblick erwartete uns. Wir sahen in eine Kammer, die Wände verkleidet mit Holzbrettern, angefüllt mit Hausgerät und Gerümpel aller Art, hauptsächlich aber auch mit ritterlichen Waffen und Rüstungen, jedoch nicht mit solchen von jener vergoldeten oder versilberten Bronze, sondern die Panzer alle ganz schwarz, und zwar war das sicher wirkliches Eisen oder Stahl, denn auch die Schwerter waren von blitzendem Stahl.

Und was waren das für Schwerter, die da kreuzweise an der Wand hingen! Wenn es auch Zweihänder sein mochten. Und ein Riese mußte es auch sein, der diese Schwerter führte, denn für einen solchen waren auch diese verschiedenen Rüstungen bestimmt, offenbar alle für ein und denselben Mann. Wenn er auch nicht gerade 2,30 Meter wie unser »Bandlwurm«, so überstieg seine Länge zwei Meter doch noch bedeutend, und nun überhaupt einen ganz anderen Körper mit mächtigem Brustkasten und gewaltigen Schultern!

Und das hier war nicht nur so eine Rüstkammer, als Museum eingerichtet. Es war ja überhaupt mehr ein Wohnraum — die Klause eines Eremiten, der sonst eine härene Kutte trug, aber ehemals ein Ritter gewesen war und sich nur noch zeitweilig in seine Rüstungen hüllte. Da war ein Lagerbett, bedeckt mit Bärenfellen, und alles verriet, daß es erst vor kurzem benutzt worden und noch nicht wieder in Ordnung gebracht worden. Daneben über einem rohgezimmerten Stuhle hing eine braune Kutte und ein gebrauchtes Handtuch. Ein Waschtisch aus Naturholz, aus zusammengenagelten Baumästen, und das Wasser in der irdenen Schüssel war eisig. Und schließlich sorgte hier für die Beleuchtung nicht jenes rätselhafte Licht, aus den Wänden kommend, sondern auf dem Bauerntisch stand eine primitive Petroleumlampe brennend, eine alte, große Bibel war aufgeschlagen, daneben lag ein eiserner Handschuh, für einen Riesen bestimmt, und außer einem Tintenfaß und anderen Sachen stand da auch ein mächtiger Humpen mit Deckel. Alles machte den Eindruck des gegenwärtigen Gebrauches, von dem Humpen waren über den Tisch Tropfen verkleckert, dort war eben erst ein Schwert mit einem Putzlappen bearbeitet worden, und so weiter. Der Bewohner dieser Klause war nicht zu sehen.

Ja, das war ja alles ganz realistisch, aber . . . die Fensteröffnung, durch die wir blickten, war mit einer Glasscheibe verschlossen und wir waren schon gar zu sehr an kinematographische Bilder gewöhnt. Wir hatten solche Einrichtungen allerdings noch nicht hier in dieser Gegend unseres Quartiers gefunden, nur im Schlosse der Entsagung, bei welchem Namen es geblieben war, dort waren wir aber auch mit solchen kinematographischen Szenen sozusagen totgefüttert worden.

Kurz und gut, die Glasscheibe, die uns von dieser Klause trennte, brachte mich gleich auf den Gedanken, ob hier nicht nur eine kinematographische Illusion vorliegen könne.

»Ist das Wirklichkeit oder nur so ein lebendes Lichtbild?« zeigte da Juba Riata, daß er gleich denselben Gedanken gefaßt hatte wie ich.

»Wenn es ein Lichtbild ist, so muß es doch irgend einen Zweck haben. Wir müssen warten, was noch weiter kommt.«

Aber vorläufig geschah nichts weiter. Nur daß die Lampe blakte.

Doch dort weiter rechts befanden sich in gleicher Höhe ja noch andere Öffnungen, aus denen Licht hervorschimmerte. Rasch ging ich dorthin.

Ich hatte erst sechs Schritte getan, das nächste Fenster noch nicht erreicht, als ich plötzlich den Boden unter den Füßen verlor. Nicht daß ich in ein Loch gestürzt oder daß unter mir eine Falltür aufgeklappt wäre, sondern ich war wie auf eine schiefe, sehr glatte Fläche getreten, erst mit dem einen Fuße, und ehe ich mich mit dem anderen abstemmen konnte, saß ich schon auf meinem Hosenboden und rutschte abwärts.

Jawohl, es war eine perfekte, wunderschöne Rodelbahn, die ich hinabsauste. Nur daß ich dabei keinen Schlitten benutzte, sondern direkt auf dem Hosenboden saß. Das heißt, humoristisch war mir dabei nicht zumute. »Wo werde ich landen?« das war die schwerwiegende Frage, die ich sorgenvoll aufwarf. Wenn ich überhaupt etwas dachte. Immer sausender ging die Fahrt hinab, vergebens suchte ich mich an den Wänden oder am Boden einzukrallen, eines war so spiegelglatt wie das andere, aber kein Eis, sondern schwarzer Stein, bis ich auch das nicht mehr erkennen konnte, weil durch den heftigen Luftzug meine am Gürtel befestigte Lampe verlöschte.

»Nun ade, Georg, das nimmt nimmer ein gutes Ende!«

Das war daß letzte, was ich dachte, ahnungsvoll ganz mit Recht, denn im nächsten Augenblick erhielt ich einen Schlag vor den Kopf und Georg war tot.

Denn wenn man nichts mehr von sich weiß, kann man sich als tot betrachten.

Als ich aber wieder erwachte, da wußte ich, daß ich noch nicht tot war. Denn wenn es auch im Paradiese, in das ich doch hoffentlich dereinst hineinkomme, so aussieht, so hoffe ich doch ebenso bestimmt, daß ich dort dereinst nicht einen so mächtigen Brummschädel habe und an meiner Stirn keine solche Beule fühle, wie es hier der Fall war.

Ich befand mich in einem sogenannten Boudoir. Zwar war ich noch nie in ein Boudoir gekommen, aber so stelle ich es mir vor. Weiche Teppiche, in denen der Fuß bis zum Knöchel versank, daß man sich am Boden wie in einem Federbett wälzen konnte, schwellende Polster und Kissen und anderer Klimbim, für den ich weiter keinen Namen habe, und dazu noch ein süßlicher Parfümduft.

Ganz gewiß, das war ein sogenanntes Boudoir.

Haben das nicht nur Damen?

Natürlich, es war ein Damenboudoir, sonst hätte es hier doch nicht so nach Parfüm gestunken. Daß dies manchmal auch in Herrenzimmern der Fall sein kann, wußte ich damals noch nicht. Damals dachte ich noch, was so ein richtiger Mann ist, der müsse entweder nach Teer oder nach Stiefelwichse oder nach Schweiß oder nach Leder oder nach so etwas Ähnlichem duften, nur nicht nach Parfüm.

Nachdem ich also zur Überzeugung gelangt war, mich in einem Damenboudoir zu befinden, konstatierte ich weiter, daß ich selbst auf einem niedrigen Polster lag, meine Sachen nicht mehr anhatte, aber auch nicht nackt dalag, sondern daß ich mit seidener Unterwäsche und einem wundervoll geblümten Schlafrock bekleidet war, aber besonderer Art, wohl ein türkischer Kaftan, wie hier überhaupt alles orientalisch war.

Danach mußte ich längere Zeit bewußtlos gewesen sein, daß man mich so hatte umkleiden können, wenn ich nicht irrte, hatte man mich sogar gebadet, ganz sicher mein Haar sein frisiert, glücklicher Weise dabei keine Pomade hineingeschmiert, während man nicht für nötig gehalten, meine mächtige Brausche auf der Stirn zu behandeln, sonst hätte ich doch eine Kompresse oder einen Verband darauf gehabt. Mit Ausnahme einiger Kopfschmerzen fühlte ich mich denn auch ganz wohl.

Wo bin? Nun, zweifellos im Reiche Merlins des Zauberers und speziell, da es sich um ein Damenboudoir handelte, in einem Wohnraume seiner Tochter, des Fräulein Viviana.

Das sagte mir schon das keinen Schatten werfende Licht, das aus den teppichbehangenen Wänden wie aus jedem Gegenstande hervorzukommen schien, und wo man solche Beleuchtung hat, wenn sonst genügend für Luftventilation gesorgt ist, braucht man ja auch wie hier keine Fenster.

Aber eine Tür war vorhanden. Oder doch eine doppelte Portiere, die jedenfalls eine Tür verhüllte. Ich stand auf, konstatierte dabei, daß meine nackten Füße mit hocheleganten Sandalen bekleidet waren und dann weiter, daß ich die Portiere nicht zurückschlagen konnte. Das war kein Teppich oder sonstiger gewebter Stoff, sondern das war Eisen oder sonst etwas Unbiegsames, nur gerade wie Portieren geformt, man konnte seine Hand in einen schmalen Schlitz stecken und unten war noch ein gröBeres Dreieck, aber nicht groß genug, daß ein normaler Mensch durchkriechen konnte, und beim Durchblicken sah ich nur schwarze Nacht. Diese massiven Portieren waren nicht nur wie solche bemalt, sondern sogar mit Fasern bedeckt, boten mir aber jedenfalls einen unbesiegbaren Widerstand.

Da aber, wie ich schon zurücktrat, wurden diese unbeweglichen Portieren plötzlich zurückgeschlagen, so wie man eben Portieren zurückschlägt, und herein trat ein Mann, ein Türke.

»Good morning.«

Ein starrer Blick meinerseits, und ich prallte doch förmlich entsetzt zurück, obgleich der Eintretende absolut nichts Entsetzliches an sich hatte. Es war ein kleiner Mann, noch kleiner durch seine unförmliche Dicke erscheinend, der bunte türkische Schlafrock, noch prachtvoller als meiner, spannte sich über einen ganz gewaltigen Schmerbauch, über den die kleinen, aber überaus fetten Hände gefaltet wurden, und so war auch der Kopf beschaffen, klein, aber wahre Hängebacken, nicht nur Pausbacken, sie konnten vor Fett gar nicht mehr stehen, die Züge überhaupt vor Fett ganz verschwommen.

Im übrigen ein äußerst gutmütiges Gesicht, sonst wohl sehr heiter und zufrieden, nur jetzt mit einem wehmütigen Lächeln unter dem blonden Schnurrbärtchen, und wenn der Kerl auch einen türkischen Kaftan und auf dem glattgeschorenen blonden Kopfe einen roten Fez trug, so war es doch ein echt germanisches Gesicht, von der Fettsucht befallen.

»Good morning!« sagte also dieses Männchen gleich nach dem Eintritt, faltete die Wurstfingerchen über dem Schmerbauche und schaute mich wehmütig lächelnd an.

»Ach, machen Sie keine Faxen!« stieß ich hervor.

»Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie mich wiedererkennen?«

»Mister Harry Sandow!«

»Ich bins. Das wundert mich aber, daß Sie mich wiedererkennen. Denn sonst können Sie von meinem Hiersein doch nichts wissen. Das wundert mich sehr.«

Ja, es gehörte in der Tat ein ganz besonderes Genie dazu, um diesen Mann wiederzuerkennen. Harry Sandow der Leser entsinnt sich, der englische Bierbrauersohn, der die Indianer nach dem Eldorado—Plateau gebracht hatte — das schlanke, zierliche Männchen, wenn auch mit stählernen Muskeln, aber jedenfalls doch ein dürrer Häring — und jetzt eine runde Fettkugel. Und da war auch keine Ähnlichkeit mehr in den aufgeschwemmten Zügen vorhanden. Wenigstens wohl nicht für andere Menschen.

Daß ich ihn gleich wiedererkannt hatte, das kam daher, weil ich als Sprößling einer Fechtmeistergeneration überhaupt sehr scharfe Augen besitze, und zweitens, weil ich ein Seemann bin, der an Bord des Schiffes überhaupt sehr wenig Gesichter zu sehen bekommt, und wenn man sich einmal für ein solches interessiert, dann merkt man es sich auch ganz genau, dieser »Merks« wird durch andere Gesichter nicht viel gestört.

»Harry Sandow, ist es möglich?«

»Ich bins.«

»Ja was machen Sie denn hier?!«

Das wehmütige, obgleich nicht gerade unglückliche, mehr verschämte Lächeln trat noch stärker hervor.

»Ich werde hier gemästet.«

»Als Schlachtvieh?!«

Denn ich dachte im Augenblick an Kapitän Satan, den wir ja hier wiedersehen sollten, an seine menschenfressenden Proslewiten.

»Nee, aus Liebe. Obgleich allerdings das Schwein, das man als zukünftige Wurst mästet, ja auch von seinem Besitzer heiß geliebt wird. Aber ich soll nicht geschlachtet werden. Ganz im Gegenteil.«

»Ja weshalb werden Sie denn da gemästet?«

»Weil ich Mitglied eines Harems bin.«

»Sie haben sich hier einen Harem eingerichtet?«

»Nee, wiederum ganz im Gegenteil, ich gehöre mit zu denjenigen, mit denen andere einen Harem eingerichtet haben. Ich bin sozusagen Odaliskrich. Sie verstehen doch. Eine männliche Odaliske. Hier herrscht ein weiblicher Sultan, also eine Sultana, die sich einen männlichen Harem zugelegt hat, und alle ihre Untertanen, lauter Weiber, mit ihr.«

»Ja, was sind denn das für Weiber?!«

»Sie fragen noch? Sie sind doch an meinem ganzen Unglück schuld.«

»Ich?!«

»Jawohl, Sie! Sie haben mir doch damals geraten, nach Halsmahera zu fahren und die sogenannten Maladekkaranis zu holen, die indischen Amazonen, um mit diesen kraftvollen Weibern das indianische Blut aufzufrischen. Das habe ich denn auch getan. Aber diese vermaledeiten Weiber haben den Spieß bald umgekehrt, haben mir und meinen Indianern die Hosen aus und sich selber angezogen, und uns haben sie in ihre Weiberkittel gesteckt.«

Ich war sprachlos.

»Erzählen Sie ausführlich!« entschied ich dann.

Wir setzten uns, und jetzt hatte Sandow kein wehmütiges, noch weniger ein heiteres Lächeln mehr, als er begann

»Es ist Schreckliches, Schreckliches, was ich Ihnen zu berichten habe.

Gleich, nachdem Sie damals mit Ihrem Schiffe fort waren, fing die Morkserei zwischen den Apachen und Kommantschen an. Sie wissen schon, weil der schwarze Biber, der Häuptling der Kommantschen, den Apachen Steinherz, der ihren Matrosen ermordet, Ihnen zum Hängen ausgeliefert hatte.

Aber nicht etwa, daß ich Ihnen deshalb einen Vorwurf mache, Gott bewahre, und es war ja auch vorhin nur mein Spaß, Sie wären schuld an meinem ganzen Unglück. Obgleich mir sonst gar nicht so spaßig zumute ist.

Also die Morkserei ging los, und ehe ich stoppen konnte, lebten von den 258 Männern und Bengels keine 200 mehr, und da sie außerdem gegenseitig ihre Lager überfallen hatten, waren von den 155 Frauen und Mädchen keine 80 mehr übrig. Alle anderen abgeschlachtet!

Da war es mir endlich gelungen, sie zu bewegen, das Kriegsbeil zwischen sich wieder zu begraben.

Nun brauchte ich aber, wollte ich meinen Plan durchführen, erst recht frische Weiber.

Ich dachte an Ihre indischen Amazonen. Was Sie mir da erzählt, hatte mir imponiert.

Also ich wollte hin nach Indien, nach dem malaiischen Archipel. Aber die Rothäute konnte ich nicht allein lassen. Sobald ich ihnen den Rücken wandte, ging die Morkserei wieder los, das wußte ich bestimmt. Sie wissen, daß ich kein Renommist bin, aber darauf können Sie sich verlassen, daß ich einen ganz außerordentlichen Einfluß auf diese roten Burschen besaß.

So wollte ich sie lieber gleich mitnehmen. Ich redete ihnen vor, daß ich eine noch viel bessere Gegend wüßte als diese, und da kamen sie mit. Nun konnte ich sie aber auch nicht daran hindern, daß sie verschiedene gut zugerittene Pferde mitnahmen, denn sonst hätte ich doch gestehen müssen, daß ich sie angeflunkert, daß ich sie wieder hierher bringen wollte. Daher kommt es, daß Sie hier den Gaul mit dem Violinschlüssel wiedergefunden haben. Denn ich weiß recht wohl, was Sie hier treiben. Doch davon später.

Zurück nach der Küste durch Guyana und ein Schiff gechartert, später gleich gekauft. Was ich dabei für Verwicklungen gehabt habe, dabei will ich mich jetzt nicht aufhalten.

Wir kamen nach dem vermaledeiten Maladekka, das der Teufel holen soll. Denn dort fing mein Unglück an, woran Sie aber ganz unschuldig sind. Daß ich Einfaltspinsel mich mit solchen Weibergeschichten einlassen muß, wo ich geschworen habe, unverheiratet zu bleiben!

Nun habe ich die Strafe dafür bekommen. Die Sachlage war noch gerade so, wie Sie sie mir erzählt hatten. Alle die Weiber steckten noch oben in ihrer Felsenburg, wurden wohl unten von den Eingeborenen belagert, die die Ermordung ihrer Fürsten und Blutsverwandten rächen wollten, aber anhaben konnten sie den Mörderinnen nichts, die hatten oben zu essen genug, machten sogar oft genug Ausfälle, ohne freilich weit zu kommen.

Ich holte sie heraus. Es war einfach genug, ging ohne jeden Kampf ab. Sie brauchten nur ein Fahrzeug, um auf dem Wasserwege fortzukommen, ein bemanntes und armiertes Schiff, das von den traurigen Eingeborenen mit ihren Prauen nicht so leicht aufgehalten werden konnte.

Und fort wollten die kriegerischen Weiber auch. Ich brauchte ihnen nur den Vorschlag zu machen, mit mir zu kommen, und sofort waren sie bereit dazu, mitzukommen, ganz gleichgültig wohin.

Wir fuhren ab. Gleich am zweiten Tage merkten wir, wen wir an Bord hatten. Bei günstigster Gelegenheit fielen die Amazonen über uns her, überwältigten sowohl die Indianer wie die ganze Mannschaft, erklärten dieses Schiff für ihr Eigentum und uns für ihre Sklaven. Und die roten Weiber wurden gleich abgeschlachtet und über Bord geworfen, nicht das kleinste Kind weiblichen Geschlechts wurde verschont. Das ist das Schrecklichste dabei. Sonst würde die Sache fast mehr humoristisch zu nehmen sein. Ich habs schon lange hinter mir, deshalb kann ich es Ihnen jetzt so ruhig erzählen.

Das Weiberschiff hatte keinen langen Bestand. Die kraftvollen Amazonen hatten wohl geglaubt, selbst heizen zu können, und was sie sonst vorhatten, das mag Gott wissen, aber so einfach war die Sache eben nicht. Schon am andern Morgen rannten wir in der Nähe einer Koralleninsel prompt auf einen Felsen, kamen zwar wieder frei, der starke Wind trieb uns ab, aber das Schiff leckte unrettbar.

Da, als die Amazonen schon die Rettungsboote klar machten, aber wohl nur für sich selbst, die Gefangenen sicher ihrem Schicksale überlassen wollend, tauchte ein Schiff auf, oder vielmehr ein Fahrzeug, eine Art von Torpedoboot, und näherte sich uns mit rasender Schnelligkeit.

Es war der »Seeteufel« vom Kapitän Satan. Aber ein anderer »Seeteufel«. Sein erster ist ja dank Ihrer Bemühungen in die Luft gesprengt worden. Ich weiß nämlich alles, Kapitän Satan hat mir alles erzählt, auch sein Renkontre mit Ihnen.«

Er nahm uns an Bord. Wir Gefangenen, immer noch an Händen und Füßen gebunden, wurden wie die Häringe übereinander geschichtet. Mehr weiß ich nicht. Wir müssen betäubt worden sein, wahrscheinlich für lange, lange Zeit. Als ich wieder erwachte, hatte ich schon so ein Kostüm wie dieses an und war auch schon so aufdringlich dick geworden. Alle die Indianer und englischen Matrosen ebenfalls. Wir müssen während unserer Bewußtlosigkeit gefüttert worden sein, gemästet.

Als mich Kapitän Satan zum ersten Male wieder sah, oder ich ihn, wie ich mich im Spiegel betrachtete, wollte er sich einen Bruch lachen.

Dann teilte er mir einiges mit. Viel wars nicht. Wir befänden uns hier im Herzen Sibiriens. Und hier würden wir Zeit unseres Lebens bleiben. Nicht als Gefangene, sondern als Gatten dieser Amazonen, und danach würden wir auch behandelt. Herrlich! Nur freilich daß wir nicht völlige Freiheit hätten. Und dann leben diese Weiber nicht in Monogamie, sondern in Polygamie, in Männergemeinschaft. Die haben jetzt eben den Spieß umgedreht. Wir werden abwechselnd ausgelost. Und diese Geschichte geht nun schon anderthalb Jahr lang. Wie sie uns allen bekommt, sehen Sie hier an mir. Ich bin unterdessen noch viel, viel dicker geworden, obgleich ich schon damals bei meinem Erwachen glaubte, unförmlicher könnte ich nun gar nicht mehr werden. Ich habe in den anderthalb Jahren noch mindestens 40 Pfund zugenommen.«

Der Erzähler schwieg. Ich hatte ihn mit keinem Worte unterbrochen.

»Wie sind Sie denn nun hierher gebracht worden?« war jetzt meine erste Frage.

»Ich weiß es nicht. Die Inderinnen, mit denen ich ja ganz gemütlich sprechen kann, halten diesen Kapitän Satan für einen mächtigen Zauberer, der uns einfach durch die Luft hierher ins Innere Asiens entführt hat. Tatsache ist ja allerdings, daß dieser Mann mehr kann als andere Menschen, er ist im Besitz wunderbaren Erfindungen, die an Hexerei grenzen. Die eiserne Portiere dort, die nur, wenn es ein Höherer erlaubt, zum beweglichen Lappen wird, ist nur eine Kleinigkeit davon, Sie werden noch andere Wunder erleben. Aber daß wir auf sein Kommando plötzlich durch die Luft gesaust sind, davon kann natürlich keine Rede sein. Entweder wir sind in Kisten über Land auf Karawanenwegen hierher transportiert worden, immer ohne Zolluntersuchung oder der »Seeteufel« hat ebenfalls den Jenissei und andere Wasserstraßen benutzt, wie Sie ja auch, oder doch Ihre »Argos«. Nur daß dieses Torpedofahrzeug, nehme ich an, ein Unterseeboot ist, es kann auch unter Wasser fahren, sich also unsichtbar machen und entgeht so der Untersuchung von den russischen Behörden. Es ist meine Ansicht. Hierüber spricht der Teufelskapitän nicht, er fängt nur immer in seiner schrecklich höhnischen Weise zu lachen an, wenn ich hierüber etwas wissen möchte.«

»Er befindet sich immer hier?«

»Jetzt, ja. Im Anfange waren immer lange Pausen dazwischen, ehe wir ihn wieder einmal zu sehen bekamen. Seit einem halben Jahre etwa, haben wir täglich die zweifelhafte Ehre seiner Gesellschaft.«

»Hat er Ihnen gesagt, wie er hierher kommt, was er hier treibt?«

»Das hat er. So weit er es für gut findet. Und dann weiß man niemals, was man ihm glauben darf, denn der Kerl lügt wie gedruckt, mindestens renommiert er ganz gewaltig. Danach gehöre er einer geheimen Gesellschaft an, welche der Menschheit um einige Jahrtausende voraus sei, auch die Geschicke der Menschheit lenke, wenn ihre Mitglieder auch nicht tätlich eingriffen. Von dieser Gesellschaft wüßten auch Sie. Stimmt das?«

»Jawohl.«

»Ja.«

»Dann ists ja gut, dann hat mich der Kerl einmal nicht angeflunkert. Kennen Sie einen Mann namens Merlin?«

»Ja.«

»Kann der auch so zaubern?«

»Er ist zweifellos im Besitze wunderbarer Erfindungen.«

»Merlin und Satin, wie der Kerl eigentlich heißt, haben hier einst in bester Eintracht gemeinschaftlich gehaust. Wenn letzterer auch als ehrlicher Handelskapitän zur See fuhr, von Halifax aus. Das wissen Sie ja selbst. Er mußte sich eben praktisch in der Welt betätigen. Hier war nur sein Schlupfwinkel, hier gehörte er mehr jener geheimen Gesellschaft an, mußte für diese wirken. Da hat er sich während seiner Seefahrten schwere Verfehlungen zuschulden kommen lassen, hat sogar Seeraub getrieben. Er ist eben vom guten Wege abgewichen, ist zum bösen Prinzip geworden, während sein früherer Freund Merlin das gute Prinzip geblieben ist. Einige Zeit ließ man ihn noch treiben, bis man ihn hierher verbannt hat, wo er einst geherrscht hat, jetzt aber als Gefangenen. Merlin ist sein Wächter, Satin steht unter dessen Aufsicht. Obgleich er doch manchmal Urlaub zu bekommen scheint. Das hat er mir ganz offen erzählt, hohnlachend, renommierend, weil es ihm jetzt viel besser gefalle als früher, und was sich der arme Merlin seinetwegen plagen müsse.«

»Wie werden Sie hier behandelt?«

»Zu klagen hätten wir ja nichts. Jeden Tag gibt es neue Belustigungen, faktisch jeden Tag etwas anderes, wenn auch dabei die Kinematographie eine Hauptrolle spielt. Aber in einer Weise, daß man es nie überdrüssig bekommt. Und dann auch reelle Vorstellungen genug. Und nun dazu immer das denkbar beste Essen, die ausgesuchtesten Leckerbissen. Und wir müssen irgend etwas einbekommen, daß wir fortwährend starken Appetit haben und daß uns diese Fresserei auch so gut bekommt. Keine Verdauungsstörungen und gar nichts. Nein, zu klagen hätten wir nichts, aber . . . haben Sie nicht etwas Tabak bei sich? Ach, den hat man Ihnen doch gewiß abgenommen. Na‚ da muß ich mich wieder mit einer Salmiakpastille begnügen.«

Die fette Hand, kaum noch eine menschliche zu nennen, zog aus der Tasche des Schlafrocks eine goldene Dose hervor, wunderschön ziseliert und funkelnd von Juwelen, und öffnete sie.

»Ach, Schokoladenkonfekt, Marzipan und überzuckerte Rosenblätter!« erklang es enttäuscht. »Da habe ich die falsche Bonbonniere erwischt. Ich dachte, es wären Salmiakpastillen. Das ist doch wenigstens ein kleiner Ersatz für den Tabak, schmeckt sehr herzhaft und pikant.«

»Sie dürfen nicht rauchen?« konnte ich trotz des Schrecklichen, das ich gehört, schon wieder lächeln.

»Nicht rauchen und nicht kauen. Wir stänken danach so aus dem Halse. Zuerst war uns Schnupftabak vergönnt, aber der wurde uns auch wieder entzogen, weil wir die Nase gar so vollpulverten.«

Er begann Bonbons und Rosenblätter zu nutschen.

»Was treiben Sie denn nun sonst hier?«

»Gar nischt. Wir essen, schlürfen Sorbet — so was wie Spirituosen gibts natürlich nicht hier, das sind lauter Mohammedaner — lassen uns Vorstellungen geben und stehen im übrigen unseren Gattinnen zur Verfügung.«

»Und was treiben diese?«

»Sport. Sie fechten und schießen und reiten und treiben athletische Spiele. Die sorgen dafür, daß sie schlank bleiben. Nur ihre Männer wollen sie so dick als möglich haben. Das ist eben Geschmackssache.«

»Und was machen die Apachen und die Kommantschen?«

»Genau dasselbe wie ich: gar nischt.«

»Ja, lassen sich denn diese Indianer denn nur solch eine Gefangenschaft mit Weiberherrschaft gefallen?!«

»Ja, was sollen sie dagegen machen? Wir sind alle eingesperrt, dürfen auch nicht zusammenkommen, oder doch nur in beschränkter Weise. Immer nur zu je zwei. Diese Gesellschaft dürfen wir uns täglich auswählen, da können wir uns gegenseitig aussprechen. Schon drei sind nicht erlaubt.«

»Und das lassen sie sich gefallen, diese rachsüchtigen Indianer?«

»Ja, was soll man dagegen tun?«

»Denken diese Indianer, deren Frauen und Kinder ermordet worden sind, denn nicht an Rache?!«

»Ich weiß, was Sie meinen. Diese Weiber beim Zusammensein mit den Händen erdrosseln. Mein lieber Herr Kapitän! Das hat einen bösen Haken. Wie läßt Shakespeare seinen Hamlet bei Gelegenheit sagen? »Ich will dicke Menschen um mich haben.« Oder so ähnlich. Er meint, daß dicke Menschen immer harmlos sind, auf keine bösen Gedanken kommen. Und das ist auch so ziemlich Tatsache. Der Intrigant und Bösewicht muß immer hager sein. Dicke Menschen sind viel zu faul, um böse Taten auszuführen. Und das ist umsomehr der Fall, glaube ich, wenn es keine angeborene Fettsucht ist, sondern wenn man erst nach normaler Beschaffenheit davon befallen, künstlich dazu gebracht wird. Wenn man sich toll und voll gefuttert hat. Dann wird man ein ganz anderer Mensch.

Sehen Sie, mein lieber Kapitän, stellen Sie sich mal vor, Sie wären recht jähzornig, kämen über einen Menschen in eine ganz besondere Wut. Plötzlich, wie Sie den Kerl gerade erwürgen wollen, stürzen Sie in kaltes Wasser. Ist Ihre Wut da nicht sofort verraucht? In derselben Lage befinden wir uns. Nur daß wir in Fett gepurzelt sind. Wir schwimmen sogar ständig in warmem, schmierigem Fett, das noch viel nachdrücklicher alle auffallenden Leidenschaften besänftigt als kaltes klares Wasser, wir ersticken fast in unserem eigenen Fett. Oder ich will mich kürzer ausdrücken: wir sind durch diese Fettsucht alle Schlappsäcke geworden. Das ist die Sache. Nein, auch der rachsüchtigste Indianer hat sich jetzt in seinem Fette in ein geduldiges Schaf verwandelt. Noch kein einziger tätlicher Angriff ist erfolgt. Wir denken einfach an so etwas gar nicht mehr.«

»Auch alle die Indianer sind so dick geworden?«

»Alle, alle. Kannten Sie den großen Knochen? Haben Sie ihn damals zufällig gesehen? Ein baumlanger Kommantsche, der so hieß, weil er eben das reine Skelett war. Der wiegt jetzt bald drei Zentner. Da können Sie keine Rachsucht und keine heroischen Taten mehr verlangen. In solch einem Körperfette erstickt auch die Seele.«

Ich glaubte schon, daß Sandow recht hatte.

»Werden denn auch diese Weiber von dem Kapitän Satan als Gefangene gehalten?«

»Ja und nein. Anfangs durften Sie sich in der Steppe frei bewegen. Sie wissen, in dem Steppenlande nördlich von der Felswand. Das bewaldete Tal durften sie überhaupt nie betreten. Da kamen Sie mit Ihrer Mannschaft, wovon wohl auch Kapitän Satan nichts gewußt hatte. Jedenfalls wurde die Steppe dann auch den Amazonen verboten — Sie haben einmal eine im Freien gesehen, ich weiß es. Die hatte dieses Verbot übertreten, ist dafür bestraft worden. Wie, weiß, ich nicht, vielleicht ist sie für immer verschwunden. Jetzt dürfen auch die Weiber die Felsenräume nicht mehr verlassen, es ist ihnen überhaupt unmöglich gemacht worden, sie haben aber immer noch große Talkessel, in denen sie sich so gut wie im Freien bewegen. Nur der Ausgang ist ihnen verschlossen.«

»Lassen sich die indischen Amazonen diese Gefangenschaft gefallen?«

»Es wird ihnen wohl nichts anderes übrig bleiben, als sich darein zu fügen.«

»Gehen sie nicht mit Befreiungsplänen um, wenigstens insofern, daß sie sich auch draußen den freien Wald erschließen wollen?«

»Das weiß ich nicht, in ihre Pläne weihen sie uns Männer nicht ein.«

»Wieviel Weiber sind es?«

»Genau noch 208.«

»Wo sind die übrigen geblieben? Es waren doch ursprünglich 256.«

»Der Kampf um die Maladekkaburg, ihre Ausfälle haben doch viele Opfer gefordert, auch hier sind einige wegen Ungehorsams oder sonstiger Vergehen mit dem Tode bestraft worden, oder Unglücksfälle tödlicher Art haben sie hinweggerafft!«

»Hat etwa Kapitän Satan solche Bestrafungen durch den Tod gefordert?«

»Ganz gewiß!l« wurde eifrig bestätigt, so weit diese Fettkugel noch eines Eifers fähig war.

»Und wie verhalten sich da die Weiber dazu?«

»Die scheinen mit dem Kapitän Satan überhaupt unter einer Decke zu stecken, die vertragen sich ganz gut.«

»Wieviel Indianer sind noch übrig?«

»Von den früher vorhandenen genau nochmals 97. Damals wurden ja die halbwüchsigen Knaben als unbrauchbar über Bord geworfen.«

»Sind sonst keine Kinder hinzugekommen?«

»Ja gewiß, gegen 40 Mädchen. Die genaue Zahl kann ich gar nicht angeben wie bei den Erwachsenen, ich weiß nicht einmal, wie oft ich selbst glücklicher Vater geworden bin und durch wen. Hier ist der Platonische Idealstaat verwirklicht worden. Die Kinder lernen ihre Eltern gar nicht kennen, und es wird dafür gesorgt, daß auch die Mutter ihr Kind nicht kennt, es verliert sich gleich unter den anderen.«

»Sie sprechen von 40 Mädchen. Werden denn nicht auch Knaben geboren?«

»Doch, natürlich.«

»Und wo bleiben die?«

»Die verschwinden sofort nach der Geburt.«

Ohne weiteres Zögern hatte es Sandow gesagt. Er schien sich schon ganz daran gewöhnt zu haben.

»So! Sie verschwinden. Sie werden getötet?«

»Das weiß ich nicht. Kapitän Satan nimmt sie in Empfang, sie kommen nicht wieder zum Vorschein.«

»Na,‚ Sie sind doch überzeugt, daß diese hier unbeliebten Knaben getötet werden!«

»Ich muß es annehmen!« gab er jetzt zu.

Nicht mit Verachtung, sondern nur mit tiefstem Mitleid blickte ich an den Mann herab, der in solche Verhältnisse geraten war und sich ihnen fügen mußte — mußte!

Denn was sollte er dagegen tun? Und um Rache oder doch Strafe ausüben zu können, dazu muß man am Leben bleiben!

»Kommen da nicht manchmal Szenen vor?«

»Gewiß, oft genug sogar. Allerdings nicht gleich während der Niederkunft. Die erfolgt in der Narkose. Nur hinterher begehrt die Mutter oft stürmisch nach ihrem Kinde. Nun, da wird ihr eben gesagt, daß es ein Mädchen gewesen ist. Auftritte erfolgen nur deshalb, weil dann die Mutter oftmals auch dieses ihr Mädchen haben will. Aber dem wird nicht nachgegeben. Es wird ihr gleich direkt gesagt, daß es ein anderes, fremdes Mädchen ist, das sie an die Brust nehmen muß. Und nach einiger Zeit fügt sie sich immer. Diese Weiber haben sich schon daran gewöhnt, schon ihre frühere Erziehung war danach beschaffen, das geht ihnen immer mehr in Fleisch und Blut über. Ich dachte lebhaft an die alten Spartaner, welche verkrüppelte oder auch nur schwächliche Kinder einen Felsen hinabstürzten, und niemand hat dabei eine Ungeheuerlichkeit gefunden, wenn es auch zu schrecklichen Szenen gekommen sein mag. Und noch heute töten Insulaner der Südsee, auf Eilanden wohnend, die nur eine beschränkte Anzahl Menschen ernähren können, überzählige neugeborene Kinder, wie auch alte Leute als unnötige Esser getötet werden, und indem eine religiöse, feierliche Handlung daraus gemacht wird, verliert dies alles seinen Schrecken.

»Was ist denn aus der Mannschaft jenes Schiffes geworden?«

»Die ist auch hier.«

»Spielt dieselbe Rolle?«

»Genau dieselbe.«

»Auch alle so dick?«

»Selbstverständlich. Kapitän Arnold hat in der Fettsucht sogar den Rekord geschlagen.«

»Wieviel sind das Leute?«

»27 Mann, und noch keiner von ihnen ist gestorben.«

»Und wieviel hat Kapitän Satan von seinen eigenen Leuten bei sich?«

»Das wissen wir nicht. Wir bekommen nicht einen einzigen von ihnen zu sehen.«

»Hat er überhaupt eigene Leute bei sich?«

»Sicher.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Es wird für uns gekocht, Reinigungsarbeiten werden verrichtet, wir werden überhaupt bedient. Nur daß wir diese Menschen niemals zu sehen bekommen. Da müssen wir vorher die betreffenden Räume verlassen.«

»Wissen Sie nicht zufällig, ob unter diesen Männern ein außergewöhnlich großer ist, der manchmal eine eiserne Ritterrüstung trägt?«

»Eine eiserne Ritterrüstung?«

Sandow verstand mich gar nicht. Obgleich ich nicht gerade etwas Ungewöhnliches fragte. Auch die Amazonen hatten hier in diesem Felsenbezirk solche Rüstungen gefunden, bedienten sich ihrer, aber nur solche von Bronze.

Jedenfalls wußte Sandow nichts von dem riesenhaften Klausner in dem Felsenloche, und ein Glück war es für mich, wie ich später merken sollte, daß ich nur vorsichtig gefragt hatte, wenn auch gar nicht absichtlich mit solcher Vorsicht, so daß Sandow später gar nicht mehr daran dachte.

»Sie werden mit allem versorgt, was Sie brauchen?«

»Mit allem, mit allem.«

»Das ist ein weiter Begriff.«

»Wir können verlangen, was wir wollen, in spätestens einer Stunde ist es zur Stelle.«

»Das ist nicht möglich.«

»Ich versichere es Ihnen! Nun ja, die Sterne vom Himmel können wir nicht fordern. Und Tabak auch nicht, keinen Wein und sonstige Spirituosen, das wird uns vor enthalten. Aber sonst können wir alles verlangen.«

»Zum Beispiel auch . . . Bücher?«

»Ich verlangte neulich den »Gargantua« von Rabelais, doch gewiß ein ungewöhnliches Werk, und in zehn Minuten war es in meinen Händen.«

»Wenn aber nun ein Buch erst kürzlich erschienen ist, wie dann?«

»Hm, das kann allerdings nicht herbeigeschafft werden, und solche Fälle sind auch schon vorgekommen. Wenn Sie es freilich auch so wörtlich nehmen.«

»Ich will nur erfahren, ob dieser Kapitän Satan noch mit der Außenwelt in Verbindung steht, alles erst herbeiholt, oder ob hier schon alles Wünschenswerte aufgestapelt ist.«

»Das Letztere ist der Fall. Es muß hier eine ganz großartige Einrichtung geben. Es müssen hier Menschen wohnen oder bis vor kurzem gewohnt haben, die allen modernen Komfort besaßen, der sich nur denken läßt. Als ich zum Beispiel ein Notizbuch verlangte, war ein solches sofort zur Stelle, ganz neu, rotes Juchtenleder.«

»So, das wollte ich nur wissen. Sie kennen also den Mann, der sich Merlin nennt?«

»Nur dem Namen nach.«

»Gesehen haben Sie ihn noch nicht?«

»Nein. Wir dürfen diese Felsenräume ja nicht verlassen.«

»Er hätte doch hierher kommen können.«

»Das darf er nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Weil die beiden, Merlin und Satin, Feinde sind, oder doch als Nachbarn auf ganz getrennten Revieren leben, sich nicht gegenseitig besuchen dürfen, nichts miteinander zu tun haben.«

»Ich denke, Merlin ist gewissermaßen der Gefangenenaufseher, der Wächter von diesem Teufelskapitän, der jetzt hierher verbannt worden ist.«

»Ja, das ist aber wohl mehr geistig aufzufassen, in persönliche Berührung kommen die beiden nicht.«

»Gut, ich verstehe. Aber Kapitän Satan hat Ihnen von diesem Merlin erzählt?«

»Ja.«

»Was?«

»Eigentlich wenig genug. Er gibt zwar zu, daß jener der Mächtigere ist, aber er verhöhnt ihn in jeder Weise, macht sich über ihn lustig.«

»Inwiefern?«

»Nun weil er seinem Wächter eben das Leben sauer macht. Weil dadurch Merlin in seiner eigenen Freiheit beschränkt ist, sich nicht von hier entfernen darf.«

»Über seine persönlichen Verhältnisse hat er Ihnen nichts erzählt?«

»Gar nichts. Das scheint er nicht zu dürfen, sonst hätte ers sicher schon getan.«

»Sie kennen aber doch eine geheime Gesellschaft, eine Schwester Anna.«

»Da hat er nur einige wenige Andeutungen gemacht. Daß eine solche geheime Gesellschaft existiert, der auch er angehört, jetzt aber nur noch zwangsweise als Abtrünniger, dem enge Schranken gezogen worden sind. Mit seiner ehemaligen Seeräuberei und sonstigen Greueltaten hingegen renommiert er ganz offen, davon bekomme ich genug zu hören.«

Hierfür aber interessierte ich mich jetzt nicht.

»Ist dieser Satan auch derjenige, der dem Merlin seine Tochter Viviana entführt hatte?«

»Eine Tochter Viviana?« wiederholte Sandows verwundert.

Er wußte gar nichts von dieser, und mich ging das auch nichts weiter an.

»Sie wissen also, daß wir schon hier sind und was wir hier treiben?«

»Kapitän Satan erzählt uns viel von Ihnen und Ihren Leuten.«

»Was erzählt er?«

»Nun, wie Sie sich eingerichtet haben, wie Sie Wölfe und Kulans und Tarpans fangen und sie zähmen, wie Ihre Matrosen und auch die Damen in dem Zirkus als Reitkünstler ausbilden. Darüber höhnt und spottet er.«

»Was hat er darüber zu höhnen und zu spotten?«

»Weil dieser Kerl eben ganz aus Hohn und Spott zusammengesetzt ist. Aus keinem anderen Grunde. Das sage ich ganz offen, obgleich er es vielleicht hört.«

»Er belauscht uns?!«

»Sehr leicht möglich. Aber er freut sich nur, wenn man ihm sagt, wie grundverdorben er ist, was für ein miserabler Mensch, was für ein echter Teufel. Das macht ihm nur Spaß.«

»Also er beobachtet auch uns.«

»Ja, so weit es ihm gestattet ist.«

»Wie weit ist es ihm gestattet?«

»Das weiß ich nicht. Jedenfalls aber darf er sich auch nicht mit dem kleinen Finger in Ihre Angelegenheiten mischen. Das weiß er ja aber auch wieder nur zu seinen Gunsten zu deuten. So erzählte er mir höhnisch, wie Sie und Juba Riata einmal auf dem Baume gesessen haben, von dem Wisent gestellt, und er bedauerte nur, erzählt er ganz offen, daß er nicht hervortreten durfte, um Sie zu verspotten.«

»Er hätte uns also, wenn wir uns nicht selber hätten helfen können, unserem Schicksale überlassen, nichts für unsere Rettung getan.«

»Das nun weniger. Er hätte Ihnen wohl im Gegenteil gerade geholfen, um Sie verbindlich zu machen, um Sie dann verspotten zu können. Das sagt er selbst ganz frei heraus. Ein echter Teufel.«

»Gut, ich verstehe. Hat er gesagt, weshalb sich jene geheime Gesellschaft unserer so annimmt?«

»Nein, mit keinem Worte. Auch dafür hat er nur Hohn.«

»Wie drückt er diesen Hohn aus? Das möchte ich einmal näher erfahren.«

»Wenn Sies wollen — Sie und Ihre Leute wären Kinder, die noch am Gängelbande geleitet werden müßten.

»Nevermind. Vielleicht sprechen wir uns noch einmal. So, das wäre der erste Teil unserer Unterhaltung gewesen. Wie komme ich nun hierher? Was ist mit mir geschehen?«

»Sie sind in einen Schacht gestürzt, man hat Sie bewußtlos aufgefunden.«

»Man hat mich mit Absicht in jenen Schacht stürzen lassen?«

»Nein, das dürfte man gar nicht. Kein Haar darf Ihnen oder einem Ihrer Leute gekrüummt werden, keine List darf man anwenden, um Ihrer habhaft zu werden, kein Lockmittel und gar nichts. Sie sind in den Felsen herumgekrochen und auf eine schiefe, glatte Fläche gekommen, wo sie abrutschten und zuletzt heftig aufschlagen. So kamen Sie in dieses Reich des Kapitän Satan, wo nun wieder jener Merlin nichts zu suchen hat, weder mit List noch mit Gewalt eindringen darf. Da Sie aber nun einmal zufällig hierher geraten sind, wird man Sie, so viel ich schon gehört habe, nun auch hier festhalten.«

»Wozu?«

»Um gegen jenen Merlin eine Handhabe zu bekommen.«

»Inwiefern?«

»Näheres weiß ich nicht, so weit hat man mich noch nicht eingeweiht. Jedenfalls aber soll durch Sie auf Merlin ein Druck ausgeübt werden, daß er Satin und den Weibern, die ja mit ihm unter einer Decke stecken, Zugeständnisse macht.«

»Was für Zugeständnisse?«

»Nun, daß sie etwa mehr Freiheiten bekommen, sich auch draußen bewegen können.«

»Wird man mich da eventuell auch martern? Sie wissen vielleicht, daß ich ja nicht gerade ein Angsthase bin, aber so etwas interessiert einen doch.«

»Ich glaube nicht. An Ihrem Leben und Ihrer Gesundheit wird man sich nicht zu vergreifen wagen. Aber herausgeben wird man Sie sicher auch nicht, das ist mir auch schon gesagt worden.«

»Sind Sie zu mir geschickt worden, um mir das zu sagen?«

»So halb und halb. Ich soll Ihnen mitteilen, wo Sie sich hier befinden und alle Ihre Fragen beantworten, so weit ich kann. Weitere Instruktionen habe ich nicht bekommen. Verheimlicht habe ich Ihnen nichts, und ich brauche auch nicht, wie gesagt, rücksichtsvoll zu sprechen, selbst wenn wir belauscht würden.«

»Wie lange bin ich bewußtlos gewesen?«

»Ungefähr drei Stunden. Es ist gleich Mitternacht. Aber Tag und Nacht macht hier wenig Unterschied aus. Das heißt, Sie sind mit Absicht so lange in Bewußtlosigkeit gehalten worden. Inzwischen sind Sie gebadet worden, auch hat man schon zu konstatieren gewußt, daß Ihnen der Sturz nichts weiter geschadet hat — auch Ihrem Gehirn nicht, meine ich. Das hat man mir noch gesagt, um Sie zu beruhigen, weiter nichts.«

»Wer hat mich gebadet und sonst behandelt?«

»Entweder die Amazonen — oder Kapitän Satans Leute — das weiß ich nicht.«

»Was hat es dort mit jener Portiere für eine Bewandtnis?«

»Das ist so ein Schutzmittel, so eine Verschlußvorrichtung, wie es hier in Masse gibt, und jede immer anders, daß man sich nie zurechtfindet, wenn es einem nicht erklärt wird, was natürlich nicht geschieht.«

»Wie kommen Sie hindurch?«

Sandow zog aus seiner Schlafrocktasche eine schwarze Kugel von Wallnußgröße hervor.

»Das ist der Talisman. Wer diese Kugel bei sich trägt, für den verwandelt sich der eherne Vorhang bei der Berührung in einen weichen Lappen. Es ist dabei wohl Elektrizität im Spiele. Muß dabei eine ganz besondere Art von Elektrizität sein, von der die anderen Menschen noch gar nichts wissen. Und es nützt Ihnen nichts, daß Sie mir die Kugel nehmen. Sie ist immer nun auf eine einzelne Person eingestellt, einer anderen nützt sie nichts.«

»Weshalb nicht?«

»Nehmen Sie, probieren Sie selbst, die Portiere zu öffnen. Auf einen kleinen Schreck kommt es Ihnen doch nicht an, sonst passiert Ihnen nichts weiter, gefährlich ist die Sache nicht.«

Ich nahm die Kugel, begab mich hin, und noch ehe ich die Portiere herrührt hatte, erhielt ich einen elektrischen Schlag, der mich förmlich zurückschleuderte, jedoch ohne daß dabei das Überspringen eines Funkens zu bemerken gewesen wäre.

»Es nützt auch nichts,« erklärte Sandow weiter, während ich noch ganz bestürzt dastand, »daß ich die Kugel bei mir habe und Sie bei der Hand fasse. In diesem Falle werden eben wir beiden von einer elektrischen oder wahrscheinlicher von einer magnetischen Kraft zurückgeschleudert. Wie diese Kugel gerade auf eine bestimmte Person eingestellt werden kann, das freilich ist mir ganz und gar unbegreiflich.«

Da erscholl in der Kugel, die ich noch in der Hand hielt, ein helles Klingeln, und so schnell er konnte, erhob sich der Fettwanst.

»Das ist das Zeichen, daß meine Zeit abgelaufen ist, ich muß mich entfernen. Gehaben Sie sich wohl, und nicht wahr, Sie machen keine Dummheiten, wenn jetzt die Sultana zu Ihnen kommt. Hier ist jeder Widerstand ganz zwecklos.«

Mit diesen Worten hatte er mir die Kugel abgenommen, schlug die Portieren zurück, hinter ihm fielen sie wieder zusammen.


94. KAPITEL.
EIN BÖSER ANFANG UND EIN GUTES ENDE.

»Bonjour, monsieur maitre des armes,« erklang es hinter mir.

Ich wandte mich um.

In der Teppichwand war eine freie Türöffnung entstanden, und in dieser stand ein junges Weib in goldener Schuppenrüstung die sich trikotähnlich an den üppigen Körper anschmiegte, nur daß noch ein kurzes Röckchen hinzukam, ebenfalls aus zusammengesetzten Goldschuppen bestehend.

Ich erkannte sie sofort wieder. Es war die Begum Sallah, die mich ja damals auch an Bord besucht hatte. Sie hatte sich nicht im geringsten verändert.

Es war ein wirklich klassisch—schönes Gesicht, wenn auch nicht mehr mädchenhaft, einem reifen Weibe angehörend, nicht gerade braun, nur brünett, desto schwärzer funkelten die Augen.

Die starken, sogar muskulösen Arme über dem vollen Busen verschränkt, betrachtete sie mich.

»Ich hoffe, Sie kennen mich noch, Herr Waffenmeister!« begann sie dann, sich der französischen Sprache bedienend.

»Ja.«

»Als ich Ihnen damals den Vorschlag machte, mit mir auf meine Felsenburg zu kommen, und als Sie mich nicht anders als wie einen Hund von Bord jagten, sagte ich Ihnen ja gleich, daß wir uns noch einmal wiedersehen würden.«

Es war ohne weitere Gehässigkeit gesagt worden, nur etwas Spott klang hindurch. Sonst aber drückten diese sinnlosen Gesichtszüge etwas ganz anderes aus.

»Ich glaube, dieses Wiedersehen ist auch Ihrerseits ein recht unfreiwilliges!« entgegnete ich.

»Darauf kommt es nicht an. Sie sind mein Gefangener auf Gnade und Ungnade. Ihr englischer Freund hat Sie eingeweiht. Nur in einem hat er sich geirrt. Ich scheue mich durchaus nicht, Sie Marterqualen zu unterwerfen.«

»Weshalb wollen Sie mich denn martern?«

»Wenn Sie nicht auf meine Bedingungen eingehen.«

»Auf was für Bedingungen?«

»Sprechen Sie mit Merlin. Wir verlangen größere Freiheit von ihm. Wir wollen uns gänzlich frei bewegen, wie und wo wir wollen. Denn jetzt dürfen wir uns nur innerhalb dieser Felswände aufhalten. Das ist das, was ich von jenem Merlin fordere. Das zweite fordere ich von Ihnen selbst. Daß, wenn wir uns frei in der Steppe und in dem waldigen Tale bewegen können, Sie und Ihre Leute uns nicht als Feinde betrachten, sondern als Freundinnen, daß wir mit Ihren Leuten ohne Ausnahme verkehren und uns an ihren Spielen beteiligen dürfen.«

Mein Entschluß war sofort gefaßt.

»Das erstere will ich tun. Mit Merlin sprechen, ihm Ihren Vorschlag machen. Mehr kann ich nicht, über die Entscheidung habe ich doch gar nichts zu sagen. Dagegen schlage ich Ihren zweiten Wunsch von vornherein ab. Gesetzt den Fall, Sie dürften sich frei in dem Tale ergehen, so werden wir, meine Leute und ich, doch niemals mit Ihnen und Ihresgleichen freundschaftlich verkehren.«

»Weshalb nicht?«

»Weil wir mit Mörderinnen niemals Gemeinschaft haben wollen.«

Die weißen Zähne nagten an der Unterlippe.

»Nun gut!« gab sie dann überraschend schnell nach. »So versprechen Sie mir wenigstens, daß Sie und Ihre Leute nicht das geringste gegen uns unternehmen, wenn wir uns draußen im Freien zeigen.«

»Auch das kann ich Ihnen nicht versprechen.«

»Warum nicht?«

»Weil wir gewohnt sind, Mörder und andere Verbrecher, welche der Menschheit schädlich sind, zu fangen und sie zur Bestrafung der irdischen Gerechtigkeit auszuliefern. Ist die Auslieferung aber nicht möglich, so halten wir es für unsere Pflicht, diese Bestien in Menschengestalt selbst unschädlich zu machen.«

»Wenn Sie unsere ganze Erziehung kennten, würden Sie weniger hart über uns urteilen, würden uns . . . «

»Sparen Sie doch Ihre Worte! Ich habe ein für alle Mal gesprochen.«

»Aber ich noch nicht. Überlegen Sie sich meinen Vorschlag. Zunächst hier. Sie bleiben heute nacht bis morgen früh hier. Dann werden Sie entlassen, um mit Merlin und Ihren Leuten zu sprechen. Natürlich müssen Sie mir Ihr Ehrenwort geben, zurückzukehren. Spätestens nach 24 Stunden. Ihrem Ehrenwort vertraue ich unbedingt. Nur könnten Sie von Ihren Leuten ja mit Gewalt zurückgehalten werden. Um dies unmöglich zu machen werde ich für Sie eine andere Geisel fordern. Vorläufig habe auch ich dem nichts mehr hinzuzufügen, morgen früh sprechen wir uns noch einmal.«

In diesem Augenblick, da sie das gesagt, ward mir klar, in was für einem furchtbaren Dilemma ich mich befand. Hier gab es nur eines, wenigstens mußte es versucht werden, so lange noch Zeit dazu war.

Die Begum war nicht in meinen Raum getreten, stand noch jenseits der Türöffnung, in einem Gemache, dessen Einrichtung ich nicht weiter beachtet hatte.

Sofort stürzte ich mich auf sie, während sie noch so mit gekreuzten Armen dastand, das letzte Wort noch auf ihren Lippen.

Es war vergebens. Ich prallte gegen eine unsichtbare Wand, die sich doch noch in der frei erscheinenden Türöffnung befand — gegen eine Glaswand, will ich sagen, wenn ich von dieser auch nicht das geringste bemerkt hatte, auch die Stimme war dadurch nicht gedämpft worden.

Ein Glück war es gewesen, daß ich, um jene zu packen, die Hände vorgestreckt gehabt hatte. Andernfalls hätte ich mir den Kopf zerschmettern können. Immerhin war der Anprall so heftig, daß ich weit zurückgeschleudert wurde und zum Sturz kam.

»Versuchen Sie das nicht wieder, ich bin für Sie ungreifbar!« erklang es noch einmal, und die Türöffnung war verschwunden, die Teppichverkleidung wieder da.

Ich blieb gleich liegen, wo ich lag.

Ja, ich befand mich in einem schrecklichen Dilemma. Jeder meiner Jungen wäre natürlich sofort bereit gewesen, sich für mich als Geisel zu stellen, dann wäre es aber doch genau dieselbe Geschichte gewesen — mehr brauche ich nicht auszuführen. Wir hätten schließlich mit diesen Mörderinnen Freundschaft schließen müssen, und das ging doch wider unseren Charakter.

Ich sollte nicht lange mehr hierüber grübeln. War es natürliche Müdigkeit oder eine Nachwirkung des mir künstlich beigebrachten Betäubungsmittels — bald schlief ich wieder ein.

Ein leichtes Rütteln an der Schulter weckte mich. Ich blickte in ein schönes, tiefbraunes Mädchenantlitz, das sich über mich beugte.

Ach, wie gut noch kannte ich diese sanften Züge!

»Vivianal« flüsterte ich, obgleich vielleicht in der Meinung, das nur zu träumen.

»Ich bin es!« erklang es ebenso flüsternd zurück. »Diesmal kann ich Dich noch retten. Komm, folge mir schnell.«

Da wußte ich, daß ich nicht nur träumte. Auf schnellte ich.

Das in dunkle Gewänder gehüllte Mädchen schlug die ehernen Portieren zurück, auch ich konnte den Ausgang passieren, wir kamen in einen erleuchteten Gang, in dem links und rechts auf Teppichen zwei Amazonen lagen, mit silbernen Schuppenrüstungen angetan, in den Händen ein bronzenes Schwert, in tiefem Schlafe liegend.

Viviana wendete sich einmal nach mir um, den Finger auf den Lippen, wir schritten vorbei, drangen in einen schmäleren Seitengang, immer andere Gänge kamen, bis ich in einer Kammer meine mir abgenommene Kleidung und meine Waffen liegen sah.

»Kleide Dich um,« sagte meine Führerin mit nur wenig gedämpfter Stimme, »ich lasse Dich allein, aber Du bist schon in vollkommener Sicherheit, in einigen Minuten komme ich wieder.«

Sie verschwand hinter einer Ecke, doch kaum hatte ich meine Metamorphose beendet, als sie wieder auftauchte, wieder die Führung übernahm, ohne ein Wort zu sprechen.

Es ging weiter kreuz und quer durch Gänge, auch Treppen hinab und hinauf, es wurde finster, nur in der Hand meiner Führerin leuchtete ein Licht, bis auch dieses verlosch. Doch da dämmerte mir schon Tageslicht entgegen.

»Mein Vater erwartet Dich draußen, er will Dich sprechen!« sagte sie und blieb hinter mir.

Es war die Steppe, in die ich trat, der Morgen dämmerte. Neben der Felswand in dem taufeuchten Grase stand eine gelbe Gestalt — Merlin.

»Es war meine Schuld,« begann er ohne weiteres, »daß Du in die Gefangenschaft der indischen Amazonen gerietest. Einer meiner Leute hatte Euer Gebiet betreten und den Eingang hinter sich offen gelassen, dadurch stürztest Du in den schrägen Schacht. Da ich diese Schuld auf mich nehmen muß, mußte ich Dich auch wieder befreien. Dadurch ändert sich nun alles. Wollt Ihr dieses Tal und diese ganze Gegend verlassen?«

»Weshalb verlassen?!« fragte ich bestürzt

»Ihr braucht es nicht. Aber, wie gesagt, durch Deine Befreiung ändert sich nun das ganze Verhältnis. Du hast erfahren, in welchem Verhältnis ich zu jenem Manne stehe, den Ihr Kapitän Satan nennt, und es entspricht alles den Tatsachen. So lange Ihr Euch hier aufhaltet, bleibt er in ein bestimmtes Gebiet gebannt, innerhalb der Felsen, er mußte unbedingt gehorchten, und dasselbe gilt oder galt auch für die Amazonen.

Aber auch ich hatte Verpflichtungen. Auch ich durfte sein Gebiet nicht betreten, niemand von meinen Leuten. Das ist nun anders geworden. Ich bin es gewesen, der kontraktbrüchig geworden ist. Durch Deine Befreiung. Indem ich meine Tochter jenes Gebiet betreten ließ, und sie hat sogar Amazonen eingeschläfert und andere Listen gebrauchst, sogar eine kleine Gewalt.

Dadurch ist nun auch Satin seiner Verpflichtung enthoben. Er wird sich fernerhin mit seinen Leuten frei in der Steppe wie in dem Tale ergehen, und dasselbe gilt von den Amazonen. Ich kann ihn daran nicht mehr hindern, und gerettet mußtest Du werden, denn Dir stand zweifellos Fürchterliches bevor. Willst Du also mit diesen fremden Menschen dieses Gebiet fernerhin teilen?«

»Werden sie uns als Feinde gegenüber treten?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich bin nicht allwissend, kenne die Pläne anderer Menschen nicht. Jedenfalls aber müßt Ihr darauf gefaßt sein. Ihr müßt fernerhin mehr zusammenhalten, nicht mehr so einzeln herumschweifen und immer auf Eurer Hut sein.«

»Gut, das werden wir tun,« erwiderte ich sofort, »deshalb verlassen wir diese herrliche Gegend noch lange nicht, wenn in ihr außer Bären und wilden Wisents auch einige feindselige Menschen herumschwärmen. Sonst könnte man ja auch heute noch nicht in den Prärien und Wäldern des wilden Westens Amerikas jagen, weil man da immer noch stündlich ein Renkontre mit noch ganz waschechten, skalplüsternen Indianern zu erwarten hat. Nein, diese Amazonen machen den Aufenthalt hier vielleicht nur noch interessanter.«

»Recht so! Werdet nun Ihr selbst gegen die Amazonen feindlich vorgehen?«

»Weshalb wir?«

»Du sagtest es doch der Begum selbst. Ich bin nicht allwissend, kann aber hören, was ich hören will. Du hieltest es für Deine Pflicht, verbrecherische Menschen festzunehmen und sie der Gerechtigkeit auszuliefern oder wenn das nicht möglich ist, sie gleich selbst unschädlich zu machen . . . «

»O, das ist nicht so ganz buchstäblich zu nehmen. Mindestens gibt es da auch hier wie überall Ausnahmen. Ich will annehmen — und es dürfte auch in Wirklichkeit der Fall sein — daß diese Männer— und Kindesmörderinnen hier ein Asyl gefunden haben, in dem sie vor Verfolgung gesichert sind. So werde auch ich sie nicht verfolgen. Nein, sie sollen nur ruhig hier neben uns ihr Wesen treiben. Etwas anderes ist es natürlich, wenn sie wieder zu morden beginnen, oder wenn mir nur ein Hilfeschrei in die Ohren dringt. Dann muß ich natürlich neue Verbrechen zu verhindern suchen und der Hilfsbedürftigen mich annehmen, das ist meine Pflicht, die mir mein Gewissen vorschreibt, und ich spreche im Namen aller meiner Leute. Auch um die anderen Gefangenen wollen wir uns jetzt nicht weiter kümmern, die scheinen sich ja in ihrem Fette ganz behaglich zu fühlen.«

»Recht so!« erklang es wiederum im Tone eines alten Seemannes. »Kann ich dies den Amazonen und Kapitän Satin als Deinen endgültigen Beschluß mitteilen?«

»Tue es, das ist mir nur sehr lieb. Sage ihnen auch, daß wir alles bisher Geschehene verzeihen, oder vielmehr vergessen, wir kümmern uns gar nicht darum, es existiert nicht für uns, weil es uns nicht selbst betrifft, und daß es somit nur an ihnen liegt, wenn wir als gute Nachbarn nebeneinander leben wollen.«

»Ich werde es ausrichten.«

»Dagegen brauchst Du ihnen nicht zu sagen — das sage ich Dir jetzt nur unter vier Augen — daß sie uns gewappnet finden werden, falls sie einmal feindselig gegen uns vorgehen wollen. Und wenn es auch die zarteste Jungfrau ist, die einem meiner Jungen oder sonst jemand von uns nur ein Haar gekrümmt hat — dann gibt es keine Schonung! Die gelindeste Strafe wird sein, daß wir die Jungfrau überschnallen. Aber das brauchst Du ihnen eben nicht zu sagen, so etwas sagt man doch keinem guten Nachbarn, mit dem man in Frieden leben will.

»Ich werde es so zart andeuten, daß es keine Beleidigung sein wird, das überlaß nur meinem Feingefühl!« lächelte der jugendhafte Greis an meiner Seite, gegen den ich mich trotz alledem gerade jetzt etwas als Herr und Meister fühlte.

Während unserer Unterhaltung waren wir nicht stehen geblieben, sondern durch das taufeuchte, herrlich duftende Steppengras immer nach Westen marschiert, vor uns tauchten die goldenen oder vergoldeten Statuen auf, gleißend in den ersten Strahlen der Morgensonne, die sich hinter uns über die Bergesrücken erhob.

»Du kannst mein Boot benutzen,« nahm Merlin nach einer Pause wieder das Wort, »nicht nur zur Überfahrt, daß Du dann durch die Höhlengänge Dich nach dem Quartier begibst, sondern fahre nur direkt stromaufwärts nach dem Schiffe. Ich würde Dich natürlich nicht fahren lassen, wenn ich nicht wüßte, daß Dir vorläufig keine Gefahr mehr droht Auch Deine Gefährten sind bereits benachrichtigt, daß Du in Sicherheit bist, sie wurden schon gestern Abend über Dein Schicksal beruhigt, so daß sie ihr Suchen nach Dir aufgaben. Übrigens hat Juba Riata den schrägen Schacht gar nicht mehr gefunden, er wurde sofort nach Deinem Absturz geschlossen.«

»Und wer ist der Mann, in dessen Klause wir blickten, wovon Du doch ebenfalls sicher weißt?«

»Auch Dein Freund hat ihn selbst nicht zu sehen bekommen, aber Ihr werdet ihn schon noch kennen lernen!« lautete die ausweichende Antwort, und ich ärgerte mich schon, solch eine neugierige Frage gestellt zu haben, weil das eben sonst nicht mein Fall ist.

Wir hatten das kilometerlange Gebiet der Statuen durchschritten und das Wasser erreicht, das hier zwischen den Felswänden hervorkam, am Ufer lag ein zierliches Boot aus gelbgefärbtem Leder mit Schaufelruder, so leicht, daß es höchstens drei Personen fassen konnte.

»Gehabe Dich wohl, mein lieber Freund, wir sehen uns wieder. Ich fahre nicht mit. Behalte das Boot, wenn Du es magst. Also bleibt auf dem Kriegsfuße, wenn Ihr Euch auch frei bewegen könnt. Auch braucht Ihr Euch nicht etwa in Panzer zu hüllen — noch nicht! Erst werden sich Euch die Amazonen freundschaftlich nähern. Vor einer Gefahr, die Euch droht, kann ich Euch zwar nicht warnen, oder darf es nicht, werde Euch aber in jeder Gefahr beistehen, denn Eure Feinde sind auch meine Feinde.«

Ich war schon eingestiegen, hatte mich gesetzt und das Schaufelruder ergriffen, er löste das Lederband von dem Beine der Figur, um das es geschlungen, stieß mich ab.

Nach zehn Minuten war ich mit den Meinen wiedervereint, konnte ihnen berichten.

Ende des Fünften Teils