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Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.

   

Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.

Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.

Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.

 

Inhaltsverzeichnis


95. KAPITEL. DER ERSTE BESUCH.
96. KAPITEL. DIE HERAUSFORDERUNG.
97. KAPITEL. DIE WETTKÄMPEE.
98. KAPITEL. ATTILA—ALBARICH.
99. KAPITEL. ZWISCHENSZENEN.
100. KAPITEL. DAS BLATT WENDET SICH.
101. KAPITEL. »DANN FLIEHT MEINE SEELE ZURÜCK . . . «
102. KAPITEL. NÄCHTLICHE BESUCHE.
103. KAPITEL. ROSAMUNDE UND GRUH.
104. KAPITEL. DIE KRIEGSERKLÄRUNG.
105. KAPITEL. »DOCH ALLES, WAS MICH DAZU TRIEB . . . «
106. KAPITEL. ES KOMMT ALLES ANDERS!
107. KAPITEL. DAS SEEGEFECHT.
108. KAPITEL. VIVIANAS RAT.
109. KAPITEL. AUF DEM KRIEGSPFADE.
110. KAPITEL. DAS OPFER OBIS.
111. KAPITEL. ABWECHSLUNG MACHT VERGNÜGEN!

Sechster Teil

95. KAPITEL.
DER ERSTE BESUCH.

»Ein Schiff, ein Ruderboot, eine Galeere!«

So erklang es in der späten Nachmittagsstunde desselben Tages, der für uns in gewöhnlicher Weise vergangen war, nur daß niemand größere Ausflüge gemacht hatte.

Es war ein prachtvoller Anblick, den wir bekamen. Ein goldenes Fahrzeug, das man schon als Schiff bezeichnen mußte, 50 Meter lang, wie wir später maßen, auf jeder Seite von 30 Riemen gerudert, auch diese vergoldet, wie überhaupt alles, hinten die »Hütte«, was wir jetzt Ruderhaus nennen würden, für eine Galeere aber als Aufenthalt des Steuermanns oder des Taktschlägers wie vorn als Schmuck der riesenhafte Kopf eines phantastischen Ungeheuers, der heutigen Gallionsfigur, nur eben ganz ungeheuer groß.

Die Galeere war hinter dem Felsen vorgekommen, der sich etwa drei Kilometer östlich von uns in den See hineinreckte, allerdings noch einen Uferstreifen zum Begehen freilassend, uns aber doch die Aussicht auf einen Teil des Sees versperrend, der sich dann weiter nach Norden hinaufzog.

Das Fahrzeug beschrieb einen eleganten Bogen und hielt auf unser Quartier zu, also auf diesen Abfluß des Sees. Die Ruderer mußten sich schon tüchtig eingeübt haben, daß sie mit den sieben Meter langen Riemen solchen Takt halten konnten. Was hierzu gehörte, das sollten wir bald selbst erfahren. Menschen waren nicht zu sehen, die hielten sich hinter der hohen Bordwand, zeigten sich nicht darüber. Beim Näherkommen erwies sich das fabelhafte Ungeheuer des Bugschmucks als ein phantastischer Menschenkopf, dessen Nase als Raubvogelschnabel mit einem Tigerrachen verschmolz, von furchtbaren Zähnen starrend, die Locken sollten wohl Schlangen vorstellen, statt eines Augenpaares gleich drei Dutzend oder noch mehr, aus grünen Steinen bestehend, hauptsächlich auf die Stirn verteilt, aber auch anderswo im Gesicht, und dennoch erkannte man, daß es ein menschlicher Kopf sein sollte.

Unsere Nachbarn wollten uns offenbar einen Besuch abstatten. Instruktionen wegen des Empfangs brauchte ich nicht mehr zu erteilen, wenn ich auch nicht gerade an ein Wasserfahrzeug gedacht hatte. Die Patronin überließ alles mir, auch bei der persönlichen Begrüßung, wie die auch ausfallen mochte, sollte ich der Hauptmacher sein, weil sie wahrscheinlich für alle Eventualitäten keine Verantwortung übernehmen wollte.

Jetzt tauchten auf dem erhöhten Vorderdeck einige Weibergestalten auf, alle in solche trikotähnliche goldene oder silberne Schuppenkostüme gehüllt, nur das Gesicht frei und keine Kopfbedeckung tragend, die durchweg schwarzen Haare flatterten im leichten Winde.

»Gesicht und Kopf dürfen sie, wenn sie hier an Land wollen, nicht noch panzern, oder auch wir müßten uns panzern, sonst sind wir gar zu sehr im Nachteil!« sagte ich.

»Ach, das macht nix,« meinte ein Matrose, »mögen sie nur auch noch eine Blechmaske vorbinden, und wenn keine Kugel durchgeht, dann schlagen wir sie einfach langsam mit dem Hammer tot.«

Die Galeere war in Rufweite gekommen.

»Wir kommen als Freunde!« erklang es. »Empfangt Ihr uns als solche?«

»Wir erwarten Euch in Frieden!« rief ich zurück.

»Wo sollen wir anlegen?«

Ich brauchte nur vor mich hin zu deuten. In die Wasserstraße, in der unser Schiff lag, sollten sie lieber nicht kommen. Es war auch nicht nötig, denn auch hier dicht vor unserem Quartier, als vor der großen Höhle, die wenigstens den Zugang zu unseren Felswohnungen bildete, war das felsige Ufer wie ein gemauerter Kai beschaffen, das Wasser war auch für unser Schiff tief genug, um direkt anzulegen.

Die Galeere fuhr heran, drehte mit einem sehr schön ausgeführtem Rudermanöver bei, ein donnernder Knall, der aber für uns nichts Schreckhaftes mehr haben konnte, wir hatten schon vorher die dumpfen Paukenschläge gehört, die Galeere wurde ganz echt nach antikem Muster durch Paukenschläge kommandiert, bei diesem donnernden Paukenschlag wurden gleichzeitig alle Riemen eingezogen, sie lag längsseit des Felsenufers, meine Jungen waren behülflich sie festzumachen — machten sie sogar sehr gut fest, sehr fest!

Wir selbst waren dieselben geblieben, trugen unsere gewöhnlichen Strapazieranzüge für Jagd— und Arbeit bestimmt, und wer wie ich es liebte, ohne Jacke zu gehen mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, vorn das Hemd auf der Brust zurückgeschlagen, der tat es auch jetzt. Nur daß nicht alle hier am Strande versammelt waren, die meisten innerhalb der Felsen auf Posten standen, klar zum Gefecht. Aber von diesen war nichts zu sehen, so wenig wie bei uns etwas von Waffen, höchstens das übliche hinten am Gürtel hängende Schiffsmesser in der Scheide.

Eine Leitertreppe wurde herabgelassen, als erste stieg die Begum an Land, von den Fersen bis zum Hals in goldene Schuppen eingenäht, aber der Scharfrichter hätte für sein Schwert noch freie Arbeit gehabt, hätte nur die langen schwarzen Haare zurückstreichen müssen. Waffen trug sie natürlich nicht, das hätte ich mir auch sofort verbeten, das heißt ich hätte sie zum Ablegen genötigt.

»Ich komme als Deine Nachbarin, um Dich um gute Nachbarschaft zu bitten!« sagte sie, wieder auf Französisch, wohl die einzige moderne Sprache, die sie kannte, sich jetzt aber gleich des vertraulichen »Du« bedienend.

»Sei mir willkommen.«

Und ich konnte ihr auch gleich die Hand schütteln, die sie mir bot‚ um so aufrichtiger, als sie nicht von Freundschaft gesprochen hatte. Äußerlich eine zierliche, elegante Hand — innen alles hartes Leder. Es imponierte mir.

»Ich habe Merlin gesprochen — Du willst alles vergeben und vergessen.«

»Da es so ist, war schon dies zu viel.«

»Dürfen auch meine Freundinnen Dein Landgebiet betreten?«

»Gewiß, wen Du mitbringst, der ist mein Gast.«

65 Weiber wurden gezählt, welche die Leitertreppe herabkletterten, oder vielmehr elegant herabbalancierten, ohne Benutzung der Hände, alle in solchen Schuppenrüstungen, teils in goldenen, teils in silbernen.

»Verzeihe, daß wir in Schuppenrüstungen kommen. Es ist unsere übliche Tracht, wir sind keine andere gewöhnt, ja wir haben aus unserer Heimat gar keine andere mitgenommen, oder nur sehr dürftige Gewänder, mit denen man keinen Besuch machen kann!« lächelte sie.

Ich hatte bereits bemerkt, daß diese Metallschuppen mit Drähtchen auf einer Stoffunterlage aufgeheftet waren, es waren überhaupt dieselben Trikotkostüme, mit denen sich die Amazonen schon damals in ihrer Burg uns präsentiert hatten, während bei den Schuppenrüstungen hier, von den Ureinwohnern dieses Landes gefertigt, die Bronzeblättchen aufeinander gelötet waren, auf eine Weise, die wir uns nicht erklären kannten. Denn das Ganze war ja vollständig beweglich.

»Jeder kleidet sich nach seinem Geschmack, deshalb brauche auch ich Dich nicht um Entschuldigung zu bitten, daß ich Dich in Wasserstiefeln und aufgekrempelten Hemdsärmeln empfange!« entgegnete ich. »Deshalb eben sind wir ja zur See gegangen, zur freien Handelskauffahrtei. Also verlange auch keine Vorstellung, die ja übrigens auch damals bei Euch nicht stattfand. Es ist genug, daß wir beide als führende Hauptpersonen uns kennen. Befinden sich noch Leute an Bord Deines Schiffes?

»Warum fragst Du das?« erklang es mißtrauisch, was nicht eben höflich war, freilich ebensowenig wie meine Frage, nämlich wenn sie falsch aufgefaßt wurde.

»Nun, weil ich auch sie bewirten möchte. Dann müßte ihnen etwas an Bord gebracht werden.«

»Ahso! Nein, auf meiner Galeere ist keine Seele mehr. Sie steht auch Deinen Leuten jederzeit zur Besichtigung frei.«

»Ich danke Dir, später werde ich wohl auch Gebrauch davon machen. Bitte folge mir.«

Einerseits waren wir ja nicht auf solch eine Menge von Gästen vorbereitet gewesen, anderseits vollkommen, es hätten noch viel mehr kommen können, es bedurfte nur eines Winkes von mir.

Wir hatten viele große Felsensäle zur Verfügung, allerdings keinen, der künstlich erleuchtet war, das war hier nur bei der Eisgrotte der Fall, und mein Wink hatte den bezeichnet, der an der Ecke lag, auf der einen Seite floß also der Strom vorüber, welcher Saal daher durch Fensteröffnungen das meiste Tageslicht erhielt.

Ehe wir ihn erreicht, wozu wir uns allerdings Zeit genommen hatten, über dies und jenes plaudernd, hatten ihn meine Jungen, so weit sie abkömmlich, schon für die Bewirtung von rund hundert Menschen vorgerichtet, so schnell und apart, daß auch alle meine Erwartungen übertroffen worden waren.

Eine lange Tafel, an der hundert Menschen Platz nehmen konnten, hochnobel gedeckt, was darunter war, das verhüllten eben die bis zum Boden reichenden schneeweißen Tischdecken, alle mit dem Argos—Monogramm, auch sämtliche Sitze waren schon vorhanden, allerdings etwas bunt, ich sah gerade noch, wie über ein altes Butterfaß ein kleiner Teppich und über eine Eierkiste ein Pantherfell geworfen wurde, da stand aber auch schon auf dem Tische das Kaffee—Staats—Service der »Argos«, hundertteilig, da waren auch schon aus unseren Prämienschränken die Silbersachen herausgenommen und aufgebaut worden, nur als Tafelzierde, andere Silber- und Porzellangegenstände waren den Kajüten entnommen worden, und da standen auch schon mächtige Berge von Weißbrotschnitten und Kuchenscheiben und da tauchten auch schon auf einem Nebentische gewaltige, aber künstlerisch schöne Kannen mit Schokolade!

Vor acht Minuten hatte die Begum das Land betreten und ihre Absicht kundgegeben, mit 65 anderen Weibern unsere Gäste zu sein, in diesen acht Minuten war dies alles geschaffen worden, ohne daß wir vorher von so etwas nur eine Ahnung gehabt hätten.

Die Patronin hatte gegen Siddy Schokolade mit Gebäck bestimmt, Siddy hatte einen weiteren Befehl gegeben, und zwei Dutzend Paar Beine mit ebenso viel Händen waren gerannt. Als Sporn hatten dahinter die beiden Bootsleute gesessen, Napoleon und August der Starke. Nur so war diese zauberhafte Schnelligkeit zu erklären, und ich halte so etwas überhaupt nur an Bord eines Schiffes möglich, eines deutschen oder englischen Schiffes, ausgeführt von solch einer Schiffsmannschaft.

Allerdings war für die letzten Arrangements, daß alles schon fix und fertig war, günstig, daß das kochende Wasser gleich den heißen Quellen entnommen werden konnte und daß Meister Kännchen gerade zwei große Kuchen gebacken hatte. Sonst hätten wir nur mit Weißbrot aufwarten können.

Weniger nobel sah es aus, daß gerade in dem Augenblick, wo ich mit der Begum als erste eintraten, ein Matrose noch schnell eine Holzpütze, einfach Pferdeeimer genannt, voll Schokolade in eine der Staatskannen goß. Das zeigt aber auch, wie hier gearbeitet worden war. Hinter die Kulissen durfte man nicht gerade blicken.

»Hattest Du uns denn erwartet?« wunderte sich denn auch die Begum.

»Das nicht, aber es ist eine deutsche Schiffsmannschaft, die im Dienst nur Laufschritt kennt!« konnte ich nur erklären.

Wir ließen uns nieder, ich mich zwischen der Begum und einer Silbernen, von der Schiffsmannschaft waren außer dem Kapitän nur die Exklusiven vertreten, die sich zusammenhielten, wie die Patronin, die mir gegenüber saß, schon vorher bestimmt haben mochte. Also sonst keine bunte Reihe, ich war der einzige, der zwischen den Amazonen saß.

Matrosen füllten die Tassen am Nebentisch und servierten auf silbernen Präsentierbrettern. Sie machten ihre Sache tadellos, nur daß sie alle grobe Pfoten hatten und meist Seestiefeln mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, so wie auch ich am Tische saß. Richtig gesellschaftsmäßig war nur Doktor Isidor gekleidet, weil der eben fast immer einen schwarzen Gehrockanzug trug, er behielt aber auch bei Tafel seinen Zylinder auf dem Kopfe, und außerdem war er, da er die Schokolade zu »lätschig« fand und deshalb Kognak trank, eine Viertelstunde später bezecht wie ein Stint.

Wir fingen an zu pusten, zu schlürfen und zu kauen. Mister Tabak ging mit gutem Beispiele voran, verschlang Kuchenscheiben und Brotschnitte und schluckte die Butter hinterher, rührte die letzte Schokolade mit dem Finger um und leckte die Tasse mit der Zunge aus.

»Nehmen nicht auch Deine Leute Platz an der Tafel?« begann die Begum die Unterhaltung, sich nur an mich wendend, dabei ihre Blicke über den Tisch wandern lassend, an dem allerdings noch gegen 20 Platz gehabt hätten.

»Jeder, der hierher gehört, befindet sich auch hier die Gäste unserer Patronin, der Schiffsbesitzerin. Die anderen haben Dienst oder sie bedienen uns.«

»Gestattest Du, daß ich trotz unserer Vereinbarung, alles Bisherige soll vergessen sein, noch einmal davon spreche, wie Ihr uns damals auf der Maladekkaburg besuchtet?«

»Gewiß, wenn keine unangenehmen Erinnerungen dazwischenkommen.«

»Ich hatte von der »Argos« und von den berühmten Argonauten gehört, hatte Euch eingeladen, in der Hoffnung, daß Ihr uns eine Vorstellung geben würdet.«

Sie hatte noch etwas anderes gehofft, es von vornherein darauf abgesehen gehabt, auf uns selbst, die Ermordung all der Männer in der Burg war damals ja schon eine beschlossene Sache gewesen, aber es war ganz richtig, wenn sie der ganzen Sache jetzt eine andere Deutung gab.

»Ja, durch die Entführung unseres Schiffes durch die Jungen wurde Eure Vorstellung jäh unterbrochen, wir mußten schnellstens machen, daß wir unser Schiff wieder bekamen und gerieten dann auf eine Sandbank.«

»Wir hofften auch, uns dann mit Euch im friedlichen Wettkampfe zu messen.«

»Nun, das kann jetzt noch geschehen.«

»Willst Du?!« fuhr sie etwas hastig auf.

»Gewiß, die ganze Zwischenzeit existiert nicht, wir setzen unser erstes Zusammentreffen fort. Ob wir Eure Gäste sind, oder Ihr unsre seid, das bleibt sich ja gleichgültig.<<

»Auch Ihr habt einen Zirkus hier, wie ich gehört habe.«

»Ja, also auch Ihr dort drüben?«

»Weißt Du, daß ich eine gebotene Französin und früher Kunstreiterin und Seiltänzerin gewesen bin?«

Wir wußten es. Jener alte Holländer hatte es uns erzählt. Es war hübsch von ihr, daß sie das gleich selbst sagte. Oder sie war wohl auch stolz auf ihren früheren Beruf, in dem sie es bis zur Sultana eines indischen, unabhängigen Fürstentums gebracht hatte.

Die Patronin hatte schon immer kein Auge von ihrem Gegenüber verwendet. Das war ja so etwas für die! So eine ehemalige Kunstreiterin, die es so weit gebracht hatte und nebenbei zum Zeitvertreib Männer und Kinder dutzendweise mordete, aus Prinzip! So einer so nahe gegenüber zu sitzen, mit ihr aus einer Kanne Schokolade zu trinken. Immer mehr leuchteten ihre Augen auf, röteten sich ihre Wangen vor Begeisterung.

Diese Begeisterung, dieses Vergessen all der Abscheulichkeiten war verzeihlich. Man muß nur gerecht sein. Mancher Mensch ist göttlich verehrt worden, wir bewundern ihn noch heute als Helden, und im Grunde genommen war er nichts anderes als ein Bluthund erster Güte, ein Massenmörder. Dieses Weib hier war keine christliche Französin mehr, sondern schon längst eine mohammedanische Inderin geworden, eine ganz waschechte, damit mußte man rechnen. Der Montenegriner ist, ein strenger Katholik, seine Gastfreiheit, die er dem Fremden gewährt, ist grenzenlos, selbst sein Todfeind ist unter seinem Dache geschützt — aber eben so heilig ist ihm die Blutrache. Der malaische Dajak jagt Menschen, um ihnen die Köpfe abzuschneiden, mit demselben Sammeleifer, wie wir als Knaben Schmetterlinge und Käfer fingen, um sie aufzuspießen, wofür uns der Buddhist als Mörder betrachtet, weil der keinen Unterschied zwischen Menschen— und Tierseele macht. Tatwam asi, das bist Du!

Der christliche Quäker — und wenn ich in Sachen der Religion penibel wäre, würde ich unbedingt Quäker werden, diese Sekte meint es wenigstens noch ehrlich mit der Nachfolge Christi — der Quäker, der keine Waffe in die Hand nimmt, deshalb auch nur in England und Nordamerika möglich ist, verkehrt mit keinem Soldaten, weil dieser bereit ist, auf Kommandos auf andere Menschen zu schießen, also zum Mörder zu werden. Das sind Ansichten, über die kein anderer Mensch richten darf. Oder wir richten uns selbst.

Mir ging es nicht viel anders als der Patronin. Immer mehr vergaß ich, daß neben mir eine Massenmörderin saß, ich sah nur noch die mohammedanisch—indische Amazone, die Männer und Kinder aus Prinzip tötete, nicht aber um sich zu bereichern, wie es jeder Wucherer tut, der ganze Familien langsam erdrosselt und dann, wenn er nach seinem Tode sein Blutgeld, wenn er es nicht mehr braucht, der Stadt vermacht, ein Denkmal gesetzt bekommt.

»Ich habe gehört, daß Ihr Kulans und Tarpans gefangen und völlig gezähmt habt, sie im Freien wie im Zirkus als Reittiere benutzt.«

»So ist es.«

»Als wir uns noch frei in der Steppe und im Walde bewegen durften, gelang es uns trotz aller Bemühungen nicht einmal, solch einen Wildling zu fangen, oder wir mußten ihn verwunden, woran er aber regelmäßig einging, und der Kulan wie der Tarpan gilt ja auch als unzähmbar.«

»Unter uns ist ein amerikanischer Pferdebändiger dort Mister Juba Riata — der wurde mit den Tieren schon fertig.«

Die funkelnden Augen der Begum betrachteten lange den schönen Mann, der würdevoll sein Butterbrot in die Schokolade titschte.

»Es waren für uns Pferde aus Amerika hierher gebracht worden, zwei ganz verschiedene Rassen. Kleine Ponys, die sich sehr leicht zähmen ließen, die aber die lange Seereise nicht vertrugen, unterwegs alle starben. Und dann mächtige Rosse. Diese aber konnten wir nicht reiten, sie waren gar zu unbändig. Nur das eine, mit einem eingebrannten Zeichen, schwarz und weiß gefleckt, war ganz geduldig, dieses Pferd ist uns aber abhanden gekommen.«

»Die Entführer sind wir gewesen. Ihr reitet also so gern?«

Die Begum himmelte verzückt zur schwarzen Decke empor, die meisten der Amazonen mit ihr.

»Ach so sehr, so sehr gern! Besonders weil wir noch nie zum Reiten Gelegenheit hatten.«

Ich mußte lebhaft an Paul de Kocks Helden denken, einen Franzosen, der so sehr für deutsches Sauerkraut schwärmt — weil er's noch nie gegessen hat.

»Ihr werdet dieses Pferd zurückerhalten und noch andere dazu, wohleingerittene.«

»Willst Du?!« erklang es freudig. Und dann nach einer nachdenklichen Pause.

»Auch wir haben ja nordamerikanische Indianer, welche jedes Pferd bändigen können, aber sie sind alle zu.. <

Sie brach ab. » . . . dick geworden!« hatte sie offenbar sagen wollen. Weshalb diese Indianer so dick gemacht worden waren, dieses Geheimnis mußte ich noch ergründen, hielt es nur jetzt für noch nicht passend.

»Du willst uns einige eingerittene Pferde geben?«

»Wie ich sagte, und wir können Euch so viele liefern, als die Steppe hergibt.«

»Wir dürfen nichts geschenkt annehmen, es ist bei uns Amazonen ein Gesetz.«

»Diese Riesengäule haben Euch ja so wie so gehört . . . «

»Nein, sie gehörten ursprünglich Euch, ich weiß es wohl, und überhaupt entscheidet nach unseren Ansichten der letzte Besitz. Habt Ihr solche Schiffe, wie wir mit einem gekommen sind?«

»Kein einziges Fahrzeug ist hier gefunden worden.«

»Wir haben drüben eine Menge solcher Schiffe, noch viel kleinere und auch viel, viel größere. Dort drüben ist der Hafen des Sees gewesen. Willst Du uns für solch ein Schiff eine Anzahl Pferde geben? Denn, wie gesagt, wir dürfen aus Prinzip, es ist uns ein heiliges Gesetz, nichts geschenkt annehmen, und für den rechtmäßigen Besitz entscheidet immer der letzte.«

Das ist der Rechtsgrundsatz aller Räubervölker. Welchem aber im Grunde genommen auch wir zivilisierten Menschen huldigen. Besonders wenn sich diese Menschen als geschlossene Nation präsentieren. Dann heißt es: wer den Hammel zuletzt gemaust hat, dem gehört er. Bis ihn wieder ein anderer stiehlt. Ist der Hammel aber schon aufgefressen, dann ist nichts mehr zu wollen. Nur daß bei Nationen statt der Hammel ganze Länder in Betracht kommen, mit allem, was drin ist,

»Wenn Du gestattest, besichtigen wir nach aufgehobener Tafel einmal die Galeere . . . «

Die Tafel wurde sofort aufgehoben. Der Tisch wurde noch weit schneller abgeräumt, als er gedeckt worden war. Das besorgte unser Schiffsarzt.

Herr Doktor Isidor Cohn mußte schon vorher tüchtig gebügelt haben, von dem halben Fläschchen Kognak allein, das er während dieser Viertelstunde verkonsumiert hatte, konnte er nicht so mörderlich bezecht sein, da war der anders geaicht.

Wie er jetzt die Tasse zum Munde führte, oder vielmehr zur Nase, noch hoch über die Nase hinaus, denn merkwürdiger Weise verwechselte er in diesem Zustande immer seine Organe, da durfte er keine Gabel bekommen, sonst stach er sich mit ihr beim Essen in die Augen — also wie er jetzt mit der Schokoladentasse seinen Mund oben an der Stirn suchte, sich immer weiter hintenüber bog, da verlor er die Balance, fiel rücklings von seiner teppichbelegten Eierkiste, wollte sich noch halten, packte das Tischtuch und hatte im Nu die ganze Tafel abgeräumt.

Ein Glück war es, daß wir schon den Boden dieses Festsaals mit solchen elastischen Bernsteinplatten belegt hatten, sonst wäre von unserem Staats—Porzellanservice nicht viel mehr übrig geblieben. So ging die Sache noch ziemlich glimpflich ab! Und ich war froh, daß ich auf der anderen Seite zwischen den Amazonen saß. Denn dort drüben die Exklusiven waren sämtlich in Schokolade gebadet.

Kreischend war alles aufgesprungen. Wenigstens alle Amazonen. Sie verrieten, daß sie trotz ihrer Schuppenpanzerung und Muskeln noch ganz echte Frauenzimmer waren, so kreischten sie. Die dort drüben hatten gar keine Zeit dazu, die besahen sich tiefsinnig die braune Sauce auf ihren Kleidern. Als sie dann aber, zumal wie jetzt Doktor Isidor in dem Schokoladenmeere am Boden nach seinem Klemmer zu krebsen anfing, immer in der Sauce herumpatschte, in ein schallendes Gelächter ausbrachen, stimmten auch die Amazonen mit ein.

Auch die Patronin lachte mit, aber nur aus Höflichkeit, es war ein sehr erzwungenes Lachen. Ganz ohne Schaden war es doch nicht abgegangen, und sie hatte eine Porzellanfigur aufgehoben, ein niedliches Rokokodämchen, vielleicht ohne ihren Willen von Siddy als Tafelschmuck einem ihrer Glasschränke entnommen, und dem Figürchen waren Kopf und ein Arm abgeschlagen.

Und außer mir bemerkte dieses erzwungene Lachen noch eine andere Person, was mir sehr an ihr gefiel — die Begum. Schnell verstummte ihr Lachen.

»O, die schöne Figur!«

»Ach, es ist nichts weiter, ganz billiges Porzellan, nur ein Andenken . . . «

»Grämen Sie sich nicht. Lassen Sie alle Scherben aufsammeln, aber auch das kleinste Splitterchen, wir nehmen es mit und schicken es Ihnen in kurzer Zeit wieder zu, alles vollkommen wieder ganz.«

»Zusammengekittet?«

»Nein, sondern alles wie neu, Sie entdecken auch nicht die kleinste Fuge daran. Und selbst wenn ein Splitterchen fehlen sollte, so wird dieses auf andere Weise ersetzt.«

»Wie, das könnten Sie?!«

»Nicht ich, aber ein Mann, der sich bei uns befindet. Sie kennen ihn auch. Der hat dabei eine besondere Erfindung. Wie er es macht, ist mir auch unbegreiflich. Ich habe es einmal erlebt oder doch das Resultat gesehen. Eine Vase war in tausend Splitter gegangen, und diese wurden wieder zusammengesetzt und . . . zusammengeschmolzen, muß man annehmen. Aber schon, wie er die Splitterchen zusammensetzt, daß sie wieder zusammenpassen, schon das verstehe ich nicht. Dabei muß noch etwas ganz anderes im Spiele sein als eine Geduldsarbeit. Jedenfalls versichere ich Ihnen, daß Sie alle diese zerbrochenen Porzellansachen wie neu wiederbekommen.«

Da hatte die Begum natürlich bei unserer Patronin einen großen Stein im Brette, zumal als dann dieses Versprechen voll und ganz eingelöst wurde.

So ist der Mensch! Weil sie der Porzellanfigur den Kopf wieder aufleimen konnte, darüber wurde aus Dankbarkeit ganz vergessen, wieviel lebendigen Menschen sie schon den Kopf abgehackt haben mochte. So wie es dem Bluthund Napoleon von gewisser Seite hoch, hoch angerechnet wird, daß er den Dünenstrand unten am Mittelmeere mit Kiefern bepflanzen ließ und so der Menschheit ein paar Äcker kulturfähiges Land schenkte.

»Wollen wir nun den Cherub besichtigen?« fragte mich die Begum.

»Wen besichtigen?«

»Den Cherub!«

»Wer ist denn das?«

»Unser Schiff.«

»Cherub heißt diese Galeere?«

»Wir haben sie so genannt.«

»Weshalb denn das?«

»Nun, weil doch vorn die Figur eines Cherubs, eines Engels angebracht ist.«

Was, dieses Scheusal sollte ein Engel sein?!

Und dennoch, jetzt verstand ich!

Ich war nicht umsonst bei Vater Abdallah als zukünftiger Mohammedaner in die Schule gegangen.

Mohammed will im Traume Cherubim gesehen haben und beschreibt sie im Koran. Halb Löwe, halb Adler, und halb Mensch, über und über mit Augen bedeckt. Übrigens werden die Cherubim ja auch in der Offenbarung Johannis so beschrieben, Mohammed hat zweifellos die seinen erst aus der Bibel gestohlen. Wir stellen uns Engel nur gewöhnlich anders vor.

Wir begaben uns an den Strand und an Bord der Galeere, wir Hauptpersonen der »Argos« von der eigentlichen Mannschaft aber nicht einmal die Offiziere, die eben ihre Instruktionen bekommen und auf etwas anderes zu passen hatten, was aber überflüssig gewesen wäre, als ich merkte, daß nur die Begum selbst die Führung übernahm, alle anderen Amazonen zurückblieben.

Also das Ruderschiff war ungefähr 50 Meter lang bei 6 Meter Breite, der Hauptsache nach gebaut aus Planken von jenem ungemein leichten und doch eisenharten Holze, dem indischen Teakholz vergleichbar, das aber nicht mehr in diesem Tale wuchs. Ich bemerke nachträglich, daß der große Vorrat von Schiffsbauholz, den wir auf der Werft vorgefunden hatten, von anderen Bäumen stammte. Kiefer und Fichte und Eiche, und das war sehr gut, denn dieses Eisenholz, aus dem zum Beispiel auch jene Balken zu dem Zirkusgerüst bestanden, konnten wir kaum bearbeiten, mühsam nur mit dem Drehstahl und sonstigen Werkzeugen, die nur für Bearbeitung des härtesten Metalls bestimmt waren, der Stahl mußte hellgelb angelassen werden, besser noch waren Werkzeuge mit Diamantschneide, und da nun hier diese Schiffsplanken so außerordentlich gut gefalzt waren, wie auch das Zirkusgerüst und überhaupt alle Holzarbeiten, die noch von den Urbewohnern herrührten, so mußte man annehmen, daß diese für die Bearbeitung dieses Holzes eine ganz besondere Methode gehabt hatten. Offenbar hatten sie es erst ganz weich bearbeitet, es erst hinterher härtend, sonst war es gar nicht begreiflich, wie sie diese zahllosen Löcher und Falze und Schnitzereien hatten herstellen können.

Die Ruder, also jedes sieben Meter lang, waren nur schwach vergoldet, oder bronziert, sonst bestanden sie ebenfalls aus jenem eisenharten Holz, das aber hier nun wieder äußerst elastisch war. Das ganze Schiff hingegen war außen nicht nur leicht bronziert, sondern mit zentimeterdicken Bronzeplatten belegt, gepanzert.

»Es gibt kein Geschütz, dessen Geschoß diese Bronzeplatten durchschlagen könnte!« sagte die Begum.

»Hast. Du denn das schon probiert?«

»Jawohl, wiederholt.«

»Habt Ihr denn Geschütze?«

»Nicht wir, aber . . . ich hoffe, es ist Dir nicht unangenehm, wenn ich von dem Manne spreche, der sich selbst mit Stolz den Kapitän Satan nennt?«

»Durchaus nicht, ich hoffe vielmehr, diesen Herrn selbst bald persönlich zu sprechen.«

»Kapitän Satan hat Geschütze und zwar solche von einer Schußweite und Durchschlagskraft, wovon die andere Welt noch nichts weiß. Aber auch diese Spitzkugeln, ob nun groß oder klein, vermögen auf keine Weise in diesen Bronzeplatten auch nur den leisesten Eindruck zu erzeugen, und wenn das ganze Schiff beim Auftreffen auch kentern will.«

Wir hatten ja schon selbst diese unheimliche, uns ganz unbegreifliche Widerstandskraft an den Bronzerüstungen konstatiert.

»Besitzt Kapitän Satan hier ein eigenes Schiff, ein modernes Schiff?« fragte ich zunächst.

»Jawohl, so ein Torpedoboot, wie sie alle Kriegsmarinen haben.«

»Ist es zugleich ein Unterseeboot?«

»Unterseeboot?« wiederholte die Begum verwundert.

»Ein Fahrzeug, mit dem er unter Wasser fahren kann.«

»Unter Wasser fahren kann?!« erklang es in noch erstaunterem Tone.

»Hast Du noch nichts von den modernen Unterseeboten gehört?«

Nein, das hatte sie nicht. Zu jener Zeit, da die Französin noch der europäischen Welt angehört, hatte es noch keine Unterseeboote gegeben, auf die einsame Maladekkaburg war keine Kunde von dieser Erfindung des Seewesens gedrungen.

»Wie hat denn Kapitän Satan Euch hierher gebracht? Hat er Dir darüber keine Erklärung gegeben?«

»Er behauptet, er sei mit uns samt seinem ganzen Schiffe von Indien bis hierher durch die Luft geflogen, ein einfaches Zauberwort habe genügt, um uns sofort hierher zu versetzen.«

»Und das glaubst Du wirklich?«

»Ich muß es wohl glauben. Dieser Kapitän Satan hat uns schon Beweise genug gegeben, daß er mit Geistern in Verbindung steht, wirklich zaubern kann.«

Es war begreiflich, daß sowohl die Inderin wie die ehemalige französische Kunstreiterin so etwas glauben konnte, und wer wußte denn, was dieser Mann, der sich ja auch mir gegenüber schon gerühmt, wunderbare Erfindungen zu besitzen, den Weibern schon alles vorgemacht hatte.

Ich ließ es hierbei vorläufig bewenden. Jedenfalls also wußte ich nun, daß, wenn Kapitän Satan hier ein Enterseeboot besaß, er den Weibern und überhaupt den anderen noch nichts davon offenbart hatte.

Wir besichtigten das Schiff weiter. Ich will es nicht näher beschreiben, ich müßte technisch werden; nur noch erwähnen will ich, daß sich die hölzernen Ruderbänke, auf jeder Seite 30, auf dem freien Deck befanden, die Steuerung geschah durch eine Hebelpinne, ein Mast war nicht vorhanden, auch keine Vorrichtung, um einen solchen einzusetzen.

Die vor dem hinteren, erhöhten Aufbau stehende Pauke, mit der also auch die Urbewohner dieses Tales wie schon die alten Helenen den Rudertakt angegeben hatten, war ein großer, eherner Kessel, mit phantastischen Figuren in erhabener Arbeit geschmückt, statt des Trommelfelles war es, soweit ich urteilen konnte, mit Bronzeblech bespannt, nur war es merkwürdig, daß dieses beim Schlagen mit dem hölzernen Klöppel genau denselben Ton gab wie ein starkes Kalbfell.

Wir begaben uns unter Deck, zwei steile Treppen führten hinab. Es waren in größere und kleinere Kammern geteilte Räume, nur zwei Meter hoch, daher der Boden über der Wasserlinie, kleine, runde Öffnungen, unseren Bollaugen entsprechend, die auch durch Metallplatten verschlossen werden konnten, nicht aber durch Glasscheiben, ließen Tageslicht ein, jeder Raum war von dem anderen durch eine hölzerne Schiebetür getrennt, immer mit schönen Schnitzarbeiten bedeckt und vergoldet. Sonst enthielten diese Räume gar nichts weiter.


96. KAPITEL.
DIE HERAUSFORDERUNG.

»Was befindet sich nun unter dem Zwischendeck? Auch nur ein leerer Kielraum?«

So fragte ich, als ich in den letzten, hintersten Raum trat, der daher nur eine einzige Tür hatte. Hinter mir war die Begum eingetreten, ja die einzige Führerin. Übrigens kroch jeder auf eigene Faust im Schiffe herum, gerade jetzt war niemand anders hinter uns gewesen.

Ich stutzte schon, als ich hörte, wie hinter mir die Tür zugeschoben wurde.

Mich rasch umdrehend, stand ich vor der Begum, und gleich wie sie die Arme über der vollen Brust verschränkte, verriet mir, daß jetzt etwas Besonderes kommen müsse, wenn ich dies nicht auch schon in ihren plötzlich so glühenden Augen gelesen hätte.

»Monsieur maitre des armes, ich möchte einmal mit Dir allein sprechen.«

Da war es mit meinem Stutzen sofort vorbei, eine eisige Ruhe überkam mich.

»Bitte sehr.«

»Wir brauchen Männer.«

Da kam es schon wieder!

»Nun, ich dächte, Ihr hättet dort drüben genug Männer.«

Die vollen Lippen verzogen sich verächtlich.

»Bah, kannst Du diese faulen Dickwänste etwa Männer nennen?!«

»Ja, was habt Ihr mit diesen Leuten denn nur eigentlich angefangen, daß sie, wie ich gehört habe, sämtlich so unförmlich dick geworden sind?«

»Kapitän Satan hat uns diesen bösen Streich gespielt.«

»Wie das?«

»Ich fragte ihn einmal, gleich im Anfange, als er uns von dem sinkenden Schiffe gerettet hatte und er sich erbot, mir in allen meinen Plänen behülflich zu sein, ob er ein Mittel wüßte, um diese Indianer und weißen Männer uns willfährig zu machen. Denn auf einen großen Widerstand konnten wir doch gefaßt sein, und Gewalt wollten wir nicht anwenden. »Wir müssen sie dick machen, dicke Menschen sind nicht obstinat!« meinte er. Ich sagte zu, er solle sein Mittel anwenden, ohne mir weiter dabei etwas zu denken. Als ich unsere Gefangenen wiedersah waren sie sämtlich solche unförmliche Mehlsäcke geworden. Kapitän Satan wollte ersticken vor Lachen.

»Wie hat er denn das nur gemacht?«

»Das weiß ich nicht. Er besitzt irgend ein Mittel, um jeden Menschen zu mästen oder auch sofort aufzublasen.«

»Hat er denn kein Gegenmittel dafür?«

»Er behauptet nein. Obgleich er sicher lügt. Aber dagegen kann ich nichts machen.«

»Diese Leute haben immer einen großen Appetit?«

»Unausgesetzt, sie sind ungeheuerliche Esser.«

»So laßt sie doch einmal längere Zeit fasten.«

»Hungern? Das dürfen wir sie nicht lassen.«

»Weshalb nicht?«

»Wir haben geschworen, ihnen und uns selbst, ihnen kein Haar zu krümmen.«

»Na‚ eine Hungerkur ist doch kein Frisieren!« mußte ich lachen.

»Nein, wir dürfen ihnen keine Speisen entziehen. Wir haben geschworen, alle ihre Wünsche zu erfüllen, wenn es irgendwie möglich ist, bis auf Zurückgabe ihrer Freiheit, und unser Gelübde müssen wir halten. Wenn sie also Speisen fordern, müssen wir sie ihnen auch verabreichen.«

»Na‚ da sollen sie es doch einmal freiwillig mit einer Hungerkur versuchen.«

»Bah, als ob solche Fettwänste solch einer Energie fähig wären! Sie nehmen es sich wohl vor, — aber länger als drei Stunden, von einer Mahlzeit zur anderen, halten sie es nicht aus, dann schreien sie schon wieder nach ihrer gewohnten Mahlzeit.«

Freilich, da hatte die Begum recht. Sonst brauchte es keine Kaltwasserheilanstalten und keine Trinkerasyle und auch nicht die meisten Bäder zu geben, wenn derartige »Patienten« die Energie besäßen, solch eine Kur selbst durchzuführen, was doch meist zu Hause geschehen kann. Sie müssen eben zwischen die Scheren von Ärzten und Krankenwärtern genommen werden.

»Ich spreche überhaupt nicht von diesen unseren Gefangenen, sondern von Dir und Deinen Leuten.«

»Was willst Du von uns?«

»Seid Ihr bereit, unsere Gatten zu werden?«

Ich hatte es erwartet, und da gab es nur eine Antwort.

»Das ist vollkommen ausgeschlossen.«

»Das hatte ich mir gleich gedacht, hätte diese Frage gar nicht erst stellen sollen. Aber es gibt noch ein anderes Mittel, um uns zu vereinen.«

»Was für ein Mittel?«

»Du weißt doch, daß die weibliche Leibgarde des Sultans von Maladekka kriegerisch ausgebildet wurde, ich tat es später noch viel mehr, erzog diese Amazonen zu Athletinnen. Wir hörten von Eurem Schiffe, von den Argonauten, wie sie in den athletischen Spielen in aller Welt die Siegespalmen errangen, bei Gelegenheit lud ich Euch zu uns ein. Meine Absicht war, daß meine Amazonen sich mit Euch im Wettstreit maßen. Es konnte nicht zur Ausführung kommen.«

»Nun, das können wir ja jetzt noch arrangieren, wenn es Dir Spaß macht.«

»Ja, das wollen wir auch. Und nun mache ich Dir folgenden Vorschlag: wir kämpfen zusammen, immer je ein Mann von Dir gegen eine meiner Amazonen. Ihr sollt immer die Art des Zweikampfes bestimmen und auch unter uns die Gegnerin auswählen. Der Sieger führt den Besiegten als sein Eigentum nach Hause. Der Mann das Weib, das Weib den Mann. Bist Du hiermit einverstanden?«

»Ganz und gar nicht. Das ist ebenfalls ganz ausgeschlossen.«

»Weshalb? Kann ich Dir günstigere Bedingungen . . . «

»Gib Dir keine Mühe, sprich nicht weiter. Daß Du mir diesen Vorschlag machst, das zeigt mir, daß Du keine Christin mehr bist, daß Du ganz andere Ansichten über Moral und andere Dinge bekommen hast, für die in meinem Kopfe gar kein Platz ist. Ich gebe mir gar keine Mühe, Dich zu belehren, weshalb ich unmöglich auf solch einen Vorschlag eingehen kann. Und dasselbe gilt für alle meine Leute.«

»Gut, ich verstehe Dich dennoch. Aber bei meinem Vorschlage bleibe ich. Wir wollen uns im Zweikampfe messen, jeder Deiner Männer gegen irgend eine Amazone.«

»Im blutigen Zweikampfe?! Auf Tod und Leben?«

»Nein, nur im friedlichen Wettspiele, in athletischen Übungen.«

»Gewiß, das können wir tun.«

»Aber einen Einsatz muß jeder geben.«

»Bestimme ihn. Ob ich darauf eingehe, das ist ja etwas anderes.«

»Der Mann, der von einer Amazone besiegt wird, folgt ihr als ihr Gefangener nach Hause.«

»Ausgeschlossen, sage ich! Was wiederholst Du diesen Vorschlag, Begum!«

»Warte nur, jetzt kommt doch erst unser Einsatz. Vielleicht besinnst Du Dich dann eines anderen. Und besiegt der Mann die Amazone, so hat er die Freiheit eines unserer Gefangenen erwirkt, er kann ihn sich auswählen. Verzichtet er aber etwa daraus, dann . . . schicken wir den betreffenden Gefangenen zu Euch als Leiche hinüber.«

Ganz ruhig hatte es das Weib gesprochen.

Ich aber bekam doch plötzlich einen förmlichen Hexenschuß.

Denn um zu verstehen, was das für uns bedeutete um alle weiteren Konsequenzen sofort zu ziehen, dazu reichte mein Scharfsinn aus.

»Weib, was wagst Du mir da für einen Vorschlag zu machen!« brauste ich dann auf.

»Ich wage gar nichts. Wir sind Deine Gastfreunde, und die Gastfreundschaft ist doch natürlich auch Dir heilig.«

»Du befindest Dich hier auf dem See, an Bord Deines Schiffes.

»Mach keine Sachen! Ich habe es gar nicht für nötig gefunden, Dir dieses Schiff erst zu schenken oder auszutauschen. Wir liegen am Ufer Deines Gebietes, und wenn wir uns auch entfernten — wir befinden uns im Heiligtume der Gastfreundschaft.«

Sie hatte recht. Ich sank etwas zusammen, richtete mich wieder auf.

»Und wenn ich auf Deinen Vorschlag nicht eingehe?«

»So schicken wir Euch unsere Gefangenen als Leichen zu — einen nach dem anderen. Dann habt Ihr sie auf dem Gewissen.«

»Ungeheuer!« brauste ich noch einmal auf, dann nicht wieder. »Ich denke, Ihr dürft diesen Männern die Ihr ganz unrechtmäßiger Weise Eure Gefangenen nennt . . . «

»Was heiß hierbei Recht, was Unrecht? Es sind unsere Gefangenen.«

»Ich denke, Ihr habt ein Gelübde abgelegt, ihnen kein Haar zu krümmen!«

»Das ist etwas ganz anderes. Nein, martern und quälen dürfen wir sie nicht. Aber wir sind Herr über Tod und Leben unserer Gefangenen. Töten dürfen wir sie. Und wir werden es tun, wenn Ihr nicht auf unseren Vorschlag eingeht.«

Jetzt war mein Entschluß sofort gefaßt. Da gab es ja auch nur eines. Wir konnten doch nicht die mehr als hundert Menschen von diesen Hyänen in Weibergestalt abschlachten lassen.

»Gut, ich gehe daran ein. Obgleich ich da nicht in letzter Instanz zu entscheiden habe . . . «

»Wer sonst?«

»Unsere Patronin, und schließlich doch überhaupt jeder einzelne. Es muß abgestimmt werden, schließlich braucht überhaupt niemand mitzumachen. Ich kann Dir aber schon jetzt die Versicherung geben, daß keiner meiner Leute sich ausschließen wird. Wollen wir also die Bedingungen gleich klarlegen.«

»Ich habe sie schon klar genug dargelegt.«

»Tue es noch einmal.«

»Wir sind 208 Amazonen. Wir treten Euch gegenüber.«

»Hier oder drüben bei Euch?«

»Wie Du bestimmst.«

»Dann hier bei uns.«

»Gut. Dann wählt jeder Mann eine Amazone aus und bestimmt die Art des Zweikampfes, in dem er sich mit ihr messen will.«

»Was für ein Zweikampf?«

»Ganz wie er will. Nur muß er auf eigene Körperfähigkeiten beruhen.«

»Wie meinst Du das?«

»Zum Beispiel nicht reiten. Denn dabei bedient man sich doch eines anderen Wesens, es kommt überhaupt hauptsächlich auf das Pferd an. Das kannst Du von uns nicht verlangen.«

»Gut, alles Reiten soll ausgeschlossen sein. Alles andere können wir bestimmen?«

»Ja alles.«

»Fechten, Weitsprung, Hochsprung, Wettlaufen, Speerwerfen, Schießen?«

»Alles, alles.«

»Das Heben von Gewichten?«

»Alles, alles sage ich.«

»Turnen?«

»Ich kann nichts wiederholen als: alles, alles.«

»Weißt Du denn überhaupt, was turnen ist?«

»Als ob ich das nicht wüßte!«

»Was ein Reck und ein Barren ist?«

»Selbstverständlich weiß ich das.«

»Und Deine Amazonen wollen sich mit uns auch an Reck und Barren messen?«

»Ganz wie jeder einzelne bestimmt.«

»Haben sich denn Deine Amazonen auch an solchen Turngeräten ausgebildet?«

»Das wird sich ja erweisen. Ich finde Deine Fragen nicht gerade fair.«

»Du sollst in dieser Hinsicht nicht mehr über mich klagen. Und doch muß ich noch einige Fragen stellen. Ist auch ein Schachkampf erlaubt?«

Denn ich dachte dabei an unseren Doktor Isidor. Und der stand ja in nichts weiter als im Schachspiel seinen Mann.

»Ist denn Schachspiel eine körperliche Übung?«

»Also es ist nicht erlaubt.«

»Nein, nur athletische Leistungen des Körpers.«

Nun, da mußte sich Doktor Isidor eben ausschließen.

»Das möchte aber doch noch etwas näher definiert werden. Also auch Wettschießen, Kunstschießen.«

»Gewiß. Das gehört mit zum Sport. Sport sagt hierbei doch alles.«

Jetzt dachte ich an unseren Siddy.

»Gliederverrsenkungen, Jonglieren.«

»Auch das. Das kann alles im Zirkus produziert werden.«

Na‚ dann war ich meiner Sache sicher. Dann konnte ich nur diese Weiber nicht begreifen. Ich hatte doch mehr als 50 hier vor mir, konnte ihren Körperbau gerade recht gut beurteilen.

»Ringkampf?« fragte ich nur noch.

»Den erst recht.«

»Gut. Und jeder einzelne Mann kann also immer eine beliebige Amazone zum Wettkampf auswählen.«

»Ja.«

»Der Sieger scheidet aus wie die Besiegte.«

»Und die Siegerin wie der Besiegte!« wurde bedeutungsvoll bestätigt.

»Der Sieger hat einen Eurer Gefangenen befreit.«

»Ja.«

»Kann er ihn selbst auswählen?«

»Ja.«

»Bringt Ihr die Gefangenen gleich mit?«

»Das können wir, da Ihr ja doch nicht in unser Felsengebiet kommen wollt. Nur möchte ich da eine Bedingung aufstellen.«

»Stelle sie.«

»Es gibt unter ihnen genug, denen man nicht auf Ehrenwort glauben kann. Wenn sie nicht freiwillig mit uns zurückkehren wollen, so müßt Ihr uns dabei behilflich sein, uns mindestens nicht daran hindern, wenn wir selbst sie mit Gewalt zurückbringen.«

»Das verspreche ich, das ist dann nur recht und billig.«

»Also tut Ihr dann nichts zu ihrer Befreiung?«

»Das ist dann doch ausgeschlossen. So lange sie sich hier bei uns befinden, sind es Eure Gefangene, meine ich, die Ihr auch zurückfordern könnt.«

»Gut, ich verstehe.«

»Daß Du mich wegen ihrer Befreiung nicht etwa für immer bindest.«

»Ich verstehe, sagte ich. Nein, ich binde für nichts, nicht für die Zukunft.«

»Und wenn die Amazone siegt?«

»So nimmt sie den Besiegten mit sich als ihren Sklaven.«

»Was ist sein Los?«

»Ein sehr gutes.«

»Das ist ein weiter Begriff. Er wird auch so dick gefüttert?«

»Ganz im Gegenteil. Er soll seine volle Kraft und Gewandtheit und Beweglichkeit behalten, das kann ich Dir zuschwören, denn darüber haben wir schon unseren Entschluß gefaßt.«

»Ja, das kannst Du sagen, darüber aber hat ein anderer zu bestimmen. «

»Wer denn?!«

»Jener Kapitän Satan. Dem wird es wieder ein höllisches Vergnügen bereiten, den neuen Gefangenen sein Mittel heimlich in das Essen zu mischen, um Euch wieder solche Masttiere zu liefern.«

»Ich habe mit ihm bereits hierüber gesprochen, und er hat mir versprochen, dies nicht zu tun. Denn natürlich hegte ich dasselbe Mißtrauen wie Du in dieser Sache.«

»Und Du traust seinem Versprechen? Du sagtest doch selbst, daß diesem Satan absolut nicht zu glauben wäre.«

»Aber in diesem Falle hat er einen Schwur abgelegt, den er nicht brechen wird.«

»Was für einen Schwur?«

»Er hat beim Obi geschworen.«

Wieder einmal der Obi!

»Ist das sein Gott, an den er glaubt?«

»Du sagst es.«

»Hat er Dir das selbst erklärt?«

»Ja.«

»Was hat er Dir sonst noch von diesem Obi erzählt?«

»Nichts weiter.«

»Er opfert ihm Menschen?«

»Er opfert Menschen? Davon weiß ich nichts.«

Ich erkannte gleich in ihren Augen, daß sie die Wahrheit sprach.

»Wo bleiben die männlichen Kinder, die Ihr verschwinden laßt?«

»Sie werden getötet!« gestand dieses Weib mit größter Seelenruhe.

»Da bist Du selbst mit dabei?«

»Jawohl, und wenn es auch mein eigenes Kind ist.«

»Es findet keine religiöse Opferung durch dies Proslewiten statt?«

»Proslewiten? Was ist denn das? Ich verstehe Dich überhaupt nicht, weshalb Du von unserem Thema so abschweifst.«

Sie hatte recht. Diese Sache ging mich ja gar nichts an. Und das wegen der Mastkur mit meinen Leuten, das war nur so eine Frage der Neugier gewesen, denn natürlich würden die Amazonen keinen einzigen meiner Jungen besiegen. Bei wem da irgendwie ein Zweifel war, der durfte einfach nicht mitmachen. Dann mochte doch lieber ein anderer, mir fremder Mann in dieser Gefangenschaft bleiben. So weit geht die Uneigennützigkeit denn doch nicht.

»Also es kann sich doch auch jeder ausschließen, wenn er will.«

»Gewiß, gezwungen soll dazu niemand werden, mit uns zu kämpfen. Und wer sich ausschließt, der ist eben nicht fähig, mit uns zu kämpfen, den können wir später also auch nicht brauchen. Dagegen hoffe ich sehr, daß auch die 32 Knaben, die Du bei Dir hast, mit uns zum Wettkampf in die Schranken treten.«

»Was, auch auf diese 32 Bengels habt Ihr es abgesehen?!« rief ich in hellem Staunen

»Jawohl, sogar mit am allermeisten.«

»Ja wozu denn?! Es sind ja einige Jünglinge dazwischen, sie sind es unter meiner Erziehung geworden, aber die meisten sind doch noch die reinen Kinder, es gibt achtjährige!«

»Gerade diese Kinder sind uns sehr lieb.«

»Ja, was wollt Ihr denn mit denen anfangen?!«

»Sie zu ganzen Männern erziehen, sie zu Athleten und Kriegern ausbilden, aber auf unsere Weise.«

»Ja, mein Gott, dann macht das doch mit Euren eigenen Söhnen, anstatt sie dem Moloch zu opfern oder sonstwie ins Jenseits zu befördern!«

»Uns bindet ein Gelübde. Unsere eigenen Söhne müssen wir töten. Und wir müssen doch auch dereinst Gatten für unsere Töchter haben. Diese wollen wir entsprechend erziehen, um ein kraftvolles Geschlecht heranzuzüchten.«

Nun, dann allerdings hatte sie da gar kein so schlechtes Programm entworfen. Nur keine Innenzucht! Die verdirbt in Bälde auch die beste Rasse.

»Also wirst Du auch diese Knaben und Jünglinge in die Schwanken treten lassen?«

»Wie sollen sich denn diese Kinder, die sie meist noch sind, sich mit Euch messen können?«

»Nun, sie werden schon ihrer Kraft und Gewandtheit entsprechend etwas leisten, dazu wirst Du sie schon erzogen haben, daran zweifle ich nicht. Hauptsächlich ihrem Gewicht entsprechend werden sie sich mit uns messen können.«

»Wie meinst Du das?«

»Nun, Übungen und Sport, wobei das Alter keine Rolle spielt. Wie zum Beispiel im Wettlauf, oder irgend ein Ballspiel, oder im Klettern.«

Ja, da konnte ich die Zusage geben. Da hatten allerdings erst noch andere zu entscheiden, aber die würden schon die Erlaubnis nicht versagen. Es gab Sportarten, in denen auch die jüngsten dieser Knirpse einfach unbesiegbar waren, und dann handelte es sich um die Befreiung jener Gefangenen.

»Natürlich erhält auch jeder dieser Knaben, wenn er siegt, einen Eurer Sklaven ausgeliefert.«

»Selbstverständlich. Verliert der Knabe, der irgend ein Kampfspiel bestimmen kann und sich unter den Amazonen irgend eine auswählt, dann gehört er uns.«

»Könnt Ihr vielleicht auch eine oder die andere unserer Damen gebrauchen?« spottete ich.

»Gewiß, sie sollen mit uns kämpfen. Unter den gleichen Bedingungen wie die Männer.«

»Auch sie gewinnen je einen Gefangenen?«

»Selbstverständlich.«

»Und wenn eine verliert?«

»So hat sie sich selbst verloren. Sie muß mit zu uns herüber.«

»Als was?«

»Wir bilden sie weiter zur Amazone aus. Denn ist sie fähig, mit uns zu kämpfen, in irgend einer athletischen Übung oder sonst einem Sportspiele, so paßt sie eben zu uns.«

»Gut, ich werde es ausrichten. Wann soll der Wettkampf stattfinden?«

»Wie Du bestimmst.«

»Morgen schon?«

»Ganz wie Du bestimmst. Wenn Du keine weiteren Vorbereitungen bedarfst.«

»Wir nicht.«

»Wir auch nicht.«

»Wir sind jederzeit fit, wie der Kunstausdruck lautet. Stehen immer auf der Höhe des Trainings.«

»Dasselbe gilt von uns. Also morgen. Bestimme auch die Stunde, wann wir kommen sollen.«

»Halt! Natürlich muß ich die Sache erst mit den anderen besprechen, ob die auch damit einverstanden sind.«

»Tue es sofort.«

»Das will ich wohl, aber einige Stunden dürfte es doch bis zur definitiven Entscheidung dauern.«

»So lasse ich eine Amazone zurück. Makuba wird hier bleiben. Der übergibst Du dann die Antwort, mit Tag und Stunde, da wir kommen sollen. Ihr habt nur nötig, sie dann über den Fluß zu setzen, sie läuft zu Fuß zurück. Willst Du?«

»Sehr wohl.«

»Wir anderen fahren jetzt gleich zurück. Besten Dank für die gastfreundschaftliche Aufnahme, wir werden uns später zu revanchieren wissen. Wegen der gegen Pferde auszutauschenden Schiffe sprechen wir ebenfalls später.«

Eine leichte Kopfneigung, zum ersten Male löste sie die Verschränkung der Arme über der Brust, öffnete die Tür und verließ den Raum. Ich ihr nach.

Draußen kamen gerade andere, an der Spitze die Patronin, um auch diesen letzten Raum zu besichtigen. Lange hatte unsere Unterhaltung ja gar nicht gewährt.

»Wo haben Sie denn nur gesteckt, Waffenmeister?!«

»Hier gibt es keine Verstecke. Aber ich habe Ihnen und allen etwas sehr Interessantes mitzuteilen.«

»Was?«

»Sie werden es gleich erfahren.«

Als wir wieder an Deck waren, ertönten Paukenschläge, die Begum bearbeitete das Blech mit dem Klöppel in besonderem Takte, und da kamen auch schon die silbernen und goldenen Weiber im Laufschritt aus der Höhle hervorgestürmt, auf das Schiff zu.

»Vorwärts, meine Herren und Damen und Kollegen, verlassen wir das Schiff!« sagte ich. »Einen Überfall gibt es nicht etwa, aber wir sind jetzt hier überflüssig, die Amazonen rudern zurück, und ich selbst brenne danach, Ihnen mitzuteilen, was mir soeben von der Begum für ein Vorschlag gemacht worden ist.«

»Wir befanden uns an Land, und während die goldene Galeere, im letzten Abendsonnenschein gleißend, noch nicht um die Felsenecke gebogen war, hatte ich schon alle um mich versammelt und begann meinen Vortrag.

Ach, dieses Hallo meiner Jungen, als ich geendet hatte, und die Patronin glühte förmlich!

Denn hierbei handelte es sich doch um etwas ganz anderes als um ein gewöhnliches Sportwettspiel. Hierbei handelte es sich schon mehr um Tod und Leben. Mindestens konnten wir hier durch unsere Kunstfertigkeit Menschen aus Gefangenschaft befreien, einfach aus Sklaverei erretten.

Daß jeder von uns in dem Wettkampf, den er bestimmte, Sieger bleiben würde, daran zweifelte ja niemand.

Niemand?

Doch, es erhoben sich Stimmen des Bedenkens. Die der Patronin freilich war nicht dabei. Aber zum Beispiel Kapitän Martin, auch der erste Ingenieur, auch noch andere bedächtige Menschen wollten diese Sache erst reiflich erwogen haben.

»Die müssen doch in den verschiedenen athletischen Übungen etwas ganz Bedeutendes leisten, daß sie solch eine Herausforderung an uns ergehen lassen.«

»Ach, die haben ja gar keine Ahnung, was wir können!« lachten die anderen, wenn sich solch eine Stimme erhob.

»Diese Amazonen haben vielleicht ein ganz besonderes Training erfunden, auch so eine Erfindung dieses Teufelskapitäns!«

»Ach was, was soll denn da erfunden werden, die können sich doch nicht mit uns messen!«

»See taun uns vielleicht hyp-hyp—hypnotisieren!« ließ sich auch der Matrose Fritz vernehmen, mit zu diesen Zweiflern gehörend.

Das »hypnotisieren« hatte er aber noch nicht ausgesprochen.

»Hip hip hip hurra für Fritzen!« jubelten da schon die anderen.«

Und so ging das noch einige Zeit weiter mit dem Für und Wider.

»Na‚ nun kurz und bündig,« sagte ich endlich, »entweder oder, wollen wir oder wollen wir nicht.«

»Na selbstverständlich wollen wir!« jubelte die Patronin. »Überhaupt, wir müssen doch — wir müssen doch alles daransetzen, um jene Unglücklichen aus der Sklaverei zu befreien.«

»Herr Kapitän Martin? Sie haben auch ein großes Wort mitzusprechen. Wir stehen alle im Heuerkontrakt. Denn wer verliert, geht hinüber.«

»Meinetwegen!« brummte der Kapitän, die Hände in den Hosentaschen und mächtig mit den Beinen schlenkernd.

»Ist das Ihre bestimmte Zusage, daß Sie mit allem einverstanden sind?«

»Well.«

»Nehmen Sie auch einen Zweikampf auf sich?«

»Nu, weiter fehlte nischt, ich bin doch nicht der Kapitän von Brants Narrenschiff!« brummte Martin noch verdrießlicher, wandte sich und schlenkerte davon.

»Also wann, Frau Patronin?«

»Gleich morgen früh, schlage ich vor.«

»Zu welcher Stunde?«

»Das überlasse ich Ihnen.«

»Wo ist denn nun die Amazone, die zurückbleiben sollte?«

Sie stand am Ufer, hatte sich weit genug entfernt gehalten, um nichts von unserer Unterredung hören zu können, so laut dabei auch geschrien worden war.

Als ich winkend auf sie zuging, kam sie mir halb entgegen.

Es war ein berückend schönes Weib, das mir schon während der Tafel aufgefallen war, aber eine ganz eigentümliche Schönheit, mehr ein dämonisch schönes Gesicht, ein wilder, finsterer Trotz lag darin, und dem entsprach auch die kraftvolle Gestalt vom harmonischen Ebenmaß.

Finster glühten mich die schwarzen Augen an.

»Speak Englisch?«

Nur ein Kopfschütteln.

»Parlez—vous francais?«

Nur ein kurzes Kopfnicken, während ich immer grimmig angefunkelt wurde.

So und so. Morgen früh um acht kann die ganze Gesellschaft kommen, wir erwarten sie.

Ich hatte geendet, und sie blitzte mich noch immer an.

»Wenn Sie noch etwas zu sagen haben — ich nicht mehr.«

Da drehte sie sich wie ein Kreisel um, ging davon, dem Flußufer zu — also im Gehschritt, aber dennoch flüchtend wie eine Gazelle — und dennoch stolz wie ein Löwe schreitend.

»Halt, halt, Madame Makuba!« rief ich ihr nach.

Sie blieb stehen und wendete sich um.

Nur ein trillernder Bootspfiff von mir, und im Nu war die kleine Jolle bemannt, kam im Sechsertakt angeschossen.

»Wir wollen Sie zwar nicht direkt bis nach Ihrer Wohnung bringen — verzeihen Sie das uns — aber Sie müssen doch wenigstens über den Strom gesetzt werden.«

Die Antwort war wieder ein furchtbarer Blitz aus den finsteren Augen, über denen die kühn geschwungenen Brauen fast zusammenstießen, umgedreht, den Weg mit flüchtigem Fuße fortgesetzt, sich ins Wasser gestürzt, hinübergeschwommen.

Da war nichts mehr zu machen.

Es sah prächtig aus, wie sie schwamm, wie die goldschimmernde Gestalt mit kraftvollen Armen das Wasser teilte, wie die langen, schwarzen Haare nachzogen.

Sie schwamm sehr, sehr gut. Das heißt, mit den Augen eines Menschen betrachtet, der nicht selbst ein geborener Fischotter oder durch lange Übung dazu geworden ist. Und wir alle hatten uns bei jeder Gelegenheit im Schwimmen mächtig trainiert! Und die Jolle wurde von Oskar gesteuert, unserem besten Schwimmer, schon mehr Fisch als Otter.

Der sah das Schwimmen dieses Weibes ja nun mit anderen Augen an, und er tat eine Äußerung, im entsprechenden Tone.

»Das nennt die schwimmen? Bah! Die darf ich morgen nicht zum Wettschwimmen herausfordern. Jetzt nicht mehr, da ich gesehen habe, wie jämmerlich sie paddelt. Das ginge gegen meine Ehre.«

Wolle sich der geneigte Leser diese Äußerung unseres Segelmachers, unseres Meisterschaftsschwimmers merken.

Wir begaben uns zurück, wo der Trubel weiter ging. Auch Doktor Isidor beteiligte sich daran, der aus seinem ersten Stadium der Bezechtheit ins zweite geraten war, das schon mehr dem Delirium ähnelte.

»Ich nehme gleich zwei auf mich — drei — vier — ein halbes Dutzend — zwei Dutzend . . . «

»Mit was wollen denn Sie herausfordern, Herr Doktor?« wurde er gefoppt. »Wer es von den Amazonen Ihnen nachmacht, drei Flaschen Kognak hintereinander ut to supen?«

»Was sie wollen, was sie wollen!« fuchtelte das Krummbein mit der noch krümmeren Nase herum. »Mir ganz egal — mir ganz egal — ich nehme es mit allen aus — ich befreie sie alle aus der Bab — babyl — bababababab . . . «

Ich machte dem Trubel bald ein Ende. Wenn jemals dem Waffenmeister der Argonauten unbedingt gehorcht werden mußte, dann war es jetzt. Das Abendessen eingenommen —— ohne besondere Diät, das nützte jetzt nichts mehr, das muß wochenlang zuvor getan werden, und wir taten es überhaupt immer, nur daß es heute nichts Alkoholisches gab — und dann das Lager aufgesucht.

Bald herrschte Stille. Auch an diesem Tage, da wir immer auf eine Botschaft der Amazonen oder Merlins gewartet, hatten wir doch ein so tatenreiches Leben geführt, wenn auch nur in Sportübungen bestehend, daß auch dem Phantasiereichsten bald die Augen zufielen.

Nur Doktor Isidor phantasierte noch einige Zeit von der babylonischen Gefangenschaft, aus der er alle, alle erretten wollte, dann verstummte auch er. Daß uns der noch einmal im Delirium tremens abging, das war ja ganz sicher.


97. KAPITEL.
DIE WETTKÄMPEE.

»Sie kommen, sie kommen!«

Es war bald acht, als dieser Ruf erklang.

Kein Lüftchen regte sich in dem im herrlichsten Frühlingsschmucke prangenden Tale, die Morgensonne stand an einem azurblauen Himmel, sie ließ die drei goldenen Galeeren erglänzen, welche hintereinander hinter jener Felsenecke hervorgerudert kamen.

Schon seit Sonnenaufgang, seit drei Stunden waren wir auf den Beinen. Aber kein lautes Durcheinander mehr, ruhig hatten wir gefrühstückt, dann ernst beraten und unsere Vorbereitungen getroffen.

Ja, der Matrose Fritz hatte gar nicht so Unrecht gehabt. Es konnte doch sein, daß diese unter des Kapitän Satans Herrschaft stehenden Weiber irgendwelche Teufelskünste anwenden wollten, um unsere Kraft zu lähmen.

Aber wir wußten, wie wir uns gegen jeden Zauber schützen konnten. Nicht in dem Felsenzirkus in dem künstlichen Lichte sollten die Wettkämpfe stattfinden, wie ursprünglich geplant, weil es überhaupt so nahe gelegen hatte, sondern hier draußen im Freien unter Gottes strahlender Sonne! Da sollten einmal Hexenkünste versucht werden, ob die noch wirkten!

Dort, wo linkerhand von unserem Quartier neben den Dampfkammern die Felsenwände in weitem Bogen zurückgingen, stand uns ein großer, ebener, baumfreier Platz zur Verfügung, das Gras war schnell mit Sense und Maschine niedergemäht worden; für andere Spiele, die noch weicheren Boden verlangten, war dort am See der Strand mit feinem Sand; wer für seinen Fuß den härtesten Boden begehrte, für den zog sich dort einige hundert Meter felsiger Grund hin, wie zementiert.

Dort war es auch, an diesem wie gemauerten Kai, wo die drei Galeeren beilegten. Als erste stieg wieder die Begum an Land, ihr nach von allen drei Fahrzeugen, die Amazonen in hellen Scharen.

Nein, in dunklen Scharen. Heute trugen sie nun gerade nicht ihre ritterliche Schuppenpanzerung, sondern jetzt, da es zum Turnier ging, kamen sie in dunklen indischen Frauengewändern. Und auch darunter trugen sie nicht, wie sich dann zeigte, die goldenen oder silbernen Schuppentrikots, sondern solche von schwarzem Baumwollenstoff.

Keine Begrüßung. Vorläufig nicht. Zunächst waren die Weiber auch noch bei der Arbeit. Sie luden ihre Galeeren aus. Menschenfracht. Mehr lebendiges Fett als Fleisch. 125 zählten wir. 97 Indianer und 27 andere, die zur Besatzung jenes Dampfers gehört hatten, meist Engländer, aber auch zwei Neger darunter.

Himmel, waren da Fettkugeln dazwischen! Ich hatte mich durch Sandow, den 125., in meiner Phantasie täuschen lassen, der war gegen andere noch geradezu schlank zu nennen!

Nein, wer so ungeheuerlich dick ist, solche Fettmassen mit sich tragen muß, der denkt nicht mehr an Flucht und Widerstand. Der ist froh, wenn er sitzt, wo er sitzt, ohne über Rachegedanken nachzubrüten.

Das menschliche Mastvieh wurde ausgeladen, in Weiberröcke gewickelt, die Amazonen trieben es vor sich her, dorthin, wo wir sie erwarteten, rollten es vor sich her. Denn auch mit dem stolzen Gange der Kommantschen, wodurch diese berühmt sind, war es vorbei. Auch der schlankste unter ihnen konnte nicht mehr gehen, nur noch watscheln; die andern rollten. Fast alle nutschten aus Bonbonnieren Konfekt, einen sah ich von einem großen Stück Kuchen abbeißen, andere mochten dasselbe tun. Kauen taten wohl alle.

»Soll der Wettkampf hier stattfinden? fragte mich die Begum.

»Ja, hier.«

Alles ordnete sich im weiten Kreise, die Männer bekamen Decken, auf denen sie niederhocken konnten.

Alles andere ging äußerst schnell, obgleich vorher gar nichts weiter ausgemacht worden war, das erledigte sich erst jetzt, so daß es nicht eben reglementmäßig vor sich ging.

»Habt Ihr Eure eigenen Waffen und Turnapparate und sonstigen Sachen mitgebracht?« war meine erste Frage.

»Nein, wir benutzen die Euren. Ihr habt immer ganz zu bestimmen.«

»Auch sonst bleibt alles dabei, wie gestern bestimmt worden war?«

»Selbstverständlich.«

»Also dann mal gleich los. Ich übernehme den ersten Gang. Fechten! Mit leichtem oder schwerem Säbel, mit Florett oder Degen, ganz wie gewünscht wird.«

»Wie wir wünschen? Nein, das hast Du zu bestimmen. Natürlich nur für eine einzige Waffe.«

»Mir ist es aber ganz gleich, und wenn eine von Euch ganz besonders auf . . . «

»Verstehst Du denn nur nicht?!« wurde die Begum etwas ungnädig. »Nur Ihr allein habt immer alles bis ins Kleinste zu bestimmen.«

Natürlich hatte ich voll und ganz verstanden, mir bescheidenem Kerle war nur so etwas unangenehm.

Na‚ das half nun alles nichts.

»Also dann . . . leichter Säbel. Leichtestes Kaliber. Wer von Deinen Amazonen weiß am besten diese Waffe zu handhaben?«

»Beim Barte des Propheten,« wurde die Begum noch ungeduldiger, »willst Du uns denn nur verspotten?! Du selbst hast Dir Deine Gegnerin auszusuchen, Du sollst auch erst mit Deinen Augen urteilen . . . «

Und als ob ein geheimes Kommando gegeben worden wäre, was wohl auch geschehen war, so ließen plötzlich alle 208 Weiber ihre langen, verhüllenden Gewänder fallen, standen in noch dunkleren, in schwarzen Trikots da, als Schmuck auch nicht mit einem Badehöschen angetan. Anderseits war ja das Ganze ein Badekostüm.

So standen sie in weitem Halbkreise da, in einer einzigen Reihe, wie sie sich schon vorher aufgebaut hatten.

Na‚ nun durfte ich nicht mehr den Großmütigen spielen, so schwer mirs auch wurde. Nun wählte ich aber auch nicht mehr lange unter diesen herrlichen Gestalten, von denen eine immer kraftvoller als die andere war. Wenn die meisten von ihnen schon Mutter gewesen, so war davon doch nichts zu merken, niemand hätte das den Formen nach konstatieren können. Ebensowenig wie bei den Artistinnen, die man im Zirkus als Kunstreiterinnen oder als Akrobatinnen im Trikot auftreten sieht. Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob sich ein Weib von Jugend auf in körperlichen Übungen aller Art betätigt oder ob es den größten Teil des Lebens sitzend oder in mechanischer Arbeit ein und derselben Art verbringt. Die erstere Lebensweise ist die natürliche, die andere straft die Natur, zuerst bei der Mutterschaft. Denn wie jedes höheres Tier ist auch der Mensch dazu bestimmt, den größten Teil seines Lebens für seine Nachkommen zu sorgen, das gilt ganz besonders für die Mutter, und die Ernährung der Jungen geschieht durch Fangen von Beute, wozu eine hohe Ausbildung aller körperlichen Fähigkeiten nötig ist. Ist dieses Beschleichen und Fangen der Beute, wie es nur im Urzustande des Menschen nötig gewesen, nicht mehr nötig, so müssen die ausfallenden Körpertätigkeiten durch künstliche Leibesübungen ersetzt werden. Dann bleibt auch das menschliche Weib die Löwin, die sich noch in hohem Alter sehr wenig von einer jungen unterscheidet, mit noch eben so stolzem, elastischem Gange schreitet, und wenn sie auch schon Dutzende von Nachkommen hat. Oder man betrachte eine Milchkuh, die im Stalle steht, und eine, die niemals in den Stall kommt. Was das für ein Unterschied ist!

Die Engländerinnen und die Nordamerikanerinnen und besonders auch die Japanerinnen, die der besseren Klasse, haben das erfaßt. Deshalb sieht man dort sechzigjährige Damen, die schon zehn Kinder haben, aber trotz ihrer schneeweißen Haare sonst noch die reinen Mädchen sind, flink wie die Wiesel, elastisch wie die Sprungfedern, kraftvoll wie die Walküren und in ihrem ganzen Wesen und Äußeren einfach noch reizend. Nicht nur liebenswürdig sondern noch liebenswert! Alte Großmütter! Das macht allein der Sport! Der aber nicht nur den Körper, sondern auch das Herz, die Seele jung erhält, und das ist es eben! »Wähle! Du kannst auch ihre Muskeln befühlen.«

Ich tat es natürlich nicht, ging auch nicht die Reihe ab, nur um in die Augen zu blicken, aus denen ein geübter, ein geborener Fechter ja schon viel erkennen kann, was für einen Gegner er haben wird.

»Nun, der Waffenmeister der Argonauten kann wohl nur mit der Vorkämpferin der Amazonen fechten. Also Du, Begum.«

»Wie Du bestimmst.«

Auch sie hatte schon ihre weiten Gewänder fallen lassen.

Alles, was wir irgendwie brauchten, war schon vorhanden, der Kasten mit den leichten Übungssäbeln wurde gebracht.

»Wir schützen uns doch durch Paukzeug, durch ledernen Koller und Helm?«

»Wie Du bestimmst.«

Das Paukzeug war sofort da, wir wurden gewappnet.

»Nicht wahr, die Säbel werden eingerußt, daß sie auf dem hellen Leder schwarze Striche ziehen, der erste Strich entscheidet?«

»Wie Du bestimmst,« erklang es hinter dem Drahtgeflecht.

Die stumpfen Säbel wurden eingerußt.

»Wähle Deinen Säbel.«

»Gib Du mir einen.«

Es gab nichts weiter unter dem halben Dutzend Säbeln auszusuchen, weder an Klinge noch am Griff.

»Wer soll das Kommando übernehmen?«

»Wie Du bestimmst!« hieß es immer wieder.

Es war die längste Auseinandersetzung gewesen, sie wiederholte sich nicht wieder.

Wir hatten Mensur und Stellung genommen.

»Los!« rief ich, und wir legten los.

Sie verstand den Säbel zu führen, sehr gut. Aber bei mir konnte sie nichts wollen. Mehr will ich darüber nicht sagen. Ich spielte etwas mit ihr, freute mich an ihren anmutigen Bewegungen, dann bezeichnete ich mit einem schwarzen Strich die Stelle, wo ich ihr den rechten Arm von der Schulter getrennt hätte.

Hatte das Weib etwa geglaubt, eine Fechtmeisterin ersten Ranges zu sein? Ja, sie hatte ganz gut gefochten, aber von einer besonderen Meisterschaft war keine Rede gewesen.

Jedenfalls war sie furchtbar enttäuscht, versuchte ihren aufsteigenden Grimm zu bemeistern. Ihr brünettes Gesicht wurde plötzlich ganz dunkelrot, wie Kupfer, so schleuderte sie den Säbel von sich, daß er tief in den Rasen drang und mit zitterndem Griff stecken blieb.

»Besiegt!« sagte sie dann, wieder ganz ruhig. »Wähle Dir den Sklaven aus, den Du befreit hast.«

Ich schnallte ab, ging auf Sandow zu, dessen Standort ich schon vorher ausgekundschaftet hatte, oder vielmehr seinen Sitzplatz.

»Kommen Sie, Mister Sandow, ich bringe Sie in das goldene Land der Freiheit zurück.«

Langsam und pustend richtete sich die Fettkugel auf den Bratwurstbeinen empor.

»Na‚ wissen Sie, Geehrtester, einen großen Gefallen tun Sie mir eigentlich nicht!« sagte da dieser unverschämte Kerl, und zwar meinte er es sicher ganz ehrlich.

»Ob es bei Ihnen so schöne Puddings gibt wie dort drüben, das bezweifle ich!«

»Na‚ Männeken,« entgegnete ich, »dann bleiben Sie mal ruhig drüben, ich will Ihnen keine Gewalt mit der Befreiung antun. Aber Ihr Los kennen Sie doch. Sie selbst werden von den rabiaten Weibern in Pudding umgewandelt und mir zugeschickt, im Ganzen oder gleich in Portionen geschnitten.«

»Ja, das weiß ich, und unter solchen Aussichten ziehe ich doch lieber vor, Zeit meines Lebens bei Ihnen blau angelaufenes Salzfleisch und harte Erbsen zu kauen.«

Sprachs und wälzte sich nach dem ihm zugewiesenen Platz, wo unsere Leute standen.

Von dort löste sich jetzt Mister Tabak ab, bekleidet mit Pelzmütze und Pelzhose, sonst mit nichts weiter, wenn man nicht als Bekleidung die Fettschicht gelten lassen will, mit der er seinen gelben Oberkörper samt Hängebauch eingerieben hatte, in der Faust einen Speer — und natürlich die qualmende Fuhrmannspfeife im Maule. So schritt er über den freien Platz. Er wollte nach mir der erste sein, der sich mit einer Amazone maß, hatte vorhin schon Strecken mit Schritten abgemessen.

»Hier,« rief er, auf einen im grünen Grase mit weißem Sande markierten Punkt stehen bleibend, noch einmal seine noch unter dem Bauche an der Hose hängenden drei Orden und die goldene Uhrkette zurechtzupfend, »wer mir das nachmacht, diese Lanze hundert Schritte weit wirft, daß sie dort in dem Baume stecken bleibt, der darf mich heiraten, mich, den berühmten Kabat.«

Noch einmal kräftig gequalmt, ausgespuckt und die Lanze geschleudert.

Tief drang die Spitze in den bezeichneten Baumstamm.

Wie wir dann ausmaßen, betrug die Entfernung 68 Meter.

Der letzte Rekord im Speerwerfen ist in Stockholm von dem Finnländer Tormark aufgestellt worden, mit 64 Metern. Dieser Eskimo, der ehemalige Harpunier, hatte diesen Rekord noch mit 4 Metern übertroffen, ja noch viel mehr, weil der Speer ohne getroffenes Ziel ja noch eine gute Strecke weiter gegangen wäre, und beim Weitwurf entscheidet der Punkt, wo die Lanzenspitze den Boden berührt, minus der Lanzenlänge.

Auf Länge und Gewicht des Speers kommt es dabei gar nicht an, das kann sich jeder nach Gutdünken wählen. Eine Bleikugel läßt sich doch weiter werfen als eine hölzerne, oder gar als ein Papierball, während doch eine gewisse Gewichtsgrenze nicht überschritten werden darf, und diese Mitte muß eben aufs sorgfältigste ausprobiert werden.

Gemächlich schritt Mister Tabak nach dem Baume, riß die Lanze heraus, gemächlich ging er wieder zurück. Sonst aber machte er es viel kürzer als ich, ging gleich auf den Weiberkreis zu, direkt auf eine, die sich weniger durch Schönheit auszeichnete, das plumpe Gesicht war von Pockennarben entstellt, als durch ihre Größe und Korpulenz. Ein ungemein strammes Weib, mit Oberarmen wie die Schenkel eines starken Mannes, und danach war auch alles andere proportioniert.

Vor der blieb der Eskimo stehen und äugelte zu ihr empor.

»Wie heißt Du, mein liebes Kind?«

»Gelanial« entgegnete von oben aus den Lüften herab eine Baßstimme.

»Gelania? Ach neeee!« erklang es unten mit freudigem Staunen. »Na das ist ja famos! Eine Germania wollte ich ja gerade haben! Denn Du heißt fortan Germania, verstanden? Hier, Dicke, nimm den Speer, mach mir das mal nach.«

Das Riesenweib nahm den Speer, schritt nach der markierten Stelle, wog ihn in der Faust, holte mehrmals aus, nach dem Baume, bis sie ihn mit Riesenkraft entsandte.

Er hätte den Baum getroffen. Wenn er ihn erreicht hätte. Die Entfernung bis dorthin, wo die Spitze den Rasen berührte, betrug nur 46 Meter.

Jawohl, nur! Es war schon eine ganz ungeheuerliche Leistung gewesen! Man probiere es nur einmal, einen Speer, der 5 Pfund wiegt, 46 Meter weit zu schleudern! Wie es Menschen gibt, die irgend eine Lanze, ob nun aus Bambus oder schwerem Holze, 60 Meter und noch weiter oder auch nur 50 Meter weit schleuderte können, das begreife ich überhaupt nicht.

Niedergedrückt stand die braune Riesendame in schwarzem Trikot da. Ich begab mich hin. Der Eskimo zog gerade bedächtig einen Strick aus der Hosentasche, knüpfte eine Schlinge hinein, wozu, wußte ich nicht, beachtete es auch gar nicht.

»Nun, Mister Kabat, jetzt können Sie wählen. Ich schlage den Kapitän Arnold vor. Wenn auch Mensch Mensch ist, etwas Rücksicht müssen wir doch auf den Rang nehmen.«

»Wen?« fragte der Eskimo, mich verwundert aus seinen Schweinsaugen ansehend.

»Den englischen Kapitän, dort steht er.«

»Was soll ich denn mit dem?«

»Na‚ ihn befreien.«

»Befreien?«

»Na ja, das ist doch ausgemacht. Sie haben doch die Amazone besiegt, nun können Sie doch einen der Gefangenen auswählen, wodurch er frei wird.«

»Frei wird? Die sind doch schon frei genug. Und wenn sie noch freier werden wollen, dann mögen sie sich doch gefälligst selber befreien. Was soll ich denn mit so einem dicken Mastschwein dort? Das sind doch Männer. Ich kann doch keinen Mann heiraten. Hier dieses Weib will ich zur Frau haben, die habe ich mir ausgewählt. Komm, mein Püppchen, Du sollst's gut bei mir haben.«

Und das kleine Krummbein reckte sich auf den Zehenspitzen empor und legte der Riesendame die Schlinge seines Strickes um den Hals.

Na‚ ich war doch starr!

»Aber — aber — Mister Kabat — wir hatten doch ausgemacht, daß . . . «

»Was Sie ausgemacht hatten, geht mich gar nischt an. Ich habe den Speer geworfen, um endlich eine Frau zu bekommen, die mir gefällt. Das ist überhaupt Ihre Schuld.«

»Meine?!«

»Jawohl. Warum haben Sie mir keine andere Frau verschafft? Wir hatten doch an Bord einen ganzen Haufen davon. Auf die Größe und Figur wäre es mir ja gar nicht so angekommen, meinetwegen hätte ich auch eine verheiratete genommen. Aber nun suche ich mir hier auch eine nach Belieben aus, die größte und dickste. Denn Mama Bombe wäre sonst nicht so nach meinem Geschmack, die ist mir zu klein. Aber die hier, die Germania, die hat gerade die richtige Länge für mich. Ich kann keine Frau gebrauchen, bei ders ganz egal ist, ob sie kreuz oder quer oder vierkant in der Koje liegt, bei mir herrscht Ordnung.«

Juba Riata eilte herbei, wollte mir zu Hülfe kommen, wurde aber gleich in entgegengesetzter Weise empfangen.

»Sie, Peitschenmüller,« frohlockte ihm der Eskimo gleich entgegen, »sehen Sie, das ist so eine Germania, von der ich Ihnen erzählt habe, die mir so gefiel — wissen Sie, damals in Neuyork, wo die deutschen Sänger durch die Straßen zogen, mit Wagen, und auf dem einen stand ein Weibsbild, Germania hieß es, mächtig groß und dick, mit ganz weißer Haut und blonden Haaren — gucken Se mal, hier is se — und, hols der Henker, Germania heißt sie auch, nur das R und das M fehlen — Gelania . . . «

»Ja aber mein bester Kabat‚« fing es Peitschenmüller auf andere Weise zu versuchen an, »die ist doch tiefbraun und hat schwarze Haare . . . «

»Ach, das will ich schon fixen, die Haare färbe ich blond, ganz echt, und außen pinsele ich sie weiß an . . . «

»Aber die hat doch Pockennarben!« genierte sich Juba Riata nicht, auch auf diesen Schönheitsfehler aufmerksam zu machen.

Mister Tabak blickte in die Höhe, betrachtete das braune Gesicht, als bemerke er die Pockennarben jetzt erst.

»Ja, die hat mit'm Gesicht uff'n Rohrstuhl gesessen. Das ist mir egal. Das ist mir sogar gerade recht angenehm. Solche Karrees liebe ich. Da kann ich mich künstlerisch betätigen. Die lege ich mit farbiger Elfenbeinmosaik aus . . . also nun komm, mein Püppchen.«

Er zog an dem Strick.

»Halt!« wollte auch ich es noch einmal versuchen »Das kannst Du doch nicht erlauben, Begum! Wir hatten doch ausgemacht . . . «

»Es gilt!« entschied aber die näher gekommene Begum. »Wer von Deinen Männern eine Amazone besiegt, dem gehört sie als Sklavin, er kann sie nur, wenn er will, gegen einen unserer männlichen Sklaven austauschen. Gelania ist dieses Mannes Eigentum.«

»Ich habs ja gleich gesagt. Also komm, mein Püppchen, heute abend feiern wir Hochzeit, ich will Dich aber lieber inzwischen an die Kette legen, damit Du mir nicht etwa durch die Lappen geht.«

Und der Eskimo legte sich den Strick über die Schulter und zog das Riesenweib hinter sich her. Sie folgte ja allerdings ganz willig, aber es war doch immerhin ein Ziehen.

Alles brüllte vor Lachen. Es sah auch gar zu komisch aus, wie das kleine Krummbein das Riesenweib an dem Stricke hinterherzog! Das heißt, meine Jungen, die Matrosen und Heizer, brüllten vor Lachen. Ich meinesteils krümmte mich, um nicht mit einstimmen zu müssen.

Es war dies die erste und die letzte humoristische Szene, die bei diesen Wettkämpfen passierte. Uns sollte das Lachen bald vergehen.

Jetzt kam nach meinem Namensverzeichnis, das ich aufgestellt, Juba Riata daran.

Auf dem Rasen wurden zwölf leere Weinflaschen in einer Reihe aufgebaut, auf jede ein Kork gesetzt, Juba Riata nahm zwei Revolver, maß zehn große Schritte ab, drehte sich um, feuerte sechs Mal schnell hintereinander ohne merkliches Zielen, also in jeder Hand einen Revolver. Bei jedem Doppelschuß verschwanden zwei der Korke.

»Wer macht mir das nach, die beste Schützin melde sich!« war auch Juba Riata so entgegenkommend wie ich, wie auch schon dieses Revolverschießen nur eine höfliche Rücksicht war, denn mit dem Lasso oder gar mit seiner Peitsche hätte er noch ganz andere Kunststückchen ausführen können, worin er eben einzig war.

Er mußte selbst wählen, winkte einer beliebigen Amazone.

Noch eine kurze Erklärung, es käme nicht auf die Zeit an, ein längeres Zielen sei gestattet, nur müsse unbedingt mit beiden Händen zugleich geschossen werden, gleichzeitig, und die Amazone erhielt dieselben Revolver, mußte sie selbst laden, feuerte.

Sie hatte immer sorgfältig gezielt, einmal hüben einmal drüben, bald gar nicht, sie erfüllte die Bedingungen nicht, aber es war erstaunlich genug, was sie leistete! Mit den sechs Schüssen der rechten Hand hatte sie vier Stöpsel herabgeworfen, einen Flaschenhals ganz oben zersplittert, nur eine Kugel war fehlgegangen, und mit der linken Hand hatte sie doch wenigstens zwei Stöpsel getroffen, bei gleichzeitigem Abdrücken!

Soll das nur jemand nachmachen! Ja, ich habe es gesehen, gleichzeitiges Schießen mit beiden Händen; von Kunstschützen im Varietee, aber nicht mit Revolvern, nicht auf diese Weise, unter viel, viel leichteren Bedingungen!

»Entweder habe ich zufällig ein Revolvergenie ausgewählt, oder diese Weiber müssen sich im Schießen kolossal geübt haben!« flüsterte mir denn auch Peitschenmüller mit ganz rotem Kopfe zu. »Hätte ich das gewußt, daß die mir so nahe kam, dann hätte ich lieber etwas anderes vorgemacht, mit der Peitsche.«

Immerhin, die Amazone war besiegt. Jetzt wurde Kapitän Arnold ausgelöst, er wälzte seine mehr als drei Zentner zu uns herüber. Fast bedauerte ich es. Der hätte meinetwegen ruhig drüben bleiben können. Dieser englische Kapitän hatte mir ein gar zu unsympathisches Gesicht.

»Graf von Mohakare!« rief ich auf.

Der Hauptmann von Batavia kam. Er hatte sich schon gestern abend zur Teilnahme an den Wettkämpfen gemeldet, ohne daß wir wußten, in was er sich produzieren würde. Das wußte man allerdings eigentlich bei keinem, das konnte jeder noch im letzten Augenblick entscheiden. Aber gerade bei dem Grafen hatte auch niemand eine Ahnung, was der eigentlich Hervorragendes leisten könnte, worin er sich unbesieglich fühlte.

Jetzt freilich merkte ich sofort, was der vorführen wollte. Er hatte schon den ganzen Morgen in der Schiffswerft gesteckt, hatte da geschnitzt und geraspelt, und jetzt brachte er einen Bumerang mit.

Das ist eine Waffe, welche den Australnegern eigentümlich ist. Ein flaches, etwa 60 Zentimeter langes Holz, eine Schiene, die in der Mitte, aber nicht ganz genau in der Mitte, knieartig gebogen ist. Wird dieser Winkel flach oder in einem Winkel von 30 bis 45 Grad geschleudert, so steigt er rotierend in die Höhe, und wenn er sein Ziel, nach dem er geschleudert worden ist, verfehlt hat, so kehrt er in einem Bogen zurück, bis dorthin, von wo er abgeschleudert worden ist. Was freilich gelernt sein muß, nicht nur das Treffen.

Weiter läßt es sich hier nicht beschreiben. Das Ganze beruht auf dem Gesetz der Schraube. Es ist einfach genug. Wenn mans kennt! Wie gerade die armseligen Australneger, unter allen Menschen dem Tiere am nächsten stehend, darauf gekommen sind, sich dieses Gesetz der freifliegenden Schraube zunutze zu machen, darüber ist in Gelehrtenkreisen schon viel debattiert worden.

»Will mal sehen, ob ich es noch kann, was ich als Kind im Herbst auf den Wiesen von Beheim eifrig betrieben habe!« lächelte der Graf.

Daß er Bumerang werfen konnte, davon hatten wir noch nichts gemerkt, ich hatte einmal im zoologischen Garten zu Hamburg eine Truppe Australneger sich mit ihrer heimatlichen Waffe produzieren sehen — staunenswert — und nach alledem, besonders auch nach dieser letzten Äußerung, stieg mir eine gewisse Sorge auf. Es handelte sich ja in jedem einzelnen Falle darum, daß der Besiegte mit hinüber mußte zu den indischen Weibern, als ihr Sklave auf Gnade und Ungnade, für immer, daran konnten wir dann nichts mehr ändern!

»Seien Sie vorsichtig, Graf‚« warnte ich, »Halmahera ist gar nicht so weit entfernt von Australien und das sind nicht nur reine Inderinnen und Malaiinnen — da scheinen auch fremde Rassen darunter zu sein, Afrikanerinnen — weshalb nicht auch Australnegerinnen — und ich habe auch australische Weiber ihre Meisterschaft im Bumerangwerfen beweisen sehen . . . «

»Ohne Sorge,« unterbrach mich lächelnd der Graf, »ich bin mir meiner Sache sicher. Sonst würde ich es doch gar nichts riskieren. Ich habe schon als Junge eine neue Art von Bumerang ausgediftelt, oder doch eine Verbesserung daran, habe sie später im Mannesalter noch oft genug erprobt. Sehen Sie hier, diese unscheinbaren Rillen, die ich eingefräst habe, das ist, das Geheimnis dabei, dadurch bekommt der Holzwinkel noch einen ganz anderen Schraubenflug, aber das eigentliche Geheimnis besteht doch in einem Kniff beim Werfen, in einer besonderen Handbewegung, und wer diesen Kniff nicht kennt, kann mir die Sache auch nicht nachmachen, und wenn er sich Zeit seines Lebens übt. Ich habe diesen Bumerang vorhin schon einige Male geschleudert, er geht tadellos.«

Und er schleuderte den Bumerang kräftig in die Luft hinaus.

Und das Wunder geschah. Denn ein Wunder fast war es zu nennen.

Höher und höher schraubte sich der Holzwinkel, und immer noch höher, zwei große Bogen hatte er schon beschrieben, beim dritten Bogen war er mit bloßem Auge kaum noch am blauen Firmament sichtbar, dann senkte er sich wieder herab, wieder drei Bogen von wenigstens 300 Meter Durchmesser beschreibend, dann kam er zurückrotiert, direkt auf den Grafen zu, und der fing ihn auf, griff ihn am langen Ende aus der Luft heraus.

Im Ganzen war er vier Minuten und einige Sekunden in der Luft gewesen, der Graf selbst hatte die Zeit mit der Uhr kontrolliert.

»Wer mir das nachmacht, diesen Holzwinkel sechs Bogen in der Luft beschreiben läßt, drei hinauf und drei wieder herab, auf die Zeit soll es dabei nicht ankommen, und ihn zuletzt wieder auffängt, wobei man auch die Stellung verändern kann, dem gehöre ich als »Sklave!«

»Das tiefste Schweigen herrschte rings umher. Dann erst ein Gemurmel unter den Amazonen, es schwoll an, bis es dann losbrach.

»Inschallah, alschallah, das ist Zauberei!«

Wenn wir diese indischen Worte nicht verstanden, so verdolmetschte sie uns die Begum.

»Das ist Zauberei! Die darf bei diesen Wettkämpfen nicht angewendet werden!« rief sie heftig.

»Es ist keine Zauberei, es geht ganz natürlich dabei zu!« sagte der Graf.

»Es ist dennoch Zauberei! Wie soll es denn möglich sein, daß das Stück Holz, daß Du weit von Dir weg wirfst, wieder zu Dir zurückkehrt!«

»Das kann jeder. Versuche es doch selbst.«

Mit einigem Mißtrauen nahm die Begum den Bumerang, überwand ihre Furcht, schleuderte ihn, so wie sie es gesehen hatte: Richtig, der Holzwinkel schraubte sich in die Höhe, drehte um, kehrte zu der Begum zurück.

Freilich mit dem, was der Graf geleistet hatte, war es nicht im entferntesten zu vergleichen gewesen. Der Unterschied war etwa wie der zwischen der Schußleistung einer Windbüchse und einer Kruppschen Kanone gewesen. Auch fiel der Bumerang von der Begum zehn Meter entfernt wieder zu Boden. Immerhin, es war sonst ein normaler Bumerang, der den Gesetzen des Schraubenfluges gehorchte.

Auch wir hatten als Kinder auf den abgeernteten Feldern und Wiesen den Bumerang geworfen. Solch ein Ding kostete damals in den Spielwarenhandlungen fünf Groschen, oder wir verfertigten ihn uns selbst. Dieser Sport scheint ganz in Vergessenheit geraten zu sein. Man kann ihn nur empfehlen. Er ist sehr belustigend, lehrreich, man kann dabei studieren. Jedenfalls ist er doch auch viel interessanter als das langweilige Drachensteigenlassen, das wir von den langweiligen Chinesen bekommen haben.

Wir alle hatten nicht minder gestaunt, als die Amazonen. Auch diejenigen, die schon echte Australneger den Bumerang oder Woomera hatten schleudern sehen. Das war noch etwas ganz, ganz anderes gewesen. Und ich staunte im Moment hauptsächlich über diesen Grafen, der so etwas konnte und noch kein Sterbenswörtchen davon gesagt hatte. Das verriet aber eben schon den ganzen Mann und großen Mann. Der spricht nicht viel von dem, was er kann, gibt es erst zum Besten, wenn es einmal sein muß.

»Wir verzichten,« sagte die Begum nach ihrem mißlungenen Versuch, obgleich sie dabei doch erkannt hatte, daß es nicht gerade eine Zauberei war, »suche Dir einen Gefangenen aus.«

Der Graf wechselte mit Sandows einige Worte, der ihm einen dickwanstigen Indianer bezeichnete. Es war der Häuptling der Kommantschen.

»Der nächste,« sagte die Begum.

»Halt!« rief ich aber. »Wenn Ihr auch auf einen Kampf mit dieser Holzwaffe verzichtet, so muß doch eine Amazone als besiegt gelten, die muß ausscheiden.«

»Gewiß, Du hast recht, es könnte ja gerade diejenige sein, welche einen Deiner Männer im nächsten Kampfe besiegt!« wurde gespottet.

»Darauf kommt es gar nicht an, sondern es muß nur auf Ordnung gehalten werden.«

»Jener Mann soll sich eine Amazone auswählen.«

Das tat der Graf ohne langes Besinnen, sie trat zu den andern Besiegten.

»Major von Tonn!« las ich den nächsten Namen von meinem Verzeichnis ab.

Der kleine, dicke Stöpsel, der er noch immer war, kam angehinkt. In was der sich produzieren würde, das war bekannt genug, auch wenn er es nicht gesagt hatte. Der ehemalige Bataillonsfechtlehrer brachte denn auch gleich seinen Klingenkasten mit.

»Degen! Oder meinetwegen Florett. Das ist den Damen doch handlicher. Also Florett! Sie da, Madame, kommen Sie mal her. Sie können sich aber auch von einer anderen vertreten lassen, die die Sache besser versteht.«

Nein, die Gewinkte kam nun auch.

Beim Florettfechten brauchte nicht mit Leder gepanzert zu werden, nur das Gesicht wurde durch eine Drahtmaske geschützt, der Knopf des Floretts eingekreidet. Nur um keine Ausnahme zu machen, band auch Tönnchen die Maske vor; daß er die Jacke auszog und die Hemdsärmel hochkrempelte, war Gewohnheit von ihm.

Was dieser kurze, dicke Stöpsel für gewaltige Unterarme hatte! Alles starrte von Sehnen und Muskeln. Das hätte ihm so niemand angesehen.

»Wo wollen Sie den weißen Punkt hinhaben, Gnädige? Na egal, ich werds schon machen. Geben Sie acht auf Ihr jungfräuliches Herz, daß es nicht von Amors Pfeil durchbohrt wird, solch ein Stich ist manchmal tödlich. Los!«

Tönnchen machte es noch viel kürzer als ich. Eine spielende Finte und nur ein einziger Ausfall, dann hatte die Amazone auf der linken Seite der Brust schon ihren weißBen Fleck auf dem schwarzen Trikot. Bei spitzer Klinge wäre ihr Herz durchbohrt gewesen.

»Wer von Euch kann fechten?« fragte Tönnchen die englische Schiffsmannschaft.

Denn bei dem fing der Mensch erst mit der Fechterei an.

Keiner.

Aber boxen konnten sie alle.

»Bah, boxen! Kinderspielerei! Wer von Euch kann gut Kerbholzschnitzen?«

Sie mußten gleich Proben ihrer Kunstfertigkeit liefern, ich kümmerte mich nicht weiter darum. Es war ein norwegischer Matrose, den er dann angeschleppt brachte.

Von unseren anderen männlichen Gästen, wie Vater Abdallah und der Maler Gerlach hatte weiter keiner zugesagt, oder sie wollten sich die Geschichte erst noch ansehen. Dasselbe galt vom ersten Steuermann und vom ersten Maschinisten, von denen man bei ihrem Alter überhaupt keine athletischen Leistungen verlangen konnte, desgleichen vom zweiten Maschinisten. Denn wenn sich auch dieser immer mit an unseren Übungen beteiligt hatte, so mußte man doch damit rechnen, daß er einmal an eine Amazone kam, die ihm bedeutend überlegen war, ihn besiegte, und dann war er für uns einfach verloren. Daran wollten wir es doch nicht etwa ankommen lassen.

Nun aber konnte ich meine eigentlichen Athleten ins Feld führen, die Resultate meiner eigenen Trainingsmethode »Der zweite Steuermann!«

Ernst kam. Hätte man dem vor drei Jahren gesagt, was der heute für ein gewaltiger Hantelstemmer und Ringkämpfer sein würde. Er hätte einen ausgelacht. Nur durch eine winzige Kleinigkeit, indem ich seiner Hantel täglich 50 Gramm zugefügt hatte, war er es geworden. Aber was machte der Kerl denn für ein niedergeschlagenes Gesicht, was humpelte er so und rieb sich den Buckel?

»Du, Georg, ich kann nicht. Ich habe heute schon den ganzen Morgen furchtbare Kreuzschmerzen. Weiß nicht woher. Ich dachte immer, es verginge wieder, aber es tuts nicht. Ich könnte keine 50 Pfund heben.«

Na da nicht. Dagegen war nichts zu machen.

Also dann der erste Unteroffizier . . .

Halt!

»Da wollte ich anstandshalber doch noch die »Exklikusen« bevorzugen. Der Koch und den indischen Steward. Sie waren ja überhaupt Unteroffiziere, rangierten jedoch hinter den Bootsleuten, die eben schon Deckoffiziere waren, Feldwebel, und es waren nun einmal unsere Exklusiven, schon deshalb, weil sie bedeutend höhere Gehälter bekamen als sogar die Offiziere. Denen freilich hatte ich sie nicht vorziehen können. Nur bei Juba Riata und Mister Tabak war das etwas anderes gewesen, das waren die Gentleman an Bord unseres Schiffes.

Der Leser wird später merken, weshalb ich jetzt diese Erwägungen anstelle, wie der Zufall diese Reihenfolge gerade so arrangiert hatte.

»Meister Kännchen!«

Der chinesische Koch trat vor, auch jetzt angetan mit weißer Schürze und weißer Mütze, wovon er sich nicht trennte.

Er drückte zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand eine zöllige Flintenkugel aus Hartblei zu einer Platte zusammen. Aus Hartblei! Das machte ihm niemand nach, das wußten wir. Wenn unter den Amazonen auch eine chinesische Zahnkünstlerin gewesen wäre. Denn, wie schon erwähnt, solche Kraft in den betreffenden Fingern haben ja alle chinesischen Zahnärzte, aber unser Koch hier war kein gewöhnlicher Zahngaukler gewesen, der hatte der Kaiserin von China kranke Zähne herausgeruppt, hatte sich darin auch noch weiter ausgebildet.

»Gilt dies als Herausforderung zu einem Wettkampf?« mußte ich allerdings erst fragen. Staunend betrachteten die Begum und andere Amazonen die zusammengequetschte Bleiplatte, ritzten sie mit den Fingernägeln, Kännchen mußte dasselbe Experiment noch zweimal wiederholen.

»Wir verzichten — ja natürlich gilt es — suche Dir einen Gefangenen und eine Amazone aus!« erklärte dann die Begum.

Es war anerkennenswert, daß sie so etwas für eine volle Sportleistung nahm, manch anderes Frauenzimmer hätte sich da auf die Hinterbeine gesetzt.

Ein fettes Blaßgesicht vor, eine Amazone zurück.

>>SiddY!<<

Der Hofgaukler einer indischen Majestät steckte den Kopf zwischen die Beine, knüpfte in seinen schlangengleichen Körper noch extra einen Knoten, und so, in einer unbeschreiblichen Stellung, begann er mit einem Dutzend Kugeln zu jonglieren. Wunderbar! Wirklich ans Fabelhafte grenzend.

»Gilt das?«

»Sicher — alle körperlichen Übungen gelten — wir verzichten.«

Eine fette Rothaut vor, eine Amazone zurück.

So, nun waren aber die Exklusiven und die Spielereien erschöpft, nun kamen erst die richtigen Athleten.

Nein, noch immer nicht!

»Na‚ wenn so etwas gilt, dann kann ich auch etwas vormachen!«

Mit diesen Worten trat Klothilde vor und brachte ihre holländischen Holzschuhe mit.

Wollte sie so einen holländischen Tanz zum Besten gelben? Gewiß, den würde ihr wohl schwerlich solch eine indische Amazone nachmachen, dann hatte sie einen Sklaven befreit, ihm sogar das Leben gerettet, was ihr mindestens die schönste Erinnerung bleiben mußte. Aber

Nein, sie wollte nicht erst lange tanzen, sie machte es viel kürzer.

Mit ihren Segeltuchschuhen in die mächtigen Pannen hineingetreten, hochgesprungen, die Beine nach hinten geschlenkert, die Holzpantoffeln flogen ihr über den Kopf, die Beine wieder nach vorn geschlenkert, und ehe sie wieder den Boden berührte, hatte sie die Pantinen auch schon wieder an den Füßen, also vorn wieder aufgefangen.

»Na,‚ wer macht mir das nach. Es ist ja ganz einfach so — so — 50 . . . «

Sie machte es noch einige Male schnell hintereinander, die Pantinen hinter sich über den Kopf werfend und sie im selben Sprunge mit den Füßen wieder auffangend. Es sah unbeschreiblich aus — köstlich — wir lachten, daß uns die Tränen über die Backen liefen.

Denn wir hatten das noch gar nicht von ihr gesehen, wußten gar nicht, daß dieses Teufelsweib so etwas konnte!

»Genug — genug — wir verzichten!« lachte denn auch die Begum aus vollem Halse, ihre Würde nicht wahren könnend. Der Austausch erfolgte.

Es war doch noch einmal eine humoristische Szene gewesen, nur eine ganz andere als die, welche uns der Eskimo geliefert hatte.

Nun aber hörte es mit solchen »Kinkerlitzchen« auf. Jetzt waren auch die Exklusiven wirklich erschöpft. Zwar hatte sich noch Simson gemeldet, der riesenhafte Neger, aber ich hatte ihn nicht angenommen. Denn er hätte uns trotz seiner herkulischen Kraft doch einen bösen Streich spielen können. Der Kerl war gar zu dämlich. Er konnte einen Fünfzentnersack auf dem Rücken meilenweit tragen, aber wenn es einmal drauf ankam, dann fing der Kerl zu lachen an und konnte nicht mehr vor Lachen, oder es brauchte ihn nur ein Floh zu heißen, dann wars aus mit ihm, dann ließ er schnell die Hantel fallen, um sich zu kratzen und natürlich direkt auf seine Zehe.

»Der erste Bootsmann!«

Napoleon der Dritte marschierte auf seinen fürchterlichen Säbelbeinen vor, mit den ungeheuren Pfoten, die faktisch keine Hände mehr zu nennen waren, fast den Boden berührend.

»Tautrecken.«

Das hatten wir gewußt. Dieser finnische Orang—Ütan besaß die Kraft eines Gorillas. Oder eines Bären, eines Grislybären, will ich lieber sagen. Davon habe ich ja schon einmal gesprochen. Sein Name war Eleen Kunst, und . . .

»Ik heet Elleen Knast,
Un wat ick anfaß, halt ick fast.«

Das war sein Wahlspruch. Und es war auch tatsächlich so. Was dieser Kerl anpackte, das bekam man nicht wieder aus seinen Fäusten heraus, oder man hätte jeden Finger einzeln abschneiden müssen.

Er mochte schon immer ein gewaltiger Held im »Tautrecken« gewesen sein. Bei uns hatte er sich nun ganz auf diese Kunst gelegt, den Gegner am Strick über die Marke zu reißen. Dadurch war nun auch noch, wenn er sie nicht schon früher besessen, die Kraft in den Beinen gekommen. Wenn der sein rechtes Schenkelbein vorgestemmt hatte, dann schien dieses mit dem Boden verwachsen zu sein, im Zentrum der Erde zu wurzeln, nichts konnte den Fuß von seinem Standpunkte entfernen. Nur der Boden selbst konnte unter diesem Fuße weichen. Was ja nun freilich nicht ganz buchstäblich zu nehmen ist. Aber jedenfalls konnten ihn die drei stärksten Männer an Bord unsere Schiffes August der Starke, der lange Peter und als dritten muß ich mich nennen, keinen Zoll von der Stelle bringen. Als zweitstärkster war dann Häckel hinzugekommen, aber der vermochte daran nichts zu ändern. Und wenn dann Napoleon ansetzte, da zog er uns drei mit Hurra davon, und dagegen war nichts zu machen, und wenn wir auch beide Füße gegen eiserne Boller stemmten, er brach uns eher die Beine, ehe er noch einmal stehen blieb. Im Gewichtsheben dagegen überbot ihn schon der schlanke Hans, oder sogar schon Fritz der Mondgucker, unser Jüngster, jetzt allerdings schon Vollmatrose. Darauf hatte sich eben der Bootsmann nicht trainiert. Aber im Tauziehen einfach ein unbesiegbarer Heros, der es mit allen Göttern aufnahm.

»Eh jül«

Der Sachverständige erkennt den Danziger Dialekt, es heißt so viel wie »Du da«, und der kolbige Tatzenfinger hatte gewinkt.

Aus den Reihen der Amazonen löste sich eine ab. Es war ein normal gebautes Weib — normal für diese Amazonen — kraftvoll wie alle anderen, aber nicht eine von denen, die sich ganz besonders durch Größe und Muskulatur auszeichneten. Doch darauf kam es ja gar nicht an.

Die Marke wurde gezogen, das Tau war zur Stelle. Ich erklärte der Begum auf Französisch, worauf es ankam.

»Verstehst Du?«

Sie nickte.

»Willst Du es auch Deiner Amazone in ihrer Sprache erklären.«

»Sie versteht Französisch, es ist gut.«

Angetreten, Stellung genommen.

Ich wollte mich noch einmal einmischen, die Amazone darauf aufmerksam machen, daß ihr Gegner derbe Seestiefeln mit Hacken trug, während sie nicht einmal leichte Schuhe, die Amazonen gingen so gut wie barfuß, es waren geschlossene Trikots, gingen auch über die Zehen, also sie waren nur in Strümpfen, das war doch gar zu ungleich, aber ich unterließ es. So oder so, es war ja ganz gleichgültig. Und hätte sich das Weib in eine Eisenrüstung hüllen und sich an einen eisernen Turm anschmieden lassen, unser Napoleon hätte sie dennoch losgerissen!

Die beiden standen sich gegenüber, das Seil angepackt, die äußere Hand ungefähr je zwei Meter von dem Bodenstrich, auch eine dünne Leine, entfernt, der Bootsmann den rechten Fuß vorgestemmt, die Amazone den linken.

»Los!« kommandierte ich.

Bei dem Bootsmann wußte man niemals, ob er zog oder nicht zog, der stand eben wie ein krummer Baumstamm da. Bei der Amazone merkte ich nur ein klein wenig, wie plötzlich ihre Arm— und Beinmuskeln schwollen.

So standen sich die beiden gegenüber.

Und daran wollte sich innerhalb einer halben Minute, was bei so etwas eine gar lange Zeit ist, nichts ändern.

Und da wird mir plötzlich ganz unheimlich zumute.

Weshalb änderte sich hieran nichts?

Weshalb quollen Napoleons Karpfenaugen so hervor?

Weshalb fing er jetzt leise zu stöhnen an?

Und da plötzlich war es geschehen!

Ich kann es gar nicht beschreiben.

Mir war es mehr, als hätte ich nur eine Vision gehabt.

Plötzlich geht das Weib rückwärts nach hinten, die rechte Stiefelhacke des Bootsmannes zieht in den Rasenboden eine gewaltige Furche, reißt wahre Schollen auf, und da ist er auch schon jenseits der Grenzlinie!

Todesschweigen herrschte rings umher.

Ich selbst starrte nur immer die Ackerfurche an, konnte es nicht begreifen, glaubte zu träumen.

Bis dann eine Stimme erklang.

»Komm mit, Du gehörst uns.«

Die Begum hatte es gesagt. Sie war auf den Bootsmann zugegangen, der noch immer in seiner Stellung verharrte, das linke Bein geknickt, das rechte vorgestemmt, in den Händen das Tau, aber eben jenseits der Markierungslinie, und sie hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt.

Ohne jeden Triumph hatte sie es gesagt, ganz ruhig, nicht eben sehr laut, aber ihre volle Stimme hatte die Todesstille doch wie eine Posaune durchbrochen.

Und da brach der Tumult los.

Von allen Seiten kamen sie angestürmt, meine Jungen und die anderen Bordgäste. Nur die Amazonen nicht.

»Das ging nicht mit rechten Dingen zu!«

»Das ist ja gar nicht möglich, daß die unseren Bootsmann gezogen hat!«

»Der Boden ist unter ihm gewichen!«

»Nein, der ist einfach verhext worden!«

So und anders klang es durcheinander.

»Du glaubst, diese Amazone hätte ein unerlaubtes Mittel angewendet, etwa gar eine Zauberei?!« wandte sich die Begum jetzt an mich.

»Ach, das ist ja gar nicht möglich, daß die den gezogen hat!« rief jetzt auch ich. »Komm mal her, zieh mal mich!«

Und ich sprang hin, schob den Bootsmann zur Seite, der plötzlich schlapp wie ein Waschlappen geworden war, während auf der anderen Seite die Amazone noch in Kampfesstellung stand, ergriff das Tau.

»Los, versuche mich einmal . . . «

»Halt!« rief die Begum, dazwischen tretend. »Diese Amazone hat gekämpft und gesiegt, sie kommt nicht mehr in Betracht.«

»Na dann eine andere . . . «

»Dasselbe gilt von Dir, Du hast schon gekämpft und gesiegt, Du scheidest aus!«

»Nur einmal außer Konkurrenz . . . «

»Nein! Die Spielordnung, die wir ausgemacht haben, darf unter keinen Umständen verletzt werden!«

»Na da ziehe ich, komm Du mal her!«

Häckel war es, der das gerufen hatte. Die Amazone, die er gerufen, war ein eben solch normales Weib, wohl athletisch gebaut, mit strotzenden Muskeln, aber doch nicht etwa vergleichbar mit unserem Häckel.

Ich versichere noch einmal, daß dieser ehemalige Advokatenschreiber eine Muskulatur und überhaupt bei fast zwei Meter Größe einen Körperbau besaß, um den ihn der farnesische Herkules beneidet hätte. Und diese Statue des griechischen Heros, die farnesische genannt, weil sie früher im Besitze der Familie Farnese zu Rom war, ist die höchste menschliche Muskulatur, die wir kennen, von einem anatomisch gebildeten Künstler geschaffen. Ich glaube aber, dieser Künstler hätte lieber unseren Häckel als Vorbild für seinen Herkules genommen. Solch einen gewaltigen Menschen mit solch mächtigen Schultern habe ich überhaupt nie wieder gesehen. Nur durch ein beständiges Training von frühester Jugend auf hatte er es ermöglicht, daß er diesen schweren Körper auch als Turner am Reck und Barren in fabelhafter Weise schwingen konnte.

Die beiden hatten gegenüber Positur genommen.

»Los!«

Häckel war mit weißer Hose und Flanellhemd bekleidet. Bei dem sahen wir deutlich, wie machtvoll er anzog, wie furchtbar seine riesigen Muskeln anschwollen.

Er brachte die gegen ihm zwerghaft zu nennende Amazone nicht von der Stelle! Obgleich die sich weiter gar nicht anzustrengen schien.

Und da ging dieses Weib nach hinten ab, zog den Riesen unaufhaltsam mit sich, bis über die Grenze, und auch er hatte, obgleich nur mit Segeltuchschuhen bekleidet, in den Rasenboden eine tiefe Furche gezogen.

Wieder dasselbe wie vorhin, wenigstens im ersten Teile.

Im Todesschweigen stand alles da, wie niedergedonnert. Auch Häckel. Ich fühlte mich wie vor den Kopf geschlagen.

Da schritt die Begum auch auf ihn zu, legte auch ihm die Hand auf die Schulter.

»Komm, folge mir, Du bist unser Sklave.«

Das hob wieder die allgemeine Betäubung auf.

Aber zu solch lärmenden Szenen wie vorhin kam es nicht mehr.

Nur hier und da ein unterdrückter Fluch oder ein Stöhnen.

»Napoleon und Häckel — verloren!« stöhnte auch ich. Ja, was sollten wir dagegen tun?

Die Spielregeln waren ausgemacht worden.

Und es war ganz ehrlich zugegangen, davon waren wir jetzt alle überzeugt.

Von einem hinterlistigen Mittel gar keine Spur.

Diese Weiber hatten sich eben gerade im Tauziehen mächtig geübt, mochten ja wohl einen besonderen Trick oder vielmehr eine besondere Methode dabei anwenden, aber, nochmals: von einem hinterlistigen Kniff oder etwa gar von Hexerei durfte man da noch nicht sprechen. Es ist ja überhaupt mit den körperlichen Leistungen eine ganz merkwürdige Sache, das sieht man schon bei der gewöhnlichen Arbeit, man muß nur beobachten. Da ist etwa ein Müllerbursche, ein ganz schmächtiges Kerlchen, der schwingt ohne fremde Hülfe einen Zweizentnersack auf den Rücken, trägt ihn fort. Das soll ihm einmal jemand nachmachen! Ich kann nicht. Dieser selbe Mann kann aber vielleicht keinen Zentner hochstemmen. Nur den Zweizentnersack sich auf den Rücken schwingen, das kann er! Oder ich habe einen Drahtzieher kennen gelernt, auch nur ein ganz unansehnliches Männchen, ohne irgend welche besondere Kraft — ja, wenn der einem die Hand gab, der zog einen fort, da gab es keinen Widerstand.

Das heißt, solche Betrachtungen stellte ich jetzt nicht an.

»Unser erster Bootsmann — unser Napoleon und Häckel — verloren!«

Was war dagegen zu machen?

Sollten wir jetzt etwa über diese Amazonen herfallen?

Wer mir solch einen Vorschlag, nur eine Andeutung dazu gemacht hätte, der würde etwas erlebt haben!

Aber auf solch einen Gedanken kam gar niemand, dazu waren sie alle viel zu ritterliche Naturen.

Halt, noch einen Ausweg gab es, um jene zu retten!

»Jetzt kämpfen wir natürlich um die Befreiung dieser unserer Kameraden.«

»Natürlich?!« fuüuhr die Begum etwas empor und ihre Augen flammten auf. »Wie meinst Du das?!«

»Wer von uns fernerhin siegt, der wählt nicht mehr einen Eurer bisherigen Sklaven aus, sondern nimmt einen der neuen Gefangenen zurück.«

»Nein! Und da sprichst Du von natürlich?! Nein, wir haben die Bestimmungen klipp und klar ausgemacht! Und dabei bleibt es!«

Sofort gab ich nach. Da war ja auch gar nichts dagegen zu machen. Oder ich wäre doch ein Jesuit und ein Lump gewesen. Und das galt für alle anderen, kein Widerspruch wurde mehr erhoben, kein listiger Schlich ausgediftelt, um aus grade ungrade zu machen. Von uns eignete sich niemand zum Linksanwalt.

»Kommt mit!« wiederholte die Begum ihre Aufforderung.

Häckel richtete sich aus seiner halben Betäubung auf, in der er noch immer dagestanden.

»Ja, Waffenmeister, ich bin besiegt, sie hat mich hinübergezogen, es ging mit ganz rechten Dingen zu, wenn ich auch nicht begreifen kann.«

»Müssen sie sofort mit?« wandte ich mich an die Begum.

»Sofort.«

»Was ist ihr Los?«

»Das von Sklaven.«

»Du sagtest doch, sie würden . . . «

»Wenn ich es schon gesagt habe, so weißt Du es ja, was frägst Du noch.«

Ich wollte mich mit diesem Weibe lieber gar nicht weiter einlassen.

»Ja, mein lieber Häckel, Napoleon — da geht mal mit. Das läßt sich nun nicht ändern.«

Dabei blinzelte ich etwas mit den Augen. Leider.

Denn ich wußte, daß es die Begum gemerkt hatte. Ja, Teufel noch einmal, was soll man in solch einer Situation tun! Eine Hoffnung mußten die armen Kerls doch wenigstens mitnehmen. Daß sie keinen Widerstand versuchen sollten, darüber durfte ich ihnen gar keine Vorschriften machen.

»Ik mött noch Tabak hämm!« sagte Napoleon, aus seiner Tasche ein kleines Endchen Kautabak ziehend.

Ich weiß nicht — ich mußte lachen. Daß der, nur mit Hemd und Hose bekleidet, für seine lebenslängliche Sklaverei nur an Tabak dachte. Anderseits habe ich ja schon einmal erklärt, was für eine Rolle der Tabak im Seemannsleben spielt. Verbietet mal das Rauchen und Kauen, ob Ihr dann noch Seeleute bekommt. Und auf jeder längeren Reise bricht unfehlbar der Skorbut aus. Oder wir müßten uns wieder wie die alten Seefahrer an Brot und getrocknete Früchte gewöhnen.

»Dürfen sie rauchen und kauen?« wandte ich mich wieder an die Begum.

»Sie dürfen es.«

»Den anderen Gefangenen war es doch bisher verboten.«

»Diese dürfen es, sie werden als Männer behandelt.«

Faktisch, mir fiel ein Stein vom Herzen, mit einem Male bekam die Morgensonne, die sich für mich verdüstert hatte, wieder einen goldenen Schein, das Schicksal der beiden kam mir nicht mehr so traurig vor.

»Kannst Du es mir wirklich versprechen?« wollte ich mich dieser wichtigen Sache noch mehr vergewissern.

»Sie werden es Dir selbst sagen, daß ich mein Versprechen halte.«

»Sie selbst sagen? Wie das?«

»Nun, ich hoffe doch, daß wir auch fernerhin gute Nachbarn bleiben werden.«

»Ich verstehe nicht.«

»Deine bisherigen Leute und Kameraden werden auch als unsere Gefangenen Euch wiederholt besuchen.«

»Was?«

»Gewiß doch. Wenn sie uns ihr Ehrenwort geben, zu uns zurückzukehren, dann bekommen sie Urlaub genug, so oft sie wollen, können Euch besuchen, mit Euch jagen und spielen. Was sie brauchen oder mitnehmen wollen, holen sie dann selbst ab. Nur jetzt sollen sie an Bord der Galeere kommen, bis diese Wettkämpfe beendet sind. Es ist nur um die Form zu wahren. Wir haben es einmal so beschlossen. Der Besiegte kommt gleich auf die Galeere. Dann können sie sich wieder mit Euch vereinen, bis ihr Urlaub abgelaufen ist, und so immer wieder. Nein, wir wollen doch mit Euch in guter Nachbarschaft bleiben.«

»Na‚ dann ist es ja gut!« jubelte ich auf, und ich wäre der Begum fast um den Hals gefallen. »Na‚ dann macht mal, daß Ihr fortkommt!«

Alle hatten es gehört, und wer nicht Französisch verstand, dem war es schnell verdolmetscht worden, und alle atmeten so wie ich auf, machten ihrer plötzlichen Herzensleichtigkeit in Worten Luft. Ja, nun war dieser bösen Sache der Stachel genommen!

»Na da adjüs, Bootsmann, adjüs, Häckel besucht uns bald!«

So und ähnlich erklang es, mit einigen saftigen Bemerkungen dazu, weil es doch in die Gefangenschaft von Weibern ging, kein einziger Händedruck, und die beiden wurden von den acht Amazonen, die schon besiegt worden waren, aber also frei blieben, nur ausschieden, in die Mitte genommen und an Bord einer Galeere, wo sie vorläufig verschwanden.

Daß einmal eine Zeit kam, da wir sie nicht nur als beurlaubte Sklaven dieser Amazonen wiedersahen, daß wir sie auch wieder mit von hier fortnahmen, das war ja ganz selbstverständlich, so oder so. Nur durfte das jetzt nicht direkt gesagt werden.

Die Begum selbst kehrte sofort zurück, hatte nur einige Schritte mitgemacht.

»Wollen wir die Kampfspiele fortsetzen?«

Gewiß doch! Nur kam es auch nicht mehr darauf an, wenn einer von uns hinüberwanderte. Vermieden sollte es natürlich werden. Und nicht etwa, daß nun noch weiter zum Tauziehen herausgefordert wurde. Da waren uns diese Weiber eben aus irgend eine Weise überlegen, und das wäre dann von uns kein Edelmut mehr gewesen, ihnen diesen Vorteil zu gewähren, sondern die bornierteste Dummheit.

»Der zweite Bootsmann!«

August der Starke brachte auf der Achsel eine Hantel von drei Zentnern angeschleppt, von uns selbst wie alle Hanteln und Gewichte gegossen, allerdings nicht von Eisen, sondern von Blei. Nur der Stab war immer von Eisen, die Kugeln gossen wir von Blei daran, das wir noch von jenem Wrack aus dem Feuerlande massenhaft hatten, es konnte ja ständig nach Belieben umgegossen werden und behielt immer seinen Wert nach dem Marktpreis.

Es war kein gewöhnliches Hantelstemmen, mit dem der zweite Bootsmann herausfordern wollte. Sondern er legte sich platt auf den Rücken, ließ sich die Hantel von zwei starken Männern reichen, nahm sie mit gebeugten Armen, drückte die drei Zentner vier mal hoch.

So, welcher trainierte Kraftmensch macht ihm das nach!

Der heutige Weltrekord im Hantelstemmen, von einem Polen oder Russen geschaffen, steht auf ziemlich vier Zentner. Also im Stehen, die Hantel wird von unten, vom Boden mit Schwung hochgenommen. Gedrückt muß zuletzt doch immer werden. Wieviel schon im Liegen gedrückt worden ist, wobei jeder Schwung ausgeschlossen, weiß ich nicht, diese Übung ist auch nicht als Kampfobjekt in den Rekordregistern eingetragen. Dieses Hantelstemmen im Liegen auf dem Rücken hatte sich August zur Spezialität gemacht, hatte es durch sukzessive Zugabe schon auf mehr als drei Zentner gebracht, diese tarierte Hantel hier konnte er ohne besondere Anstrengung vier mal hochdrücken.

Wer machte ihm das nach! Man versuche es nur einmal mit einem Zentner. Es hat sich was, dabei die Beinmuskeln nicht zu gebrauchen, mit Rücken und Kopf am Boden zu liegen. Da schweillen einem aber die Halsadern!

Jetzt erst, nachdem August seine Übung absolviert und sich wieder erhoben hatte, suchte er seine Gegnerin aus.

Dabei muß ich etwas erwähnen um seine Handlungsweise zu rechtfertigen.

Dieser ehemalige Bäckerjunge aus Bayern war ja der allertüchtigste Seemann geworden, aber so einen ganz richtigen Seemannscharakter hatte er doch nicht bekommen. Er war sparsam, wie ich schon einmal gesagt habe. Daß er so wie damals in Para, von Oskar und Absinth verführt, »ausgelatscht« war, das war eine Ausnahme gewesen, die sich nie wiederholte. Er dachte an seine Zukunft. Und er wollte nicht immer zur See fahren. Im Grunde seines Herzens war er noch immer der Bäckergeselle. Er sparte, um dereinst in einer großen Residenz eine feine Konditorei aufzumachen. Das war sein Ideal. Er war auch sonst ein Geschäftsmann. Darin glich er ganz unserem Kapitän Martin, nur daß der nicht von der Seefahrerei lassen konnte. Aber sonst war doch auch dieser der gerissenste Geschäftsmann. Doch sicher ein durchaus vornehmen hochherziger Charakter — aber im Geschäft hörte jede Gemütlichkeit auf. Geschäft ist eben Geschäft und keine Gefälligkeit. Und dasselbe galt für unseren zweiten Bootsmann.

Also — jetzt kommt die Pointe von alledem — er wählte sich als Gegnerin nicht etwa das massigste Weib mit den stärksten Muskeln aus, was wohl sonst jeder von uns getan hätte, weil wir eben . . . in Geschäftssachen dumme Luder waren — nein, August der Starke suchte sich gerade das zierlichste Figürchen unter den Amazonen aus.

»Du da — Sie da — — mach mir halt nach — leg Dich auf den Rücken und stemm die drei Zentner vier mal.«

Ja, der zukünftige Konditoreibesitzer hatte sich mit Kennerblicken die schwächlichste unter den Amazonen ausgesucht. Muskeln hatte sie allerdings auch, war aber im Gegensatz zu den anderen Athletinnen doch geradezu ein kleines, nixiges Ding zu nennen, mit wirklich sehr schwachen Knochen, an denen die Muskeln bei den Oberarmen wie die Apfelsinen klebten, das Trikot schlotterte an dem dürren Körper — eine bedauernswerte Figur. Besonders der kleine Kopf saß auf einem so dünnen Hälschen, daß ich der auch nicht die sanfteste Ohrfeige hätte gelben mögen, aus Besorgnis, das Köpfchen könnte von diesem Stengel abknicken.

Sie schritt nach der Mitte, legte sich hin, die Hantel wurde ihr in die Hände gegeben und . . . sie drückte die drei Zentner fünf mal hoch.

Der Eindruck läßt sich nicht schildern.

Todesschweigen ist Todesschweigen, das kann doch nicht mehr an Stille übertroffen werden, nur waren wir alle noch viel mehr wie vom Donner gerührt als vorhin, da zuerst jene Amazone unseren Napoleon über den Haufen gezogen hatte.

»Du bist besiegt, folge Deiner Siegerin!« sagte die Begum.

August riß in seinem Kürbisgesicht das Maul auf.

»Das kann unmöglich mit rechten Dingen zugegangen sein!«

»Da muß Hexerei dabei sein!«

Wiederum wurden solche Stimmen laut.

»Was, Hexerei, Zauberei?!« fuhr die Begum wiederum etwas auf. »Wer behauptet das?!«

Nein, im Ernste glaubte niemand daran.

Es war ganz regelrecht vor sich gegangen.

Denn so einfach war es doch nicht gewesen, wie ich geschildert hatte. Nur eben so schnell, und das hatte ich wiedergeben wollen.

Wir alle hatten beobachtet, wie furchtbar sich das unansehnliche Weib angestrengt hatte, um diese Kraftleistung zu vollbringen. Wie furchtbar ihre Halsadern angeschwollen waren, wie sich ihre Armmuskeln gespannt hatten, daß jedes Fäserchen wie ein Strang hervorgetreten war.

Nein, daß er durch »Zauberei« besiegt worden war, daran glaubte auch August nicht, aber so ohne weiteres wollte er auch nicht mit in die Gefangenschaft gehen.

»Das gilt nicht, das gilt nicht — hätte ich das gewußt, dann hätte ich die Hantel nicht nur vier Mal gestemmt, ich bringe es auch noch öfter . . . «

»Monsieur maitre des armes, war dieser Kampf giltig oder nicht?« wandte sich die Begum an mich, dadurch verratend, daß sie nicht nur englisch, sondern auch Deutsch verstand.

»Er gilt, er ist ganz regelrecht ausgefochten worden Bootsmann, Ihr seid besiegt.«

Aber der wollte sich noch nicht zur Ruhe geben — weil er eben ein besserer Geschäftsmann war als ich. Denn ich dürfte ja zum Beispiel keine Konditorei und keine Bäckerei aufmachen, meine besten Kunden wären immer die Straßenkinder, und dann würde ich des Abends verdammt wenig in der Kasse haben.

»Aber wenn ich das gewußt hätt, dann hätt ich die Hantel öfters gedrückt . . . «

»Gut, Du sollst es noch einmal tun,« fiel ihm die Begum ins Wort, trotz seiner deutschen Rede aber immer auf Französisch, »kannst auch eine schwerere Hantel nehmen, und wenn die Amazone Dir nicht nachmachst, was Du ihr als Deine Höchstleistung vormachst, dann ist sie Deine Sklavin, oder Du kannst sie gegen einen Gefangenen austauschen. Ich betone aber, daß dies eine Ausnahme ist, daß ich eine Wiederholung erlaube, mit oder ohne Mehrleistung, oder meine Erlaubnis muß ich immer von Fall zu Fall geben. Nicht wahr, Monsieur Maitre des armes?«

»Gewiß, selbstverständlich,« bestätigte ich, und auf Deutsch setzte ich noch hinzu, weil es mir gerade so einfiel: »Sie sprechen Deutsch?«

»Non, Monsieur.«

»Aber Sie verstehen Deutsch?«

»Non, Monsieur.«

»Sie sind geborene Französin?«

»Oui, Monsieur, Elsässerin.«

»Ja, dann sind Sie aber doch eine geborene Deutsche!«

»Non, monsieur, ich bin Französin.«

Aha! Ahaaa!

Und es war nicht das erste Mal, daß ich so etwas zu hören bekam, solch eine Zurechtweisung. Gerade wir Seeleute erleben da manchmal im Auslande mit Franzosen etwas. Ebenso wie wir Seeleute, die wir in der Welt herumkommen, ohne Zeitungen zu lesen, niemals an ein Bündnis zwischen Frankreich und England glauben können. Nein, an solch eine lächerliche diplomatische Mache können wir nicht glauben, wir nicht, dazu haben wir zu viel Erfahrung. Aber daß die Japaner die Russen in die Pfanne hauen würden, das haben wir von vornherein ganz bestimmt gewußt.

Nun, daß unsere gefangenen Kameraden als Deutsche nicht etwa unter diesem französischen Patriotismus zu leiden hatten, das wußten wir ebenfalls; das war wieder etwas ganz anderes. Denn jede Französin heiratet skrupellos den Deutschen, den sie liebt — obwohl sie im Herzen immer Französin bleibt.

August legte sich noch einmal hin, behielt dieselbe Hantel, stemmte sie sechs Mal hoch, das letzte Mal nur mit größter Anstrengung, zitternd.

Die nixige Amazone drückte sie sieben Mal hoch, das letzte Mal nicht so zitternd wie ihr Gegner, schleuderte sie dann auch noch in weitem Bogen über ihre Füße weg.

Wir standen vor einem Rätsel. Diese Weiber hatten irgend eine Trainingsmethode erfunden oder sonst irgend ein Mittel, um solche exorbitante Resultate zu erzielen. Zu begreifen war es nicht. Aber selbst wenn sie ein Mittel anwendeten, vorher ein Medikament eingenommen hatten, durch welches sie ihre Muskeln momentan zu einer kolossalen Kraftleistung anspannen konnten — solche Mittel gibt es, für momentane Kraftleistungen zum Beispiel Alkohol und Kokain, bei Dauerleistungen Kola — so mußten diese Siege doch für vollgültig und einwandfrei genommen werden, dagegen war nichts zu machen.

»August, Du bist besiegt. Na‚ wir sehen uns ja wieder!«

Ob nun August die letzte Andeutung verstand oder nicht, daß wir unsere Kameraden natürlich auf keinen Fall in der Gefangenschaft dieser indischen Weiber ließen, ob nun mit oder ohne Urlaub — jedenfalls war der arme Bootsmann doch ganz geknickt.

So ließ er sich von seiner Siegerin nach der Galeere abführen.

Jetzt hatten die Amazonen ebenso lachen können wie wir dorthin, als der Eskimo das Riesenweib abführte.

Denn genau dasselbe Bild hatte man hier, nur umgekehrt, und daß die Amazone ihn nicht am Stricke führte, hatte auch nichts zu sagen. Ja, es sah nur um so komischer aus, wie das kleine, zierliche Ding diesen Fleischkoloß von drei Zentnern bei der Hand hatte, ihm einen halben Schnitt voraus gebend, also ihn ebenfalls zog, und wie nun dieser Fleischkoloß mit gesenktem Kopfe und überhaupt ganz geknickt hinterher jappte.

Ja, jetzt hätten die Amazonen auch so lachen können wie wir vorhin.

Sie taten es nicht. Und uns war das Lachen natürlich schon längst vergangen.

»Segelmacher!«

Auch Oskar war so ungalant — oder aber so vorsichtig geworden — als Gegnerin jene Amazone zu wählen deren Leistungsfähigkeit oder eigentlich vielmehr Minderwertigkeit im Schwimmen er schon gestern abend zu konstatieren Gelegenheit gehabt hatte.

300 Meter, verlangte er, sollte um die Wette geschwommen werden, direkt, Seite an Seite. Das Einzelschwimmen nach der Zeit hätte komplizierte Vorrichtungen erfordert, wegen der fünftel Sekunden entstehen da leicht Streitigkeiten.

Es gibt Forceschwimmer, die sich nur auf 100 Meter trainieren, und Dauerschwimmer bis zu 10 000 Meter.

Dazwischen gibt es Schwimmer für mittlere Strecken. Wer den Weltrekord für 500 Meter hält, niemand kann ihn da übertreffen der darf sicher sein, in einem Wettschwimmen über 600 Meter zu unterliegen. Das heißt in einem großen internationalen Wettschwimmen, wo alle Meisterschwimmer der Erde zusammenkommen. Der Sieger ist eben gerade für 600 Meter geaicht, während die Kraft jenes anderen genau nur für 500 Meter ausreicht. So weit ist man heute schon in der Spezialisierung gekommen. Genau so wie einst die Athleten des alten Griechenlands. Aber heute kann man auch mit so etwas ein Vermögen verdienen, mindestens eine große Leibrente. So wie die olympischen Sieger im alten Hellas königliche Ehren genossen, steuerfrei waren und andere große Vorteile hatten.

Oskar hatte seine Höchstleistung im Schnellschwimmen immer wieder bei 300 Metern fertig gebracht. 3 Minuten 14 Sekunden war einmal seine beste Zeit gewesen. Der jetzige Weltrekord ist vom Australier Broadman mit 3 Minuten 8 Sekunden geschaffen worden. Und noch einige fünftel Sekunden dazu.

Die Strecke war an dem felsigen Ufer abgemessen worden, an beiden Enden wurde mittelst Booten je eine Leine quer über das Wasser gespannt. Die beiden faßten die Startleine mit beiden Händen an, mußten dahinter bleiben, auf meinen Pistolenschuß schwammen sie los, wer die andere Leine zuerst mit einer Hand faßte, hatte gesiegt. Bei den großen Wettschwimmen wird so etwas durch eine elektrische Vorrichtung kontrolliert, was hier natürlich nicht nötig war.

So hatte ich der Begum auf Französisch erklärt.

»Bitte, verdolmetsche es der Amazone.«

»Es ist nicht nötig, Makuba hat es verstanden!«

Oskar warf seine Sachen ab, hatte schon ein Badehöschen an, so wenig Stoff als möglich.

»Na‚ Mademoiselle, genieren Sie sich nicht. Wenn es um Tod und Leben geht, gibts so etwas nicht.«

»Makuba schwimmt so, wie sie ist!« erklärte die Begum.

Na‚ dann war ihr Schicksal entschieden. Wenn es da überhaupt noch einen Zweifel gegeben hätte.

Die beiden gingen ins Wasser. Die Amazone, deren herrlicher Gliederbau ich heute in diesem schwarzen Trikotstoff noch viel besser bewundern konnte als gestern in der Schuppenrüstung, so eng diese auch angelegen haben mochte, warf mir dabei aus ihren finsteren Augen noch einen Blick zu, daß mich nur wunderte, daß das Wassers nicht zischte, als sie erst einmal untertauchte.

Sie hatten die Leine gefaßt. Mein Revolverschuß fiel, ab ging die Fuhre.

Und zwar sofort in vollster Fahrt. Nicht etwa, daß Oskar seine Kräfte bis zuletzt aufsparte. So etwas gibts bei solch einer kurzen Strecke nicht. Sofort Volldampf!

Und da geschah das Wunder.

Wenn dieses Weib gestern vor den Augen eines Schwimmkünstlers keine Gnade gefunden hatte, so mußte es sich geradezu verstellt haben.

Makuba hielt sich von vornherein an Oskars Seite. Keine Kopflänge konnte er aufrücken.

Das war das erste Wunder, das mir es schon eiskalt über den Rücken laufen ließ.

Und dann geschah das zweite Wunder.

In der letzten halben Minute, noch etwa 40 Meter vom Ziele entfernt, schoß die Amazone geradezu an ihm vorüber, erreichte mindestens fünf Körperlängen vor ihm das Seil!

Ja, es war ein Wunder gewesen.

Aber von einer »Bezauberung«, wodurch der Gegner geschwächt worden, durfte man da nicht sprechen.

Oskar hatte, auch als er überholt worden, seine ganze Schnelligkeit bis zuletzt entwickelt, man hatte die Zeit kontrolliert, 3 Minuten 16 Sekunden hatte er gebraucht. Das waren nur zwei Sekunden mehr als seine beste Leistung für diese Strecke. Die Amazone hatte es in 3 Minuten 13 Sekunden geschaffen.

Sie war unserem besten Schwimmer einfach überlegen, hätte ganz sicher auch einen neuen Weltrekord für diese Strecke aufstellen können. Nur zuletzt hatte sie ihre ganze Schnelligkeit entwickelt. Da hatte sie sich nicht in einen schießenden Fisch, sondern geradezu in einen abgeschossenen Pfeil verwandelt.

Die beiden waren aus dem Wasser gestiegen. Oskar nicht anders als wie ein Pudel — nein, wie ein wasserscheuer Spitz, der ein unfreiwilliges Bad nehmen mußte.

Und diesmal war es die siegende Amazone selbst, die dem Besiegten die Hand auf die Schulter legte und etwas sagte, und zwar im besten Englisch:

»Komm, mein Freund, Du bist mein Sklave, aber Du sollst es gut bei mir haben.«

Dieser »Kölner Jong« war ein ganzer Mann. Da nun nichts mehr zu ändern war, fügte er sich in sein Schicksal, richtete sich auf, ging mit. Gleich so, wie er war. Gleich in seinem Badehöschen. Das sah unserm Oskar ja auch so ganz ähnlich.

Das heißt, uns war nicht lächerlich zumute, mir am allerwenigsten.

»Hans!« rief ich auf, mich nicht mehr um mein Namensverzeichnis kümmernd.

Hochsprung. Amerikanischen Riedsprung. Eine feststehende Hürde ist oben mit aufrechtstehendem, elastischem, schwarz lackierten Riedgras besetzt. Man springt wie zwischen Schilf hinein, die Halme richten sich sofort wieder auf. Die Fußspitzen werden eingekreidet, so sieht man, wie hoch jemand gesprungen ist. Natürlich entscheidet der untere Fuß. Ohne Sprungbrett.

»Hans, wenn Du Dich überspringen läßt, dann — bin auch nicht mehr Euer Waffenmeister. Dann gehe ich zu den Amazonen hinüber und lasse mich von denen ausbilden.«

Hans sprang 191 Zentimeter. Man messe es aus. Es war eine seiner besten Leistungen gewesen. Ich selbst hatte die Gegnerin ausgesucht, eine mit möglichst kurzen Beinen, die mir überhaupt nicht so den Eindruck eines menschlichen Flohs machte. Denn bei mir hörte es nun auch auf mit dem galanten Edelmut.

Diese kurzbeinige Schickse sprang noch zwei Zentimeter höher!

Ich heulte laut auf vor Wut.

»Knut! Wettlauf über hundert Meter!«

Unser bester Schnelläufer auf kurze Strecken durchrannte sie in seinen gewöhnlichen elf Sekunden. Auf die fünftel Sekunden kam es dabei nicht an. Der Weltrekord steht auf 10 Sekunden zwei fünftel.

Wie lange die Amazone, die wiederum ich ausgesucht hatte, dazu brauchte, weiß ich nicht. Jedenfalls aber war sie eher am Ziele als Knut.

Und ich fing zu weinen an.

Ob meine Jungen drüben mit Zucker dickgefüttert oder von Kapitän Satan zum Schlachtfest im Wurstkessel abgebrüht wurden, das war mir jetzt egal — nur diese Scham, diese Scham! Daß diese höllischen Weiber alle meine erzieherische Kunst als Trainingmaster zuschanden machten, daß sie meine Jungen überhaupt besiegten!

Kapitän Martin schlenderte auf mich zu.

»Kollege, Kollege, was haben Sie da gemacht!«

»Kapitän, machen Sie mir keine Vorwürfe, ich konnte doch nicht anders, und wer hätte das gedacht!« druckste ich mit versagender Stimme hervor.

»Well, so war das ja auch nicht von mir gemeint. Aber diese Weiber holen uns die ganze Mannschaft weg, und mit dem Wiederkommen siehts mau aus.«

»Aber nun können wir doch auch nicht feig zurücktreten!«

»Nein, das können wir nicht mehr!« stimmte mir Kapitän Martin sofort mit größter Entschiedenheit bei, eigentlich zu meiner Verwunderung. »Jetzt muß der Kampf unbedingt ausgefochten werden, bis zum letzten Mann, und wenn ich keinen einzigen Mann mehr habe, dann fordere ich auch noch heraus. Weiß schon, was ich tun würde. Well, Waffenmeister, aber das geht nicht so weiter. Diese Weiber sind unseren Jungen nur an eigentlicher Kraft und Fixigkeit überlegen. Fechten und schießen können sie nicht. Auch nicht den Kopf zwischen die Beine stecken und dabei mit Kugeln jonglieren. Verstehen Sie? Lassen Sie doch unsere Jungen an ihren Apparaten turnen!«

»Schneider—Schnipplich! Reck!«

Das Reck war schon aufgebaut, mit Drahtseilen gespannt. Schneider—Schnipplich, der sich nun als unser bester Turner legitimiert hatte, mindestens am Reck, machte die Riesenwelle rückwärts mit Rüstgriff — mir unbegreiflich, wie er das fertig brachte — machte die Rückenwage mit einem Arm, machte andere fabelhafte Sachen, ging mit dreifachem Salto mortale ab. Die Amazone, die er mit kritischem Blick ausgesucht hatte, machte ihm alles aufs exakteste nach!

Schneider—Schnipplich hinüber!

Harmmermann der Uhrmacher, unser bester Turner am Barren, darin wohl überhaupt der Weltmeisterschaftler — er mußte hinüber.

Ein Pferd wurde gebracht, das heißt ein hölzernes, der Turnapparat, der bebrillte Schriftsetzer Starke produzierte sich daran, fabelhaft war es, wie der darauf herumquirlen konnte — die Amazone, die er aufgefordert, quirlte noch ganz anders darauf herum, und Starke verschwand aus der Galeere.

»Kapitän, Kapitän, was sagen Sie dazu! flüsterte ich ganz entgeistert.

Kapitän Martin wühlte in den Hosentaschen, knickte die Knie und schlenkerte die Beine.

»Ik segg nix mehr.«

Sie mußten hinüber, alle diese deutschen Meisterschaftsturner.

Nein, nicht alle.

Endlich wieder einmal ein Lichtblick, ein Sieg für uns.

Kretschmar war es, der als letzter der acht Turner auftrat und eine Amazone besiegte.

Aber nicht im Turnen.

Er war eben der ehemalige Damenkonfektionär, der den Damen Kleiderstoffe und Höschen und Korsetts verkauft hatte, da mußte er doch wohl das weibliche Geschlecht kennen.

Doch nein, damit hatte es nichts zu tun. Jedenfalls aber war er der einzige, der, obwohl neben SchneiderSchnipplich der Beste aller Turner, an jedem Apparat ein Meister, endlich erkannte, nun erkannt hatte, daß diesen Amazonen mit der Turnerei nicht beizukommen war und deshalb einen speziellen Trick wählte, den er sich eingeübt hatte.

Ich halbe davon schon einmal gesprochen. Er nahm drei Eisenkugeln, jede von einem Zentner Gewicht. Kanonenkugeln alten Kalibers, legte sie vor sich hin, faßte die eine mit beiden Händen, warf sie in die Höhe, schnell die zweite und dritte nach, dann fing er die erste wieder auf, und so immer weiter. Also er jonglierte mit den drei Zentnerkugeln — Und das machte er 25 Mal hintereinander, wozu er genau eine Minute brauchte.

Dabei mache ich nochmals darauf aufmerksam, daß dieser ehemalige Damenkonfektionär, übrigens ein gebildeter Mensch, hatte als Einjähriger gedient, ein kleiner, spindeldürrer Hering war, ein ganz zierliches Männchen! Nur seine Hände durfte man nicht betrachten, ebenfalls klein und schlank, aber so starrend von Sehnen und Muskeln, daß man da schon einen Schluß auf den ganzen Körper ziehen konnte. Seine dünnen Knochen schienen förmlich aus Stahl zu bestehen, man konnte tatsächlich nicht glauben, daß sie wie bei anderen Menschen der Hauptsache nach aus phosphorsaurem Kalk zusammengesetzt seien, da mußte noch eine andere Mischung dabei sein, sonst ließ sich so etwas gar nicht erklären, und in dem Muskelfleische, das er auf diesen Knochen hatte, konnte man auch bei abgespanntem Zustande mit dem Finger keinen Eindruck erzeugen, es war gar nicht möglich.

Die auserwählte Amazone warf wohl die drei Zentnerkugeln schnell hintereinander in die Höhe, schon eine ganz erstaunliche Leistung, ich brachte es nicht fertig, wie ich es auch manchmal geübt hatte, konnte aber die erste nicht wieder auffangen.

Kretschmar befreite wieder einmal einen Gefangenen, wählte sich einen Indianer. Ich bemerkte dabei recht wohl, wie ihm die Inderin viel lieber gewesen wäre. Er hatte sich auch als Gegnerin das hübscheste Weib ausgesucht. Der dürre Hering war ein Don Juan.

Das also war wieder einmal ein Erfolg gewesen. Durch Jonglieren. Unsere Theorie hatte schon etwas für sich. Wenn es allein auf Kraft und Gewandtheit ankam, da waren uns diese Weiber immer überlegen.

Da wurde im nächsten Gange der englische Matrose Sam abgeführt. Er war unser Lehrer im Keulenschwingen gewesen, er hatte sich darin zum Meister, zum Virtuosen ausgebildet. Ebenfalls mit Hilfe meiner Trainingsmethode. Indem die Keulen, ursprünglich je ein Kilo schwer, nach und nach mit Blei beschwert wurden, bis zu 25 Pfund. Wenn der Betreffende dann wieder mit den normalen hölzernen Keulen jonglierte, so fühlte er überhaupt gar kein Gewicht mehr.

Aber es hatte nichts genützt, und Sam hatte sich vergebens täglich viele Stunden lang geübt. Eine Amazone machte ihm alles, alles nach, übertraf ihn noch bei weitem, und Sam mußte hinüber ins feindliche Lager.

Hiermit war aber auch wieder unsere Hoffnung zu schanden geworden, den Weibern durch besondere Tricks, die sich der Jongliererei wenigstens näherten, beizukommen. Wenn sie uns selbst in diesem Keulenjonglieren überlegen waren, dann hörte alles auf.

Und so ging es weiter. Nämlich indem diese indischen Weiber einen Mann nach dem anderen zu sich hinüberzogen, ihn auf einer der Galeere verschwinden lassend. Es war vergebens gewesen, daß ich wegen der öffentlichen Wettspiele jeden einzelnen Mann für eine besondere Spezialität ausgebildet hatte, wie sie sich nach einer Veranlagung ergab. Während der Produktion der Turner war ein Wettlauf über zehn Kilometer ausgetragen worden, und die Amazone hatte gesiegt, gleich nach Sam produzierte sich ein Matrose als unvergleichlicher Stabspringer, und er wurde von solch einem Teufelsweibe übersprungen.

Dann, nachdem der lange Peter, unser bester Ringkämpfer, geworfen worden war, von einem ganz schmächtigen Frauenzimmer, regelrecht geworfen, ohne jeden hinterlistigen Kniff, ereignete sich ein bedeutsamer Zwischenfall. Wenigstens für später sollte er für uns noch von größter Bedeutung werden. Vorläufig war er nur sehr aufregend.


98. KAPITEL.
ATTILA—ALBARICH.

Auch Wechsel—Attila meldete sich. Eine Amazone sollte sich mit ihm im Bogenschießen messen.

Da muß ich über diesen Zwerg, den ich erst jetzt handelnd auftreten lasse, aber auch furchtbar handelnd, erst etwas später sprechen.

Bisher hatte ich nichts weiter über ihn gesagt, als daß Mister Alois Wenzel ein geborener Österreicher war, noch nicht einen Meter hoch, bei einem unschuldigen Kindergesichtchen eine sehr tiefe Stimme besaß, sich als Artist ein Vermögen verdient hatte und ein ganz famoses Männlein war. Es gefiel ihm wie seiner noch kleineren Gattin Rosamunde bei uns an Bord, sie waren unsere Gäste, und da die Patronin keine Bezahlung einnahm, wußten sich die beiden bei jeder Gelegenheit durch Geschenke oder sonstige Aufmerksamkeiten zu revanchieren.

So hatte ich schon einmal gesagt. So einfach war die Sache aber nicht, nicht so harmlos.

Mister Alois Wenzel wollte, obgleich er gar nicht wußte, wo seine Wiege gestanden, kein geborener Österreicher, sondern ein Ungar sein. Er produzierte sich doch unter dem Namen Attila als Hunne, auf einem Hunde reitend. Und die echten magyarischen Ungarn rühmen sich, Nachkommen der verschwundenen Hunnen zu sein. So mochte er sich das zusammengereimt haben. Nun aber hatte er tatsächlich etwas Hunnisches oder sogar Mongolisches an sich. Ein wenig hervortretende Backenknochen und Schlitzaugen, was ihm erst recht das Gesicht einer chinesischen Puppe gab, oder eines chinesischen Kindes, nur durfte man es nicht länger und genauer betrachten, dann sah man immer mehr den gewaltigen Irrtum ein.

Es war ein Irrtum in doppelter Hinsicht, oder vielmehr nach zwei Seiten hin.

Der Zwerg hatte mir damals gesagt, er sei schon 42 Jahre alt, jetzt wäre er 45 gewesen. Das bewies er durch einen Taufschein, in einem böhmischen Dorfe ausgestellt. Aber das konnte nicht stimmen. Er mußte viel, viel jünger sein. Fahrende Leute hatten eben das winzige Kind aufgekauft, gleich den zukünftigen Zwerg erkennend, es hatte in ihrem Interesse gelegen, das Kind als viel älter auszugeben oder sie hatten den Taufschein nachträglich gefälscht. Ich glaube, als wir ihn damals bei Vancouver von dem Wrack holten, war er noch nicht älter als 20 Jahre. Wenn er selbst darum wußte, den Unterschied von mehr als 20 Jahren mußte er doch kennen, so wollte er doch nichts davon wissen. Weil er stolz auf seinen Taufschein war, das einzige Legitimationspapier, das er besaß.

Meine Ansicht über sein Alter oder vielmehr seine Jugendlichkeit wurde auch dadurch bestätigt, daß er sich unterdessen sehr verändert hatte. Der Zwerg schien noch kleiner geworden zu sein. Nämlich dadurch, daß er sehr in die Breite gegangen war. Und zwanzig Jahre, das ist so das Alter, da man in die Breite geht. Mit 40 Jahren findet das nicht mehr statt, doch sicher am allerwenigsten bei solch einem Zwerge.

Ja, Wenzel—Attila war ganz mächtig in die Breite gegangen, hatte schier gewaltige Schultern bekommen. Dazu mochten auch viel die athletischen Übungen mit beigetragen haben, an denen er sich immer eifrig beteiligt hatte, vielleicht mehr als alle anderen. Aber ein starker Kerl war er überhaupt immer gewesen. Das erforderte ja sein ganzer Artistenberuf. Er produzierte sich also als Hundereiter, machte die verwegensten Kunststückchen auf dem Rücken eines großen Köters, ließ ihn über Hecken springen und voltigierte nebenher darüber; und außerdem schwang und schleuderte er die Lanze und schoß als Spezialität mit Pfeil und Bogen.

Der Bogen, den er schon damals benutzt, war nur kurz, kaum einen halben Meter lang, bestand aber aus einem starken elastischen Stahlstab. Schon damals hatten wir über die Kraft des Männleins gestaunt, wie das überhaupt diesen Stahlstab mit der Sehne beugen konnte. Ja, dieser Zwerg hatte schon damals einen für seine sonstige Figur ungemein muskulösen rechten Arm gehabt. Denn dieser war viel, viel kräftiger entwickelt als der linke, was man übrigens auch bei allen Naturvölkern findet, die sich viel des Bogens bedienen, sich darin von Kind an eifrig üben, was eben durch das Zurückziehen der Sehne kommt, was doch nur mit der rechten Hand geschieht, während der linke Arm ausgestreckt bleibt. Kräftig wird dieser ja allerdings dadurch auch, aber doch nicht so wie der rechte.

Während der Bordzeit war der Zwerg also durch die athletischen Übungen immer stärker geworden, was sich auch schon in der veränderten Figur, in den Schultern ausdrückte. Und immer stärkere Bogen hatte er sich gefertigt. Denn das tat er selbst, nicht so einfach, er schweißte verschiedene Stahlbänder zusammen, hatte da sein eigenes Geheimnis. Die Bogen, die er jetzt benutzte, konnten wir gar nicht mehr handhaben, auch nicht der stärkste von uns. Zurückziehen konnte ich die Sehne wohl, natürlich, also auch den Pfeil absenden, aber zielen konnte ich dabei nicht viel, weil ich vor Anstrengung dabei zitterte, und das hauptsächlich deswegen, weil man die ganze Kraft in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand verlegen mußte. Denn so wird der Pfeil doch angefaßt. Man zieht nicht eigentlich die Sehne, sondern den Pfeil zurück, nur mit diesen beiden Fingern.

Und das war es, was keiner von uns Athleten fertig brachte. Auch Meister Kännchen nicht. Der hatte zwar in Daumen und Zeigefinger noch eine ganz andere Kraft, nur aber doch wieder ganz anders ausgebildet, der faßte den Zahn nur mit den Fingerspitzen an, und außerdem hatte er im rechten Arm gar nicht solche Kraft, um überhaupt den stählernen Bogen zu biegen.

Dies war zunächst das eine, nun zu dem Charakter dieses Zwerges. Ich würde mich bei alledem ja nicht so lange aufhalten, wenn das Männlein nicht noch so bedeutungsvoll für uns werden sollte.

Zum Zeichen des Charakters gehört auch die Stimme. Also eine sehr tiefe Stimme, die schon mehr Baß zu nennen war. Das verriet aber auch schon, daß Mister Wenzel-Attila nicht zu jenen Zwergen gehörte, die doch eigentlich zu den Mißgeburten zu rechnen sind. Die haben doch alle eine ganz quäkende Stimme, sind überhaupt anormal entwickelt. Nein, dieses Männlein hier war nur auBerordentlich kurz geraten. Sonst war dieses Männlein sogar ein ganzer Mann. Wenn seiner Ehe keine Kinder entsprangen, so lag das sicher nur an seiner Gattin Rosamunde, die eben solch eine echte Zwergin war, wenn sie sich auch etwas weiblich entwickelt hatte. Auch seine immer stärker werdende Körperkonstitution zeigte das ja. Es war ein Herkules in Miniaturausgabe. Oder er hätte sich nicht Attila, sondern Albarich nennen sollen. Man kennt doch diesen Zwerg aus der Nibelungensage, den riesenstarken Gnom, den Siegfried mit Not und Mühe bezwang. Und diesem Albarich glich unser Mister Alois Wenzel umso mehr, weil er sich in letzter Zeit auch einen sehr langen Vollbart hatte wachsen lassen. Auch etwas, was es sonst bei den gewöhnlichen Zwergen ja gar nicht gibt. Nun aber war der Albarich fertig! Doch wollte er von diesem germanischen Namen nichts wissen, wollte Magyar oder noch lieber Hunne bleiben, nannte sich daher lieber Attila.

Also, was nun seinen eigentlichen Charakter betrifft, ein ganz vortrefflicher Mensch, ein famoser Gesellschafter und Kamerad. Aber . . . bei Gelegenheit war mit ihm schlecht Kirschen essen! Er wollte ein Gentleman sein und war es auch wirklich!

Was ist eigentlich ein Gentleman?

Der englische Romancier Bulwer, den ich schon einmal zittert habe, kennzeichnet ihn bei Gelegenheit wie folgend, wenn er auch nicht gerade von Gentleman spricht. Das geschieht aber an anderer Stelle.

»Ich habe bemerkt, daß der unterscheidende Zug von Menschen, die an gute Gesellschaft gewöhnt sind (es soll also der Unterschied zwischen Gentleman und Nichtgentlemen gezeigt werden), eine kalte, unerschütterliche Ruhe ist, welche allen ihren Handlungen und Zuständen, von den wichtigsten bis zu den geringsten, sich mitteilt; sie essen mit Ruhe, machen sich Bewegung mit Ruhe, leben in Ruhe und verlieren ihr Weib, ja sogar ihr Geld mit Ruhe, während gemeine Leute keinen Löffel voll zu heißer Suppe und keine Beleidigung einnehmen können, ohne einen fürchterlichen Lärm dabei zu schlagen.«

Ich kann dieser Definition des Gentlemans nur beistimmen. Daß solch ein Mensch nicht schäbig und knausrig ist, ist ganz selbstverständlich. Auch darf der echte Gentleman gar kein weicher Gemütsmensch sein, der jeden Bettler beschenkt. Dagegen verliert er mit Ruhe sein Geld. Dieser Nachsatz »ja sogar ihr Geld verlieren sie mit Ruhe«, nachdem sie vorher schon die Frau verloren haben, der ist übrigens köstlich, das ist echt Bulwer.

Solch ein Gentleman war dieser mannhafte Zwerg. Nicht gravitätisch, sondern nur von eiserner Ruhe. Wäre er gravitätisch gewesen, so hätte er nicht gescherzt. Und das tat er. Man entsinne sich, wie ich damals im düsteren Kajütenkorridor seine Gattin auf dem Arme hatte, wie jovial er das auffaßte. »Ach ich bin durchaus nicht eifersüchtig, und Rosamunde is ooch nich so, wenn se sich ooch so stellt.«

Also jovial und humoristisch veranlagt. Anderseits aber der Gentleman von eiserner Ruhe. Wenn hinter ihm eine Pistole losging, oder ein Steward ließ einen ganzen Stoß Teller fallen, alle anderen sprangen erschrocken auf, so zuckte er nicht nur mit keiner Wimper, sondern hielt es auch unter seiner Würde, sich umzudrehen, um zu sehen, was denn da passiert sei.

Aber das war nur Selbstzucht. Eigene Dressur. Und die kann einmal versagen. Im Inneren dieses Zwerges sah es ganz anders aus.

Wehe, wenn man ihn als Zwerg betrachtete, sich über seine Kleinheit lustig machte! Das konnte er nicht vertragen, dann ging das Männlein hoch wie eine Rakete!

Wir hatten da schon mancherlei mit ihm erlebt. Einmal, gleich im Anfange. Simson, der als Untersteward den Tafeldecker machte, hatte ihm ein Kinderbesteck vorgelegt, so recht mit Absicht, dabei hämisch grinsend.

Da springt das Männlein mit gleichen Füßen auf den Tisch, weil es ja sonst nicht hinauflangen kann, und knallt dem Riesen eine ins Gesicht, daß Simson acht Tage lang eine geschwollene Backe hatte!

Und das war nicht der einzige Fall gewesen, nicht der harmloseste Schrot vier Mal hatte der Zwerg einen, der sich über seine Kleinheit lustig gemacht, zum Zweikampf auf Leben und Tod herausgefordert. Darunter auch mich. Unser »Bandlwurm« war zur Tür hineingekommen, gerade wie Mister Wenzel—Attila hinaus wollte, und da war er jenem versehentlich zwischen den Beinen hindurchgelaufen. Da hatte ich gelacht. Soll man da auch nicht lachen. Forderung auf Pistolen!

Die Sache wurde schnell in Güte geregelt, wie in jedem anderen solcher Fälle. Ich bat einfach, wie es sich gehörte, um Entschuldigung und es war erledigt.

Aber verlacht wurde der nicht mehr wegen seiner Kleinheit. Und nicht etwa nur deshalb nicht, weil er immer gleich so martialisch draufging. Nein, sondern weil wir immer mehr erkannten, daß er wirklich ein ganzer Mann war! Schade, daß er sich nicht Albarich nennen ließ. Denn er war wirklich der gewaltige Zwerg Albarich, der den Siegfried beinahe untergekriegt hätte.

Und nun noch ein anderer Charakterzug von ihm. Er war ein Oppositionsgeist. Wenn eine allgemeine Abstimmung war, wobei sich auch die Gäste beteiligen sollten, und alle waren sich einig — nur Mister Wenzel—Attila wußte dagegen stimmen. Doch nicht etwa, daß er dadurch lästig wurde. Durchaus nicht. Dazu war er nun wieder zu sehr Gentleman. Er fügte sich dem allgemeinen Beschlusse. Aber opportieren mußte er. Aus Prinzip.


Also Mister Alois Wenzel—Attila, wie er sich wirklich nannte, so auch unterzeichnete, hatte sich zum Bogenschießen gemeldet.

Obgleich er gestern abend entschieden abgelehnt hatte, sich an den Zweikämpfen zu beteiligen.

Es war ja keine Inkonsequenz von ihm, jetzt da es um die Wurst ging, wollte doch sogar Kapitän Martin vielleicht noch eintreten, aber immerhin, ich muß darauf aufmerksam machen.

»Nein, ich mache so etwas prinzipiell nicht mit!«

So hatte er gestern abend erklärt, mit der allergrößten Betonung, und nun kam er dennoch, nachdem er bisher gar nicht zu sehen gewesen war, um sich mit einem Weibe zu messen.

Übrigens hatte ich mich vorhin falsch ausgedrückt. Gemeldet hatte er sich gar nicht dazu, weder bei mir noch bei einem anderen, so etwas gabs bei dem nicht. Nur keinen Zwang! Ein Außenseiter in jeder Weise.

Aber wie er jetzt auf dem Plane erschien, da war ja nun gar kein Zweifel, daß er seine Kunst mit Pfeil und Bogen beweisen wollte.

Er kam nicht zu Fuß, sondern hoch zu . . . Hund. Ritt den Cäsar, eine höchst merkwürdige Kreuzung zwischen deutscher Tigerdogge und Tibetdogge, welch letztere der Riese des ganzen Hundegeschlechtes ist, sehr selten, auch etwas gar zu plump. In England sieht man sie manchmal, wahre Hundemammuts. Cäsar vereinigte die gewaltige Größe des Tibetaners mit dem fast windhundartigen Bau der Tigerdogge, war auch kurzhaarig und gefleckt wie diese, hatte aber Hängeohren und einen buschigen Schwanz. Ein kolossaler Kerl, dabei flüchtig wie ein Reh. Ich habe noch nicht über ihn gesprochen, weil eben noch keine Gelegenheit dazu war. Wenzel-Attila ritt ihn mit Vorliebe, denn für die anderen Hunde war er in letzter Zeit doch etwas zu schwer geworden. Tragen konnte ihn allerdings auch jeder Bernhardiner, sogar die noch kleineren Neufundländer. Aber nur auf diesem Cäsar konnte er reiten wie jeder erwachsene normale Mensch auf einem kräftigen Pferde, setzte mit ihm über anderthalb Meter hohe Hürden weg.

Er ritt ohne Zügel und Zaum, ohne Sattel und Decke. Davon hätten die alten Hunnen auch nichts gewußt, behauptete er, wenns auch nicht wahr ist. Nun, einen Hund kann man doch wohl viel besser nur durch Schenkeldruck oder auch nur durchs Wort lenken als das beste Pferd.

Bekleidet war er mit einem braunen Lederkostüm, reich mit Zobel und anderem kostbaren Pelzwerk verbrämt, mit pelzbesetzten Schaftstiefeln, an denen ungeheure Rädersporen klirrten, wenn er diese auch nie benutzte, auf dem Kopfe ein Pelzbarett — das war sein Kostüm, in dem er sich produzierte, das er überhaupt mit Vorliebe trug, nicht das eines Hunnen, wohl aber das eines Ungarn, solch ein schnüren— und pelzbesetzter Magyarenrock wird ja heute noch »Attila« genannt. Sonst aber, muß ich ausdrücklich bemerken, trug er nur die elegantesten Straßenkostüme, und nicht etwa, daß er rohes Fleisch verschlang, sich sonst als barbarischer Hunne benahm; er war doch ein vollkommener Gentleman

So kam er auf dem Hunde langsam über den freien Platz geritten, mit bis auf die Brust wallendem hellblondem Vollbart, der fast weiß erschien, in der Hand seinen Bogen, auf dem Rücken einen Köcher mit Pfeilen.

Wir waren diesen Anblick ja gewohnt. Aber in den Reihen der Amazonen entstand eine Bewegung des Staunens. Solch ein bärtiger Zwerg, ein Wichtelmann beritten auf einem Hunde, in diesem phantastischen Kostüm — was mochte das auf diese indischen Weiber auch für einen Eindruck machen! Der Zwerg war zwar schon damals mit auf ihrer Burg gewesen, aber da hatte er noch keinen Bart gehabt, hatte sich immer glatt rasiert, da mochten sie ihn wie seine mitgekommene Gattin eben für ein Kind gehalten haben.

Und noch ein anderer Anblick wurde den Amazonen geboten, noch fremdartiger und phantastischer und reizvoller.

Ihrem Gatten nach kam Rosamunde gesprengt, auf einem schneeweißen Ziegenbock, den wir zuletzt in Bordeaux erstanden hatten, ein geradezu ideales Exemplar seiner geschlechtslosen Art, die mächtigen Hörner vergoldet, mit rotem Zaumzeug das mit goldenen Knöpfchen besetzt war, zierlich aufgeschirrt, einige schwarze Quasten herabhängend, der Rücken mit einem kleinen Pantherfell belegt, und nun im Damensattel Rosamunde im langen Reitkleide von himmelblauer Seide, nach einem Pariser Modell für sie gefertigt, mit gelben Stulphandschuhen, auf den schwarzen, zierlich frisierten Haaren einen für dieses Köpfchen mächtigen Hut mit wallenden Straußen— und Reiherfedern . . .

Wie gesagt, uns war dies alles ja nichts Neues. Madame Rosamunde, die reizendste lebendige Puppe, die es je gegeben, auch dem Charakter nach, hatte einen großen Reisekorb voll lauter solcher Kostüme, für Straße und Gesellschaft und für ihre Produktionen, eines immer eleganter als das andere, Mister Wenzel—Attila war seiner Gattin gegenüber ein Kavalier, und er war ein wirklich vermögender, wenn nicht reicher Mann, obgleich er es deswegen, um seine Gattin so zu kleiden, gar nicht hätte zu sein brauchen. Denn nach dem, was ich hier beschrieben, darf der Leser nun wohl auch glauben, was wir in Petersburg für Einnahmen gehabt hatten. Schon dieses Zwergenpaar, nur diese Rosamunde allein, bildete ja eine Zugnummer, welche unsere Batterie allabendlich bis auf den letzten Platz gefüllt hatte. Wenn sie in den eleganten Kostümen auf diesem herrlichen Ziegenbocke die hohe Schule ritt, wenn sie dann auf einem künstlichen Gebirge die verwegenen Kletterpartien unternahm, dann im Trikot auf einem russischen Windhunde als Parforcereiterin auftrat! Was die mit Geschenken überschüttet worden war, mit Juwelen! Aber ihr Gatte hatte auch nicht das Geringste angenommen. Wenn er seine Frau schmücken wollte, dann mußte das aus seiner eigenen Tasche bezahlt werden. Da er nun auch keine Gage von uns begehrte, so durfte man doch auch nicht sagen, daß er bei uns an Bord umsonst gelebt hätte. Er gehörte einfach mit zu den Argonauten, und wir lebten einander zu Liebe.

Also was mochten diese indischen Weiber denken, als da das zierliche Dämchen, gleich als solches erkennbar, man sah sofort, daß es nicht etwa nur ein Kind war, auf dem herrlichen, schneeweißen Ziegenbocke angesprengt kam. Man mußte sich beeilen, diesen Eindruck in sich aufzunehmen. Mit wenigen Sprüngen ihres Reittieres hatte sie ihren Gatten erreicht, wechselte einige Worte mit ihm, warf den Ziegenbock auf den Hinterbeinen herum und sprengte wieder zurück, war wieder verschwunden.

»Inschallah! Wer war das?! Und wer ist dieser Zwerg mit dem langen Barte?!«

So redete mich die Begum an, und ihre schwarzen Augen, auf den Hundereiter gerichtet, oder dorthin, wo Rosamunde verschwunden war, glühten geradezu vor Gier, und die Flügel ihrer feinen Nase bebten.

»Es sind eben . . . Zwerge.«

»Ist der Bart nur angeklebt?«

»Nein, der ist ganz echt!« lächelte ich.

»Ein Zwerg mit solch einem langen Barte, o Wunder!«

»Ja, es ist eine große Ausnahme, bärtige Zwerge sind selten.«

»Und die Zwergin?«

»Das ist seine Gattin.«

»Sie gehören mit zu Deinen Leuten?

»Eigentlich nicht. Nicht mit zur Schiffsbesatzung . . . «

»Es sind Deine Sklaven? Sind sie Dir feil?«

So war ich unterbrochen worden, das Weib sprudelte diese Frage nur so heraus.

»Was fällt Dir ein, Begum! Du weißt doch ganz gut, daß wir keine Sklaverei kennen!«

»Aber es sind doch Zwerge, sie müssen doch einen Besitzer haben!«

Ich verstand sofort. Dieses Weib war doch mehr Inderin geworden, als sie Französin geblieben war, während des langen Aufenthaltes unter exotischer Umgebung hatte sie die früheren Verhältnisse vergessen, andere Ansichten waren ihr schon in Fleisch und Blut übergegangen.

In ganz Indien herrscht nämlich das Gesetz, oder die Sitte, oder wie man es nun sonst nennen mag, daß alle Zwerge dem Maharadscha, dem Landesfürsten gehören. Alle zwerghaft geborenen Kinder müssen abgeliefert werden. Wir haben so etwas auch einmal in Europa gehabt. Es ist noch gar nicht so lange her, da ein europäischer Fürstenhof ohne mindestens einen Zwerg, der den Narren spielen mußte, ob er sich nun dazu eignete oder nicht, gar nicht denkbar war. Einige solcher Hofzwerge haben dadurch historische Berühmtheit erlangt. Und sie wurden ihren Familien entrissen, ob die Eltern wollten oder nicht. In Indien ist das heute noch so. Es ist noch gar nicht so lange her, daß England beinahe einen Feldzug gegen einen sonst ganz friedsamen Maharadscha im Himalaja eröffnen mußte, der von einem englischen Gesandten besucht worden war, der hatte einen Zwerg bei sich, es war sein eigener Bruder, und der indische Fürst beanspruchte diesen Zwerg nach uraltem Gesetz als sein Eigentum, ließ ihn wegfangen und wollte ihn zuerst nicht wieder herausgeben. Eben so wie der Kaiser von Abessinien alle Albinos, auch Kakerlaks genannt, Menschen mit weißen Haaren und roten Augen, für sich beansprucht, die müssen alle an seinem Hofe abgeliefert werden, er hat da eine Kakerlaksammlung, und da ist es auch passiert, daß einem italienischen Herzog, der Abessinien bereiste und sonst mit den höchsten Ehren empfangen wurde, die Tochter weggenommen wurde, weilt sie eine Albino war, erst nach langen diplomatischen Verhandlungen wieder ausgeliefert wurde.

»Nein, Begum, es sind freie Menschen, die sich nur als Gäste an Bord unseres Schiffes befinden. Aber sieh, auch er will sich an dem Wettkampfe beteiligen, er will Euch eine Probe seiner Schießkunst mit Bogen und Pfeil geben.«

Attila, wie ich ihn fernerhin kurz nennen will, wie wir es überhaupt taten, war abgestiegen, sein Hund legte sich hin, der Zwerg machte sofort seinen Bogen bereit.

»Dort das Ziel — wer trifft das Zentrum.«

So rief seine Baßstimme, und der Pfeil entschwirrte der Sehne.

Erst jetzt sahen wir, daß an dem nächsten Baume, der aber, wie wir später maßen, 114 Meter von diesem Standpunkte entfernt war, eine kleine weiße Scheibe mit schwarzem Zentrum befestigt war.

Es war ein hölzerner Pfeil mit Stahlspitze gewesen, hinten befiedert — er benutzte auch durchweg stählerne, von deren Leistungsfähigkeit ich später noch sprechen werde — und auf diese Entfernung war auch mit bloßen Augen zu erkennen, wie der Pfeil genau oder doch ziemlich genau den schwarzen Punkt getroffen hatte. Daneben steckte er jedenfalls nicht im Holz.

Jetzt tauchte dort hinter den Bäumen auch Rosamunde wieder auf, zu Fuß, ging mit hochgerafftem Reitkleide hin nach der Scheibe.

»Zentrum — ganz genau Zentrum!« rief ihr dünnes Kinderstimmechen.

»Wer macht mir das nach.«

»Wählen Sie sich eine Amazone aus!« sagte ich.

»Ach was. Die beste Bogenschützin mag sich doch selbst melden.«

Ich kannte ja diesen Oppositionsgeist, der hätte nun niemals eine ausgewählt, ich selbst tat es.

»Gib ihr Deinen Bogen und einen Pfeil!« sagte die Begum.

»Sie mag doch ihren eigenen Bogen nehmen!« mußte der natürlich antworten.

»Wir haben gar keine Waffen mit.«

»Da holt Euch doch einen Bogen.«

»Bitte, Mister Attila, lassen Sie die Amazone doch mit demselben Bogen schießen, es ist schon, um den Kampf ganz gleich zu machen!« bat ich.

»Na meinetwegen!« gab er jetzt einmal nach. Ein Grund zur richtigen Opposition lag ja auch nicht vor.

Die betreffende Amazone nahm den Bogen, den gereichten Pfeil, legte ihn auf, visierte nach der Scheibe, von der Rosamunde unterdessen das erste Geschoß entfernt hatte, zog mehrmals die Sehne zurück.

Ich staunte schon, daß sie dies überhaupt fertig brachte, die Sehne zurückzuziehen, das Pfeilende nur mit Daumen und Zeigefinger gefaßt.

Ich kannte diesen Bogen, der stärksten einer, und ich versichere nochmals, daß hierzu eine ganz außerordentliche Kraft gehörte, ohne viel Übung brachte man es auch dann nicht fertig. Aber diese Amazone brachte es fertig, konnte den Bogen sogar anscheinend mit spielender Leichtigkeit spannen.

Der Pfeil entschwirrte, wir hörten ihn aufklappen, und wir sahen, daß er gleichfalls im Zentrum stak.

Rosamunde war wieder hingesprungen.

»Zentrum! Eigentlich noch genauer!«

»Einfach Zufall!« brummte Attila und setzte sich in Bewegung, um selbst die Scheibe zu besichtigen, sein Hund hinter ihm her und wir anderen, die wir hierbei in Betracht kamen, ebenfalls.

Wir erreichten den Baum, den ersten der bewaldeten Umgebung.

Ja, die Amazone hatte noch besser geschossen, es war deutlich zu sehen. Es war ein unverletztes Holzbrett, mit Kreide geweißt, in der Mitte ein schwarzes Zentrum von 4 Zentimeter Durchmesser, und natürlich war zu sehen, wo der erste Pfeil gesteckt hatte. Fast in der Mitte, aber doch nicht so ganz genau. Das Loch war ein klein wenig mehr nach links gerückt, der zweite Pfeil hingegen stak mit der Spitze ganz, ganz genau in der Mitte.

»Einfach ein Zufall,« brummte Attila nochmals verdrießlich, »solch eine Genauigkeit gibt es nicht . . . «

»Gibst Du zu,« unterbrach ihn die Begum, »daß die Amazone besser geschossen hat als Du?«

»Ja, das gebe ich wohl zu, aber das war einfach ein Zufall, ich werde Euch einmal etwas anderes vormachen.. <

»Du bist besiegt, Du gehörst uns.

»Wuat?« machte da der Zwerg, seine Schlitzaugen weit aufreißend.

»Du bist besiegt, Du gehörst uns!« wiederholte die Begum.

Der Zwerg wandte sein bärtiges Gesicht mir zu. »Wuat sagt die?«

Na‚ wie mir zumute war! Aber das half nun alles nichts, ich mußte der Wahrheit die Ehre geben.

»Ja, Mister Attila, die Amazone hat besser geschossen als Sie, Sie sind besiegt worden, Sie müssen der Amazone folgen.«

»Wohin denn? Als was denn?«

»Zunächst auf die Galeere. Als ihr Sklave.«

»Als . . . Sklave?! Ach, machen Sie doch keine Geschichten.«

»Ja, Mister Attila, Sie kennen doch die Bedingungen.. <

»Was denn für Bedingungen?«

»Die wir gestern abend lang und breit besprochen haben. Na‚ nun stellen Sie sich mal nicht so! Sie waren doch selbst mit dabei!«

»Was geht mich denn an, was Sie mit diesen verrückten Weibern ausgemacht haben?«

»Mister Attila!« wurde ich jetzt etwas ungeduldig. »Sie kannten die Bedingungen, Sie haben eine Amazone zum Zweikampf im Bogenschießen herausgefordert —«

»Ist mir gar nicht eingefallen.«

»Doch! Sagen Sie nicht etwa, weil ich es gewesen wäre, der Ihre Gegnerin ausgesucht hätte . . . «

»Das ist ganz nevermind dabei. Aber ich habe mich hier überhaupt außer Konkurrenz produziert, ich wollte nur einmal . . . «

»Das hätten Sie gleich sagen müssen! Daß Sie nicht willens waren, unter den bekannten Bedingungen zu schießen oder sonst zu kämpfen. Dann wäre natürlich auch keine Amazone gegen Sie aufgetreten. Sie kannten die Bedingungen! Hier geht es um Freiheit oder Gefangenschaft! Sie haben geschossen, eine Amazone hat besser geschossen als Sie, Sie sind besiegt, Sie müssen als Sklave dieser Amazone hinüberfolgen! Da gibt es gar nichts zu deuteln!«

»Als Sklave dieser Amazone, lassen Sie sich doch nicht auslachen!« lachte der Zwerg selbst, wieder einmal runksig werdend.

Aber das war es nicht, was mich veranlaßte, gegen ihn Partei zu nehmen. Ich stellte mich nur auf den Standpunkt des Rechtes.

»Komm, folge mir!« sagte jetzt die Begum.

»Nein. Ich will Euch noch einmal eine Probe geben, dann will ich mich unter Umständen bereit erklären.«

»Du bist bereits besiegt! Folge mir!«

»Nein.«

»Hast Du nicht gehört, was Dein Waffenmeister gesagt hat?«

»Mein Waffenmeister? Der mag der Meister aller Teufel sein, aber meiner ist er nicht. Mich gehts nichts an, was der schwatzt.«

»Dann muß ich Dich mit Gewalt fortführen lassen.«

Es hatten sich noch eine Masse andere Amazonen eingestellt, ein Wink, einige fremde Wörter, und zwei Amazonen gingen auf den Zwerg zu, schon mit ausgestreckten Händen.

»Probierts.«

Nur dieses einzige Wort, und da war die Situation schon geschaffen, die ich hier erst beschreiben muß.

Der Zwerg stand mit dem Rücken ganz nahe jenem Baumstamme. Cäsar hatte sich schon vorher zu seinen Füßen niedergelegt. In dem Augenblick nun, da Attila dieses einzige Wort aussprach, hatte er mit einem blitzschnellen Griff über seinen Rücken den Köcher entleert, einen Pfeil auf die schon zurückgezogene Sehne gesetzt, in der linken Hand, die den Bogen hielt, hatte er noch sieben andere Pfeile, zu deren Absenden er keine fünf Sekunden brauchte, und dann hatte er gleichzeitig noch den linken Fuß auf den Rücken des Hundes gestemmt.

So stand er da, fertig zum Schusse.

»Probierts.«

Aber nur ein einziges Mal hatte er es gesagt. Ganz ruhig, man sah in seinem Gesicht auch nicht den geringsten drohenden Ausdruck, nicht in den Augen. Aber . . .

Ob die beiden Weiber nun von selbst stehen geblieben wären oder nicht — jedenfalls hatte die Begum ein indisches Wort gerufen, und sofort blieben sie stehen.

Noch muß ich bemerken, um nichts zu vergessen, daß der riesenhafte Hund ganz friedlich dalag, die Schnauze auf den Vorderpfoten und behaglich blinzelnd. Dabei aber war er bereit, sofort los zu gehen. Dieser deutsche Doggenhund mit tibetanischem Blute war durchaus nicht falsch, aber er sprang und biß ohne vorheriges Knurren und Zähnefletschen, ohne irgendwelche Warnung. Nur ein »Cäsar greift« und er schoß unvermutet wie ein Blitz auf den bezeichneten Gegner los. Er zählte kaum noch zu uns, hatte sich vollständig an den Zwerg gewöhnt, erkannte nur noch diesen als seinen Herrn an.

Die Begum, die Arme über der vollen Brust kreuzend, wandte sich mir zu.

»Liefere uns diesen Zwerg aus.«

»Das kann ich nicht.«

»Weshalb nicht? Du selbst hast bestätigt, daß ihn seine Gegnerin im ehrlichen Kampfe besiegt hat, daß auch er sich den Bedingungen unterwerfen muß.«

»Ja, das muß er, aber ausliefern kann ich ihn Euch nicht. Begum! Wäre dieser Mann einer von meinen Leuten, über die ich als Schiffsoffizier zu befehlen hätte, so würde ich ihn Dir ausliefern. Unbedingt! Und wenn er sich weigerte, so müßten sich alle meine Leute auf ihn werfen, und wenn er sie alle niedermachte, und wenn er sich verschanzte, seine Festung müßte erstürmt werden, ich würde auch den letzten Mann opfern, mich selbst, um ihn Dir auszuliefern . . . glaubst Du mir das auf mein Ehrenwort?«

»Ich glaube es Dir auch ohne Dein Ehrenwort.«

»Aber diesen Zwerg kann ich Dir nicht ausliefern. Kann nicht mit Gewalt gegen ihn vorgehen. Denn er ist unser Gast.«

»Er stehst unter den Gesetzen der heiligen Gastfreundschaft?«

»Ja.«

»Du schützest ihn auch gegen uns?«

»Nein, in diesem Falle nicht. Das ginge zu weit. Du selbst kannst ihn Dir holen, durch Deine Weiber mit Gewalt, auch von Bord unseres Schiffes Wir werden Euch nicht daran hindern. — Hören Sie, Mister Attila, was ich sage? Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders handeln.«

Unbeweglich stand der Zwerg da, den Pfeil auf dem Bogen.

»Ich weiß, daß Sie nicht anders handeln können,« entgegnete er jetzt, »als Ihnen Ehre und Gewissen vorschreibt, deshalb billige ich Ihren Entschluß, nehme es Ihnen nicht etwa übel. Aber fortführen lasse ich mich nicht. Wer mich anrührt, ist ein Kind des Todes.«

Die Begum wandte sich um. Hinter ihr, zehn Schritt entfernt, stand Rosamunde. Ihr reizendes Gesichtchen, ohne Schminke ein wirkliches Puppengesicht, schneeweiß mit rot angehauchten Bäckchen, war jetzt gänzlich weiß geworden.

»Das ist die Gattin dieses Zwerges?«

Ich bejahte.

»Ist es nicht recht und billig,« fuhr die Begum fort, »daß ich einen Bürgen dafür fordere, bis sich der Mann, den wir besiegt haben, uns freiwillig gestellt hat? Daß wir einstweilen seine Gattin mit uns nehmen?«

Schwer wäre mir die Antwort geworden, sehr schwer! Eigentlich hatte die Begum ganz recht. Anderseits verlangte sie zu viel. Ganz wie man die Sache auffaßte.

Ich sollte der Antwort enthoben werden.

Die Patronin trat vor, mit glühenden Wangen und blitzenden Augen.

»Deine Forderung, Begum, ist recht und billig!« rief sie leidenschaftlich. »Wenn dieser Mann, der durch eine Deiner Amazonen im ehrlichen Kampfe besiegt worden ist, sich den Bedingungen nicht unterwirft, die er recht wohl gekannt hat, wenn er nicht freiwillig mit Dir geht, so nimm seine Frau als Bürge mit, bis er sich Dir freiwillig gestellt hat!«

So rief die Patronin leidenschaftlich.

Ja, sie hatte recht, ganz recht.

Wohl entstand jetzt unter meinen Jungen, die herbeigekommen waren, ein Gemurmel des Unwillens, es sah etwas nach Meuterei aus, aber es kam nicht so weit, und als wir dann die Sache mit Ruhe besprachen, mußten sie alle der Patronin ganz recht geben.

Sie hatte in die Bedingungen der Wettspiele gewilligt. Es war ganz anders gekommen, als wir geahnt. Aber ohne Murren hatte sie einen nach dem anderen ihrer Leute, die ihr alle, alle ans Herz gewachsen waren, hinübergehen sehen. Wir hätten die Wettspiele doch abbrechen können. Unsere Patronin war die letzte, die da feig zurücktrat. Sie selbst war bereit, wie sie dann auch noch beweisen sollte, sich mit an den Wettspielen zu beteiligen, auf die Gefahr hin, in lebenslängliche Sklaverei zu wandern — wie kam jetzt dieser Zwerg dazu, einfach alle unsere ausgemachten Bedingungen nicht anzuerkennen? Sich auf die Hinterbeine zu setzen? Nein, das war nicht angängig, da konnte man auch noch andere Maßregeln ergreifen!

»Mister Attila, wollen Sie freiwillig mit der Amazone, die Sie regelrecht besiegt hat, auf die Galeere gehen?«

»Nein.«

»Dann ergreift seine Gattin, führt sie fort. Sie ist Eure Gefangene, bis sich Mister Attila selbst stellt.«

Dem Leser dürfte etwas auffallen.

Es war ja gar nicht nötig, dies Zwergin als Gattin fortzuführen, die konnte doch ganz aus dem Spiele bleiben.

Die Amazonen mochten sich doch den Zwerg holen, was ging denn sie wie die Patronin seine Frau an. Der Zwerg war doch hier zur Stelle.

Offenbar aber hatte es die Begum hauptsächlich auf die niedliche Puppe abgesehen, und wir anderen alle vergaßen im Drange des Gefechts die unlogische Forderung der Begum und den unlogischen Bescheid der Patronin.

»Nehmt seine Gattin mit, ich schütze sie nicht!«

Ein fremdes Wort der Begum, ein Kommando, und wieder waren es dieselben beiden Amazonen, welche sich umwandten und auf Rosemunde zuschritten.

Da aber sauste es an ihnen vorbei, der aufgeschnallte Riesenhund war es, und auf seinem Rücken saß der Zwerg. Im Nu hatte er seine Gattin erreicht, flog nur so an ihr vorüber, dabei aber sie ergreifend und das federleichte Figürchen quer vor sich auf den Hunderücken werfend.

Wohl stürzten von allen Seiten die Amazonen herbei, aber da gab es noch Lücken genug, der Hund huschte zwischen ihnen hindurch und war mit seinen beiden Reitern zwischen den Bäumen verschwunden.

Schußwaffen besaßen die Amazonen ja nicht, nur einige waren noch einige Schritte gerannt, geflogen, die Zwecklosigkeit einer Verfolgung gleich einsehend, auch wurden sie durch einen Ruf ihrer Anführerin zurückgehalten.

Die Begum schien sich nicht viel daraus zu machen, man merkte ihr wenigstens nichts an.

»Wohl, er hat sich seiner Verpflichtung durch die Flucht entzogen. Wir werden ihn dennoch bekommen.«

»Und wenn er sich uns wieder zugesellt, Ihr könnt ihn Euch abholen, auch mit Gewalt, auch von Bord unseres Schiffes, wir werden ihn nicht schützen!« sagte die Patronin, und dasselbe hätte auch ich gesagt.

»Ja, wir werden ihn uns in diesem Falle abholen.«

»Ihn Euch direkt ausliefern, das werden wir allerdings nicht. Meine Leute beteiligen sich nicht an seiner oder seiner Gattin Ergreifung.«

»Ich verstehe, ich verstehe. Du denkst gerecht, und Du wirst auch mich immer gerecht finden. Wollen wir die Wettspiele jetzt fortsetzen?«

Sie wurden fortgesetzt.

Das war aber nur der erste Teil der Episode gewesen, die wir mit dem Zwerge erlebten, es sollte noch furchtbarer kommen.


99. KAPITEL.
ZWISCHENSZENEN.

Die Wettspiele wurden fortgesetzt.

Ja, die »Spiele«.

Konnte man das etwa noch »Spiele« nennen? Was den anderen bevorstand, wußten wir ja nun schon.

Und so geschah es.

Einer nach dem anderen meiner Jungen wurde besiegt und wanderte als Gefangener, als Sklave hinüber auf eine der Galeeren.

Aber was sollten wir tun?

Daß wir jetzt noch zurücktraten, das war gänzlich ausgeschlossen.

Wie mir dabei zumute war, das kann ich nicht schildern.

Ich heulte nicht mehr vor Wut, weinte nicht mehr vor Gram und Scham. Das hatte ich nun schon längst hinter mir.

Der blinde König dreht sich um.
»Bin ich denn ganz allein?«

So konnte bald auch ich sprechen.

Nur daß ich nicht blind war.

Mit meinen hellen Augen, mit furchtbarer Deutlichkeit sah ich, wie von meinen Jungen einer nach dem anderen hinübergeführt wurde. Wer würde von den 28 Matrosen und 9 Heizern, dem alten, ursprünglichen Stamme der »Argos«, noch übrig bleiben? Voraussichtlich kein einziger! Es wurden die verwegensten Ideen ausgeheckt, um doch noch ab und zu einen Gefangenen zu befreien nein, um wieder einmal einen Sieg zu erringen, um von unserer Ehre zu retten, was noch zu retten war.

Der Bandlwurm kam zu mir.

»Mensch was willst denn Du?!« fuhr ich ihn grimmig an, nachdem er seine Absicht offenbart hatte, mit in die Konkurrenz zu treten.

Denn dieses endlos lange Laster konnte nichts weiter als Teller zerschmeißen. Er hatte während seines Aufenthaltes an Bord als Tellerwäscher schon mehr Porzellan zerbrochen, als unsere Spinde faßten, sie mußten immer wieder einmal gefüllt werden.

»Ich weiß, wie ich eine Amazone besiege. Ganz bestimmt, was ich vormache, das kann mir keine nachmachen.«

»Na was denn?!«

»Wer von den Amazonen hier dieses Taschentuch auf diesen Ast legen kann, ohne dabei zu springen, im Stehen, die Füße dürfen den Boden nicht verlassen.«

Mit diesen Worten zog der Kerl aus der Hosentasche einen entsetzlich schmutzigen Lappen hervor und legte ihn, ohne sich besonders zu recken, auf einen Baumast, der sich mehr als zweieinhalb Meter über dem Boden befand.

»Wer mir das nachmachen kann. Und das ist doch auch eine körperliche Leistung, dabei braucht man doch nicht sein Gehirn anzustrengen.«

Ich starrte den Sprecher groß an.

Wahrhaftig, der Kerl hatte Recht!

Auch insofern, als dabei der menschliche Scharfsinn nicht im geringsten angestrengt zu werden brauchte.

Und gewiß, das machte ihm keine einzige Amazone nach, keine von ihnen war auch nur zwei Meter groß, und da konnte sie noch längst nicht nach da oben hinauflangen, was unser Bandlwurm von 2,35 Meter Länge mit leichter Mühe ausführte. Gesprungen durfte also nicht werden, die Füße mußten dabei am Boden bleiben.

Aber ich ging nicht darauf ein.

Ich hätte mich geniert, der Begum so etwas vorzuschlagen, als einen Zweikampf.

Zunächst mußte ich aus vollem Halse lachen. Weiß nicht warum. Es war Galgenhumor. Ich brauchte einmal eine Erschütterung, um nicht in Verzweiflung zu fallen. Oder vielleicht war es auch ganz echter Humor. Hatte dieser Kerl dann nur gar keine andere Waffe für Einen geplanten Zweikampf, nicht irgend ein anderes Objekt als gerade diesen entsetzlich schmutzigen Lappen, den er mit dem heitersten Optimismus sein Taschentuch nannte?

Wirklich, das war es, was meine Lachmuskeln in so krampfhafte Bewegung setzte.

»Na‚ gehe mal selbst hin zur Begum, mache ihr den Vorschlag,« sagte ich dann, »vielleicht geht sie drauf ein.«

Bandlwurm schob ab.

»Aber Du brauchst nicht zu sagen, daß ich Dich geschickt habe, Du kommst allein mit Deinem Vorschlage!« rief ich ihm noch nach.

Denn wirklich, ich selbst hätte mich geniert, den Amazonen diesen Vorschlag zu machen.

Bandlwurm hatte die Begum bald gefunden. Sie kam ihm gerade entgegen, und so geschah es, daß die Auseinandersetzung noch in meiner Nähe stattfand, daß ich alles verstehen konnte.

Zunächst sprach nur Bandlwurm auf Englisch, setzte auseinander, was er wollte.

Und da geschah wieder etwas, daß ich die krampfhaftesten Anstrengungen machen mußte, um nicht laut aufzulachen.

Plötzlich wich die Begum entsetzt zurück.

Bandlwurm hatte nämlich sein Taschentuch wieder eingesteckt gehabt, und der blieb bei diesem Objekt, fand in seinem Bandwurmgehirn kein anderes, zog wiederum den Fetzen aus der Hosentasche, als gebe es aus der Welt nichts weiter, was man dort auf jenen Baumast legen könnte.

Nun befand sich aber die Hosentasche dieses menschlichen Riesenwurmes in der Brusthöhe eines anderen normalen Menschen, und Bandlwurm brauchte nur leicht den Unterarm zu heben, so hatte die Begum den schmierigen Lappen direkt vor der Nase.

Das war es gewesen, weshalb sie geradezu entsetzt zurückgefahren war. Wozu sie ja auch allen Grund hatte.

Man verlange nicht von mir, daß ich dieses sogenannte »Taschentuch« beschreiben soll. Es war fürchterlich, was der Kerl da in seiner Tasche mit sich herumschleppte, was der mit diesem Lappen schon alles abgewischt haben mochte!

Dieses erschrockene Zurückfahren der Begum war das erste gewesen. Es sollte aber noch besser kommen.

»Was sind Sie?« hörte ich sie jetzt fragen, und zwar auf Englisch, wie sie noch mit halbzurückgeneigtem Leibe dastand. »Matrose oder Heizer?«

Der Riese klappte die Hacken seiner ungeheuren Plattfüße zusammen und richtete sich noch höher empor.

»Tellerwächter an Bord der »Argos«!« meldete er militärisch.

Und da sehe ich, wie die Begum, noch so halb abgewendet mit zurückgeneigtem Oberkörper stehend, den noch immer vorgehaltenen Lappen betrachtet — und da sehe ich, wie sie in ganz eigentümlicher Weise den Mund verzieht, ein ganz schiefes Maul macht.

Und da drehte ich mich schnell um, um etwas recht Trauriges zu sehen, wie meine Jungen besiegt und abgeführt wurden, denn da konnte einem das Lachen doch vergehen.

Jetzt war es die Begum, die mich aufsuchte.

»Monsieur maitre des armes! Da war soeben einer Deiner Leute bei mir, ein sehr langer Riese — dort läuft er ja noch! — Der machte einen Vorschlag, den kann ich doch unmöglich annehmen!«

»Selbstverständlich nicht, selbstverständlich nicht!« beeilte ich mich zu versichern.

»Du weißt, wie er seine Körperlänge benutzen wollte, um . . . «

»Ich weiß, ich weiß, er war erst bei mir, aber ich sagte ihm gleich, daß . . . «

»Das ist doch kein ehrliches Kampfspiel . . . «

»Die Sache ist erledigt, Begum, die Sache ist erledigt!«

Wir trennten uns wieder, ich ganz schamerfüllt.

Das war der erste Fall gewesen, da so ein sonderbares Mittel gewählt wurde, um für uns zu retten, was noch zu retten war. Der zweite Fall folgte sofort hinterher.

Fabs näherte sich mir, schüchtern wie immer. Mister Balduin Fabian, unser Bordlehrer für die Kinder. Einfach unser Fabs. Er war noch ganz derselbe. Seine Nase war ihm noch nicht gewachsen, noch immer wunderte man sich, wie auf diesem Fragment von einer Nase der Brillensteg einen Halt finden konnte, noch immer sah er verhungert aus, und dabei kaute er noch immer, sobald er sich unbeobachtet glaubte. Im übrigen ein guter Mensch! Und ein tüchtiger Lehrer und Pädagoge dazu. Das war aber auch alles, was er konnte, die Kinder unterrichten. Höchstens noch, daß er sich dadurch nützlich machte, an Bord auf Insektenreinheit zu halten. Er untersuchte immer die Hunde und die anderen Tiere unserer Menagerie auf Flöhe. Das war sein Steckenpferd, seine Liebhaberei in den Mußestunden. Ach, war das Schulmeisterlein glücklich, wenn es einmal einen Floh entdeckte und ihn haschen konnte.

Als er den letzten Bissen verschluckt, hatte er mich erreicht. Oder es war auch nicht nötig, daß er ihn verschluckt hatte. Fabs verstand die Kunst, hatte sie sich durch jahrelange Übung angeeignet, einen ganzen Kloß im Munde zu behalten, ohne daß man etwas davon merkte, nichts von geschwollenen Backentaschen. Er mußte sich hinten in der Kehle ein besonderes Futteral angeschafft haben. Ein ganzes hartgekochtes Ei fand darin Platz, das hatte ich einmal konstatiert. Und so konnte er auch noch sprechen. Nur mit ein klein wenig belegter Stimme.

»Herr Waffenmeister,« begann er schüchtern, »ich möchte einen Gefangenen befreien.«

»Sie?!« konnte ich vorläufig nur erstaunt hervorbringen, nicht gerade sehr artig.

Aber was wollte der denn diesen Athletinnen vormachen, wenn alle geistigen Kämpfe ausgeschlossen waren? Etwa einen Kartoffelkloß in den Mund nehmen und dann noch klar und deutlich das Vaterunser beten? Oder erst einen Pudelhund im ätzenden Seifenwasser baden und dann noch in seinem Felle einen lebendigen Floh auftreiben?

»Ich glaube, ich kann eine Amazone besiegen.«

»Ja womit denn, wodurch denn, mein lieber Fabs . . . mein lieber Herr Fabian, wollte ich sagen.«

»Indem ich sie herausfordere, mir das nachzumachen, was ich ihr vormache.«

»Ja ja.«

»Es dauert aber etwas lange.«

»Ach darauf käme es nicht an, Zeit haben wir genug.«

»Es dauert vier . . . «

Er hatte es wohl ausgesprochen, aber ich hatte es nicht verstanden, er hatte gerade einmal geschluckt.

»Vier ganze Stunden würde der Wettkampf dauern?«

»Vier Wochen.«

Ich reckte meinen Hals vor, glaubte nicht richtig gehört zu haben.

»Vier ganze Wochen?!«

»Vier ganze Wochen. Es dürfte sich auch in drei Wochen machen lassen, schon in zwei Wochen, aber bei vier Wochen bin ich meiner Sache ganz sicher, das macht mir keine Amazone nach.«

Ich durfte meinen Hals wieder zusammenziehen, ich hatte richtig gehört.

»Vier ganze Wochen soll der Zweikampf dauern?« fragte ich nur nochmals.

»Vier ganze Wochen.«

»Ununterbrochen?«

»Ja freilich, unterbrochen werden darf er doch nicht.«

»Doch nicht etwa auch des Nachts?« scherzte ich.

»Gewiß doch, da macht die Nacht doch gar keinen Unterschied.«

»Ja mein lieber Fabs — Herr Fabian, wollte ich sagen was ist denn das nur für eine Art von Zweikampf, der vier ganze Wochen ununterbrochen Tag und Nacht währt?«

»Ich kann hungern. Ich kann vier Wochen lang hungern, ohne einen Bissen zu essen.«

Ach soo!

»Haben Sie denn schon einmal so lange gehungert?« fragte ich zunächst, und es interessierte mich wirklich, weil man diesen Schulmeister ja sonst nur fortwährend kauen sah.

»Jawohl. Vier ganze Wochen. Nur Wasser durfte ich trinken.«

»Freiwillig?«

»Ganz freiwillig.«

»Sie produzierten sich als Hungerkünstler?«

»Nein, das eigentlich nicht.«

»Um sich von einer Krankheit zu kurieren?«

»Ich war so kerngesund wie jetzt.«

»Sie hatten kein Geld, um sich zu ernähren, und schämten sich zu betteln?«

»Ganz im Gegenteil, ich hatte 6000 Mark geerbt.«

»Und da fingen Sie freiwillig zu hungern an?«

»Ja, um dieses Geld am besten anzulegen.«

»Na‚ wissen Sie was, Herr Fabs, nun erzählen Sie mir mal diese ganze Geschichte ausführlich, sonst drehen wir uns weiter so in Rätseln herum. Zeit haben wir ja genug.«

Er erzählte.

Schade, daß ich es schriftlich nicht so wiedergeben kann, wie er es tat‚ so bescheiden, so schüchtern, so melancholisch lächelnd dabei, immer alle Welt um Entschuldigung bittend, daß er überhaupt geboren war. Es würde nie wieder passieren.

Herr Balduin Fabian, damals noch in Deutschland wirkend, war Hauslehrer bei einer begüterten, kinderreichen Familie gewesen, als ihm durch Erbschaft 6000 Mark zugefallen waren. Die Familie hatte vegetarisch gelebt, der Hauslehrer war zum Vegetarismus bekehrt worden und machte, wie es da immer im Anfange ist, mit fanatischem Eifer Propaganda für die naturgemäße Lebensweise.

Nun waren dem armen Schlucker plötzlich 6000 Mark in den Schoß gefallen. Was nun tun? Seine ideale Überzeugung, daß der Mensch von der Natur dazu bestimmt ist, Heu und anderes Gemüse zu fressen, wurde durch den Mammon nicht im geringsten erschüttert. Im Gegenteil, jetzt hatte er die Machtmittel in Händen, um noch ganz anders als Apostel für den Vegetarismus zu wirken. So viel es auch in Deutschland schon vegetarische Zeitschriften gab, so fehlte es seiner Meinung nach doch noch an der richtigen.

Also Herr Balduin Fabian gründete eine neues vegetarische Zeitschrift. Zweimal wöchentlich sollte sie erscheinen, später hoffentlich täglich. Wie die nun am besten und schnellsten einführen?

Eigentlich war es gar kein so übler Gedanke, den Herr Balduin Fabian da ausgeheckt hatte. Es war ein Geschäftstrick, der einem echten Yankee Ehre gemacht hätte.

Zur naturgemäßen Lebensweise gehört auch — wenigstens nach Ansicht der Vegetarier, Kaltwasserhelden und ähnlicher Geister — daß der Mensch ab und zu fastet, hungert. Gleich einmal tagelang. Das soll sehr gesund sein. Vielleicht haben sie recht. Mir bekommt es nicht. Ich bekomme davon immer so eine Leere im Magen. Doch die Körperkonstitutionen sind eben verschieden, und die Einbildung macht viel. Ich bilde mir ein, wenn ich einmal unfreiwillig hungern muß, daß ich davon schwach werde, und dann ist das eben nicht meiner Gesundheit dienlich. Ebenso wie ich auch ein Rumpsteak von nur einem Viertelmeter Länge einer ganzen Fuhre Heu vorziehe, und wenns auch die delikateste Sorte wäre.

Also der reiche Herr Balduin Fabian ging hin zu einem Äskulapjünger, auch Arzt genannt.

»So und so, Herr Doktor, ich möchte einmal vier Wochen lang fasten, absolut hungern. Oder so lange wie ich kann. Und wenns ein halbes Jahr ist. Wollen Sie mich dabei beobachten? Immer kontrollieren? Meine Atmung, meinen Herzensschlag, Gewichtsabnahme und so weiter?«

Ei gewiß, da war der Arzt sofort dabei! Er hatte eine eigene Klinik, da sperrte er den freiwilligen Hungerkünstler als Versuchskaninchen mit hermetischem Abschluß ein, und die Geschichte ging los.

Wirklich, es war ein ganz geschickter Geschäftskniff! Denn natürlich gab der Hungerkünstler unterdessen seine Zeitung heraus. Noch ehe er die Kur antrat, erschien schon die erste Nummer, die er zusammengeschrieben, sie kündigte sein Hungerexperiment an, die nächste Nummer brachte schon das Resultat der ersten Tage, Gewichtsabnahme, allgemeines Befinden, üble Zu— und Anfälle, Pulsabnahme, was für Kraftleistungen er ausführte, zum Beispiel indem er aller zwei Stunden eine Handquetsche zusammendrückte, auch Rechenexempel mußte er lösen, um die Wirkung des Hungers auf das Gehirn zu kontrollieren, wie er in der zweiten Nacht von Gras und Disteln geträumt hatte, in der dritten Nacht aber schon von himmlischen Dingen, denen sich in der vierten Nacht nur leider ein in Brotteig gebackener Schinken beigemischt hatte und so weiter, das wurde alles ganz gewissenhaft berichtet, die Wahrheit von dem berühmten Arzt notariell beglaubigt. Bis auf den Schinken in Brotteig. Die Träume konnten nicht kontrolliert werden, da mußte man sich auf die Ehrlichkeit des Hungerkünstlers verlassen.

Natürlich wurden die sensationellen Berichte über diese Hungerkur von aller Welt mit wahrem Heißhunger verschlungen. Also die Zeitung wurde in zehntausenden von Exemplaren verkauft.

Das heißt, so meinte Herr Balduin Fabian in seiner Hungerzelle, so hoffte er wenigstens!

Schon in der dritten Woche merkte er, doch immer in voller Redaktions— und Expeditionstätigkeit, daß die Sache schief ging. Die Herausgabe und Einführung solch einer neuen Zeitung kostet doch ein Heidengeld, und die Abonnenten blieben aus.

Und als Herr Balduin Fabian den 28. Hungertag beendete, da hatte er in seinem Geldhafen, auf Französisch Portemonnaie genannt, keinen einzigen Pfennig mehr, um sich einen Zwieback oder eine halbe harte Semmel zu kaufen, da hatte er auch schon große Schulden aufgehäuft, alle seine Habseligkeiten waren bereits von Gläubigern gepfändet worden, und außerdem präsentierte ihm der edle Arzt, mit dem er vorher weiter keine Abmachung genossen, auch noch eine Rechnung über 800 Mark, für vierwöchentliche Behandlung in seiner Klinik unter ständiger Aufsicht!

So hatte mir unser Bordlehrer jetzt erzählt.

Und wie er dies nun erzählt hatte! Mit so wehmütiger Heiterkeit.

Ei Du heiliges Kanonenrohr!

Da soll man nun nicht vor Lachen losplatzen!

Erbt das arme Schulmeisterlein 6000 Mark und weiß damit nichts anderes anzufangen, als sich einsperren zu lassen und vier ganze Wochen zu hungern, und wie er damit fertig ist, da ist sein Geld alle!

Für diese 6000 Mark hätte er eine Million Schiffszwiebäcke bekommen, erste Sorte durchstochen, da wäare er für sein ganzes Leben verproviantiert gewesen, hätte bis zu seinem hundertsten Jahre nie wieder zu hungern brauchen. Oder hätte er dieses ganze Geld auf einmal verhaun, nur an einem einzigen Tage den fünfzigfachen Millionär gespielt, hätte gebratene Kanarienhähnchen gespeist, echte Harzer Roller, oder als Vegetarier in Rosenöl gebackene Orchideen mit Vergißmeinnichtsauce, dann hätte er von seinen 6000 Mark doch wenigstens etwas gehabt, eine schöne Erinnerung!

Nein, muß das Kerlchen achtundzwanzig Tage hungern, um sein ganzes Geld verlieren zu können!

Soll man da nicht lachen?

Nein, ich lachte nicht.

Obgleich ich den Humor dabei recht wohl empfand.

Aber ich betrachtete die ganze Sache auch von einer anderen Seite.

Natürlich . . . wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.

Das ist ein ganz hundsgemeines Sprichwort, ein hundsgemeiner Kerl, der ihm huldigt!

Die Sache war eben schief gegangen.

Wenn sie aber nun geglückt wäre? Wenn er die Zeitung glänzend eingeführt hätte? Dann wäre Herr Balduin Fabian heute ein reicher Zeitungsverleger und würde wegen jenes Hungertricks als genialer Geschäftsmann bewundert werden.

So ist die Welt!

Zu dieser Welt möchte ich nicht gehören.

Und da ich ihn nicht verspottete, hätte ich wenigstens herzlich lachen dürfen, wozu ich ja allerdings auch die größte Lust hatte, aber ich tat es nicht, bezwang mich, um den armen Kerl nicht zu kränken.

»Und was geschah nun weiter?« fragte ich teilnahmsvoll.

»Ich hatte wirklich keinen Pfennig in der Tasche, der Arzt warf mich einfach hinaus, als ich sagte, daß ich seine Rechnung nicht bezahlen könne, und meine Wohnung und die Geschäftsräume der Zeitung fand ich schon versiegelt. Obgleich ich wirklich gar keinen Hunger hatte, sagte ich mir doch, daß ich jetzt unbedingt etwas essen müsse, eine ganz leichte Speise. Betteln kann ich nicht, wußte niemand, der mir aushelfen könnte. Schon wollte ich meine Weste verkaufen, als ich zufällig in einem ausgehängten Zeitungsblatte las, daß für eine Privatschule sofort ein Elementarlehrer gesucht würde. Ich sofort hin

»Fühlten Sie sich denn nach der vierwöchentlichen Hungerkur nicht ungemein schwach?« mußte ich erst einmal fragen.

»Ja und nein. Wie mans nimmt. Ich hatte ja allerdings oftmals böse Anfälle von Schwäche gehabt, aber das war überstanden. Zur Zeit fühlte ich mich gerade sehr kräftig und elastisch. Das sind freilich anormale Zustände, eine Überspannung, die sich später bitter rächt. Ich stellte mich vor, erzählte gleicht ganz offen, wer ich war und was ich durchgemacht hatte. Man lachte. Aber die Hauptsache war doch dem Direktor, daß ich für den mir gebotenen Hungerlohn bereit war, die angebotene Lehrerstelle zu übernehmen. Also Elementarfächer. Und außerdem mußte ich Turnstunden geben. Ob ich turnen könnte. Jawohl, das konnte ich. Ich sollte gleich etwas vormachen. Daß ich vier Wochen lang keinen Bissen über die Lippen gebracht hatte, schien der Herr Direktor ganz vergessen zu haben. Und da machte ich am Reck den Bauchaufschwung, was dem Herrn Direktor vollständig für meine Legitimation als Turnlehrer genügte. Sie wissen doch, Herr Waffenmeister, daß ich den Bauchaufschwung kann.«

Ja das wußte ich. Herr Balduin Fabian war sonst ein sehr schwacher Turner, beteiligte sich auch nicht an unseren athletischen Übungen, aber den Bauchaufschwung konnte er, worauf er sehr stolz war.

»Und da machten Sie den Bauchaufschwung?«

»Jaaa, da machte ich den Bauchaufschwung!« seufzte der Pädagoge verschämt, mit seitwärts geneigtem Kopfe. »Obgleich ich so etwas wie einen Bauch doch gar nicht mehr hatte. Jaaa, da machte ich am Reck den Bauchaufschwung. Und da war ich engagiert. Mußte gleich zwei Unterrichtsstunden abmachen. Dann bekam ich mein Mittagsessen vorgesetzt. Eine Scheibe Kommisbrot mit kaltem Käse. Kaltes Mittagsessen meinte ich. Die Lehrer in dieser Anstalt aßen erst des Abends warm, was die Pensionäre vom Mittag übrig gelassen hatten.«

Ach Du heiliger Klabautermann!

Eine Scheibe Kommisbrot mit kaltem Käse! Wie das herausgekommen war!

Da allerdings platzte ich los, und niemand konnte es mir verübeln.

»Ja, Herr Waffenmeister,« fuhr er dann eifrig fort, »und nun erbiete ich mich, solch seine vierwöchentliche Hungerkur noch einmal durchzumachen. Ich weiß, daß ich dazu imstande bin. So eine Amazone soll es gleichzeitig mit mir tun. Und zwar schlage ich vor — wenn es auch nicht gerade edel ist — wir wählen eine recht dicke aus. Die verträgt das Hungern am allerwenigsten, kommt mindestens dabei ganz von Kräften. Und dann, wenn wir fertig sind, am 28. Tage, soll jeder einen Bauchaufschwung machen. Ich garantiere, daß ich ihn fertig bringe, während ich es stark von der einst dick gewesenen Amazone bezweifle. Und ich werde das selige Gefühl genießen, einem bedauernswerten Sklaven die Freiheit zurückgegeben zu haben.«

Ich lachte noch immer, stärker als zuvor. Denn jetzt stellte ich mir im Geiste vor, wie sich die beiden gegenübersaßen, der klapperdürre Schulmeister und die dicke Inderin, und sich gegenseitig anhungerten, vier ganze Wochen lang. Und wie sie dann den Bauchaufschwung probierten. Und zu welchem Zwecke diese vierwöchentliche Hungerkur? Wegen solch einer menschlichen Fettkugel!

Sein Angebot mußte natürlich abgelehnt werden. Ich hätte doch gar nicht gewagt, es der Begum vorzutragen. Ich sagte es ihm mit schonenden Worten, mit Worten des Dankes für seine edle Opferwilligkeit. Schüchtern und linkisch wie er sich mir genaht, ging er wieder von dannen, zog gleich nach den ersten Schritten hinten aus der Schößentasche seines Bratenrockes ein Taschentuch hervor, putzte sich die Nase, aber das war nur Nebenzweck, die Hauptsache bestand darin, daß er, wie wir alle recht wohl wußten, wenn man es auch nicht bemerkte, gleichzeitig ein Stück Hartbrot in den Mund schob.

Der arme Kerl litt eben an zurückgetretenem Hunger, an ewigem Heißhunger. Um an der gemeinschaftlichen Tafel besondere Leistungen zu zeigen, dazu war er zu schüchtern. Oder er konnte vielleicht gar nicht größere Portionen essen, es war wirklicher Heißhunger, der ihn immer plagte, das ist eine ganz ernst zu nehmende Krankheit, deshalb mußte er immer kauen, was er natürlich seinem Charakter nach dem stillen Veilchen gleich im Verborgenen tat, war so bescheiden, sich mit Hartbrot zu begnügen. Trotz alledem oder vielleicht gerade deshalb konnte er recht wohl zum Hungerkünstler befähigt sein, viel mehr als ein normaler Esser.

Übrigens zeigte es sich bald, daß die Begum auch einmal eine Herausforderung zum Zweikampf abschlagen konnte, wenn der Gegner durch eine besondere Befähigung des Körpers ihren Amazonen gar zu sehr überlegen war.

Kaum war der Lehrer fort, als Gruh mit Riesensätzen angesprungen kam.

Wer das war? Wenn ich ihn Känguruh nenne, würde ihn der Leser gleich wieder erkennen. Jim Snyder, das menschliche Känguruh. Eine ganz regelrechte Mißgeburt, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf, indem er einbeinig geboren war, und zwar nicht mit einem Beinstummel, sondern sein einziges Bein, das weder eine Eigentümlichkeit des linken noch des rechten aufwies, saß mitten unter dem Rumpfe, sonst war es normal, hatte aber keinen Fuß, nur eine Art von kleinem Huf, und es war nicht nötig, daß er darunter eine breitere Gummiplatte trug, er konnte auch so darauf springen und sogar stehen, mußte dann allerdings sehr balancieren, fiel leicht um, wenn er eben nicht immer sprang, so daß er für gewöhnlich doch eine breitere Platte daran befestigt hatte.

Ich muß über unseren Gruh, wie wir ihn abgekürzt nannten, noch etwas ausführlicher sprechen, weil er noch eine Hauptrolle spielen wird, von jetzt an.

Der einstige Knabe hatte sich zum Jüngling entwickelt. Er war schon immer ein stiller, verschlossener Charakter gewesen, und er war es immer mehr geworden. Es war mit ihm überhaupt ein großes Rätsel verknüpft. Geistig ganz normal entwickelt, sogar ein höchst intelligenter Junge, schien er doch wie unter fremden, unkontrollierbaren Einflüssen zu stehen. Auch er hatte sich nach meinem Rezept mächtig trainiert, war mit immer schwereren Gewichten gesprungen. Dieses Rezept ist ja so überaus einfach, aber bei seiner früheren Ausbildung war es doch nicht angewandt worden. Übrigens bestand das Ei des Kolumbus, das ich gelegt hatte, auch nicht darin, daß man das Gewicht, welches man heben will oder sonstwie zum Training als hindernden Ballast gebraucht, ab und zu um einige oder auch nur um ein Pfund vermehrt, sondern um die alltägliche Zunahme von nur wenigen Gramm, dies aber nun auch ganz konsequent durchgeführt! Ich werde gleich nachher noch einmal davon sprechen, was hierdurch selbst der schwächlichste Mensch für außerordentliche Kraftleistungen erzielen kann.

Schier fabelhaft war es, was dieses Einbein im Hochsprung, Weitsprung und Schnellauf leistete. Er schlug darin jeden zweibeinigen Weltrekord. Manchmal schien es für ihn gar keine Grenzen zu geben. Mit 20 Pfund auf den Schultern belastet, sprang Gruh noch zwei Meter hoch. Dann hätte er ohne Gewichte doch wenigstens einen Viertelmeter höher springen müssen. Aber da irrte man sich eben. Er schnallte die Gewichte ab — und konnte nicht mehr über einen Stuhl springen. Und so war es in allem. Seine Leistungen waren unkontrollierbar. Manchmal rannte er mit einem Windhunde um die Wette, manchmal konnte er auf seinem Beine kaum noch langsam hüpfen. Ob Gewichte oder nicht, das war dabei ganz gleichgültig. Er selbst vermochte nicht zu sagen, woher das käme. Nicht etwa, daß er in seinem KlumpfuBe Schmerzen gehabt hätte. Körperlich war er vollständig disponiert. Es waren seelische Einflüsse, denen er unterlag.

Das war übrigens auch schon im Zirkus des Direktors Smetani so gewesen, der das einbeinige Kind erst gekauft und ausgebildet hatte. Das Auftreten des menschlichen Känguruhs in der Manege war stets ein Risiko gewesen. Der kleine Jim konnte plötzlich total versagen, und da war nichts dagegen zu machen.

Das aber hatte sich geändert, als das Zwergehepaar zu dem Zirkus gekommen war. Rosamunde war es, die den geheimen Einfluß ausübte, in ihrer Gegenwart war Jim stets zu seinen Höchstleistungen befähigt.

Das war nach und nach entdeckt worden, denn Jim hatte es natürlich nicht gestanden — nämlich, daß er zu der menschlichen Puppe in Liebe entbrannt war. Denn um weiter nichts handelte es sich dabei.

Und so blieb es auch bei uns an Bord. Zwischen den beiden bestand ein Liebesverhältnis, freilich ein ganz einseitiges, außerdem ein ganz harmloses, ein platonisches, in dieser Hinsicht auch nicht nur einseitiges, und ein ganz rührendes dazu. Merkwürdig war es ja genug. Der einbeinige Jüngling drückte seine innige Liebe für die reizende, lebendige Puppe nur dadurch aus, daß er stundenlang dasitzen und sie anstarren konnte. Nicht einmal mit verzückten Augen, sondern eben nur mit starren. Wie er überhaupt etwas Starres, Regungsloses an sich hatte. Und nicht einmal an Aufmerksamkeiten dachte er. Wenn Rosamunde etwas fallen ließ, so fiel es ihm gar nicht ein, hinzuspringen und es ihr aufzuheben. Das ließ sich schließlich noch begreifen. Er war eben so in Bewunderung der Puppe versunken, daß er so etwas gar nicht merkte. Aber auch nicht etwa, daß Gruh vor ihrer Kabinentür schlief, so weit ging die Romantik nicht, und nicht einmal, daß er für sie auch nur ein Blümchen pflückte. Die ganze Anbetung bestand nur in einem stummen Anstarren. Auch nicht, daß er errötete, wenn sie ihn ansprach. Antworten tat er freilich auch nicht. Er war immer ganz in ihrer Betrachtung versunken. Und dann eben, daß das menschliche Känguruh in Gegenwart der Zwergin immer zu seinen Höchstleistungen befähigt war. Wenn er wußte, daß die Augen seiner Angebeteten auf ihm ruhten, so schienen an seinem Beine geradezu Schwingen zu wachsen. Und wenn er merkte, daß sie ihn nicht mehr beobachtete, so verließ ihn plötzlich alle Kraft und Elastizität, er verwandelte sich in einen einbeinigen Krüppel. Was aber nicht so ganz buchstäblich ist, etwa als hätte ihn nur ihr Blick hypnotisiert. Auch ohne ihre Gegenwart war er manchmal zu außerordentlichen Leistungen befähigt, und dann brauchte er auch nur zu wissen, daß er etwas im Interesse seiner Angebeteten tat, wenn es einmal etwas für sie zu holen galt, dann machte er Sätze von vier Meter Länge, sprang auch über Gräben von sechs Meter Breite und über Hecken von zwei und noch mehr Meter Höhe.

Der Zwerggatte duldete dieses Verhältnis. Wenn es da überhaupt etwas zu dulden gab. Es war ja durchaus harmlos. Ja und doch, Mister Wenzel-Attila hätte eifersüchtig sein können. Er war es nicht. Er war ein Gentleman und überhaupt im Grunde genommen ein guter Mensch und ein einsichtsvoller dazu. Die drei hatten sich überhaupt vollkommen aneinander gewöhnt, gehörten zusammen. Das war schon damals im Zirkus so gewesen. Wenn uns der Hundereiter einmal verlassen würde, um wieder selbständig seinem Artistenberufe nachzugehen, so würde auch das menschliche Känguruh ihn begleiten.

Als vorhin der Zwerg mit seiner Gattin geflohen, war mir der Gedanke sofort durch den Kopf geschossen, was Gruh dazu sagen würde, aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, weiter daran zu denken.

Dann war ja gleich Simson mit seinem Vorschlage gekommen, dann der Bandlwurm dann der Hungerkünstler, und diese Zwischenepisoden hatte ich nur als günstige Gelegenheiten aufgefaßt, um meine verzweifelte Stimmung zu zerstreuen, denn auch sonst dachte ich ja an alles andere als wie daran, wie das menschliche Känguruh das Verschwinden seiner Angebeteten auffassen würde.

Da gestern abend Mister Attila mit aller Entschiedenheit erklärt hatte, sich an den Wettkämpfen nicht zu beteiligen, so war das auch von Gruh von vornherein ausgeschlossen gewesen. Er war heute früh, wie auch das Zwergehepaar, an Bord des Schiffes geblieben, wie überhaupt alle, die sich nicht an den Wettspielen beteiligten oder nicht ganz besonderes Interesse daran hatten. Denn wegen der Nähe der Amazonen hatten wir unser Hauptquartier doch lieber aufs Schiff verlegt, die Hunde als Wächter konnten doch einmal versagen. Es mußten wenigstens einige Menschen an Bord anwesend sein. Das waren der erste Steuermann, die beiden Maschinisten, der Zimmermann, Vater Abdallah, seine Töchter und Dienerinnen und noch einige andere. Lord Harlin zum Beispiel grübelte gerade über ein Schachproblem nach, das ließ sich der durch nichts stören, Doktor Isidor schlief seinen gestrigen Rausch aus.

Das Zwergenpaar hatte das Schiff verlassen, ohne etwas von seiner Absicht zu sagen, sonst wäre Gruh ganz sicher sofort mitgekommen.

Jetzt erst mochte er das Resultat erfahren haben, jetzt kam er angesetzt, schon mehr geflogen als gesprungen, und zwar wie immer, wenn er seine ganze Kraft entwickeln wollte, ohne an den Klumpfuß geschnallte Gummiplatte.

Mit dem letzten Satze von mehr als vier Meter Länge wurzelte er vor mir im Boden.

»Mister Attila und Rosamunde sind auf dem Cäsar geflohen?«

Ganz ruhig hatte er es gefragt, so war auch sein Gesicht.

Es war ein hübsches, gesundes, männliches Gesicht mit schwarzem Flaumbärtchen, aber etwas merkwürdig Starres, Ehernes lag darin, und es blieb immer dasselbe. Dieser Jüngling konnte nicht lachen und nicht weinen, nicht erblassen und nicht erröten. Und wenn er stundenlang gehetzt war, sein Atem und sein Puls ging nicht im geringsten schneller, kein Schweißtropfen und gar nichts. Grund zu einer besonderen seelischen Erregung hatte er bei uns an Bord wohl noch nicht gehabt, aber ich wußte schon, daß auch eine solche keine Verwandlung bei ihm hervorgebracht hätte. Aber ich ahnte auch, daß dieser Jüngling nicht etwa ein seelenloser Stockfisch war, sondern . . . hier hatte die Natur einmal einen gewaltigen Charakter geschaffen, einen geborenen Helden, der, wenn er wollte, die ganze Welt besiegt zu seinen Füßen niederlegte, noch einen ganz anderen Charakter als einen Napoleon, aber die Natur hatte ihm das zweite Bein mitzugeben vergessen, und so war er unter die Artisten geraten, war das menschliche Känguruh geworden.

Jetzt, jetzt hätte er seelisch furchtbar erregt sein müssen!

Keine Spur davon. Nur eine sachliche Frage, höflich gestellt.

»Sie haben es gehört?«

»Der zweite Steuermann hat mir soeben alles erzählt. Ich weiß alles, kenne die Bedingungen. Sie erlauben doch, Herr Waffenmeister, daß auch ich jetzt in die Konkurrenz trete, für Mister Attila. Wenn ich siege, so ist er also frei. Seine Gattin kommt ja gar nicht weiter in Betracht.«

»Wenn Sie dies vorhaben, so verraten Sie, daß Sie die Bedingungen doch nicht genau kennen.«

»Inwiefern nicht?«

»Wer einmal besiegt ist, ist besiegt, muß als Gefangener hinüber und kann nicht wieder zurückerobert werden.«

»So?« erklang es ganz ruhig. »Das habe ich allerdings nicht gewußt.«

Ich setzte es ihm noch einmal auseinander.

»Kann da nicht einmal eine Ausnahme stattfinden? Vermögen Sie es nicht zu arrangieren, Herr Waffenmeister?«

Der Junge tat mir in tiefster Seele leid. Gerade weil ich am besten wußte, wie es trotz seiner Gleichgültigkeit in seinem Innern stand.

»Es tut mir herzlich leid, aber daran ist nichts zu andern, es ist unmöglich. Sie können nur zum Zweikampf antreten, wenn Sie einen jener weißen oder roten Gefangenen befreien wollen . . . «

Da trat die Begum heran, die sich hinter meinem Rücken uns genähert hatte, sie mußte alles gehört haben, wie sie auch schon das Einbein hatte herbeispringen sehen, dabei einmal seine fabelhaftesten Sätze entwickelnd.

»Sie wollen eine meiner Amazonen zum Zweikampf herausfordern?«

»Ja. Wenn ich dadurch Mister Attila befreien kann.«

»Ich habe Ihre Absicht gehört — das ist ausgeschlossen. Sie würden springen oder laufen?«

Gruh bejahte, vielleicht doch noch eine Hoffnung habend.

»Nur auf einem Beine?«

Es war eine recht merkwürdige Frage, der arme Kerl hatte doch nur eines, das andere konnte er doch nicht etwa einstweilen in die Tasche gesteckt haben, das war doch deutlich genug zu sehen, aber es war eben nur eine Einleitung gewesen, um den Krüppel in anständiger Weise weiter befragen zu können.

»Ich bin nur mit einem Beine geboren.«

Ich betone nochmals, daß auch ganz deutlich zu sehen war, wie ihm dieses eine Bein unten mitten am Rumpfe angewachsen war.

»Nein, in diesem Falle gebe ich nicht meine Genehmigung, daß sich dieser Mann an den Wettspielen beteiligt!« wandte sich die Begum an mich. »Ich würde es auch dann nicht tun, wenn er ein Bein durch Amputation verloren hätte. In diesem Falle sind die Waffen doch gar zu ungleich. Und das wäre auch der Fall, wenn eine Amazone mit beiden Füssen laufen oder springen dürfte. Es ist hin wie her. Dieser einbeinige Mann darf keine Amazone zum Wettkampf herausfordern. Halten Sie meine Weigerung für billig und recht, Herr Waffenmeister?«

Ja, das tat ich. Sonst hätte auch unser arabischer Schiffszimmermann sein Holzbein absägen und verlangen können, eine Amazone solle ihm das einmal nachmachen.

Die Begum entfernte sich wieder. Aber diese Angelegenheit war noch nicht erledigt. Gruh vertrat oder vielmehr versprang ihr den Weg.

»Sie wünschen noch?«

»Nehmen Sie mich für Mister Attila als Sklaven an.«

»Für den Zwerg? Nein. Er gehört uns, und kein Gefangener wird ausgetauscht.«

»So nehmen Sie mich statt seiner Gattin als Bürgen an, bis er sich freiwillig gestellt hat.«

»Nein, auch das nicht. Seine Gattin ist uns als Bürge zugesprochen worden, und dabei bleibt es.«

Auch die Begum wußte mit einer Entschiedenheit zu sprechen, daß man sofort merkte, wie jedes weitere Wort vergebens war.

Gruh hüpfte wieder dem Quartier zu.

Bald darauf, während ich mich mit anderen Dingen zu beschäftigen gehabt hatte, es waren auch erst wenige Minuten vergangen, sah ich das menschliche Känguruh wieder über den freien Platz hüpfen, dem Walde zu, dort bückte er sich, und alsbald erscholl ein dünnes Hundegekläff, etwas Gelbes huschte zwischen den Bäumen hindurch, Gruh setzte ihm mit großen Sprüngen nach.

Wir alle wußten, was das zu bedeuten gehabt, schon das uns bekannte Hundegekläff sagte es uns.

Gruh hatte von Bord Wichtelmann geholt, einen Wachtelhund, hatte ihn auf die Spur der Geflohenen gesetzt, um sich mit diesen zu vereinen. Schließlich gehörte auch Wichtelmann dazu, deshalb hatte Gruh gerade diesen als Spürer mitgenommen. Das winzige Hündchen war der Liebling der Zwergin, die beiden paßten ja auch ganz zusammen. Der Wachtelhund ist ja eigentlich ein sehr schlechter Späher, zur Jagd läßt er sich überhaupt gar nicht gebrauchen, er nimmt jede kreuzende Fährte auf, die ihm besser behagt, wenn er überhaupt Witterung bekommt, seine Nase ist schlecht, aber der Spur Cäsars würde er schon folgen können, denn dieser Riese war nun gerade wieder der innige Freund des Hundezwerges.

Und da, wie ich das menschliche Känguruh in weiten Sätzen zwischen den Bäumen verschwinden sah, da überkam mich wieder einmal so eine Ahnung. Oder ich hatte sogar eine Vision.

Gruh trug einen sehr dunklen, wenn nicht schwarzen Sportanzug, und er schien ein Plaid, eine Decke über der Schulter zu tragen, es flatterte ihm etwas Dunkles nach — und plötzlich sah ich dort nicht mehr unseren Gruh auf seinem einen Beine springen, sondern ich sah einen schwarzen Engel fliegen, die schwarzen Fittiche mächtig schlagend . . .

Er war verschwunden.

Aber mir rann es plötzlich eiskalt über den Rücken, ein furchtbares Entsetzen befiel mich, ich wußte nicht warum . . .

Ob auch die Begum von solch einer Ahnung befallen worden war?

Nein, sicher nicht!

Sonst hätte sie in den Vorschlag gewilligt, hätte für den Zwerg oder für Rosamunde das menschliche Känguruh ausgetauscht . . .

Sie hatte es nicht getan, und sie rief ihn nicht zurück

Also sie ahnte nicht, keine warnende Stimme sagte ihr, daß sie dort den Engel des Todes fortgeschickt hatte, der zurückkehren würde, um in diesem Tale Tod und Entsetzen zu verbreiten, so fürchterlich wie ich es nimmer wieder erleben sollte!

Doch es war nur ein Moment gewesen, dann war es vorüber, ich wußte gar nicht mehr, daß ich solch eine Ahnung und Vision gehabt hatte. Erst später, als alles in Erfüllung ging, erinnerte ich mich ihrer wieder.

Nochmals kam die Begum schnell auf mich zu.

»Der einbeinige Mann folgt den entflohenen Zwergen?«

»Es scheint so.«

»Weshalb?«

»Das weiß ich nicht, geht mich nichts an. Mister Snyder, wie er heißt, ist nur unser Gast und kann über seine Handlungen frei bestimmen.«

»Er folgt den Zwergen mit Hülfe eines Hundes?«

»Ja.«

»Ihr habt doch noch mehr Hunde, die eine Spur verfolgen können.«

»Ja, die haben wir.«

»Leihe mir einige oder nur einen, der die Spur der Entflohenen verfolgt.«

»Nein.«

»Du willst es nicht.«

»Nein. Ich werde Dir in keiner Weise behilflich sein, daß Du Dich der Entflohenen bemächtigen kannst.«

Die Begum neigte den Kopf.

»Gut. Ich verübele Dir Deine Absage nicht. Die Sache ist erledigt.«

Sie entfernte sich wieder.


100. KAPITEL.
DAS BLATT WENDET SICH.

»Well, Herr Kollege, dort gehen unsere letzten Matrosen und Heizer ab. Nun können wir etliche Jahre warten, bis die 32 Bengels das erforderliche Alter haben, um unser Schiff fortzubringen.«

So sprach mich wieder einmal Kapitän Martin an.

Ich seh es selbst.

Soeben wurden fünf Matrosen und zwei Heizer von ihren Siegerinnen abgeführt, und hiermit war die eigentliche Mannschaft der »Argos« erschöpft.

Zuletzt war nämlich nicht mehr einzeln gekämpft worden, sondern gleich en gros, jeder hatte sich ein Weib ausgesucht und sich mit ihm in irgend etwas gemessen, um dieses Trauerspiel endlich zu beenden. Deshalb hatte sich natürlich niemand etwa gutwillig gefügt, sie hatten mit aller Kraft der Verzweiflung gerungen, ober alles war vergebens gewesen. Es waren auch gute Fechter und Schützen dabei, auch das war noch einmal probiert worden — vergebens. Diese Amazonen waren meinen Jungen auch im Fechten und Schießen weit überlegen. Bei mir und Juba Riata und Tönnchen war das etwas anderes gewesen, ich war der Sprößling einer uralten Fechtmeistergeneration, hatte mich in den letzten Jahren mächtig darauf gelegt, nur Tönnchen konnte mir beim Kreuzen der Klingen einige Zeit die Spitze bieten, und ein solcher Meister war Juba Riata, der ehemalige Cowboy, im Schießen. Alle anderen unterlagen in diesen beiden Künsten gegen die Amazonen.

»Sie werden doch nicht etwa auch die 32 Kinder ins Treffen führen wollen?«

»Daran denke ich gar nicht, und selbst wenn ich entschlossen wäre, eventuell auch sie zu verlieren, wüßte ich doch gar nicht, worin sie sich mit diesen Teufelsweibern messen sollten, die eine hat ja sogar unseren Bob im Schnellklettern besiegt . . . «

Ich wurde unterbrochen. Die kleine Ilse kam angesprungen, jetzt neunjährig, noch ziemlich klein für dieses Alter.

Dies war der Moment, da die letzten sieben Matrosen und Heizer summarisch abgeführt wurden, darunter auch Albert unser Sänger, der sich geweigert hatte, eine Amazone zum Sängerwettstreit herauszufordern, worauf die Begum wahrscheinlich auch nicht eingegangen wäre. Albert war, wie ich schon einmal betont, damals als wir beiden die Mama Bombe an der Stange über die Brücke vom Wrack getragen hatten, ein bärenstarker Kerl, seine Spezialität war der Ringkampf, er hatte nicht glauben wollen, daß ihn solch ein Weib werfen könne, obgleich schon sein Lehrmeister im Ringen, der lange Peter, besiegt worden war. Albert hielt es nicht für möglich, daß ihm das passieren könne — und er war geworfen worden! Jetzt konnte er drüben den mohammedanischen Amazonen die christlichen Seligpreisungen vorsingen.

Die Zuschauer bildeten um den Kampfplatz herum Gruppen. Einige hundert Zuschauer! Da waren doch noch die meisten der Amazonen vorhanden, alle die roten und weißen Gefangenen, unsere 32 Schiffsjungen und wer nun sonst noch zu uns gehörte, ohne sich an den Wettkämpfen beteiligt zu haben.

Das anfängliche Halten in Reih und Glied war schon längst aufgehoben worden, es hatten sich eben Gruppen gebildet, innerhalb solcher Gruppen waren auch Wettspiele ausgetragen worden.

Soeben war in solch einer Gruppe ein lautes Hallo erschollen, und jetzt löste sich von dieser Gruppe die kleine Ilse ab und kam auf mich zugesprungen.

»Gesiegt, Onkel, gesiegt!« jubelte sie. »Ich habe eine Amazone besiegt, ich kann einen Gefangenen befreien!«

Ehe ich es richtig begreifen konnte, befiel mich eine kleine Erstarrung vor Schreck.

Unsere Ilse hatte also mit einer Amazone gekämpft. Hatte sich mit ihr gerungen.

Worin, das war vorläufig ganz gleichgültig.

Unsere Ilse hatte gesiegt.

Das war sehr, sehr schön.

Aber wenn sie nun verloren hätte?

Dann hätte sie jetzt als Gefangene mit auf die Galeere wandern müssen, oder . . . es wäre irgend etwas Ungeheuerliches passiert.

Diese momentane Erwägung war es, die mir einen kalten Schreck einjagte, noch ehe ich irgend etwas Näheres wußte.

»Du hast mit einer Amazone gekämpft?!« stieß ich in diesem meinem ersten Schreck hervor.

»Ja, ja, und ich habe gesiegt, ich habe gesiegt,« jubelte Ilse ganz toll vor Freude.

»Worin hast Du Dich denn nur mit ihr gemessen?«

»Im Hantelhalten, und ich habe das Kilo viel, viel länger gehalten, die konnte es keine drei Minuten aushalten!«

Da fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen!

War ich denn nur bisher verhext gewesen, daß ich noch nicht auf diese Idee gekommen war, die Amazonen zu solch einem Zweikampf herauszufordern?! Und alle anderen ebenfalls?!

Ich muß eine Erklärung einschalten. Hoffentlich findet sie der Leser nicht uninteressant, und interessiert er sich besonders dafür, so wird er die Übung wohl auch nachmachen, sie kostet ihm täglich nur fünf Minuten, freilich muß sie ganz konsequent durchgeführt werden, dann aber wird man auch reichlich dafür belohnt. Und man wolle nicht sagen, daß so etwas zwecklos sei. Etwas ganz Zweckloses gibt es überhaupt nicht so leicht. Oder man müßte überhaupt allen Sport als zwecklos bezeichnen.

Jeder normale Mensch, der nicht gerade ein ausgemachter schlapper Schwächling ist, wird seine beiden Arme und Hände nach beiden Seiten fünf Minuten lang wagerecht halten können. Es wird ja anfangs am Ende der fünf Minuten, oder schon in der dritten, etwas in den Armen und Schultern schmerzen, das Genick tut weh, aber es läßt sich schon aushalten. Am zweiten Tage geht es schon viel leichter, am dritten Tage fühlt man gar nichts mehr, man kann es sechs Minuten aushalten, dann vergehen sieben Minuten, ehe sich die Schmerzen und ein Zittern einstellen, und so bringt man es bei regelmäßiger Übung bis zu zehn Minuten und noch länger. Sofort, wenn sich Stiche im Kopfe oder in der Schläfe bemerkbar machen, muß man unbedingt aufhören!

Dabei machen Alter und Körperkraft gar keinen Unterschied aus. Na ja, von einem vierjährigen Kinde kann man es nicht verlangen, auch nicht von einem taddrigen Greise und einer alten Großmutter, die brauchen so etwas nicht noch anzufangen. Aber sonst ist es ganz gleichgültig, ob es etwa ein achtjähriges Mädchen mit Streichholzärmchen ist oder ein dreißigjähriger starker Mann, ein Steinetreiber mit Herkulesmuskeln. Diesem fallen die ersten fünf Minuten genau so schwer wie dem zarten Kinde, und auch während der ganzen Übungsperiode bleiben die Resultate immer die gleichen, der herkulische Riese kann das schwächliche Kind nicht übertreffen, später auch nicht im Halten von Gewichten. Das kommt daher, weil der erwachsene Mensch dabei das Gewicht seines eigenen Armes tragen muß, der natürlich bedeutend schwerer ist als der Arm des zarten Kindes, und der ausgestreckte Arm wirkt noch dazu als Hebelgewicht, es vermehrt sich ins Ungeheure. Und schließlich ist bei der ganzen Sache überhaupt ein Geheimnis, das ich nicht ergründen kann. Höchstens kann ich annehmen, daß dabei Muskeln angestrengt werden, welche sonst auch beim stärksten Arbeiter oder Turner gar nicht ausgebildet werden. Jedenfalls aber kenne ich das Resultat. Es ist beim zarten Kinde wie beim stärksten Manne ganz das gleiche, von Anfang an und noch nach vielen Jahren ständiger Übung.

Dann, wenn man nach einigen Tagen — denn nur Geduld, nur Geduld — seine Hände fünf Minuten lang ohne Anstrengung ausgestreckt halten kann, also immer seitlich in Schulterhöhe fängt man mit Gewichten an. Jeden Tag ein Mehr von fünf Gramm. Am besten kauft man sich dazu Schrot, oder, viel billiger, gewalztes Weißblei, Bleiblech. Das Pfund kostet je nach Marktpreis 24 bis 28 Pfennige, im Kleinhandel. Das schneidet man mit der Papierschere in Streifen und Stücke, wiegt sie auf der Briefwage zu je fünf Gramm ab. Das hat man bald heraus.

Größere Schrotkörner kann man abzählen. Als erstes Gewicht nimmt man in jede Hand eine leere Streichholzschachtel, die ziemlich genau 5 Gramm wiegt. In diese kommen dann die anderen Fünfgrammgewichte hinein. Später kann man sich das Blei ja auch zu größeren Gewichten zusammengießen, diese können dann gegen Eisengewichte ausgetauscht werden.

Also alltäglich in jede Hand ein Mehr von 5 Gramm, immer fünf Minuten gehalten.

Das sind im Monat 150 Gramm, im Jahre 3 Pfund und 300 Gramm.

Es werden Zeiten kommen, da das Gewicht zu schwer wird. Man hält die fünf Minuten nicht mehr aus. Da geht man gleich einmal 100 Gramm zurück.

Überhaupt darf die Vorschrift über das tägliche Mehr von 5 Gramm nicht buchstäblich genommen werden. Die eherne Konsequenz muß nur in der Zeit liegen, in den täglichen fünf Minuten! Oder es können ja auch mehr oder weniger Minuten sein. Aber diese Zeit, die man sich einmal vorgenommen hat, muß nun auch konsequent eingehalten werden! Wir bleiben also hier bei fünf Minuten.

Die Gewichtszunahme muß individuell geregelt werden. Das tägliche Mehr von 5 Gramm wird man besonders zuerst gar nicht merken, da kann man also täglich gleich 10 Gramm für jede Hand zulegen. Aber mehr lieber nicht! Das sind am Ende des ersten Monats schon 300 Gramm, die hält man gewöhnlich nicht aus, es strengt zuletzt furchtbar an. Da geht man gleich um 100 Gramm zurück. Und wird nun staunen! Die 200 Gramm fühlt man gar nicht mehr. Dann kommen Tage, da man sich indisponiert fühlt. Nicht krank — dann muß aufgehört werden — sondern nur indisponiert. Man hat keine Lust dazu, ist zu faul, infolgedessen strengt es auch sehr an. An solchen Tagen legt man wieder nur 5 Gramm zu, oder auch gar nichts. Dann kommen wieder Tage, da man sich auBerordentlich kräftig und aufgelegt für die Übung fühlt, dann fügt man immer wieder 10 Gramm zu. Aber lieber nicht mehr! Spaß macht es, besonders für später, wenn man darüber Tagebuch führt. Es sind täglich nur fünf Minuten zu opfern. Wer will, kann es ja täglich zweimal machen, aber es ist nicht nötig, um das fabelhafte Resultat zu erreichen.

Natürlich gibt es wie überall auch hierbei Grenzen. Was nach einigen Jahren alltäglicher Übung für Gewichte gehalten werden können, darüber will ich hier gar nicht sprechen, denn das ist gänzlich verschieden.

Aber das eine kann ich versichern: nach einem Jahre solcher Übung kann auch jedes zehnjährige Kind in jeder Hand ein Kilo fünf Minuten lang ausgestreckt hatten!

Dafür kann ich garantieren! Ich habe eben meine Erfahrungen gemacht.

Nun stelle man sich die Sache vor. Ein halbwüchsiges Kind, ein zehnjähriges zartes Mädchen, dem nichts weiter als seine Schwächlichkeit anzusehen ist, stellt sich hin, man wettet, daß dieses zarte Mädchen in jeder Hand eine Kilohantel fünf Minuten lang seitlich ausgestreckt halten kann. Oder etwa ein volles Bierglas, ein Halbliterseidel, in jeder Hand eines.

Das wollen die anderen natürlich nicht glauben. Und das umso weniger, wenn sie selbst es erst einmal probieren. Das ist nicht möglich.

Das zarte zehnjährige Mädchen macht es. Ohne sichtliche Anstrengung.

Da sind die anderen, die das Geheimnis nicht kennen, einfach baff! Sie möchten an Zauberei glauben. Wenigstens insofern, als schon Stimmen laut werden, man hätte das Kind vielleicht hypnotisiert, in künstlichen Starrkrampf versetzt.

Dann wird man sich wahrscheinlich das Kind näher betrachten, und da allerdings wird man entdecken, daß das sonst so zarte Wesen einen recht kräftig entwickelten Hals hat. Schlank und zart und fein, aber immerhin sehr muskulös. Und wenn sie dann die Schultern dieses schwächlichen Geschöpfes befühlen, so werden sie über diese eisernen Schultern staunen, wenn nicht erschrecken! Das ist kein Fleisch mehr, das ist Eisen!

Durch dieses Halten werden nämlich besonders die Schulter— und Nackenmuskeln angestrengt und daher gekräftigt, gestählt. Deshalb auch anfangs die Genickschmerzen, bis man sie ein für allemal überwunden hat.

Aber konsequent muß es durchgeführt werden, um solch ein Resultat erzielen zu können. Nicht ein einziger Tag darf ausgesetzt werden! Sonst kommt einmal ein zweiter hinzu, dann ein dritter . . . und dann ist vorbei! Da tritt plötzlich ein Rückschlag ein, es geht nicht mehr so gut, man verliert die Lust. Und das umso mehr, wenn man etwa das Versäumte durch plötzliches Mehr von Gewicht einholen will. Dann ist erst recht vorbei. Man kann höchstens wieder mit einem bedeutend kleineren Gewicht anfangen. Aber der Ärger bleibt. Und dann setzt man doch einmal wieder aus. Weil man es schon einmal getan hat. »Einmal ist keinmal« — das ist des hinterlistigen Teufels Sprichwort, mit dem er auch die frömmste Jungfrau fängt. Etwas anderes ist es, wenn man sich krank fühlt. Dann muß man aussetzen, muß es unbedingt! Sonst ist da ein Forcieren ebenso schädlich wie ein gänzliches Unterlassen bei Gesundheit. Freilich kommt es ja ganz auf die Art der Krankheit an. Wenn man die Gicht in der großen Zehe hat, kann man noch recht gut seine Arme ausgestreckt halten. Selbst wenn man mit geschientem Beine im Bette liegt. Wenn man nur will! Ja sogar mit Bauchkneipen geht es noch recht gut. Aber schon bei einem leichten Schnupfen hört es gewöhnlich auf. Ob man aufhören muß oder nicht, das fühlt jeder selbst ganz deutlich. Das Gehirn ist da ein untrüglicher Manometer. Sobald man bei dieser Übung Kopfschmerzen bekommt, muß man aufhören, das tut man auch ganz von selbst, kann gar nicht anders. Denn eine Spielerei ist das natürlich nicht. Wenn man es sonst auch spielend ausführt. In anderer Hinsicht aber erfordert es die eiserne Energie eines ganzen Mannes!

Und hierbei nun habe ich eine Entdeckung gemacht, bin einem großen Geheimnis auf die Spur gekommen, mit dem sich die Herren Physiologen einmal wissenschaftlich beschäftigen sollten!

Wenn man also diese Übungen aus Unlust unterlassen hat, man hat sich Ferien genommen, oder man hat für die täglich fünf Minuten keine Zeit gehabt, in Entschuldigungen ist man da ja groß — das läßt sich bei längerer Pause gar nicht wieder einholen. Oder man kann nur gleich wieder von vorn anfangen, wozu aber eine große Dosis Energie gehört. Nun wird man aber wirklich einmal krank, kann es nicht machen, lange Zeit nicht, ein halbes Jahr lang nicht. Man gesundet wieder. Eines Tages fühlt man sich recht kräftig und tatenlustig, man fängt die Sache wieder an. Da wird man staunen! Nämlich wie leicht einem das Halten wird. Natürlich beginnt man ja mit einem stark reduzierten Gewicht. Aber bald bemerkt man, daß man so eine große Reduzierung gar nicht nötig hat. Man hat sich viel zu wenig zugetraut. Man kann das Gewicht täglich um 50 Gramm und mehr steigern. Innerhalb von acht Tagen hat man das ganze halbe Jahr, da man im Bett gelegen hat oder sich sonst schonen mußte, nachgeholt, ist wieder bei seinem letzten Gewicht angekommen! Was bei einer Ferienzeit, die man sich aus Unlust oder Faulheit genommen, vollständig ausgeschlossen ist!

Das habe ich an mir selbst probiert und an vielen anderen bestätigt gefunden, und da habe ich eben ein Geheimnis erkannt. Mir scheint fast, als ob geradezu manchmal eine Krankheit, etwa ein tüchtiges Schnupfenfieber, dem Menschen förderlich sei! Es dient zu seiner späteren Gesundheit. Die Krankheit gibt ihm später nur eine größere Spannkraft zurück.

Daß es wirklich so ist, habe ich bei jenen Hantelübungen konstatiert, wenn eine Hantel mit sukzessiver Gewichtszunahme täglich gestemmt wird, da zeigt sich dasselbe, nach langer Pause wegen Krankheit wird das Versäumte schnellstens wieder eingeholt, während eine ungezwungene Pause sofort weit zurückwirft, kaum wieder gut zu machen ist. Am intensivsten aber zeigt sich das bei diesem längeren Halten der Hände. Weil hierzu eine größere Aufwendung von Energie nötig ist als bei dem schnellen Hantelstemmen. Und das scheint mir eben der Hauptgrund zu sein, was hierbei so mächtig wirkt. Die Stählung der Energie in immer wachsendem Grade! Dann wird die Sache aber psychologisch.

Das ist es auch, weshalb ich bei dieser Sache lange verweile. Und sie ist es auch wert.

Ich habe einmal ein junges Mädchen in die Kur genommen, eben mit solchen Übungen. Sechzehnjährig, äußerst bleichsüchtig, nervenschwach bis zum Lachund Weinkrampf und Veitstanz, unfähig zu jeder geistigen und körperlichen Arbeit; obgleich hochmusikalisch, mußte sie das Klavierspielen aufgeben, sie wagte nicht mehr die Tasten zu berühren, bekam Nervenanfälle, konnte nicht am Reck hängen bleiben, sie fiel ab, konnte sich nicht festhalten . . . so nahm ich dieses jammervolle Geschöpf in die Kur. Jenes Hantelstemmen, aller Stunden zehn Mal, mit zehn Pfund beginnend, und dann zweimal täglich jenes Halten der Hände fünf Minuten lang, mit täglich nur drei Gramm Zunahme, anfangs.

Ich kann die einzelnen Phasen nicht schildern. Nach einem halben Jahre war dieses jammervolle Mädchen eine blühende Jungfrau, strotzend von Kraft und Gesundheit, mit schwellenden Gliedern und Muskeln, geistig und körperlich tätig von früh bis abends, sie mußte tätig sein, mußte sich ausarbeiten!

Das ist eine Tatsache, die ich hier berichte. Auf mein Ehrenwort!

Ich glaube, ich könnte eine orthopädische Heilanstalt aufmachen.

Ich denke nicht an so etwas.

Aber berichten will ich es. Dann kann es jeder zu Hause selbst probieren, ob er nun schwächlich ist oder seine schon vorhandene Kraft weiter ausbilden will. Den Haupterfolg schreibe ich dabei diesem minutenlangen Halten der Arme mit zunehmendem Gewicht zu. Hierin liegt ein tiefes Geheimnis verborgen. Es ist die Stählung der Energie, der Willenskraft, die den Menschen von innen heraus umkrempelt. Wer es fertig bringt, diese Übung konsequent jeden Tag fünf Minuten durchzuführen, der bringt es auch fertig, wenn es sein muß einmal fünf Stunden ununterbrochen am Schreibtisch zu sitzen, oder 20 Stunden lang, der ist überhaupt dann für jede Leistung befähigt, so weit sie in den Grenzen seines Machtgebietes liegen, er braucht sich selbst dazu nur zu kommandieren.


Diese Übung hatte sich seit zwei Jahren auch an Bord unseres Schiffes eingebürgert. Ich selbst, immer neue Methoden ausheckend, um große Kraft— und Dauerleistungen zu erzielen, hatte sie eingeführt. Anfangs hatten sich alle daran beteiligt, alle! Auch die Damen. Und gerade die hielten aus. Freiwillig. Eben weil es ihnen Spaß machte, da mit den Männern in einer Kraftleistung konkurrieren zu können. Und aus dem gleichen Grunde hörten die meisten Matrosen und Heizer und sonstigen erwachsenen Männer bald wieder auf. Weil sie die Suche forciert hatten. Die wollten doch viel mehr halten können als die Damen und Kinder, waren nicht nur mit zehn oder gar nur fünf Gramm zufrieden, fingen gleich mit einem Pfund an, steigerten mit 100 und noch mehr Gramm, schwitzten und quälten sich ganz erbärmlich ab, bis sie nicht mehr steigern konnten. Da warfen sie die Gewichte weg. Diesen Männern hatte ich in dieser Hinsicht nichts zu befehlen, ich hatte ihnen nur raten können, sie hatten meinen Rat nicht befolgt. Bei den 32 Jungen aber war es eine vorschriftsmäßige Übung. Auch die Damen und Ilse und die Prinzeß beteiligten sich daran, freiwillig. Es hatte ja gar nichts auf sich, es machte den größten Spaß, den Fortschritt zu beobachten, zumal wenn man wieder einmal im Gewichte herunter ging. So bildeten sich diese Damen und Kinder immer weiter aus. Als nun die Matrosen und Heizer das erstaunliche Resultat sahen, wollten sie wieder anfangen. Nun aber konnten sie schon nicht mehr so viel halten wie diese Damen und Kinder. Da warfen sie die Gewichte zum zweiten Male weg, um nicht wieder anzufangen.

»Bah, das ist eine Übung für Weiber und Kinder!« hieß es verächtlich. Ungefähr so, wie der Fuchs die Trauben verachtete, die ihm zu hoch hingen.

Von der eigentlichen Mannschaft hatten nur zwei Matrosen und ein Heizer diese Halteübung nach meinen Angaben konsequent durchgeführt. Der eine konnte acht Pfund in jeder Hand fünf Minuten lang ausgestreckt halten! Er hatte täglich vier Mal geübt. Das hilft natürlich, dann gehts schnell vorwärts! Aber es gehört eine außerordentliche Energie dazu. Denn es kann zur fürchterlichen Qual werden. Er hatte es durchgesetzt und es innerhalb der zwei Jahre bis zu acht Pfund gebracht, was aber auch seine Grenze zu sein schien.

Er hatte nicht daran gedacht, mit dieser Kraftleistung eine Amazone herauszufordern. Seine eigentliche Spezialität war das Werfen einer Kugel von 25 Pfund gewesen, darin hatte er sich für unbesiegbar gehalten. Die Amazone, die er ausgewählt hatte ihn weit überworfen. Wenn aber der mit seinen acht Pfund keine Amazone zum Halten herausgefordert hatte, so dachten die beiden anderen mit ihren vier oder gar nur drei Pfund erst recht nicht daran.

Die kleine Ilse hatte eine Amazone aufgefordert, ihr einmal das nachzumachen, was sie ihr vormachen wolle. Oder gleichzeitig wollten sie es probieren. Wer am längsten in jeder Hand eine Kilohantel seitlich ausgestreckt halten könne. Ilse vermochte es sicher sieben Minuten und vielleicht noch länger, denn sie hatte dieses Gewicht schon überschritten, mit einem Kilo merkte sie nach fünf Minuten nicht mehr die geringste Ermüdung in den Armen. Oder vielmehr in den Schultern und im Nacken. Die Arme selbst gewöhnen sich am schnellsten daran.

Die Amazone hatte sich einverstanden erklärt, die beiden traten an. Wie gesagt, es hatten sich Gruppen gebildet, innerhalb derer auch gekämpft wurde, diese hier setzte sich nur aus Amazonen und Schiffsjungen und anderen zusammen, die sich über die Bedeutung des Falles nicht recht klar waren. Hätte die Amazone gesiegt, so hätte sie ohne jeden Zweifel die kleine Ilse als Gefangene gefordert, wir hätten sie ihr kaum verweigern können. Ich wenigstens weiß nicht, was daraus geworden wäre.

Es kam anders. Noch waren nicht ganz drei Minuten vergangen, als die Amazone, ein starkes Weib mit dicken Armen, denn eine solche Gegnerin hatte sich die hierin erfahrene Ilse vorsichtiger Weise ausgesucht, stöhnend zusammenbrach. Nicht daß sie nur die Arme sinken ließ, sondern sie brach gleich ganz zusammen, vor Anstrengung, Überanstrengung. Man versuche es nur einmal, ein Kilo in jeder Hand nur drei Minuten ausgestreckt zu halten!

Staunen der zusehenden Amazonen, großes Hallo der umstehenden Schiffsjungen, und jubelnd hatte mir Ilse ihren Sieg mitgeteilt.

Da also war es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen gefallen. Und den anderen, so weit sie noch vorhanden waren, ebenfalls.

Ich schloß Ilse in meine Arme, und dann sprach ich mit der Begum.

»Erkennst Du diesen Stieg als vollgültig an?«

»Selbstverständlich, das war eine körperliche Leistung. Wie hat dieses Kind das nur fertig gebracht?«

Ich brauchte keine Erklärung zu geben. Zur Vorsicht wurde erst noch eine Probe mit einem Schiffsjungen gemacht, wieder mit einem der jüngsten, der aber hierin ganz Bedeutendes leistete. Seine Gegnerin hielt die drei Pfund nur zwei Minuten aus, dann brach auch sie zusammen. Ein zweiter und dritter Versuch, einzeln ausgeführt, dann war ich meiner Sache sicher. Ein Kilo genügte vollkommen. Wer dieses Gewicht in jeder Hand am längsten ausstrecken konnte. Und nun wurde es gleich en gros ausgeführt, Kilohanteln hatten wir massenhaft, sonst wurden hölzerne Keulen genommen, gleichfalls genau auf zwei Pfund taxiert, 29 Schiffsjungen stellten sich ebensoviel Amazonen gegenüber.

Alle 29 Amazonen wurden besiegt. Die Enttäuschung der Weiber, besonders der Begum, war eine furchtbare. Sie hatten nicht mehr erwartet, daß noch so etwas kommen würde. Ausschließen konnten sie sich natürlich auch nicht, die Begum hatte ja selbst gesagt, daß sie es gerade auf diese halbwüchsigen Kinder abgesehen habe.

Wir hätten 33 Gefangene auswählen können, taten es vorläufig noch nicht. Nun waren wir einmal im Zug. Die nächste war die Prinzeß, die eine Amazone mit der Kilohantel besiegte, dann die Patronin, dann die beiden Schwestern Pooteken, zusammen mit Hildgard Gerlach, dann traten dicht vermummt die beiden Töchter Vater Abdallahs an, von den vier arabischen Dienerinnen drei. Sie alle hatten sich an diesen Übungen beteiligt, hatten die Sache konsequent durchgeführt — jede gab einem Gefangenen die Freiheit wieder. Keine Amazone konnte die Kilohantel so lange halten wie ihre Gegnerin, die ihr gegenüber stand. Es schadete nichts, wenn sie die Hantel einmal etwas höher hielten als genau wagerecht. Die eine brachte es durch diese unerlaubte Hilfe, was man aber ganz unabsichtlich macht, bis auf vier und eine halbe Minute, dann stürzte sie zusammen, gleich besinnungslos Schaum vor dem Munde. Und lächelnd stand die schlanke, zarte Senta Pooteken noch da, die Arme genau wagerecht ausgestreckt, in jeder Hand ein Kilogewicht, und so hätte sie es noch zwei weitere Minuten aushalten können.

Und es war bei uns noch nicht erschöpft. Noch drei Männer kamen und wurden durch ihren Sieg berechtigt, dann einen Gefangenen auszuwählen, wenn sie nicht die Amazone behalten wollten: der erste Maschinist, Meister Hämmerlein und Maler Gerlach. Auch sie hatten sich an diesen Übungen beteiligt, hatten sie konsequent durchgeführt. Und daß Meister Hämmerlein bucklig und schief war und kaum 25 Pfund heben konnte, das hatte nichts zu sagen gehabt. Mit dieser Übung besiegte er seine Amazone.

So, nun war aber unser Heldenmaterial erschöpft. Nun konnten wir daran gehen, die Gefangenen auszuwählen. 46 Mann durften wir befreien.

»Halt!« ließ sich da Kapitän Martin vernehmen »Herr Kollege, ich möchte mit Ihnen erst sprechen, ehe unter den roten und weißen Kerls gesichtet wird. Bitte, geben Sie Befehl, daß es niemand eigenmächtig tut, das ist Ihre Sache.«

Ich tat es, kündigte das kommende Kommando, wenn es schließlich auch nur eine Bitte war, erst mit der Bootsmannspfeife an.

»Großartig, Herr Waffenmeister, großartig!« fuhr dann Kapitän Martin fort, nachdem er genügend mit den Beinen geschlenkert und mit den Händen in den Hosentaschen gewühlt hatte. »Wer hätte das gedacht, daß wir noch so einen Erfolg haben würden. Ja, dieses verdammte Hantelhalten. Das war eine verdammt feine Idee von Ihnen, das einzuführen. Möchte es fast auch noch anfangen. Ob ich aber dabei meine Hände . . . «

Er brach ab.

» . . . ob ich aber dabei meine Hände in den Hosentaschen behalten kann?«

Das hatte er wohl sagen wollen.

Nee, das war dabei leider nicht möglich. Bei dieser Übung mußte man die Hände aus den Hosentaschen nehmen. Also war diese Übung auch nichts für Kapitän Martin.

»Well, Herr Kollege,« fuhr er dann fort, »wir müssen erst einmal ernstlich sprechen. Die Patronin braucht nicht dabei zu sein. Ich kalkuliere, hier gibts noch einmal Mord und Totschlag.«

»Ich glaube es auch.«

»Wir können doch unsere Jungen nicht drüben bei den Weibern lassen.«

»Nein.«

»Wir müssen sie doch wieder an Bord haben, wenn wir von hier wieder absegeln.«

»Sicher.«

»Freiwillig geben uns diese braunen Mädels sie nicht wieder heraus.«

»Das bezweifle auch ich.«

»Dann müssen wir ein bißchen mit Gewalt nachhelfen.«

»Es wird wohl nicht anders gehen.«

»Also kommt es hier noch zu Mord und Totschlag.«

»Zweifellos.«

»Well. Sollten wir da nicht auch eine gute Portion Amazonen nehmen? Anstatt Gefangene auszulösen?«

»Weshalb das?«

»Um Geiseln in die Hände zu bekommen«

»Herr Kapitän Martin,« erwiderte ich, »ich bin der Meinung, daß es dieser Begum verdammt schnuppe ist, ob sie ein paar Dutzend ihrer Kriegerinnen behält oder verliert. Und so denken sicher auch alle anderen Amazonen.

Die sind vielleicht sogar zufrieden, wenn sie recht dezimiert werden. Und ob wir nun diese unsere Geiseln massakrieren oder sonst etwas mit ihnen machen, das ist ihren freien Schwestern sicher ganz egal. Alles weist darauf hin, daß es so ist . . . «

Meine Ansicht sollte sofort eine Bestätigung finden.

Der englische Kapitän, der dickste Mastmensch von allen, hatte sich unterdessen eines anderen besonnen. Er wollte wieder zu den Weibern hinüber. Dort gefiel es ihm besser als bei uns. Die Unterhaltung zwischen ihm, der Patronin und der Begum war bereits in vollem Gange.

Ja, die Begum war bereit, ihn wieder zurückzunehmen. Aber es müsse dabei ganz gerecht zugehen. Geschenkt nehme sie ihn nicht, hingegen tausche sie für ihn auch keinen anderen Gefangenen aus. Dann müsse die Amazone, die ihn durch ihre Besiegung verloren, zu uns herüber.

So geschah es schließlich, nachdem auch ich noch zu Rate gezogen worden war. Denn der englische Kapitän wollte durchaus in seine Gefangenschaft zurück. Dort drüben gab es einen gar zu guten Pudding. Wir ließen den Kerl abschieben, so kam eine zweite Amazone in unsere Gefangenschaft.

»Da sehen Sie,« konnte ich dann wieder mit Kapitän Martin unter vier Augen sprechen, »wie wenig der Begum an der Zahl ihrer Kriegerinnen gelegen ist, und so ganz ohne Mitwillen aller übrigen Amazonen wird die in diesem Falle wohl nicht handeln dürfen, und daraus können wir schließen, wie wenig sie sich auch um das Schicksal ihrer gefangenen Schwestern kümmern werden.«

»Sie haben recht,« entgegnete Kapitän Martin, »auch ich hatte von vornherein diese Ansicht wollte nur erst Ihre hören. Nun aber haben Sie auch den Charakter dieses englischen Kapitäns erkannt, der reine Waschlappen, und das ist es, weshalb ich hauptsächlich mit Ihnen sprechen wollte. Dasselbe gilt nämlich von der ganzen Mannschaft jenes Dampfers. Ich habe vorhin Umschau unter den Leuten gehalten, mit ihnen gesprochen, ihnen auf den Zahn gefühlt, jedem einzelnen. Das ist nur englischer Ausschuß. Ohne Ausnahme. Kein einziger könnte auf einem echten Engländer fahren. Diese Seeleute wollen wir ruhig drüben lassen, bis dereinst die Stunde ihrer Befreiung schlagen wird, so oder so. Dafür wollen wir 46 Indianer auswählen.

Herr Kollege, ich bin aus den Jahren heraus, wo man in jedem Indianer einen idealen Helden erblickt. Habs in meiner Jugend auch einmal getan. Das ist vorbei. Aber immerhin, wir haben unsere Leute verloren, wir brauchen andere, die mit den Amazonen kämpfen werden müssen, und da geben nur diese Rothäute das geeignete Material ab. Denn tüchtige Krieger sind es, das muß man ihnen lassen, zumal diese Apachen und Kommantschen. Waffengeübt und tapfer, den Tod verachtend, und vor allen Dingen wissen sie auch, was Disziplin ist. Wir wollen diese unförmlichen Fettklumpen schon wieder dünn bekommen. Und wenn wir sie einspannen und in die Länge ziehen müssen. Eine richtige Hungerkur mit genügender Eiweißzufuhr wird aber schon das ihrige tun. Und dann wird diese rote Bande sich auch wieder erinnern, daß jene Weiber ihnen die Frauen und Kinder ermordet haben, die Rachsucht wird erwachen, und wenn der Tanz losgeht, werden den Amazonen die geeigneten Tänzer gegenübertreten Well, meinen Sie nicht?«

Ich hatte Kapitän Martin sprechen lassen. Ich hätte auch ohne seinen Vorschlag dasselbe gemacht.

Nur noch eine kurze Verständigung mit der Patronin, eine umso längere Rücksprache mit Harry Sandow, und dann war es dieser selbst, welcher die 46 Indianer auswählte, jeden einzelnen, nach der Körper— und Charakterbeschaffenheit, die der Betreffende besessen hatte, ehe er sich in solch eine Fettkugel verwandelt.

Es war geschehen. Immer noch blieben 48 Indianer übrig.

»Ach, der kleine Fuchs!« rief da Sandow. »Wie konnte ich den nur vergessen!«

Leicht zu übersehen war er allerdings. Es war ein sehr kurz geratener Apache, in diesem Zustande fast eben so dick wie groß, wenn sein Gewicht auch nicht den Durchschnitt dieser Mastmensichen erreichte, weil er eben klein war.

Aber was half es, daß Harry Sandow jetzt alle die Vorzüge dieses Indianers pries, wonach der kleine Fuchs Oberhäuptling sämtlicher noch existierender Rothäute hätte werden müssen?

Er hatte ihn vergessen, und wir hatten keinen einzigen Kämpfer mehr auf den Plan zu schicken.

Also fort damit, der kleine Fuchs kam für uns nicht mehr in Betracht.

Die Amazonen schickten sich an, die übrig gebliebenen Gefangenen fortzutreiben, um sie wieder in den Galeeren zu verpacken. Von den fünf Galeeren hatte sich noch keine entfernt, von unseren Leuten hatten wir noch nichts wieder zu sehen bekommen.

Da, wie die Amazonen schon abrücken wollten — oder, um in die Geschichte mit Schillern einen dichterischen Schwung zu legen:

Ganz spät, nachdem die Teilung längst geschehn, Naht der Poet, er kam aus weiter Fern'.

Ach, da war überall nichts mehr zu sehn,

Und alles hatte seinen Herrn.

Dieser Poet, der jetzt nahte, hatte wehmütig geschwungene Säbelbeine, eine dementsprechende krumme Nase, abstehende Elefantenohren, konnte eben so viel dichten, wie ich und hieß Doktor Isidor Cohn.

Im schwarzen Gehrockanzug, die Fittiche zurückgeschlagen, die Hände in den Hosentaschen den Zylinder im Nacken, auf der krummen Nase den Klemmer, so kam er angeschlendert, noch ein letztes Gähnen unterdrückend.

»Guten Morgen, Ladies und Gentleman und Kinder!« begrüßte er die anwesende Gesellschaft, obgleich es schon zwei Uhr war.

Und dann nahm sein geistreiches Schafsgesicht einen erstaunten Ausdruck an, so blickte er um sich.

»Was sind denn das für schwarze Weiber?! Wo kommen denn die her?!«

Ach, Du unschuldsvoller Engel! Der hatte keine Ahnung, daß er schon gestern nachmittag mit diesen Damen zusammen Schokolade getrunken hatte, ja, er wußte nicht einmal, daß ich schon gestern früh von diesen Amazonen erzählt hatte! Der wußte überhaupt noch gar nichts davon, daß wir die Amazonen von Maladekka hier wiedergefunden hatten! Also noch weniger davon, was unterdessen hier alles passiert war.

Denn er hatte sich schon gestern früh in einem Stadium des Deliriums befunden, wenn man ihm da auch wie immer nichts angemerkt hatte. Es war erst bemerkt worden als er sich gestern nachmittag mit dem Tischtuche und dem Porzellan zugedeckt hatte. Nun hatte er seine 18 Stunden durchgeschlafen, nun war er wieder ein normaler Mensch. Vielleicht verloren wir ihn doch nicht so bald, vielleicht überlebte der uns alle. Dieser schmächtige nixige Judenbengel hatte eine eiserne Natur, war einfach nicht tot zu machen! Wenigstens nicht durch den Suff.

»Was sind denn das nur für Weiber, die da im Trikot herumlaufen?«

Es wurde ihm alles mitgeteilt. Viel Worte brauchte man bei dem ja nicht zu machen.

»Kämpfen?! Irgend eine körperliche Übung vormachen, die eine Amazone nachmachen soll, und wenn sie es nicht kann, ist sie besiegt? Na da mache ich mit! Wenn noch Zeit dazu ist?«

Die Begum hatte es gehört.

»Gewiß, es ist immer Zeit dazu, auch später noch wenn sich ein neuer Kämpfer findet!« sagte sie.

Es mochte ihr ja daran gelegen sein, auch diesen Schiffsarzt, über den sie sich schnell hatte orientieren lassen, auf ihre Seite hinüber zu bringen, vielleicht sogar den unvergleichlichen Schachspieler, von dem sie schon früher gehört haben mochte. Das Schach ist ja ursprünglich ein indisches Spiel, wird dort noch leidenschaftlich betrieben.

»Aber das Schachspiel gilt nicht!« fügte sie denn auch gleich hinzu.

»Nein, das Schachspiel ist ja auch keine körperliche Leistung.«

»Auch darfst Du uns nicht etwa eine ärztliche Operation vormachen, das kann ich nicht als Herausforderung zu einem Zweikampf annehmen, daß Dir so etwas eine meiner Amazonen nachmachen soll.«

Solch ein ähnlicher Fall war nämlich schon vorgekommen. Als es uns so schlecht erging, hatte sich der erste Maschinist doch noch erboten, mit in die Zweikämpfe zu treten. Aber noch nicht an das Hantelhalten denkend. Er hatte eine kunstfertige Goldschmiedearbeit ausführen wollen, so etwa wie damals die Fassung der Billardkugel, wer ihm das in solch kurzer Zeit nachmachen könne.

Es war nicht angenommen worden. Was ich der Begum auch nicht verdenken konnte. Das ist doch etwas anderes als eine körperliche Übung, die auf dem Gebiet der Athletik liegen soll.

»Eine Operation ausführen? Ich denke nicht daran. Oder wenn eine der Damen irgend etwas gern abgeschnitten haben möchte, das besorge ich außer jeder Konkurrenz.«

»Was willst Du ausführen?«

»Das werden Sie gleich sehen. Das braucht ja zuvor nicht gesagt zu werden, wie ich gehört habe.«

»Wo soll der Zweikampf stattfinden?«

»Gleich hier, wo ich stehe.«

»Wähle Dir eine Amazone aus.«

»Sie da, Mademoiselle oder Madame, Sie da mit der reizenden Matica hepatica auf der linken Wange, was die gewöhnlicher Menschen Leberfleck nennen, oder 's ist wohl mehr eine kleine Warze mit einem tüchtigen Büschel Haare drauf, also eine Verruca kloasma, steht Ihnen übrigens ganz allerliebst, wenn auch unsere Klothilde noch viel schönere Haarbüschel hat — bitte wollen Sie sich mir gegenüber stellen.«

Die zur Genüge kenntlich Gemachte kam und baute sich auf.

»So, ich bin fertig — eins, zwei, drei — nun machen Sie mir das mal nach.«

Doktor Isidor stand da auf seinen geschweiften Postamenten, den Zylinder im Nacken, die Körperstelle, wo beleibte Menschen ihren Bauch haben, weit vorgereckt, die Hände in den Hosentaschen — »Gott der Gerechte, hast de gesehn!«

So stand er da, als wolle er das sagen. Aber wir sahen nichts.

Und was wollte er denn auch machen? Mit den Händen in den Hosentaschen? Nun, da kann man ja schließlich noch springen und laufen. Aber davon verstand Doktor Isidor ebenso viel wie unser Igel, der echte Igel, der Peter, nicht die in ein Igelfell eingenähte Ratte. Denn wir hatten schon längst wieder einen neuen Peter.

Oder sollte es etwa das sein, eben daß er die Hände in den Hosentaschen hatte? Das konnte ihm die Amazone allerdings nicht nachmachen. Oder doch. Sie schnitt sich einfach an der betreffenden Stelle erst Schlitze ins Trikot, dann konnte auch sie die Hände verschwinden lassen.

Aber siehe da, nun wußten wir, mit welcher athletischen Kunst unser Doktor Isidor brillieren wollte! Nicht nur, daß er die Hände in die Hosentasche steckte und den Bauch vorreckte. Was man doch auch nicht als Athletik bezeichnen darf.

Jetzt klappte er seinen linken Elefantenhorchlöffel ich denke dabei an den indischen Elefanten, der afrikanische hat viel größere Ohren, und ich möchte nicht übertreiben — nach vorn, dann klappte er auch den linken nach vorn, ließ ihn stehen und wackelte mit dem rechten, dann klappte er diesen zurück, und zwar ganz weit zurück und wackelte mit dem linken Horchlöffel, dann klappte er den einen nach oben und den anderen nach unten, teils mit Wackeln, teils ohne Wackeln, dann klappte er beide gleichzeitig nach vorn und nach hinten, nach oben und nach unten, mit dem einen wackelnd, mit dem anderen nicht, dann führte er mit dem linken Ohre eine Kreisbewegung aus, während er das rechte sanft erzittern ließ . . .

Na kurz und gut, es war so eine Art Keulenschwingen, aber mit den Horchlöffeln ausgeführt, und so wurden alle Phasen durchgenommen, und immer kühner und schwieriger und komplizierter wurden die Übungen.

»Inschallah, allschallah!«

Die Amazonen hätten das doch nicht staunend gerufen, wenn es nicht wirklich etwas ganz Extraorbitantes gewesen wäre. Ja, es war auch tatsächlich fabelhaft, wie Doktor Isidor mit den Ohren wackeln konnte. Ich hatte ihn schon manchmal wackeln sehen, aber solch eine Wackelei war mir neu. Er war eben in der Ohrenwackelei ein gottbegnadetes Genie, und hatte sich darin, sicher durch allerfleißigste Übung, zum höchsten Virtuosentum ausgebildet. Faktisch auch ich wurde von dieser Ohrenwackelei überwältigt, es ging mir nicht anders als damals, da ich zum ersten Male die Oper besucht, Wagners Lohengrin hörte, oder vielmehr sah, wie Lohengrin mit seinen Schwänen angeschwommen kam.

Noch ein wildes Flügelschlagen, knatternd klatschten die Fleischlappen gegen den Schädel, dann ein ruhiges Aufschweben, so wie der Adler sich auf seinem Horst niederläßt, und die Ohren standen.

»So, Madame, nun machen Sie mir das einmal nach.«

»Es ist nicht nötig, daß sie es versucht,« sagte die Begum, »Du hast sie besiegt. Nimm sie als Deine Sklavin oder tausche sie gegen eine Gefangene aus.«

Ach Du gerechter Strohsack!

Ich hatte doch ganz, ganz bestimmt geglaubt, das die Begum diese Art von Zweikampf nicht gelten lassen würde.

Ja, aber weshalb eigentlich nicht? War das nicht auch eine körperliche Übung, in der man sich ausbilden kann? Ganz gewiß. Zwei Ohren hat jeder. Wenigstens jene Amazone hatte sie. Ein klein wenig mit den Ohren wackeln kann jeder, man braucht bloß ein gut durchgebratenes Stück Beefsteak von einer frischgeschlacheteten zehnjährigen Kuh in den Mund zu stecken, mit dem festen Vorsatz, es klein zu kauen, blickt dabei in den Spiegel — da sieht man ganz deutlich, wie die Ohren wackeln. Wenn sie sich auch nicht gerade wie Windmühlenflügel bewegen — etwas wackeln tun sie! Oder man hat sie erfroren. Oder es sind überhaupt gar nicht die eigenen Ohren, man hat sie von einem anderen Menschen gepumpt, hat sie sich operativ ansetzen lassen. Oder man hat überhaupt keine Ohren, dann kann man natürlich auch nicht mit ihnen wackeln.

Diese Amazone hatte zwei Ohren, ganz vorschriftsmäBig auf jeder Seite eins an der richtigen Stelle, hatte sie sicher nicht erfroren, es waren zweifellos auch ihre eigenen — weshalb hatte sie sich nicht von zarten Kindesbeinen an in der Kunst geübt, diese Ohren nach Belieben lenken zu können?

Es war ihre eigene Schuld, daß sie besiegt worden war, sofort für besiegt erklärt wurde. Die Begum hatte ganz recht gehabt.

So bekamen wir doch noch den kleinen Fuchs, dieses Ideal von einem racheschnaubenden Indianer auf dem Kriegspfade. Nur mußten wir ihn erst wieder dünn walzen. Allerdings bekamen wir ihn nicht sofort.

Zuerst begehrte Doktor Isidor als Siegeslohn die Amazone selbst.

»Sie? Sie?! Was wollen denn Sie mit der anfangen?!«

»Ich möchte sie in Spiritus setzen . . . «

»Sie in Spiritus setzen? Als ob Sie jemals für so etwas Spiritus übrig hätten!«

Er bekam sie nicht, der kleine Fuchs wanderte zu uns herüber.

»Well, wenn das gilt, dann kann ich auch etwas vormachen,« lachte Kapitän Martin, »eine ganz exakte körperliche Übung.«

Und er ließ auf eine der noch dastehenden leeren Weinflaschen wieder einen Kork aufsetzen, trat reichlich sechs Schritte zurück, baute sich auf, ebenfalls die Hände in den Hosentaschen — bei dem ganz selbstverständlich — schrietz ging es, aus dem Munde, der einmal zu kauen aufhörte, schoß ein brauner Tabakstrahl, und der mit unfehlbarer Sicherheit getroffene Stöpsel war von dem Flaschenhals geschleudert.

Appetitlich war diese Sache zwar nicht, aber Kunstfertigkeit gehört dazu, das mußte man lassen. Dabei war Kapitän Martin gar kein Spucker, was beim Tabakkauen auch gar nicht nötig ist, nur eine üble Angewohnheit.

Oder es macht so wie dem am Kamin sitzenden Amerikaner Freude, immer ins Feuer zu spucken, und dann kann er auch anderswo nicht davon lassen.

Und wahrhaftig, auch diese geniale Spuckerei erkannte die Begum als zur Athletik gehörig an! Sie mußte es eben geradezu darauf abgesehen haben, möglichst viele Gefangene loszuwerden, oder auch ihre eigenen Amazonen.

»Du hast gesiegt, wir verzichten — suche Dir eine Amazone oder einen Gefangenen aus.«

Kapitän Martin schlenderte hin, wo eine Gruppe Weiber stand.

»Du da, komm mal her, Du gehörst mir.«

Mit Kennerblick hatte er das schönste aller dieser meist schönen Weiber herausgefunden. Ein bildschönes Gesicht, die Figur schlank und voll zugleich und alles was sonst noch dazu gehört, alles vorhanden.

Aber daß Kapitän Martin auf eine Amazone bestand, das hätten wir nun freilich nicht erwartet.

»Sie wollen keinen Gefangenen befreien?«

»Nein.«

»Sie wollen eine Amazone behalten?«

»Ja. Für mich selbst.«

»Für sich selbst?!« durfte man da wohl mit Recht sich wundern.

»Ja, weil solch ein Weib, gerade dieses hier, drei und vier Mal so viel wert ist als ein Mann, und wenns auch ein Adonis oder ein Apollo oder ein Herkules wäre.«

»Mehr wert, wie meinen Sie das?«

Zunächst ging Kapitän Martin einmal um seine Auserwählte herum, betrachtete sie mit kritischen Blicken wie der Metzger die Kuh, die er kaufen will, um sie als Ochsenfleisch zu verwerten.

»Well,« hub er dann an, »die ist unter Brüdern 2000 Taler wert. Man muß nur auf den richtigen Sklavenmarkt kommen. Ich kenne schon Plätze genug, auch Häfen . . . «

»Was, Sie wollen dieses Weib als Sklavin verkaufen?!«

Gelassen drehte sich der Kapitän nach mir um.

»Blicken Sie mich nicht so an, Herr Kollege. Ja, ich werde dieses Weib auf dem Sklavenmarkte verkaufen. Das ist eine mohammedanische Inderin, die gehört überhaupt in den Harem. Und für die 2000 Taler, die ich für sie lösen werde, werde ich ein viertel oder ein halbes Dutzend oder noch mehr christliche Sklaven freikaufen, die ihre verlorene Freiheit besser zu schätzen wissen, werde sie in ihre Heimat schicken. Well, Ihr Gesicht verändert sich. Gefällt Ihnen das, Herr Kollege? Finden Sie das edel? Well, Sie verdienen doch auch Geld genug, haben wohl auch von zu Hause aus Geld. Well, so verwenden Sie es doch dazu, um Christenklaven freizukaufen. Sie tun es nicht? Ich auch nicht. Mein Geld, das ich mir verdient habe, gehört meinen Kindern und Kindeskindern. Aber wenn ich hier so ein Geschäft einmal machen kann — well, ich bin ein Geschäftsmann, aber kein Schacherjude — mit diesem Haremsweibe werde ich einigen bedauernswerten Menschen die Freiheit schenken.«

So sprach Kapitän Martin.

Ich habe dem nichts weiter hinzuzufügen.

Das Spiel war aus, es war auch die höchste Zeit, schon längst wartete Meister Kännchen mit dem Mittagsessen auf uns.

Ach, wie viele würden dabei fehlen!

Von der eigentlichen Mannschaft der »Argos« war ja überhaupt so gut wie niemand mehr vorhanden!

Doch jetzt will ich erst von etwas anderem sprechen.

Zu guterletzt hatte sich das Blatt noch gewendet, uns den Sieg gebracht.

Aber gefallen taten mir diese letzten Siege durchaus nicht.

Am allerwenigsten die beiden letzten Turniere, die Ohrenwackelei und die Spuckerei.

Aber auch schon die Hantelhalterei, einfach die Arme nach beiden Seiten ausstrecken, war gar nicht nach meinem Geschmack gewesen.

Ich hatte doch gehofft, war überhaupt felsenfest davon überzeugt gewesen, meine Jungen, die eigentlichen Argonauten, die ich zu Athleten ausgebildet, würden diese indischen Weiber spielend überwinden!

Nichts war es gewesen!

Man glaube nicht etwa, daß ich mich in so guter Laune befunden hätte, wie es vielleicht manchmal geschienen. Weil ich gelacht, weil ich es so geschildert habe.

Ich war furchtbar niedergeschlagen, fast der Verzweiflung nahe.

Aber das eine stand bei mir fest, dieser Entschluß beruhigte mich etwas: Wenn keiner meiner gefangenen Jungen in dem Weiberlager hinter das Geheimnis kam, wie sich diese Amazonen in derartiger Weise ausgebildet hatten, um solche phänomenale Leistungen zu erzielen, dann ging ich selbst noch als Sklave hinüber, um dieses Geheimnis zu ergründen.


101. KAPITEL.
»DANN FLIEHT MEINE SEELE ZURÜCK . . . «

Die fünf Galeeren waren zurückgefahren.

Schon zwei Stunden später, nachmittags um vier, tauchte wieder eine hinter jener Felsenecke auf, eine bedeutend kleinere als die, welche wir bisher gesehen hatten, keine andere folgte ihr, und sie wurde recht unregelmäßig gerudert, die langen Riemen klapperten manchmal zusammen, das Landungsmanöver gelang schlecht.

Wieder eine Blamage für mich! Für uns alle, aber ich empfand es am allermeisten!

Die Hälfte der Leute war es, die wir hatten abgeben müssen, also genau zwei Dutzend, denn 48 waren besiegt worden. Überhaupt sämtliche Matrosen und Heizer, ausgenommen Albrecht, der noch immer in seiner eigenen Kabine Messing putzte. Zu den Matrosen zählten natürlich auch die Turner, von denen uns nur Kretschmar übrig geblieben war.

Es war eine zwanzigriemige Galeere, wurde also von 20 Mann gerudert, auf jeder Seite zehn, zum Handhaben der langen Stangen brauchte man anderthalb Meter Raum, woraus man sich die ganze Länge des Fahrzeugs berechnen kann, wozu freilich noch Vorder— und Hinterteil kamen, zwei Mann verrichteten die sonstigen Arbeiten, der erste Bootsmann schlug auf der großen Pauke den Rudertakt, und Oskar, obgleich hinter diesem rangierend, wenn auch als Segelmacher Unteroffizier, schien den Kommandanten zu spielen.

Wenigstens war er der erste, der das Land betrat, machte den Sprecher, und er war von der Begum für diese Fahrt auch wirklich zum Kapitän erwählt worden. Weil er eben tatsächlich eine größere Intelligenz als Napoleon war, was jene gleich gemerkt hatte.

»Werde ich als Abgesandter Ihrer Majestät der Königin von Maladekka und Kaiserin von Sibirien so wie aller anderen Länder anerkannt?

So fragte er in möglichst feierlichem Tone, auch sonst sich so gebärdend und dabei fuhr er mit der Hand vorn in seine Badehose hinein, in der er, wie sich später herausstellte einen Brief stecken hatte.

Denn er war immer noch nur mit seiner Badehose bekleidet, mit der er von uns gegangen, aber sie hatte sich sehr verändert, er mußte mit ihr geradezu zwischen die Dornenhecken gekommen sein, es waren nur noch zusammenhängende Lumpen, allüberall Löcher, und dazwischen hingen die Fetzen herab.

»Hat man Euch denn so gehen lassen, in dieser Badehose?« war meine erste Frage, und es mochte etwas in meinem Tone liegen, auch schon weil ich ihn nicht wie gewöhnlich mit »Du«, sondern mit Euch anredete, was nur im strengen Dienste vorkam, daß Oskar gleich seine affektierte Feierlichkeit aufgab und militärische Stellung annahm. Denn wenn ich nicht als Waffenmeister mehr der Kamerad der Leute war, sondern als zweiter Kapitän und überhaupt als Schiffsoffizier auftrat, dann war mit mir manchmal nicht gut Kirschen essen.

»Nein, ich habe ein neues Päckchen bekommen, ein ganz feines, aus roter Seide mit Hermelin besetzt.«

Der Seemann sagt nicht Anzug oder Kleidung oder Gewand, sondern »Päckchen«. Das, was Oskar bekommen hatte, wäre eher Kostüm zu nennen gewesen, aber ich kann einen echten Seemann, wie Oskar einer war, unmöglich Kostüm sagen lassen, besonders nicht, wenn er mit seinem Kapitän spricht, es könnten unter meinen Lesern Seeleute sein, und die würden sich totlachen. Da sage ich schon lieber einmal Ruder für Riemen, obgleich Ruder ja das ist, was der Laie das Steuer nennt, lasse meine Jungen auch einmal rudern, anstatt pulen. Das ist schon eher verzeihlich.

»Habt Ihr das Päckchen nicht mitbekommen?«

»Ja freilich . . . «

»Weshalb habt Ihr es nicht angelegt? Weshalb präsentiert Ihr Euch hier in der Badehose, die Ihr ganz offenbar mit Absicht so zerfetzt habt?«

»Weil ich — weil ich — ich dachte — ich bin doch mit der Badehose fortgegangen.«

»Macht keine Faxen!« schnauzte ich den Segelmacher noch grimmiger an.

Ich hatte gar trübe Stunden hinter mir, die letzten beiden, die ich mit Kapitän Martin und der Patronin in Beratung verbracht, waren die allertrübsten gewesen, und jetzt war mir nun auch noch dieses jämmerliche Rudern meiner Leute mächtig in die Nase gefahren! Sie konnten ja nichts dafür, das war ein ganz, ganz anderes Pulen auf diesen hohen Galeeren als in unseren niedrigen Booten, das mußte so gut wie von vorn gelernt werden, die Amazonen hatten sich eben schon eingeübt gehabt — aber immerhin, ich war furchtbar ärgerlich gestimmt, wie es bei mir sonst selten vorkommt.

»Ihr sollt Eure Sachen abholen?«

»Zu Befehl!« wurde Oskar jetzt ganz und gar militärisch, obgleich es das sonst bei uns nicht gab.

»Ihr habt dazu Urlaub bekommen?«

»Jawohl. Zwei Stunden. Punkt sechs müssen wir zurück sein.«

»Ihr habt Euer Ehrenwort abgeben müssen?«

»Jawohl.«

»Auch daraufhin, daß Ihr nie einen Fluchtversuch unternehmen werdet?«

Mit einem gewissen Lauern hatte ich es gefragt, obgleich mir so etwas doch sonst ganz fremd ist. Es entsprang einer furchtbaren Sorge, die mich, die uns alle in den letzten Stunden gequält hatte.

Die Besiegten waren immer so schnell abgeführt worden, um auf einer der Galeeren zu verschwinden. Wir hatten ihnen keine Instruktionen gegeben. Was auch für Instruktionen?

Erst hinterher, als sie fort waren, hatten wir daran gedacht, mit Schrecken.

Wenn ihnen die Begum nun das Ehrenwort abforderte, niemals einen Fluchtversuch zu machen? So leichtfertig würde ja niemand dieser Männer — und sie alle waren ganze Männer — sein, um daraufhin sein Ehrenwort abzugeben.

Wenn ihnen aber nun mit Martern gedroht wurde? Wenn nicht mit persönlichen Qualen, dann dadurch, daß man drohte, einen anderen zu martern, wenn jener nicht sein Ehrenwort abgab, niemals einen Fluchtversuch zu machen, sich nicht von anderen befreien zu lassen? Einfach den Vasalleneid der Begum gegenüber zu leisten?

Ein erzwungener Eid gilt nicht, braucht nicht gehalten zu werden.

So heißt es.

Wohl dem, der nie in die Lage kommt, darüber nachzugrübeln, ob ein erzwungener Schwur wirklich nicht gilt oder dennoch unter allen Umständen gehalten werden muß.

Für mich ist die Geschichte von anno . . . doch nein, ich will gar nicht davon anfangen, mir ist es gar zu peinlich.

Alle waren am Strand versammelt, alle lauschten ebenso atemlos wie ich der Antwort auf die von mir gestellte Frage.

»Nein, das brauchten wir nicht.«

»Was brauchtet Ihr nicht?«

»Daraufhin unser Ehrenwort abzugeben. Die Begum selbst fing davon an.«

»Wovon fing sie an? Berichte ausführlich!«

»In dem Weiberquartier angekommen, nahm die Begum uns alle zusammen sofort vor. Sie kitzelte uns ein bißchen. In unserem Ehrgefühl, meine ich. Daß jeder von uns sein einmal gegebenes Ehrenwort unbedingt halten würde, davon sei sie vollkommen überzogen . . . überzeugt, wollte ich sagen. Aber sie würde unser Ehrenwort immer nur von Fall zu Fall abnehmen. Also zum Beispiel, wenn sie uns Urlaub gebe. Dagegen niemals ein uns für immer bindendes Ehrenwort. Also zum Beispiel nicht, daß wir niemals an eine Flucht oder sonstige Befreiung dächten. Dazu sei sie eine zu gute Menschenkennerin. Da warf sie sich ein bißchen in die Brust, wenn die das überhaupt sonst, noch nötig hätte, ihren vorderen Buckel herauszudrücken. Solch ein für ewig bindendes Ehrenwort, das man gegen seine Überzeugung gibt, also erzwungen wird, könnte zu leicht gebrochen, umgangen werden, und dann hätte man auch noch die Bewunderer oder gar den Schein des Rechtes aus seiner Seite. Da verzichte sie also lieber gleich. Solch ein Ehrenwort, daß wir niemals an unsere Befreiung dächten, fordere sie uns nicht ab.«

So hatte der Segelmacher berichtet. Einige Witze hatte er ja dabei nicht unterdrücken können, er hieß eben Oskar, war der »Kölner Jong«, mit allen Wassern getauft — aber sonst hätte er sich präziser nicht ausdrücken können. Genau das hatte er berichtet, was wir hatten wissen wollen.

»Gott sei Dank!«

Es waren wenige unter den Umstehenden, die diesen oder einen ähnlichen Seufzer der Erleichterung nicht von sich gaben. Mir wäre es lieb gewesen, wenn die Begum gleich mitgekommen wäre. Ich hätte sie noch zuvorkommender empfangen und behandelt als gestern.

»Wieviel seid Ihr, die Ihr den ersten Urlaub bekommen habt?«

Jetzt erst erfuhr ich, daß es genau die Hälfte war.

»Also Ihr sollt Eure Sachen holen?«

»Jawohl. Und die der anderen auch gleich mit.«

»Weshalb holen diese ihre Sachen nicht selbst?«

»Das können sie ja auch. Wenn wir sie nicht gleich mitbekommen.«

»Wann erhalten die ihren Urlaub?«

»Morgen oder auch gleich nachher, wenn wir wieder zurück sind. Das weiß ich noch nicht. Wir wurden so fein behandelt, daß wir gar nicht solche Fragen stellten.«

»Sollt Ihr auch Eure Papiere mitbringen?«

»Davon sagte sie nichts. Aus Papieren wird die sich wohl auch nicht viel machen. Aber unsere Instrumente möchten wir mitbringen. Wenns möglich wäre. Wenns der Herr Waffenmeister erlaubt. Damit wir den Frauenzimmern was vortuten.«

Das hätte ich sonst auf keinen Fall gestattet. Daß die Gefangenen ihre Instrumente mitnahmen, um den Weibern ab und zu ein Konzert zu geben. Aber wie sich die Begum nun gezeigt hatte, wollte ich auch entgegenkommen. Die Leute nahmen dann ihre Instrumente mit. Die Patronin ließ mir darin ganz freie Hand.

»Ich richte nur aus, womit die Begum mich beauftragt hat,« setzte Oskar, selbst das Richtige gleich fühlend, denn auch noch hinzu, »sie wird davon wohl auch geschrieben haben.«

»Ihr könnt die Instrumente mitnehmen. Uns nützen sie hier doch nichts mehr.«

»Gut. Ob wir den Weibern auch etwas vorblasen werden, das ist ja eine andere Sache.«

»Natürlich, darüber habe ich Euch nichts zu befehlen. Aber tut es nur, ich kann es Euch nur raten.«

»Gewiß, wenn sie uns weiter so fein behandeln, dann werden wir ihnen schon etwas vorposaunen und vorpauken, daß ihnen die Trommelfelle platzen.«

»Auch etwas Schriftliches hat die Begum Euch mitgegeben?« fragte ich weiter.

Jetzt erst holte Oskar vorn aus seiner Badehose, der er vorhin nur herumgefingert hatte, das zierliche Briefchen. Das Kuvert war so stark parfümiert, daß es noch nichts von seinem Duft verloren hatte.

Jetzt allerdings mußte ich erst einmal herzlich lachen. Wie und wo der das Briefchen hervorbrachte! Es war eben Oskar. Übrigens war ich nun auch gleich in ganz andere Stimmung gekommen. Nun würde ich meine Jungen schon wieder an Bord bekommen, so oder so.

Das französische Schreiben lud uns alle zu heute abend nach dem Weiberquartier hinüber ein. Zu einem Souper mit nachfolgenden Überraschungen. Die Heiligkeit der Gastfreundschaft war betont, heilig speziell den Mohammedanern. Wir könnten ja gleich die Galeere benutzen, auf dieser die Pferde mitbringen, die wir abzutreten geneigt wären, dann dafür die Galeeren aussuchen. Und schließlich noch die Bitte wegen der Instrumente.

Das Schreiben war direkt und nur an mich gerichtet. Die Patronin nahm es nicht übel, die war gerade über so etwas erhaben.

Wer diesen Brief geschrieben, das stand schon an der Spitze, wie überhaupt der französische Brief mehr morgenländisch gehalten war.

»Ich, die Begum von Maladekka, begrüße Dich . . . « und so weiter.

Dann aber auch noch zum Schlusse eine Unterschrift mit einleitenden Worten.

Jedoch keine solche Schlußbegrüßung, wie sie im Mittelalter die türkischen Sultans gegen die deutschen Kaiser gebrauchten, wenn sie ihnen etwas zu schreiben hatten.

»Ich speie Dich an, Dich voll Jauche gepumpten Christenhund . . . «

Faktisch, ich habe solche Handschreiben im Original in Bibliotheken gesehen, in Schlossers Weltgeschichte werden mehrere Proben wiedergegeben. Besonders Sultan Suleiman II. hatte in solchen Schlußkomplimenten etwas los. Und wenn man nun heute bedenkt! Hochmut kommt stets vor dem Falle.

Nein dieser Briefschluß einer französischen Mohammedanerin hier war anders gehalten.

In der angenehmen Hoffnung, daß Sie meiner Einladung und Bitte Gehör schenken werden, bin ich mit ganz ergebener Hochachtung Ihre Circe.

Hallo! Also Circe nannte sich die Begum. Sie verglich sich demnach mit jener Göttin oder Halbgöttin, die ihre Zauberkunst dazu benutzte, um die Gefährten des Odysseus in Schweine zu verwandeln.

Übrigens kommt die Circe ja auch in der Sage der Argonauten vor. Jason und Medea kehren bei ihr ein, lassen sich von ihr die fabelhaftesten Dinge vorzaubern, aber Medea, dieses liebenswürdige Weib, das aus ihren kleinen Geschwistern ein Ragout zusammenkocht, zaubert ihr noch ganz anders die Hucke voll.

Nun, diese französische Kunstreiterin brauchte ja gar nicht so sehr gebildet zu sein, diese Sachen konnte sie doch gelesen haben, und möglich auch, daß sie uns etwas vorgaukeln wollte. Deshalb hatte sie sich mit »Circe« unterschrieben.

Sollten wir dieser Einladung Folge leisten?

Da gab es schwere, schwere Bedenken. Selbst wenn wir der mohammedanischen Gastfreundschaft völlig trauen durften. Da war noch anderes zu mißtrauen. Zum Beispiel dem Kapitän Satan, der dort drüben . . .

»Merlin!« wurde da von verschiedenen Seiten leise gesagt. Um mich aufmerksam zu machen, nachdem ich diesen Brief laut vorgelesen hatte und mit mir selbst noch Beratung abhielt, ob oder ob nicht.

Da stand er schon neben mir, in seinem gelben Leder, wie immer plötzlich wie aus dem Boden gewachsen, obgleich er stets wie ein anderer Mensch kam und wieder ging. Und trotzdem hatte er so etwas Schattenhaftes an sich.

»Darf ich erfahren, was die Begum Dir in diesem Briefe schreibt?«

Ich gab ihm den Brief, er las ihn und händigte ihn mir wieder ein.

»Folge der Einladung. Wenn Du willst. Du darfst es. Die Begum führt nichts gegen Euch im Schilde, und wenn sie gegen Euch vorgehen will, so wird sie Euch erst warnen. Jetzt weiß ich es. Und ebenso wenig braucht Ihr jenen Kapitän Satin zu fürchten. Folgt ruhig der Einladung.«

Sprach's, wandte sich und ging.

Ich hätte ihn noch so viel fragen mögen, Erklärungen fordern. Aber nachlaufen tat ich ihm nicht, niemandem. Und da er gewünscht hatte, von den anderen nicht angeredet zu werden, so war das bei uns ganz ausgeschlossen. Auch die Patronin hätte sich mit der brennendsten Frage nicht an ihn gewandt.

So war er wieder zwischen den Bäumen verschwunden, gleich darauf sah ich dort noch einmal etwas Weißes huschen. Offenbar ein weißer Hirsch.

»Ihr habt es alle gehört. Also wir nehmen die Einladung an. Wer mitkommen will, melde sich. Ganz entblößen können wir unser Schiff natürlich nicht. Von den Jungen kommen die Blauen mit.«

Halb sechs Uhr machte sich die Galeerenmannschaft wieder klar zum Abfahren. Aus unserem Marstall nahmen wir vier Pferde mit, und zwar zwei der Riesengäule, darunter Viola, einen Tarpan und einen Kulan. Juba Riata war bereit, mehr zu fangen und für die Amazonen zuzureiten, wollte in wenigen Wochen einige Dutzend liefern, aber nicht mehr aus unserem jetzigen Marstalle herzugeben, und hierüber hatte allein er zu bestimmen.

Alle unsere Gäste kamen mit, nur Vater Abdallah und seine Sippschaft nicht, wir befanden uns an Bord der Galeere, aber die 16 blauen Jungen ruderten den großen Kutter. Mit diesem würde dann voraussichtlich die eingetauschte Galeere auch eingeschleppt werden, damit sich meine Jungen, ob nun groß oder klein, nicht nochmals so schrecklich blamierten.

Verzeihlich allerdings war es. Ich selbst handhabte während der Überfahrt einmal einen der langen Riemen. Es war ein so ganz, ganz anderes Pulen als im niedrigen Seeboot. Die lange Hebelbewegung eine so gänzlich andere. Das mußte erst eingeübt werden. Und nun vor allen Dingen sah man durch die Pforten ja auch nicht die Riemenblätter, man konnte sich nur nach den Bewegungen des Vordermannes richten! Daher auch die Paukenschläge womit schon die alten Griechen in vorhomerischer Zeit den Takt angaben. Genau so, wie die Soldaten nach dem Paukenschlag marschieren, wenn es einmal ganz besonders auf den Takt ankommt, wie beim Parademarsch. Und das kann durch nichts anderes ersetzt werden, nicht etwa durch Pfiffe. Das hat man ausprobiert. Das Pauken— oder doch Trommelfell bringt eine ganz andere Lufterschütterung hervor, man kann das Tempo des Taktes schon im voraus bestimmen. Ehe aber der Soldat den Parademarsch machen kann, muß er erst marschieren können, Musik mit Paukenschlag allein machts noch nicht. Und genau so wars hier mit dem Pulen dieser langen Riemen, deren Blätter man nicht sehen konnte.

Daß hinter jener Felsenecke eine tiefe Einbuchtung war, hatten wir bereits gewußt. Aber nicht, daß sich aus der rechten Seite in der glatten Felswand ein weites Tor befand. Davon war früher nichts zu bemerken gewesen.

Wir fuhren ein. Oskar, der mir in seinem roten mit weißem Hermelin besetzten Schlafrock nicht wie ein Türke, sondern wie der Hofkämmerer eines phönizischen Königs vorkam — ich hatte einmal so ein Gemälde gesehen — steuerte. Die anderen Jungen trugen ihr gewöhnliches »Päckchen«, auch Oskar hatte ja jetzt seinen Kleidersack, nun aber behielt er gerade dieses Kostüm an, in das er gekleidet worden war.

Eine weite, ungeheure Felsenhalle mit Wasser gefüllt, ringsherum eine Galerie, an der einige Dutzend solcher Galeeren lagen, von den verschiedensten Größen noch einhalb mal so groß als die, mit der die Amazonen zuerst gekommen, für 100 und mehr Ruderer bestimmt, und solche mit nur sechs Riemen, nahm uns auf.

Auch dieser geschlossene Hafen war mit jenem rätselhaften Lichte erfüllt. Die Amazonen, die uns empfingen, waren wieder mit goldenen oder silbernen Schuppen gepanzert, aber das waren nicht mehr, wie ich gleich erkannte, diejenigen Panzertrikots, die sie mit aus ihrer Heimat gebracht hatten, sondern solche solide und doch so schmiegsame Bronzerüstungen, wie wir sie auch drüben bei uns gefunden hatten.

Unsere vier Pferde verursachten die größte Freude. Die sonst so stolzen Weiber versuchten gar nicht ihren hellen Jubel zu unterdrücken. Zumal ihnen gleich gesagt worde, daß sie solche noch massenhaft bekommen könnten. Freilich, die eigentliche Amazone fängt doch erst mit dem Pferde an. Die Begum stellte mir gleich die Hälfte aller Galeeren zur Verfügung. Doch mit deren Auswahl, die nicht so groß sein würde, wollte ich mich erst später befassen. Mein Magen erinnerte mich daran, daß ich heute mittag in meiner Niedergeschlagenheit kaum etwas gegessen hatte, und das sagte ich gleich ganz offen, da gab es bei mir nichts. Dabei erinnere ich mich — ich habe immer einmal so eine Erinnerung, die dann auch von der Pfanne muß — einer alten Tante, einer Frau Stadtrat, verwitwet, mit zwei erwachsenen Töchtern. Hatten kaum etwas zu beißen, knabberten zu Hause trocken Brot und abgelegte Schinkenknochen. Nämlich deshalb, weil die ganze Witwenpension für die Wohnung und Kleiderstaat ausgegeben wurde. Die beiden heiratsfähigen Töchter sollten doch gut untergebracht werden. Also: den Leuten Sand in die Augen streuen! Und solch eine Heuchelei wird doch natürlich zum Charakter und drückt sich in allem und jedem aus. Nur immer so geziert als möglich.

Diese drei werden einmal von einem ehemaligen Freunde des seligen Stadtrates eingeladen. Er hat einige Meilen von Kiel entfernt eine schöne Gartenvilla. Ein reicher Mann, ein feiner Mann, ein gastfreier Mann — aber ein alter Junggeselle und ein Sonderling dazu.

Also die drei rücken in aller Herrgottsfrühe ab. Zu Fuß! Sie hatten Fahrgelegenheit, es geht eine Vorortsbahn, aber selbst das Fahrgeld für die vierte Klasse war der Frau Stadtrat zu viel. Doch nein . . . das Laufen ist so gesund! Erst bei der vorletzten Station benutzen sie den Zug, noch fünf Minuten, nun natürlich aber auch zweiter Klasse.

So kommen die drei an in der einsamen Villa. Fünf Minuten gefahren und drei Stunden marschiert. Verhungert wie die Wölfe. Und, o Entzücken, da winkt ihnen durch die geöffnete Tür des Nebenzimmers auch gleich eine opulente Frühstückstafel.

»Bitte, meine Damen,« sagte der biedere Hausherr, »Sie werden gewiß tüchtigen Hunger mitbringen . . . «

»O nein, ach nein, bitte nur gar keine Umstände, wir sind durchaus nicht hungrig, wir haben unterwegs gut gefrühstückt . . . «

»Schade. Abräumen!«

Alle wars! Sie bewunderten den Garten, gossen in den leeren, knurrenden Magen ein Glas Limonade, und dann sockten sie wieder ab.

Auch zwischen uns war es dann alle. Weil mein Vater vor Lachen fast vom Stuhle fiel, als ihm das die Frau Stadtrat halb weinend erzählte. Leider hat ihr und ihren Töchtern diese Lehre nichts genützt.


Wir wurden eine breite Steintreppe hinaufgeführt, die hier aber mit einem prächtigen Teppichläufer belegt war, in den Festsaal. Es war ein orientalischer Prunksaal, weiter will ich ihn nicht beschreiben, nur noch sagen, daß wir bei Tafel nicht wieder auf überdeckten Fässern und Eierkisten saßen, sondern auf Samtsesseln.

Diesmal wurde auch eine bunte Reihe gebildet, aber doch nicht so nach Willkür durcheinander gewürfelt, sondern jeder Argonaute saß neben der Amazone, die ihn besiegt hatte, ebenso auch wir Sieger neben unserer Gegnerin, und zwar hatten diese Weiber unsere Gesichtszüge und Figuren besser gemerkt als wir die ihren.

Nur einige wenige erkannte ich wieder, so zum Beispiel die stolze, finstere Makuba, die neben dem Segelmacher saß, und dann neben August dem Starken das noch stärkere Weib, das so klapperdürr war, an deren Knochen die hervortretenden Muskeln wie angeklebt waren, über welche Nachbarin unser zweiter Bootsmann gar nicht so sehr erbaut schien, und das umso weniger, als diese Nachbarschaft nicht nur hier an der Tafel bestand, Oskar hatte mir nun schon nähere Erklärungen gegeben, jetzt war bei den Amazonen die Monogamie eingeführt worden.

Auch sonst hatten sich die Amazonen recht verändert. Von stolzer Zurückhaltung war keine Spur mehr. Nichts von emanzipierter Weiberselbstherrlichkeit. Jede bediente bei Tafel aufmerksam ihren Nachbar, ihren Gatten, obgleich der doch ihr Sklave sein sollte, sie hatte nur für ihn Augen, plauderte nur mit ihm, und die Aufmerksamkeit ging so weit, daß sie ihm sogar oftmals die Bissen in den Mund schob.

Bedient denn der Herr so seinen Sklaven? Nun, mich konnte das wenig irritieren. Füttere ich meinen Hund, stecke ich ihm die Bissen ins Maul, oder füttert mich etwa mein Hund?

So kam es, daß August der Starke keine Gelegenheit hatte, sich mit seiner bildschönen Nachbarin zur linken zu beschäftigen, vergebens schielte er nach ihr, seine eckige Herrin zur rechten nahm ihn völlig in Anspruch, auch mit der Unterhaltung, und zwar sprachen sie jetzt alle fließend englisch, und da dies also von allen Paaren galt, so konnte es auch nicht auffallen, daß sich die Begum ausschließlich mit mir beschäftigte, da ich sie ja besiegt hatte. Ebenso wurde ja auch die Patronin von ihrer Gegnerin, die sie im Halten der Arme besiegt, voll und ganz in Anspruch genommen. Und ebenso aufmerksam wurden die mitgekommenen Jungen behandelt, auch jeder neunjährige Knirps als ein ganzer Mann.

Wir speisten von Silber. Alles war von Silber. Aber jedes Monogramm und sonstige Merkmal fehlte an den Gerätschaften. Auch diese Weiber, obgleich Mohammedanerinnen, benutzten Messer und Gabeln und Löffel. Wie überhaupt fast alle mohammedanischen Inder. Gegen zwei Dutzend Amazonen spielten die Kellnerinnen. Es waren köstliche Speisen, die sie auftrugen. Dazu gab es außer anderen harmlosen Getränken auch Wein. Aber ich merkte gleich, weshalb Doktor Isidor nach dem ersten Schluck so ein schiefes Maul machte. Dieser Wein war ebenso harmlos, da war kein Alkohol drin.

Nun fehlten aber doch noch immer an die hundert Amazonen. Denn jede an der Tafel Sitzende hatte als Nachbar einen der unsrigen, Herrn oder Dame, immer ihren Gegner. Wenn auch diejenigen, die nicht mitgekämpft hatten, wie der zweite Steuermann, ebenfalls eine Amazone als Gesellschafterin oder mehr als Dienerin zugeteilt bekommen hatten.

»Wo sind Deine anderen Amazonen?« fragte ich.

»Die haben Dienst!« lautete die Antwort, und dabei wurde ein Blick nach oben geworfen.

Als ich diesem Blicke folgte, gewahrte ich, daß sich oben an den Wänden des hohen Felsensaales eine Galerie hinzog.

Zwar sah ich keine Zuschauer, aber nun wußte ich genug.

Es hätte also keinen Zweck gehabt, wenn wir etwas den Plan ausgemacht, unsere holden Nachbarinnen während der Tafel auf ein Signal hin samt und sonders bei der Gurgel zu fassen. Die Wächterinnen dort oben konnten in aller Gemütsruhe aufgelegt zielen.

Die Unterhaltung ging weiter.

»Habt Ihr eine besondere Ausbildungsmethode, um solche phänomenale Kraftleistungen zu erzielen?«

»Ja, die haben wir. Willst Du hier diese Nudeln kosten?«

Sie hielt mir die gehäufte Gabel vor, ich sperrte gehorsam den Rachen auf, ließ mir die Fuhre hineinschieben.

»Mum mum mum mum — was ist das für ein besonderes Training?«

Ich mußte mit vollem Munde sprechen, sonst hätte ich gar keine Gelegenheit dazu gehabt, denn die Begum präsentierte mir immer wieder eine gehäufte Gabel oder gar einen Löffel, und dabei war das delikate Luderzeug immer so heiß.

»Du wirst es erfahren, wenn Du der unsrige bist.«

»Du bildest auch die Argonauten, die jetzt Dir gehören, nach dieser Methode weiter aus?«

»Ja.«

»So erfahren sie also die Art und Weise.«

»Nein.«

»Wie das?«

»Sie merken die Resultate, aber nicht die Mittel, die wir dabei anwenden, um ihre Kraft und Gewandtheit immer mehr zu steigern.«

»Durch Medikamente oder sonstige Mittel, innerlich oder äußerlich angewendet?«

»Nein.«

»Wie sonst?«

»Du wirst es erfahren, wenn Du einer der unsrigen bist, Dir werde ich es offenbaren.«

»Ich komme doch nicht mehr in Betracht.«

»Wir können die Zweikämpfe ja wiederholen.«

»Darauf werden wir uns wohl schwerlich einlassen.«

»Ist es nicht recht und billig, daß Ihr uns Revanche gebt?«

»Ja, aber dasselbe gilt von Euch. Wir kämpfen wieder um Rückgabe unserer Argonauten.«

»Nein, die setzen wir nicht wieder ein.«

»Was sonst?«

»Die anderen Gefangenen oder uns selbst.«

»Sprechen wir hierüber ein andermal.«

»Wie Du willst. Ich hoffe, wir werden in guter Nachbarschaft zusammen leben.«

»Gewiß. Das soll nur von Euch abhängen.«

»Wir werden zusammen jagen.«

»Können wir.«

»Auf den Galeeren um die Wette rudern.«

»Auch das. Wenn wir uns erst eingepult haben.«

»Uns Seegefechte liefern.«

»Seegefechte?!«

»Harmlose. Keine blutigen. Wir fahren dicht aneinander vorüber, welche Galeere der anderen die Ruder abbricht.«

»Das läßt sich machen.«

»Und die Mannschaft der manövrierunfähigen Galeere muß zu den Siegern hinüber.«

»Als Gefangene?«

»Ja. Für immer.«

Sie fing immer wieder davon an. Ich aber ließ mich darauf nicht ein.

»Ob wir uns noch einmal um solch einen Einsatz messen, darüber sprechen wir später, sagte ich Dir schon.«

»Wie Du bestimmst.«

Zwischen uns beiden trat eine kleine Pause ein, während die anderen Paare lustig weiter parlierten. Ich hörte nicht hin.

»Dort drüben,« hub die Begum dann wieder an, eine Handbewegung nach Südosten machend, »steht auf einem hohen Felsen mitten im Wasser eine alte Burg. Ihr nennt sie, wie ich erfahren habe, das Schloß der Entsagung.«

»Ja.«

»Wir dürfen sie nicht betreten, wenn jetzt auch ein sichtbarer Eingang vorhanden ist.«

»Weshalb nicht?«

»Dort drin haust Merlin, oder doch seine Tochter. Wir dürfen sie nicht betreten, Kapitän Satin hat es uns verboten, und darin ändert sich auch nichts durch unser jetziges neues Verhältnis, wonach wir uns in der Steppe wie in dem waldigen Tale frei ergehen dürfen. Dieses Schloß ist uns trotzdem noch auch bei offenem Tor unwiderruflich verschlossen.«

Man schien hier vor diesem Merlin doch noch einen höllischen Respekt zu haben.

»Wenn Ihr Euch nun an dieses Verbot nicht kehrt?« fragte ich.

»Wer von uns die Grenzlinie des Wassertores passiert, sich also zwischen diesen Felswänden befindet, der bricht augenblicklich tot zusammen, und das kann auch Satin nicht aufheben, so viel er auch sonst vermag. In gewisser Hinsicht ist ihm jener Merlin doch über.«

»In welcher Weise bricht man sofort tot zusammen? Durch einen elektrischen Schlag?«

»Das weiß ich nicht. Nein, Elektrizität scheint es nicht zu sein. Jedenfalls aber waren die beiden Amazonen sofort tot.«

»Wie, Ihr habt das schon ausprobiert?!«

»Jawohl, wir wollten die Wahrheit dieser Drohung einmal prüfen. Zwei meiner Kriegerinnen fuhren in einem Boote hinein. Ich selbst schaute zu. Plötzlich brachen die beiden zusammen, das Boot selbst wurde von einer fremden Macht wieder zurückgetrieben. Aber es war schon zu spät. Die beiden waren tot, wurden nicht wieder lebendig.<<

Ja dann freilich! Da durfte man wohl vor diesem Merlin solchen Respekt haben.

»Aber ich weiß,« fuhr die Begum fort, »was dieses alte Schloß für Geheimnisse birgt. Allerliebste Spielereien, mit denen sich Merlins Tochter Viviana ergötzen kann. Kapitän Satin hat mir einiges davon erzählt. Aus einem grauen Staube kann man die verschiedensten Figuren formen, alles was man will, und dann wird alles lebendig. Nicht wahr? Denn Du warst doch selbst drin.«

Ich bestätigte es, mußte meine Erlebnisse erzählen, die Begum hörte mir mit größtem Interesse zu, auch die nächstsitzenden Amazonen, obgleich deren Tischnachbarn, meine Jungen und sonstigen Argonauten, ebenfalls davon erzählen konnten, was sie dann auch taten.

»Auch ich kann zaubern!« nahm die Begum dann wieder das Wort.

»Aha! Das dachte ich mir gleich.«

»Weshalb?«

»Weil Du Dich Circe unterschriebst.«

»Also Du verstandest diese Andeutung.«

»Gewiß doch. Und Du sprachst ja auch von nachfolgenden Überraschungen. Bitte, zaubere uns etwas vor, Nur mich nicht etwa in ein Schwein, wie es weiland die Circe mit den Gefährten des Odysseus tat, ihnen dann sogar Eicheln in den Trog vorschüttend, die sie auch gierig fraßen, obgleich sie noch immer ihren Menschenverstand besaßen. Nur eben auch den Geschmack von Schweinen hatten sie bekommen, auch sonst alles, was zum Schweine gehört. Vor solcher Verwandlung graut mir. Eicheln sind nicht nach meinem Geschmack. Da ist mir hier gleich solch ein Hammelsteak lieber.«

Sie lachte.

»Und doch könnte ich Dich in jedes Tier verwandeln.«

»Tue es nicht, ich bitte Dich.«

Das sagte ich aber in aller Ruhe, mit etwas Spott, ohne jeden Schreck.

»Es wäre mir auch nur unter einer Bedingung möglich.«

»Unter welcher?

»Du selbst müßtest hierzu Deine Einwilligung gehen.«

Das war es, was ich schon gewußt hatte! Deshalb war ich vorhin auch bei der Ankündigung, mich in ein Schwein zu verwandeln, nicht im geringsten erschrocken. Ich hatte unterdessen schon meine Erfahrung bei Vater Abdallahs Gaukeleien gesammelt, worüber ich gleich sprechen werde.

Übrigens fing die Begum selbst hiervon gleich an.

»Ihr habt einen arabischen Derwisch an Bord, der Euch alles mögliche vorzaubern kann, nicht wahr?«

Ich bejahte. Davon hatte sie in allen Hafenstädten und in den Zeitungen lesen können.

»Er bedient sich dazu der Hypnotik.«

»Ja, aber einer besonderen Art von Hypnotik, die wir Abendländer noch nicht kennen. Zwar können wir auch jedem Menschen in der Hypnose, vorausgesetzt, daß man ihn in Hypnose zu versetzen vermag, alles mögliche vormachen, ihm vorzaubern, durch Suggestion, daß er es wirklich zu sehen glaubt, aber er erwacht erinnerungslos. Ihm diese Erinnerung zu erhalten, daß er auch noch nach dem Erwachen weiß, was er gesehen und erlebt hat, so daß er IlNlusion und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden weiß, dies vermögen wir mit unserer Art von Hypnotik nicht zu erzielen, das ist ein Geheimnis der orientalischen Gaukler, die es streng behüten.«

»Ich weiß, ich verstehe den Unterschied. Immerhin wenden doch auch sie Hypnotik an.«

»Ja.«

»Aber man muß seine Einwilligung dazu geben, sonst gelingen die Illusionen nicht.«

Ja, und das ist es eben!

Wenn die »Zauberei« so weit ginge, daß mich jemand ohne meinen Willen in einen Affen verwandeln könnte, wenn auch nur in meiner Einbildung, die aber so weit geht, daß ich mich tatsächlich für einen Affen halte, hinterher nach der Zurückwandlung auch noch fest glaubte, ein Affe gewesen zu sein, dann . . . hörte die Gemütlichkeit auf! Ich glaube, ich wäre fähig, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Solch ein Gedanke wäre zu schrecklich für mich. Mindestens würde ich an diese ganze Sache nicht mehr mit dem kleinen Finger rühren.

Aber der liebe Gott sorgt schon dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen.

Der superkluge Mensch selbst ist es, der die Bäume immer gleich in den Himmel wachsen läßt — in seiner Phantasie, in seiner törichten Furcht und Übertreibungssucht. Kaum hatte in Amerika der erste Tisch geklopft, von einer fremden Kraft bewegt, als die Menschen den Schlüssel zum Geisterreiche in der Hand zu haben glaubten. Das heißt eben diejenigen, welche . . . und dann meine ich uns Europäer. Nicht wissend, daß die Chinesen schon seit vielen Jahrtausenden diese Klopferei betrieben, ebenso wie die nordamerikanischen Indianer, die sich nur statt des Tisches einer großen Trommel bedienten, es heute noch tun, ebenso wie alle schamanischen Völker Asiens ebenso wie die norddeutschen Bauern. Nur mit dem Unterschiede, daß alle diese das »Kloppeding«, oder wie sie es nun sonst in ihrer Sprache nennen, als belustigende Spielerei betrieben und noch betreiben. Nein, gerade die hochkultivierten Abendländer, mit Kenntnissen vollgepfropft, umgeben von allen möglichen Erfindungen, gebadet in Aufklärung gerade wir, das heißt die sogenannten Spiritisten, mußten aus diesem geistigen Schwindel eine Religion machen!

Und genau so ist mit dem Hypnotismus. Erst wars Humbug und dann wurde sofort davon phantasiert, wie man Liebe suggerieren könne, jeden Verbrecher entlarven, wie man jeder Mutter in der Hypnose befehlen könne, ihrem Kinde Gift in den Kaffee zu schütten, wie der Geschäftsreisende dem Kunden nur zwischen die Augen zu blicken braucht, mit einem festen Vorsatze, und der hypnotisierte Mann kauft gleich das ganze Ramschlager auf, obgleich er gar nichts gebrauchen kann.

Oder ist es nicht so? Nur immer gleich über den Strang hauen! Und die Zeitungen helfen immer wacker mit. Vorn im redaktionellen Teile wird die ganze Hypnotik als ein Schwindel verächtlich gemacht, hinten im Annoncenteile werden solche »Lehrbücher« massenhaft angepriesen.

»Aber . . . der Herr spottet ihrer!« Es ist ein schönes Wort.

Gewiß, jeder Mensch kann hypnotisiert werden. Wenn er will! Auf die geistige und körperliche Beschaffenheit kommt es dabei gar nicht an. Ja, eben deswegen sind — ganz im Gegensatz zu der früheren Ansicht, die eben eine falsche war — willensschwache Personen, besonders hysterische Frauen, am allerschwersten einzuschläfern. Weils ihnen die Willenskonzentration fehlt, in Schlaf zu fallen. Anfänglich. Ist es erst einmal gelungen, dann allerdings lassen sie sich sehr leicht hypnotisieren. Weil sie dann eben Zutrauen zu dem Hypnotiseur, zu der ganzen Sache haben. Sie glauben daran. So bald sie sich aber sträuben, gelingt es nicht. Sehr willensstarke Männer sind ganz leicht zu hypnotisieren. Wenn sie wollen. Sonst geht es nicht.

Und genau so ist es mit jener Hypnotik, welche die indischen Fakire und arabischen Derwische anwenden, um Illusionen zu erzeugen. Der Gaukler rührt auf der Straße die Trommel und zieht mit weißer Farbe oder Sand den magischen Kreis. Wer zufällig in diesen Kreis tritt, oder ohne zu wissen, daß ihm etwas vorgegaukelt werden soll, der sieht überhaupt nichts. Man muß von vornherein mit der Absicht den Kreis betreten, der Suggestion zu unterliegen. Dabei hilft nun freilich nichts, an der ganzen Sache zu zweifeln. Zu sagen: »Ich glaube an so etwas nicht, so etwas gibt es ja gar nicht.« — das genügt noch nicht. Er hat im Hintergrunde seiner Seele dennoch den geheimen Wunsch, solch eine Zauberei einmal zu sehen. Und das genügt vollkommen für den Hypnotiseur, um ihn durch Suggestion, durch Gedankenübertragung zu beeinflussen. Konzentriert er jedoch seine ganze Willenskraft auf den festen Vorsatz: »Ich will nichts sehen!« dann sieht er auch nichts, die Suggestionen des Gauklers prallen an ihm ab.

Und ebenso war es mit den Illusionen Vater Abdallahs in seiner schwarzen Kabine. Das hatten wir nun schon längst bemerkt. Wer sie betrat, der wurde von ihm erst vorbereitet. Wenn auch nur insofern, als ihm gesagt wurde, daß er Zauberei oder überhaupt etwas Wunderbares erleben und sehen würde. Das genügte schon. Wer mit dieser Absicht das schwarze Kabinett betrat, der erlag dem Willen des Derwisches, sah und erlebte, was ihm dieser suggerierte, wenn auch nur durch Gedankenkraft. Wenn wir nun einmal während solch einer Vorstellung den festen Entschluß faßten, nichts sehen zu, wollen, dann konnte es passieren, daß die Bilder, die wir zu sehen meinten und eigentlich ja auch wirklich sahen, sich merkwürdig verschoben, verzerrten, seltsame Verschmelzungen kamen vor, die nicht in Vater Abdallahs Absicht lagen, und manchmal trat auch die nüchterne Wirklichkeit zu Tage.

Freilich war das sehr schwer, es glückte selten. Die Illusionen nicht zu sehen, nachdem man einmal die schwarze Kabine mit der Absicht betreten hatte, sich eine Viertelstunde ergötzen zu lassen. Also wenn man diesen Entschluß erst während der Vorstellung faßte, sich schon in der Gedankenmacht des Magiers befand. Aber immer gelang es, wenn man den festen Vorsatz, nichts sehen zu wollen, schon draußen gefaßt hatte.

Hierüber hatte ich mich mit der Begum ausführlich unterhalten, und sie war ganz meiner Meinung.

»Wer sagt Dir nun, daß jene lebendigen Figuren, die in dem Schlosse der Entsagung aus dem Staube entstehen, nicht auch nur Gebilde Deiner Phantasie sind, durch fremde Gedankenkraft erzeugt?«

Ja, daran hatten auch wir schon gedacht.

Aber wir hatten diese Ansicht aufgeben müssen. Es mußte Wirklichkeit sein.

Weil es uns auch beim festesten Vorsatze, keiner Illusion zu unterliegen, nicht gelang, uns von dieser etwaigen Illusion zu befreien. Weil wir eben schon jahrelange Erfahrung in Vater Abdallah's schwarzem Kabinett gesammelt hatten. Der nüchternste phantasieloseste Mensch, den ich je kennen gelernt, der überhaupt an nichts glaubte, was er nicht mit Fäusten packen und nicht fressen konnte, war Mister Tabak, und auch zwischen dessen Hände verwandelte sich der graue Staub in eine plastische, knetbare Masse, nahmen die Figuren Leben an.

»Ja, dies beruht auf Wirklichkeit,« bestätigte denn auch die Begum auf meine Äußerung, »es ist eine technische Erfindung. Kapitän Satin hat mir alles erklärt, aber ich verstehe es nicht, oder doch nur sehr wenig davon. Erst wird ein Bild erzeugt, das nach Belieben bewegt werden kann, wird dieses Bild durch Spiegelung auf den Staub reflektiert, der plötzlich in allen Teilen durch magnetische Kraft zusammenhält und so alle Bewegungen des Bildes mitmacht. Dies verstehe ich ungefähr. Aber das Weitere nicht mehr, was mir Kapitän Satin sonst noch erklärt.«

»Dasselbe erklärte mir Merlin, und weiter geht auch mein Verständnis nicht.«

»Also ist es schließlich dennoch nur eine Illusion.«

»Wie meinst Du das? Dennoch?«

»Nun, ist nicht die ganze Welt, mit allem, was darin ist, nur ein Traum der Götter. Was wir Menschen, selbst nur solche erträumte Wesen, zusehen meinen, erblicken wir nur in einem Spiegel, den uns die Göttin Maja vorhält.«

»Ja, das ist eine indische Philosophie. Aber dann gehst Du zu weit, wenn Du diese auf jene Figuren im Schlosse der Entsagung beziehst. Wir müssen doch jetzt dabei bleiben, daß es überhaupt eine Wirklichkeit gibt. Und nun ist die Frage, ob diese lebenden Figuren Wirklichkeit sind oder nicht.«

»Sie sind Wirklichkeit, keine Täuschung. Aber ich kann Dir etwas vorgaukeln, was Du nicht von der Wirklichkeit unterscheiden kannst.«

»Das glaube ich schon.«

»Soll ich es tun?«

»Nein.«

»Du willst nicht so etwas Wunderbares erleben?«

»Ich bin schon mit solchen Gaukeleien und Illusionen übersättigt.«

»Aber es ist einmal etwas ganz, ganz anderes.«

»Inwiefern?«

»Ich gebe Dir ein Mittel, daß Du selbst zaudern kannst.«

»Ich danke für dieses Mittel.«

»Du kannst alles, alles zaubern, was Du nur willst. Du selbst bist ein Gott, der durch sein gesprochenes Wort »es werde!« als schöpfen kann, was er will.«

»Hm, das ließe sich hören!« ging ich jetzt doch darauf ein, denn das war mir wieder einmal etwas Neues. »Es ist mir also gar nichts unmöglich?«

»Gar nichts, gar nichts.«

»Natürlich ist alles nur eine Täuschung.«

»Ja, ebenso wie die ganze Welt, die wir nur in einem Spiegel erblicken. Denn das muß ich wiederholen, wenn Du so sprichst.«

Ich schämte mich bereits, jenes gesagt zu haben.

»Die Hauptsache ist doch,« fuhr die Begum fort, »daß Du selbst nichts an Wirklichkeit vermissest.«

»Und ich erinnere mich alles dessen, was ich gesehen und erlebt habe, auch später?«

»Sicher.«

»Ich kann mich selbst in eine andere Gestalt verwandeln?«

»In welche Du willst.«

»In ein Tier, in einen Löwen?«

»Ja.«

»Und dann habe ich die Empfindungen eines Löwen?«

»Gewiß. Du kannst nicht mehr sprechen, nur noch knurren und brüllen. Das heißt, Dein menschliches Gehirn behältst Du dabei. Denn sonst würdest Du Dich der Zauberei ja gar nicht bewußt werden.«

»Na‚ das möchte ich einmal versuchen!« lachte ich

»Du hast nur nötig, ein Tränklein zu trinken.«

»Aha! Nein, dann verzichte ich darauf, diese Art Zauberei kennen zu lernen.«

Groß blickte mich die Begum an.

»Du hegst Mißtrauen? Freund, Du hast mit uns Brot und Salz gegessen! Und wenn ich auch eine geborene Französin bin und Christin war, so bin ich jetzt doch eine Mohammedanerin, und ich nehme es ernst! Du bist in diesen Hallen, die ich als meine Wohnung betrachte, geschützt! Wenn ich Dich töten oder wahnsinnig machen wollte, so müßte ich Dich erst entlassen und warten, bis Du Dich weit entfernt hast. Das Tränklein, das ich Dir gebe, ist absolut unschädlich.«

Ich dachte an Merlins Worte, daß wir der Begum unbedingt trauen könnten und Kapitän Satan nicht zu fürchten hätten, und wer in die Geheimnisse des Geisterreiches oder des geistigen Reiches dringen will, der muß etwas wagen, ganz besonders auch mit Medikamenten und Räucherungen.

»Wo findet das Experiment statt?«

»Es könnte gleich hier stattfinden, aber ich bitte Dich, mir in einen besonderen Raum zu folgen.«

»Warum?«

»Weil der kleinere Raum dazu geeigneter ist. Eine andere Erklärung kann ich Dir jetzt nicht geben. Vertraue mir. Das Tränklein hat auch nicht die geringsten üblen Folgen. Du kannst auch Begleiter mit Dir nehmen, sie sollen mir den Dolch auf die Brust setzen, ich will Dir dann in Dein Lager hinüberfolgen, und zeigen sich üble Nachwirkungen so habe ich mein Leben verwirkt, Du sollst mich martern . . . «

»Ich glaube Dir. Wo gehen denn die alle hin?«

Es hatten sich schon wiederholt Paare erhoben und den Saal verlassen. Ich war so in unsere Unterhaltung vertieft gewesen, daß ich es erst jetzt merkte. Auch die Patronin saß mit ihrer Nachbarin nicht mehr an der Tafel.

»Es werden ihnen ebensolche Überraschungen gezeigt, wie ich Dir jetzt seine bereiten will, wenn auch wieder ganz anderer Art. Ihr werdet Euch dann gegenseitig erzählen. Hast Du Dir Deine Begleiter gewählt?«

»Mister Juba, Mister Kabat, wollen Sie mich begleiten?«

Die beiden waren bereit dazu, ohne mich nach dem Warum zu fragen. Dabei hatten alle beide den Vorschlag ihrer Amazonen, sich von ihnen Zauberei vormachen oder Merkwürdigkeiten zeigen zu lassen, abgeschlagen. Meiner Einladung folgten sie, ihre Amazonen blieben zurück.

Wir verließen den Saal, schritten durch zwei Korridore, alle mit prächtigen Teppichen belegt, betraten ein orientalisches Gemach, dessen Fenster nach dem See ging.

»Willst Du Deinen Freunden erklären, um was es sich handelt.«

Ich tat es.

»Wie Sie wollen!« meinte Peitschenmüller, während sich der Eskimo damit begnügte, den süßlichen Duft, der das Boudoir erfüllte, durch den Qualm seiner Pfeife zu verdrängen.

»Ich habe Dir noch einige Erklärungen zu geben!« nahm dann die Begum wieder das Wort. »In diesem Raume selbst ist Dir überhaupt gar nichts unmöglich. Was Du mit Worten aussprichst, das vollzieht sich sofort. Also ausgesprochen muß es werden, laut oder noch so leise, aber jedenfalls darfst Du es nicht nur denken.

Das ist das Geheimnis des gesprochenen Wortes, des Logos, wie es in unserer Geheimsprache heißt. Es ist eben die Zauberformel, die nicht nur gedacht werden darf. Du kannst aber auch diesen Raum verlassen. Dann brichst Du zwar ebenfalls mit den Naturgesetzen, wenigstens im Geiste, kannst sie aber nicht mehr umändern. Wie das gemeint ist, kannst Du nur durch Erfahrung begreifen. Höchstens ein Beispiel vermag ich zu geben: Du willst Dich etwa in Deine Heimat versetzen. Sobald Du diesen Wunsch aussprichst, wird hier in diesem Raume Deine Heimat entstehen, Dein Haus oder Dein Garten, Du kannst ihn betreten. Willst Du Deinen Vater sehen, so sprich es aus, und er wird Dir erscheinen.

Nun kannst Du Dich aber in Wirklichkeit nach Deiner Heimat begeben. Wenn es überhaupt eine Wirklichkeit gibt. Dann aber mußt Du doch diesen Raum verlassen. Und dann, außerhalb dieses Raumes, wenn auch nur im Geiste, kannst Du nicht mehr die Verhältnisse umändern, überhaupt nicht mehr zaubern. Du vermagst Dich also nicht mehr im Nu nach, Deiner fernen Heimat zu versetzen nicht einmal dort nach jenem Ufer. Sondern Du mußt diese Felsenräume wie jeder andere Mensch verlassen, mußt Dich nach der nächsten Stadt begeben, zu Fuß oder zu Pferd oder im Boote, von der nächsten Stadt aus mußt Du eine andere Fahrgelegenheit benutzen, wenn Du über das Meer willst, als Passagier einen Dampfer, und so fort und fort, bis Du Deine Heimat erreicht hast, und da kann auch passieren, daß Du Schiffbruch erleidest, und Du bist nicht imstande, Dein Schicksal zu ändern.

Nur ein einziges Recht hast Du noch. Sobald es Dir etwa nicht paßt, so brauchst Du nur auszusprechen, daß Du diese Episode beenden willst, und sofort erwachst Du wieder hier in diesem Boudoir.

Aber Du brauchst die Reise nicht als Mensch anzutreten. Du kannst Dich ja auch in einen Fisch verwandeln oder in einen Vogel. Dann machst Du die Reise eben im Wasser oder durch die Luft. Dann vermagst Du aber mit Deinen Angehörigen nicht zu sprechen, Du verstehst sie auch nicht. Ein Fisch und ein Vogel versteht die menschliche Sprache doch nicht. Obgleich Du immer Deinen menschlichen Verstand behältst, Du selbst glaubst Dich wohl mit menschlicher Stimme sprechen zu hören, aber, wenn Du etwa ein Singvogel bist, hören die Menschen nur ein Zwitschern. Verstehst Du mich?«

Ja, ich verstand. Wenn man da überhaupt etwas verstehen kann.

Jetzt will ich zunächst bemerken, daß die Sache mit dem »Logos«, mit der Kraft des gesprochenen Wortes, nicht indischen Ursprungs ist, sondern das war die Lehre der Platoniker, besonders der Neuplatoniker, die dann auch in andere Philosophien überging auch in die christliche Mystik. Die Begum schien hierin nicht recht beschlagen zu sein, doch das war ja gleichgültig. Ich bin diese Erklärung aber den Lesern schuldig, welche in diese Art Philosophie eingeweiht sind.

Ja, ich verstand. Vor allen Dingen aber staunte ich. Das war etwas ganz Wunderbares was mir da bevorstand!

»Und wie lange dauert das?«

»So lange Du willst. Nur eine Sekunde, oder eine Minute, die Du nach Deiner Uhr kontrollieren kannst, oder auch eine ganze Ewigkeit. Das mußt Du aber — die Dauer der Zeit — vorher bestimmen, deutlich aussprechen, ehe Du das Elexier einnimmst.«

»Wenn ich nun eine halbe Stunde bestimme?«

»So kehrst Du eben nach dieser halben Stunde zu Deinem wirklichen Bewußtsein zurück, die Wirkung des Trankes ist aufgehoben, ohne daß Du die geringsten üblen Folgen verspürst.«

»Und wenn ich eine ganze Ewigkeit dem Zauber unterliegen will?«

»So wirst Du auch eine ganze Ewigkeit durchmachen.«

»Ohne jemals wieder zum wirklichen Bewußtsein zu kommen?«

»Doch.«

»Wann geschieht dies?«

»Wenn Dich Deine natürlichen Bedürfnisse dazu zwingen. Also durch Hunger und Durst. Dann kehrt Deine Seele in den Leib zurück, Du erwachst.«

»Ich liege unterdessen hier bewußtlos?«

»Nur wenn Du diesen Raum verläßt, um draußen umherzuschweifen. Sonst nicht.«

»Kann ich denn nicht auch als Tier meinen Hunger und Durst stillen?«

»Ja, aber das geschieht nur imaginär, in Deiner Einbildung. Verstehst Du?«

Ja, ich verstand.

»Und dennoch issest Du in Wirklichkeit, nicht nur in Deiner Einbildung. Aber wie das gemeint ist, das kann ich Dir nicht erklären, ich verstehe es selbst nicht, habe da aber ganz eigentümliche rätselhafte Erfahrungen gemacht.«

Dann verstand ich davon schon mehr als die Begum. Doch will ich hierüber nicht weiter sprechen.

»Ich kann verlangen, daß ich innerhalb einer Minute eine ganze Ewigkeit durchlebe.«

»Das kannst Du.«

»Und daß ich hundert Jahre mich in diesem Zustande befinde und dennoch glaube, nur eine Minute zu erleben.«

»Nur einen einzigen Augenblick.«

»Weil es eigentlich überhaupt gar keine Zeit gibt.«

»Hast Du hiervon schon gehört? Nein, es gibt keine Zeit, keine Zukunft und keine Vergangenheit, es gibt nur ein momentanes Jetzt. So habe ich gehört, aber ich verstehe es nicht, und doch erlebe ich es manchmal, durch dieses Tränklein.«

»Gut. Und gesetzt nun den Fall, ich verwandle mich in einen Fisch, schwimme draußen im See, ein anderer Fisch verschlingt mich?«

»Im Augenblick, da Deine Fischseele entflieht, kehrt sie zurück hier in Deinen Körper, Du erwachst gesund bei normalem Bewußtsein. In diesem Falle ist die Zeit, die Du bestimmt hast, schon vorher beendet.«

»Und wenn ich nur schwer verwundet werde?«

»So brauchst Du nur zu wünschen, wieder hier zu sein, in dem Raume, von wo Du ausgegangen bist, so bist Du auch sofort wieder hier. Das ist, wie gesagt, das einzige, wodurch Du Dein Schicksal ändern kannst. Du mußt es aber immer aussprechen.«

»Auch dann bin ich wieder bei normalem Bewußtsein?«

»Nein, dann, wenn Du nicht den Tod gefunden hast, befindest Du Dich noch im Zauber. Du kannst das Experiment fortsetzen. Aber auch hier kannst Du durch Dein gesprochenes Wort erwachen, also die Zeit abkürzen. Jedoch nicht verlängern. Sobald Du erwachst, ist die Kraft des Elixiers erschöpft. Du mußtest erst ein neues Tränklein nehmen.«

Ich zog meine Taschenuhr.

»Es ist zehn Minuten vor sieben. Ich will zuerst eine halbe Stunde aufnehmen.«

»Wie Du willst.«

Die Begum wandte sich um, entnahm einem Wandschrank eine Karaffe mit einer gelben Flüssigkeit und ein Gläschen füllte und reichte es mir.

»Sprich die Zeit der Wirkung noch einmal aus.«

»Eine halbe Stunde soll es währen, 20 Minuten nach sieben will ich wieder erwachen.«

»So trink.«

Ich schluckte die paar Tropfen hinter, sie schmeckten nach gar nichts, ich fühlte gar keine Wirkung.

»Und was nun?«

»Jetzt bist Du allmächtig!« lächelte die Begum.

»Ich merke nichts davon.«

‚ wawzww D— M kam mit einem Gewehr hekngespkUUgem legte es auf RIGHT an und schoß ihn herunter.

»So sprich doch das Zauberwort.«

Ich drehte mich um. Dort stand Peitschenmüller und blickte mich an, dort saß der Eskimo auf einem Diwan und stopfte sich eine frische Pfeife.

»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft!«

So hatte ich mit lauter Stimme gesagt, und da war es schon geschehen.

Mit einem Schlage war das ganze Möblement verschwunden. Ich stand in kniehohem Grase zwischen Urwaldbäumen, an denen sich herrlich blühende Lianen emporschwangen.

Ich will gleich erledigen, wie die Verwandlungen immer vor sich gingen, von welcher Art und von welchen Grenzen umzogen sie waren.

»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft!« hatte ich gesagt.

Das ist ja, nun ein weiter Begriff. Man nehme an, man könne den Inhalt seiner Träume willkürlich bestimmen. Man will im Traume in eine tropische Gegend versetzt werden. Es geschieht. Was das nun für eine tropische Gegend ist, das muß man dem Traumgott überlassen.

So war es auch hier. Im Moment, da ich es aussprach war das Gewünschte vorhanden, mit festen Linien umgrenzt, ohne daß ich diese näher gezogen hätte, wie es mir eine Erinnerung oder meine Phantasie eingab, absolut nichts an Wirklichkeit vermissen lassend. Das blieb bestehen. Was ich daran ändern wollte, mußte ich immer erst aussprechen.

Ich erblickte eine unaufgeschlossene Lianenblüte.

»Diese Blüte öffne sich!«

Sofort hatte sie sich zur vollen Pracht entfaltet.

»Aus dieser Blüte entwickle sich ein Apfell«

Sofort hing statt der Blüte an dem dicken Stengel ein großer, rotwangiger Apfel, einer von der Tiroler Sorte.

Ich pflückte ihn ab, biß hinein — ich konnte ihn essen. Hatte den richtigen Apfelgeschmack, fühlte den Bissen in den Magen rutschen.

Wie ich staunte, läßt sich denken. Dabei verlor ich aber nicht die Besinnung. Das heißt, ich wollte immer sachgemäß prüfen.

Ich zog meine Brieftasche, nahm einen alten Brief mit der Unterschrift meines Vaters, legte einen der Apfelkerne hinein, faltete ihn zusammen, barg die Brieftasche wieder.

»Mister Juba, wo sind Sie?«

Keine Antwort.

»Mister Juba Riata, erscheinen Sie mir!«

Da stand Peitschenmüller urplötzlich vor mir.

»Sind Sie das wirklich?«

»Ja, das bin ich wirklich.«

»Hören Sie mich sprechen?«

»Natürlich, sonst könnte ich Ihnen doch nicht antworten.«

»Was sehen Sie hier?«

»Eine tropische Urwaldszenerie.«

»Und Sie selbst befinden sich in dieser?«

»Ja selbstverständlich.«

»Essen Sie mal hier dieses Stück Apfel.«

Er nahm das Stück, ich sah ihn essen.

»Schmeckt sehr gut!« sagte er von selbst.

»Nehmen Sie doch einmal Ihr Messer und schneiden Sie mich hier in den Arm.«

Ich streifelte den linken Ärmel zurück, Jubas Messer zog in meinen Unterarm einen blutenden Schnitt.

»So, danke. Jetzt will ich in den ursprünglichen Raum zurückversetzt sein!«

Im Moment war der Urwald verschwunden ich sah wieder das orientalische Möblement . . .

»Stiff!« sagte in demselben Augenblick Juba Riata.

Ja, er stand vor mir. Aber nicht in der Stellung, in der ich ihn soeben gesehen hatte. Überhaupt stand er mehr neben mir, hatte auch nicht sein Messer in der Hand, sondern er fingerte an mir herum.

»Was sagten Sie da?« fragte ich. Aber wir sprachen Englisch zusammen, auch die Begum konnte es jetzt. Ich mache auf so etwas nicht immer aufmerksam, nur jetzt muß ich es tun.

»Perfectly stiff — vollkommen steif . . . jetzt freilich sind Sies nicht mehr.«

»Steif bin ich gewesen?!«

»Wie ein Baumast.«

»Ja, es ist besser, wenn Sie sich immer hinsetzen, ehe Sie das Zauberwort aussprechen,« sagte die Begum, »Sie könnten doch einmal umfallen.«

»Steif bin ich gewesen?!« wiederholte ich nochmals.

»Sobald man das Zauberwort ausspricht, fällt man in einen Starrkrampf, der aber nicht etwa schädlich ist.«

So, nun wußte ichs. Aber doch noch nicht genug.

»Ich habe mich gar nicht geregt?«

»Nein, Sie befanden sich eben im Starrkrampf.«

»Also habe ich auch nicht solche Bewegungen gemacht, als ob ich einen Apfel abpflücke und ihn verzehre?«

»Haben Sie das getan? Wir wissen ja gar nicht, was Sie erlebt haben.«

»Haben Sie denn nicht gehört, wie ich meinen Wunsch aussprach?«

»Nein.«

»Dieser Raum verwandle sich in eine tropische Landschaft.«

»Das haben wir schon nicht mehr gehört. In demselben Augenblicke, da Sie sich vornahmen, diese Worte auszusprechen, da sich in Ihrem Gehirn die dazu nötigen Vorbereitungen abspielten, begann schon der Zaubertrank zu wirken, da handelten und sprachen Sie nur noch in Ihrer Einbildung.«

So, nun wußte ichs wirklich.

Also hatte ich natürlich auch nicht etwa meinen Ärmel aufgekrempelt, keinen Schnitt im Fleisch, keinen Apfelkern in der Brieftasche.

Es war alles nur eine Einbildung nur ein Traum gewesen, nichts weiter.

Aber die Zeit war dabei regelrecht weitergegangen, sechs Minuten hatte diese ganze Geschichte gewährt.

Ich setzte mich, sah mich in dem großen Wandspiegel.

»Ich will dort vor dem Spiegel stehen!«

Da stand ich plötzlich vor dem Spiegel.

Diesmal waren auch noch die drei anderen anwesend, saßen oder standen oder gingen herum.

Mister Kabat, Sie haben einen blonden Vollbart!«

Da hatte ihn eben der sonst bartlose Eskimo, ich konnte ihn nach Belieben wachsen lassen oder sonst verändern.

»Mein Spiegelbild lege sich hin!«

Ich blieb stehen, mein Spiegelbild legte sich auf den Teppich hin.

Ich will nicht weiter beschreiben, was ich sonst noch für kniffliche Experimente machte.

Plötzlich, wie ich mich gerade in einer Wüste befand, aus einem Felsen Wasser schlug, Gras und Palmen wachsen ließ, so nach und nach eine Oase schuf, zerrann das Traumgebild, das aber nicht das geringste an Wirklichkeit vermissen ließ, und ich saß auf dem Diwan.

»Deine Zeit ist abgelaufen!« sagte die Begum.

Ja, es war genau 20 Minuten nach sieben.

»Also ich kann ein neues Tränklein nehmen?«

»Gewiß, so oft Du willst. Hast Du Dich schon in ein Tier verwandelt?«

»Noch nicht. Ich dachte gerade daran, wollte gerade ein Löwe werden, als die Zeit um war.«

»Ich mache Dich darauf aufmerksam, daß Du, wenn Du ein Vogel und als solcher dieses Zimmer verlassen willst, um draußen herumzufliegen, Dich beeilen mußt.«

»Weshalb?«

»Weil es bald dunkel wird. Als Vogel siehst Du in der Nacht nichts, Du würdest überhaupt gar nicht umherfliegen, es würde gegen Deinen Vogelinstinkt gehen, den Du natürlich annimmst.«

»Dann verwandle ich mich einfach in eine Eule, welche sich nur in der Nacht wohl fühlt.«

»Allerdings, da hast Du recht, das kannst Du. Also wie viel Zeit willst Du wieder aufnehmen?«

»Nochmals eine halbe Stunde.«

Ich trank ein zweites Gläschen leer.

»Ich möchte ein Vogel sein.«

Da saß ich schon als solcher in dem offenen Fenster.

Als was für ein Vogel denn? Das ist doch ein weiter Begriff.

Wenn man das Wort »Vogel« ausspricht, oder auch nur denkt, so muß man sich im Geiste doch wohl auch irgend einen bestimmten Vogel vorstellen. Ich wenigstens muß es.

Ich hatte dabei an einen Raben gedacht, an einen Kolkraben, und als solcher saß ich in dem Fenster.

Zwar sah ich mich nicht, nicht im Spiegel und versuchte nicht mich selbst zu besehen, nicht einmal meine Füße, sondern ich wußte, daß ich ein Rabe war.

Der Rabe ist nämlich mein Lieblingsvogel, mein Ideal eines Vogels. Wobei ich alle Rabenarten einbegreife, den Kolkraben, die Nebel- und Saatkrähe, die Elster, die Dohle.

Der Rabe hat es mir angetan. Der Rabe ist der Raubvogel des Nordens. Der Rabe ist ein echt germanischer Vogel. Der Rabe ist uns treu geblieben, hat sich weder ausrotten noch durch die Kultur vertreiben lassen, dazu ist er zu schlau, zu klug.

Alfred Brehm in seinem »Tierleben« schildert am Ende jeder Beschreibung das betreffende Tier in seiner Gefangenschaft, wo man seine geistigen Fähigkeiten am besten beurteilen kann.

Nur beim Raben tut er dies nicht. Es ist dies die einzige Ausnahme. Obgleich es doch so viel gefangene Raben gibt.

Brehm verzichtet einmal auf diese Beschreibung.

Weshalb?

»Es würde viel zu weit führen, wollte ich alle Geschichten, welche mir über gezähmte Raben bekannt sind, hier wieder erzählen, und deshalb muß es genügen, wenn ich sage, daß dieser Vogel wahren Menschenverstand beweist und seinen Gebieter ebenso erfreuen als andere Menschen zu ärgern weiß. Wer Tieren den Verstand abschwatzen will, braucht nur längere Zeit einen Raben zu beobachten; derselbe wird ihm beweisen, daß die abgeschmacktesten Redensarten von Instinkt, unbewußten Trieben und dergleichen nicht einmal für die Klasse der Vögel Gültigkeit haben.«

So urteilt Brehm über den Raben.

Kann es eine höhere Zensur geben?

Ich habe viele Raben gefangen gehalten — ich möchte nicht beschreiben, was ich mit ihnen erlebt habe. Schon die einfachsten Dinge würden dem, der den Raben nicht kennt, unglaublich klingen.

Jetzt, da ich dies schreibe, habe ich keinen zahmen Raben mehr.

Aber noch immer habe ich täglich und stündlich, wenigstens im Winter, eine ganze Gesellschaft von echten Raben vor meinen Augen. An meinem Fenster geht durch einsame Landschaft ein Eisenbahndamm vorüber. Wenn der Winter naht, stellen sie sich ein, immer ein bis zwei Dutzend. Wenn sie eines Morgens da sind, im Dezember oder auch schon im November, dann weiß ich bestimmt, daß jetzt bald der Winter mit Kälte und Schneefall kommt, und wenn auch alle Zeitungen nach den Berichten der meteorologischen Institute das Gegenteil behaupten. Ich lache dieser menschlichen Wetterprophezeiungen, meine Raben wissen es besser, sie irren sich nie. Es sind »meine« Raben. Sie kennen mich, wir sind gute Freunde. Sie horsten auf den benachbarten Bäumen, aber der Bahndamm ist ihr Tummelplatz auf ebener Erde. Da hoffen sie immer etwas Freßbares zu finden. Denn in wenigen Minuten erreicht der Zug eine Stadt, da werfen die Passagiere vorher Paketchen zum Fenster hinaus, Frühstücksreste und dergleichen. Ich halte mich mit der Beobachtung dieser Raben länger auf, als mir meine Zeit erlaubt. Wie sie die Paketchen öffnen und untersuchen.

Ein Streit deswegen kommt unter ihnen niemals vor. Eine Taube jagt wegen eines Kornes die andere weg, die stärkere die schwächere, da gibt es keine Rücksicht so etwas kennt der Rabe nicht. Vollster Frieden, vollste Eintracht. Und wenn ein Zug angebraust kommt, dann verlassen sie den Schienenweg natürlich, aber nun wie Nicht etwa, daß sie erschrocken davon fliegen. Über die große Zehe watschelnd, steigen sie gravitätisch über das Gleis. Aber das tun sie keine Sekunde früher als es unbedingt nötig ist, um nicht unter den Zug zu kommen, und so entfernen sie sich auch keinen Zoll weiter als es unbedingt nötig ist. So sitzen sie ruhig da, die Trittbretter gehen über sie hinweg, und dicht hinter dem letzten Wagen steigen sie wieder über die Schienen und beschäftigten sich weiter mit den Paketchen und deren Inhalt. Möglich, daß sie kleine Vögel würgen. Sie wären Narren, wenn sies nicht täten. Dann wären sie doch auch nicht »menschenähnlich«. Aber ich bemerke nichts davon. Um die sich ebenfalls auf dem Bahndamm tummelnden Tauben und Spatzen kümmern sie sich gar nicht. Und wenn ich das Fenster öffne, dann passen sie auf. Ob ich ihnen einen Knochen oder sonst etwas zuwerfe. Aber deshalb nicht die geringste Unruhe, kein Näherkommen. Haben sie ja auch gar nicht nötig. Entweder ich werfe, oder ich werfe nicht. Und zeige ich mich am geschlossenen Fenster, dann passen sie auch nicht auf. Weil die ganz genau wissen, daß das Fenster geschlossen ist und ich nicht durch die Fensterscheiben werfe. Und kommt der Knochen oder das Stück Fleisch geflogen, so flattern sie wohl auf, aber wer den Leckerbissen hat, der hat ihn, nicht der geringste Streit deswegen, die anderen gehen sofort wieder ihrer Beschäftigung nach. Und wenn ich ihnen längere Zeit nichts zugeworfen habe, dann kommt wohl einer ans Fenster, blickt mit seinen klugen, verschmitzten, funkelnden Augen ins Zimmer, mir direkt auf den Schreibtisch, pocht mit seinem gewaltigen Schnabel gegen die Scheiben und fliegt zurück, sobald ich aufstehe. Denn weiter geht die Vertraulichkeit nicht. Ja, wir sind die besten Freunde, aber . . . immer drei Schritt vom Leibe! Sie halten es genau wie ich. Auch ich habe einige menschliche Freunde, sehr gute Freunde, aber duzen tue ich mich mit keinem.

Am liebsten aber beobachte ich meine Raben, wenn es schneit, wenn der Schneesturm braust. Daß sie die Kälte lieben, daran ist ja gar kein Zweifel. Stundenlang können sie im Schnee vergraben sitzen und vor sich hin philosophieren. Aber im Schneesturm, da werden sie erst richtig lebendig, da schwingen sie sich hoch empor, da sieht man sie einmal zusammen spielen, in den Lüften wie in dem neuen Schnee sich balgen.

Natürlich, es sind ja Kinder des kalten Nordens. Eines Tages versammeln sie sich auf den Bäumen, steigen empor und fliegen direkt nordwärts davon, um nicht wiederzukommen. Sie verkünden mir den nahen Frühling, mit unfehlbarer Sicherheit kommen jetzt die ersten warmen Tage. Trotzdem sehe ich sie mit Wehmut scheiden, meine Raben, und freue mich schon auf das nächste Wiedersehen, wenn sie auch den Winter bringen.

Jetzt war ich selbst solch ein Rabe geworden

Weil ich von vornherein beabsichtigt hatte, diesen Raum zu verlassen, draußen herumzufliegen, saß ich nun auch gleich im offenen Fenster.

Was ich als Rabe für Gedanken und Empfindungen hatte, vermag ich nicht zu beschreiben, und das muß ich noch öfters wiederholen.

Ich wußte, daß ich eigentlich Georg Stevenbrock war, ein Mensch, dessen Leib jetzt dort starr auf dem Diwan saß oder lag, in anderer Hinsicht aber war ich ein perfektes Rabenvieh, und es fiel mir gar nicht ein, zurückzublicken, um meinen starren menschlichen Leib zu betrachten.

Es war mir ganz selbstverständlich, daß ich fliegen konnte. Kein Gedanke daran, ob ich es könnte oder nicht. Wir befanden uns in der dritten Etage, tief unter mir lag der Spiegel des Sees, schon in der Abenddämmerung. Ohne jedes Bedenken stürzte ich mich mit ausgebreiteten Schwingen hinab, flog.

Ich beschrieb über dem See Kreise, schraubte mich höher und höher, bis ich hinter den Felswänden die untergehende Sonne erblickte.

Aber nicht etwa ein Staunen, auch keine Freude, kein Entzücken darüber, daß ich so schweben konnte. Es war mir ganz selbstverständlich. Ich war doch ein Rabe. Obgleich ich immer noch wußte, daß ich doch eigentlich ein Mensch war. Das störte aber meine Rabenempfindungen nicht weiter.

Eine Maus, die nahe am Ufer durch das Gras huschte, erregte meine Aufmerksamkeit.

O Wunder, ich sah diese Maus!

Alls Mensch schätzte ich die Entfernung, die mich von dieser Maus trennte, auf mindestens fünf Kilometer, als Rabe dachte ich gar nicht an solch eine Schätzung als Rabe sah ich nur ganz deutlich die Maus durch das Gras huschen, obgleich dieses dunkel gefärbt war wie die Maus!

Gesehen hatte ich sie, meine Aufmerksamkeit hatte sie erregt, aber nicht meine Jagdlust. Ich fühlte mich gesättigt. Ich sah noch vieles, vieles andere, was mein Interesse als Rabe erregen mußte, ich sah Nester mit jungen Vögeln, sah Frösche, sah aus einer Entfernung von fünf und noch mehr Kilometern dort unten kleine Heuschrecken hüpfen und Käfer laufen, sie hätten mir geschmeckt, aber mein Magen war voll bis zum Platzen.

Ich senkte mich hinab, ließ mich auf dem sandigen Ufer nieder, begann zu watscheln.

»Weshalb hast Du Dich eigentlich herabgelassen?«

So fragte ich mich als Mensch, als Rabe war mir die Antwort ganz selbstverständlich ohne daß ich es tat. Dieser Zwiespalt, der sich doch so gut zusammenreimte, das ist es, was ich nicht zu schildern vermag.

Das Ufer war hier sandig, dazwischen aber auch kleinere und größere Steine, alle dunkel, grau bis schwarz.

Ein einziger weißer Stein erregte meine Aufmerksamkeit, so groß wie ein Pfennig, nur wenig dicker. Etwas Goldglimmer war eingesprengelt, in der Form eines A.

Das sah ich als Mensch.

»Das sieht ja gerade aus wie ein A.«

So sagte ich mir als Mensch.

Als Rabe sah ich dieses A nicht.

Als Rabe empfand ich plötzlich nur eine Gier, diesen weißen Stein, der sich von den anderen so hervorhob, zu verschlucken. Ich weiß nicht, ob die Raben wie einige Raubvogelarten, aber auch wie die Hühner, manchmal Steine verschlucken, wahrscheinlich zur besseren Verdauung. Ich hatte es weder bei freien noch bei gefangenen Raben beobachtet.

Aber ich weiß, daß dieser weiße Stein meine Gier erregte, ihn zu verschlucken, und ich tat es. Ich flatterte auf, ließ mich wieder nieder, verschluckte den Stein. Hatte ein sehr angenehmes, mich befriedigendes Gefühl dabei.

Dann stieg ich wieder auf.

Dort in der Wasserschlucht lag die »Argos«.

»Das ist unser Schiff.«

So sagte ich mir als Mensch.

Auch als Rabe dachte ich bei Anblick dieses Schiffes etwas, dachte es ganz klar, aber wiederzugeben vermag ich es nicht.

Ja, ich glaube sogar, ich sah alles ganz, ganz anders, die Maus sowohl wie den Stein wie dieses Schiff, sah alles mit Rabenaugen, in meinem Gehirn entstand ein vollkommen anderes Bild, das ich für mein menschliches Gehirn gewissermaßen erst übersetzen mußte, was aber in demselben Moment geschah, da es die Rabenaugen erblickten. Ich kann es nicht schildern.

»Dort willst Du Dich einmal niederlassen.«

So sagte ich mir sowohl als Mensch wie als Rabe, nur in total verschiedener Weise, unbeschreiblich.

Ich schwebte hinab und setzte mich auf die Oberbramrahe des Großmastes.

Die Sonne war schon längst untergegangen, aber die Dämmerung hielt hier sehr lange an. Ich sah alles noch ganz deutlich.

Die meisten der 16 zurückgebliebenen Jungen waren an Deck mit Kartoffelschälen beschäftigt.

Als Mensch kannte ich sie alle bei Namen, als Rabe waren sie mir fremd, ich wußte überhaupt nicht, daß es »Menschen« waren. Unbeschreiblich dieses Doppelgefühl. Immer muß ich es wiederholen.

»Undici — Diecinove — seht Ihr mich?!«

So rief ich.

Die Jungen hatten noch immer ihre italienischen Zahlennummern.

Wieder geschah etwas Unbegreifliches.

Doch nein, für mich war es vollständig begreiflich, aber beschreiben kann ich es nicht.

Ich wußte, daß ich es gerufen hatte, und gerade als Mensch hörte ich nur ein »raab, raab«, aus meinem geöffneten Schnabel kommen. Was dieses »raab, raab« bedeutete, das wußte ich als Rabe, es war eine für mich ganz verständliche Sprache, aber als Mensch verstand ich es nicht, und doch hatte ich es ja selbst gerufen. Unbeschreiblich.

Die Jungen und andere blickten empor.

Sie deuteten und sprachen zusammen.

Jedes Wort verstand ich. Als Mensch. Und dennoch war es mir unverständlich. Das heißt, ich vermochte später, als ich wieder erwachte, nicht mehr zu sagen, was die Jungen damals gesprochen hatten. Mit anderen Raben bin ich damals leider nicht zusammengekommen. Wahrscheinlich wäre es mir dabei auch traurig ergangen.

Auch der Bandlwurm befand sich an Deck, wusch Kartoffeln. Als Artist, der ja auch gutes Geld verdient hatte, liebte er natürlich Schmuck über alles, auch bei uns trug er immer einen goldenen Ring mit rotem Stein.

Den hatte er jetzt beim Kartoffelwaschen abgestreift, ihn auf die Bordwand gelegt.

Dieser Ring erregte mächtig meine Habgier. Eine unbändige Lust wandelte mich an, ihn zu besitzen.

Herabgestürzt, über Deck geschossen, im Fluge den Ring mit dem Schnabel von der Bordwand erhascht.

Dann saß ich schon wieder auf der Marsrahe des Kreuzmastes, den Ring im Schnabel, mit einem wahren Entzücken in meinem Rabenherzen. Dabei hatte ich mich auch schon wieder den Menschen dort unten zugekehrt, betrachtete sie.

Bandwurm schrie, deutete nach mir, alles blickte nach mir.

Ich hohnlachte ihrer. Aber nicht etwa, daß ich dabei den Schnabel aufsperrte. Ich lachte ihrer in meinem Rabenherzen und freute mich des glitzernden Ringes.

Ventuno war es, der jetzt unter der Back hervorgesprungen kam, ein Gewehr in der Hand, es auf mich anlegte.

Das sah ich als Mensch wie als Rabe.

Aber doch grundverschieden.

»Paß auf, der will Dich schießen!«

So sagte ich mir als Mensch.

Als Rabe wußte ich gar nicht, was der da unten für einen Stock in der Hand hatte und ihn nach mir richtete. Als Rabe kannte ich noch keine Feuerwaffe.

Und der Rabencharakter war der mächtigere, ich blieb ruhig sitzen und beobachtete.

Bimbim — bimbim — bimbim — bim, ging es.

Da Wache gegangen, wurde geglast, mit der Schiffsglocke die Zeit gemeldet, aller halben Stunden.

Sieben Glasen — halb acht.

Puff!

Doch nein, sich hörte den Knall gar nicht, ich sah nur den Feuerstrom, ich fühlte einen heftigen Schlag, einen schneidenden Schmerz . . .

»Ventuno hat mich erschossen!«

Das war das letzte, was ich als Mensch dachte, und als Rabe fühlte ich, wie ich meine Fänge noch einmal krampfhaft zusammen krallte, den Ring hatte ich schon aus dem Schnabel fallen lassen, dann stürzte ich, meine Seele versank in schwarze Nacht.

Und dann wußte ich, daß ich in der orientalischen Kammer auf dem Diwan saß, wußte es ganz deutlich. Wußte, daß Juba Riata und der Eskimo und die Begum um mich waren, ich sah sie und sah sie dennoch nicht ich war tot und dennoch lebendig . . .

Ein furchtbares Grausen befiel mich. Ich wollte mich bewegen und konnte nicht. Ich war ja tot. Obgleich ich lebte. Ich war scheintot . . .

Und dieser entsetzliche Zustand währte eine ganze Ewigkeit!

Bis ich endlich Juba Riata sprechen hörte.

»Es ist zehn Minuten vor acht, jetzt müßte er wieder zu sich kommen.«

Da war ich bereits wieder zu mir gekommen.

Ich war aufgesprungen.

Fort, fort, nur fort von hier!

Vergebens befragte mich die Begum, was ich denn erlebt habe, was mir passiert sei, ob ich etwa getötet worden sei.

Ich wollte nichts hören!

Nur fort, fort von hier!

Noch immer rannen mir die kalten Todesschauer über den Rücken.

Wie es weiter kam, weiß ich nicht. Ich saß im Kutter, zwischen Juba Riata und Doktor Cohn, die 16 Jungen pulten durch die einbrechende Nacht.

Als ich das Dreck betrat, war ich wieder etwas bei Besinnung.

Da sah ich Ventuno, und ich konnte ihn befragen.

»Was habt Ihr vorhin gegen halb acht gemacht?«

»Kartoffeln geschält.«

»Und — habt Ihr da etwa einen Raben gesehen?«

Der Junge riß vor Staunen die Augen weit auf.

»Woher wissen Sie denn das schon, Herr Waffenmeister? Ja, dort oben auf der Oberbramrahe des Großmastes saß ein Rabe, wir wunderten uns, wo der herkäme, alle anderen Raben sind doch schon fortgeflogen — plötzlich schreit der Bandlwurm, und da sehen wir auch schon, wie der Rabe dicht über Deck streicht. Bandlwurm hatte seinen Ring auf die Bordwand gelegt, den hatte der Rabe schon im Schnabel, saß mit ihm dort oben auf der Marsrahe des Kreuzmastes, ich sprang schnell unter die Back und holte mein Tesching, lud es — der Rabe saß noch dort oben — ich schoß ihn herunter, der Ring fiel gerade in den Kartoffeleimer . . . «

Leser, verlange nicht, daß ich schildern soll, wie mir zumute ward, als ich dies vernahm!

Aber ich konnte noch weiter fragen.

»Was ist aus dem toten Raben geworden?«

Ängstlich und scheu blickte mich der sonst so kühne Junge an. Er mochte vielleicht eine Stimme wie aus dem Grabe gehört haben, dementsprechend mochte ich auch aussehen.

»Dort liegt er noch. Die Hunde wollten ihn nicht fressen.«

Ich hielt den toten Raben, von einer Teschingkugel ins Herz getroffen, in meiner Hand.

Ich brachte es über mich, seinen Leib zu öffnen, seinen Magen.

Er enthielt zwei Mäuse, einige Eidechsen, Käfer und anderes Gewürm.

Und ferner einen weißen Stein, von der Größe eines Pfennigs mit Goldglimmer gesprengelt, und dieser zeigte deutlich die Figur eines lateinischen A . . .


102. KAPITEL.
NÄCHTLICHE BESUCHE.

Es war Nacht geworden.

Ich saß in meiner Kabine, vor mir ein dickes Buch, in dem ich gelesen hatte.

Mein furchtbarer Schreck war schon längst überwunden. Jener furchtbare Schreck, den ich empfunden, als ich den gezeichneten Stein in dem Magen des Rabens gefunden hatte.

Ich sage: furchtbarer Schreck. Es war eine ganz andere Empfindung gewesen, für die ich aber keine Bezeichnung habe. Höchstens könnte ich sagen, daß mir plötzlich eine eiskalte Hand ans Herz gegriffen hätte.

Das hatte ich also hinter mir, die besonnene Ruhe war wieder bei mir eingekehrt.

Ich hatte mit Juba Riata und Doktor Cohn gesprochen, ihnen alles erzählt, und letzterer hatte mir aus seiner eigenen Bibliothek dieses dicke Buch gebracht. Es war der zweite Band von Karl Kiesewetters dreibändigem Werke »Geschichte des Okkultismus«.

Da drin fand ich eine Erklärung dieses Phänomens.

Karl Kiesewetter, erst vor einigen Jahren gestorben, war ein wissenschaftlich gebildeter Mann, war selbst Okkultist, aber einer von der denkbar nüchternsten Sorte, der scharfsinnigste Denker dazu, und dann vor allen Dingen ehrlich bis auf die Knochen! Von seinem Großvater erbte er seine ansehnliche okkultistische Bibliothek, die er während seines ganzen Lebens ständig vermehrt hat, er setzte sich mit anderen angesehenen Okkultisten in Verbindung, bereiste ganz Deutschland, Frankreich und England, um in privaten und öffentlichen Bibliotheken nach ihm noch unbekannten Schriften aus dem Gebiete der Geheimwissenschaften zu forschen, wozu er selbst noch Arabisch lernte und sich einen hebräischen Übersetzer hielt, und auf diese Weise ist sein dreibändiges Lebenswerk entstanden, in dem er alles zusammen getragen hat, was alle Völker dieser Erde auf dem Gebiet des Übersinnlichen gedacht und praktiziert haben, von den Chinesen vor zehntausend Jahren an bis auf den heutigen Tag.

Es ist nicht zu verlangen, daß unser materialistisches Zeitalter solch ein Buch zu würdigen weiß. Aber diese Zeit wird noch kommen. Und dann wird man vor diesem deutschen Gelehrten den Hut abnehmen, vor seinem Denkmal. Die kleine Auflage, die Kiesewetter auf seine Kosten drucken ließ, ist vergriffen, selten einmal findet man das Buch in einer öffentlichen Bibliothek, die Exemplare verteilen sich auf Privatbibliotheken, ich selbst besitze eins.

Das Phänomen, welches hier bei mir vorlag, fällt unter die Rubrik der sogenannten persönlichen Transformationen.

Zur Erklärung knüpft Kiesewetter an ein gerichtliches Aktenstück aus dem 17. Jahrhundert an, das er in einem französischen Archive fand.

Zwei Brüder, Bauern aus der Gegend von Dijon, klagten sich selbst vor Gericht an, von Gewissensbissen geplagt, daß sie ihre Seelen dem Teufel verschrieben hatten, der ihnen Schätze versprochen habe, um diese habe er sie aber geprellt, statt dessen habe er ihnen nur ein Mittel gegeben, durch welches sie sich in Wölfe verwandeln könnten. Das täten sie nun allnächtlich, schweiften als Wölfe herum, zerrissen Schafe und trieben anderen Unfug, hätten auch schon viele Menschen gefressen. Davon könnten sie nun nicht mehr lassen. Obgleich es ihnen selbst das größte Unbehagen bereite. Wenigstens hinterher. Abgesehen von den Gewissensqualen fühlten sie sich auch am anderen Tage, wieder in die Menschengestalt zurückversetzt, wie zerschlagen. Weil sie als Wolf immer fürchterlich rennen müßten. Das mache ihnen zwar als Wolf das größte Vergnügen, aber hinterher könnten sie die menschlichen Beine kaum noch regen. Gerade deshalb müßten sie sich wieder in Wölfe verwandeln. Und nun noch als Wolf die Lust am Zerreißen und Fressen von Schafen und Menschen

Also die alte Geschichte vom Werwolf.

Die Sache kam vors Quirinal, und zwar wurde sie hier einmal prüfend untersucht, alles protokolliert, welche Akten sich eben noch erhalten haben. Kiesewetter gibt sie im französischen Original wieder.

Die beiden sollten einmal ihr Mittel in Gegenwart von Zeugen anwenden. Gut, sie zogen sich aus, rieben ihren ganzen Körper mit einer Salbe ein . . . und fielen bald in Starrkrampf. Als sie nach einigen Stunden wieder zu sich kamen, behaupteten sie, als Wölfe herumgerannt zu sein, Schafe zerrissen und gefressen zu haben, auch ein Kind hatten sie angefallen, waren aber verscheucht worden.

Den betreffenden Ort, wo es geschehen, konnten sie immer genau angeben, man forschte nach, und siehe da, es war eine Tatsache! So, wie sie es geschildert, waren die Schafe zerrissen worden, der hatte ein Bein gefressen, jener nur die Leber und Nieren, und ein kleines Mädchen war wirklich von zwei Wölfen angefallen worden, genau so, wie es die beiden Brüder beschrieben.

Es läßt sich denken, was die Herren vom Quirinal für Gesichter machten. Die beiden hatten doch immer hier gelegen! Diese selbst wußten natürlich nichts davon, die waren der Überzeugung, auch mit ihren Leibern wirklich draußen gewesen zu sein, eben nur in Wölfe verwandelt. Sie hatten sich auch niemals gegenseitig beobachtet.

Denn der Teufel, einfach ein Fremder, der einmal auf ihrem Bauernhofe übernachtet hatte, solche magische Künste verstand und dem es Vergnügen bereitete, andere Menschen darin einzuweihen, natürlich mit dem nötigen Hokuspokus, der hatte ihnen gesagt, daß sie die Einreibungen unbedingt gleichzeitig vornehmen müßten, denjenigen, der es unterließe, wenn sich der Bruder in einen Wolf verwandele, würde er sofort in seine Hölle holen.

Das Experiment wurde, wie die Akten angeben, noch mehrmals gemacht, immer mit dem gleichen Erfolg. Die beiden Brüder zerrissen als Wölfe Schafe, gaben den Ort an, wo es geschehen war, mit allen Einzelheiten, und immer stimmte es. Ein einziger der Zeugen, ein Bischof, der durch seine Frömmigkeit teufelsfest war, gebrauchte selbst das Mittel, rieb sich mit der Salbe ein und verwandelte sich richtig in einen Wolf‚ der in einen Schafstall einbrach, aber erst nachdem er stundenlang mörderlich herumgerannt war, so daß er dann nach dem Erwachen kaum noch seine menschlichen Beine regen konnte. In jenen Schafstall war wirklich ein Wolf eingebrochen, genau so wie es der Bischof beschrieb. Außerdem aber hatte er sich, wie auch die beiden Brüder, mit anderen Wölfen vereinigt, und ich darf nicht verschweigen, daß dabei immer der Begattungstrieb eine wichtige Rolle spielte. Das mochte auch der Hauptgrund gewesen sein, weshalb sich die beiden so gern in Wölfe verwandelten.

Der Prozeß wurde abgeschlossen, ohne daß man weiter nach einer Erklärung suchte. Eben Zauberei, Bündnis mit dem Teufel — die beiden Brüder wurden hingerichtet — aufs Rad geflochten und verbrannt. Auch gar nicht so mit Unrecht. Sie hatten vielerlei auf dem Kerbholz. Hatten noch andere Scheußlichkeiten begangen, nicht nur in ihrer Einbildung als Wölfe, Leichenschändung, Kirchenraub und dergleichen. Um sich eben die Ingredienzien für jenes Zaubermittel zu verschaffen.

Am interessantesten nämlich ist, daß in diesen Akten einmal das Rezept für das Zaubermittel des Werwolfs angegeben ist. Kiesewetter hatte es sich bereitet und an seinem eigenen Körper angewendet, mit teilweisem Erfolge, oder sogar in gewisser Hinsicht mit vollständigem Erfolg. Natürlich hat er nicht, wie es der »Teufel« angegeben und wie es auch die beiden Brüder gemacht hatten, bei nächtlicher Weile auf dem Friedhofe die Leiche eines totgeborenen Kindes ausgegraben, hat sie nicht gebraten, um das Fett zu gewinnen, er ist auch nicht in eine Kirche eingebrochen um ein geweihtes Kruzifix zu stehlen, des Goldes wegen, das unter Teufelssprüchen ganz fein pulverisiert werden mußte, sondern er hat einfach feingefeiltes Gold mit Schweinefett verrieben.

Weiter gebe ich das Rezept zu der Salbe hier nicht an. Es handelt sich durchweg um sehr giftige Pflanzen, deren Säfte mit Fett zu einer Salbe verrieben werden, das Gold spielt dabei die Rolle des Quecksilbers, welches in diesem feinverteilten Zustande beim kräftigen Einreiben in die Poren der Haut dringt, in den Körper übergeht. Denn auch das metallische Quecksilber ist ja an und für sich nicht etwa giftig. Oder man kann es überhaupt nicht in den Körper bringen. Es dringt nicht etwa in die Poren der Haut ein. Das ist eine Fabel. Früher, aber zum Teil auch heute noch, wurde für gewisse Fälle, wenn es die Därme zu reinigen gilt, metallisches Quecksilber gegeben, innerlich eingenommen bis zu 100 Gramm. Es geht glatt durch Magen und Därme hindurch. Anders ist es, wenn Quecksilberdämpfe eingeatmet werden, oder wenn man es in ganz feinverteiltem Zustande, wozu man es mit Fett vermischt, in die Haut verreibt, dann allerdings dringt es in den Körper und wirkt sehr giftig, wie auch die meisten Quecksilberverbindungen.

Hierbei also wurde feinverteiltes Gold verwendet. Jedenfalls zu keinem anderen Zwecke, als daß es die dem Fette beigemischten Pflanzensäfte mit durch die Poren der Haut nahm. Kiesewetter hat diese Salbe an sich selbst probiert. Nachdem er seinen Körper tüchtig damit eingerieben, dauerte es nicht lange, so trat Gliederstarre ein. Das klare Bewußtsein behielt er zunächst noch. Da bemerkte er, daß er zuerst einen pelzigen Geschmack auf der Zunge bekam. Es war ihm, als hätte er auf der Zunge einen Pelz. Dieser Pelz erstreckte sich immer weiter, über den ganzen Körper. So lange er noch seine Hand rühren konnte, fühlte sich alles, was er betasteste, pelzig an, auch eine Glasscheibe, und dieses Gefühl erstreckte sich auch auf seinen eigenen Körper. Sehr einfach, denn wir fühlen doch nicht nur mit den Fingern.

Dann verlor er das Bewußtsein. Ob er etwas Bestimmtes geträumt hat, weiß er nicht. Aber das weiß er bestimmt, daß er immer rennen mußte. Rennen, immer rennen mit Windeseile.

Als er nach einigen Stunden wieder zu sich kam, war das Pelzgefühl nicht mehr vorhanden, aber er fühlte sich am ganzen Körper wie zerschlagen, und am längsten hielt der große Schmerz in den Lenden an, noch länger in den Bein— und Wadenmuskeln. Genau so, als wäre er einen ganzen Tag lang, wie ich einmal, Treppen gestiegen, oder eben als wäre er unausgesetzt gerannt, ohne es gewohnt zu sein, und dessen entsann er sich auch noch. Dieses Gefühl wurde er erst nach zwei Tagen wieder los, während derer er auch sonst unter einem fürchterlichen Katzenjammer zu leiden hatte.

Hierbei will ich noch etwas anderes anführen, es gehört in denselben Rahmen. Kiesewetter hat auch Rezepte für Hexensalben aufgestöbert, hat sie zusammengebraut und an sich selbst probiert. Wieder Starrkrampf und dann das Gefühl, als ob er durch die Luft flöge. Das kann ich bestätigen. Ich selbst habe später mir solch eine Salbe einmal bereitet und probiert, auch ich glaubte durch die Luft zu fliegen, wenn auch nicht auf einem Ziegenbock oder auf einem Besenstiel, landete nicht auf dem Blocksberge, wohnte keiner Hexenorgie bei, sondern ich flog nur und flog, bis ich wieder zu mir kam.

Daß es Substanzen gibt, die innerlich eingenommen oder äußerlich gebraucht, bestimmte Bewegungsgefühle auslösen, das weiß eigentlich jeder. Wenigstens jeder, der einmal einen Rausch gehabt, ohne den man ja bekanntlich kein braver Mann ist. Zuerst, wenn man an den Alkohol noch nicht gewöhnt ist, man hat einmal mehr Bier getrunken, als man vertragen kann, und man legt sich zu Bett, dann fängt doch alles sich zu drehen an, der Betreffende selbst dreht sich am meisten, besonders wenn er die Augen schließt. Mir wenigstens ist es so gegangen, als ich so ungefähr mit 13 Jahren meinen ersten »Kommers« gehabt hatte, ach, was bin ich mit meinem Bett herumgegondelt, immer im Kreise herum, und das immer wieder, bis ich »bierfest« war, und auch weiß, daß es den meisten Menschen so ergangen ist, und besonders Damen, die sonst nichts trinken, haben es immer wieder.

Also Alkohol, innerlich eingenommen, löst das Gefühl von Drehbewegungen aus. Äußerlich eingerieben dürfte die Wirkung eine noch viel intensivere sein. Aber einfaches Einreiben genügt da noch nicht. Die Flüssigkeit dringt doch nicht richtig ein. Anders schon, wenn Alkoholdämpfe von den Hautporen eingeatmet werden. Dadurch wird man ebenfalls bezecht. Am stärksten aber dürfte die Wirkung des Alkohols als Berauschungsmittel sein, wenn man ihn in homöopathischer Verdünnung, etwa ebenfalls mit Fett vermischt, einreibt, auch wieder unter Zusatz eines feingepulverten Metalls.

Auf diese Weise löst jenes Werwolfsmittel das Gefühl des Rennens, jene Hexensalbe das des Fliegens aus. Diese Theorie ist um so richtiger, als auch die dazu verwendeten Pflanzensäfte erst in alkoholische Gährung übergehen müssen.

Somit wäre die natürliche Erklärung gegeben. Bei dem Wolfsmittel kommt noch das Gefühl des Pelzigseins hinzu.

Nun freilich fühlte sich Kiesewetter nicht in einen Wolf verwandelt, erlebte keine Wolfsabenteuer, so wenig wie ich unter Vorsitz des Teufels mit Hexen eine Orgie feierte.

Aber auch hierfür gibt es eine ganz einfache Erklärung. Wir glauben heute nicht mehr an Vampire, Werwölfe und Hexen. In jenem Zeitalter hingegen war man von solchen Möglichkeiten vollständig überzeugt, Inquisition und Hexenprozesse füllten alle Köpfe aus. Also handelte es sich um Massensuggestion. Wer solch eine Salbe mit Gebrauchsanweisung erhielt und benutzte, der verwandelte sich in seiner Einbildung auch in einen wirklichen Wolf. Die letzte Erklärung ist das ja nun freilich noch nicht. Die Hauptsache fehlt, die Erklärung des letzten Phänomens, wie die Angaben des menschlichen Werwolfs stimmten, wie auch ich als Rabe wirklich den Stein verschluckt hatte.

Kiesewetter braucht zu dieser Erklärung 20 Seiten. Die kann ich unmöglich hier wiedergeben, und außerdem setzt er dazu voraus, daß auch der erste, fast tausendseitige Band und die Hälfte des zweiten gelesen worden ist. Und schließlich kann man dies alles doch nur intuitiv begreifen, ahnungsvoll, am wenigsten es in Worte kleiden.

Die brahmanische Philosophie der Veden faßt dies alles in den zwei Worten zusammen: tatwam asi — das bist Du!

Dann flieht meine Seele zurück,
Bis wo vor zahllos vergessenen Jahren
Der Vogel und der wehende Wind
Mir ähnlich und meine Brüder waren.

Dann wird meine Seele ein Tier.
Und ein Baum und ein Wolkenweben.
Verwundert kehrt sie zurück und fragt mich. -
Wie soll ich ihr Antwort geben?«

Es brauchst sich aber gar nicht um »zahllos vergessene Jahre« zu handeln.

Es gibt gar keine Zeit. Auch sie ist nur eine Täuschung der Maja. Es gibt nur ein momentanes Jetzt. Wer im Finstern einschläft und im Finstern erwacht, wer will sagen, wie lange er geschlafen hat? Ob nur eine Minute oder einige Stunden? Und kann er in dieser einen Minute nicht einen langen, langen Traum gehabt, ein ganzes Leben durchlebt haben?

Ich will bei meinem Falle bleiben.

Jenes Elixier in der Kristallflasche war ein Universalmittel, um solche Verwandlungen in der Einbildung herbeizuführen.

Ich hatte gewünscht, ein Vogel zu werden, im Hintergrunde meiner Gedanken dabei schon einen Raben sehend.

Da hatte ich auch schon als Rabe im offenen Fenster gesessen.

Aber nicht etwa in sichtbarer Gestalt. Juba Riata und der Eskimo hatten nicht etwa einen Raben im Fenster sitzen sehen. Das wäre ihnen sicher nicht entgangen.

Vorläufig war es nur meine unsichtbare Seele, oder mein zweites Ich oder mein Astralkörper, oder wie man es nun sonst nennen mag, was sich in der Einbildung als Rabe fühlte.

Denn an so etwas muß man nun freilich glauben. Und im nächsten Jahrhundert wird es keinen gebildeten Menschen mehr geben, der an so etwas nicht glaubt. Ebenso wie es heute keinen gebildeten Menschen gibt, der nicht vollständig davon überzeugt ist, daß sich die Erde um die Sonne dreht. Und woher will er denn das wissen? Wer kann denn das berechnen? Und es läßt sich überhaupt nicht berechnen. Es ist noch immer nichts weiter als eine Theorie. Es ist etwas Übersinnliches. Denn wir können diese Bewegung der Erde um die Sonne doch nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen. Unsere Sinne sagen uns sogar gerade das Gegenteil. Die Sonne dreht sich um die Erde. Und dennoch sind wir vom Gegenteil fest überzeugt.

Da hat man es! Das ist solch ein Fall, wo ich jeden Materialisten sofort auf den Sand setzen will, wenn er mit handgreiflichen Beweisen anfängt, die er haben will, wenn er etwas glauben soll.

Ich will jenes unfaßbare Etwas Seele nennen.

Meine Seele hatte den Körper verlassen, hatte die Gestalt eines Raben angenommen, saß als solcher im Fenster, flog hinaus. Zunächst unsichtbar, nur in der Einbildung, obschon dennoch in Wirklichkeit.

Da flog ein wirklicher Rabe vorbei, der die Sommerreise nach dem Norden mit seinen Kameraden nicht angetreten hatte.

Dieses Rabens bemächtigte sich meine Seele, sie fuhr in ihn hinein, nach den Gesetzen der Affinität, der Anziehungskraft der verwandtschaftlichen Gefühle.

Und ich glaube, ich glaube — solch ein Austausch der Seelen findet alltäglich und allstündlich und jeden Moment in zahllosen Wiederholungen statt.

Jede Volksversammlung, in der ein feuriger Redner die ganze Menge umstimmt, bis alle ihm begeistert zujubeln, oft genug im direkten Widerspruchs zu ihren sonstigen Überzeugungen, ist mir ein Beweis dafür.

Sie werden einfach . . . »besessen«!

Meine Seele hatte ein Rabe sein wollen, deshalb war sie in den nächsten ihr begegnenden Raben gefahren; Sie hatte ihn »besessen« gemacht. Wenn der Rabe hiervon auch gar nichts zu merken brauchte.

Das Weitere erübrigt sich nun.

Als der Rabe seine Seele aushauchte, verließ auch meine den toten Körper, fuhr in den starren Menschenleib zurück, mußte nur noch die einmal festgesetzte Zeit ausharren, bis sie auch wieder als Menschenseele funktionieren konnte.

Nur noch eine Frage will ich aufwerfen.

Gesetzt nun den Fall, ich hätte gewünscht, mich in ein Tier zu verwandeln, welches in dieser Gegend gar nicht vorkam. Etwa in ein Zebra. Und nicht nur in meiner Einbildung wollte ich in jenem Raume ein Zebra sein, mich als solches im Spiegel sehen, sondern ich wollte als ein solches wirklich draußen herumschweifen.

Nun, ich hätte schon ein Zebra zu finden gewußt, von dem meine Seele Besitz ergriff. Ich wäre einfach nach dem nächsten zoologischen Garten hinübergerutscht, oder auch gleich nach Afrika. Für die Seele gibt es ja keinen Raum. Ebensowenig wie für die Phantasie. Ich kann doch im nächsten Moment auf einem fernen Planeten sein, im Traume sowohl wie im wachen Bewußtsein.

Wenn ich aber nun als Zebra hier in diesem sibirischen Tale umherschweifen wollte?

Dann, nehme ich an, hätte ich jedenfalls vom nächsten einem Zebra am ähnlichsten Tiere Besitz ergriffen. Also von einem Tarpan, oder noch wahrscheinlicher von einem Kulan. Als solchen hätten mich andere Menschenaugen gesehen. Ich selbst aber hätte mich als afrikanisches Zebra gefühlt, und hätte ich in einen Wasserspiegel geblickt, so hätte ich mich zweifellos auch als wirkliches Zebra mit buntgestreiftem Felle gesehen.

Und wenn ich nun ein Tier hätte sein wollen, das heute gar nicht mehr existiert, ein vorsintflutliches Ungeheuer?

Dann wäre ich zweifellos auch dieses geworden. Ohne mich des Unterschiedes der Zeit bewußt zu werden.

Denn für die Seele gibt es keine Zeit, es gibt nur ein Jetzt.


»Die Begum bittet den Herrn Waffenmeister sprechen zu dürfen.«

So meldete Siddy.

»Ich empfange sie hier.«

Sie trat ein, in einen weiten, dunklen Mantel gehüllt.

»Ich stehe doch unter dem Schutze Deiner Gastfreundschaft?«

»Selbstverständlich.«

»Du bist vorhin so schnell davongegangen, fast fluchtähnlich, ohne mir etwas zu berichten.«

»Ja, ich war sehr erregt, bestürzt, erschrocken.«

»Hast Du Schreckliches erlebt?«

Ich berichtete ihr mein Rabenabenteuer.

»Also nur ein Schreck über das Ungewohnte. Daß Dir sonst nichts passieren kann, habe ich Dir ja gleich gesagt. Du brauchst ja auch nur zu wünschen, wieder in jenem Raume zu sein, dann bist Du es sofort und jeder drohenden Gefahr entronnen. Und Du hast doch auch sonst keine üblen Folgen verspürt?«

»Nein, eigentlich nicht. Nur eben einen Schreck, und der ist überwunden.«

»Du wirst Dich bald daran gewöhnen.«

»Woran denn?«

»An solche Verwandlungen in Tiere.«

»Du meinst, ich mache dieses Experiment noch einmal?«

»Gewiß doch.«

Ich hob beide Hände empor, als wollte ich gleich mit allen zehn Fingern einen Eid leisten.

»Nicht für alle Schätze der Welt! Und ich täte es nicht, auch wenn ich dadurch mein Liebstes vom Verderben retten könnte.«

»Weshalb denn nur nicht?«

»Weil ich nichts mit solch unnatürlichen Künsten zu tun haben will . . . «

»Weil Du ein Feigling bist!« wurde ich unterbrochen.

»Begum! Du willst ein streitbares Weib sein. So fordere ich Dich für diese Beleidigung zum Zweikampf auf Leben und Tod heraus, Du sollst die Art bestimmen, von der Du ganz sicher bist, mir darin überlegen zu sein.

»Nein, wir wollen friedliche Nachbarn bleiben, es war nicht so gemeint, ich wollte nicht beleidigen. Aber weshalb willst Du nur das Experiment nicht wiederholen? Du hast doch selbst gesehen, wie gefahrlos . . . «

»Nein, sage ich, und bei diesem Nein bleibe ich!«

»Du wirst dadurch so gut wie allwissend, kannst in fremder Gestalt andere Menschen beobachten und belauschen . . . «

»Du willst mich wohl als Spion benutzen?«

»Ja, allerdings, ich gestehe es! Nicht gerade als Spion — ich habe etwas ganz Besonderes mit Dir vor.«

»Weshalb verwandelst Du Dich denn nicht selbst in einen Vogel und fliegst auf Spionage aus. Oder kannst Du es nicht?«

»Doch.«

»Nun, warum tust Du es nicht?«

»Ich vermag es nur in jenem Raume auszuführen!« erklang es etwas zögernd, als müsse ein unliebsames Geständnis gemacht werden, und nicht anders war es ja auch.

»Du darfst diesen Raum wohl nicht in solch einer anderen Gestalt verlassen?« kam ich gleich entgegen.

»Nein.«

»Weshalb denn nicht?«

»Ein Gelübde bindet mich.«

Wieder einmal ein Gelübde! Genau wie bei den spiritistischen Tischgeistern. Die wissen, wenn man sie danach befragt, auch immer einen Schatz unter der Erde liegen, ganz in der Nähe, und wo in der Nähe von menschlichen Ansiedlungen sind wohl auch nicht Gelder und Schätze vergraben, die »Geister« können die Münzen und Goldsachen ganz genau beschreiben, sie geben die Tiefe bis auf den Zentimeter an, der Ort ist erreichbar, man braucht nur den Spaten mitzunehmen, sie wollen einem auch den Ort zeigen, sehr gern, aber . . . sie dürfen nicht. Sie haben ein Gelübde abgelegt, einen Schwur getan. Und dagegen ist natürlich nichts zu machen, da hilft kein Bitten und auch nicht das Anpacken an der Ehre, wogegen diese Geister sonst so empfindlich sind. Solch ein Schwur ist natürlich unumstößlich — bei einem ätherischen Geiste. Wenns auch im Leben der größte Lump war, der für einen Schnaps dreimal falsch schwor. Im Geisterreiche scheints keinen Schnaps zu geben.

»Dann schicke doch einen anderen als Vogel hinaus, um ihn beobachten zu lassen.«

»Es geht nicht.«

»Wohl nur ich darf den Verwandlungstrunk nehmen?«

»Du sagst es. Wenigstens darf niemand anders als Du in anderer Gestalt jenen Zauberraum verlassen.«

»Wer hat denn das geboten?«

»Kapitän Satin.«

»Oho! Der hat mir weder etwas zu verbieten noch zu gebieten!«

»Es ist ein Befehl Merlins, dem sich auch Kapitän Satin zu fügen hat.«

»Aha, das ist etwas anderes. Nein, gib Dir keine Mühe weiter, ich wiederhole dieses Experiment nicht wieder.«

Finster und drohend blickte mich das Weib an.

»Und Du mußt dennoch einer der unsrigen werden!«

»Gar nichts muß ich.«

»Ich stehe also unter dem Schutze der heiligen Gastfreundschaft?«

»Weshalb fragst Du das nochmals?«

»Weil Du jetzt eine Drohung von mir zu hören bekommen wirst.«

»Zu hören? Gut. Drohen kannst Du so viel Du willst, das tut nicht weh. Aber sobald Du drohend gegen mich vorgehst, handgreiflich werden willst, dann ist es natürlich mit der heiligen Gastfreundschaft vorbei, dann wirst Du auch einen handgreiflichen Gegner finden.«

»Wenn Du nicht freiwillig zu mir kommst und Dich meinen Wünschen fügst, dann — lasse ich Deine Leute martern.«

So sprach das Weib und hatte auch schon die Kabine verlassen.

Mit einem leisen Stöhnen ließ ich mich auf einem Stuhl nieder.

Was sollte ich tun, um zu verhindern, daß sie ihre Drohung ausführte?

Im Augenblicke hatte ich nur einen einzigen verzweifelten Gedanken.

»O Price O'Fire, Du Fürst des Feuers, warum hast Du mich hierher gelockt! Konnte mich dieser Merlin nicht wenigstens davor schützen, daß wir nicht . . . «

Wieder öffnete sich die Tür, wieder trat Siddy mit einer Meldung ein.

»Merlin ist da und möchte Sie sprechen.«

Ich will nicht annehmen, daß ich ihn wie einen Geist beschworen hatte, plötzlich zu erscheinen. Er mochte eben schon unterwegs gewesen sein.

Jedenfalls aber kam er im geeignetsten Momente, schon jetzt fiel mir eine Zentnerlast vom Herzen.

Er trat ein, der jugendfrische Greis, zum ersten Male, daß er das Schiff betrat.

Jetzt hatte er wieder einmal seinen langen Bogen in der Hand, auf dem Rücken den mit Pfeilen gespickten Köcher.

»Verzeihe mir, wenn ich Dich störe.«

»Du störst mich nicht, Du kommst mir vielmehr wie gerufen.«

»Die Begum war soeben bei Dir.«

»Ja.«

»Was sagte sie?«

Ich berichtete.

»Es war eine leere Drohung, um Dich zur Nachgiebigkeit zu bewegen!« lautete dann der Trost. »Sie darf auch Deinen Leuten, die sie jetzt ihre Sklaven nennt, kein Haar auf dem Haupte krümmen.«

»Weshalb nicht?«

»Weil es ihr verboten ist, und sie weiß, daß sie nicht dagegen handeln darf.«

»Was würde dann geschehen?«

»Es wäre ihre eigene Vernichtung, ihre und ihrer sämtlichen Amazonen.«

»Dieses Weib ist zu allem fähig, es wird sich, wenn es darauf ankommt, an solch ein Verbot nicht kehren, mögen auch die Folgen sein, welche sie wollen.«

»Genug, glaube mir, daß sie Deine Leute nicht martern wird. Etwas anderes wäre es, wenn sich die Gefangenen, um sich zu befreien, tätlich an den Amazonen vergriffen, dann würden sich diese wehren, jene mit Waffengewalt überwältigen und auch töten, das dürften sie, dann handelten sie eben in der Notwehr. Sonst aber sind sie in ihrer Gefangenschaft vor jeder Unbill geschützt.«

»O, Merlin, warum konntest Du es so weit kommen lassen, daß meine Argonauten erst in diese schmachvolle Gefangenschaft gerieten!« konnte ich jetzt nur schmerzlich sagen. »Du wolltest uns doch vor jeder Gefahr warnen! Warum tatest Du es nicht? Daß wir uns mit diesen höllischen Weibern nicht in solche Zweikämpfe einließen?«

»Wäret Ihr etwa zurückgetreten, wenn ich Euch gesagt hätte, diese Amazonen seien Euch überlegen? Hättet Ihr es mir überhaupt geglaubt?«

Ja freilich, da hatte er recht! Erstens hätten wir es ihm nicht geglaubt, und wenn doch, so hätten wir dennoch den uns zugeworfenen Handschuh aufgenommen.

»Wie ist es nur möglich, daß uns diese Weiber so überlegen sind? Was haben die für eine besondere Ausbildung?«

»Gar keine besondere Ausbildung.«

»Was denn sonst?!«

»Deine Argonauten sind durch magische Künste besiegt worden.«

»Was, durch magische Künste?!«

»Ja. Aber nicht durch Zauberei, wie Du jetzt wohl meinst. Ich verstehe unter Magie noch etwas ganz anderes. Die Indianer würden mich sofort verstehen. Wenn ich statt Magie Medizin sagen würde. Diese Weiber haben ein medizinisches Mittel angewandt, um die Kraft und Gewandtheit des Körpers, um die Leistungsfähigkeit aller Muskeln und Sehnen und Organe für einige Stunden bis zur höchsten Leistungsfähigkeit zu steigern. Deshalb waren sie stärker und schneller als Ihr. Dadurch wurde ihr Auge so sicher und ihre Hand so ruhig, daß sie auch solche Schießleistungen erzielen konnten. Nur in gewissen Spezialfächern versagte das Mittel. Das Rückgrat konnte nicht so geschmeidig gemacht werden wie das Deines indischen Dieners. Auch einer ganz besonderen Fechtkunst vermochte die ihre nicht standzuhalten. Und ebenso versagte dieses Mittel, wenn wie bei jenem Halten der Hände ganz besondere Muskeln in Anspruch genommen wurden.«

Dann war dieses Rätsel gelöst!

Ich hatte ja auch schon damals angedeutet, daß es solche Mittel, um die Leistungsfähigkeit des Körpers bis zum extremsten Grade zu steigern, der die Blätter der Kokapflanze kauende peruanische Indianer hält 24 Stunden im schnellsten Laufe aus, natürlich nicht ohne üble Nachfolgen, er kann hinterher vor Schwäche sterben, aber von dieser Schwäche merkt er noch nichts am Ende des Laufes — also ich hatte schon eine Ahnung gehabt.

Ja, es gereichte mir zur höchsten Befriedigung, dies zu vernehmen. Meine Jungen freilich würde ich dadurch nicht wieder bekommen.

»Können die Amazonen dieses Mittel immer wieder anwenden?«

»Nein.«

»Weshalb nicht?«

»Sie haben es für diese eine Leistung völlig verbraucht, und lange Zeit bedarf es, mindestens ein Jahr, ehe sie sich neue Medizin in genügender Menge herstellen können, abgesehen davon, daß ihnen das Ausgangsmaterial fehlt, woraus das Präparat hergestellt wird.«

»So könnten sie sich jetzt nicht mehr mit meinen Leuten messen?«

»Nicht im entferntesten mehr. Aber denke nicht daran, daß sie sich nochmals zu solchen Zweikämpfen, zu solchen Wettspielen stellen werden.«

Nein, das wußte ich.

»Und was ist denn das nun für ein wunderbares Mittel?«

»Lecithin.«

Der Leser kennt sicher schon dieses Wort. Es wird bereits Unfug damit getrieben. Wohl bauen sich die Nerven darauf auf, aber die zahllosen Lecithinpräparate, mit denen jetzt der Markt überschwemmt wird, sind gar nicht nötig, die natürlichen Nahrungsmittel liefern uns Lecithin zum Ernähren der Nerven in genügender Menge, und Milch und selbst Eier, besonders das Gelbe enthält sehr viel, sind zehnmal billiger als das billigste Lecithinpräparat.

Eine wichtige Entdeckung scheint dem im Laboratorium konzentriert hergestellten Lecithin allerdings noch vorbehalten zu sein. Die wunderbare Wirkung, wenn es direkt ins Blut gespritzt wird. Besonders in Verbindung mit dem Extrakt der rätselhaften Schilddrüse. Wie wunderbar solche direkte Einspritzungen das Wachstum von körperlich zurückgebliebenen Kindern fördern, wie sie auch auf das Gehirn wirken, der Blödsinn scheint heilbar zu sein, wie sie auch die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit des normalen Menschen mächtig fördern. Freilich wird auch hier die Natur einen eigenmächstigen Eingriff in ihre Rechte nicht ungestraft lassen. Diese Versuche sind jetzt erst aufgenommen worden.

In Gedanken versunken, blickte Merlin auf seinen Bogen herab, spielte mit ihm, zog die Sehne zurück und ließ sie schnellen.

Der Bogen war von weißer Farbe. Ich hatte erst an weiBes Holz geglaubt. Jetzt aber bemerkte ich, daß es wohl Metall sein mußte. Ich dachte an Weißguß, eine Legierung von Zink und Zinn. Ein Stab aus Weißguß ist freilich nicht elastisch.

Merlin blickte wieder auf mich.

»Habt Ihr schon solche Bogen gefunden, wie sie die Urbewohner dieses Tales benutzten?«

Nein, das hatten wir nicht. Rüstungen und Schwerter und Streitäxte und dergleichen, aber noch keine Bogen und Pfeile.

»Ich werde Euch die Rüstkammer zeigen, die solche Bogen und Pfeile enthält. Spanne diesen Bogen.«

Ich nahm ihn und . . . vermochte die Sehne kaum einen Viertelzoll zurückzuziehen, wie ich mich auch anstrengte, mit der ganzen rechten Faust die Sehne packte, wie ich mich auch dabei krümmte.

Und dieser schlanke, fast zierlich gebaute alte Herr hätte soeben die Sehne mit spielender Leichtigkeit mehrmals zurückgezogen! Eine kräftige Hand hatte er allerdings, trotz aller Feinheit starrend von Sehnen und Muskeln, aber solch eine Kraft hätte ich dem doch niemals zugetraut!

»Gib ihn mir noch einmal!« lächelte Merlin, wahrscheinlich über meine krampfhaften Bemühungen und was ich dabei für ein verdutztes Gesicht machte. Er

wickelte die Sehne an dem einen Ende anders, ich sah nicht deutlich, was er daran machte, gab ihn mir zurück.

»Nun probier es noch einmal, jetzt wird es besser gehen.«

Ja, jetzt konnte ich die Sehne ziemlich weit zurückziehen, auch wenn ich sie nur mit zwei Fingern faßte, allerdings immer noch mit äußerster Kraftanstrengung.

Dabei muß ich jetzt gestehen, daß ich an Bord der »Argos« nach Wenzel—Attila der beste Bogenspanner war. Weil ich mich am meisten damit geübt hatte. Eben weil es mich so irritiert hatte, daß dieser Knirps darin eine größere Kraft entwickelte als ich. Dabei aber muß ich noch einmal bemerken, daß es hierbei nicht allein auf Kraft ankommt. Es gehört ein ganz besonderer Kniff dazu. Das ist schon beim Auflegen der Sehne der Fall. Ich war dabei, als der alte Hagenbeck in Hamburg an einem Kneiptisch die Wette arrangierte, keiner der anwesenden Herren könne das nachmachen, was ihnen ein elfjähriger Indianerjunge vormachen würde: die Sehne auf einen Bogen legen. Hagenbeck ließ eine Truppe Siouxindianer gastieren. Der Indianerjunge wurde geholt, brachte einen Bogen mit, aus Horn, die Sehne abgestreift. Ein Stemmen gegen den Boden, ein Druck, ein eigentümlicher Griff, und das elfjährige Bürschchen hatte die Sehne übergelegt. Es waren baumstarke Männer in der Stammtischrunde — keiner brachte es fertig! So oft es uns der Junge auch vormachte.

»Das ist der vollgültigste Beweis, daß das echte Sioux sind!« sagte damals Hagenbeck.

»So, daß genügt schon!« sagte Merlin jetzt. »Ich will Dir dann zeigen, wie Du den Bogen beim Spannen anders anfassen mußt. Der Zwerg Attila kennt das Geheimnis, scheint Euch aber nicht eingeweiht zu haben.«

»Weißt Du, wo sich Attila aufhält?« fragte ich zunächst.

»Ich weiß es, habe ihn schon gesprochen. Er ist mit seiner Gattin und dem einbeinigen Jüngling wohl aufgehoben, hat ein sicheres Versteck gefunden. Nun laß, bitte, zwei von jenen Bronzepanzern besorgen. Einen mit Schuppen und einen massiven, letzteren von möglichster Stärke. Der Korridor draußen genügt zur Schußprobe.«

Solche Rüstungen und auch Bronzewaffen hatten wir schon an Bord genommen, ich benutzte zur Beorderung das Telephon.

Als wir auf den Korridor hinaustraten, wurden die beiden Panzer schon gebracht. Merlin nahm die Brustteile, der massive Harnisch war ungefähr fingerdick, stellte sie am Rande des Korridors gegen die Wand, wir gingen an das andere Ende, sechzehn große Schritte, Merlin reichte mir wieder seinen Bogen und dazu einen Pfeil aus seinem Köcher.

Dieser Pfeil war dreiviertel Meter lang, die vordere Hälfte aus gelber Bronze mit gezackter Spitze, hinten eine Höhlung, in die ein Holzschaft gesteckt war, der ganz hinten befiedert war. Die seitlich hervorragenden Federn dienen zur Herstellung des Gleichgewichts während des Fluges durch die Luft. Anders kann ich mich jetzt nicht ausdrücken. Jedenfalls kann man mit unbefiederten Pfeilen kaum schießen, oder vielmehr nicht treffen, der unbefiederte Pfeil wird zu leicht abgelenkt, dreht sich.

»Nun schließe gleich nach dem massiven Panzer. Strenge Deine ganze Kraft an. Treffen wirst Du ihn schon. Sonst fährt er in die Holzverkleidung der Wand, das schadet wohl nichts.«

»Du willst doch nicht etwa sagen, daß ich mit diesem Pfeile den Brustpanzer durchbohren könnte, der unseren stählernen Spitzkugeln aus den englischen Infanteriegewehren getrotzt hat?«

»Ja, das behaupte ich. Wenn Du den Pfeil mit der genügenden Kraft absendest.«

»Aus was besteht denn da die Spitze?«

»Aus gehärteter Bronze, die aber Euren guten Stahl nicht etwa an Härte übertrifft. Wohl hat sie bessere Eigenschaften, man kann sie leichter bearbeiten, aber härter ist sie nicht als Stahl. Du könntest auch die Stahlpfeile des Zwerges anwenden. Nun nimm nur erst diesen.«

Ich stellte mich in Positur, zog mit aller Kraft die Sehne zurück, oder vielmehr den mit zwei Fingern gepackten Pfeil, zielte und ließ ihn abschnellen.

Ich hatte den massiven Brustharnisch gut getroffen. Fast genau in der Mitte.

Und das Wunder war geschehen. Ich glaubte erst daran, als ich hingegangen war und es mir in der Nähe beschaute, betastete. Der Pfeil hatte den fingerdicken Panzer, gerade an dieser Stelle noch besonders verstärkt, glatt durchschlagen, hatte auch noch die Rückenwand etwas angebohrt. Die Spitze war so gut wie unverletzt, nur der Holzschaft war zersplittert. Und dicht daneben war der leichte Eindruck zu sehen, den eine stählerne Spitzkugel des englischen Infanteriegewehres von furchtbarer Durchschlagskraft in dem Bronzepanzer, der schon einmal zu solchen Schießversuchen gedient, hervorgebracht hatte!

»Wie ist denn das möglich?!«

Merlin gab mir eine Erklärung, erläuterte physikalische Gesetze.

Ich gebe es hier in anderer Weise wieder.

Die Feuerwaffen haben trotz fortwährender Verbesserungen die Armbrust und den Bogen nur sehr, sehr langsam verdrängt. Das machte die Beschwerlichkeit des Ladens.

Bei der Belagerung von Bayonne 1451, als die Donnerbüchse schon als ein Wunder der Waffenschmiedekunst oder gar der Feinmechanik galt, einen Schuß abgab, sendete der französische Armbrustschütze in derselben Zeit 3 Bolzen ab und der englische Bogenschütze gar 36 Pfeile!

Die letzten militärischen Bogenschützen werden im Jahre 1572 erwähnt, als Königin Elisabeth von England dem Karl IX. 6000 Bogenschützen zur Hilfe schickte, die noch immer als Elitetruppe galten. Dann aber verschwinden sie aus der Geschichte. Zum Unterschied sei bemerkt, daß bereits in der Mitte des 14. Jahrhunderts, also ums Jahr 1350, in Deutschlands der Bogen schon vollständig von der Armbrust verdrängt war. Die Engländer hielten noch zwei Jahrhunderte länger zu Bogen und Pfeil.

Und so ist es eigentlich noch heute. Bei der echten deutschen Volksbelustigung darf doch die Armbrust nicht fehlen. Vogelschießen. Es gibt auch vornehme, »privilegierte« Vereine, Gesellschaften, Klubs, die diesem Sport ganz exklusiv noch huldigen. Merkwürdigerweise nur nennen sie sich »Bogenschützengesellschaften«. Obgleich sie nur die Armbrust benützen. Das stammt eben noch von damals, wo in Deutschland der Bogen ganz verschwand, sein Name auf die Armbrust oder den Schnepper überging.

In England hingegen spielt dieselbe Rolle heute noch der echte Bogen mit Pfeilen. Ebenfalls allgemeine Volksbelustigung, ebenfalls gibt es für diesen Sport ganz exklusive Vereine. Und gerade jetzt wird dieser englische Sport auch wieder nach Deutschland getragen. Man sieht schon recht tüchtige Leistungen. Zentrum auf 100 Meter. Die nördlichen Indianer Südamerikas freilich verfehlen ihr Ziel auf 150 Meter nicht, bringen es bis auf 200 Meter. Das macht ihnen nur so ein englischer Bogensportsman nach, ein »Archerman«, der von früh bis abends nichts weiter tut, als einen Pfeil nach dem anderen nach der Scheibe abzusenden. Dann bringt ihm seine Schießfertigkeit aber auch etwas ein.

Und mir ahnt, als ob der verachtete Bogen und Pfeil noch einmal aus der Rumpelkammer hervorgeholt würde, um ihn wieder dem Soldaten in die Hand zu geben, so wie man unser altes, liebes Lebensrad hervorgeholt hat, um daraus die moderne Kinematographie zu machen, wie aus unserem Kinderkreisel den Schiffskreisel!

Natürlich nicht, daß man den Soldaten statt des modernen Gewehres wieder mit Fitschepfeilen bewaffnen wird. Es kommt immer nur auf das Prinzip an, auf die Grundidee.

Einer der besten Kenner des mittelalterlichen Ritterwesens war der englische Romancier Walther Scott. Was er beschrieb, das mußte er alles aus eigener Anschauung kennen lernen. Das mußte alles stimmen. Er hatte eine große Sammlung von Kostümen, Rüstungen, Waffen und so weiter. Der Ritter des 12. Jahrhunderts hatte doch einen ganz anderen Schild als der aus dem 14. Und das schildert Scott nun alles ganz ausführlich. Daher oftmals seine langatmigen Breiten, die in den deutschen Übersetzungen meist weggelassen werden. Leider.

In seinem herrlichen Romane »Ivanhoe« schildert er, wie der Räuber und Waldkönig Robin Hood mit seinen grünen Gesellen dem Richard Löwenherz zu Hilfe kommt. Wie die Kerls die Burg des Templers stürmen. Und da erzählt nun Scott, wie dieser Robin Hood mit seinen unfehlbaren Pfeilen, von seinem gewaltigen Bogen abgeschnellt, die Panzerrüstungen der Ritter durchschießt. Nur einige Sarazenenpanzer, welche die Kreuzritter aus dem Morgenlande mitgebracht haben, vermögen den todbringenden Geschossen zu widerstehen. Sonst durchschlagen Robin Hoods Pfeile alle eisernen und stählernen Panzer, auch einige seiner Gesellen vermögen dasselbe zu vollbringen.

Da hat Walther Sicott natürlich einmal mächtig übertrieben.

Wohl gibt es verbürgte Berichte genug, daß in der Schlacht schwergepanzerte Ritter von Pfeilspitzen verwundet oder gar getötet worden sind, aber da hat die Pfeilspitze eben einen Weg durchs Visier gefunden, oder durch eine Lücke in den Gelenkstellen, wie unter den Achseln, wo doch der Panzerarm mit dem Harnisch durch Scharniere verbunden sein muß.

Wohl hat man in Sammlungen auch Ritterpanzer, die ein Löchelchen aufweisen, Gott weiß, wie die entstanden sind, zu einer Zeit, da es noch keine Feuerwaffen gab, vielleicht durch Hagelkörner, oder die Panzer sind erst in späterer Zeit zu Schießversuchen benutzt worden, jedenfalls aber rühren die Löchelchen doch nicht von Pfeilen oder Armbrustbolzen her.

Daß ein vom Bogen abgeschnellter Pfeil solch einen Panzer, wie man sie zu Richard Löwenherz' Zeiten trug, durchschlagen hätte . . . Unsinn!

Erst hundert Jahre später sollte Walther Scotts Ehre auch in dieser Hinsicht gerettet werden.

Ein Vorfall trug hierzu bei, der mit Bogen und Pfeil eigentlich absolut nichts zu tun hat.

Es ist noch gar nicht so lange her, jetzt etwa acht Jahre, als in den Straßen des nächtlichen Londons ein Feuerwehrmann in Dienstkleidung gefunden wurde, tot, ermordet. Die Schädeldecke war ihm total zertrümmert. Aber er hatte noch seinen starken Metallhelm auf, unterm Kinn zugeriemt, dieser war gänzlich unverletzt. Und nicht etwa, daß der Mörder seinem Opfer den Helm erst nachträglich aufgesetzt haben konnte. Das klebte ja alles zusammen.

Wie konnte dem Manne unter dem Helm die Schädeldecke zertrümmert worden sein! Man stand vor einem Rätsel.

Hätten die Herren von der Untersuchungskommission mich um Rat gefragt, ich hätte ihnen bald auf die Sprünge helfen können. Ich wußte nämlich schon als Kind, daß — ich plaudere etwas aus der Schule — ein deutsches Haselnußstöckchen ganz anders zieht als ein indisches Bambusrohr. Das Haselnußstöckchen zieht ganz andere Schwielen. Das arbeitet so fein, schmiegt sich so elegant an. Der Bambus arbeitet viel plumper. Gegen den kann man sich auch durch eine genügende Polsterung schützen. Aber beim Haselstöckchen nützt das nichts. Das geht durch, und wenn man auch noch so viel Watte und Werg und Handtücher nimmt, da fühlt man noch immer jeden Schlag, und jeder erzeugt eine rote Strieme, die sich dann so schön blau und grün färbt . . . . . .

Doch Scherz beiseite. Obgleich es eigentlich gar nicht so scherzhaft ist. Eher schmerzhaft.

Die englischen Herren von der Untersuchungskommission lösten auch ohne meine Sachkenntnis das Problem.

Totenschädel bekamen Feuerwehrhelme aufgesetzt, sie wurden mit allen möglichen Instrumenten bearbeitet. Eine schwere Eisenstange verbeulte den Helm, aber der Schädel blieb unverletzt. Höchstens eine kleine Gehirnerschütterung. Vorausgesetzt, daß der Totenschädel ein Gehirn gehabt hätte. Mit einem Ochsenziemer wurde die Sache schon anders. Da bekam der Feuerwehrhelm Sprünge, und der Totenschädel ebenfalls. Als man aber nun mit einem Gummiknüppel drauflos hieb, da blieb der Helm ganz unverletzt, dagegen darunter der Schädel ging dabei in Trümmer.

Eigentlich hätte man das gleich im voraus wissen können. Man hätte nur einen schweren Zuchthausjungen oder einen Professor der Physik zu Rate zu ziehen brauchen. Der erste kennt die Sache aus der Praxis, der letztere aus der Theorie, hat sie wissenschaftlich studiert. Es handelt sich hierbei um die Fortpflanzung des Druckes, des Schlages, in Verbindung mit dem Beharrungsvermögen.

Immerhin, durch diesen Vorfall begann man sich wieder einmal mit den Gesetzen des Beharrungsvermögens zu beschäftigen, aber mehr in der Praxis. Unter anderen wurden auch wieder einmal Bogen und Pfeil hervorgeholt, als Waffen, um die Durchschlagskraft des Pfeils zu prüfen.

Und da gelangte man eben zu jenem erstaunlichen Resultate.

Der Pfeil mit stählerner Spitze, kraftvoll abgeschnellt, durchbohrt eine Panzerplatte welche dem spitzen Stahlgeschoß des modernen Infanteriegewehres trotzt, abgegangen mit 750 Metern Geschwindigkeit pro Sekunde.

Ich kann hier nicht erklären, woher das kommt.

Nur einige andere Beispiele für die Rätsel des sogenannten Beharrungsvermögens.

Das Bohrloch in einem Felsen wird mit Pulver gefüllt, als Verschluß kommt etwas loser Sand davor. Bei der Explosion wird der ganze Felsen auseinander gesprengt, das bißchen Sand bewegt sich kaum. Man lasse sich von einem Physiker erklären, woher das kommt. Wie jedes Sandkörnchen einen selbständigen Körper bildet, einer prallt gegen den anderen, der Widerstand wächst, im Quadrate der Entfernung, daher ins Ungemessene, während der Felsen eine kompakte Masse bildet.

Man lade ein Gewehr mit einem Talglicht, setze es vor eine Platzpatrone gebe noch etwas Pulver nach. Dieses abgefeuerte Talglicht geht glatt durch ein ziemlich starkes Brett, ohne sich besonders verändert zu haben.

Das Talglicht hat im Moment des Aufschlagens keine Zeit hierzu, die Sache geht ihm zu schnell.

Man nimmt einen Flaschenkork, durchbohrt ihn der Länge nach mit einer gewöhnlichen Nähnadel, daß die Spitze unten noch zwei Millimeter vorsieht, das obere hervorsehende Ende muß man allerdings abknipsen, legt einen Pfennig auf eine hohle Unterlage, setzt den Kork mit der Nadelspitze darauf und führt nun einen kräftigen, aber nicht übermäßigen Schlag darauf. Die Nadelspitze fährt durch den Pfennig durch, er ist durchbohrt die Nadelspitze ist unverletzt.

Dieses dreies gehört dazu, um sich erklären zu können, weshalb ein von Bogen abgeschnellter Pfeil eine Panzerplatte durchdringt. Natürlich darf man nicht gleich an Schiffspanzerplatten denken.

Schließlich aber noch ein viertes Experiment ebenfalls die Wirkung des Beharrungsvermögens zeigend, nur gerade in umgekehrter Hinsicht. Wie das getroffene Material dem Ausschlag trotzt, wenn es keine Zeit zur Nachgiebigkeit hat.

Man nimmt ein Taschentuch taucht es ins Wasser und spannt es pitschnaß aus, schießt mit einem Tesching drauf. Die Kugel prallt ab. Unter Umständen sogar eine runde Büchsenkugel. Sie muß allerdings senkrecht abgefeuert werden.

Mit einem gewöhnlichen Fitschepfeil, von einem Kinderbogen abgeschnellt, kann man ganz leicht das nasse Tuch durchlöchern.

Hier ist also das Umgekehrte der Fall. Die Moleküle des Wassers werden im Moment des Aufschlagens so stark zusammengepreßt, finden an dem einfachen Tuche einen genügenden Rückenhalt, daß sich die Kugel nur breit schlägt, nicht hindurch kann. Der Pfeil hingegen verursacht keine solche Materienzusammenziehung, der kommt durch. Und ebenso ist es, wenn das Zielobjekt aus Metall oder Eisen oder Stahl besteht. Auch hier handelt es sich doch immer noch um einzelne Moleküle, die beim Aufschlagen sich mehr oder weniger zusammendrängen.

Dies ist auch der Grund, weshalb die durchschlagende Wirkung ausbleibt, wenn man den Pfeil aus einem Gewehre mit Pulverkraft abschießt.

Das ist ungefähr so wie mit dem elektrischen Strome. Wenn man eine Leitung berührt, durch die ein Strom von 220 Volt Spannung geht, oder es werden schon 110 Volt genügen, dann ist man tot. Wenn nun ein Strom von 200 000 Volt durchgeht, welche Spannung zu erzielen heute möglich ist, noch eine ganz andere, dann müßte man doch eigentlich bei der Berührung tausendmal tot sein. Tip—top—tot, wie heute der feinste Kunstausdruck für so etwas lautet. Nein, im Gegenteil, das ist sogar sehr vorteilhaft für die Gesundheit. Mit solchen Hochströmen, in die man eingeschaltet wird, werden heute ärztliche Kuren gemacht. Denn dieser kolossale Spannungsstrom geht nicht durch den tierischen Körper hindurch, sondern er gleitet schadlos über die Haut hinweg. Aber weshalb — das weiß kein Mensch. Da tastet man nur mit Theorien herum.

Das ist ja etwas anderes als die Sache mit dem Beharrungsvermögen, und doch ähnelt ein Fall dem anderen ganz.

Ja, ich sehe schon die Zeiten kommen, da man wieder zu den alten Schußwaffen zurückgreifen wird. Also natürlich nicht, daß unsere Soldaten wieder mit Bogen und Fitschepfeilen armiert werden, mit denen sie nach Panzerschiffen schießen, vor denen zum Schutz nasse Bettücher gehangen werden — aber immerhin die riesenhaften Katapulte und Balliste der Alten dürften doch noch einmal wieder zu Ehren kommen. Wenn man mit den Pulvergeschossen bei tausend Anfangsgeschwindigkeit und im Kaliber bei Hirsekörnern angelangt ist, dann dürfte die Zeit des Pulvers vorbei sein, dann wird man wieder zum Alten zurückgreifen, um die Menschen zu dezimieren, oder die Erde hört auf, um sich selbst zu rotieren.

Und nun verzeihe mir der geneigte Leser diesen langatmigen Vortrag. Aber ich kann später doch nicht die Amazonen, eingehüllt in Rüstungen, welche jeder Spitzkugel trotzen, einfach mit Fitschepfeilen durchlochen und sie mit Gummischläuchen totschlagen lassen. Das würde man mir sonst noch viel weniger glauben als dem gewissenhaften Walther Scott seine Pfeilschüsse.


Merlin hatte mir einen noch viel längeren Vortrag gehalten, noch viel wissenschaftlicher. Auch er hatte mit der verschiedenen Wirkung des Schlages angefangen, von dem Unterschied dabei zwischen einer Stahlstange und einem Gummiknüppel, wenn er auch nicht das Beispiel mit dem Feuerwehrmann anführen konnte, weil dieser Fall damals noch nicht passiert war. Und ich hatte mir dabei immer an demjenigen Körperteil herumgefingert, an dem ich schon als Schuljunge den Wirkungsunterschied eines deutschen Haselnußstöckchens und eines indischen Bambusrohres experimental-studiert hatte.

So, nun wußte ich es, weshalb diese Bronzepanzer, auch die stärksten, die jeder modernen Spitzkugel trotzten, von solch einem Pfeile durchschlagen wurden, der freilich auch mit der nötigen Kraft abgesendet werden mußte, mit einem solchen Bogen, wie ihn heute die Sportsleute benutzen, war da nichts getan, während wiederum es auch nichts nützte, solch einen Pfeil durch Pulverkraft abzuschicken.

Merlin hatte geendet. Sinnend blickte er auf den Schuppenpanzer herab, den er selbst während seines Vortrags mit zwei Pfeilen durchlöchert hatte, und zwar hatte dieses Schuppenhemd dereinst ein Weib getragen, das konnte man doch gleich erkennen.

»Ja, die Zeit dieser indischen Amazonen ist gekommen,« sagte er dann leise, »sie müssen vernichtet werden.«

»Müssen vernichtet werden?!«

»Ja, sie haben ihr Asylrecht verwirkt. Ich hatte ihnen alle ihre Greueltaten verziehen, hatte den Männer— und Kindesmörderinnen erlaubt, sich hier anzusiedeln. Durch einen neuen Frevel haben sie dieses Asyl verwirkt. Jetzt müssen sie mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden, diese Amazonen sowohl wie der Kapitän Satin mit seinen Leuten.«

»Was haben denn diese Weiber wieder Frevelhaftes begangen?«

»Sie haben sich jene Medizin hergestellt, um Euch zu besiegen. Das Lecithin. Aber es ist kein gewöhnliches Lecithin. Sie haben es aus den Gehirnen ihrer eigenen Kinder hergestellt. Komm, ich will Dir die Rüstkammern zeigen, wo Ihr solche Bogen und Pfeile findet, und was Ihr sonst noch mitnehmen müßt, denn Ihr könnt nicht mehr hier liegen bleiben, die Amazonen würden von oben Felsblöcke herabwälzen und Euer Schiff zerschmettern, Ihr müßt in den freien See hinaus, und dann wird der Vernichtungskampf beginnen. Denn Ihr seid dazu bestimmt, die Erde von diesen Bestien in Menschengestalt zu säubern!«


103. KAPITEL.
ROSAMUNDE UND GRUH.

Wir verlassen nun einmal Georg Stevenbrocks persönliche Erzählung, um einzelne Episoden zu schildern.

Durch den schattigen Wald, der sie vor der Mittagsglut schützte, schritten zwei Amazonen in silbernen Schuppenrüstungen, jede auf der Schulter ein Jagdgewehr, am Gürtel die Patronentasche und ein schwertähnliches Messer in der Scheide.

Schweigend marschierten sie zwischen den Bäumen dahin.

Da blieb die eine stehen und lauschte.

»Hörst Du, Zilla?!«

Sie hatte es in der Pali—Sprache gefragt, ein indischer Dialekt, der den malaiischen Archipel beherrscht. Wir müssen uns natürlich der deutschen Wiedergabe bedienen.

Es war deutlich genug, was die andere hören sollte.

Ein dünnes Hundegekläff, gar nicht weit entfernt, ertönte.

Die beiden wechselten einen wie freudig erstaunten Blick.

»Wenn es möglich wäre!«

Nichts weiter, dann schlugen sie die Richtung ein, woher das Hundekläffen kam, vorsichtig schleichend, hinter jedem Baum und Busch Deckung suchend.

Das Hundegekläff näherte sich ihnen, wenn auch nur sehr langsam. Und da sahen sie auch schon die Ursache.

Durch den Wald floß ein breiter Bach, schon mehr ein Fluß zu nennen, in seiner Mitte trieb ein Baumstamm, und auf demselben stand der kleine Wichtelmann, das Hündchen und bellte um Hilfe.

Der Wachtelhund kann nämlich meist nicht schwimmen. Nicht, daß ihm wie dem Kamel und dem Affen diese den anderen Tieren angeborene Kunstfertigkeit abginge, sondern sein lockiges Fell ist zu langhaarig, es sind überhaupt ganz besondere Haare, mehr wollig, sie saugen sich schnell voll Wasser, dann kann der Wachtelhund sich nicht mehr über Wasser halten. Ebenso geht es vielen Seidenspitzen.

Wichtelmann mochte auf eigene Faust gejagt haben, wie es alle Wachtelhunde tun, das Wild war in den Fluß gegangen, das Hündchen hatte einen gestürzten Baumstamm benutzt, um so weit als möglich zu folgen, der Stamm hatte sich vom Ufer gelöst und war abgeschwommen, und Wichtelmann mochte schon Erfahrung gemacht haben, daß er im Wasser unterging.

Jetzt klagte er der Welt seine Not,‚ bei Anblick der beiden menschlichen Gestalten klang es schon freudiger.

Wieder wechselten die beiden Amazonen schnelle Blicke und Worte.

»Der kleine Hund, der den einbeinigen Springer geführt hat!«

»Ja, den beiden Zwergen nach!«

»Er ist allein!«

»Sonst würde sein Herr ihn schon befreit haben!«

»Er wagt sich nicht ins Wasser!«

»Wir fangen ihn!«

»Vielleicht führt er uns nach dem Versteck der Zwerge!«

Und schon hatte die eine Amazone ihr Gewehr hingeworfen und den Patronengürtel abgeschnallt, sprang in den Fluß, teilte mit kräftigen Armen das Wasser, als habe sie keine sie vom Hals bis zur Fußsohle einhüllende Schuppenrüstung an, und viel schwerer als voll Wasser gesaugte Kleidung würde diese wohl auch nicht sein. Willig ließ sich das Hündchen auf den Arm nehmen, die Amazone schwamm zurück.

Unterdessen hatte die andere mit ihrem Messer schon von einer Weide einen langen Streifen Bast abgeschält, dem Hündchen wurde eine Schlinge um den Hals gelegt, die sich nicht zusammenziehen konnte.

»Wo bist Du zu Hause? Wo ist Dein Herrchen? Wo ist Dein Frauchen? Geh, führe uns zu Deinem Frauchen!«

Sicher gibt es dieselben Ausdrücke in der Pali—Sprache. Aber wenn die beiden Amazonen irgend etwas von Hunden verstanden, so mußten sie merken, daß Wichtelmann nicht darauf reagierte.

»Where is your Master? Where is your Mistreß?«

Da mußten sie auch ohne Hundekenntnis merken, daß Wichtelmann diese englischen Worte sofort verstand, diese kannte sein Ohr. Und er war offenbar hungrig und sah, daß diese beiden Weiber ihm nichts geben konnten, und dazu kam schließlich noch, daß diese glänzenden Frauengestalten ihm schon vertraut waren, er hatte sie doch mit den Menschen, die er als seine Herren betrachtete, vertraulich verkehren sehen.

Er übernahm die Führung, tüchtig an dem ihm ungewohnten Bande ziehend. Und da er kein eigentlicher Schoßhund war, der im engen Raume alle seine natürlichen Instinkte verloren, so würde er sich auch nicht in der Richtung irren, brauchte seine eigene Spur nicht erst wieder aufzusuchen, um diese dann rückwärts zu verfolgen, er würde seinen Ausgangspunkt auch so zu finden wissen.

So wurde das kleine, sonst so treue Hündchen zum Verräter an denen, die er liebte.

Und dennoch mußte es so sein. Dieses Hündchen war vom Schicksal dazu auserlesen worden, über alle diese Amazonen den Tod zu bringen, die beiden Weiber hätten dieses Hündchen nur gleich als ihren eigenen Todesengel betrachten können.

Es ging durch Wald und Busch.

»Die Zwerge werden uns feindlich empfangen, und der kleine Mann, der Attila heißt, hat gezeigt, was er im Schießen leisten kann.«

»Wir kommen als Friedensboten der Begum.«

»Er wird dennoch seine starken Pfeile nach uns absenden, und unser Gesicht ist ungeschützt.«

»So sterben wir für die Begum, und Obi wird uns in sein Freudenreich aufnehmen.«

»Damit ist der Begum aber nicht gedient.«

»So will ich voraus gehen, Du folgst mir weit zurück, dann erfährst Du dennoch, wo sich das Versteck der Zwerge befindet und kannst es der Begum dann melden.«

»Er hat einen anderen Hund, durch den wird sich der Zwerg schnell überzeugen, ob ich allein gekommen bin oder nicht, er wird mir den Hund nachhetzen.«

»Fürchtest Du Dich, Zilla?«

»Frevle nicht, Schwester. Ich würde den Hund töten. Aber dann ist der Zwerg doch gewarnt, er wird sein Versteck verlassen und ein anderes suchen. Nein, wir müssen als Friedensboten kommen. Die Begum verzichtet auf den Besitz des Zwerges, also auch auf seine Frau als Bürge.«

Das wurde denn zuletzt auch beschlossen. Man durfte den Weibern nicht gerade besondere Hinterlist vorwerfen. Sie wollten sich einer Person bemächtigen, die eigentlich ihnen gegenüber das Wort gebrochen hatte, mochte der Zwerg hierüber auch anders denken. Die Amazonen hielten sich in ihrem Rechte, da war schließlich auch jede List erlaubt.

Sie brachen sich grüne Birkenzweige ab, als internationales Zeichen des Friedens, und setzten ihren Weg fort.

Die Gegend wurde hügelig, wurde gebirgig, wild zerrissen — es war eine Schlucht, in die das Hündchen sie geführt hatte, wozu es nur zehn Minuten gebraucht, während es wahrscheinlich viel länger gejagt hatte, jedenfalls doch immer im Zickzack und großen Bogen.

Immer tiefer führte Wichtelmann sie in das wilde Felsenlabyrinth hinein, bis er an einer glatten Felswand stehen blieb, die in einiger Höhe mehrere Höhlenöffnungen zeigte.

Zuletzt hatte er so kräftig gezogen, daß die beiden gleich erraten mußten, wie er sich seinem Ziele näherte, und jetzt fing er fröhlich zu kläffen an.

»Bist Du es, Attila?« erklang oben ein dünnes Kinderstimmechen.

Da standen die beiden Amazonen schon unter einem Haselnußstrauch, der sich hier aber schon mehr zu einem ansehnlichen Baume entwickelt hatte.

»No, Madam!« erwiderte die eine, und weiter brauchte sie nicht fortzufahren.

»Ach die Frau Patronin!« erklang es jubelnd zurück. »Warten Sie, Mylady, warten Sie, gleich . . . «

Und da ward von oben auch schon eine seidene Strickleiter herabgelassen.

Es mochte ein behagliches Versteck sein, das der Zwerg gefunden hatte, aber der Zugang war sehr ungünstig. Der Haselnußbaum verdeckte unten die Aussicht. Wäre er gefällt worden, so wäre das auch wieder eine verräterische Spur gewesen. Und Rosamunde überzeugte sich nicht erst, wer denn dort unten stand. Sie hatte zweifellos den Besuch der Patronin erwartet, war zweifellos der Meinung, daß ihr Gatte oder Gruh bei ihr sei, sie war doch hierher geführt worden, auch das Hündchen sah sie wohl schon, ohne das Bastseil zu erkennen, oder vielleicht wurde er überhaupt geführt, und sie glaubte die Stimme der Patronin gehört zu haben, und überhaupt durfte man von dieser Zwergin, dieser Puppe gar keine besondere Vorsicht verlangen.

Da sah sie, nur den Kopf hervorstreckend, wie ein in silberne Schuppenrüstung gehülltes Weib die Strickleiter schnell erstieg, und ein zweites trat soeben unter dem Baume hervor.

Noch hätte sie Zeit gehabt, die Strickleiter abzulösen oder abzuschneiden, und sie wäre gerettet gewesen, die beiden Amazonen hätten nicht eindringen können, wenigstens nicht so ohne weiteres, hätten sich erst eine Leiter fertigen müssen, und schon in einer Viertelstunde wären Attila und Gruh zurückgekommen, Rosamunde wäre gerettet gewesen, zumal diese Höhle noch andere, aber einfach unauffindbare Aus— und Eingänge hatte, dieser hier war nur der bequemste.

Es sollte nicht sein. Diese Zwergin führte zwar im Zirkus die wagehalsigsten Kunststückchen aus, war eine perfekte Akrobatin, aber im Kampfe mit Menschen oder mit dem Schicksal war sie nicht gestählt worden.

Sie dachte nicht daran, diese Strickleiter loszumachen, wie gelähmt waren plötzlich ihre Hände, wie sie da die Amazone heraufklettern sah.

Und da stand diese schon in der Höhlenöffnung, konnte aufrecht stehen, hielt den grünen Zweig vor sich hin.

»Ich komme als Gesandte der Begum und bringe den Frieden! Sie verzichtet auf den Zwerg, auf Deinen Gatten, er soll seine Freiheit haben.«

So hatte die Amazone schnell gesagt.

Und weshalb sollte es Rosamunde nicht glauben?

Sie schlug die Kinderhändchen in freudigem Staunen zusammen

»Ach, das ist ja schön . . . «

»Wo ist Dein Gatte?«

»Er sucht das Schiff, das seinen alten Platz verlassen hat . . . «

»Wann kommt er zurück?«

»Das weiß ich nicht.«

»Und wo ist der einbeinige Knabe, den ihr Gruh nennt?«

»Er hat meinen Mann begleitet, sie wollen noch Verschiedenes holen . . . «

»Und Du kommst mit uns.«

Mit diesen Worten hatte das Weib das Püppchen schon auf dem Arme.

Ja, die menschliche Puppe war eine kleine Akrobatin, konnte eine ganz gehörige Kraft entwickeln, aber diese Amazonen waren wirkliche Athletinnen, sie brauchten für gewöhnlich nicht jenes geheimnisvolle und scheußliche Mittel anzuwenden, um als Kriegerinnen es mit jedem Manne aufzunehmen — und diese Amazone hier war der kraftvollsten eine — die Zwergin war in ihren Händen wirklich nur eine Puppe.

Wohl hatte Rosamunde im nächsten Augenblick einen zierlichen Revolver aus der Tasche gezogen — in demselben Augenblick war er ihr auch schon aus der Hand gerissen.

Gewandt stieg die Amazone die Strickleiter wieder hinab, das Püppchen dabei so fest an ihre Brust drückend, die Arme dabei festklemmend, daß Rosamunde diese Arme nicht befreien konnte.

»Fort, fort, sie ist allein fort, ehe ihre Gefährten mit dem großen Hunde kommen!«

»Wir töten sie.«

»Den Zwerg dürfen wir nicht töten — fort fort!«

Und sie setzten sich in Dauerlauf, den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Hilfe, Hilfe!« schrie das dünne Stimmchen. Eine eisenharte Hand verschloß der Zwergin das Mündchen.

Aber zwecklos war der Hilferuf nicht gewesen.

Jetzt merkte Wichtelmann, daß etwas nicht in Ordnung war, und der Wachtelhund ist alles andere als feig. Wütend fuhr er auf die Trägerin seiner Herrin los, schlug ihr die Zähne in die Wade. Das heißt, er wollte es tun, seine Zähne konnten aber die Panzerschuppen nicht durchdringen.

Da bückte sich die andere Amazone, schon glänzte in ihrer Hand das schwertähnliche Bronzemesser, ein Hieb, und Wichtelmann würde später keine Vorwürfe zu hören bekommen — der Leib des Hündchens war halbiert.

Die beiden rannten weiter, nicht nur im Dauerlauf, sie schienen Schwingen an die Füße zu bekommen.

Zwei Stunden später rannte der riesige Cäsar am Ufer des Sees entlang, die Nase dicht am Boden. Ihm nach setzte in großen Sprüngen das menschliche Känguruh.

Es muß nachträglich bemerkt werden, daß diese kleine Gesellschaft inzwischen wieder mit dem Schiffe Fühlung genommen haben mußte. Da war doch zunächst die seidene Strickleiter gewesen. Dann hatte die Zwergin nicht mehr ihr blaues Reitkleid angehabt, sondern ein einfacheres Kostüm, mehr für Strapazen berechnet. Und ebenso trug Gruh jetzt nicht mehr den Sportanzug mit dem er damals den Zwergen gefolgt war, sondern ein dunkelgrünes Trikotkostüm, oben einen sogenannten Sweater, auch den Hals bis zum Kinn einhüllend. Ferner war er ohne Gummiplatte abgegangen, jetzt hatte er diese an seinem Klumpfuß befestigt. Also hatten sich die drei unterdessen vom Schiffe oder von dem allgemeinen Quartier aus mit allem versehen, was sie brauchten, sie mußten sich mit Stevenbrock schon ausgesprochen haben.

Die ungeheure Dogge blieb an einem breiten Abfluß stehen, der aus dem See herauskam und dann nordöstlich den Felsen zustrebte. Hier endete die Spur, die er verfolgte.

»Nur hinüber, Cäsar, Du wirst die Spur schon wiederfinden!« ermunterte ihn Gruh.

Er konnte mit dem Hunde recht freundlich sprechen, so hörte man ihn nie zu einem Menschen reden. Nur sein tiefgebräuntes Gesicht blieb dasselbe, leidenschaftslos, unbeweglich wie von Erz.

Der Hund ging ins Wasser, schwamm hinüber, Gruh ihm nach. Er schwamm besser und schneller, als man erwartet hätte. Er konnte ja sein eines Bein immer nur hinter sich schnellen. Die ziemlich breite Platte mochte dabei im Vorwärtskommen behilflich sein.

Cäsar fand am jenseitigen Ufer keine Spur, obgleich er ziemliche Strecken nach links und rechts machte.

»Sie sind erst eine gute Strecke im Wasser geschwommen, wie sie es bereits zweimal gemacht haben, um ihre Spur zu verbergen. Hast Du sie trotzdem nicht immer wiedergefunden? Nur zu, lauf erst einmal nach links, immer weiter, immer weiter.«

Das Einbein sprach mit diesem Hunde mehr, als es gegen irgend einen Menschen tat. Auch dem Zwerge gegenüber war er äußerst wortkarg, obgleich er mit diesem doch am besten befreundet, und Rosamunde gegenüber fand er überhaupt gar keine Worte, antwortete auf keine Frage, die konnte dieser seltsame Mensch immer nur bewundernd anstarrten. Es muß wiederholt werden.

Der Hund war am jenseitigen Ufer schon eine bedeutende Strecke nach links gerannt, ohne die Spur wiedergefunden zu haben, als in der Ferne ein Schuß krachte.

Gruh, bisher ebenfalls die Augen am Boden, blickte auf. In etwa 200 Meter Entfernung erhob sich eine dunkle Felswand, wie hier überall von Löchern unterbrochen, und an einem solchen in einiger Höhe zeigte sich eine weiße Gestalt, die unverkennbar ihm winkte.

Und Gruh hatte denn auch sofort verstanden.

»Es ist gut, mein lieber Cäsar, die Amazonen selbst erwarten mich, wollen mit mir unterhandeln. Kehre zurück zu Deinem Herrn, Du brauchst keine Botschaft mitzunehmen, er wird alles sofort wissen, wenn Du ohne mich zurückkommst, und wenn wir beide uns nicht wiedersehen sollten, dann — bin ich dort geblieben, wo sie sich befindet. Entweder in dieser Welt, oder in einer anderen. Und wenn mir der Himmel offen stände, und sie müßte in die Hölle zur ewigen Qual, so werde ich auf den Himmel verzichten. Geh, mein guter Cäsar, ich danke Dir für Deine Führung.«

Mit überaus sanfter Stimme hatte es der unglückliche Krüppel mit den hübschen, aber so ehernen Zügen gesagt, noch ein Streicheln und Klopfen des muskulösen Nackens, und Cäsar stürzte sich wieder ins Wasser, schwamm zurück, setzte am jenseitigen Ufer seinen Weg in Karriere fort.

Das Einbein sprang der dunklen Felswand zu, wo die weiße Gestalt noch immer winkte, jetzt auch mit einem weißen Tuche. Es war eine baumlose Gegend mit kniehohem Grase, obwohl noch immer in diesem Tale befindlich. Dieses war eben nicht so durchaus bewaldet, es gab auch steppen— und prärieähnliche Gegenden, weite, weite Flächen. Von dem Quartier, wo die Amazonen von den Argonauten besucht waren, befand sich diese Gegend aber mehr als eine Meile entfernt. Doch wer wußte, wie weit sich die bewohnbaren Felsengänge hinzogen.

Gruh war in Rufnähe gekommen, einige mächtige Sätze brachten ihn noch weiter an die Felswand heran.

»Bist Du ein Abgesandter des Zwerges?« rief die Amazone im silbernen Schuppenpanzer aus der Höhe einer zweiten Etage herab, sich der englischen Sprache bedienend.

»Ja.«

»Du kommst, um wegen der Zwergin zu verhandeln, die jetzt unsere Gefangene ist?«

»Ja.«

»Du sprichst wirklich im Auftrage ihres Gatten?«

»Ja.«

»Du bist geschützt durch Gastfreundschaft. Tritt durch das Tor ein.«

Ein solches war gar nicht zu sehen. Da aber öffnete sich in der Felsenwand eine Tür, eine Steinplatte drehte sich zurück, wovon aber sonst keine Fuge etwas verriet.

Übrigens konnte diese geheime Felsentür nicht viel benützt werden, sonst wäre das Gras hier mehr zertreten gewesen. Kein Halm war geknickt. Auch hatte der Hund die Fährte gar nicht bis hierher verfolgt, die beiden Amazonen hatten einen anderen Weg genommen.

Gruh hüpfte hinein, stand einer Amazone gegenüber.

»Folge mir.«

Das Einbein hüpfte ihr nach eine Treppe hinauf, durch einen Korridor, noch eine Treppe hinauf, der Boden immer mit kostbaren Teppichen belegt, und ebenso kostbar orientalisch war auch die Felsenkammer eingerichtet, in der sein Weg vorläufig endete.

Die Begum war es selbst, die ihn empfing.

»Setze Dich.«

Gruh rührte sich nicht.

»Setze Dich, mein Freund.«

»Ich bin Dein Freund nicht.«

Die Begum blieb ob dieser trotzigen Antwort, allerdings ganz gelassen hervorgebracht, ebenso ungerührt.

»Du stehst unter den Gesetzen der Gastfreundschaft. Was willst Du?«

»Frau Rosamunde Attila abholen.«

»Sie ist meine Gefangene und bleibt es, bis sich der Zwerg, der im Zweikampfe besiegt worden ist, selbst gestellt hat.«

»Von wem sprichst Du? Was ist das, ein Zwerg?«

»Bis sich Mister Wenzel—Attila, der im Zweikampfe besiegt worden ist, selbst gestellt hat.«

»Mister Attila weiß nichts von einem Zweikampfe — Mister Attila fordert seine Frau zurück.«

»Also Mister Attila erkennt die Bedingungen nicht an?«

»Mister Attila fordert seine Frau zurück.«

»Weshalb ist er denn da von dem Schiffe geflohen und hat ein heimliches Versteck aufgesucht?«

»Mister Attila ist ein freier Mann und macht, was ihm beliebt. Ihr habt ihm seine Gattin entführt, er fordert sie zurück.«

»Weißt Du, wie die Höhle gefunden worden ist?«

»Ihr habt unseren Hund gefangen, er hat Euch hingeführt, Ihr habt gesagt, Ihr kämet in Frieden, und dann habt Ihr Frau Rosamunde Attila mit Gewalt davongetragen.«

Über das schöne Gesicht der Begum flog ein Schatten.

»Woher ist Dir dies alles so genau bekannt?«

»Wir haben an Ort und Stelle zwei grüne Birkenzweige gefunden. Sie erzählten uns alles. Genug! Ich soll die Frau Rosamunde Attila abholen. Der kleine Hund hat der Freifrau von der See Helene Neubert gehört, die mag für ihn Schadenersatz fordern oder nicht. Allerdings wird auch Mister Attila noch ein Wörtchen mit Dir darüber sprechen, daß Deine Leute ihm den Hund, der ihm anvertraut worden war, getötet haben.«

»Du wagst zu drohen?«

»Ich will jetzt Frau Rosamunde Attila abholen.«

»Sie bleibt hier, bis sich ihr Gatte gestellt hat. Geh, sage das ihm. Und sage ihm auch noch, wenn sich Mister Attila innerhalb von vier Stunden, was völlig genügt, nicht gestellt hat, bis zum Untergang der Sonne, dann wird seine Gattin gemartert.«

Es brachte auf dem leidenschaftslosen, ehernen Gesicht des Jünglings nicht den geringsten Eindruck hervor.

Mister Attila stellt sich nicht. Er weiß nicht, was er für einen Grund dazu hat.«

»Gut, dann wird seine Gattin dafür büßen müssen. Du glaubst wohl nicht, daß ich meine Drohung ausführen würde?«

»O doch.«

»Du weißt ganz bestimmt, daß sich der Zwerg nicht stellen wird?«

»Er kommt unter keinen Umständen.«

»Auch nicht, wenn er ganz bestimmt weiß, daß ich seine Frau foltern werde?«

»Nein, auch dann nicht.«

»Das ist ja ein netter Gatte!«

Gruh blieb die Antwort schuldig.

»Vielleicht besinnt er sich doch eines anderen,« fuhr die Begum fort, »wenn Du ihm berichten kannst, daß ich meine Drohung ausführen werde. Ein kleines Beispiel sollst Du schon sehen, erzähle ihm davon.«

Ein Händeklatschen, einige indische Worte, und zwei Amazonen traten ein, von denen eine die Zwergin auf dem Arme trug, die andere schon eine Peitsche in der Hand hatte.

»Sie hat unsere Unterredung gehört. Nun, Frau Rosamunde, haben Sie dem Freunde Ihres Gatten etwas zu sagen?«

Das niedliche Puppengesicht war schneeweiß. Zu solch einem Puppengesicht gehören auch merkwürdig große Augen, schön bewimpert mit geschwungenen Brauen darüber. Und diese Puppenaugen waren weit geöffnet, blickten den einbeinigen Jüngling aber ganz ruhig an.

»Sage meinem Manne, lieber Gruh, er soll nicht kommen, auch wenn ich getötet werde!« erklang es ebenso ruhig aus dem Puppenmündchen.

»Töten ist etwas ganz anderes!« sagte die Begum, »zählt ihr erst einmal sechs Peitschenhiebe auf, von denen jener dann ihrem lieben Gatten berichten kann.«

Und es wurde Ernst. Die Begum gab Anweisung, der Oberkörper der Zwergin wurde entblößt, auch das Hemd herab, eine Amazone legte sie über ihr Knie, die andere holte mit der Peitsche aus . . .

Ein schmetternder Krach erscholl. Gruh war mit einem mächtigen Satze vorgeschnellt. Er war gegen eine unsichtbare Wand gesprungen, die ihn von jener Gruppe trennte, er war zu Boden geschleudert worden, schnellte sofort wieder empor, führte einen zweiten Sprung aus, diesmal aber stieß er dabei den Klumpfuß mit der Platte vor, und es klang nicht, als ob Gummi, sondern als ob Eisen mit furchtbarer Kraft gegen eine tönende Wand gestoßen würde — aber die vollkommen durchsichtige Glasscheibe, die ihn von jener Gruppe trennte, wurde nicht zertrümmert.

»Gib Dir keine Mühe,« spottete die Begum, »wir wissen uns zu schützen. Also los, sechs Peitschenhiebe, damit jener berichten kann.«

Pfeifend sauste die Peitsche sechs mal durch die Luft, auf dem kleinen entblößten Rücken der Zwergin waren sechs rote Streifen entstanden, einer davon blutete.

Ohne zu zucken hatte es die Zwergin ertragen. Ruhig blickte sie nach dem Einbein. Bleicher hatte ihr Gesichtchen nicht mehr werden können.

»Halt!« sagte die Begum. »Nun berichte ihrem Gatten, was Du gesehen hast, wozu ich fähig bin, wenn er sich bis zu Sonnenuntergang nicht gestellt hat. Ich verlange nur mein Recht.«

»Sage ihm, daß er nicht kommen soll!« sagte ruhig der Puppenmund.

Auch Gruh, nachdem er seinen zweiten zwecklosen Sprung ausgeführt hatte, stand ganz ruhig da, die Arme über der Brust verschränkt, schaute ganz ruhig der schrecklichen Szene zu.

»Ich werde es ihm sagen, und ich weiß, daß er nicht kommen wird. Adieu.«

Sprachs, wandte sich und hüpfte der Tür zu, durch die er gekommen, er brauchte nur den Vorhang zurückzuschlagen, fand seinen Weg allein, hüpfte zwei Treppen hinab, durch den von jenem rätselhaften Lichte erfüllten Korridor, der direkt ins Freie führte. Jetzt war der Ausgang verschlossen. Aber vor der Felswand stand eine Amazone, die erste, die er auf diesem Rückwege wieder erblickte.

Ein kurzes, schrilles Klingeln ertönte, es war ein Zeichen für die Torhüterin, sie tastete an der Wand, ein Stück des Felsens drehte sich um Angeln, die Tür war geöffnet.

»Du kannst passieren!« sagte sie.

Mit zwei kleinen Sprüngen wäre Gruh im Freien gewesen.

Erst aber, noch in dem Felsengange stehend, bückte er sich noch einmal, beschäftigte sich mit der Platte an seinem Klumpfuße, hatte vorher auch einmal unter seinen Sweater gegriffen, etwas hervorgeholt.

Die Amazone sah es wohl, aber es ging so schnell, daß es ihr nicht richtig zum Bewußtsein kam, sie konnte sich höchstens wundern, über das, was der da machte.

Gruh hatte unter seinem Sweater ein Dreieck hervorgeholt, ungefähr 20 Zentimeter lang, die kürzeste Seite nur 15, an dieser sah noch ein Stift hervor, und dieses Instrument, dunkelblau gefärbt, etwa an eine große Lanzenspitze erinnernd, fügte er vorn an die Platte seines Klumpfußes, nachdem er aus dieser einen kleinen, für gewöhnlich gar nicht sichtbaren Stöpsel gezogen hatte. Das Dreieck paßte gerade vorn an die Fußplatte den hervorstehenden Stift hatte er in die Höhlung gesteckt, es hatte auch einen leisen Knacks gegeben.

Dies ist hier ausführlich geschildert worden. Die Amazone hatte es beobachtet, aber wie gesagt, es war so schnell gegangen, daß es ihr gar nicht richtig zum Bewußtsein gekommen.

Ein Blick, ein Griff, ein Knacks, und es war geschehen, Gruh richtete sich wieder auf.

Und die Amazone sollte in ihrem Gedankengange auch nicht weiter kommen, als daß sie sich etwas gewundert hatte.

Gruh richtete sich nicht nur aus seiner gebückten Stellung auf, sondern er schnellte gleich ganz empor, dabei sein Bein vorwerfend.

Die Amazone war von der Sohle bis zum Halse in goldene Schuppen gehüllt. Der Schuppenpanzer legte sich auch noch um den unteren Teil des Halses, schmiegte sich als Kragen eng an. Nur der obere Teil des Halses war noch frei.

Und da plötzlich fiel der Kopf ab, fiel so ganz gemächlich zur Seite und zu Boden, und dort, wo er soeben noch gesessen, spritzte aus dem Halsstumpfe wie eine Fontäne ein Blutstrahl empor.

Das Dreieckmesser des Einbeins hatte ihr den Kopf glatt vom Rumpfe geschnitten, dicht über dem Schuppenkragen.

Gruh stand wieder auf seinem Beine, und der kopflose Körper des Weibes stand ebenfalls noch da, aufrecht, sich nicht anlehnend, eine blutige Fontäne emporsendend, die nur schnell an Höhe abnahm.

Gruh wartete nichts weiter ab, befand sich mit einem Satze im Freien.

Hinter ihm erst brach der kopflose Körper zusammen, er hatte es nicht mehr gesehen.

Aber in anderer Weise wurde es hinter ihm lebendig.

Der Korridor war doch nicht so verödet, wie es geschienen.

Die furchtbare Szene war von anderen gesehen worden, wenn es auch erst einige Zeit dauerte, bis das Gehirn sie erfassen konnte.

Dann erklangen gellende Schreie, Schritte liefen.

Durch den Korridor sausten zwei Amazonen dicht hintereinander, andere folgten.

»Madawi, Madawi!« schrien sie.

Es mochte so viel wie »Mörder« heißen.

Gruh kümmerte sich nicht darum, blickte nicht hinter sich, hüpfte ruhig durch das blumige Gras. Ruhig, mußte man sagen. Wohl machte er weite Sätze, aber er konnte noch ganz, ganz andere ausführen. So sprang er, wenn er sich gemächlich von einem Orte zum anderen begab.

Aber eine Veränderung mit sich nahm er doch vor.

Ein Griff unter seinen Sweater, er hatte eine gelbe Platte in den Händen, diese klappte er auf, so wie man eine moderne Taschenlampe aufklappt, jetzt war aus der Platte ein Kubus geworden, ein Kasten, so ungefähr, man erkannte aber auch schon den Helm mit geschlossenem Visier, und den stülpte er über seinen Kopf, und auch sein Hals war geschützt Vorn hatte er zwei kleine Augenlöcher.

»Madawi, Madawi!«

So schrie die erste Amazone, und sie hatte ihn fast erreicht. War noch drei Meter hinter ihm, und diese Entfernung verkürzte sich in jeder Sekunde beträchtlich.

Sie hatte ein langes Bronzeschwert in der Hand, wollte dieses aber offenbar nicht gebrauchen, sonst hätte sie es schon jetzt zum Stoß oder zum Schlage erhoben, sie wollte den Flüchtling offenbar lebendig greifen, hätte wahrscheinlich das Schwert auch noch weggeworfen.

Sie kam nicht dazu.

Gruh, ohne sich einmal umzublicken, machte wieder einen Satz, aber in demselben Augenblick, da sein Fuß den Boden berührte, schnellte er nach rückwärts, zugleich hoch empor, sein Bein anziehend, und gleichzeitig drehte er sich auch herum — und das große Dreieckmesser schnitt den zweiten menschlichen Kopf ab, glatt vom Halse, oberhalb des Schuppenkragens.

Und bei diesem zweiten Opfer blieb es nicht.

Der ersten Amazone, die ihm nachgesetzt, war ja dicht eine zweite gefolgt, sie hatte das Schicksal ihrer Genossin gesehen, sie sah ihr eigenes kommen, denn während der kopflose Körper noch aufrecht stand, schnellte das Einbein schon wieder empor, sie hatte gar keine Waffe bei sich, so legte sie, ihren Lauf nicht mehr hemmen könnend, beide Hände schützend vor den Hals — da wurde der Klumpfuß mit dem Messer hoch in der Luft vorgeschleudert, eine seitliche Bewegung, und außer dem Kopfe waren auch noch von den Armen, die nur bis zu den Handgelenken schuppengepanzert waren, die Hände oder doch die Finger abgeschnitten.

Auch dieser kopflose Leib machte, eine Blutfontäne emporsendend, noch einige laufende Schritte, ehe er zusammenbrach.

Noch andere Verfolgerinnen waren unterwegs, bewaffnet und unbewaffnet, um den Mörder lebendig zu greifen, ein ganzes Dutzend, aber sie waren noch weit, weit zurück, und was sie da zu sehen bekommen, das machte, daß ihr flüchtiger Fuß im Boden wurzelte.

Gruh kümmerte sich nicht um sie, nahm nicht das Bronzeschwert auf, er setzte seine Springtour fort, dem Wasserlaufe zu, ganz gemächlich, er verwandelte sich noch immer nicht in ein fliehendes Känguruh

Schreie, indische Kommandos, und dann krachten Schüsse, ganze Salven.

Sollten die Kugeln der gezogenen Büchsen, in den Händen dieser Amazonen, die ihre Treffkunst schon bewiesen, denn aus noch nicht hundert Meter ihr Ziel verfehlen, wo sich dieses in ganz direkter Richtung entfernte, keine Zickzacklinien beschrieb, nur mäßig hoch sprang?

»Er ist gepanzert, er ist gepanzert!«

Natürlich, so war es. Er hatte nicht nur nachträglich seinen Kopf durch einen Bronzehelm geschützt, er trug auch unter seinem schwarzen Trikotanzug eine Schuppenrüstung, und so dünn diese auch sein mochte, sie spottete den Büchsenkugeln. Diese mochten ihn vielleicht nur wie empfindliche Mückenstiche irritieren, ihm auch etwas Schmerz bereiten, nichts weiter. Wahrscheinlich hatte er dann auf seinem Rücken, oder wo die Kugeln sonst aufgeschlagen waren, einige blaue Flecke.

Daß er gepanzert war, bewiesen besonders vier Pfeile, die ihm nachgesaust kamen, keiner verfehlte sein Ziel, den Rücken, sie waren mit genügender Kraft abgeschnellt worden, um etwa einen Lederkoller zu durchbohren, aber nicht mit jener Kraft, die dazu gehörte, um solch einen Schuppenpanzer zu durchschlagen — wirkungslos prallten sie ab.

»Fangt ihn lebendig — lebendig müssen wir ihn haben!«

Also die erste Taktik wurde wieder aufgenommen, die direkte Verfolgung. Aber das Dutzend Amazonen, das gezögert hatte, wurde von anderen überholt, die aus dem Felsentore quollen, und diese hatten unterdessen schon Helme aufgesetzt, welche aber auch das Gesicht und den Hals vollständig einhüllten.

Aber auch diese wurden wieder überholt, von einer goldschimmernden Reiterin, die auf dem Rücken eines Tarpans saß, auch sie hatte schon Kopf und Hals geschützt, schien aber nicht willens zu sein, den zuletzt gegebenen Befehl zu befolgen, den Mörder ihrer Schwestern lebendig zu fangen, sondern, wenn es nicht anders möglich war, ihn auch zu töten, denn in ihrer rechten Faust schwang sie eine mächtige Streitkeule aus Bronze, und sie sprach es auch gleich aus, was jener zu erwarten hatte.

»Hund, mir entkommst Du nicht, und bist Du gegen Kugeln und Pfeile gefeit, so zerschmettere ich Dir den Kopf, und Dein Gehirn soll mir neue Kraft geben.«

So schrie sie und stieß dem Tarpan die Hacken in die Seiten, und wenn diese Hacken auch spornlos waren, so waren sie doch mit Metall gepanzert, und der flüchtige Tarpan verwandelte sich vollends in einen abgeschnellten Pfeil, daß sein Leib fast den Boden berührte, aber scheinbar die Hufe diesen nicht mehr.

Und das Einbein beschleunigte seine Flucht durchaus nicht. Da mußte ihn die Reiterin schnell eingeholt haben, und mochte ihn der Helm auch gegen stählerne Spitzkugeln schützen, gegen einen Schlag mit solch einer Metallkeule nicht, der mußte ihm den Schädel zertrümmern.

Und nicht einmal einen Blick warf er hinter sich!

Da aber, wie die Amazone schon zum Schlage ausholte, machte Gruh einen unbeschreiblichen Seitensprung, gleichzeitig schnellte er hoch empor, noch viel höher als sonst, und wie der Tarpan mit weit vorgestrecktem Hals an ihm vorbeisauste, warf Gruh sein Bein hoch in der Luft vor, und man weiß doch, was für eine Kraft man in seinem Beine hat, eine ganz andere als im Arme, das jetzt so viel betriebene Fußballspiel gibt Zeugnis davon, und das so vorgeschnellte Dreieckmesser traf diesmal nicht den Hals, der von dem Helmkragen geschützt war, so hoch war Gruh auch gar nicht gesprungen sondern es traf seitwärts den Oberkörper, und da nützte es nichts, daß dieser ebenfalls mit jenen Bronzeschuppen gepanzert war, tief drang das furchtbare Messer zwischen die Rippen, und das Messer war lang genug, daß es auch noch das Herz erreichen konnte — ein hervorspritzender Blutstrahl, ein gellender Schrei, der erhobenen Faust entfiel die Keule der Tarpan setzte seinen rasenden Lauf fort, hatte aber keine Reiterin mehr auf dem Rücken, die war herabgeglitten, lag sterbend oder schon tot im Steppengrase und ruhig setzte Gruh seine Springtour fort.

Also auch dem Stoße dieses messerbewehrten Beines konnten die Schuppenpanzer nicht widerstehen, die sonst jeder aus einem modernen Infanteriegewehr abgefeuerten Stahlspitzkugel trotzten! Was für ein furchtbarer Stoß mochte das freilich auch gewesen sein!

Gruh hatte das Wasser erreicht. Mehr als 200 Meter betrug die Entfernung zwischen diesem Wasserfluß und dem Felsentore sicher nicht, und schon hatte diese kurze Strecke drei nachsetzenden Amazonen das Leben gekostet, wobei die erste, die Torhüterin, nicht mitgerechnet wird. Jetzt aber ließen die anderen Amazonen von der Verfolgung erst recht nicht ab.

Glaubten die Weiber, daß sie den furchtbaren Krüppel im Wasser bewältigen könnten, daß er seine schreckliche Waffe in diesem Elemente nicht zu gebrauchen vermöge?

Denn Gruh hatte sich ins Wasser gestürzt, die Amazonen setzten ihren Wettlauf fort, eine war die schnellste oder hatte überhaupt einen großen Vorsprung gehabt, Gruh hatte sich noch keine zehn Meter vom Ufer entfernt, befand sich noch nicht in der Mitte, als ihm diese erste Amazone mit einem Hechtsprung, der sie schon weit brachte, nachstürzte, ihr Schwert hatte sie schon vorher als zwecklos weggeworfen und wie der Flüchtling nun mit seinem einen Beine schwamm, und wie gewandt sich die Amazone bewies, danach mußte sie ihn unbedingt eingeholt haben, ehe er das andere Ufer erreicht hatte, und schon folgten andere Amazonen nach, um sie dabei zu unterstützen, jenen im Wasser unschädlich zu machen.

Sie holte ihm denn auch mit wenigen Stößen ein. Aber zu einem Ergreifen sollte es nicht kommen. Wieder schien Gruh gar nicht zu wissen, was sich ihm von hinten für ein Gegner schnell näherte, wie sollte er auch, er blickte sich gar nicht um — aber wie die Amazone nur noch zwei Armlängen von ihm entfernt war, wie sie sich im Wasser hochschnellte, um sich auf ihn zu werfen, da lag Gruh plötzlich auf dem Rücken.

Was er tat, das entzog sich den Blicken, denn es geschah unter Wasser. Aber das Resultat war dennoch mit furchtbarer Deutlichkeit erkennbar.

Hoch warf die Amazone die Arme empor, ein gellender, entsetzlicher Schrei, ein nachfolgendes Gurgeln, und sie war verschwunden, um nicht wieder aufzutauchen. An ihrer Stelle aber rötete sich das Wasser, es bildete sich eine ganze Blutlache, sich immer mehr vergrößernd, die mit dem Flusse abwärts trieb.

Also auch im Wasser hatte der Schlag des bewehrten Beines nichts an furchtbarer Kraft eingebüßt. Wie später konstatiert wurde, wie Gruh dann aber auch gleich angeben konnte, hatte das Messer wiederum die Brust durchbohrt.

Es waren also schon einige Amazonen der ersten ins Wasser nachgesprungen. Aber als sie dies beobachtet, wagten sie nicht weiter zu schwimmen. Das schreckliche Einbein hoffte ja nur, daß sie es täten. Es lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Wasser, das behelmte Gesicht seinen Verfolgern zugekehrt, nur die nächste Schwimmerin erwartend, um ihr den tödlichen Stoß, gegen den es absolut keinen Schutz gab, am wenigsten im Wasser, versetzen zu können.

Ein Pfiff und ein indisches Kommando machten der Verfolgung überhaupt ein Ende. Die im Wasser befindlichen Amazonen kehrten ans Ufer zurück. Da setzte auch Gruh seine Schwimmtour fort, stieg am jenseitigen Ufer ans Land, und jetzt, obgleich er nicht mehr verfolgt wurde, legte er richtig los, verwandelte sich in ein fliehendes Känguruh vorausgesetzt, daß dieses mit nur einem Beine so springen kann.

Mit Windeseile hüpfte er davon, Sätze von sechs und noch mehr Meter Weite machend.

Aber weit sollte er nicht mehr rennen, sich dabei am Ufer des Sees haltend.

Diese schrecklichen, aber auch einzigartigen Szenen waren auch von anderer Seite beobachtet worden.

Schon als Gruh auf dem Herwege über dieses Grasland gesprungen war, war auf dem See die »Argos« zu sehen gewesen, die mit einigen gesetzten Segeln offenbar gerade auf diese Gegend zuhielt.

Es ist davon nichts gesagt worden, weil sich Gruh, auf den hierbei alles ankam, absolut nicht um das Schiff gekümmert hatte.

Während seines Aufenthaltes in den Felsenräumen, der ungefähr eine Viertelstunde gewährt haben mochte, hatte sich die »Argos« ganz bedeutend dem Ufer genähert. Allerdings wollte sie wohl nicht landen, sie benutzte eben den mäßigen Westwind zu einer Segelfahrt, manövrierte, kreuzte, soeben wurden die Rahen zum Wenden gegen den Wind herumgeworfen.

Dies geschah in einer Entfernung von etwa anderthalb Kilometern vom Ufer, und das hat für ein gutes Fernrohr nichts zu sagen. Man darf wohl glauben, daß diese mörderischen Kampfesszenen dort an Bord des Schiffes ganz genau beobachtet worden waren. Schon ein mittelmäßiges Seefernrohr muß 20 mal vergrößern, das heißt, es zieht das zubetrachtende Objekt 20 mal heran, also wären die anderthalb Kilometer für das bloße Auge scheinbar auf 75 Meter verkürzt worden. Da läßt sich solch ein Kampf schon deutlich erkennen.

Und die Schiffsmannschaft schien auch in diesen seltsamen Kampf eingreifen zu wollen.

Schon als Gruh seine ersten beiden Verfolgerinnen empfing und abfertigte, wurde sofort das Segelmanöver eingestellt, die Bootsmannspeife schrillte in ganz anderer Weise, und als das Einbein die Reiterin von ihrem Rosse herabholte, wurde eine Jolle zu Wasser gelassen, mit jener einzigartigen Schnelligkeit, welche auch schon diese Schiffsjungen der »Argos« in solchen Manövern entwickeln konnten, und als sich Gruh in den Fluß stürzte, war die Jolle im sechsriemigen Takte schon unterwegs.

Gruh fertigte seine schwimmende Gegnerin ab, erreichte das Ufer, setzte seine Flucht zu Lande fort.

Da sah er die Jolle angeschossen kommen. Gesteuert von Georg Stevenbrock selbst. Aber die Hauptsache war für das Einbein die Gestalt, die vorn im Bug aufgerichtet stand und so klein sie auch war, die mußte er sofort erkennen . . . der Zwerg Attila selbst!

Sein gellender Pfiff war unnötig, ein Wink genügte. Gruh stürzte sich in den See, hatte aber nur noch wenige Stöße zu machen, so war das Boot bei ihm, stoppte in voller Fahrt, er wurde hereingezogen, die Jolle wendete, ging zurück, wurde gleich mit der ganzen Mannschaft an Bord gehivt.


104. KAPITEL.
DIE KRIEGSERKLÄRUNG.

Wir wollen nicht dabei sein, wenn Gruh in der Kajüte berichtet.

Die »Argos« hatte das unterbrochene Segelmanöver ausgeführt, hatte gewendet, kreuzte mit dem mäßigen Westwind wieder gegen Süden, etwa 4 Knoten in der Stunde machend.

Seit diesem Segelmanöver war eine Viertelstunde vergangen, also hatte sich das Schiff wieder drei Kilometer vom Ufer entfernt.

Da kam aus einem der Flußläufe, der sich zwischen einer Felsenschlucht am Nordufer verlor, dort, wo jener Kampf stattgefunden hatte, eine goldglänzende Galeere hervor, und eilte dem Schiffe nach.

Eilte ihm nach?

Wir wissen, daß die schnellsten Rudergaleeren der altrömischen Marine, der besten des klassischen Altertums, nicht mehr als fünf Knoten in der Stunde machen konnten, und da sind also die schnellsten Galeeren gemeint, die Aufträge überbrachten, der Flotte mit Ordern nacheilten, also unsern Depeschenbooten, Avisos entsprechend. Das wissen wir aus alten Berichten, und ebenso wissen wir, daß auch die venetianischen Rudergaleeren, wieder die besten des Mittelalters, diese Schnelligkeit von fünf Knoten in der Stunde niemals übertroffen haben. Das waren eben keine Boote, sondern ganze Schiffe, die sollen gerudert werden!

Ferner wissen wir heute — und das muß hier unbedingt einmal erwähnt werden — daß alle die Erzählungen von zweireihigen, drei- oder gar vierreihigen Rudergaleeren Bireren, Trireren und so weiter — erdichtet worden sind. Es hat immer nur einreihige Galeeren gegeben!

Trotzdem berichten alte Schriften von Bireren, Trireren und so weiter, wobei also mehrere Ruderreihen übereinander geordnet waren, alte Münzen zeigen Abbildungen von solchen mehrreihigen Rudergaleeren, es sind ja auch noch wohlerhaltene Galeeren aus der römischen Zeit gefunden worden, und obgleich diese nun wirklich mehrere Reihen Löcher für die Riemen übereinander besaßen, so erklärten doch alle Sachverständige, die sich damit befaßten, daß auch diese Galeeren immer nur mit einer Reihe Riemen gerudert wurden, denn es sei gar nicht möglich, mit mehreren Reihen, die übereinander liegen, zu rudern. Es sei vollständig ausgeschlossen! Von Takt gar nicht zu sprechen — die langen Riemen müßten überhaupt ständig zusammenklappern.

Infolgedessen entstand ein wissenschaftlicher Streit, der länger als hundert Jahre gewährt hat, zwischen den historischen Forschern, woran sich aber auch gebildete Seeleute beteiligten, über die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der alten Bireren, Trireren und so weiter. Im Mittelalter kannte man sie gar nicht. Dieser wissenschaftliche Kampf hat eine ganze Bibliothek gezeitigt.

Ums Jahr 1850 mischte sich auch Kaiser Napoleon III. in diesen Kampf ein, machte es sehr praktisch, ließ in Cherbourg eine sechzigriemige Trirere bauen. Also auf jeder Seite 30 Riemen, in drei Reihen zu je zehn übereinander angeordnet.

Als die französischen Matrosen diese Trirere nicht rudern konnten, wie sie auch eingedrillt wurden, ließ Napoleon die besten englischen Matrosen kommen. Diese brachten es auch nicht fertig. Es war nicht möglich, im Takt zu bleiben, auch nicht mit zwei Reihen Rudern. Also die erfahrenen Seeleute hatten den Wissenschaftern gegenüber Recht behalten. Es ist nämlich der pure Unsinn, mit verschieden langen Riemen übereinander rudern zu wollen. Was meint man wohl, was da für verschiedene Hebelwirkungen herauskommen!

Weshalb dann aber die mehrreihigen Ruderlöcher an den noch erhaltenen Galeeren aus alter Zeit, weshalb da überhaupt der Ausdruck Bireren und Trireren, und zeigten nicht alte Münzen solche Galeeren mit mehrfacher Ruderreihe, wirklich in Fahrt begriffen?

Nun, da man einmal das eine als Tatsache aus experimentellem Wege bewiesen hatte, konnte man andere auf spekulativem Wege erklären.

Es wurden immer nur die untersten Ruderlöcher benutzt. Wurde das Schiff schwer beladen, kamen die untersten Löcher unter Wasser, so mußten diese natürlich verstopft werden, dann kam die nächste Reihe dran. Und so fort.

Das ist die ganz einfache Erklärung! Der Name Bireren, Trireren und so weiter kam nur von der Anzahl der Löcherreihen. Und dann allerdings konnten an jedem Riemen auch zwei oder drei oder noch mehr Mann arbeiten, das mag ebenfalls für diese Bezeichnung den Ausschlag gegeben haben. Und was die Münzenbildnisse anbetrifft, so beruhte das eben auf Phantasie. So wie doch auch wir ganz merkwürdige Wappenbilder mit wilden Männern und absonderlichen Tieren haben. Mehr als 4 Knoten machten auch diese Galeeren niemals, also auch diese hier, an jeder Seite von 20 Riemen gerudert, konnte die »Argos« nicht einholen, so langsam sie auch segelte.

Auf dem erhöhten Vorderdeck stand ein Weib, es war die Begum selbst, sie winkte lebhaft, und wirklich ging die »Argos« auch wieder aus dem Winde und strich einige Segel.

Nun dauerte es nur noch 20 Minuten, dann war die Galeere dem Schiffe in Rufweite gekommen, die wir mit 150 Metern annehmen wollen. Wenn dabei auch geschossen werden kann, so ist dies zu wissen von Wichtigkeit.

»Werde ich als Gastfreundin empfangen?«

Auf der Kommandobrücke stand neben Kapitän Martin Georg Stevenbrock, und er rief die Antwort zurück.

»Nein.«

»Nein?!«

»Nein! Du bist von jetzt an meine Feindin! Als geheiligte Parlamentärin will ich Dich und die,‚ die Du wegen einer Botschaft sendest, noch empfangen, aber mit der Gastfreundschaft ist es vorbei.«

Es machte auf die Begum wenig Eindruck. Sie hatte ganz genau dasselbe gemeint, wollte gar nicht als Gast empfangen sein.

»Ich bin als Parlamentärin geschützt?«

»Ja.«

»Auch alle meine Kriegerinnen?«

»Ja, insofern sie zur Fortbewegung Deines Schiffes dienen. Kommt heran, Ihr seid geschützt, aber die Verhandlung findet von Bord zu Bord statt, niemand betritt das Deck unseres Schiffes.«

Die Galeere ruderte vollends heran, legte mit einem geschickten Rudermanöver bei. Obgleich es keine der größten war, von der »Argos« um die doppelte Länge übertroffen wurde, war sie doch so hoch gebaut, daß die beiden Decks in fast ganz gleicher Höhe lagen.

Das Vorderdeck war gerade der Kommandobrücke gegenüber zu liegen gekommen, und jetzt mußte die Begum wohl erkennen, wie fahl das sonst von Gesundheit strotzende Gesicht des germanischen Waffenmeisters war, was für ein furchtbarer Ernst in seinen sonst gutmütigen, treuherzigen Zügen lag.

Die Hälfte der 32 Jungen waren auf verschiedene Stellen verteilt, auf ihre Gefechtsstationen, können wir gleich sagen, die andere Hälfte war nicht zu sehen, und dasselbe galt von den erwachsenen Männern, über welche dieses entvölkerte Schiff noch verfügte, es galt zum Teil sogar von den Damen. Von Waffen war nichts zu sehen, aber auch niemand war herbeigesprungen, um die Galeere festzumachen, alles verharrte regungslos auf seinem Posten, den Blick der Kommandobrücke zugekehrt, von dort ein lebendig machendes Wort oder nur einen Wink erwartend.

»Auf Deinem Schiffe befinden sich der Zwerg und der einbeinige Mann?«

»Ja.«

»Den Zwerg will ich von Dir nicht verlangen, aber den einbeinigen Mann mußt Du uns herausgeben.«

»Weshalb?«

»Er hat fünf meiner Kriegerinnen ermordet.«

Die Antwort blieb einige Zeit aus, erst mußte Stevenbrock mit sich ringen, was man dem Arbeiten seiner Brust ansah, ehe er es hervorbrachte:

»Ungeheuer, Du hast die Zwergin peitschen lassen!«

»Ja, ich habe es getan. Als erste Drohung, wozu ich fähig bin, wenn sich ihr Gatte, der einer meiner Kriegerinnen im Wettkampf unterlegen ist, sich nicht freiwillig als Gefangener stellt.«

Stevenbrock hatte seine Arme über der Brust verschränkt gehabt, er löste sie, um die Fäuste zu halten, steckte sie in die Hosentaschen, zog sie wieder hieraus und verschränkte sie abermals über der Brust. Offenbar wußte er nicht, was er mit seinen Händen anfangen sollte.

»Weib, Weib,« brachte er dann wieder hervor, und es klang mehr wie das Stöhnen eines verwundeten Stieres, »danke Deinem Gott, oder an welchen Dämon Du sonst glaubst, daß ich Dich als Parlamentärin anerkenne, daß ich mich beherrschen kann — sonst würde ich hinüberspringen und Dich mit meinen Fäusten bearbeiten, und kein Panzer sollte Dich schützen — und danke Deinem Dämon, daß hier unter meinen Leuten solche Disziplin herrscht, sonst solltest Du jetzt Schreckliches erleben und ich war vorsichtig genug, die beiden, den Zwerg und das Einbein, in eine Kabine mit eisernen Wänden einzuschließen, die auf der anderen Seite des Schiffes liegt, denn für diese beiden könnte ich nicht garantieren! Du abscheuliches Scheusal Dul«

Dieser Ausbruch brachte bei der Begum keinen Eindruck hervor.

»Liefere mir den einbeinigen Krüppel aus.«

»Nein.«

»Du vergißt wohl, daß sich 45 von Deinen Leuten in meiner Gefangenschaft befinden.«

Da brach Stevenbrock in ein Hohnlachen aus.

»Ha, Begum,« rief er dann, »mit dieser Drohung kommst Du mir zum zweiten Male vergeblich! Jetzt weiß ich, daß Ihr alle, ehe Ihr jenes teuflische Mittel anwendetet, wodurch Ihr meine Argonauten besiegtet, bei dem Heiligsten, was Ihr kennt, schwören mußtet, diesen durch ein unlauteres Mittel Überwundenen kein Haar auf dem Kopfe zu krümmen! Auch hungern dürft Ihr sie nicht lassen, kein anderes Eurer höllischen Mittel, vom Satan selbst gebraut, dem Ihr Euch verschrieben habt, anwenden, um ihrer Gesundheit irgendwie zu schaden. Nicht einmal den Sonnenschein dürft Ihr ihnen vorenthalten. Oder Ihr habt Euren Schwur gebrochen. Und dann läßt der, der hier der Mächtigste ist, die Felsen über Euch zusammenstürzen oder weiß Euch sonst aus der Welt verschwinden zu lassen! Ist es etwa nicht so?«

Finster nagte die Begum an der Unterlippe.

»Nun gut, ich gestehe, daß es so ist. Ich bin zum zweiten Male so schwach gewesen, Dir mit etwas zu drohen, was ich nicht ausführen könnte. Nein, ich darf diesen Gefangenen nicht einmal das Sonnenlicht entziehen. Aber nur eines ist in dem Kontrakt, den jener Merlin mit unserem Satin geschlossen hat, vergessen worden. Von jetzt an wird jeder Gefangene isoliert gehalten.«

»Meinetwegen!« lachte Stevenbrock, wenn es auch grimmig genug klang.

»Du scheinst das zu unterschätzen.«

»Was liegt mir daran?«

»Mit der Freiheit ist es jetzt vorbei. Einen Urlaub, um Euch zu besuchen, gibt es natürlich nicht mehr.«

»Das kann ich mir lebhaft denken!«

»Und jeder wird einzeln eingesperrt . . . «

»Aber Ihr dürft ihm weder Luft noch Sonne entziehen, und was sie fordern, müßt Ihr ihnen geben, so weit es irgend möglich ist, Ihr es beschaffen könnt. Nur Waffen sind dabei ausgeschlossen. O, ich kenne die Bestimmungen jetzt ganz genau. Ihr habt meine Argonauten nicht so ehrlich besiegt, wie Ihr uns zuerst glauben machen wolltet. Es war Lug und Betrug dabei, und das dient mir sogar zur Beruhigung.«

»Denke hierüber, wie Du willst. Deine Leute siehst Du jedenfalls nie wieder.«

»Dann eben nicht.«

»Aber die Zwergin haben wir nicht auf diese Weise besiegt, sie hat sich nicht zum Wettkampf gestellt . . . «

»Sondern die habt Ihr noch auf viel infamere Weise in Eure Gefangenschaft gebracht, Du hast zwei Amazonen als Friedensboten nach ihrem Versteck gesandt . . . «

»Dieser Plan ging nicht von mir aus, aber ich hieß ihn nachträglich gut. Und trotzdem, es ist ein Frevel begangen worden, und wir sind zur Sühne bereit. Die beiden Kriegerinnen, Zilla und Hektale, sie stehen zu Eurer Verfügung, daß Ihr sie töten könnt, unter Folterqualen. Wir bringen sie gleich mit.«

»Behaltet sie!«

»Hierüber hätte hauptsächlich der Zwerg zu entscheiden, dem müssen wir sie ausliefern, daß er an ihnen seine Rache ausübt . . . «

»Behaltet sie!«

»Gut, sprechen wir hierüber dann später. Die Hauptsache ist jetzt die, daß wir auf die Gattin des Zwerges, der sich nicht freiwillig stellt, einen Anspruch als Bürgin haben und daß sie in unsere Gefangenschaft geraten ist.

Und zwar steht diese Gefangene nicht unter jenen Bestimmungen. Wir können mit ihr tun, was wir wollen, wir können sie töten oder auch peitschen und martern.«

»Ungeheuer, bist Du denn nur wirklich ein Weib, hast Du ein Herz im Busen, daß Du es über Dich bringst, dieses zarte Geschöpf peitschen zu lassen?!« rief Stevenbrock außer sich, wieder die Fäuste ballend.

»Ich habe das Recht dazu und tue, was mir beliebt!« war die kalte Antwort. »Jetzt aber stelle ich noch eine andere Forderung. Der Zwerg gehört so wie so uns. Nun aber fordere ich für die Herausgabe der Zwergin auch noch den einbeinigen Krüppel, der fünf meiner Kriegerinnen gemordet hat. Oder noch eine Nachgiebigkeit will ich zeigen. Auch auf den einbeinigen Mann wollen wir verzichten. Dann aber mußt Du Dich statt seiner in unsere Gefangenschaft begeben. Wenn nicht, so werdet Ihr bald sehen, wozu wir fähig sind. Als erstes werden wir Euch ein Ohr der Madame Rosamunde zuschicken. Dann, wenn Ihr Euch noch nicht gefügig zeigt, das zweite. Dann kommt die Nase daran, dann ein Finger, dann die ganze Hand . . . verstehst Du?«

Stevenbrock hatte sich wie zum Sprunge geduckt.

Er sprang nicht.

Er richtete sich wieder auf.

Aber furchtbar arbeitete seine Brust

»Wenn ich mich stelle, dann — dann — gebt Ihr — die Zwergin frei?« brachte er mühsam hervor.

»Und wenn sich auch ihr Gatte stellt. Durch Dich verzichten wir nur auf den einbeinigen Mörder. Gehst Du aber nicht auf diesen Tausch ein, so wird die Zwergin noch ganz besonders gemartert.«

»Ich werde die beiden sprechen!« erklang es tonlos, und Stevenbrock ging in das Kartenhaus, von dem aus also ein Gang unter Deck, in die Kajüte führte.

Stille ward es.

Nur einmal, kaum als er sich entfernt hatte, erklang eine verzweifelte Frauenstimme.

»Georg, Georg!«

Nichts weiter. Es war die Stimme der Patronin gewesen.

Dann dauerte es längere Zeit, dann wurde es nur um so lebhafter.

Der Raum, wo es gerufen wurde, mochte weit entfernt sein, auf der anderen Seite des Schiffes, aber deutlich war die tiefe Stimme des starken Zwerges zu vernehmen.

»Nein, nein, und abermals nein! Ich gehe nicht, und Gruh geht nicht, und wenn mir Rosamunde auch in tausend Stücken zugesandt wird! Für mich existiert meine Frau überhaupt nicht mehr! Für mich existiert nur noch die Rache! So wahr ich bestimmt weiß, daß in meinen Adern echtes Hunnenblut fließt! Rache, Rache, Rache! Das Blut dieser Weiber will ich lecken! Und Ihr, Waffenmeister, was habt Ihr denn damit zu tun? Schert Euch zum Teufel, kümmert Euch nicht um meine Frau! Was geht Euch meine Frau an?! Und wenn Ihr hinübergeht und wenn ich dadurch meine Frau wiederbekäme — bei Gottes Tod, ich schwöre, so wahr ich ein echter Hunne bin — mit dieser meiner Hand stoße ich ihr den Dolch ins Herz — um Euer Opfer zwecklos zu machen!«

So hatte die Baßstimme gedonnert, mit furchtbarer Wildheit.

Man hatte einen riesenhaften Berserker zu hören geglaubt.

Dann trat wieder Todesstille ein, bis Stevenbrock wieder aus dem Kartenhause auf die Kommandobrücke trat, und sein Gesicht schien immer noch um eine Schattierung fahler geworden zu sein.

»Nein! Weder der Zwerg noch der einbeinige Gruh liefert sich Dir aus.«

»Ich habe es gehört, es ist laut genug gebrüllt worden!«

»Dann weißt Du ja auch, daß es keinen Zweck hätte, wenn ich mich Dir stellen würde.«

»Ja, auch das habe ich gehört. Gut, dann nicht. Aber meine Drohung mache ich doch wahr, darauf kannst Du Tisch verlassen. Morgen bei Sonnenaufgang werde ich Euch zunächst das linke Ohr der Zwergin zuschicken, eine Stunde später das . . . «

»Nun höre erst einmal mich an, Weib. Ihr habt genau 18 Minuten gebraucht um von der Flußmündung bis hierher zu rudern, und die Entfernung ist dieselbe geblieben, wir sind unterdessen nicht abgetrieben. So gebe ich Dir jetzt 18 Minuten Zeit. Dort hängt der Schiffschronometer. Wir werden unterdessen hier liegen bleiben, keine Vorbereitungen zu einem Manöver treffen. Aber nach achtzehn Minuten geschieht es. Es ist jetzt genau ein viertel fünf. Drei Minuten über halb fünf gehen wir gegen Euch vor. Verstanden?«

»Das soll also eine Kriegserklärung sein?«

»Weib, zweifelst Du noch daran?«

»Wir nehmen sie an.«

»Brauchen wir nicht. Wir schlagen Euch tot, wo wir Euch finden. Und wenn eine Amazone hilflos im Grase liegt, wir kennen kein Erbarmen, wir schlagen sie tot. Ihr seid wilde Tiere, die ausgerottet werden müssen. Also schicke nicht noch einmal eine Parlamentärin. Mit wilden Bestien wird nicht verhandelt. Man tötet sie einfach Und da ist jedes Mittel erlaubt, sogar Gift, um solches Ungeziefer auszurotten. Nun mach, daß Du fortkommst. Eine halbe Minute ist schon verstrichen.«

»Oooh, mein verehrter Herr Waffenmeister!« fing da das Weib höhnisch zu lachen an. »Wenn es so ist, dann werdet Ihr ja Überraschungen erleben! Du hast ja gar keine Männer mehr, nur Kinder noch, die vielleicht ein Stückchen Eisen fünf Minuten lang halten können, Ihr alle werdet noch unsere Gefangenen . . . «

»Weib, mach daß Du fortkommst, oder ich vergesse, daß ich Euch noch 17 Minuten lang schonen will!« rief Stevenbrock jetzt außer sich, die Fäuste schüttelnd. »Ja, ich bitte Dich, tue mir den einzigen Gefallen, brich Du selbst die heiligen Parlamentärgesetze, falle jetzt gleich über uns her, gib Deinen Kriegerinnen einen Wink, daß sie an Bord meines Schiffes springen . . . «

Und Stevenbrock selbst schien den Seinen einen Wink gegeben zu haben, denn plötzlich machten alle an Deck Stehenden, die Jungen wie die Erwachsenen, einen besonderen Griff, sie alle brachten unter ihren Jacken solche Klapphelme zum Vorschein, die sie sich über den Kopf stülpten, die weiblichen Mitglieder nicht ausgeschlossen, in einem Moment war es geschehen. Waffen hatten sie zwar nicht in den Händen, aber jedenfalls trugen sie unter ihrer gewöhnlichen Kleidung auch schon Schuppenpanzer, und dann würden sie auch schon geeignete Waffen in griffbereiter Nähe haben, sie warteten nur noch einem weiteren Wink ab, und Stevenbrock selbst, ebenfalls blitzschnell solch einen Klapphelm über den Kopf stülpend, hatte noch einen zweiten Griff hinter sich gemacht, und er spannte einen gewaltigen Bogen, auf der Sehne lag ein Pfeil auf die Begum gerichtet.

»Wir sind bereit, Euch zu empfangen!«

Gestaunt hatte die Begum allerdings, diese Verwandlung war gar zu plötzlich vor sich gegangen — sie versuchte es zu bemänteln, griff wieder zum Hohn.

»Aha, also so habt Ihr Euch schon vorbereitet! Vollständig kriegsgerüstet, obgleich ich noch an gar keine Kriegserklärung dachte! Dann allerdings hättet Ihr jetzt leichtes Spiel mit uns. Auf so etwas waren wir nicht vorbereitet, wir kamen als friedliche Parlamentäre, haben keine Waffen bei uns, nicht einmal Helme . . . «

»Weib, nun mache dem Geschwätz ein Ende! Drei von den achtzehn Minuten sind schon vergangen, und wir sind nicht nur auf Segel angewiesen, wir liegen unter Dampf, in genau einer Viertelstunde gebe ich das Kommando, wir fahren mit voller Kraft los, und habt Ihr bis dahin nicht dort die Flußmündung gewonnen, so will ich einmal probieren, ob Eure Bronzegaleere einen Rammstoß unseres Schiffes aushält . . . «

»Genug, genug, wir gehen schon. Auf Wiedersehen also als Gegner, aber, nicht nur zum harmlosen Wettspiele, sondern im Kampfe auf Leben und Tod, und Ihr werdet vielleicht finden, daß wir nicht unbedingt jenes Hilfsmittel nötig haben, um mit einem Schwerthiebe Eure Köpfe und Gliedmaßen von den Rümpfen zu trennen, trotz aller Panzerungen, mit denen Ihr Euch zu schützen sucht. Also morgen früh bei Sonnenaufgang hört Ihr wieder etwas von mir, wenn ich Euch das linke Ohr der Zwergin schicke, und die Amazone, die es Euch bringt, mögt Ihr meinetwegen massakrieren.«

Noch ein höhnisches Winken, ein indisches Kommando, ein Paukenschlag, und durch geschicktes Streichen der freien Ruderreihe machte sich die Galeere von dem Schiffe frei, hatte in wenigen Sekunden gewendet und strebte mit doppelter Riemenreihe wieder dem Ufer zu.

Als die letzten 15 oder nur 14 Minuten vergangen waren, hatte die Galeere die Flußmündung zwar noch nicht ganz erreicht, jetzt aber wäre sie auch vom schnellsten Torpedojäger nicht mehr eingeholt worden.

Bald darauf wünschten auch Attila und Gruh das Schiff wieder zu verlassen.

Es ist nicht geschildert worden, wie ersteren als die »Argos« noch in der Nähe des Südufers gekreuzt hatte, an Bord gekommen war.

»Mister Attila, ich muß Sie erst noch einmal sprechen!« sagte die Patronin mit vor Erregung zitternder Stimme, als Attila seinen Wunsch wieder an Land gebracht zu werden, geäußert hatte.

»Es hat keinen Zweck, Mylady!« entgegnete der trotzige Zwerg. »Wenigstens nicht, wenn Sie mich nochmals wegen meiner Frau sprechen wollen. Da ist mein Entschluß gefaßt. Oder wegen Cäsars? Der Hund gehört Ihnen, ich muß ihn Ihnen wieder . . . «

»Bitte, kommen Sie noch einmal in meine Kajüte.«

Der Zwerg folgte ihr, kam aber schon in wenigen Minuten wieder zum Vorschein, und die Unterredung mußte resultatlos verlaufen sein.

Die Patronin selbst, die ganz starre Züge bekommen hatte, gab die nötigen Kommandos, die »Argos« fuhr etwas westlich das Ufer entlang, die Jolle wurde ausgesetzt, Attila und Gruh wurden nach einer von ihnen bezeichneten waldigen Stelle gerudert, sie stiegen aus, bald waren sie zwischen den Bäumen verschwunden. Nur noch einmal hörte man ein dröhnendes, jauchzendes Hundebellen, der an Land gebliebene Cäsar hatte sich wieder mit ihnen vereinigt.

Die »Argos« fuhr zurück, blieb wieder jener Flußmündung und Felswand gegenüber liegen, drei Kilometer vom Ufer entfernt, nur ganz langsam hin und her kreuzend, weil bei Anbruch der Nacht völlige Windstille eintrat.


105. KAPITEL.
»DOCH ALLES, WAS MICH DAZU TRIEB . . . «

Diese Nacht war vergangen.

Windstill, lautlos, ohne jedes Ereignis.

In strahlender Pracht erhob sich die Sonne eines neuen Tages über den östlichen Gebirgszügen und küßte mit goldenem Strahle das Argonautenschiff, das noch auf seiner alten Stelle lag, das aber, ach, jetzt diesem Namen so wenig entsprach. Weil jene Männer, die den Namen Argonauten führten, sich nicht mehr darauf befanden.

Höher stieg die Sonne während einer Stunde, und es wollte sich nichts ändern.

Weshalb standen die führenden Männer und die Jungen und auch die weiblichen Mitglieder mit so verzagten Gesichtern an Deck herum, sich höchstens scheinbar mit einer Arbeit beschäftigend?

Weshalb blickten sie immer wieder so besorgt und verzagt, wenn nicht gar ängstlich nach der Tür, welche von der Patronatskajüte an Deck führte, weshalb nicht nach jenen nahen Felsen oder nach der Flußmündung irgend ein Fahrzeug erwartend, das ihnen die Kunde brachte, daß die Begum ihre erste Drohung an der Zwergin wahrgemacht habe?

»Well, das ist fürchterlich,« brach da endlich Kapitän Martin, der schon immer mehr denn je beim Auf— und Abwandern mit den Beinen geschlenkert und in den Hosentaschen gewühlt hatte, das allgemeine Schweigen. »Ich habe in mancher Situation das Warten gelernt, auch wenns dabei um den Hals oder sogar ums ganze Geld ging, aber dieses Warten ertrage ich nicht länger! Eh, Siddy, ist denn die Patronin noch immer nicht auf?«

»Sie hat noch nicht geklingelt, Kapitän.«

»Das ist ja merkwürdig. Eh, Klothilde, könnt Ihr nicht einmal klopfen?«

»Ich habe keine Befugnis dazu, sie zu wecken!« entgegnete Klothilde.

»Well, tut es nur einmal, es ist doch eine freudige Nachricht, die Ihr zu bringen habt.«

»Well, Käpten, klopft Ihr doch selbst und bringt Ihr diese freudige Nachricht, über die sie sich ja verdammt freuen wird!« erwiderte Klothilde.

»Viellieks hädd see sick uphängt.«

Kapitän Martin starrte den Wicht an, der dies gesagt hatte.

Es war ein elfjähriger Knirps, der schon das schönste deutsche Schiffplatt sprach und sich auch sonst viel vom deutschen Matrosencharakter angeeignet hatte, mehr als alle die anderen Jungen.

»Du Näswater verdammter, willst dien Mul halten, bis Du gefragt wirst?!« herrschte ihn der Kapitän an, schon das Bein hebend, und der Junge machte, daß er aus der gefährlichen Nähe kam.

»Well, und der Junge kann doch recht haben!« fuhr Kapitän Martin dann fort. »Ich habe einmal eine Geschichte gelesen, nur von so einem verdammten Skribifax erfunden, der nichts weiter zu tun hat, als sich solche erlogene Geschichten aus den Fingern zu klaun — da hatte mal einer etliche Jahre im Zuchthaus zu spinnen, unschuldig, glaube ich wohl. Jedenfalls wußte er, daß bei ihm zu Hause alles in Ordnung war, seine Frau und Kinder freuten sich bannig drauf, wenn er wieder raus kam, und Geld hatte er auch genug — und endlich kommt der Tag, wo er entlassen werden soll — das heißt erst bricht die Nacht an — am anderen Morgen wird ihm die Freiheit verkündet — und wie das so weit ist, der Wärter die Zelle öffnet, da hängt der Kerl an seiner Bettstelle, einen Streifen Bettuch um den Hals — der Döskopp hat die letzten Stunden nicht mehr ertragen können, hat sich vor Ungeduld zuguterletzt noch aufgehängt . . . «

»Da kommt sie!« wurde geflüstert.

Sie erschien an Deck, die Patronin.

Wie die Morgensonne ihr ins Gesicht fiel, sah man erst recht deutlich, daß sie eine schlaflose Nacht hinter sich habe.

»Guten Morgen, Leute!« sagte eine müde Stimme, die sich zur Freundlichkeit zwingen wollte.

»Guten Morgen, Frau Patronin!«

Es klang nicht so kräftig wie sonst, alle die eigentlichen Argonauten fehlten, ja — es klang überhaupt ganz anders.

Eine stille Pause.

Überall nur ein verlegenes Blicken.

Dann nahm Kapitän Martin einen Anlauf, als wolle er die Hände aus den Hosentaschen ziehen, brachte es nicht fertig, setzte sich nur in Bewegung, kam aber auch nur bis zu Juba Riata, der ihm im Wege stand.

»Well und verdammt, ich brings nicht fertig!« sagte er leise zu ihm. »Tut mir den Gefallen, macht Ihrs, und eigentlich ists überhaupt Eure verdammte Pflicht.«

Ohne ein Wort zu sagen, wandte Juba Riata, der einzige, der nicht verlegen nach der Patronin geblickt hatte, dieser sein schönes, tiefgebräuntes Antlitz zu, ging mit ruhigem, federndem Schritt auf sie zu.

»Guten Morgen, Frau Patronin.«

»Guten Morgen.«

»Sie werden ungeduldig gewartet haben.«

»Ich . . . erwarte eine schreckliche Nachricht.«

»Ich bringe sie nicht, diese Nachricht, die Sie erwarten.«

»So — hat die Begum — Ihre Drohung noch nicht ausgeführt — nur ein Aufschieben — nur eine Verzögerung . . . «

»Nein,« unterbrach Juba Riata die Sprecherin, welche die Worte kaum hervorbrachte, »Frau Rosamunde Attila befindet sich bereits wohlbehalten an Bord unseres Schiffes.«

Mit weitgeöffneten Augen richtete sich die Patronin empor.

»Was?«

»Nachts gegen drei Uhr wurde sie gebracht, von den beiden Amazonen, welche sie entführt hatten. Sie mußten sich selbst als unsere Gefangenen ausliefern. Und Frau Rosamunde ist wohlauf, natürlich ganz unbeschädigt. Nur daß sie gestern die wenigen Schläge erhalten hat. Sie befindet sich in ihrer Kabine, mußte sich niederlegen, Doktor Cohn hat es angeordnet. Denn einiges Fieber ist doch noch zu erwarten. Aber Doktor Cohn garantiert dafür, daß sie es ohne jeden Schaden überstehen wird.«

In den weit geöffneten Augen der Patronin wollte kein freudiges Staunen entstehen, nicht einmal ein ungläubiges, sie ließ diese Augen über die versammelte Mannschaft schweifen, und deren gedrücktes Verhalten war allerdings danach angetan, daß ein immer größeres Mißtrauen gegen diese Nachricht in ihr aufsteigen mußte, die nachfolgende Hiobsbotschaft erwartend.

»Wie — ist — denn — das — möglich? Gegen wen ist die Zwergin ausgetauscht worden?!«

Durch alle an Deck Anwesenden ging es wie ein erschrecktes Zucken. Weil sie es sofort erraten hatte.

Noch einmal, ehe Juba Riata eine Antwort geben konnte, ließ sie ihre Augen über Deck gleiten.

»Gegen . . . Mister Kabat?! Er hat sich freiwillig gestellt?«

Wie kam sie gerade auf den?

Nun, weil sie den Eskimo eben nicht erblickte

»Nein. Mister Kabat wäre doch nicht als Ersatz angenommen worden. Heute gegen Mitternacht regte Kapitän Stevenbrock eine Beratung an, wir kamen uns eigentlich alle entgegen, hier mußte doch etwas geschehen, und auf Mister Attila und Gruh war nicht mehr zu rech . . . «

Juba Riata brach ab, erschrocken, wie dieser eiserne Mann sonst wohl niemals erschrak.

So furchtbar veränderte sich plötzlich das Gesicht der jungen Witwe, so entsetzt blickte plötzlich ihr Auge, und so hastig klammerte sie sich an dem Bootskrahn an, neben dem sie stand.

»Georg!« hauchten ihre plötzlich schneeweiß gewordenen Lippen.

Wie ergebungsvoll neigte Juba Riata sein Haupt.

»Ja. Nur er konnte zur Auswechslung gegen die Zwergin in Betracht kommen. So sagte er, und wir sahen es ein, und wir hätten uns seinem Vorhaben auch nicht widersetzen können. Wenn wir es überhaupt gewollt. Er sprach zu überzeugend. Ja, Kapitän Georg Stevenbrock, unser Waffenmeister, hat sich freiwillig als Gefangener gestellt, um Frau Rosamunde zu befreien . . . «

Juba Riata machte schnell einen Schritt vorwärts, Klothilde sprang einige Sätze vor — beide wollten die Stürzende auffangen.

Es war nicht nötig. Mit einem Ruck hatte sich die junge Witwe mit den mädchenhaften Zügen selbst wieder aufgerichtet, und plötzlich war nichts mehr von Schreck und Entsetzen in diesen Zügen.

Langsam faltete sie die Hände an der Brust, und langsam und leise kam es hervor:

»Ich habe es gewußt, geahnt . . . nein, gewußt! Heute nacht habe ich plötzlich gewußt, daß er von mir gehen würde, um die Zwergin zu befreien. Von mir gehen würde, ohne Abschied von mir zu nehmen!«

»Er wollte Ihnen das Leid ersparen . . . «

»Und ich habe ihn nicht gehalten, obgleich ich es wußte — denn er ist von mir gegangen, um meine Sünde zu sühnen . . . «

»Um Gott, Frau Patronin, Sie meinen doch nicht, weil Sie damals darauf bestanden haben, daß Frau Rosamunde als Bürgin für ihren Gatten eintreten sollte — das haben wir alle dann gut geheißen — Mister Attila selbst hat uns dann später nicht den geringsten Vorwurf darüber gemacht!«

»Nicht das, nicht das. Nein . . . «

Und sie machte einige Schritte vorwärts, streckte die Hände, aber immer noch gefaltet, aus, den Blick zum Himmel gerichtet.

»Ihr alle sollt es hören — Ihr Kinder auch — und den Engeln im Himmel muß ich es jetzt sagen — meine Sünde — er ist von mir gegangen, — der mein Geliebter war mein Mann und mein Gatte, ohne daß ein Priester unseren Bund gesegnet hätte — und das Pfand unserer heimlichen Liebe, ein Töchterchen — es befindet sich im Hause seines Vaters — das ist mein Sünde — nur meine — denn er wollte es nicht — ich aber wollte ihm seine Freiheit lassen — nein, ich selbst wollte frei sein —— und deshalb nun ist er von mir ohne Abschied gegangen — und ich habe es gewiß — und deshalb habe ich ihn gehen lassen — wegen meiner Sünde . . . «

Alles starrte auf das weinende Weib. Wenn das Weinen auch nur in der Stimme lag.

Viele hatten von alledem gewußt. Die weiblichen Gäste an Bord. Schon während des letzten Aufenthaltes auf dem Eldoradoplateau, dann während der Fahrt nach Hamburg, während welcher die Patronin kaum noch an Deck erschienen war, dann die Reise nach Kiel zu Stevenbrocks Vater . . .

Diese weiblichen Mitglieder waren in das Geheimnis eingeweiht gewesen.

Aber auch alle anderen hatten es geahnt, wenn nicht ganz bestimmt gewußt. Es hatte nicht ausbleiben können.

Es war noch mit keinem Worte darüber gesprochen worden, auch nicht im heimlichsten Winkel vertraulich unter vier Augen.

Sie selbst hatte es jetzt öffentlich ausgesprochen.

Und wie sie es getan, da neigte sie sich etwas zurück, um die Hände vors Gesicht zu schlagen, und noch einmal erklang es in namenlosem Schmerze, in den sich auch ein undefinierbares Etwas wie von seligem Jubel mischte:

»Doch alles, was mich dazu trieb, Ach war so gut, ach, war so lieb!«

Wer kennt sie nicht, diese herrlichen Worte, diese herrlichen zwei Zeilen?

Dann kennt er Goethes »Faust« nicht.

Grethchen am Brunnen, ihre Freundin berichtet ihr das Neueste. »Hast nichts von Bärbelchen gehört?«

»Es hat gefehlt, das Bärbelchen. Es stinkt.«

Und dann geht Grethchen vom Brunnen nach Hause.

»Wie konnt ich sonst so tapfer schmälen,
Wenn tät ein armes Mägdlein fehlen.
Wie konnt ich über andrer Sünden
Nicht Wort g'nug der Zunge finden!
Wie schien mirs schwarz, und schwärzts noch gar
Mirs immer doch nicht schwarz g'nug war,
Und segnet mich und tat so groß-
Und bin nun selbst der Sünde bloß. -
Doch — alles, was mich dazu trieb,
Ach, war so gut, ach, war so lieb!«

Das muß man aber von einer gottbegnadeten Schauspielerin gehört haben.

Diese letzten zwei Zeilen! Wenn sie den Ton umschlagen läßt. Das furchtbare Weh mit grenzenloser Seligkeit verschmelzen läßt. Wenige Schauspielerinnen haben es gekonnt.

Dieses Weib hier hatte nicht nötig, eine schauspielerische Kunst anzustrengen.

Aber der Himmel, dem sie durch öffentliches Aussprechen ihr Geheimnis preisgegeben, der nahm das als Sühne an, der sorgte auch dafür, daß ihr nun nicht erst noch offenbart werden mußte, wie der Geliebte in der Erwartung gegangen war, daß nun er statt der Zwergin gemartert werden würde, um auch die letzten der Argonauten den Weibern noch willfährig zu machen.

»Doch alles, was mich dazu trieb,
Ach, war so gut, ach war so lieb!«

Dabei hatte sie langsam wieder die Hände vom Gesicht genommen, um die Arme noch höher gen Himmel auszubreiten, sich noch mehr zurückneigend.

In solch einer Stellung überblickt man ein gut Teil des Himmels.

»Georg!« schrie sie da auf.

Ja, sie erblickte ihn wirklich.

Aller Augen folgten der Richtung, die sie jetzt mit einer Hand bezeichnete, und sie alle sahen ihn.

Dort oben in einer Fensteröffnung der zu Wohnungen ausgehöhlten Felswand, in der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, stand eine kleine menschliche Figur, ein Mann, aber so klein sie auch in dieser Entfernung erschien, die Luft war so klar, daß alle doch deutlich ihren Waffenmeister erkannten, die Seele ihres Schiffes.

Doch nicht lange konnten sie sich an dem Anblick ihres Waffenmeisters weiden.

Im nächsten Augenblicke durchgellte ein einziger und doch vielstimmiger Schrei den herrlichen Frühlingsmorgen, ausgestoßen an Deck dieses Schiffes.

Georg stand nicht mehr in der Fensteröffnung er sauste herab durch die Luft!

Er überschlug sich nicht dabei, was immer der Fall ist, wenn solch ein Sturz aus großer Höhe unfreiwillig erfolgt, sondern mit Überlegung mußte er kopfüber abgegangen sein, so sauste er herab, die Brust herausgereckt, die Arme möglichst weit ausgebreitet, um das physikalische Gesetz von der Beschleunigung des fallenden Steines möglichst einzuschränken, um die Schnelligkeit durch künstlich hervorgebrachten Widerstand der Luft möglichst zu bremsen.

So wird hier beschrieben, wie er durch die Luft kopfüber herabsauste, aus der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses.

In Wirklichkeit ist gar nichts zu beschreiben.

Nur der Momentverschluß der besten Cameras, bis auf eintausendstel Sekunde einstellbar, hat es fertig gebracht, solche Springbilder photographisch festzuhalten.

Man sah ihn, als er dreiviertel des Weges zurückgelegt hatte, die Arme schnell nach unten über den Kopf zurückgeschlagen, und in demselben Moment, als der vielstimmige Schrei des Entsetzens, meist aus Kinder— und Frauenkehlen kommend, noch nicht verhallt war, spritzte auch schon dort unten das Wasser im See zwei Etagen hoch empor!

Todesstille.

»Ja wie hat er denn überhaupt das Wasser erreichen können? Dort ist doch noch ein tüchtiger Streifen Land. Konnte er denn diesen überspringen? Weshalb schlug er nicht dort unten auf? Wo er natürlich zerschmettert wäre, und wenns auch der weichste Sand gewesen? Wie hat er überhaupt das Wasser erreicht?«

Es war wohl kein einziger der Zuschauer, der diese Frage nicht aufwarf.

Natürlich nicht so, wie es hier angeführt wird. Das war nur ein einziger Zuckblitz in jedem Gehirn gewesen.

Und ebenso hatte die Todesstille nur einen einzigen Moment gewährt.

Da ertönte schon klar und deutlich Kapitän Martins sonore Bruststimme, und da setzte er auch schon sein rechtes Bein auf die fünfte Stufe der Kommandobrücke, die ersten vier Stufen übersteigend.

»Volldampf! Klar die erste Jolle! Auf die Gefechtsstationen! Auch die Rettungsmannschaft den Helm nicht vergessen!«

So, das genügte.

Kapitän Martin selbst hatte nichts vergessen.

Die Kessel mit Petroleum geheizt, wozu einige der Jungen genügten, hatten volle Dampfspannung, und Maschinisten waren ja vorhanden.

Die erste Jolle, das vorschriftsmäßige Rettungsboot, war so wie so schon ausgeschwungen, brauchte nur noch zu Wasser gelassen zu werden, und auch zur Handhabung dieses Rettungsbootes waren speziell sechs Schiffsjungen ausgebildet worden, unter Leitung des Eskimos, der als ehemaliger Walfischharpunier ja etwas vom Bootswesen verstand, er steuerte dieses Rettungsboot, wenn es von Jungen bedient wurde.

Der Signalapparat klingelte, die Schraube begann sich zu drehen, schneller und immer schneller, bis das Schiff in voller Fahrt war, und dann wurde der Dampf schon wieder abgestellt. Es waren ja nur drei Kilometer zu durchfahren, und dorthin bis nahe an das Ufer, wo das Wasser aufgespritzt war, konnte das Schiff sicher nicht, dazu ging der sandige Strand zu flach ins Wasser hinein, das war von hier aus schon mit dem bloßen Auge zu erkennen.

Deshalb das Rettungsboot, zum Herablassen klar in den Davits hängend, schon bemannt, nur der Steuerer, Mister Tabak, noch auf der Bordwand stehend.

Und wozu die ausklappbaren Panzerhelme, schon über den Kopf gestülpt?

Nun, falls es einen Kampf mit den Amazonen gab, wenn die sich auch noch der Leiche bemächtigen wollten.

Der Leiche?

Wer nicht ein phantastischer, unverbesserlicher Optimist durch und durch war, der konnte nicht anders glauben, als daß Stevenbrock nur als Leiche geborgen werden konnte.

In diesem Augenblicke, wenn er auch etwas länger währte, waren sie freilich alle solche unverbesserliche Optimisten, vielleicht sogar der sonst überaus nüchterne Kapitän Martin.

So schoß die »Argos«, wenn auch schon wieder mit stillstehender Schraube, jener Uferstelle zu.

»Er lebt, er lebt — da schwimmt er!«

So hatten erst zwei geschrien, dann stimmten sie alle, alle in denselben Ruf ein, wiederholten ihn.

Nur Kapitän Martin nicht, dazu war der viel zu selbständig und originell.

Der sagte etwas anderes, brummte es nur:

»Gott bewahre mich, muß der 'nen Schädel hamm!«

Aber die Hauptsache war es, daß niemand sich täuschte.

Dort schwamm er, teilte mit rüstigen Armen, wie über solche nur ein kerngesunder Mensch gebietet, das Wasser, hielt direkt auf das ihm entgegenkommende Schiff zu. Der mörderliche Sprung aus der doppelten Höhe eines vierstöckigen Hauses, also sagen wir 40 bis 50 Meter, war ihm gelungen.

Es sind schon wiederholt Sprünge aus solcher und aus noch größerer Höhe ins Wasser ausgeführt worden und bedeuteten für den Betreffenden keinen Todessprung.

Freilich spricht man gewöhnlich nur von wenigen Prozenten, denen solch ein Sprung glücklich gelungen ist, die feiert man dann in Zeitungen und Dichtungen.

Georg Stevenbrock gehörte eben mit zu diesen wenigen Prozenten.

Er hatte den Landstreifen übersprungen, und er verstand zu springen, den beschleunigten Fall möglichst zu bremsen, den Kopf zuletzt in die geeignetste Lage zu bringen und die Hände schützend davor zu halten, und dort, wo er aufgeschlagen, war das Wasser, wie später konstatiert wurde und gleich jetzt gesagt werden soll, fünf Meter tief, das reicht, um schon einen ganz gewaltigen Sturz abzuschwächen, und den Grund bildete ganz feiner Sand, in den er allerdings mit Händen und Armen sehr tief hineingefahren war, aber der ihn doch nicht hatte festhalten lassen, und dann eben und vor allen Dingen . . . »Gott bewahre mich, muß der 'nen Schädel hamm!«

Denn ohne einen besonderen Schädel gehts nicht. Der platzt bei solch einem Experiment sehr leicht auseinander. Selbst wenn man die Hände im Moment des Aufschlagens noch so gut zu halten versteht.

Und noch eine Episode muß erwähnt werden, an sich bedeutungslos, aber das ganze Schiffswesen charakterisierend, besonders das dieses Argonautenschiffes.

»Aus die Jolle!«

So hatte Kapitän Martin kommandiert.

Da stürzte die Patronin hin, um mit in die Jolle zu springen, um dem Geliebten mit die erste Hilfe zu bringen.

»Entschuldigen Sie, das geht nicht — das ist das Rettungsboot, das ich nach der Schiffsroutine steuere, wenn es mit Schiffsjungen bemannt ist — da kann ich keinen anderen mitnehmen.«

So sprach der Eskimo aber nicht, er sagte überhaupt kein Wort, sondern er packte die Patronin, die sich schon auf die Reeling schwingen wollte, beim Ledergürtel und schleuderte sie zurück.

»Let go!«

Die Jolle schoß hinab, wurde von dem noch in Fahrt befindlichen Schiffe geschleift, nahm eigene Fahrt an, tanzte über das aufgeregte Wasser.

Der Schwimmer wurde erreicht, Mister Tabak beugte sich über Bord, packte zum zweiten Male einen Menschen beim Gürtel, und warf ihn mit einem einzigen Ruck ins Boot. Wer das nicht fertig bringt, der eignet sich nicht zum Rettungsbootsteuerer.

Fünf Minuten später war Georg wieder an Bord seines Schiffes, wohlbehalten, nichts tat ihm weh.

Es war nicht gerade ein jubelnder Empfang, dazu war die ganze Sache gar zu großartig. Wenn jemand, um den eine ganze Familie weint, begraben werden soll, und plötzlich wird der Tote wieder lebendig, dann wird nicht gejubelt, da wird eine Empfindung ausgelöst, für die wir noch kein Wort haben.

»Was macht Frau Rosamunde?«

Das war Georgs erstes Wort.

»Sie befindet sich wohl!« wurde ihm geantwortet.

»Na dann ist ja alles gut.«

Dann berichtete er selbst, gleich hier an Deck, während sich das Schiff wieder vom Ufer entfernte.

Was ihn veranlaßt hatte, sich für die Zwergin als Gefangener zu stellen, mit was für Gefühlen er gegangen war, davon freilich konnte er der Patronin nichts berichten, das könnte auch hier nicht wiedergegeben werden.

Um Mitternacht hatte die Beratung zwischen den Hauptpersonen des schlaflosen Schiffes stattgefunden, der Waffenmeister hatte sie wohl einberufen, aber eigentlich war alles ganz von selbst gekommen. Jeder hatte dasselbe tun wollen, jeder bot sich an, sich gegen die Zwergin austauschen zu lassen. Und daß nur die Patronin hierbei fehlte, das war eigentlich auch ganz selbstverständlich gewesen.

Ebenso sah jeder sofort ein, daß bei diesem Austausch nur der Waffenmeister in Frage kommen konnte. Ihn nur hatte die Begum begehrt, nicht einmal als vollen Ersatz für die Zwergin oder eigentlich für ihren Gatten, sondern nur als Ersatz für Gruh, deren Auslieferung die Begum verlangte, sonst sollte die Zwergin gemartert und verstümmelt werden, und daß die Begum ihre Drohung ausführte, daran zweifelte niemand im geringsten, und um das zu verhindern, dazu mußte versucht werden, was nur irgendwie möglich war.

Um ein Uhr war Jokate, die von Kapitän Martin besiegte und behaltene Amazone, die einen besseren Eindruck machte als die andere dem Eskimos gehörige, abgeschickt worden, mit einem Handschreiben Stevenbrocks. Ob die Begum ihn für die Zwergin annehmen wolle, als vollgültigen Ersatz für den Zwerg sowohl als für Gruh, in der Voraussetzung natürlich, daß ihm selbst kein Haar gekrümmt würde. Wenn ja, dann solle sie die Zwergin schicken, er würde sich dann sofort stellen.

Jokate war abgegangen, allein, das Dinghy benutzend, das kleinste Boot. Daß sie zurückkommen würde, das war ganz selbstverständlich, da brauchte man ihr keinen Schwur abzunehmen, und ebenso hatte man lieber gleich darauf verzichtet, von der Begum einen Eid zu fordern. Was der heilig war, wußte man ja gar nicht. Man erinnerte sie nur an ihre kriegerische Ehre, das war das einfachste und beste.

Eine Stunde später war Jokate zurückgekehrt, mit der schriftlichen Antwort der Begum.

»Ja, ich gehe auf Deine Bedingungen ein. Wenn Du Dich stellst, will ich auch auf den Zwerg und auf das Einbein verzichten. Sobald Du Dich hier einfindest, schicke ich die Zwergin zurück. Bist Du bis Sonnenaufgang nicht hier, bleibt es beim Alten, ich sende Euch als erstes das linke Ohr der Zwergin.«

Die Unterschrift — nichts weiter.

Also so ganz war die Begum doch nicht auf die gestellten Bedingungen eingegangen. Erst sollte sich der so heiß begehrte Waffenmeister stellen, dann wollte sie die Zwergin zurückschicken, und auch davon, daß er nicht gemartert werden sollte, war nichts gesagt worden.

Nun, das war schließlich das Wenigste. Man mußte der Begum vertrauen, daß sie ihr Wort betreffs der Zwergin halten würde, das war die Hauptsache und es ging überhaupt nicht anders.

»Sie wird mich anständig behandeln und ich werde mich zu befreien wissen. Das sagt der Patronin, weiter nichts. Wüßte nichts, was ich ihr sonst noch mitzuteilen hätte. Adjüs, Käpten adjüs, Jungens, adjüs Ihr alle — na, wir sehen uns ja doch bald wieder, lange sollen mich die nicht halten können.«

Und so war Stevenbrock gegangen, ebenfalls allein, das Dinghy benutzend.

In der Nähe des Ufers mit seinen Riemen plätschernd wurde er angerufen, er meldete sich, die Begum selbst war zur Stelle, sie konnte ihren Triumph, nun auch diesen heiß ersehnten Mann in ihre Hände bekommen zu haben, worauf sie schon verzichtet hatte, nicht bemeistern.

»Die Zwergin wird sofort abgesendet, Zilla und Hektale, die beiden verräterischen Amazonen, bringen sie in Deinem Boote zurück. Diese beiden gehören also Euch, wie ich schon gesagt habe, Ihr könnt sie langsam zu Tode martern.«

Das war dem Waffenmeister jetzt sehr gleichgültig, er wollte die Zwergin auch gar nicht sehen, es genügte ihm zu hören, daß sie nur die sechs Schläge erhalten habe, nichts weiter, daß sie sich wohl befände — weshalb er sie selbst jetzt nicht sehen wollte, das wollen wir hier nicht erörtern. Man bedenke nur, in was für einer Stimmung sich dieser Mann befinden mußte.

Dagegen forderte er etwas anderes, bat darum.

»Laß mich noch so lange hier im Freien, bis sich die Zwergin an Bord befindet. Oder stelle mich an ein offenes Fenster, von dem aus ich bis dahin das Schiff sehen kann, jene Gegend, wo es jetzt liegt.«

»Wozu?«

»Weil ich ein Zeichen erwarte.«

»Was für ein Zeichen?«

»Daß die Zwergin an Bord eingetroffen ist.«

»Was ist das für ein Zeichen?«

»Das verrate ich nicht.«

Die Begum war emporgefahren.

»Du mißtraust mir?!«

»Ich bitte Dich, dieser meiner Bitte Gehör zu schenken.«

Es geschah, Georg konnte gleich hier am Ufer stehen bleiben.

Eine Viertelstunde verging, und da war es dort in der finsteren Nacht dreimal aufgeblitzt, zweimal lang und einmal kurz.

Es war das vorher verabredete Zeichen gewesen, daß Frau Rosamunde an Bord wohlbehalten abgeliefert worden war.

»So, nun gehöre ich Dir.«

Er wurde in die Felsen hineingeführt, es ging mit einem Fahrstuhl, der kein moderner zu sein brauchte, hoch hinauf, eine Bronzetür öffnete sich vor und schloß sich wieder hinter ihm, er befand sich in einer Felsenkammer, deren Wände aber mit schönen Teppichen verkleidet waren, mit einem bequemen Bett, der ganze Raum erfüllt von jenem rätselhaften Lichte, das aber nicht durch das weite, offene Fenster hinaufgelangte, da war für dieses Licht wie eine unsichtbare Grenze gezogen, man sah dieses Licht also auch nicht von draußen, und Georg war allein.

Schon vorher hatte er auf sein Ehrenwort erklären müssen, unter seiner Kleidung nicht gepanzert zu sein und keine irgendwelche Waffe bei sich zu haben. Nein, es war nicht der Fall. Was hätte er sich dieses alles erst abnehmen lassen sollen. Nachdem er sein Ehrenwort daraufhin gegeben, war er auch nicht visitiert worden.

Er streckte sich sofort auf dem Lager aus.

In welcher Gemütsstimmung?

Himmelhoch jauchzend, zu Tode bedrückt.

Mehr kann darüber nicht gesagt werden.

Georg selbst berichtete hierüber überhaupt nichts.

Alls er erwachte, mochte die Sonne schon seit einer Stunde am Himmel stehen.

Jetzt kam das Licht nur durch das offene Fenster.

Georg trat hin, sah dort unten auf dem friedlichen See die »Argos« liegen. Dieser Anblick war ihm nur unangenehm. Besser, die »Argos« wäre schon fort gewesen. Oder auch nicht.

Natürlich dachte er gleich an eine zukünftige Flucht, darauf hin sah er sich näher in seiner Zelle um, oder zunächst durch dieses Fenster.

Es war eine zwei Meter breite und drei Meter hohe Öffnung in der Felswand, nicht regelmäßig viereckig gehalten, so daß sie von unten, das heißt von draußen gesehen nicht den Eindruck eines richtigen Fensters machte. Der untere Rand war in Brusthöhe, die Felswand ungefähr ein Meter stark.

Georg schwang sich hinauf, stellte sich aufrecht, trat ans äußerste Ende, streckte die Hand aus, so weit er konnte, — da war von solch einer Glaswand nichts zu fühlen, und daß die noch weiter draußen angebracht sei, das war wohl ausgeschlossen.

Er blickte hinab. Die Höhe oder Tiefe schätzte er auf 40 bis 50 Meter. Unten lag der See. Doch nein, da kam erst noch ein Streifen grasiges Ufer, dessen Breite Georg auf sechs bis acht Meter schätzte. Und gerade ein Seemann weiß so etwas zu taxieren, läßt sich da durch große Entfernungen nicht beeinflussen. Das grasige Ufer ging dann sandig in das Wasser hinein.

Aber nicht etwa, daß Georg schon die Möglichkeit eines befreienden Sprunges dort in den See hinein erwog! Vollkommen ausgeschlossen. Es wäre hirnverbrannt gewesen, an solch eine Möglichkeit zu denken.

Immerhin, Georg wunderte sich bereits, daß man ihn hier untergebracht hatte. Seine Zelle hatte ein großes Loch, das ins Freie führte, und eine Höhe von 40 bis 50 Metern läßt sich doch durch geeignete Hilfsmittel überwinden.

Daraufhin sah sich Georg näher in seiner Zelle um. Und erkannte schnell, daß eine Flucht in der Weise, an die er gedacht, unmöglich sei.

Die vermeintlichen Teppiche welche die Wände bedeckten, bestanden aus einem löschpapierartigen Stoffe. Zwar nicht gerade leicht zerreißbar, aber doch nicht etwa durch Zusammendrehen als Stricke zu benutzen, denen man sein Körpergewicht anvertrauen kann. Eine unserer Fenstergardinen wären hierzu geeigneter gewesen. Und dasselbe galt für alles, was sich innerhalb dieses Raumes vorfand. Das Bett schien aus einer Unmenge von Stoffen und Decken zu bestehen, wenn man es aber näher betrachtete, so fand man, daß alles zusammen kein brauchbares Rettungsmaterial ergab, und wenn man es auch hätte vervierfachen können. Mit indischer oder gar chinesischer Geduld zusammengenähte Vogelfederchen, der Bettbezug durchbrochenes Seidengewebe, die Durchbrechungen wieder mit bunten Vogelfederchen übernäht . . . solches Zeug hätte der Teufel als Rettungsstrick benutzen können!

Und nun überhaupt — 40 bis 50 Meter Tiefe!

Nur in gewissen Jugendschriften und in unmöglichen Romanen dreht sich der »Held« aus Gardinen, zerschnittenen Bettüchern, Schnupftüchern, Halsbinden, Krawatten und anderem Gelumpe einen Strick zusammen, an dem er sich überhaupt in jede Tiefe hinabläßt, bis in den Mittelpunkt der Erde, wenns verlangt wird. Der verwegenste Gemsenjäger, der vor nichts zurückschreckende Wildschütz verlangt ein solides Hanfseil, ehe er sich in die Hälfte dieser Tiefe hinabläßt. Nicht bis zur Hälfte des Mittelpunktes der Erde, sondern auf 20 bis 25 Meter Tiefe.

Dieser Seemann hier dachte gar nicht daran, solches Zeug zur Herstellung eines Strickes zu benutzen, er hätte sich solch eines Gedankens geschämt. Wie er wieder zurückgekrochen war, stand die Begum in dem Raume, vielleicht gepanzert, sonst aber in einen bunten Morgenrock gehüllt — oder in ein indisches Frauenkostüm, sei gesagt.

»Du willst Dich doch nicht etwa da hinabstürzen?«

»Wozu denn?«

»Um Selbstmord zu begehen.«

»Ich denke gar nicht an so etwas.«

»Dann, bitte, denke auch nicht daran, Dich auf mich oder auf eine andere Amazone, wenn sie hier Dein Gemach betritt‚ um Dich zu bedienen oder Dir sonst Gesellschaft zu leisten, stürzen zu wollen. Es würde Dir nie gelingen. Draußen im Freien sind wir nur gewöhnliche Weiber, höchstens etwas kriegerisch und athletisch ausgebildet. Hier zwischen diesen Felswänden aber sind wir so gut wie allmächtig, Du würdest eine Art von Hexerei erleben, sobald Du mich oder eine andere ohne Erlaubnis berührst. Glaubst Du mir das?«

»Ich glaube es Dir.«

»Dann darfst Du auch niemals an einen Befreiungsversuch denken.«

»Nein, Begum, das kann ich Dir nicht versprechen. Seine Gedankenwelt mag ein Fakir oder Derwisch beherrschen, der seinen Gehirnkasten vollständig gedankenleer machen kann — ich vermag das nicht, ich muß mich immer mit geistreichen Gedanken beschäftigen.«

»Gut,« hatte die Begum gelächelt, »ich verstehe Dich, und ich will Dir nicht einmal Dein Ehrenwort abnehmen, daß Du niemals eine Befreiung versuchen willst, ebenso wenig wie ich das von den anderen Gefangenen verlangt habe. Nämlich deshalb nicht, weil es ganz und gar unmöglich ist, daß uns jemand entkommen kann. Er bräche denn sein Ehrenwort betreffs des ihm gewährten Urlaubs. Sonst aber kann er sich nicht befreien, uns nicht entschlüpfen. Wir haben deswegen wunderbare Sicherheitsmaßregeln zu treffen gewußt. Gelingt es Dir oder einem anderen Gefangenen, zu entkommen, dann sollen sie alle frei sein.«

Hoch horchte Georg auf.

»Wie, wenn es mir gelingt, von hier fortzukommen, dann sollen alle Gefangenen frei sein?!«

»Sofort.«

»Wenn ich dabei aber nun meinen Tod finde?«

»Ja, dann natürlich nicht. Sonst könntest Du auch Selbstmord begehen. Wenn es Dir gelingt, lebendig diese Felswände zu verlassen, dann gebe ich sofort sämtliche Gefangenen frei. Auf mein Ehrenwort. Und wenn Du auch noch so schwer verwundet wärest. Auf das »lebendig« kommt es dabei an. Aber es ist, unmöglich. Wir haben merkwürdige Sicherheitsmaßregeln zu treffen gewußt.« Georg machte eine Pause in seiner Erzählung, wischte sich die Wassertropfen ab, die nach dem Bade noch auf seiner Stirn perlten.

»Kinder,« fuüuhr er dann fort, »verlangt nicht von mir, daß ich Euch schildern soll, was es für Gedanken waren, die mir plötzlich durch den Kopf schosse,n als ich diese Worte vernahm.

Solche geistreiche Gedanken, mit denen ich renommiert hatte, waren es jedenfalls nicht.

Oder vielleicht gerade!

Nämlich insofern, als ja bekanntlich Genie und Wahnsinn ganz enge aneinander grenzen, wenn sie nicht sogar ein und denselben Ursprung im Prägekasten haben.

Denn Wahnsinn wars, was mich plötzlich befiel.

Jawohl, ich sagte es mir mit ganz klarem Bewußtsein, daß es ja heller Wahnsinn sei, was ich da ausführen wollte — und doch, ich tat es.

Mit einem Satze stand ich plötzlich in dem Fenster.

Das heißt, von diesem Satze selbst weiß ich nichts ich stand plötzlich in dem Fenster, unter mir Tiefe, klar zum Sprunge.

Nun aber muß ich doch noch etwas erwähnen, etwas ganz Kurioses.

Ich muß es berichten, denn ich stehe noch ganz unter dem Eindruck dieses Gedankens.

Denn ein Gedanke war es, der mich erfaßte, der meine ganze Seele und sogar meine sämtlichen Eingeweide, so weit sie hohl sind, ausfüllte, als ich so da oben stand und in die furchtbare Tiefe hinabblickte.

Ja, ich glaube sogar oder weiß es auch ganz bestimmt, daß ich mich noch während des Hinabsausens mit diesem Gedanken herumbalgte.

Ihr wißt doch, daß ich sonst eigentlich durchaus nicht dichterisch veranlagt bin. Ich glaube, ein Ochse kann ein besseres Gedicht fertig bringen als ich. Wenn der eine Kuh sieht, dann sagt er muh — zu solch einer Poesie könnte ich mich schon gar nicht aufschwingen.

Aber als ich nun da oben stand, klar zum jumpen, fing ich plötzlich zu dichten an.

Allerdings nicht selbständig, ich machte es mir leichter, ich deklamierte ein Gedicht, das schon vorher ein anderer fix und fertig gemacht hatte.

Also ich rezitierte, aber das hat bei mir schon sehr, sehr viel zu sagen.

Und was rezitierte ich?

Am geeignetsten für diese Situation wäre ja etwa »Harras, der kühne Springer« gewesen, oder noch besser, da der beritten gewesen und ich kein Pferd zwischen den Beinen hatte, etwa Schillers »Taucher«. So vielleicht die Stelle: Da ergreifts ihm die Seele mit Himmelsgewalt . . .

Zu viel mehr hatte ich ja auch gar keine Zeit.

Na‚ na‚ ich konnte mich doch nicht etwa erst in Positur stellen, das linke Bein vorgestellt, mit der rechten Hand durch die Dichterlocken gefahren, sie dann in den Westenlatz gesteckt und nun losgelegt. Wer wagt es, Rittersmann oder Knapp — und so weiter den ganzen Taucher durch bis zur Endzeile: Den Jüngling bringt keines wieder.

Da hätte die Begum den Jüngling doch gar nicht springen lassen, hätte ihn zuvor hinten beim Hosenbund genommen.

Und überhaupt, es war ja gar kein Deklamieren.

Es war nur ein einziger poetischer Blitz, der mir durch den Kopf schoß.

Und was nun war es für ein poetischer Erguß, der mir rezitativ durch den Kopf schoß, während ich vielleicht schon durch die Luft sauste?

Nein, nichts aus Schillers Taucher, obgleich das so gut gepaßt hätte.

Merkwürdig, ganz merkwürdig!

Und überhaupt hatte ich auch sonst eine ganz merkwürdige Empfindung dabei.

Daß die ganze Sache schief ginge, das war mir ja dabei sozusagen klar wie dicke Tinte.

Ich fühlte mich bereits mit zerplatztem Schädel und auch sonst wie ein Frosch, der unter die Straßenwalze geraten ist, unten liegen.

Dabei aber wußte ich auch ganz deutlich, weshalb ich das tat, wofür ich so eine aufgeplatzte Froschleiche geworden war.

Ich hatte dabei so ein himmlisches Kribbeln im Herzen.

Na kurz und gut, nun will ich zu Ende kommen — wie ich da hinunter schieße, schießen mir plötzlich zwei Zeilen durch den Kopf, an die ich sonst niemals mit einem Gedanken gedacht habe:

»Doch alles, was mich dazu trieb,
Ach, war so gut, ach, war so lieb!«


106. KAPITEL.
ES KOMMT ALLES ANDERS!

Georg hatte geendet.

Nicht so humoristisch wie er seine Erzählung begonnen und sie mit immer gesteigertem Humor durchgeführt hatte.

Jetzt schlug er, sich halb abwendend, die Hände vors Gesicht und weinte heftig.

Die Reaktion war eingetreten. Oder er wäre ja gar kein Mensch gewesen.

Und sie alle, alle blickten, von einer heiligen Scheu erfaßt, auf den Weinenden.

Wunderbar, o wunderbar!

Wieder einmal war der Beweis erbracht, daß es etwas in der Welt gibt, wovon sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt.

Dieselben Worte, die vorhin die Patronin, seine Geliebte, mit schmerzender und jauchzender Seele zugleich gesprochen, er hatte sie auch im Herzen empfunden! Wenn nicht in demselben Moment, so doch sofort hinterher!

Solche Szenen, wie zwei sich Liebende ein und denselben Gedanken im Sprechen und im Handeln haben, sind ja oft genug geschildert worden. Aber wiederum ist es Goethe, der dieses übersinnliche Thema am köstlichsten geschildert hat, und dabei in einer genialen Weise, daß einem die Selbstverständlichkeit dieses geheimnisvollen Vorgang sofort einleuchtet, in seinem Romane »Wahlverwandtschaften«.

Wunderbar, o wunderbar!

Niemand sprach es aus, sie alle starrten nur in heiliger Scheu — »als ob die Gottheit nahe wär« — nach dem starken Manne, der dort stand und wie ein Kind weinte und schluchzte.

Und es sollte auch nicht gleich darüber gesprochen werden, Georg erfuhr von diesem seltsamen Vorgange erst viel später.

Jetzt, wenn es so weit war, mußte über anderes gesprochen werden.

Es dauerte gar nicht lange, so war die Reaktion überstanden, als der starke Mann die Hände vom Gesicht nahm und den Kopf schüttelte, konnten es ebenso gut Wassertropfen sein, die er von sich schleuderte, sein Gesicht strahlte schon wieder in voller Lebenslust.

»Kinder — die Damen dort drüben haben mir das Frühstück vorzusetzen vergessen — oder ich bin zu früh davongeflogen — eigentlich wars ja auch ganz gut, daß ich noch nicht gefrühstückt hatte, sonst wäre mein Gewicht noch um einige Pfund beschwert worden und dann wäre ich natürlich noch ganz anders aufgepflanzt . . . aber wollt Ihr Euren Waffenmeister denn verhungern lassen? Siddy vorwärts, ein Frühstück! — ein Frühstück, bei dessen Einnahme ich ganz bestimmt weiß, daß ich noch nicht unter den himmlischen Lebensbäumen mit Äppeln und anderen Südfrüchten liege!«

Diese Worte wirkten, da war es mit der allgemeinen heiligen Stimmung vorbei.

Und jetzt war es Kapitän Martin, der das aussprach was logisch nun die erste Frage aller sein mußte.

»Wenn Sie sich befreien könnten, so wären auch alle die anderen Gefangenen frei?!«

»So sagte die Begum.«

»Auf Ihr Ehrenwort hat sie das versichert?«

»Ich entsinne mich ganz genau, daß sie in dieser Beziehung noch hinzufügte: auf mein Ehrenwort!«

»Dann muß sie jetzt doch die Gefangenen frei geben!«

»Eigentlich ja.«

»Und wird sie es tun?«

»Darüber, geehrter Herr Kollege, habe ich mit der Dame nicht weiter gesprochen, da befand ich mich schon unterwegs, und da war es noch höllisch zweifelhaft, wie ich unten landen würde, was von mir alles in Trümmern ginge. Die Geschichte ist gut abgelaufen, und nun müssen wir eben warten, ob die Begum ihr Wort halten wird oder nicht. Das heißt, ich habe keine Lust, bis dahin mit meinem Frühstücke zu warten. Siddy, Stephan und alle ihr anderen Götter — ein Königreich, sämtliche Königreiche der Erde und der benachbarten Planeten für eine fingerdicke Schinkenscheibe, belegt mit einem Quadratfuß Schweizerkäse mit möglichst wenig Löchern! — — Was, Mensch Doktor — sind Sie denn schon früh um fünfe besoffen?! Ich denke, das geht bei Ihnen laut Hausordnung immer erst früh um sechse los?«

So empfing Georg den Schiffsarzt, der aus dem Kajütenausgange auftauchte, sich über Deck bewegte, was aber kein Gehen zu nennen war, sich überall festklammerte.

Zunächst warf Doktor Isidor einen Blick auf den Schiffschronometer.

»Um fünf. Es ist doch schon zehn Minuten vor sechs.«

»Ach so!« lachte Georg. »Na‚ da entschuldigen Sie nur — aber immerhin, da haben Sie doch eigentlich zehn Minuten zu früh angefangen.«

»Sie irren, Herr Waffenmeister, mir ist nur mein linker Fuß eingeschlafen . . . «

»Pardon, dann ist also nur Ihr rechter bezecht . . . «

»Nichts von alledem, ich bin nüchtern wie ein Karpfen in Eisverpackung aus destilliertem Wasser. Ich wollte Sie nur fragen, ob Sie denn gar nichts zu flicken haben.

Nicht ein kleines Sprüngelchen im Schädel? Keine Darmverschlingung? Keine Trichinose? Fehlt Ihnen denn gar nichts? Sie wissen doch, wie gern ich mir ein paar Groschen extra verdiene. Stecken Sie doch mal Ihre werte Zunge heraus. Eine Mark 25 müssen dabei doch herausspringen.«

»Das haben Sie als festangestellter Schiffsarzt überhaupt alles ganz kostenlos zu machen!«

»Nee, nee, mein alter Freund! Höhere Fügungen vorbehalten — so stehts in meinem Kontrakte. Und wenn es Ihnen beliebt, dort oben aus der achten bis zehnten Etage herunterzuhuppen, das hat mit dem Schiffsdienste gar nichts zu tun, und wenn Sie dabei nicht wie ein Eierkuchen auseinander gehen, so weit Sie sich nicht unsichtbar verspritzt haben, höchstens noch als eine Fett— oder vielmehr Schweißschicht auf dem Wasser schwimmen, so ist das nicht nur lausiges Glück zu nennen, sondern dann ist das einfach höhere Fügung, und für eine solche, wenn ich da als Arzt eingreifen muß, habe ich laut Kontrakt auch etwas Honorar zu verlangen. Also nun zeigen Sie mal Ihre Zunge her! Sonst ziehe ich sie mir selber raus! Wenn sie zittert, das ist ein Zeichen, daß sich in Ihrem Kopfe etwas gelockert hat, und das werde ich dann wieder anziehen. Und im übrigen soll ich Ihnen sagen, daß Sie einmal zur Frau Rosamunde Wenzel—Attila—Albarich kommen möchten, aus dem Bett darf sie nicht, und sie seufzt nach Ihnen wie eine verstöpselte Bouteille nach dem Korkzieher.«

Da erschien Frau Rosamunde schon selbst an Deck. Ohne daß sie das ärztliche Verbot übertreten zu haben brauchte. Sie kam nicht selbst, sondern die niedliche Zwergin, in einem Puppennachtgewande saß auf den Armen der Patronin.

Es muß nachträglich bemerkt und jetzt betont werden, daß zwischen der Patronin und Georg absolut keine Szene des Wiedersehens stattgefunden hatte. Kein Wort war gewechselt worden, und wenn vielleicht ein Blick, so hatte doch niemand etwas davon bemerkt.

Und auch jetzt fand nichts Derartiges statt. Nur daß die menschliche Puppe von den Armen der Patronin hinüber auf die des Waffenmeisters wanderte.

Und dennoch, dieses Auswechseln war von einer Bedeutung, die . . . hier unmöglich geschildert werden kann, das kann jeder nur fühlen.

So kam es, daß Georg dieses zierliche Dämchen, die Gattin des kleinen und sich doch so groß fühlenden Mister Attila—Wenzel zum zweiten Male auf seinen Armen hielt.

Und diesmal färbte sich gleich von Anfang an sein braunes Gesicht so dunkelrot, wie es damals erst nachträglich geschehen, als er erfuhr und merkte, daß er kein Kind, sondern auf den Armen ein ganz perfektes Weib hielt, das in der Schöpfungsgeschichte nur etwas klein und niedlich ausgefallen war.

Und das menschliche Püppchen im Nachtkleidchen legte gleich die Ärmchen um seinen rotbraunen, muskulösen Nacken und drückte das Gesichtchen gegen die breite Brust.

»Ich weiß alles!« weinte das dünne Stimmchen an dieser Brust.

»Na‚ dann ist ja gut!« sagte Georg trocken, gab die Puppe wieder ab, auf die Arme der Patronin zurück, machte dies nur mit dem einen Arm, mit der anderen Hand langte er schon nach den beiden dicken Schinkenscheiben, die ihm soeben Siddy auf einem Teller präsentierte, ohne Brotunterlage, dafür wirklich mit Schweizerkäse belegt, klappte diese beiden Platten zusammen, so daß eine einzige von reichlich sechs Zentimeter Dicke entstand, biß hinein und fing an zu kauen.

»Hööh, höööhhh!« machte der daneben stehende Eskimo, diesen Vorgang mit Interesse beobachtend.

Nichts weiter. Wie der Eskimo aber nun das hervorbrachte, wie er dabei den Hals vorreckte, seine Schlitzaugen aufriß, so begehrlich dem Abbeißenden gewissermaßen in den Mund guckte — gab es schon wieder welche, die sich vor Lachen wälzen wollten, und unter diesen befand sich auch die Patronin.

Und diese Sache ging noch weiter, jetzt aber von anderer Seite. Jetzt war Georg derjenige, der die beiden Platten noch einmal aufklappte, dazwischengriff und dem lüsternen Eskimo etwas zwischen den Fingerspitzen darreichte.

»Da‚« brachte er mühsam aus dem vollgepfropften Munde hervor, »weil Sie gar so gefräßig sind — und Schweizerkäse so gern essen — da gebe ich Ihnen auch ein Stück Schweizerkäse ab. Verzehren Sie es mit gesundem Appetit.«

Mister Tabak blickte auf die zusammengeklemmten Fingerspitzen, machte ein verdutztes Gesicht.

»Wo denn? Ich sehe doch gar nischt.«

»Nicht? Dann muß ich jedenfalls von dem Schweizerkäse gerade ein Stück Loch erwischt haben.« Dies alles gehört ja gar nicht zur Sache, und doch, es mußte erwähnt werden, um einmal zu zeigen, wie es auf diesem Argonautenschiffe zuging, inmitten von gewaltigen Szenen und Episoden — wie es aber eigentlich auch auf jedem anderen deutschen Schiffe zugeht, besonders auf Seglern, wo sich eben die uralte Seemannszunft noch in ihrer ganzen Echtheit erhalten hat.

Ein Matrose hat sich das Bein gequetscht, das Bein muß ab, das besorgt der Kapitän, oder ein Steuermann, der auf der Seemannsschule auch etwas ärztlichen und chirurgischen Unterricht bekommen hat, in diesen Fächern ein Examen bestehen muß — na,‚ aber fragt mich nur nicht wie! — und dieser Schiffsoperateur nimmt eine Säge her, lieber eine gewöhnliche Holzsäge als die im vorschriftsmäßigen Besteckschrank vorhandene chirurgische Knochensäge weil die ihm »nicht so liegt«, und der Matrose wird festgebunden oder nur festgehalten, und dann geht die Sägerei los, ohne Chloroform, und inzwischen brodelt schon der Kessel mit heißem Teer, in den dann der Beinstumpf getaucht wird — und trotz der ganzen Fürchterlichkeit geht es nicht ohne Humor ab, der arme Kerl selbst reißt feste immer Witze, oder er wäre eben kein echter Jan Maat, kein Segelschiffsmatrose.

So etwas kann aber nur der begreifen, der selbst auf Seglern gefahren ist, oder doch auf gewöhnlichen Frachtdampfern.

Das ganze Seemannsleben ist ein einziger guter Witz, durchwürzt mit blutig—gottverdammter Furchtbarkeit! »Sie kommen — die Amazonen kommen!«

»Auf die Gefechtstationen!« kommandierte in demselben Augenblicke Stevenbrock, wozu er aber erst einen großen Schinkenkloß mit Schweizerkäse aus dem Munde hatte nehmen müssen.

Aus jener Flußmündung die sich gleich hinter Felsen verlor, kam eine Galeere heraus, auf jeder Seite mit 20 Riemen.

»Oder bringen sie uns die Gefangenen?«

»Vielleicht — jedenfalls aber müssen wir klar zum Gefecht sein — verflucht, sie lassen die Gefangenen pulen denn so erbärmlich pulen diese Weiber nicht — ja: dann können wir die Galeere auch nicht in den Grund rammen.. <

»Dee Seilmaker, he winkt!«

Ja, es war Oskar der Segelmacher — Sailmaker — der auf dem hohen Vorderdeck stand und seine Mütze lustig schwenkte.

Aber es gehörten ohne Fernrohr sehr gute Augen dazu, um in dieser Gestalt auf solche Entfernung hin den Segelmacher zu erkennen. Er trug ein schwarzes Gewand, das man an ihm ja gar nicht gewöhnt war.

»Der trägt Trauer.«

»Ja, sogar op sien Näs hat er nen swarten Klecks, der trauert so, daß er sich nicht mehr wäscht.«

»Wenn er was Trauriges brächte, würde er nicht so toll seine Mütze schwenken.«

»Grade — bei ner Leiche muß es fidel zugehen.«

So und anders klang es durcheinander, und wenn auch die eigentlichen Matrosen fehlten — diese Schiffsjungen machten schon wacker mit.

»Machen wirs kurz, fahren wir entgegen — aber immer in voller Gefechtsbereitschaft!« entschied der Waffenmeister.

Da hatten sich die beiden Schiffe schnell erreicht.

»Wir kommen allein — wir sind frei!« rief Oskar vorher noch, ehe die Galeere beilegte.

»Himmeldonnerwetter, alle Hochachtung vor der Begum!«

Die Galeere hatte beigelegt, Oskar, in ein langes pechschwarzes Gewand gekleidet, eine eigentümliche schwarze Mütze auf dem Kopfe, hob das eine Bein, um von Bord zu treten, und dabei schlug er in die Luft feierlich ein Kreuz. Es war eben der Oskar!

»Was, das sind ja alle?!«

Ja, es waren alle Gefangenen, die als freie Männer kamen, nicht nur die Argonauten, die jetzt gerudert hatten — auch die noch gefangenen Indianer, die englischen Seeleute, lauter runde Fettkugeln — sie alle befanden sich auf dieser Galeere.

»Jawoll, ich bringe sie alle mit,« erklärte Oskar gravitätisch, »ich habe sie alle befreit.«

»Du?!«

»Jawoll, als wie ick! Durch meine Überredungskunst. Oder, kann ich auch sagen, ich habe der Begum die sämtlichen Gefangenen mit Gold abgekauft. Nämlich insofern, als ich kein Sterbenswörtchen gesagt habe, und Schweigen ist bekanntlich Gold — das habe ich den Amazonen überlassen und dafür sämtliche Gefangene mitgenommen.«

So sprach Oskar in seiner übersprudelnden Laune. Und er konnte auch wirklich keine Erklärung geben. Nämlich weil er von dem befreienden Todessprunge des Waffenmeisters noch gar nichts wußte.

Vor einer halben Stunde, konnte er nur berichten, waren einige Amazonen in den Saal getreten, in dem sämtliche Gefangene beim Morgenkaffee saßen.

»Vorwärts, packt Eure Lumpen und Euch selbst.«

So wenigstens gab Oskar die Aufforderung wieder, auf eine Galeere zu gehen und sich an Bord der »Argos« zu begeben. Als freie Männer. Und sie hatten sich das nicht zum zweiten Male sagen lassen. Obgleich unter den englischen Seeleuten einige gewesen waren, die lieber in dieser angenehmen Damengesellschaft und bei diesen vollen Futtertrögen geblieben wären. Aber diese hatten mitgehen müssen, ob sie wollten oder nicht.

Mehr also konnte Oskar nicht berichten, kein anderer. Sie erfuhren es ja schnell genug, was ihnen die Freiheit eingebracht hatte, aber das war jetzt ganz Nebensache.

»Jungens, Jungens,« jubelte jetzt Georg, »da sind wir ja wieder alle beisammen! Na da mal los, vorwärts, fort von hier aus diesem sibirischen Paradiese, das uns indjische Evas zur Hölle gemacht haben! Und da wir auch die anderen Gefangenen mitnehmen, brauchen wir uns auch sonst keine Gewissensbisse zu machen . . . «

»Aber Mister Attila und Gruh?«

»Ach so, verflucht noch einmal . . . «

»Da stehen die beiden!«

Die beiden Verbündeten standen am Ufer, wollten überhaupt an Bord oder doch mit dem Schiffe sprechen, sie winkten. Der Hund war nicht zu sehen.

Die Stelle, wo sie landen, muß wegen der kommenden Ereignisse näher beschrieben werden. Es war immer noch das Nordufer des Sees, aber mehr als ein Kilometer westlich von jener Flußmündung und also überhaupt von dem Orte entfernt, wo sich diese letzten Szenen abgespielt hatten.

Hier an dieser Stelle war kein sandiges, flaches Ufer mehr, sondern felsiges, und zwar war der drei Meter über dem Wasserspiegel befindliche Felsboden glatt wie ein gemauerter Kai, und schon früher hatte man einmal ausgelotet, daß die »Argos« an dieser Stelle beilegen konnte.

Dieser Uferstreifen hatte eine Breite von etwa 20 Metern, war bis auf den Rand grünbewachsen, dann stieg die Felswand jäh empor. So war hier überhaupt das Tal bis auf eine Länge von sechs Kilometern beschaffen, zwischen Wasser und Felswand befand sich immer nur ein schmaler Uferstreifen, während dann wie auf allen anderen Seiten des Tales die einschließenden Gebirgswände meilenweit zurücktraten. Jedenfalls waren sie gar nicht mehr zu sehen, höchstens in der Ferne ihre Kämme. Erforscht war dies alles ja noch nicht.

»Die beiden wollen an Bord!« sagte Georg. »Fahren wir hin. Die kommen ja wie gerufen. Hoffentlich quirlt dieser Hunne, wie er geschworen, seiner lieblichen Gattin nicht mit dem Dolche im Herzen herum, sonst wäre meine Springerei ja ganz vergeblich gewesen.«

Die »Argos« dampfte hin, setzte nicht erst ein Boot aus, legte gleich an dem natürlichen Kai bei.

Des Waffenmeisters Worte wurden natürlich nicht ernst genommen, brauchten es auch wirklich nicht.

Der Zwerg mit dem langen Vollbart kam an Bord.

»Das sind doch alle Gefangene, alle?!«

»Ja, und Ihre Frau Gemahlin ist auch mit dabei.«

»Was?«

»Na‚ das ist Ihnen wohl unangenehm?«

Es wurde ihm berichtet, nicht von Georg, wie die ganze Befreiung gekommen war.

Wohl machte es auf den Zwerg tiefen Eindruck, was er da zu hören bekam, mit ganz besonderen Augen blickte er nach dem Waffenmeister der modernen Argonauten, der unterdessen etwas mit dem Kapitän zu besprechen hatte, und noch ganz anders blickte Gruh nach diesem.

Dann kam Georg wieder zurück geschlendert.

»Also die Sache ist nun allright. Haben Sie Ihre Gattin schon gesehen? Sie liegt in ihrer Koje, ist aber sonst kreuzfidel und puppenlustig. Ja, nun gehts fort.«

»Wohin?«

»Na zurück. Wir haben in diesem gesegneten Tal Abenteuer genug erlebt, nun wollen wir es gern den Amazonen überlassen. Es geht sofort zurück. Den Führer, der das Schiff hierher gebracht hat, haben wir ja noch an Bord.«

»Ich möchte meine Frau sprechen.«

»Bitte. Es sind doch Ihre Räumlichkeiten, in denen sich Ihre Gattin befindet.«

Der Zwerg verschwand.

»Er wird doch nicht etwa Ernst machen . . . ?« wurde auf einigen Seiten besorgt geflüstert.

»Ach, Unsinn!«

Es dauerte gar nicht lange, so erschien Attila wieder an Deck.

Vorher noch kam Stephan vorbei, der zweite Steward, und er mochte gelauscht haben.

»He hädd see nich affmorkst!« konnte er leise die Beruhigung geben.

»Ja, meine Frau geht mit Ihnen!« sagte jetzt der Zwerg.

»Und Sie?!«

»Und ich? Ja, was denken Sie denn eigentlich von mir?«

»Sie wollen hier zurückbleiben?«

Es war ein furchtbarer Ausdruck, den das bärtige Gesicht des Zwerges, der früher kindliche Züge gehabt, jetzt annahm.

»Meine Frau ist gepeitscht worden. So lange sich noch eine Amazone in diesem Tale befindet — sich lebendig darin befindet — bleibe ich hier. Und wenn sie von hier fortgehen, so folge ich ihnen nach. Bis jeder Peitschenschlag mit ihrem letzten Blutstropfen bezahlt ist. Das schwöre ich, so wahr ich ein echter Hunne bin! Und dasselbe gilt für Gruh. Kein Wort weiter.«

Nein, da war wirklich jedes weitere Wort verloren. Dermaßen hatte dieser Zwerg gesprochen.

»So leben Sie herzlich wohl!« fuhr er dann gelassen fort, mit der Hand einen Halbkreis beschreibend. »Bitte, ersparen Sie mir die Worte des Dankes, Sie wissen, wie dankbar ich Ihnen allen bin. Ersparen Sie mir auch jeden weiteren Abschied. Mitzunehmen habe ich nichts. Von meiner Frau habe ich mich bereits verabschiedet. Auch sonst ist mit ihr alles geordnet. So leben Sie herzlich wohl, ich wünsche Ihnen alles Gute.«

Und der Zwerg sprang wieder ans Ufer, das Gruh gar nicht verlassen hatte, die beiden gingen oder hüpften wieder dem nahen Walde zu, verschwanden darin.

Das drückende Schweigen, mit denen man den beiden nachblickte, war begreiflich.

Diese Stille sollte auf fürchterliche Weise unterbrochen werden.

Plötzlich ging durch die Luft ein Zischen, ein nachfolgendes Prasseln, hier und da lag an Deck oder stak im Holz ein befiederter Pfeil . . .

»Deckt Euch, sie schießen aus den Felsenlöchern!« schrie Georg und warf sich hinter die Bordwand.

Eine zweite Pfeilsalve fand an Deck schon kein menschliches Ziel mehr.

Nur einer war noch sichtbar.

Mit einem einzigen Satze stand Kapitän Martin auf der Kommandobrücke, riß aus seinem linken Oberarm einen Pfeil heraus, drehte den Signalapparat, sprang zurück nach dem Steuerrad und stand hier ebenfalls gedeckt.

Im nächsten Augenblick begann die Schraube zu arbeiten, das Schiff kam frei, ging mit voller Fahrt in den See hinaus, bald war es aus jeder Schußweite, auch aus der eines gezogenen Gewehres.

Die Deckungen konnten verlassen werden.

»Doktor Cohn,« rief als erster Kapitän Martin von der Brücke herab, »nehmen Sie so einen Pfeil und ritzen Sie seine weiße Maus oder ein Karnickel damit, ob er vergiftet ist — ich habe einen durch den Arm bekommen!«

»Herr Kapitän,« entgegnete Doktor Isidor zurück, der von jenem nicht gesehen werden konnte, an der rechten Backe die Hand, unter der reichlich Blut hervorquoll, »ich kann mich Ihnen selber bestens als Versuchskaninchen empfehlen. Wenn Sie noch 'n bißchen warten, will ich Ihnen sagen, ob oder ob nicht. Ich habe so 'n Luder durch die Backe bekommen.«

»Ist sonst noch jemand verwundet worden?« rief jetzt Georg, schnell auf eine Katze zugehend, die sich von einem Pfeile durchbohrt, lautlos an Deck krümmte, sie mit einem blitzschnellen Griff bei den Hinterbeinen aufhebend, so sie mit dem Kopfe gegen die Bordwand schmetternd und sie dann über Bord werfend, alles in einer einzigen Sekunde »Ist sonst jemand verwundet worden?«

Nur noch die Nora Pooteken meldete sich. Das Mädchen hatte einen Pfeil mitten durch die rechte Hand bekommen. Sie wurde ebenso wie Kapitän Martin gleich von Doktor Isidor in Behandlung genommen, obgleich dieser mit sich selbst genug zu tun hatte. Alle drei Verwundungen waren ohne größere Bedeutung.

Es war ein Glück gewesen, daß sich die meisten der Zurückgekehrten gerade unter der Back oder sonst unter Deck befunden hatten, sonst wäre die Sache noch ganz anders abgelaufen. Und die anderen hatten sämtlich unter ihrer Kleidung noch Schuppenpanzer getragen, bis auf Kapitän Martin, und der hatte auch richtig einen Pfeil durch den Oberarm bekommen.

»Na‚ dann ist ja alles noch gut abgelaufen, nun aber

»Um Gott, hier liegt der Duo!« erklang da der Ruf.

Der zwölfjährige Junge lag hinter zwei Fässern, deshalb hatte ihn noch niemand gesehen — lag da mit einem Pfeile durch den Hals, lebte noch.

Der hölzerne Schaft des Pfeiles mit Bronzespitze war zerbrochen, Georg, sich über den Knaben beugend, beobachtete ihn einige Augenblicke, dann zog er den Schaft mit ruhiger Hand heraus.

Es war auch das beste für den armen Jungen gewesen. Nur eine halbe Minute noch, dann ein röchelndes Gurgeln, und er streckte sich — er war in seinem eigenen Blute erstickt. In seinem letzten Todeskrampfe hatte er Georgs Hand gepackt.

»Ja, mein lieber, braver Duo,« sagte dieser jetzt, ganz ruhig, aber mit was für Augen, »Du sollst mir nicht umsonst die Hand gedrückt haben, es war ein Versprechen, das Du mir abnahmst . . . «

»Auch Albrecht ist getroffen worden, ist tot!« erklang da von neuem der Schreckensruf.

Sanft machte sich Georg frei von der Hand des toten Knaben und begab sich unter Deck, dorthin, wo Albrecht immer zu finden war, in die Kabine, wo der unglückliche, vielleicht aber auch gar nicht bedauernswerte Matrose noch immer ständig Messing putzte, und wenn man ihn daran hindern wollte, dann fing er zu weinen an. Jetzt war seine Messingputzerei beendet, für immer. Aber einen Messingstab, von einem alten Gitter stammend, hatte er doch noch auf seinen Knien, hatte ihn noch voll Seifenpomade geschmiert, hatte noch den Putzlappen in der Hand — und so kauerte er da, an die Wand gelehnt, einen Pfeil mitten im Herzen. Das Geschoß hatte seinen Weg durch das offene Bollauge gefunden. Freilich nicht etwa zufällig. Das war gänzlich ausgeschlossen.

Eine Amazone, durch die Schießscharte des Felsens zielend, hatte durch das Schiffsfenster in der Kabine den am Boden sitzenden Matrosen erblickt, hatte ihm einen Pfeil ins Herz gesendet. Das war so klar, daß gar kein anderer Gedanke aufkommen konnte.

Georg hatte sich auf den Kojenrand gesetzt, blickte einige Zeit schweigend, in Gedanken versunken, auf die Leiche herab. Daß sich seine Augenbrauen etwas zusammengezogen hatten, das war alles, was man ihm dabei ansehen konnte.

»Wohl ihm!« kam es dann in gewöhnlichem Tone über seine Lippen, und nur wenig veränderte sich noch seine Stimme. »Wohl ihm! Aber nicht wohl ihnen! Nicht diesen Weibern! Wehe ihnen! Nun ist genug! Die Rache ist mein, spricht der Herr. Gut, sie soll ihm bleiben. Ich kenne überhaupt keine Rache. Ich bin kein Hunne. Ich bin ein Christ. Vielleicht mehr, als mancher, der sich bei jeder Gelegenheit als solcher bekennt. Nein, ich will nichts von Rache wissen, sie ist eines Christen unwürdig. Aber ich kenne Notwehr, und ich kenne eine gerechte Bestrafung. Und ich kenne auch noch etwas anderes. Den prinzipiellen Kampf gegen das Böse. Das Raubtier, das mich bedroht oder in meine Herden fällt, töte ich, ohne dabei an eine Rache zu denken. Oder ich töte es auch schon vorher, ehe es mir ein Leid getan. Um mich für die Zukunft zu schützen. Weil es eben ein Raubtier ist. Und es gibt auch menschliche Raubtiere — Bestien. Schon wiederholt habe ich diese Weiber als solche erkannt, und ich war schwach genug, immer wieder an etwas wie eine Verzeihung oder an ein Vergessen zu denken. Hier sind die Folgen meiner Schwachheit. Nun aber ist genug! Jetzt bleibe auch ich hier, jetzt verlasse auch ich dieses Tal nicht eher, als bis die letzte dieser . . . «

»Sie kommen — die Amazonen greifen an!« erklang draußen der Ruf.

Georg vollendete den Satz nicht, stand auf, strich im Vorübergehen über Albrechts Haar und sprang an Deck.


107. KAPITEL.
DAS SEEGEFECHT.

Aus jener Flußmündung, die man von hier aus noch immer sehen konnte, kamen drei Galeeren hervor, zwei mit je 40 Riemen, eine bedeutend kleinere mit nur 16, ordneten sich in eine Reihe, die kleine in der Mitte, hielten direkt auf die »Argos« zu.

»Wenn die uns angreifen wollen, so ist das entweder heller Wahnsinn oder es steckt irgend eine Teufelei dahinter.«

Wer das sagte, ist gleichgültig. Es war die Meinung aller, die selbstdenkend urteilen konnten.

Ein kurzer Kriegsrat zwischen den führenden Personen, und die »Argos« ging mit halber Kraft zurück, weiter in den See hinaus.

Man wollte die Galeeren möglichst weit vom Ufer ablocken, um sie dann erst zu vernichten, damit möglichst wenig oder gar keine Amazone schwimmend das Ufer erreichen konnten.

»Pardon wird nicht gegeben, keine Schwimmende wird aufgefischt, sie wird im Wasser totgeschlagen.«

Ließen sich die Galeeren aber auch wirklich vom Ufer ablocken?

Ja, alle drei, immer seine Reihe bildend, folgten dem sich zurückziehenden Schiffe in den See hinaus.

»Das ist entweder heller Wahnsinn, oder es steckt irgend eine Teufelei dahinter.«

Es konnte nur wiederholt werden.

»Die Galeeren haben ein oberes Deck bekommen, die Ruderer sitzen darunter!« riefen jetzt die Matrosen, die in den Mars geschickt worden waren, um ihn zu panzern.

Der Mars ist der ehemalige Mastkorb. Heute haben nur die großen Passagierdampfer solch einen »Mastkorb« wieder bekommen, am Fockmast, dem ersten, in geringer Höhe angebracht, der auf Ausguck stehende Matrose befindet sich in ihm. Sonst gibt es nur noch »Marsen«, jeder Mast besitzt seinen eigenen, er ergibt sich aus der ganzen Zusammensetzung des Mastes, der ja immer aus mehreren Teilen besteht. Es ist immer eine Plattform auf der Längssäling des Untermastes, dient hauptsächlich dazu, um eine Spreizung der Stängenwanten zu gestatten, ist auch eine große Bequemlichkeit für die Matrosen, die auf ihm einmal ausruhen oder daran Arbeiten verrichten können, die auf den Rahen selbst nicht gut möglich sind. Auf Kriegsschiffen bekommt der Mars durch schützende Verkleidung wieder das Aussehen eines Korbes und heißt dann Gefechtsmarsch. Von einem »Mastkorbe« darf man niemals mehr sprechen, man wird ausgelacht, ebenso wenn man statt Wanten etwa »Strickleitern« sagt.

Die »Argos« war als Kriegsschiff gebaut worden, aus Stahl, ohne gepanzert zu sein, wohl aber konnte der erste Mars mit Panzerplatten umgeben werden und zwei Revolverkanonen aufnehmen, das war alles noch vorhanden, und das wurde jetzt schnellstens hinaufgebracht und montiert. Später waren noch zwei weitere Revolverkanonen und zwei Schnellfeuergeschütze hinzugekommen, die man für die Armierung dieses Schiffes, das nur als Frachtschiff oder Lustjacht dienen sollte, für vollständig genügend gehalten hatte.

Georg selbst enterte die Wanten auf.

Ja, das Aussehen der Galeeren hatte sich verändert. Die Ruderer waren nicht mehr zu erblicken, auch über die hohe Bordwand waren Bronzeplatten gelegt worden. Die dazu nötigen Falze waren wohl schon früher bemerkt worden, aber niemand hatte sich dabei etwas gedacht. Auch oben war niemand zu erblicken, alles vollständig geschlossen.

Wieder eine Beratung im Kartenhaus.

Die Begum hatte die gegen die Pferde versprochenen Galeeren nicht abgeliefert, oder eigentlich war das des Waffenmeisters Schuld, mit dem sie als Hauptperson verkehrte, er hatte die Galeeren damals beim ersten Besuch in dem Weiberquartier sich aussuchen und gleich mitnehmen sollen, hatte es nicht getan, später hatte man mit den Amazonen immer schon so halb und halb auf dem Kriegsfuße gestanden. Hätte Georg die Galeeren noch nachträglich gefordert, er hätte sie sicher erhalten, aber es war eben unterlassen worden.

Dort schwamm noch die Galeere, mit der die Gefangenen gekommen waren.

Noch hatte man Zeit, sich ihr, ohne die Richtung viel zu ändern, zu nähern, an ihr Schieß— und Rammversuche zu machen.

Wozu aber eigentlich? Wenn die dünnen Schuppenpanzer den Spitzkugeln der Infanteriegewehre trotzten, dann durfte man sicher sein, daß die mehr als zolldicken Bronzeplatten der Galeeren, ebenfalls gehärtet, auch nicht von achtzölligen Hartgußgeschossen der Schnellfeuergeschütze durchschlagen wurden. Und ein versuchsweises Rammen dieser Galeere?

Gewiß, wenn dieses Fünftausendtonnenschiff, wenn es auch keinen Rammsporn besaß, bei zwölf Knoten Fahrt mit seinem scharfen Bug gegen solch ein Fahrzeug traf, dann mußte dieses in Trümmer gehen, es konnte gepanzert sein wie es wollte, oder es hörte überhaupt alles auf.

Freilich konnte auch die »Argos« schwer beschädigt, ihr der Vordersteven eingedrückt werden. Nicht, daß das Schiff deshalb gesunken wäre. Dieser hinter dem Bug liegende Raum ist immer ganz für sich isoliert. Aber jedenfalls konnte man solch einen Rammstoß nicht wiederholen.

Nein, wenn gerammt werden sollte, dann gleich direkt solch eine feindliche Galeere. Doch nur im höchsten Notfalle. Man hatte überhaupt eine ganz andere Angriffsweise vor. Es war eben nur eine Beratung gewesen, um den Vor— und Nachteil eines Rammens zu erwägen. Denn wer das Kommando dazu gab, der hatte dann doch auch die Verantwortung dafür.

Es war noch Zeit genug. Nur immer weiter in den See hinaus.

Die Zeit wurde natürlich ausgenützt. Die Argonauten panzerten sich.

Als Merlin damals in der Nacht an Bord gekommen war, hatte die »Argos« auf seine Warnung hin die bisherige Anlegestelle verlassen müssen, die Wasserschlucht, diese ganze Küstengegend, sie war für das Schiff zu gefährlich, es konnte, wenn die Amazonen feindlich vorgingen, von oben herab mit Felsblöcken beworfen werden.

Vorher aber war alles mitgenommen worden, was man zu gebrauchen gedachte, nach dem Rate Merlins. Vor allen Dingen Panzerrüstungen und Bronzewaffen, nicht nur Bogen und Pfeil. Die ganze Nacht hatten die 32 Jungen geschleppt, die anderen auch, selbst die Damen, oder die hatten sonstwie mit Hand angelegt.

Jeder der Argonauten konnte sich vom Scheitel bis zur Sohle in Bronzeschuppen einhüllen, für jeden war etwas Passendes vorhanden, und dann waren die Rüstungen noch lange nicht erschöpft. Auch die Indianer und die englischen Matrosen hätten sich panzern können. Nein, es war nicht möglich. Für diese Fettkugeln gab es keine passende Rüstungen, und die waren nicht so leicht zu verändern.

Georg begab sich ins Zwischendeck in die Batterie.

Hier hielten sich für gewöhnlich die zirka 40 Indianer auf, die seiner Zeit gegen besiegte Amazonen ausgetauscht worden waren.

Die ehemaligen Fettkugeln hatten in den wenigen Tagen schon ganz bedeutend abgenommen. Besonders der kleine Fuchs, wenn man den noch etwas zusammenquetschte, dann ging er vielleicht schon in das weiteste Panzerkostüm hinein.

Doktor Cohn hatte sie in die Entfettungskur genommen. Ganz mageres, scharfgeröstetes Fleisch, so viel sie wollten, aber sonst nichts weiter, und als Getränk nur kohlensaures Wasser, an Bord selbst hergestellt, gewürzt mit viel Pfefferminzgeist und etwas Chinin — chlorsaurem Chinin, das sich viel leichter in Wasser löst als das sonst übliche schwefelsaure, nur teurer ist.

Auch hiervon konnten sie trinken, so viel sie wollten. Aber wer dieses Zeug trinkt, der muß von einem wahren Höllendurst gepeinigt werden!

Pfefferminzgeschmack verträgt sich nicht mit Wasser. Das weiß jeder, der ein starkes Pfefferminzplätzchen »nutscht« und hinterher kaltes Wasser trinkt. Das tut im Halse förmlich weh. Obgleich ganz harmlos. Kohlensäure verstärkt noch diese Wirkung.

Chinin ist das Bitterste was wir kennen, und dasselbe gilt von allen seinen Salzen, die in der Apotheke überhaupt nur zu haben sind, und auch nur auf ärztliches Rezept hin. Die rätselhafte Wirkung des unersetzlichen Chinins gegen alle Fiebererscheinungen beruht, wie erst neuere Forschungen dargelegt haben, darauf, daß es den Eiweißumsatz des tierischen Körpers bei regelmäßigen Gaben auf ein Minimum beschränkt. Die schon vorhandenen Eiweißzellen verbrauchen sich nicht mehr. Weshalb nicht, das ist das Rätsel. Also kann man Chinin auch nehmen, ohne Fieber bekämpfen zu wollen. Wenn man für längere Zeit schwere körperliche oder geistige Arbeit verrichten will, wobei ein voller Magen hinderlich ist, überhaupt jede Sättigung — Sportsleute und konzentrierte Geistesarbeiter wissen schon, was hiermit gemeint ist — so braucht man während dieser Zeit täglich nur ein halbes Gramm Chinin zu nehmen, das tut Wunder! Dabei ist es absolut unschädlich. Nur ab und zu etwas Ohrensausen muß man mit in Kauf nehmen. Wenn mancher Arzt hiervon nichts wissen will, weil er davon nichts auf der Universität gelehrt bekommen hat, so muß man lieber dem glauben, der sich viele Jahre lang in tropischen Gegenden, in verpesteten Hafenstädten und auf Pilgerschiffen mit Fiebern aller Art herumgebalgt hat, nicht als Kranker gepflegt wurde, sondern dabei immer schwer, furchtbar schwer arbeiten mußte.

So verhungerten diese Indianer langsam, ohne etwas davon zu merken, ohne sich geschwächt zu fühlen, und auch über ihren Durst wurden sie getäuscht, sie verdursteten auch langsam, ohne es zu merken. Fett und Stärke gab es nicht, sie fühlten sich satt, aber das Eiweiß der Fleischnahrung wurde gar nicht verbraucht — da schrumpelten sie zusehends zusammen, was durch die Wasserentziehung noch verstärkt wurde.

Das heißt, daß man nicht falsch versteht: das hier war nicht etwa eine geheimnisvolle Wunderkur, um »dünn zu werden«, die patentiert werden kann. Gegen Fettsucht gebt es noch kein Mittel. Da hilft auch Karlsbad Nichts. Da quält man sich in vier Wochen 20 Pfund vom Leibe, dann bringt man nach Hause so herrlichen Appetit mit, und nach zwei Wochen hat man wieder um 25 Pfund zugenommen. Und so ist, es mit allem, was auch gegen die Dickleibigkeit, die an sich eine normale ist, angewendet wird. Oder man wird dünn und stirbt. Als einzig wirklich wirksames Mittel gegen angeborene oder krankhafte Fettsucht kann nur empfohlen werden der Ankauf von Türkenlosen, oder von einer chinesischen Goldmine, oder die Zulegung einer geeigneten Schwiegermutter, oder eines verschuldeten Schwiegersohnes, oder eines Hauses mit Schwamm oder so etwas Ähnliches.

Hier lag ja ein ganz anderer Fall vor. Diese Gefangenen hatten zweifellos irgend ein Mittel bekommen welches den Verbrennungsprozeß des Fettes, worin auch das Stärkemehl umgewandelt wird, aufhob. Dadurch waren sie so fett geworden. Nun wurde das entgegengesetzte Mittel angewendet, da schrumpelten sie wieder bis auf die Muskeln zusammen.

Dazu auch sonst noch eine geeignete Lebensweise. Mit Bogenschießen hatten die körperlichen Übungen angefangen. Der Indianer hat nun einmal eine Vorliebe für Bogen und Pfeil, es ist ihm eine heilige Waffe, so wie uns einst das Schwert, und wo in Nordamerika noch Büffel vorkommen — ihre Ausrottung ist nicht gar so schlimm, wie man in Zeitungen manchmal liest — da dürfen sie auch nur mit Bogen und Pfeil erlegt werden, das ist eine heilige Tradition, hat überhaupt etwas mit Religion zu tun. Weil sämtliche nordamerikanischen Indianer Sonnenanbeter sind — Manitou ist nur etwas Neutrales, dem indischen Brahma ganz vergleichbar, wird nicht verehrt der Pfeil ist das Symbol des Sonnenstrahls, und der Büffel ist der Sonne geheiligt. Dann, als die Bewegungsfreiheit eingeleitet war, kamen Ballspiele daran. Alle nordamerikanischen Indianer sind leidenschaftliche Ballspieler, da werden die würdevollen Krieger zu Kindern, fast alle unsere Ballspiele sind indianischen Ursprungs. Und die Batterie war mit Dampfheizung versehen, und sie wurde geheizt. Da schwamm in dieser Batterie manchmal alles.

Und da begann sich auch wieder die Seele aus dem Fett zu schälen. Denn die Seele war in diesem Fett erstickt gewesen, wirklich erstickt.

Jetzt standen sie alle an den Bollaugen und beobachteten die drei goldschimmernden Galeeren. Freilich immer noch unförmliche Gestalten.

»Nun, Stahlherz, was sagst Du dazu? redete Georg den einen an. »Dort kommen die Amazonen, um uns anzugreifen.«

Der rote Krieger, der wieder wie alle anderen seinen Schädel rasierte und die Skalplocke pflegte, was während der Gefangenschaft ganz vernachlässigt worden war, antwortete nicht, schweigend blickte er mit furchtbar drohenden Augen nach den Galeeren.

»Uff,« übernahm statt seiner der kleine Fuchs die Antwort, »gib mir Waffen, daß ich gegen diese Weiber kämpfen kann — gib mir eine Peitsche, daß ich diese Hündinnen totpeitschen kann.«

»Weshalb denn? Was haben sie Dir getan? Sie haben Euch doch so gut behandelt.«

Ein allgemeines Gemurmel entstand.

»Sie haben unsere Squaws und Kinder getötet — — das Blut meines Sohnes raucht noch und die Sonne lacht noch über den feigen Salamander — meine Töchter singen mir jede Nacht klagend ins Ohr, daß sie noch keine Vergessenheit in Manitous Schatten finden können . . . «

So und anders klang es durcheinander, murmelnd und lauter und immer grimmiger.

»Nach einer Woche wollen wir sehen, wer in einen Panzer geht, jetzt ist noch bei keinem möglich . . . «

»Wir sind Krieger, wir bieten dem Feinde offen die Brust . . . «

»Und laßt sie Euch durchlöchern. Fort da! Jetzt werden die Gucklöcher zugemacht.«

Georg machte kurzen Prozeß mit diesen edlen Rothäuten, und er mußte sich bei ihnen in mächtigen Respekt zu setzen gewußt haben, daß sie sich von ihm und den Matrosen, die er mitgebracht hatte, so einfach bei Seite schieben ließen.

Die Bollaugen wurden mit den eisernen Platten geschlossen, die besonderen Schraubenschlüssel dazu mitgenommen.

Ein schrilles Klingeln rief alle Mann auf ihre Stationen.

»Die Mitte des Sees ist so ziemlich erreicht!« sagte Kapitän Martin. »Herr Kollege, jetzt sind Sie nicht mehr Kargo—Kapitän, sondern nur noch der Waffenmeister, Sie haben die taktische Führung, ich nur die nautische, lasse nur Ihre Kommandos ausführen.«

»Stopp! Wenden gegen den Feind!«

Es wurde ausgeführt, die »Argos« drehte den Bug den drei Galeeren zu, blieb still liegen.

Ein Lachen erscholl. Es kam aus der Hühnerkammer.

Nur der Eskimo hatte seine Gelania oder Germania in einer besonderen Kabine untergebracht, er wollte sie »dressieren«, sagte er, ohne sich weiter zu offenbaren. Viel Liebelei schien auch wirklich nicht dabei zu sein, denn er hatte seiner zukünftigen Gattin bereits einen stählernen Ring durch die Nase gezogen, um sie besser »anlaschen« zu können, und das hat doch eigentlich mit der wahren Liebe nichts zu tun.

Kapitän Martin hatte seine lebendige Schokoladenware in den Hühnerstall gesperrt, heute früh waren noch die beiden anderen Amazonen hinzugekommen.

Bei dem »Hühnerstall« durfte man sich aber nichts besonderes Grausames oder auch nur Rücksichtsloses vorstellen. Na ja, ein regelrechter Hühnerstall war es, der sich auf Backbordseite gleich vor der Kommandobrücke befand, gegenüber auf Steuerbordseite war der Schweinestall, beide dazu bestimmt, um lebendiges Federvieh oder Vierbeiner als Proviant mit auf die Reise zu nehmen.

Aber keiner von den beiden Ställen wurde jetzt zu diesem Zwecke benutzt, beide glänzten vor Sauberkeit, die drei Weiber hatten es höchst komfortabel bekommen, und jeder erstklassige Kajütenpassagier wäre mit solchen Kabinen zufrieden gewesen, hätte nicht geahnt, daß er in einem Schweine- oder Hühnerstall hauste.

An dem in niedriger Kopfhöhe angebrachten vergitterten Fenster — denn vergittert müssen solche Stallfenster natürlich sein, einmal damit die Hühner nicht heraus, und dann, damit die zweibeinigen Hühnermarder, besonders in orientalischen Häfen, nicht hinein können — zeigte sich das Gesicht einer Amazone, nur die konnte gelacht haben.

Georg hatte sein Kommando gegeben, nun hatte er weiter nichts zu tun als die drei Galeeren zu beobachten, und dabei konnte er sich auch unterhalten.

»Was hast Du zu lachen, Weib?«

»Zilla lacht über Euch.«

»Und warum lacht Zilla über uns?«

»Weil Ihr in die Mitte des Sees gefahren seid, um die Amazonen hier zu erwarten.«

»Nun, was gibts denn da zu lachen?«

»Weil Ihr nun verloren seid!«

»Weshalb sollen wir denn verloren sein?« fragte Georg ganz gleichgültig.

»Ergebt Euch auf Gnade und Ungnade.«

»Und weshalb sollen wir uns ergeben? Weil wir jetzt verloren sind. Nicht wahr?«

»In zehn Minuten werdet Ihr wissen, weshalb Ihr verloren seid.«

Einen starren Blick in das schöne, trotzige Gesicht der Sprecherin, und Georg wandte sich gleichgültig ab und erstieg die Kommandobrücke.

Es war ihm aber durchaus nicht so gleichgültig zu Mute.

Was hatte die Amazone gemeint?

Wodurch konnten die drei Rudergaleeren diesem mächtigen Schiffe so gefährlich werden?

Was wurde dort drüben für eine Teufelei ausgeheckt?

War es nicht schon geradezu unheimlich, daß diese armseligen Rudergaleeren, mochten sie auch noch so fest gegen Geschosse aller Art gepanzert sein, diesem dampfenden Schiffe überhaupt in die Mitte des Sees zu folgen wagten?

Und Ihnen allen, die auch nichts von diesen höhnischen Bemerkungen der Amazone wußten, sollte gleich ebenso unheimlich zumute werden.

Kaum hatte die »Argos« gewendet, sonst still liegen bleibend, also ihre Absicht kundgebend, den Feind zu erwarten, als sich die drei Galeeren zu trennen begannen. Nur die mittlere, die kleine, fuhr weiter gerade aus, aber viel langsamer rudernd, die beiden anderen beschrieben nach links und rechts einen Bogen.

Das sah ja ganz danach aus, als wollten die Galeeren zum tatsächlichen Angriff übergehen, das Schiff einschließen, um es von allen Seiten anzugreifen!

Und nichts anderes hatte der Feind vor, das war ja ganz offenbar!

Aber mit welchem Rechte! Wie kamen die dazu! Das war das Unheimliche dabei.

500 Meter Entfernung! Die beiden Schnellfeuergeschütze nahmen die linke Galeere aufs Korn, die Schüsse krachten. Von zehn ging nur ein einziger fehl, die anderen neun trafen ihr Ziel, an den verschiedensten Rumpfteilen. Aber gleichgültig, ob es Hartgußspitzkugeln waren oder Granaten, sie brachten keine Wirkung hervor.

Von einer explodierenden Granata wurden einige Riemen zersplittert, das war alles, und aus den Ruderlöchern schoben sich alsbald neue hervor.

»Klar zum Ramm!«

Aber es sollte zunächst nicht direkt gerammt werden, der Kriegsplan war ein anderer, nur mußte für dieses Manöver, das den Feind hülflos machen sollte, alles klar zum Ramm sein.

Die »Argos« schoß mit Volldampf los, schneller und immer schneller, bis sie sich noch 100 Meter vor der auserwählten Galeere in schnellster Fahrt befand, die ihr möglich war, also 12 Knoten in der Stunde machte.

Kapitän Martin selbst hatte die Speichen des Steuerrades ergriffen. Er war der einzige von uns, der noch seine gewöhnliche Kleidung trug. Alle anderen hatten sich in schuppengepanzerte Ritter verwandelt. Kapitän Martin konnte sich von seinem dunkelblauen Bratenrock nicht trennen. Aber darunter trug er ebenfalls einen Schuppenpanzer, und auch Kopf und Hals waren durch solch einen Klapphelm geschützt. Denn man mußte ja erwarten, beschossen zu werden, die Riemenlöcher waren doch ganz vorzügliche Schießscharten.

Und was für eine Gefechtsweise wollte man anwenden, um die Galeeren unschädlich zu machen? Nun, ganz genau dieselbe, welche im Altertum und Mittelalter die Rudergaleeren gegen einander anwendeten, so lange sie sich noch im eigentlichen Seegefecht befanden, so lange noch nicht eine die andere enterte, worauf der Kampf Mann gegen Mann begann.

Zuerst ging es direkt los auf die auserwählte Galeere, sie hätte gar nicht mehr ausweichen können. Im letzten Augenblick aber, ehe ihr Vorderteil von dem scharfen Bug des Riesen mit furchtbarer Kraft getroffen wurde, drehte Kapitän Martin noch einmal das Steuerrad, nur eine ganz leichte Vierteldrehung, aber sie genügte, um das Schiff etwas aus dem Kurs zu lenken, so schoß es ganz dicht an der Galeere vorüber, freilich nicht so ganz harmlos — ein knatterndes Krachen, und die sämtlichen 20 Riemen auf Steuerbordseite waren dicht an den Ruderlöchern abgebrochen!

Das selbe Manöver, das schon in alten und mittelalterlichen Zeiten die Rudergaleeren auszuführen suchten, um sich gegenseitig unschädlich zu machen. Durch dichtes Vorüberstreichen die Riemenreihen abzuknacken. War eine Galeere so manövrierunfähig gemacht worden, dann konnte man ja ruhig die beste Zeit und Gelegenheit zum Entern abwarten, oder sie konnte beliebig von allen Seiten mit Katapulten und Ballisten beschossen werden, der Gegner vermochte sich nicht mehr zu drehen, um den unförmlichen, unbeweglichen Schleudermaschinen die nötige Richtung zu geben.

So, dieses war der erste Streich gewesen. Und mochte jede Galeere noch so viel Ruderstangen in Reserve mit führen, sie wurden alle weggeknackt. Was man dann mit den manövrierunfähigen Fahrzeugen anfing, wie man sie etwa wie die Nüsse aufknacken wollte, um zu ihrem lebendigen Inhalte zu gelangen, das konnte ja später beraten werden, wenn es so weit war, dann hatte man Zeit genug.

Also zunächst gewendet, aber nicht völlig, um dieser selben Galeere auch die zweite Ruderreihe abzuknacken, das war nicht nötig, jetzt erst einmal gegen die zweite große Galeere losgehalten . . .

»Backbord, Ruder hart Backbord!« schrie da plötzlich der mit auf der Kommandobrücke befindliche Georg und stürzte sich auf das Steuerrad.

Und da ertönten auch schon andere Schreie des Schreckens, und wie Kapitän Martin nach Backbord blickte, da sah auch er es, was auch diesen eisernen Mann ganz außer Fassung bringen mußte.

Da kommt von dieser Seite plötzlich die kleinere Galeere auf den Stahlriesen losgeschossen, oder auch wie ein goldener Vogel geflogen, indem nämlich die 16 Riemen, auf jeder Seite 8, wagerecht gehalten werden, also es wird nicht mehr gerudert, und dennoch kommt diese Galeere mit ungeheurer Schnelligkeit herangeschossen, daß das Wasser am Bug hoch aufschäumt, durch die in Schwebe gehaltenen Ruderstangen macht sie aber den Eindruck eines goldenen Riesenvogels, und ehe man noch weiter etwas denken kann, da ist es schon geschehen . . .

Ein furchtbarer Krach, ein Bersten und Splittern, und da geht die Galeere, durch den eigenen Anprall zurückgeworfen, schon wieder rückwärts, vollkommen unbeschädigt, so weit man das beurteilen kann — die »Argos« aber neigt sich schwer nach Backbord über! Mehr und immer mehr!

Es war der vordere Kohlenbunker, der ein Leck erhalten halte. Das wußte man doch sofort, ohne weitere Untersuchung. Er war leer gewesen, jetzt füllte er sich schnell mit Wasser, und da dabei ein Gewicht von fast 100 Tonnen in Frage kam, so mußte das deutlich und immer mehr zu merken sein.

Weiter gefährlich konnte dieses Leck für die »Argos« nicht werden. Das ursprüngliche Kriegsschiff hatte natürlich Schottendichtung, war in große Kammern geteilt, oder Abteilungen, wollen wir sagen, die sämtlich für sich wasserdicht geschlossen werden konnten, abgesehen davon, daß überhaupt jede Tür wasserdicht schloß und das Kommando »Klar zum Ramm« hatte schon vorher alles geschlossen.

Von den 14 vorhandenen Schottenabteilungen konnten sich acht vollkommen mit Wasser füllen, ehe das Schiff wirklich sank.

Nein, dieses Leck war es nicht, was die ganze Mannschaft mit lähmendem Entsetzen erfüllte. Läßt man sich in ein Seegefecht ein, so muß man so etwas eben erwarten.

Das Entsetzenerregende war, wie die kleine Galeere plötzlich losgeschossen war, ohne Hilfe der 16 Riemen, die dem Fahrzeug ja überhaupt gar keine solche Schnelligkeit verleihen konnten, das war es gewesen, daß es jedem nicht anders zumute war, als ob plötzlich der Himmel einstürzte.

»Das ist Hexerei, das ging nicht mit rechten Dingen zu!«

»Hahahahaha!« erklang es hohnlachend aus dem Hühnerstall.

Und da — schon wieder ein neues Entsetzen!

Da kam auch eine der großen Galeeren, und zwar dieselbe, die nur noch über eine einzige Ruderreihe verfügte, mit der Schnelligkeit eines Pfeiles auf die »Argos« losgeschossen, von einer geheimnisvollen Kraft getrieben, ein zweiter furchtbarer Krach, ein Bersten und Splittern, und die »Argos« war zum zweiten Male gerammt worden, wieder auf Backbordseitse, aber weiter nach hinten.

Diesmal konnte es nur die Eiskammer gewesen sein, die leckgerammt worden war, ein Raum von 60 Kubikmetern, und schon merkte man, wie sich das Schiff noch mehr nach Backbord über legte.

Flucht!

Es gab nichts anderes Flucht vor diesen unheimlichen Höllengaleeren!

Wehe, wenn der dritte Stoß unter Wasser mehr mittschiffs die Stahlplatten zermalmte! Dort lagen die Kesselund Maschinenräume. Nicht, daß das Schiff gesunken wäre, wenn sich auch diese mit Wasser gefüllt hätten. Aber eine unter Wasser stehende Maschine kann doch nicht etwa arbeiten, und mit der Kesselheizung ist es dann auch vorbei.

Und der Stahlriese floh vor den Bronzezwergen, floh wie die Richtung gerade gewesen, mit voller Kraft dem Südosten zu.

Und es war auch gerade die höchste Zeit gewesen, daß Kapitän Martin volle Kraft gegeben. Diese Weiber wußten recht wohl, wo solch eines Schiffes empfindlichste Stelle lag, durch deren Verwundung man sofort das ganze Schiff völlig manövrierunfähig machen konnte.

In demselben Augenblick, da sich das Schiff‚ das ziemlich auf der Stelle gewendet hatte, wieder in volle Fahrt setzte, schoß hinten die dritte Galeere mit jener unheimlichen Geschwindigkeit vorbei, wozu sie vorher auch noch die Riemen eingezogen hatte.

Sie rutschte gerade unter dem geschweiften Heck durch.

Nur eine Sekunde früher, und sie hätte dem Schiffe das Steuer abgebrochen, wenn bei ihrem Tiefgange nicht gar die Schraube!

So war die »Argos« im allerletzten Augenblick, weil sie sich schon in Fahrt befunden, noch diesem Schicksale entgangen.

»Jammer, o Jammer, was ist das für eine teuflische Hexerei der Hölle!«

So schrie, so heulte Stevenbrock in heller Verzweiflung.

Er war der einzige, der dieser seiner Verzweiflung überhaupt noch in Worten Luft machen konnte.

Alle anderen waren ob dieser Vorgänge einfach wie vor den Kopf geschlagen.

Was ja allerdings nicht etwa verhinderte, daß Kapitän Martin mit klarer Stimme seine Kommandos gab und daß diese sofort ausgeführt wurden.

Die »Argos« floh also in südöstlicher Richtung davon, stark auf Backbordseite liegend, und da jeder Dampfer doch nur dann seine höchste Schnelligkeit, die ihm der Erbauer garantiert, entwickelt, wenn er sich im besten vorschriftsmäßigen Zustande befindet, wozu auch ein ganz genaues Ausbalancieren gehört, so war es ganz selbstverständlich, daß die »Argos« jetzt nicht mehr 12 Knoten pro Stunde machen konnte. Diese schiefe Lage genügte schon, um zwei Knoten vermissen zu lassen.

Immerhin, zehn Knoten machte sie noch.

Jetzt aber kam man erst richtig zum Bewußtsein, was hier für ein unerklärliches Rätsel vorlag.

Die drei Galeeren folgten dem Schraubendampfer!

Folgten ihm, ohne überhaupt die Ruderstangen noch zu benutzen.

Allerdings konnten sie die »Argos« nicht einholen. Sie fuhren langsamer, sie blieben zurück. Das war schon nach einer halben Minute deutlich zu merken.

Aber acht Knoten Fahrt machten sie doch sicher, die kleinere, die den größeren immer mehr vorauskam, noch etwas mehr.

Wie war dieses Rätsel zu erklären?

Nun, man brauchte ja nur anzunehmen, daß auch diese Galeeren eine Maschine im Bauche hatten, die hinten eine Schiffsschraube drehte, dann war das Rätsel gleich gelöst.

Aber Georg hatte bereits vorhin, als die beiden Galeeren auf das Schiff losgeschossen waren, etwas Besonderes bemerkt, und jetzt sahen es alle.

Die Galeeren, die nicht mehr gerudert wurden und nun erst recht so schnell fahren konnten, ließen hinter sich im Wasser Streifen, jede deren zwei, links und rechts von sich, es war nicht anders, als ob Luft in Blasen emporstiege.

Wer irgend eine Erfahrung darin hatte, mußte sofort auf den Gedanken kommen, daß diese Galeeren durch die rückwärts wirkende Kraft von Wasser getrieben wurden, das man aus zu beiden Seiten des Fahrzeugs angebrachten Röhren herauspreßte.

Man mache einen Versuch, es ist ein hübsches Experiment, man kann Kindern ein Spielzeug fertigen, ein selbstfahrendes Schiff, das sich bei einiger Überlegung immer weiter vervollkommnen läßt.

Man nimmt einen wasserdichten Kasten, dem man möglichst das Aussehen eines Schiffes gibt, fügt eine Glasröhre ein, die hinten den Kasten noch unter Wasser durchbohrt, das Loch wird mit Pech oder Wachs wasserdicht gemacht, in der Mitte des Schiffes ist das andere Ende der Röhre nach oben gebogen, darauf wird ein kleiner Kasten gesetzt, ein Bassin, alles wasserdicht gemacht.

Wenn man weiß, worauf es ankommt, läßt sich das alles ganz leicht arrangieren und immer verbessern.

Füllt man nun dieses Bassin mit Wasser, so drückt dieses doch nach unten, es drängt sich hinten zu der Röhre, die sich noch unter Wasser befindet, heraus, dadurch wird das Schiffchen vorwärts getrieben.

Dies ist die allereinfachste Konstruktion. Nun aber kann man auch zwei Glasröhren nehmen, auf jeder Seite des Schiffchens eine anbringen. Setzt man nun auch noch zwei getrennte Wasserbassins auf, so hat man schon die Möglichkeit, das Schiffchen auch ohne Steuerruder nach Belieben zu lenken, indem man in das eine Bassin mehr Wasser gießt als in das andere, oder man kann auch kleine Hähne anbringen, oder schon einfache Quetschhähne genügen, nur müssen dann die Glasröhren einmal durch etwas Gummischlauch unterbrochen sein.

Dieser Art von Fortbewegung von Wasserfahrzeugen dürfte die Zukunft gehören! Denn auch die Schraube wird wieder einmal verdrängt werden. Sicher aber der Riemen, das gewöhnliche Ruder beim Ruderboot. Wobei wir bei der Erfindung der uralten Völker stehen geblieben sind, die im Laufe von ungezählten Jahrtausenden noch nicht den geringsten Fortschritt gemacht haben.

Aber nicht, daß sich in dem Boote ein Bassin befindet, in das immer Wasser nachgegossen werden muß. Sondern die bisherige Bewegung des Ruderns wird von der Mannschaft auf Pumpenhebeln übertragen, das Wasser wird in den Röhren vorn aufgesaugt und hinten wieder herausgepreßt.

Der Vorteil solcher Boote ist klar. Die Mannschaft blickt dorthin, wohin sie fährt. Durch Umschaltung kann sofort auch rückwärts gefahren werden. Das Steuer kann ganz wegfallen, trotzdem ist die höchste Lenkbarkeit gesichert. Das Wasser braucht nur so schmal zu sein, daß es das Boot eben befahren kann. Schling— und andere Wasserpflanzen, die auch der Schraube sehr gefährlich werden, können diesem Röhrensystem nicht viel anhaben.

Aber diese Art von Triebkraft läßt sich auch auf große Schiffe anwenden, und das ist auch schon einmal in der Praxis ausgeführt worden! Bereits ums Jahr 1850 befuhr den Stettiner Hafen ein Dampfer, der »Albert«, bei dem diese Triebkraft angewendet wurde. Eine Zentrifugalpumpe durch Dampfmaschine getrieben, hob das Wasser hoch, es drückte in Röhren herab, so wurde das Schiff vorwärtsgetrieben. Seine Manövrierfähigkeit soll eine ganz erstaunliche gewesen sein, um so schlechter seine sonstige Leistungsfähigkeit, der »Albert« wanderte bald ins alte Eisen, das ganze Röhrensystem ebenfalls, um nicht wieder hervorgeholt zu werden.

Ja ganz natürlich! Diese Art und Weise, das Wasser erst hochzupumpen, um es dann durch seinen eigenen Gewichtsdruck wirken zu lassen, das ist doch auch die allerprimitivste, eben nur für Kinderspielerei passend.

Nun läßt sich die Sache aber doch auch noch anders denken. Ein Kessel, der hohen Atmosphärendruck aushält, wird mit Wasser gefüllt, Feuer darunter gemacht. Das Wasser verwandelt sich in Dampf, der nicht heraus kann. Aber das Wasser muß herauskönnen. Unten ist in dem Kessel eine Röhre eingelassen, die außen nach oben eine Biegung macht, die Dampfspannung drückt das Wasser heraus und direkt in die Triebröhren hinein, das Schiff bewegt sich vorwärts.

So ungefähr. Es kommt hier nicht auf die Beschreibung einer Konstruktion an, sondern nur aufs Prinzip! Und dieses Prinzip ist es, welchem im Schiffswesen die Zukunft gehören wird!

Wer sich aber nun mit diesem Problem beschäftigt, es glücklich löst, der kommt wieder einmal einige Jahrtausende zu spät. Denn — ganz abgesehen von jenem Stettiner Pumpschiffe — diese Erfindung ist schon ums Jahr 100 vor Christi Geburt von dem bekannten Mathematiker und Physiker Heron von Alexandrien gemacht worden.

Am bekanntesten von diesem ist der sogenannte Heronsball und der Heronsbrunnen. Was das ist, weiß wohl jeder. Aber in seiner Schrift »Über die Verfertigung von Automaten« gibt er schon die Anweisung, wie man ein Wasserfahrzeug durch die treibende Kraft des Dampfes sich bewegen lassen kann, und schon dieser Herd hat einen ganz regelrechten Dampfkessel konstruiert, den er heizte, den sich entwickelnden Dampf benutzte er, um Wasser durch Röhren zu pressen und so ein Schiffchen vorwärts zu treiben!

Dieses Experiment, vor 2000 Jahren angestellt, ist vergessen worden! Wer kennt auch jene angeführte Schrift. Das altgriechische Original ist verschwunden, es gibt nur noch eine einzige Übersetzung, ins Italienische, erschienen 1601 zu Venedig, auch schon äußerst selten.

Jedenfalls also: wenn einmal unser oder ein kommendes Jahrhundert dieses Prinzip als treibende Kraft im Schiffswesen benutzen wird, man hat keine neue Erfindung gemacht — die hat schon der alte Heron von Alexandrien vor 2000 Jahren gewußt und praktisch erprobt!

Freilich könnte es auch noch etwas anderes geben als Dampf, um Wasser mit Hochdruck durch enge Röhren zu treiben und so eine Fortbewegung zu ermöglichen. Die ganze Heizerei fällt dereinst vielleicht weg. Inwiefern? Man denke nur etwa an das metallische Kalium oder Natrium, welches das Wasser zersetzt. Auch hierdurch kann in einem geschlossenen Kessel jede Spannung erzeugt werden. Und hiermit sind noch unbegrenzte Möglichkeiten für die Kraftentwicklung der Zukunft eröffnet.

Mit solchen Erwägungen ließen sich die fliehenden Argonauten jetzt freilich nicht ein.

Die drei Galeeren besaßen irgend eine Triebkraft, durch die sie fast ebenso schnell fahren konnten wie diese Schiff unter vollem Dampfe. Und sie waren fähig, dieses Schiff leckzurammen. Das war jetzt die Hauptsache.

Freilich dieser Schreck, dieser Grimm, diese Entäuschung, dieses furchtbar beschämende Gefühl!

Die Patronin riß ihren Helm vom Kopfe, und ihr Gesicht glühte, ihre Augen funkelten.

»Weshalb fliehen wir!« rief sie außer sich, mit dem Fuße aufstampfend. »Auch wir können rammen . . . «

»Aber sicher nur ein einziges Mal, dann ist unser Bug zertrümmert!« sagte Kapitän Martin mit Ruhe. »Während die beiden anderen Galeeren uns immer wieder rammen können.«

»Und dort kommt noch ein ganzes Dutzend!« setzte Georg noch hinzu.

Ja, dort im Norden, von wo man gekommen, tauchte noch eine ganze Reihe von großen Galeeren auf, und schon mit bloßen Augen konnte man erkennen, daß sie überhaupt gar nicht gerudert wurden und daß sie sich ganz auffallend schnell näherten.

»Viele Hunde sind nicht nur des Hasen, sondern auch des stärksten Bären Tod, zumal wenn diese Hunde auch noch mit dem Teufel verbunden sind!«

So hieß es, und es wurde weiter geflohen, die drei Galeeren immer nach, und auch die anderen Galeeren schlossen sich der Verfolgung an. Wohin sollte man fliehen?

In aller Schnelligkeit wurde eine Beratung abgehalten, im Kartenhaus auf der Kommandobrücke.

Die »Argos« mußte auf den Strand gesetzt werden. Es gab nichts anderes. Sie war schon leck, sie würde von den Galeeren noch lecker gerammt werden, wenn nicht heute, dann ein ander Mal, und das durfte nicht in tiefem Wasser geschehen, sonst ging sie eben verloren, die Mannschaft mußte sich in Booten retten, und dann war man diesen höllischen Weibern natürlich erst recht ausgeliefert.

Wo sollte man auf den Strand gehen? Nun irgendwo, wo das Wasser eben flach genug war. Und dann die Umgebung möglichst baumlos, um sich vor Überfällen von der Landseite her zu sichern.

Freilich konnten die Galeeren auch dort noch ihre Rammversuche fortsetzen, besonders da sie nicht so tief wie die »Argos« gingen. Aber das stählerne Schiff ganz und gar in Trümmern zu legen, das war doch nicht so einfach. Und dann würde man schon noch ein Mittel finden, um es mit diesen höllischen Fahrzeugen aufnehmen zu können, um sie sich vom Leibe zu halten, und dann später konnte die »Argos« in dem seichten Wasser gleich durch Taucher repariert werden, durch Leichtern wurde sie wieder flott gebracht


108. KAPITEL.
VIVIANAS RAT.

So weit war die Beratung gediehen, was nur wenige

Minuten in Anspruch genommen, jetzt brauchte man nur nach der nächsten flachen Küste zuzufahren, als alles erschrocken emporfuhr.

Im Kartenhaus hatte das Telephon geklingelt.

Wer konnte jetzt in dieser Situation das Telephon benutzen?!

Man mußte diese Bordverhältnisse kennen, um zu begreifen, was es bedeutete, wenn sich jetzt das Telephon meldete.

Ganz unbegreiflich!

Stevenbrock sprang auf und hin.

»Wer ist dort?«

»Viviana.«

Aaahh!

Alle hatten es gehört.

»Hier Stevenbrock. Sie wünschen?«

»Diese Katastrophe, von der Sie betroffen worden sind, konnte nicht vermieden werden, wir konnten Sie nicht warnen, denn wir wußten selbst nichts davon. Aber in Sicherheit kann ich Sie bringen.«

»Tuen Sie es!«

»Sie wollen das Schiff auf den Strand setzen?«

»Ja, es ist beschlossen worden.«

»Tuen Sie es nicht.«

»Sondern? Geben Sie einen besseren Rat.«

»Fahren Sie in die Bucht der Entsagung. Schluß.«

Es antwortete niemand mehr.

In die Bucht der Entsagung? Also in jene Bucht, in der das Schloß der Entsagung lag, wie die sich auf dem Wasserfelsen erhebende Burg nun einmal getauft worden war?

Niemand hätte den Rat erteilt, in diese Bucht zu flüchten. Überhaupt in keine einzige Bucht oder Flußmündung, wo man doch eventuell oder sogar ganz sicher wie in einer Mausefalle saß.

Überall am Ufer des freien Sees festrennen, nur nicht in einer schmalen Wasserstraße!

»Aber wir befolgen den Rat doch.«

»Selbstverständlich befolgen wir ihn. Und wenn wir dort sind, werden wir auch schon weiter geführt werden, oder Viviana, unsere Schutzgöttin, hätte doch gar nicht erst den Anfang gemacht.«

Es war nicht sehr weit entfernt. Keine Viertelstunde. Während dieser ließ man die drei Galeeren immer weiter hinter sich. Sie schienen etwa acht Knoten zu machen. Aber folgen taten sie doch und die anderen, von denen man jetzt vierzehn zählte, schlossen sich ihnen gleichfalls zur Verfolgung des Schiffes an.

Die Bucht wurde erreicht, man steuerte ein, und wie sich nach kurzer Fahrt durch die Wasserstraße vor ihnen der große Nebensee ausdehnte, in dessen Mitte der Felsen mit der Burg lag, da ward ihnen auch sofort klar, weshalb sie hierher beordert worden waren, wo sie eine sichere Zuflucht finden sollten, sie brauchten keinen Führer und keine Anweisung mehr.

Als sie zum ersten Male hierher gekommen waren, hatten die steilen, glatten Felswande keine Öffnung gezeigt. Dann aber, während sich Georg und der Eskimo noch im Innern befunden, während die anderen noch mit Harpungeschützen probiert hatten, um durch ein Seil hinaufgelangen zu können, war plötzlich eine Öffnung, ein Wassertor vorhanden gewesen.

Es war auf der hinteren Seite des Felsens entstanden, eben groß genug, um ein Ruderboot durchzulassen, es konnte auch einen Mast gesetzt haben. Diese Öffnung war also nicht von dieser vorderen Seite aus zu sehen gewesen.

Jetzt aber war auch hier auf dieser Vorderseite ein Wassertor entstanden, und zwar groß genug, um drei solcher Schiffe nebeneinander durchzulassen, und auch die Höhe genügte für den höchsten Mast.

Das erkannten diese Seeleute sofort, und nun also brauchten sie auch nicht erst noch eine Einladung.

Halbe Kraft, viertel Kraft — langsam fuhr da schiefliegende Schiff ein, in jenes weite Bassin, in dem einst Georg und der Eskimo aufgetaucht waren, die »Argos« ging der Länge nach gerade gut hinein, die Breite war ja eine viel größere.

Die Schraube stoppte, einige Schläge rückwärts, und das Schiff lag still auf dem ruhigen Wasser der weiten Halle, die von jenem rätselhaften Lichte erfüllt war.

Oder aber das konnte ja auch von außen eindringendes Tageslicht sein . . . doch nein, als man sich umblickte, was erst nachträglich geschah, denn sonst hatte bei der Einfahrt doch jeder vorausgeblickt, da gewahrte man, daß sich das Felsentor bereits wieder geschlossen hatte, in einer Weise, die man eben nicht beobachtet hatte.

Erwähnt sei noch, daß jenes erste, viel kleinere Wassertor gar nicht in dieses große Wasserbassin hineinführte, sondern nur zwischen die beiden Felswände hinein, welche einen massiven Felskern umgaben, zwischen sich den Treppenaufgang freilassend. Jene Wassereinfahrt mündete nur an einer Treppe.

Wieder klingelte das Telephon.

»Hier Stevenbrock. Wer dort?«

»Merlin. Meine Tochter sagte Dir schon, daß ich Dich nicht vorher warnen konnte. In diesem Reiche Vivianas seid Ihr in Sicherheit. Die Amazonen dürfen und können nicht in den Felsen eindringen. Ihr könnt hier Euer Schiff reparieren. Ich lasse jetzt das Wasser abfließen. In einer Tiefe von sieben Metern befindet sich weicher Sandgrund. Das Schiff wird mit dem Kiel etwas eindringen, dann sitzt es fest. Steift es mit Balken ab, so wie Ihr es auf der brasilianischen Sandbank getan habt. Den Abfluß kannst Du telephonisch regeln, Deine Anordnung, ob schneller oder langsamer, wird immer sofort ausgeführt. Ihr werdet auf dem Grunde mehrere Ausgänge finden. Sie führen in Burgen. Diese besetzt, so weit Euch möglich. Von dort aus führt den Kampf gegen die Amazonen zu Lande. Auch bemächtigt Euch ihrer Galeeren, greift sie mit ihrer eigenen Waffe an. Mehr habe ich jetzt nicht zu sagen. Schluß.«

Betreffs der Burgen war es nichts Neues gewesen, was man da zu hören bekommen hatte.

Es wäre ja überhaupt merkwürdig gewesen, wenn die technisch so weit entwickelten Urbewohner dieses Tales nur diese eine Burg auf dem Seefelsen aufgeführt hätten.

Man hatte im Laufe der Zeit noch mehr solche Festungsbauten entdeckt, man mußte nur danach suchen. Denn so offen zu Tage wie diese hier auf dem isolierten Felsen mitten im Wasser lag keine andere. Die anderen waren mit offenbarer Absicht möglichst versteckt angelegt worden, zwischen Felsen hinein, im Walde verborgen, meist an freiem Wasser, das heißt an großen Buchten oder Nebenseen.

Offenbar hatte es hier einmal eine aristokratische Feudalherrschaft gegeben, etwa unserem mittelalterlichen Ritterwesen entsprechend. Kleine Fürsten hatten sich in Burgen festgesetzt und von hier aus die Umgebung beherrscht, die darin wohnenden und jedenfalls dem Ackerbau und der Viehzucht nachgehenden Untertanen gegen fremde Willkür geschützt, unter einander immer im Kampfe liegend zu Wasser und zu Lande, was man doch aus den vielen vorhandenen Waffen und Galeeren schließen konnte.

Nur der große See selbst und seine Ufer hatten als freies Gemeingut gegolten. Das mußte man daraus schließen, weil an diesem großen See selbst keine einzige solche Burg lag, immer nur an Nebenflüssen oder Nebenseen. Oder auch einmal so wie hier mitten drin im Wasser. Wer die heilige Gemeinschaftlichkeit des großen Sees brach, an ihm eine Burg errichten wollte, über den fielen dann alle Ritter auch gemeinschaftlich her, so daß solch ein Vertragsbruch unmöglich wurde.

Nun allerdings befanden sich ja am Nordwestufer des Hauptsees jene ungeheuer ausgebreiteten Felsenräume, die man doch auch als eine Festung gelten lassen mußte. Und auch nur dort hatte man die Rüstungen und Waffen und Galeeren gefunden, hier aber auch gleich massenhaft.

Dort, mußte man annehmen, hatte einst der König oder Kaiser residiert, der über dieses ganze Tal herrschte, ohne sich in die Ritterfehden einzumischen, höchstens als Schlichter zwischen Recht und Unrecht, als Richter und Rächer auftretend. Und hier auch waren die feudalen Ritter manchmal zusammengekommen, um sich in friedlichen, wenn auch immer noch blutigen Kampfspielen zu messen, also in Tournieren, und um sich an anderen Belustigungen zu ergötzen. Also alles genau so wie bei uns im Mittelalter, wenn die Ritter und Grafen und die kleineren Fürsten am Hofe des Kaisers zusammenkamen.

Dann wahrscheinlich hatte dieses ganze Tal einmal vor einer großen Katastrophe gestanden, vielleicht war ein fremdes Volk erobernd eingedrungen, alle die Ritter hatten ihre Burgen verlassen und sich nach der kaiserlichen Hauptfestung begeben, um hier den letzten Verzweiflungskampf auszufechten. Dabei hatten sie alles, alles mitgenommen.

Denn in diesen anderen Burgen, alle aus zyklopischen Mauern ausgeführt, hatte man bisher absolut nichts gefunden.

Das Wasser sank. Es war schon einmal gesunken, um jenen Tunneleingang freizulegen. Dann, nachdem ein bequemerer Eingang entstanden war, war es in diesem Bassin wieder gestiegen. Jetzt sank es zum zweiten Male, tiefer und tiefer, und nicht lange währte es, so berührte der Schiffskiel den Boden, einen weichen Grund.

Georg oder Kapitän Martin hatten nicht nötig, durch telephonische Bitte den Wasserabfluß anders zu regulieren, das Schiff sank in dem weichen Sande wie in Schlamm ein, durch geeignete Mittel konnte von vornherein auch das Gleichgewicht wieder hergestellt werden, es saß fest, das spätere Absteifen oder Abstützen mit Balken war nur noch eine Sicherheitsmaßregel.

Das Wasser war bis auf den letzten Tropfen verlaufen, nur feuchter, reiner, feiner, weißer Sand bedeckte den Boden, in dem die »Argos« wohlgebettet saß, so wie damals auf der Sandbank des brasilianischen Urwalds.

Eine kupferne Leiter führte zu jenem Tunnel hinauf, durch den die beiden damals in die außen befindlichen Treppengänge gekommen waren, von wo man auch oben die Galerie mit den kinematographischen Fenstern erreichen konnte, denen man jetzt freilich keine Beachtung geschenkt hatte, und das war ihnen ja auch nichts Neues mehr, man war doch schon wiederholt hier gewesen und ferner befanden sich unten in den weißen, marmorähnlichen Quaderwänden acht große, viereckige Öffnungen, also Türen und Tore, genau im Achteck geordnet.

Durch diese konnte ja das Wasser der größten Menge nach abgeflossen sein, aber doch nicht bis zuletzt. Denn vor jeder Tür befand sich eine ziemlich hohe Steinschwelle, offenbar zu dem Zwecke angebracht, um in den Gang keinen Sand gelangen zu lassen. Wo das letzte Wasser geblieben war, das war ein Rätsel. Einfach im Sande versickert. Was aber nun doch nicht so einfach zu erklären ist.

Nun, darüber zerbrach man sich jetzt nicht den Kopf. Auch die Gänge wurden zunächst nicht untersucht. Erst handelte es sich um das Schiff, um seine Sicherheit und spätere Reparatur. Mindestens hatten da die Führer erst ihre Untersuchungen und Anordnungen zu erledigen.

Dann erst, nachdem dies geschehen war, alle Matrosen und Heizer ihre Arbeiten begannen, erstieg Georg mit noch anderen die kupferne Leiter, begab sich durch den oberen Tunnel in die Treppengänge, durch deren durchsichtige Außenwand man die ganze Umgebung übersehen konnte, wozu man freilich im Kreise oder vielmehr im Viereck herumgehen mußte.

Die Amazonen waren gefolgt. Siebzehn Galeeren hatte man gezählt, jetzt waren hier elf zu erblicken. Wo die anderen geblieben waren, wußte man nicht.

Diese elf Galeeren waren ganz verschieden verteilt. Einige fuhren langsam hin und her, jetzt rudernd, andere lagen still auf dem Wasser, wieder andere hatten an den verschiedensten Stellen der den See umgrenzenden Ufer angelegt, die Weiber ergingen sich an Land, lagerten, trafen offenbar Vorbereitungen zu einer Mahlzeit, hatten schon große Feuer angezündet, schienen auch zum Teil schon etwas zu rösten, dort wurde soeben ein erlegter Hirsch in Empfang genommen.

Also die Amazonen rüsteten sich zu einer regelrechten Belagerung dieser Wasserburg. Wenn sie selbst nicht hineinkonnten, so wollten sie den Feind doch auch nicht wieder herauslassen. Und die anderen sechs Galeeren würden auch schon ihre Instruktionen bekommen haben.

Noch sei bemerkt, um nichts zu vergessen, da wir doch mit den Köpfen dieser Männer denken müssen: da die ersten drei Galeeren allein zur Bedienung der Riemen 106 Weiber nötig gehabt hatten, wenn man nicht annehmen wollte, was wohl auch ausgeschlossen war, daß diese Ruder durch eine maschinelle Vorrichtung bewegt worden waren, so mußten die anderen 14 Galeeren nur ganz schwach besetzt sein. Denn es waren ja überhaupt nur 208 Amazonen vorhanden, vier davon gingen als Gefangene ab.

Und die anderen 14 Galeeren waren ja auch von vornherein nur durch jene geheimnisvolle Kraft getrieben worden.


109. KAPITEL.
AUF DEM KRIEGSPFADE.

Nach dieser Umschau begab sich Georg in das Bassin zurück, um nun die Gänge zu untersuchen.

So einfach war das aber doch nicht, wie das hier ausgedrückt wird.

Es waren also acht Stück vorhanden, ein Zugang wie der andere aussehend. Sie alle sollten, wenn man Merlin recht verstanden hatte, in eine Burg führen, das heißt jeder in eine andere.

Sollte man nun alle acht Burgen besetzen? War das auch wirklich angebracht?

Kurzum es fand erst eine Beratung statt, an der sich aber Kapitän Martin schon nicht mehr beteiligte, weil der jetzt nur noch für die Sicherheit des ihm anvertrauten Schiffes zu haben war, und bei dieser Beratung führte überhaupt fast nur Georg das Wort, machte seine Vorschläge, deren Richtigkeit auch allen sofort einleuchtete.

Nein, man wollte nur eine einzige Burg besetzen. Einfach schon aus dem Grunde, weil man seine Kräfte nicht zersplittern, sich überhaupt nicht trennen wollte.

Es konnten dann ja die Ausgänge mit Wachtposten besetzt werden, aber nicht etwa, daß man die ganze Mannschaft in acht oder noch mehr Parteien spaltete, um in jede Burg eine Garnison zu legen. Das war von vornherein ausgeschlossen. Welche Burg sollte man nun wählen? Oder vielmehr welchen Gang zuerst untersuchen? Weder Merlin noch seine Tochter ließen sich wieder anrufen, da brauchte man sich gar nicht erst Mühe zu geben, das wußte man schon — wer die Wahl hat, hat die Qual, und da ist das erste immer das beste.

Man drang in irgend einen Gang mit genügender Waffenmacht sein, fand man eine Burg, so wurde sie besetzt, und fand man später eine andere, die bessere Eigenschaften zeigte, so konnte noch immer umgezogen werden aber jedenfalls wollte man sich nicht trennen und nicht den Sperling aus der Hand lassen, um nach der Taube auf dem Dache zu greifen.

»Wähle Dir die hierzu geeignetsten Leute aus, Georg,« sagte die Patronin.

Ja, wenn Georg das nur gekonnt hätte! Das konnte er aber nicht als Kargo—Kapitän und noch viel weniger als Waffenmeister, und wäre er auch eine königliche Hoheit gewesen, oder ein deutscher Kapitän wie Kapitän Martin hätte sofort sein Kommando niedergelegt.

Die Patronin, die einst die »Fensterchen« mit Gardinen hatte schmücken wollen, schien sich nie in die eigentliche Seele des ganzen Schiffswesens hineinleben zu können.

»Wieviel Leute können Sie bei Ihrer Arbeit entbehren, Herr Kapitän?«

»Die Hälfte. Genügt Ihnen das? Well, dann suchen Sie sich nur aus. Von den Heizern muß ich nur alle Schlosser behalten. Und von den beiden Bootsleuten ist mir der erste lieber.«

August der Starke hatte in der Nähe gestanden, hatte das gehört, was doch nichts anderes als ein Tadel, eine Minderachtung war. Und er durfte mit keiner Wimper zucken, ja er mußte diesen gehörten Tadel auch sofort in seinem Gedächtnis und auch in seiner Seele auszulöschen verstehen, oder er hätte sich nicht zum Seemann geeignet, am wenigsten zum Bootsmann — so wenig wie zum Offizier irgend einer Truppengattung.

»Nehmen Sie die Jungen mit? Über die habe ich nicht zu bestimmen, die sind nicht registriert.«

»Nein. Es könnte gleich ins Gefecht gehen, und wenn auch jeder dieser Jungen schon einen ganzen Mann stellt . . . nein, ich möchte es vermeiden, wenn es nur irgendwie möglich ist.«

»Well, dann trete ich Ihnen zwei Drittel der Mannschaft ab.«

So waren es 32 Mann, welche der Waffenmeister aussuchte, und die Nichtgewählten durften wiederum nichts von einer Kränkung wissen —— nichts davon wissen, nicht nur sich nichts davon merken lassen — und als der Ruf »Fritz der Mondgucker« erklang, da leuchteten die Augen des Jünglings, der für fähig gehalten wurde, mit den Kriegspfad zu betreten, während mancher starke Mann zurückbleiben mußte, um Balken auszurichten und Sand zu schaufeln.

Dazu kamen natürlich noch Juba Riata und Mister Tabak, die überhaupt gar nicht gewählt werden konnten und sich auch nicht erst nötigen ließen.

»Nein, Helene, bitte, bleibe zurück!« sagte der Waffenmeister, und es genügte.

Klothilde war so gescheit, daß sie sich überhaupt gar nicht erst bemerkbar machte.

Gewappnet waren sie alle schon. Man kam ja überhaupt aus den Schuppenrüstungen gar nicht mehr heraus, die auch wirklich nicht unbequemer und nicht schwerer waren als eine normale Winterbekleidung, für die man 6 bis 7 Kilo rechnet. Was man nämlich für besondere Verhältnisse ganz genau wissen muß. Man denke nur an Truppen— oder überhaupt große Menschentransporte.

Am Gürtel für alle Fälle ein geladener Revolver, ohne weitere Munition, und auf die Mitnahme von Gewehren wurde von vornherein verzichtet. Dagegen war jeder mit einem Bogen und zwei Dutzend Pfeilen bewaffnet. Obgleich sie fast alle damit gar nichts anfangen konnten, wenigstens nicht im Kampfe mit den gepanzerten Amazonen.

Denn an Bord der »Argos« gab es immer nur noch drei Menschen, welche mit solch einem Pfeil einen Schuppenpanzer durchschlagen konnten: Georg Stevenbrock, Juba Riata, und Kretschmar, der Damenkonfektionär.

Wohl konnten jetzt die stärksten nach einiger Übung die Sehne des metallenen Bogens mit zwei Fingern zurückziehen, der riesenhafte Häckel und August der Starke brachten es mit Leichtigkeit fertig, noch andere bärenstarke Kerls wie Albert der Sänger und der lange Heinrich, diese sandten den Pfeil genau so weit und so hoch wie jene drei, mußten ihn also bei Anwendung desselben Bogens und Pfeils doch mit der ganz gleichen Kraft abschnellen — und doch war es ihnen nicht möglich, solch einen Schuppenpanzer zu durchschlagen.

Es war hierbei etwas wie Zauberei, an die man sich nur als an eine Tatsache gewöhnen mußte, um sie nicht mehr als etwas Wunderbares zu empfinden. So wie es uns ganz selbstverständlich ist, daß wir mit der Erde durch das Weltall sausen, ohne davon etwas zu merken. Es lag hier auch tatsächlich etwas vor, was der Physiker noch nicht als Gesetz in mathematische Formeln zu zwängen vermag. So wie ja überhaupt die ganze Ballistik nicht. Es gibt noch keine Berechnung der Flugbahn eines Geschosses, das ist ein falscher Ausdruck, es ist immer nur eine Erfahrungsformel nach längerem Ausprobieren.

Hierüber ist schon einmal gesprochen worden, es soll nicht wieder davon angefangen werden.

Worum es sich aber hierbei eigentlich handelte, das kam auch in einer anderen, ähnlichen Sache noch zum Ausdruck.

Diese Schuppenpanzer, die von keiner Stahlspitzkugel eines modernen Infanteriegewehrs durchbohrt wurden, konnten auch in Stücke zerhackt werden, mit schweren Säbeln. Ein guter Hieb gehörte allerdings dazu. Wiederum brachten das nur wenige fertig, und dann wurde der Entersäbel, der hier allgemein eingeführt war, sehr leicht schartig, ganze Stücke brachen heraus, und wurde der Stahl zu weich angelassen, dann schlug er eben nicht durch.

Da eigneten sich die vorgefundenen Bronzeschwerter hierzu viel besser. Das war eben etwas ganz anderes als Stahl. Diese Klingen schlugen durch, ohne schartig zu werden, höchstens verbog sich die Schneide etwas und konnte sofort wieder scharf gehämmert werden, so wie man eine Sense dengelt.

Aber in diesem Falle gab es nur zwei an Bord, welche mit einem Bronzeschwert dasselbe ausführen konnten wie mit einem Entersäbel, solch einen Schuppenpanzer durchschlagen: wiederum der Waffenmeister der Argonauten, und außerdem noch Major von Tonn.

Obgleich Tönnchen, so kräftig er auch sein mochte, doch nicht etwa der Stärksten einer war. Da gab es doch Kerls dabei, denen er gar nicht das Wasser reichte. Aber er war nach Georg der beste Fechter, hatte die meiste Übung, hatte den besten Hieb, den besten »Zug«! Und das war es, der »Zug«, den man in den Hieb legte, worauf es hierbei einzig und allein ankam.

Man denke nur an jene Apparate auf dem Jahrmarkte, Kraftmesser oder ähnlich genannt, man schlägt mit einem großen, schweren Holzhammer unten auf einen beweglichen Stift, dadurch fährt an zwei senkrecht stehenden Schienen ein Gewicht empor, und wenn es die höchste Höhe erreicht, oben anschlägt, dann knallt es.

Es ist nicht so nutzlos, bei so etwas daneben zu stehen und zuzusehen. Da kann man Beobachtungen machen, kann studieren. Wie mancher starkgebaute Mann, der auch ein entsprechender Arbeiter sein kann, gelernter Schmied, professioneller Zuschläger, sich vergebens abmüht, er bringt das Gewicht nicht hinauf, und ein anderer, ein schmächtiges Kerlchen, treibt das Gewicht mit jedem Schlage bis oben hinauf, daß es nur immer so knallt.

Hier liegt genau dasselbe vor. Das liegt im »Zuge«. Wofür aber noch keine physikalische Formel erfunden ist. Den letzten Grund, worauf es dabei ankommt, kennen wir noch nicht. Es ist nur so eine Ahnung, die wir davon haben. Übrigens haben wir dasselbe schon beim einfachen Werfen. Es gibt Jungens, Kinder, die einen Stein dreimal so weit werfen, als es der stärkste und gelenkigste Mann vermag, er kann sich üben wie er will. Das Letzte, was dazu gehört, geht ihm ab. Es ist einzig und allein ein kleiner »Zug«.

Und so war es auch hier mit dem Bogenschießen. Sie alle wußten recht wohl, worauf es ankam, um dem Pfeil die nötige Durchschlagskraft zu geben. Im Moment des Absendens der Sehne noch eine kleine Idee zurückziehen das war das ganze Geheimnis! Aber das brachte eben niemand heraus. Nur jene drei konnten es. Vielleicht lernten es auch die anderen noch — vielleicht auch nicht. Alle die Indianer hätten es wohl fertig gebracht, denen war der Bogen eben eine vertraute Waffe, aber solch einen Schuppenpanzer durchbohren konnte keiner, denn kein einziger vermochte solch einen Metallbogen, der hierzu nötig war, zu spannen. Das brachten nur die allerstärksten der Argonauten fertig.

Und — um wieder auf die Hiebwaffen zurückzukommen — es nützte nichts, daß man denen, welche die Schuppenpanzer mit ihren Entersäbeln durchschlagen konnten, nicht aber mit einem Bronzeschwert, dieses letztere umschmiedete, ihm ganz die Gestalt eines Entersäbels gab. Dann war dieses zu leicht, es fehlte der »Zug«.

Wurde es genau so schwer gemacht wie ein Entersäbel, dann war es wieder etwas zu groß, die Hand war nicht daran gewöhnt, es fehlte dem Hiebe der »Zug«.

So hatte jeder am Gürtel seinen Entersäbel hängen, auf den er geaicht war, und außerdem noch an der rechten Seite einen gelben Stock, von ungefähr einem halben Meter Länge, drei Zentimeter dick, obgleich das verschieden war.

Ein Uneingeweihter hätte sich den Zweck dieses Stockes nicht so leicht erklären können. Vielleicht eher, wenn er schwarz gewesen wäre, oder wenn der Betreffende ihn in die Hand genommen hätte. Es war der Ersatz für einen Gummiknüppel. Aus jenem gelben Bernsteinkautschuk, wie man das Zeug genannt hatte, hergestellt. Diese Masse konnte nämlich, wie man bald herausgefunden hatte, in heißem Wasser in jede beliebige Form gepreßt werden. Besaß die besten Eigenschaften des besten Gummiknüppels.

Den Bogen und die Pfeile nahmen alle ganz zwecklos mit. Höchstens insofern nicht, als sie sich eben damit bei Gelegenheit üben konnten, und vielleicht fand der eine oder der andere zu seinem Staunen, daß er so einen Schuppenpanzer plötzlich durchbohren konnte, er hatte plötzlich das Rezept dazu entdeckt. Mit dem Entersäbel konnte ein halbes Dutzend solch einen Schuppenpanzer durchschlagen, einem anderen ganzen Dutzend gelang es manchmal. Aber dieser Bernsteinkautschukknüppel war in der Hand eines jeden eine furchtbare Waffe! Der zermalmte alles. Allerdings nun gerade nicht den Schuppenpanzer, der blieb gänzlich unverletzt, wohl aber verwandelte sich das darunter liegende Fleisch, das Muskelgewebe in einen unzusammenhängenden Brei, und ebenso wurde der Knochen zermalmt.

»Hoffentlich haben die Amazonen diese Erfindung mit den Gummiknüppeln noch nicht gemacht.«

Das hatte Stevenbrock früher einmal gesagt, jetzt tat er es nicht.

Jetzt sagte er etwas anderes.

Wollte es tun, er holte, nachdem er seine Leute gemustert hatte, zu einer Anrede aus, und man merkte ihm deutlich an, wie schwer sie ihm wurde.

Wie er mit sich rang.

Bis er endlich dazu fähig war.

Aber die Stimme klang noch gepreßt genug. Oder so, als wäre er vorher ganz außer Atem gewesen.

»Leute! Jungens! Kameraden! Es sind nicht etwa Weiber, gegen die wir jetzt losgehen. Keine menschlichen Frauen. Wir würden uns niemals an Frauen und Mädchen vergreifen. Es sind schuppengepanzerte Bestien. Die wollen wir unschädlich machen. Was nur durch ihre Vernichtung möglich ist. Denkt an unsern Albrecht und an den armen Jungen. Marsch!«

Und Georg schritt einem der Ausgänge zu, wohl ohne besonders gewählt zu haben, aber doch einen benutzend, der voraussichtlich nach dem nahen Südufer führte.

Der ganze Zug ihm nach. Voraus einige gute Spürhunde, die man aber nicht den Pfeilen der Amazonen auszusetzen gedachte. An Georgs Seite gesellte sich bald Mister Tabak, ganz possierlich aussehend, in der trikotartigen Schuppenrüstung, die seine krummen Dachsbeine zur schönsten Geltung brachte, ohne daß sie besonders für solch eine Gestalt geschneidert zu sein brauchte, sie schmiegte sich eben jeder Form an, wenn man nur irgendwie ein passendes Kostüm gefunden hatte.

Wie der Kerl nun über die große Zehe latschte! Den Klapphelm weit im Nacken, weil er sonst die qualmende Pfeife nicht hätte im Maule halten können. Denn diese Art Helme hatten keine anderen Öffnungen als ganz kleine für die Augen, dafür waren sie unten etwas weiter, so daß man von unten Luft bekam.

Der Eskimo hatte sowohl auf den Entersäbel wie auf Bogen und Pfeile verzichtet, sich nur auf den Gummiknüppel beschränkt. Dafür aber hatte er sich noch mit einem großen Regenschirm bewaffnet, den er unter dem linken Arm geklemmt trug

Das heißt, es war kein Regenschirm. Es waren ein halbes Dutzend Wurfspeere, kurze Harpunen, oben durch eine Art Futteral zusammengehalten, das sich nach hinten spreizte, wodurch ganz die Form eines großen Regenschirmes herauskam.

Also wie dieser säbelbeinige Ritter in silberschillernder Rüstung nun so über die große Zehe latschte, mit dem Regenschirm unterm Arm, es sah grade aus wie — wie . . .

»Entschuldigen Sie gütigst, Herr von Kabatabak,« fing hinter ihm Oskar an, »wenn ich mir eine Bemerkung erlaube — aber ich fühle mich plötzlich nach meiner Heimat zurückversetzt, das übermannt mich bis zu Tränen — Sie sehen nämlich gerade aus wie eine alte Hökerfrau, die ausnahmsweise gepanzert zu Markte geht, mit ihrem großen Hökenschirm . . . «

Der Eskimo achtete nicht darauf, ein Segelmacher existierte nicht für ihn.

»Sagen Sie mal, mein lieber Waffenmeister,« fing er jetzt an, »da fällt mir gerade was ein. Alle diese Leute waren doch eigentlich mit den Frauen, die sie jetzt mit Gummiknüppeln tothauen wollen, so gut wie verheiratet.. <

»Bitte, Mister Kabat, sprechen Sie nicht hierüber.«

»Weshalb nicht?«

»Weil — weil — ich bitte Sie, fangen Sie nicht davon an, ich mag gar nicht daran denken.«

»Nun ja, ich verstehe Sie. Es ist Ihnen unangenehm. Weil Sie zartfühlend sind. Genau so wie ich. Das ist bei mir eine angeborene Schwäche. Wir müssen aber nur den Fall richtig klar legen. Sehen Sie, lieber Waffenmeister, das ist nun einmal das menschliche Leben, das ist der menschliche Charakter, und deshalb gehört das auch mit zur richtigen, gediegenen Ehe. So lange man mit seiner Frau noch nicht richtig verheiratet ist, liebt man se, und sofort nach der Hochzeit drischt man se . . . «

»Ich bitte Sie über alles — hören Sie auf davon!« sagte Georg in fast flehendem Tone.

Er blieb auch stehen, als wolle er diesen aufdringlichen Gesellschafter vorauslassen, aber es hatte doch noch einen anderen Zweck, er wandte sich um, der ganze Zug hielt.

»Leute! Noch eine andere Instruktion! Die Amazonen, die ich vorhin gesehen habe, trugen zum größten Teile schon Helme, andere als unsere Kappen, mit herablaßbaren Visieren, und sobald sie merken, daß wir gegen sie vorgehen, werden sie davon keine Ausnahme machen. Und nun wollte ich noch eines sagen. Es fällt mir sehr schwer, weil — weil . . . nevermind! Also den Getöteten wird niemals der Helm abgenommen, auch nicht das Visier gelüftet! Mit geschlossenem Visier werden sie später begraben oder ihre Leichen sonstwie beseitigt. Niemand soll ein Gesicht sehen! Verstanden, Jungens?«

»Ay ay, Waffenmeister!« erklang es einstimmig.

Ob sie den Grund für dieses merkwürdige Gebot und Verbot verstanden?

Sicher! Jeder unter ihnen.

Es hatte schon in dem seemännischen »ay ay« gelegen, was noch etwas anderes als ein »Ja« bedeutet. Es ist das Verständnis für den gegebenen Befehl, das ausgedrückt wird.

Im übrigen durfte man den vorliegenden Fall gar nicht so schlimm nehmen.

Ohne an irgend eine Gefühlsroheit dieser Männer glauben zu wollen.

Soldatenlos! Heute ist man mit dem, der eine andere Uniform und Kokarde trägt, der beste Kamerad. Morgen vielleicht schon sucht man ihn zu töten.

Nun ganz anders aber noch im Seemannsleben, nämlich wenn Marine und Kolonien in Betracht kommen.

Man bedenke doch nur: die Kriegsschiffsmatrosen werden in einem kleinen Hafen oder in einem Dorfe von den Eingeborenen aufs Beste aufgenommen, und da spielt doch die Liebe eine große Rolle, und das sind doch noch ganz andere Verhältnisse, als wenn bei uns zu Lande im Manöver die Soldaten in einem Dörfchen einquartiert werden. Da kommen auch heilige Sitten der Gastfreundschaft und überhaupt der Religion in Betracht. Der Gast gehört vollständig mit zur Familie, hat manchmal mehr Rechte als der Hausherr und Familienvater Vergnügungsreisende, die mit gespicktem Geldbeutel unter der Flagge von Cook und Sohn segeln, den roten Bidecker in der Hand, bekommen ja freilich nicht viel von so etwas zu merken. Aber Seeleute! Matrosen! Auch Handwerksburschen! Das sind diejenigen, die erzählen können!

Und nun, wenn alles eine Familie bildet, alles in dulci jubilo schwelgt, da passiert etwas. Ein Mord, oder anfangs nur ein kleiner Diebstahl, eine Verweigerung der Herausgabe des Übeltäters, eine Achtungsverletzung der Kriegsflagge, ein Aufstand . . . und es ist fertig.

Jetzt muß das Kommando kommen. Mit bewaffneter Hand muß vorgegangen werden. Das meuterische Dorf muß dem Erdboden gleich gemacht werden. Muß. Und wenn dem, der das Kommando dazu gibt, auch das Herz dabei blutet. Die in die Enge getriebenen Neger wehren sich, auch die Weiber kämpften wenigstens noch mit Nägeln und Zähnen, und das Maschinengewehr knattert und das aufgepflanzte Bajonett sticht . . .

Ach Du lieber Gott! »Weiter. Marsch!«

Der Eskimo wartete, bis Georg wieder an seiner Seite war.

»Ja aber, mein lieber Waffenmeister, da ist doch noch etwas anderes . . . «

»Nun haltet endlich Eure dreifach verdammte Schnauze, diese Angelegenheit ist doch nun erledigt!« wurde der Sprecher von diesem so rücksichtsvollen und feinfühligen Waffenmeister unterbrochen.

Und der Eskimo, der auch schon einen Beweis von seiner zarten Feinfühligkeit gegeben, nahm diese »Zurechtweisung« auch durchaus nicht übel, nicht von diesem Waffenmeister.

Das mußte einmal so wiedergegeben werden, wie es im Leben, im Seemannsleben wirklich zugeht, so erst bekommt man ein richtiges Bild.

»Nee, nee, mein lieber Waffenmeister — das ist erledigt, das weiß ich — ich meine etwas ganz anderes. Die Begum hatte doch gesagt, wie Sie erzählt haben, die Amazonen dürften nicht hier herein, sonst fielen sie sofort tot um. Nicht?«

»So sagte die Begum, und sie will es an einigen Beispielen mit eigenen Augen gesehen haben.«

»Na sehen Sie. Nun haben wir aber doch vier Amazonen mit hereingebracht und keine ist tot zusammengesackt. Ich habe nämlich bei meiner Germania sogar ganz genau deswegen aufgepaßt. Ich stand extra deswegen neben ihr, als wir in den Felsen fuhren. Weil ich eben zum wissenschaftlichen Forscher veranlagt bin. Das wissen Sie doch auch. Wie ich zum Beispiel damals im Kintopp an die Glasscheibe erst spuckte und dann hineinschoß. Und hier bei dieser Kintopperei wollte ich doch auch gleich die Fenster einschmeißen. Woran Sie mich hinderten, weil Sie sich eben nicht so zum wissenschaftlichen Forscher eignen, woraus Ihnen ja nicht etwa ein Vorwurf zu machen ist. Das hat man von Geburt bekommen, und dafür kann man nichts. Ja, da stand ich extra neben meiner Germania, in der linken Hand die Kette von ihrem Nasenring und in der rechten Hand den Gummiknüppel. »Luder,« sagte ich mir, »wenn Du tot zusammensackst, dann will ich Dich wenigstens, noch vorher tothaun.« Dazu hatte ich ein Recht, denn die Germania gehört mir, ich habe sie besiegt, und wenn irgend jemand sie tot zusammensacken lassen kann, dann bin ich derjenige, und dieses Recht lasse ich mir nicht nehmen. Nun aber ist sie nicht zusammengesackt. Auch keine von den drei anderen. Alle viere sind auch hier drin noch lebendig wie die unsterblichen Bandwürmer. Wie lösen Sie nun dieses Rätsel, Waffenmeister?«

»Nun, da unsere Gefangenen doch ganz unfreiwillig hier hereingekommen sind, so wird jenes Verbot wohl keine Geltung haben, sie bleiben vom Tode verschont.«

»Richtig, ganz richtig. So habe ich mir die Sache auch gleich erklärt. Wie wäre aber da das, mein lieber Waffenmeister, da hätte ich einen genialen Vorschlag zu machen. Wir laden alle Amazonen ein, uns hier zu besuchen. Zu einer Tasse Kaffee. Wenn wir es erlauben, dann dürfen sie also doch herein kommen, bleiben vollständig lebendig. Mit einem Male nun heben wir diese Erlaubnis auf. »Innerhalb einer einzigen Sekunde müßt Ihr Kanaillen alle wieder draußen sein.« Das ist nicht möglich. Innerhalb einer einzigen Sekunde kann niemand wieder draußen sein. Das ist uns aber ganz egal. Jedenfalls halten sie sich ohne unsere Erlaubnis in dem Felsen auf — bums, fallen alle die 200 Weiber tot um.«

»Das, mein lieber Mister Kabat,« meinte Georg, »wäre aber eigentlich doch nicht eine ganz ehrenwerte Handlungsweise, nicht einmal eine erlaubte Kriegslist. Da könnten wir die Amazonen doch auch als Gäste einladen und, falls sie wirklich kommen sollten, ihnen einfach ein bißchen Zyankali in den Kaffee tun, sie wie die Ratten vergiften.«

»Hm, ja, da haben Sie eigentlich recht. Also bleiben wir nur lieber dabei — gehen wir hinauf und schlagen sie hübsch nacheinander tot. — Haben Sie nicht ein Taschentuch bei sich, Herr Waffenmeister? Ich möchte mir gern einmal die Nase putzen und habe in meiner Panzerhose gar keine Tasche.«

Der Waffenmeister konnte ihm nicht aushelfen, der war ja in der ganz gleichen Lage, aber Oskar bot ihm seine Igelfellmütze an, die er noch unter dem Helm trug, jedoch nur unter der Bedingung, daß er zu der Nasenputzerei nur die äußere Seite benutze, und hiermit war diese Unterhaltung auf dem Kriegspfade beendet.

Der Gang, immer von jenem rätselhaften Lichte erfüllt, hörte plötzlich auf. Aber nur in der horizontalen Richtung. Durch eine Treppe setzte er sich schräg nach unten fort, immer noch erleuchtet.

Man stieg die Steinstufen hinab. Auch sie zeigten keine Spur von Feuchtigkeit. Also konnte das abfließende Wasser des Bassins nicht diesen Weg benutzt haben, es mußte auf irgend eine andere Weise so vollkommen ausgepumpt worden sein. Übrigens war es ja gar nicht erklärlich, wo es dann hätte hinfließen sollen.

Denn man war mindestens 20 Meter tief hinabgestiegen, ehe sich der Gang wieder horizontal fortsetzte, so befand man sich jetzt also zweifellos schon unter dem Boden des Sees.

Fast eine Viertelstunde mußte man marschieren, wobei der erleuchtete Gang immer sanft aufstieg, so daß man wohl wieder die ursprüngliche Höhe erreichte, als abermals eine Sperrwand auftauchte. Vorher aber zog sich quer über den Gang noch seine niedrigere Barriere, dahinter ging es tief hinab, man sah einen Wasserspiegel glänzen.

Zweifellos ein Brunnen, der zu der betreffenden Burg gehörte. Wenn man auch in all den Burgen, die man bisher untersucht, noch keinen einzigen Brunnen oder eine andere Wasserquelle gefunden hatte, worüber man sich schon gewundert.

Daß es ein künstlich angelegter Brunnenschacht war, der in eine menschliche Behausung führte und auch einst als Weg benutzt worden war, das ergab sich schon daraus, daß in dem Schacht in regelmäßigen Zwischenräumen Kupferstäbe eingelassen waren, zum bequemen Besteigen, also einfach eine Leiter.

Bequem zu ersteigen für körpergewandte Menschen. Von den Hunden konnte man das nicht verlangen. Obgleich diese Schiffshunde auch die Wanten aufentern konnten. Aber diese nur wenig von der Wand abstehenden Sprossen zu erklimmen, das war von ihnen nicht zu verlangen, oder sie hätten hierzu erst abgerichtet werden müssen.

So blieben diese Hunde, die überhaupt nur als Depeschenboten mitgenommen worden waren, hier zurück, bis auf einen kleinen, schmächtigen Terrier, dessen Transport Juba Riata übernahm, und der Aufstieg begann, Georg an der Spitze.

Auch dieser Brunnenschacht war von dem rätselhaften Lichte erfüllt. Hoch, hoch ging es hinauf. Ab und zu war ein Absatz vorhanden, auf dem man sich hätte ausruhen können, aber die emporklimmende Menschenschlange hielt sich nicht auf.

Da war der Schacht zu Ende, durch eine Steinplatte geschlossen. Aber es waren auch gleich Vorsprünge vorhanden, um seine Füße einzustemmen, für einen normalen Mann gerade in der richtigen Höhe, um in gebückter Stellung seine ganze Körperkraft entwickeln zu können.

Georg brauchte seinen Rücken nicht besonders anzustrengen, so gab die Steinplatte nach. Oder vielmehr der Felsen über ihm. Erst jetzt erkannte man ja, daß es eine Platte war.

Sie ließ sich weiter zurückschieben, wenn auch nicht so einfach; sie stieß oben auf verschiedene Widerstände, dann aber war die Öffnung frei.

Erst wurde dem Führer von Juba Riata der Hund gereicht, Georg setzte ihn oben ins Freie.

Der Foxterrier hatte eine gute Nase und ein feines Gehör, war scharf und gut abgerichtet. Wenn er irgend etwas Verdächtiges merkte, nur die Anwesenheit eines fremden Menschen, ohne ihn zu sehen, würde er nur ein leises Knurren hören lassen, nicht anschlagen, und er würde zurückkommen, um eine Gefahr seinem Gebieter ausdrucksvoll zu melden.

Er stöberte etwas herum, meldete nichts — Georg schwang sich empor, nachdem er schon vorher einige Umschau gehalten hatte.

Es war ein von Mauern eingeschlossener Hof, der Boden mit Moos und Gras bewachsen, auch die den Brunnen verschließende Platte war es gewesen. Wenn das überall so war in den Burgen, dann freilich hatte man auch niemals einen Brunnen finden können.

Die ganze Rotte war ans Tageslicht gestiegen. Einige Matrosen erkannten sofort, daß sie schon einmal hier oben gewesen waren, auf einem Jagdausflug hatten sie diese Burg ganz zufällig gefunden. Sie waren einer angeschossenen Felsenziege nachgestiegen, auf einem verschlungenen Pfade, dem aber nichts anzumerken war, daß er sicherlich einst künstlich angelegt worden war, bis sie sich plötzlich in dieser Burg befunden hatten.

Es muß dies erwähnt werden, weil man wohl hier oben sofort ganz deutlich sah, daß das eine aus Quadersteinen aufgeführte Burg war, aber von unten war davon nichts zu bemerken, von keiner Seite aus, da sah man immer nur einen felsigen, zum Teil bewaldeten Hügel.

»Hier war der Eingang, und einen anderen gab es nicht!«

Diese Leute konnten gleich führen. Es war eine mäßig große Burg, deren Räume diesen Hof umgaben. Nur leere, nackte Kammern. Dann ein Tor, mit Angeln versehen, aber die Tür fehlte, und von hier aus ging es ohne weitere Sicherheitsmaßregeln, ohne Graben und Zugbrücke direkt ins Freie, jenen waldigen Pfad hinab.

Durch die mit Absicht ganz unregelmäßig angebrachten Fenster konnte man Umschau nach allen Seiten halten. Man blickte in das weitere Tal hinab, und dort lag der See, jener Nebensee, in dem sich im Wasser der große Felsen mit dem Schloß der Entsagung erhob — und dort unten fuhren die Galeeren herum oder lagen am Ufer.

Georg machte es kurz, hielt nicht erst einen Kriegsrat ab, um auch anderer Meinung zu hören.

»Wir greifen sofort an.«

Es war auch die Meinung aller, niemand hätte Widerspruch erhoben.

»Du und Du und Du — Ihr kommt mit — Du bleibst hier — Du kommest mit . . . «

Und so weiter. Zehn Mann sollten als Besatzung der Burg zurückbleiben, darunter der zweite Bootsmann als Kommandant, und für diesen Zweck hielt Georg den ehemaligen Bäckergesellen nun viel geeigneter als den ersten Bootsmann. Der mochte besser ein Schiff im Trockendock mit Balken abzusteifen verstehen, aber als Festungskommandant war August der Starke ganz entschieden vorzuziehen, der brauchte seine schuppengepanzerten drei Zentner Nettogewicht nur in das ungeschützte Tor zu klemmen, dann kam niemand mehr durch, und auch sonst konnte man sicher sein, daß der ehemalige Brezelkünstler den ihm anvertrauten Platz zu verteidigen wußte.

22 Leute kamen mit, von ihrem Waffenmeister angeführt, dazu noch Juba Riata und Mister Kabat.

»Wenns genau 200 Weibsbilder sind, dann kommen auf jeden von uns ganz genau achte!« sagte dieser letztere.

Der Eskimo war der einzige, der auf dieses Mißverhältnis aufmerksam machte, und er tat es auch nur, sich dabei schnell noch eine frische Pfeife stopfend, um seine Kenntnisse in der Mathematik zu beweisen.

Und das wußten auch alle anderen.

»Vorwärts!«

Die Kriegsmannschaft rückte ab, in die Schlacht, Georg an der Spitze. Zuerst also den steilen Pfad hinab.

»Lassen Sie mich vorausgehen — als Kundschafter!« bat Juba Riata nach kurzer Zeit.

Willig trat ihm Georg den ersten Platz ab. Der Hund war zurückgeblieben, und der ehemalige Cowboy und Pfadfinder hatte doch andere Augen für Spuren.

Der Pfad lief so, daß man den See nicht erblicken, man selbst also auch nicht von dort gesehen werden konnte.

Dann hatte man ebenen Boden erreicht, bewegte sich durch den Wald, in Schlangenlinie zwischen den Bäumen hin, immer auf den See zuhaltend.

Da hob Juba Riata den Arm, und alles stand.

»Deckung!«

Jeder verschwand hinter dem nächsten Baume oder warf sich zu Boden.

Nur noch wenige Baumreihen trennten sie von einer Waldblöße und über diese schritten jetzt vier schuppengepanzerte Amazonen, auf dem Haupte den Helm mit phantastischem Schmuck, aber das Visier hochgeschlagen.

»Sie sind des Todes, keine Schonung, denkt an unsere gemordeten Kameraden!« flüsterte Georg und hatte als erster einen Pfeil auf seinen Bogen gelegt.

Er zog die Sehne zurück — da aber begann seine ebenfalls schuppengepanzerte Hand zu zittern, wie kraftlos ließ er den Bogen sinken.

»Ich kann nicht — ich kann nicht!« erklang es leise stöhnend.

Und auch Juba Riata und Kretschmar zögerten noch, den aufgelegten Pfeil abzusenden, obgleich wohl aus einem ganz anderen Grunde, denn ihre Arme zitterten nicht, und hinter den Helmlöchern funkelten ihre Augen in ganz besonderer Weise.

Nein, die dachten an keine Schonung. Es war hier nur einmal so ein Fall eingetreten, der in solchen Situationen leicht sehr verhängnisvoll werden kann: einer wartete auf den anderen, daß er zuerst schösse, um nicht dasselbe Ziel zweimal zu treffen. So etwas mag bei jedem Schützengefecht zahllose Male vorkommen, bis sich die Leute aneinander gewöhnt haben.

Der Eskimo war es, der dieser bangen Situation ein Ende machte. Einen Speer aus dem Futteral hervorgezogen, den Arm zurückgeneigt, und die Harpune entsauste seiner Faust.

Und auch gegen den Lanzenwurf dieses grönländischen Harpuniers half solch ein Schuppenpanzer nichts. Sie alle wußten es, der Eskimo hatte es schon wiederholt an aufgestellten Panzern bewiesen. Wir aber haben davon noch nichts gesagt.

Das war kein Werfen mehr, das konnte man schon eher ein Schießen nennen. Jedenfalls erwies sich solch eine Lanze, von dieser Faust geschleudert, genau so furchtbar wie ein Pfeil, vom stärksten und geschicktesten Bogenschützen abgeschnellt.

Der Speer traf die eine Amazone in die linke Brustseite, tief drang die stählerne Spitze zwischen die Rippen,

der Schuppenpanzer hatte nicht schützen können. Mit einem gellenden Schrei warf das Weib die Arme hoch und stürzte in die Knie, schlug zu Boden.

Im nächsten Augenblick zischten zwei Pfeile durch die Luft, wieder waren zwei Brustharnische durchschlagen, wieder sanken zwei Amazonen ins Gras, die eine noch gellend schreiend!

»Die vierte gehört mir!« schrie Georg, seinen Bogen lassend und mit geschwungenem Entersäbel über die Waldblöße stürmend.

Diese vierte Amazone wußte wohl gar nicht, was sie erblickte, — dann wandte sie sich zur Flucht.

»Steh, Weib, und ziehe Dein Schwert!«

Und die Fliehende stand wirklich, wandte sich, ein verzweifeltes Gesicht, von selbst klappte das Visier des phantastischen Helms herab, sie zog das gewaltige Bronzeschwert, und sie erwartete nicht den Kommenden, stürmte selbst gegen ihn an.

Furchtbar prallten die beiden zusammen, furchtbar die Klingen gegeneinander, und diese gehärtete Bronze gab Funken, daß Feuer stob.

Aber nur kurz war der Zweikampf. Da sauste Georgs gewaltiger Entersäbel zwischen Hals und Schulterblatt, tief durchschnitt er die Schuppenrüstung, hochauf spritzte das Blut, mit einem Weheschrei ließ die Amazone ihr goldglänzendes Schwert fallen, brach zusammen.

»Nach dem See, nach dem See!«

Sie stürmten durch den Wald.

Da blinkte vor ihnen zwischen den Bäumen der Spiegel des Sees.

Da glitzerten vor ihnen die goldschimmernden Galeeren, und noch näher vor ihnen, noch an Land, die ebenso gleißenden Rüstungen der Amazonen.

Merkwürdig, hatten diese denn gar nicht das Kampfesgetöse und das gellende Schreien gehört?

Es waren gegen 50 Amazonen, die am Ufer um mehrere Feuer lagerten und sich der Ruhe hingaben, und noch ein Dutzend mochten an Deck der befestigten Galeere beschäftigt sein.

Sollten diese nichts gehört haben, daß sie gar nicht die Köpfe nach der Richtung wandten, von wo die Feinde durch den Wald gestürmt kamen?

Es war begreiflich. Die Strecke, welche die Anstürmenden durchmessen hatten, war eine weit größere, als sie in ihrer Erregung und Kampfesgier taxiert hatten.

Jetzt, als sie die letzten Baumreihen erreicht hatten, aber noch immer gegen 100 Schritte von den Amazonen entfernt waren, erhob sich die eine, trat näher ans Ufer und hob die Hand gegen die Wasserfestung, in der sie ihre Gegner sämtlich vermutete.

»Ihr elenden Feiglinge!« hörte man sie in englischer Sprache mit schaltender Stimme rufen. »Ihr Memmen, die Ihr Euch hinter Mauern verkriecht, von denen Ihr wißt, daß eine höhere Macht uns sie zu betreten verbietet — kommt hervor aus Eurem Versteck, Ihr elenden Füchse, daß wir Euch in Stücke zerhauen und Euer Fleisch den Geiern vorwerfen . . . «

Sie brach ab und wandte sich um.

Und sämtliche Amazonen sprangen auf und rissen ihre Schwerter aus den Scheiden.

Denn da kamen aus dem Walde die 25 schuppengepanzerten Männer hervorgestürmt, über das baumlose Grasland.

Die Weiber flohen nicht, ob sie sich nun in Übermacht fühlten oder nicht.

Die Visiere herabgelassen, und sie stürmten den Angreifern mit geschwungenem Schwerte entgegen, mit wildem Triumphgeschrei.

»Die Galeere beschießen, sie muß unser sein!« hatte Georg noch zuletzt geschrien.

So blieben von den Angreifern, nachdem sie nur noch eine kurze Strecke durchmessen, um sich der Galeere näher zu bringen, zwei zurück: Juba Riata und Kretschmar, um ihre Pfeile nach der Galeerenbesatzung abzuschnellen, und fast jeder durchschlug einen goldenen oder silbernen Schuppenpanzer.

In der Mitte des grasigen Uferstreifens prallten die beiden gepanzerten Haufen zusammen.

Im nächsten Augenblick freilich mußten die Weiber wohl mit Schrecken erkennen, mit was für Gegnern sie da zusammengetroffen waren.

Es war kaum ein Gefecht zu nennen, keine Schlacht mehr ein Schlachten und mehr noch ein Zermalmen.

Den ersten Hieb führte Georg, und sein Entersäbel spaltete einen massiven Bronzehelm und den darin befindlichen Kopf bis auf die Schultern, und gleichzeitig sauste sein mit der linken Hand geführter Gummiknüppel auf einen zweiten Helm herab, und auch mit dem linken Arm wußte er den richtigen »Zug« hineinzulegen, obgleich der Helm nicht in Trümmer ging, klang es doch nicht anders, als ob ein irdener Ton berste, der Getroffenen spritzte die Materie aus den Augenlöchern des Helms heraus, dann erst wurde Georg von einigen Schwerthieben getroffen, die aber unschädlich an seiner Schuppenrüstung abprallten, unter diesen Weibern, was es auch für Kriegerinnen und Athletinnen sein mochten, war eben wohl keine einzige, die mit dem Bronzeschwert solch furchtbare Schläge führen konnte, die dazu nötig waren, um diese Schuppenrüstungen zu durchschlagen — da streckte er schon die dritte, die vierte nieder, und die anderen ahmten ihm nach, wenn sie auch nicht so fürchterlich hausen konnten wie dieser Mann, der eben der Argonauten Waffenmeister war.

Da, als die Weiber sahen, wie ihre Kameradinnen überall zerfetzt und zermalmt niedersanken — da wandten sich diejenigen, welche es noch konnten, zur Flucht!

Und wenn sie auch vorher willens gewesen wären, mit Absicht ihren Tod zu finden, niemals einen Schritt zurückzutun, und wenn sie auch sonst die Energie besessen hätten, diesen Entschluß durchzuführen — im Moment, da sie die Wirkung der Waffen ihrer Gegner erkannten, konnte kein Todesmut Stich halten.

Von grausem Schrecken erfüllt, wandten sie sich und flohen davon.

Die Besinnung konnte zurückkehren, sie konnten wieder stand halten — aber jetzt mußten sie erst fliehen, da gab es nichts!

»Die Galeere, die Galeere!« schrie Georg, einigen fliehenden Amazonen nachsetzend.

Und da kam es, wie es gewöhnlich bei solchen Gefechten kommt. Wodurch sich eben das Gefecht von der Schlacht unterscheidet, wobei es gar nicht auf die Menge der Kämpfenden ankommt. Die Schlacht ist ein wohlgeordnetes Ganzes, wird wie ein Schachspiel gelenkt im Gefecht kämpft jeder nach Gutdünken, und da ändert auch ein vorher ausgemachter Plan nichts.

Natürlich mußte hauptsächlich auch die am Ufer liegende Galeere genommen werden.

Nun aber bezog das letzte Kommando des Waffenmeisters ein jeder auf sich, und wer nicht mehr mit einer Amazone zu tun hatte, der stürmte sofort der Galeere zu.

So kam es, daß Georg der einzige war, der den fliehenden Amazonen nachsetzte. Und es waren die ersten gewesen, die sich zur Flucht gewandt hatten, vier Weiber.

Sie flohen am Seeufer entlang, hofften auf eine andere Galeere, die jetzt in schnellster Fahrt, ohne gerudert zu werden, angeschossen kam.

Georg war schnellfüßiger, er holte die letzte Amazone ein, sein Entersäbel sauste durch die Luft und trennte der Fliehenden den rechten Arm glatt vom Rumpfe und durchschlug immer noch den die Brust schützenden Schuppenpanzer.

Da aber hatte Georg nur noch das Heft seines Entersäbels in der gepanzerten Faust. Die Klinge war zersplittert.

Es hatte wenig zu sagen, er warf den Griff weg, jetzt nahm er den Gummiknüppel in die rechte Hand.

Die Abfertigung dieser Amazone hatte seinen schnellen Sturmlauf kaum etwas verlangsamt, dies alles war im vollsten Laufe geschehen, er holte die zweite ein, der Gummiknüppel zertrümmerte ihr unter dem unverletzt bleibenden Helm die Schädeldecke — weitergerannt — da aber standen die beiden anderen Amazonen schon vor ihm, sie waren stehen geblieben und erwarteten ihn. Georg parierte einen Hieb, wohl gar nicht wissend, daß er statt des Entersäbels den Gummiknüppel in der Hand hatte — da schlug ein Bronzeschwert diesen kurz vor dem Griff ab.

Es hatte noch immer nichts zu sagen, in diesem Kampfe sollte der Waffenmeister der Argonauten immer noch Sieger bleiben, auch wenn er jetzt waffenlos war.

Die Schwerthiebe, die jetzt hageldicht auf ihn niedersausten, prallten an seinem Helm und Schuppenpanzer wirkungslos ab, höchstens daß sie ihn schmerzten — und lange schlagen konnten die beiden Weiber auch nicht, da stand Georg mit einem Sprunge schon dicht vor ihnen, und er packte die beiden an ihren Schuppengürteln, hob sie etwas in die Höhe und schmetterte sie zusammen, daß die Knochen krachten . . .

Da ward ihm von hinten die Helmkappe vom Kopfe gerissen, und er erhielt von solchem einem gelben Gummiknüppel, der nur etwas kürzer war, nämlich von seinem eigenen, der sich in der Hand einer anderen Amazone befand, die sich noch hinter ihm auf der Flucht befunden hatte, einen Schlag über den Kopf, daß er zwischen den beiden zusammenbrechenden Amazonen ebenfalls sofort zu Boden sank.

Sein Schädel war nicht zertrümmert worden, er war nicht tot.

Aber er wußte nichts davon, daß sein Körper jetzt von einigen anderen nachträglich geflohenen Amazonen aufgehoben und nach jener zu Hilfe gekommenen Galeere geschleppt wurde, und wie jetzt ein Trupp Argonauten angestürmt kam, da war es schon zu spät für sie, um ihren Waffenmeister noch diesen Weibern wieder zu entreißen. Die Galeere floh mit ihm davon.


110. KAPITEL.
DAS OPFER OBIS.

Als Georg wieder zu sich kam und mit klarer Besinnung um sich blicken konnte, befand er sich in einem kleinen orientalischen Raume, lag auf Teppichen und Polstern, bekleidet mit einem indischen Gewand.

Mehr braucht nicht beschrieben zu werden, und wir wollen zwei oder drei Tage und Nächte überspringen.

Denn so lange schätzte Georg die Zeit, die er hier verbrachte, ohne einen Menschen zu sehen zu bekommen.

Er wurde gut verpflegt. In eine Mauernische wurde zu regelmäßigen Zeiten das beste Essen gesetzt; was er dort hinein stellte, verschwand wieder; aber vergebens bemühte er sich, auch nur eine Hand zu erblicken, die ihn so bediente, und alle seine Fragen blieben unbeantwortet.

Ja, auf zwei bis drei Tage taxierte er die Zeit, die er auf diese Weise hier verbrachte. Ein Ausblick ins Freie war nicht vorhanden.

Wir wollen nicht versuchen, die Gedanken zu schildern, mit denen er sich während dieser Zeit beschäftigte. Fürchterlich langsam verstrich ihm diese Zeit, deren Länge er ja nur nach dem Gefühle des Hungers und nach den Perioden, nach welchen er Schlafbedürfnis empfand, ganz ungefähr abschätzen konnte. Vielleicht war er auch schon viel, viel länger hier. Weniger als zwei Tage und zwei Nächte aber sicher nicht.

Da endlich wurde er von seiner Pein erlöst. Freilich auf recht seltsame und durchaus nicht angenehme Weise.

Er hatte zum Nachtisch wie immer sein Schälchen vorzüglichen Kaffee erhalten, er hatte nichts besonderes geschmeckt, die nachfolgende Müdigkeit fiel ihm nicht auf, er war immer nur froh, wenn er schlafen konnte und wie er wieder erwachte, war er an Händen und Füßen gefesselt. »Wenigstens eine Abwechslung!« sagte er sich mit Resignation.

Es dauerte auch nicht lange, als ein Teppich von der Wand zurückgeschlagen wurde, zwei Amazonen traten ein.

Ohne ein Wort zu sagen, hoben sie den Gefesselten auf, trugen ihn davon.

Trugen ihn durch mehrere Korridore, Treppen hinauf und hinab, und Georg verschmähte es, irgend eine Frage zu stellen.

Der Transport endete in einem großen Saale, in dem sich die Amazonen befanden, alle schuppengepanzert. Sie waren zu irgend einem Zwecke im Karree aufgestellt, so konnte sie Georg leicht zählen. 16 mal 7 ist 112, dazu kamen noch drei Außenseiter und die beiden, die ihn trugen, macht zusammen 117, und bei dieser Zahl sollte es auch bleiben.

Sonst war der weite und sehr hohe Saal leer. Nur in der Mitte erhob sich eine steinerne Säule, ungefähr 15 Meter hoch und ein Meter im Durchmesser, und dann lief noch rings herum eine steinerne Wendeltreppe.

»Hähähähähähä!«

Georg, einfach an den Boden gelegt, wendete den Kopf, betrachtete die Gestalt, die so hämisch gemeckert hatte.

Eine seltsame, unheimliche Gestalt.

Man wurde an einen indianischen Medizinmann erinnert, der für eine feierliche Zeremonie sich in seinen Feststaat geworfen hat.

Ein Kostüm von den verschiedensten Fellen, bunt durcheinander zusammengenäht, Zobel und Karnickel und Eichhörnchen und was sonst noch kreucht und fleucht, denn auch Vogelbälge waren dazwischen, der Pelzlappen dort schien das Fell eines eben erst geborenen Bären zu sein, und dieses Kostüm nun behängt mit Eidechsen und Schlangen und Knochen von allen möglichen Tieren, besonders Schädel spielten eine Hauptrolle, auch drei menschliche Totenschädel klapperten an dem Gürtel, der, wenn sich Georg nicht irrte, aus Menschenhaut war, die nämlich im gegerbten Zustande eine ganz eigentümliche Struktur hat, und Portemonnaies und Brieftaschen aus Menschenhaut waren einmal in Frankreich in Paris sehr beliebt, Deutschland verschloß sich glücklicher Weise diesem Unfuge — und dann vor allen Dingen fiel noch die schreckliche Teufelsmaske auf, welche die Gestalt vor dem Gesicht trug.

Eine schreckliche Maske, so häßlich und scheußlich als möglich mit entsetzlichen Zähnen im Rachen, dabei offenbar mit Absicht angebrachte Zahnlücken, überhaupt ein ganz unregelmäßiges Gebiß — mag das zur Beschreibung dieser Maske genügen. In ethnographischen Museen sieht man solche Masken genug, besonders in der Abteilung für Neuseeland und die anderen SüdseeInsulaner.

»Hähähähähähä!« erklang es hinter dieser Maske.

Dieses Meckern kenne ich, oder ich will gehangen werden, sagte sich Georg.

»Guten Tag, Kapitän Satan.«

»Hähähähähähä!«

Nichts weiter, und die tierische Teufelsgestalt wandte sich von ihm ab.

Die zwei Amazonen hoben den Gefesselten wieder auf, trugen ihn die Wendeltreppe hinauf, dort oben auf der Plattform erhob sich noch ein manneshoher Pfosten, wohl aus Metall, an diesen wurde Georg in aufrecht stehender Stellung gebunden.

Die beiden Amazonen stiegen wieder hinab, unten das Karree löste sich auf, die Weiber bildeten um die Säule herum einen Kreis, faßten sich an den Händen und begannen im Kreise zu hüpfen, nach einer eintönigen Melodie, welche die Teufelsgestalt gellend aus einer großen Knochenpfeife ertönen ließ, unverkennbar ein menschlicher Schenkelknochen. Dabei bewegte er sich im Innenring in entgegengesetzter Richtung, und die hüpfenden Weiber sangen auch zu dieser Melodie ein Lied, für Georg unverständliche Worte.

Was sollte das bedeuten.

Georg dachte an etwas.

An den letzten Krieg Englands gegen die Buren.

Und diese Ideenverbindung war eine ganz logische, wie gleich gezeigt werden soll.

Am 30. Dezember trat Doktor Leander Jameson, Statthalter des Matabelelandes, also doch ein hoher Staatsbeamter, im Grunde genommen aber ein verwegener Abenteuer comme il faut, mit 800 Mann der Chartered Company, die er einfach aufgriff, so ungefähr wie sich der Hauptmann von Köpenick an die Spitze einer Abteilung Soldaten stellte, seinen Raubzug nach Transvaal an, marschierte einfach auf Johannisburg los, wollte eben so ein bißchen Krieg auf eigene Faust machen.

Nur zwei Tage währte dieser »Krieg«, schon am 1. Januar mußte sich Jameson bei Krügersdorp den Buren auf Gnade und Ungnade ergeben.

Das war die Ursache des Englisch—Südafrikanischen Krieges. Wenn sich die Sache auch noch drei Jahre hinausschob. Drei Jahre lang verhandelte die Republik Transvaal mit England wegen der verschiedensten Forderungen, immer mehr spitzte sich das Verhältnis zu, bis Transvaal am 9. Oktober 1899 die Forderung stellte, bis zum 14. solle England seine Truppen von der Grenze zurückziehen, wenn es nicht geschehe, sei der Krieg erklärt, England tat es nicht, und nun also mußte es losgehen.

Man weiß ja, wie traurig es England ergangen ist. Anfangs! Die Niederlagen bei Glencoe und, Dundee und Elandslaagte, am Tugela und Modderfluß — überall waren die Buren siegreich, brachten den Engländern schreckliche Verluste bei, eine Demütigung immer schlimmer als die andere, und zuletzt hatten die Buren fast die ganze englische Streitmacht in Ladysmith und in Kimberley und in Bloemfontain festgenagelt.

Ganz Europa jubelte. Die bekannte Geschichte vom getreuen Nachbar. Die Schadenfreude soll ja die aufrichtigste Freude sein. Dazwischen mischte sich aber doch auch etwas Mitleid. So eine gewisse herablassende Gnade.

»Die Buren peitschen die Engländer ins Meer. England ist für immer verloren, hört auf zu existieren. Das dürfen wir nicht zulassen. Da muß eine Macht interpellieren. Am besten Rußland. Noch besser Deutschland.«

So war damals in den deutschen Zeitungen zu lesen.

Ach Du lieber Himmel!

Haben diese Menschlein von Zeitungsschreibern eine Ahnung von England!

England verblutet sich lieber, ehe es sich werfen läßt, ehe es irgend eine fremde Einmischung duldet.

Aber England verblutet sich nicht so leicht.

Der Schreiber dieses lebte damals in England, in London.

Er hat etwas Unvergeßliches erlebt.

Diese ungeheure Begeisterung, von der plötzlich die ganze britische Nation ergriffen wurde!

Eben wegen dieser schmachvollen Niederlagen! Da erwachte der britische Stolz!

Und so ist es ja überhaupt immer. So lange alles gut geht, schlummert das Nationalgefühl. Erst im Unglück, in der Schmach erwacht es, da lodern die Flammen plötzlich hoch empor.

So war es damals auch in England.

Jetzt erst ging es richtig los.

Der alte ausgedörrte Lord Roberts wurde aus Indien geholt, innerhalb von zwei Monaten wurden zweimalhunderttausend Mann nach Südafrika geworfen!

Woher kamen diese 200 000 Soldaten plötzlich?

Ja, das ist es eben!

Man spotte nur über die englischen Söldlinge.

Die können der Welt noch etwas ganz anderes zeigen!

Gezwungen konnte niemand werden, das Gewehr zu nehmen.

Freiwillig verließen die jungen Leute die bestbezahlten Stellungen, um für die Ehre des britischen Löwen zu kämpfen! Die Londoner City war plötzlich ganz verödet. Diese 200 000 Soldaten brauchten auch Offiziere. Nun, daran ist ja in England kein Mangel. Wenn man auch jahrelang in England, in London leben kann, ohne unter Umständen einen einzigen zu sehen. Denn der englische Offizier trägt die Uniform nur im Dienst, nur vor der Front. Sonst ist er immer in Zivil. Und das gilt natürlich erst recht für die Reserveoffiziere. Und solche sind ja alle die Junker.

Und alle diese jungen Lords und Barone und Baronets gingen vor die Front.

Vorher aber, ehe sie sich einschifften, fand noch eine feierliche Zeremonie in der Kirche statt.

Dazu muß erst etwas bemerkt werden.

In England ist es fast allgemein Sitte, wenigstens in den besseren Bürgerkreisen bis hinauf zum höchsten Adel, daß die jungen Leute schon als Kinder verlobt werden. Sie werden von vornherein für einander bestimmt. Das ist ein besonderes Kastenwesen, ist aber auch gesetzlich streng geregelt. Der »Ehekontrakt« ist schon vom zwölften Jahre an bindend. Deshalb hört man so oft, daß die Engländerin schon mit dem zwölften Jahre heiraten kann, der Junge mit 14 Jahren. Das wird dann aber falsch verstanden. Es handelt sich nur um einen Kontrakt, der später erfüllt werden muß. Dann aber auch ganz gewiß! Man kennt doch das »breach of promise«, das Brechen des Eheversprechens. Wer das tut, der darf sich in England nur gleich als ruiniert betrachten. Das Eheversprechen braucht auch nur mündlich abgegeben zu sein. Deshalb erlebt auch der Deutsche in England so oft das Merkwürdige, daß ihm etwa auf der Straße ein zehnjähriger Bengel in kurzen Höschen ein achtjähriges Mädchen als seine Braut vorstellt, und kommt er dann in die Familie, so merkt er, daß dieses Verhältnis völlig ernst genommen wird, und wenn der Fremde hierüber lächelt und hinterher spottet, so stellt er sich nur selbst ein geistiges Armutszeugnis aus.

So waren auch alle die Offiziere, die damals nach Afrika gingen, verlobt. Wenn sie nicht schon verheiratet waren.

Verlobt durch schriftlicher Ehekontrakt, den sie schon als Kinder unterschrieben hatten.

Nun wird diese Verlobung, eben weil das in England etwas so Heiliges ist, später auch öffentlich in der Kirche gefeiert.

Und alle diese Offiziere, zirka 600, davon die Hälfte adlig, Lords und Barone und Baronets, ließen sich damals, ehe sie an Bord gingen, an ein und demselben Tage und an ein und demselben Tage und an ein und derselben Stunde in verschiedenen Kirchen Londons öffentlich durch Priestersegen verloben, und nicht nur das, sondern mehr als hundert haben auch gleich die Trauung vollziehen lassen!

Und diese zirka 600 Bräute und junge Frauen haben damals in die Hand des Priesters das Gelübde abgelegt, daß sie unverheiratet oder aber Witwen bleiben würden, wenn der Verlobte oder Gatte nicht wieder in die Heimat zurückkehren werde!

Die Verlobung oder Trauung wurde vollzogen, nur in der Kirche, und dann ging der Offizier sofort an Bord, um sich nach Afrika einzuschiffen.

Man muß doch zugeben, daß dies etwas ganz Gewaltiges, Imposantes gewesen ist!

Und wieviele dieser jungen Lords und Barons und Baronets und sonstiger Offiziere haben die Heimat nicht wieder gesehen, sind auf den Schlachtfeldern Südafrikas geblieben! Oft in Massengräbern verschwunden, wenn ihre Knochen nicht von Hyänen und Geiern verschleppt wurden.

Und daher kommt es, daß es heute in England besonders in den aristokratischen und höchsten Kreisen so viele ledige Damen gibt, welche die 30 schon überschritten haben, und so viele Witwen, die nicht wieder heiraten jungfräuliche Witwen!

Sie haben ihr Gelübde gehalten!

O, es war damals etwas Gewaltiges in England. Man muß dabei gewesen sein.

Nun aber noch etwas anderes, und das ist es, worauf es hierbei ankommt, woran Georg Stevenbrock dachte, als er dort oben auf der Säule stand und das Treiben der Weiber beobachtete.

Diese Zeremonie, mit der sich die englischen Offiziere verabschiedeten, war eine christliche gewesen, hatte sich doch in der Kirche abgespielt.

Aber vorher schon hatten diese Offiziere eine andere Zeremonie vollzogen, die nichts mit der christlichen Kirche zu tun hatte.

Hat man vielleicht schon gemerkt, daß, wenn einmal die Wogen der nationalen Begeisterung recht hoch schlagen, das Vaterland in größter Gefahr ist, dann das Volk gern zu seinen alten, heidnischen Göttern zurückkehrt?

Manchem Leser dürfte das vielleicht eine gewagte Behauptung dünken.

Aber es ist schon so.

Man muß nur darüber nachdenken. So ganz deutlich liegt es auch nicht auf der Hand.

Es ist etwas Verborgenes, Verstecktes dabei.

Das Volk selbst weiß es gar nicht.

Es ist nur eine dunkle Empfindung.

Zum lieben Gott wird hüben wie drüben in allen Kirchen um Sieg der »gerechten Sache« gebetet.

Eine dunkle Empfindung sagt jedem Menschen, daß dies ein fluchwürdiger Unfug ist.

Da kehrt das Volk lieber zu seinen alten, heidnischen Göttern zurück, die fleht es um Sieg an, um Segen der Waffen — ohne sich dessen richtig bewußt zu werden.

Die Germania, die Wacht am Rhein — es ist etwas Heidnisches dabei.

Denn mit dem Christentum hat es doch zweifellos nichts zu tun!

Der Schwur erschallt, die Woge rinnt, Die Fahnen flattern hoch im Wind.

Was für ein Schwur denn?

Da wird nichts vom lieben Gott und vom Heiland gesagt.

Schon die ganze Fahnengeschichlte hat etwas Heidnisches an sich!

Der alten Barden Schlachtgesang . . .

Na‚ da kommt doch einmal das Heidnische aus alter, grauer Germanenzeit ganz, ganz deutlich zum Vorschein!

Und was ist der höchste Siegespreis? Womit schmückt man den heimkehrenden Krieger?

Mit dem Eichenkranze! Mit dem Laube der den Germanen heiligen Eiche! Dem Donner— und Schlachtengott Thor geweiht!

Und bevor nun jene 600 englischen Offiziere sich öffentlich verloben oder trauen ließen, da schickten sie dieser kirchlichen Zeremonie noch eine andere voraus, an der sich auch die schon verheirateten Offiziere beteiligten, die mit nach Afrika gingen.

Im 11. Jahrhundert kam Herzog Wilhelm von der Normandie, unehelicher Sohn des Herzogs Robert, genannt der Teufel, und der Kürschnerstochter Arlotta, mit seinen normannischen Heerscharen nach England herüber, besiegte die Angelsachsen und krönte sich zum Herrscher des ganzen Inselreiches.

Mit diesem englischen König Wilhelm I., genannt der Eroberer, beginnt die Geschichte des heutigen Englands.

Der richtige Name ist Großbritannien und Irland, aber wir sagen einfach England.

Es hatte schon vorher ein »Engelland« gegeben, und was für eins! — Alfred der Große! — Aber die Geschichte des heutigen Englands beginnt mit Wilhelm dem Eroberer.

Er hat alle die Gesetze geschaffen, die noch heute in England in vollster Kraft bestehen.

Dieser geniale Mann hat auch mit wunderbarem politischem Geschick das stark französische Element, das er mitbrachte, denn seine ursprünglich skandinavischen Normannen waren schon stark mit romanischem, mit französischem Blute vermischt, mit den germanischen oder keltischen Angelsachsen zu verschmelzen verstanden.

Diese beiden verschiedenen Rassen sind noch heute in England ganz deutlich zu unterscheiden, dem Aussehen nach — schwarzhaarig und schwarzäugig und zur Körperfülle neigend — und auf der anderen Seite die echten Angelsachsen, flachshaarig blauäugig und dürr wie die Windhunde, knochig und sehnig wie die Rennpferde.

Aber das ist nur dem Äußeren nach. Als Nation sind diese beiden Rassen vollständig verschmolzen.

Dieses Kunststück hat schon Wilhelm der Eroberer fertig gebracht. Denn man muß nur bedenken, was es hieß, diese stolzen, trotzigen angelsächsischen Thans, wie die kleinen Fürsten hießen, zum freiwilligen Gehorsam zu bringen!

Wilhelm der Eroberer liegt in der Westminsterabtei begraben. Dort wird auch an einer besonderen Stätte sein Schwert aufbewahrt. An dieses Schwert knüpft sich eine Sage, sie kann aber im ersten Teile auch recht wohl auf Tatsache beruhen. Wilhelm soll sich vor seinem Eroberungszuge schon vorher inkognito als Spion in England aufgehalten haben, und da soll ihm einmal ein heidnischer Druidenpriester, dessen Vertrauen er sich erwarb, ein heiliges Schwert gezeigt haben, in einer heiligen Eiche versteckt, durch zahllose Menschenopfer geweiht, und wer dieses Schwert schwinge, der würde ganz England unter seine Gewalt bringen, der sei überhaupt unbesieglich, er brauche nur auf dieses Schwert zu schwören, entweder zu siegen oder zu sterben. Dann könne er allerdings in der Schlacht fallen, aber als Herrscher niemals besiegt werden. Und darauf kommt es dem Helden doch allein an.

Bisher sei kein angelsächsischer Than würdig gewesen, dieses Schwert zu führen. Diesem seinem Gaste aber schenkte der Druidenpriester es. Oder, ist eine andere Lesart dieser Sage, der gute Wilhelm hat dieses heilige Schwert einfach gestohlen.

Jedenfalls hat er es geführt, hat mit ihm England erobert.

Und nun, ehe jene 600 Offiziere nach Afrika gingen, noch vor jener kirchlichen Familienzeremonie, verschaffen sie sich dieses heilige, heidnische Schwert, heimlich, hatten um Mitternacht eine heimliche Zusammenkunft, zwischen Buckhursthill und Sharesbrock, in jenem Walde, in dem einst Robin Hood mit seiner grünen Bande gehaust hat, versammelten sich mit Mummenschanz unter einer uralten Eiche, die hier steht, unter der ganz sicher einst die Druiden Menschen geopfert haben, hier unter dieser Eiche riefen die 600 christlichen Offiziere Thor und Odin und die anderen heidnischen Götter an und legten auf dieses Schwert den Eid ab, in Südafrika entweder zu siegen oder zu fallen!

So, nun wußten sie, daß der britische Löwe auch diesmal in Südafrika siegen würde. Nun konnten sie wieder Christen werden, am anderen Tage mit ihren Bräuten in die Kirche gehen. Diese Episode ist historisch wenn davon damals auch nichts in den Zeitungen gestanden hat — aus leicht begreiflichen Gründen — im frommen England.

Und die Herren Söhne der englischen Zeitungskönige waren ja selbst mit dabei.

Aber man weiß ganz bestimmt, daß diese heidnische Zeremonie mit Wilhelms Schwert schon mehrmals stattgefunden hat.

Jedes Mal, wenn England mit einem Kriege bös in der Klemme steckte.

Das letzte Mal, vor diesem, im Jahre 1858, als England durch den furchtbaren indischen Aufstand beinahe seine reichste Kolonie verloren hätte. Es handelte sich nur noch um eine einzige Schlacht, ging auch die noch verloren, dann hätte England kein Indien mehr gehabt. Dafür hätten schon Frankreich und Rußland gesorgt. Da kam als letzter Retter General Havelock mit den letzten englischen Truppen und warf die Empörung nieder. Und damals hatten die nach Indien gehenden Offiziere ebenfalls bei Thor und Odin auf jenes heilige Schwert geschworen, entweder zu siegen oder zu fallen.


An alles dies dachte Georg, als er von seiner Säule herab die tanzenden und singenden Amazonen beobachtete.

Er kannte dies alles.

Er wußte auch von dem versteckten heidnischen Hintergrund in der deutschen Volksseele, sobald in Zeiten der nationalen Schmach das patriotische Bewußtsein erwacht, erst sehnend sich streckt.

Die alte, gute, deutsche Sage vom Kaiser Barbarossa, der im Kyffhäuser schläft — wer ist so blind, um hierbei nicht den heidnischen Hintergrund zu erkennen?

Sind es nicht Raben, dem Schlachtengotte Wodan heilige Raben, die den Berg umschwärmen? Na also!

Und da wußte Georg auch ganz bestimmt, was hier vorlag, weshalb die gepanzerten Weiber dort unten herumhüpften, nach den Klängen einer Melodie, die der herausgeputzte Hanswurst mit der Teufelsmaske auf einem menschlichen Schenkelknochen pfiff.

Und als ob ihm sofort die Bestätigung der Richtigkeit seines Gedankens werden sollte, so unterschied er unter den sonst ihm fremden Lauten ein einziges Wort, das er ganz deutlich verstand.

»Ooooobiiiii.«

So wurde langgedehnt gesungen.

Jawohl, nun war ihm vollends alles klar.

Er hatte vorhin 117 Weiber gezählt, und mehr wurden es auch nicht.

Wo waren die anderen von den 204 Weibern, die sie ursprünglich gewesen? Nun, mindestens zehn hatte allein Georg ins Jenseits befördert, neulich bei dem Scharmützel, dafür konnte er garantieren.

Und seine Jungens würden doch auch etlichen freie Passage gewährt haben.

Und unterdessen waren zwei oder drei Tage vergangen, sollten da nicht noch andere Gefechte stattgefunden haben?

Kurz, es war nur noch die Hälfte der Amazonen vorhanden. Und für diese sah es jedenfalls ebenfalls sehr traurig aus. Der gehoffte Sieg blieb aus.

»Hört, Ihr mohammedanischen Inderinnen, ich will Euch doch noch zum Siege verhelfen. Wenn Ihr Eurem dummen Propheten abschwört, Allah verleugnet und an meinen Obi glaubt. Hähähähähä.«

Georg glaubte es geradezu zu hören, diese Worte, die Kapitän Satan zu den Weibern gesprochen hatte, mit dem nachfolgenden Meckern.

Und diese Amazonen waren dazu bereit gewesen. Sie hätten noch etwas ganz anderes getan, um sich dieser fremden Männer zu bemächtigen oder sie zu töten, um sie zu besiegen. Sie hatten dem Allah und seinem Propheten abgeschworen, waren Obi—Anbeter geworden.

»Ich lasse mich doch gleich hängen, wenn es nicht so ist!« sagte sich Georg. »Und jetzt wird dem Obi ein Menschenopfer dargebracht. Und dieser Mensch bin ich. Das ist sehr traurig, aber . . . heiliger Gott, was ist das?!«

Ein rauchiger Geruch war ihm in die Nase gestiegen.

Er sah direkt zu seinen Füßen nieder, und da sah er, daß die Plattform, auf der er stand, siebartig durchlöchert war. Und jetzt begann aus diesen kleinen Löchern Rauch zu strömen.

Und da merkte er auch schon, daß diese Steinplatte sich zu erwärmen begann. Merkte es um so deutlicher, weil seine Füße unbekleidet waren.

Er hatte schon vorhin einmal daran gedacht, daß diese Säule doch eine Ähnlichkeit mit einem Fabrikschornstein habe, auf dem er stände.

Und jetzt ging ihm die Gewißheit auf, daß es ein Ofen war, auf dem er gefesselt stand, und dieser Ofen wurde geheizt.

Das Opfer Obis wurde lebendig verbrannt — nein, noch viel entsetzlicher, wurde lebendig langsam geröstet!

Und da, während seine nackten Fußsohlen fühlten, wie sich die Steinplatte immer mehr erwärmte, rieselte über seinen Körper das kalte Entsetzen.

Es wäre ja auch kein Mensch gewesen, wäre er von diesem furchtbaren Entsetzen nicht befallen worden.

Winseln und die bösen Menschen um Gnade anwimmern — das ist wieder etwas ganz anderes.

»Heiliger Vater im Himmel, erbarme Dich meiner!«

So betete Georg.

Ja, wenn die große Not kommt, die persönliche Not, wenns ans Leben geht, dann werden keine heidnischen Götter angerufen. Und gerade diejenigen Christen, die sonst am allerwenigsten an den lieben Gott denken, die wollen dann plötzlich mit dem lieben Gott anbändeln. Wer einmal eine Katastrophe mitgemacht hat, etwa den Untergang eines Passagierdampfers, der kann etwas davon erzählen. Geradezu possierlich ist es, wie da plötzlich alle die aufgeklärten Realisten und Materialisten und Nietzsche—Verehrer auf den Knien liegen und zum lieben Gott pater peccavi sagen. Vater, ich habe gesündigt. Ach, Du lieber, guter Gott im Himmel, laß mich nur diesmal noch gnädig durchschlüpfen dann will ich auch ein braves, artiges, frommes Kindchen werden, will jeden Sonntag in die Kirche gehen, zweimal, dreimal . . .

Der Schreiber dieses hats erlebt!

Zu diesen jämmerlichen Wichten gehörte Georg Stevenbrock nicht. Bei ihm wars keine Heuchelei, keine erbärmliche Feigheit.

Wenn er ab und zu dammichte, so war das wieder etwas ganz anderes!

»Heiliger Vater im Himmel, erbarme Dich meiner!«

»Ooobiiii!« sangen und heulten dort unten die im Kreise tanzenden Weiber.

Der Teufelspriester stellte sein Pfeifen ein, schlüpfte unter den zusammengefaßten Händen zweier Tanzenden hindurch, ging in den Hintergrund des Saales, verschwand dort durch eine Tür.

Georg hatte es gar nicht beachtet.

Die singenden und tanzenden Weiber hatten auch keine Begleitung mehr nötig. Immer mehr wurden sie wie von einer Raserei ergriffen. Immer gellender wurde ihr Gesang, ihr Heulen, immer heftiger wurden ihre Tanzbewegungen. Sie kamen eben in Ekstase. Brauchten dazu kein Mittel eingenommen zu haben, es brauchte kein betäubender Rauch den Saal zu erfüllen. Dieser Massentanz mit dem monotonen Liede, taktmäßig gesungen, genügte schon, um eine Art von ekstatischer Raserei hervorzubringen. Das kennt man doch.

Und dort oben wurde die Steinplatte immer wärmer und immer heißer!

Schon mußte der Gefesselte ab und zu einen der nackten Füße heben, oder wenn er es nicht schon unbedingt mußte, so empfand er es doch schon als eine Wohltat, wenn er nur auf einem Fuße stand, den anderen unterdessen der kühleren Luft preisgab.

Er neigte sich vor, so weit es seine Fesseln erlaubten, noch tiefer neigte er sein Haupt, und auf die Steinplatte tropften zwei große Tränen, um schnell zu verdunsten.

Und dann richtete er sich wieder auf, hob auch das Gesicht, um nach der nackten Steindecke zu blicken, denn er wollte beten, und das kann man nicht stehend, mit zur Erde gerichtetem Gesicht.

»Gnädiger Gott im Himmel, ich flehe Dich an, habe Erbarmen mit mir. Laß mich eines anderen Todes sterben. Gib mir einen ehrlichen Seemannstod, oder wie Du sonst bestimmst. Nur laß mich nicht hier als Opfer eines heidnischen Götzen lebendig rösten. Beweise, daß Du der einzige Gott bist, der allein die Macht hat, mache diesem frevelhaften Götzendienst ein Ende und ich glaube daran, daß Du es tust — ich weiß bestimmt, daß Du es tun wirst. Herr, Du Gott aller Welten, schicke mir einen Deiner Engel . . . «

Und da ward sein Gebet schon erhört!

Da erschien ihm schon der gewünschte Engel!

Aber nicht als geflügelter Engel frei in der Luft schwebend.

Um den ganzen Saal zog sich eine steinerne Galerie herum. Mit einer Brüstung versehen. In einer Höhe von etwa 12 Metern. Also die Säule in der Mitte war noch höher, so konnte Georg gerade noch über diese Brüstung weg blicken. Eine Treppe zu dieser Galerie führte nirgends hinauf. Aber eine Tür war oben vorhanden, Georg brauchte nur etwas schräg zu blicken. Ob diese Tür schon immer offen gestanden hatte, wußte er nicht.

Jedenfalls stand jetzt in dieser Tür der von ihm erbetene Engel.

Ein Engel, der ein gelbes Lederkostüm trug, nach seinen weißen Locken schon ein sehr alter Engel, aber sonst noch mit ganz jugendfrischen Gesichtszügen.

Und dieser lederne Engel, der sich Merlin nannte, hob die Hand und winkte ihm freundlich, dann legte er den Finger auf seine Lippen, klopfte darauf, winkte nochmals freundlich, und dann war der Engel wieder verschwunden.

Es hatte genügt.

»Gnädiger Vater im Himmel, ich danke Dir! Dir allein will ich die Ehre geben, jetzt und immerdar!«

So betete Georg mit überströmendem Herzen und überströmenden Augen.

»Oooooobiiiii!« heulten unten die gepanzerten Weiber beim rasenden Tanz.

Und dabei blieb es.

Wohl noch eine halbe Stunde verstrich, und es wollte sich nichts andern.

Und daß sich nichts änderte, das war eben das Gute dabei. Nämlich daß Georg nicht nötig hatte, seine Füße noch öfters zu heben. Kälter wurde die Steinplatte allerdings nicht, aber sicher auch nicht heißer. Und jetzt begann den Löchern, die zuletzt nur noch heißen Atem ausgehauscht hatten, wieder ein stickiger Qualm zu entströmen.

Offenbar wurde das unterirdische Feuer erstickt.

»Oooobiiiil«

Da tauchte in jener Galerietür eine andere Gestalt auf. Sie hatte nur ein einziges Bein, auf diesem kam sie hereingehüpft.

Etwas gebückt, obgleich der Ankömmling das gar nicht nötig hatte, denn von unten konnte er wegen der Brüstung unmöglich gesehen werden.

Er trug etwas unter dem Arm, oder unter beiden Armen — legte es hin. Was es gewesen war, hatte Georg nicht unterscheiden können.

Gruh war wieder hinausgehüpft, kam wieder herein, wieder etwas unter den Armen, legte es hin, hüpfte wieder hinaus. Und so tat er noch mehrmals.

Und dann kam wieder eine andere Gestalt durch die Tür. Es war nur ein schattenhafter Anblick gewesen, sie war gleich wieder hinter der Brüstung verschwunden.

Und dann stand diese dritte Gestalt plötzlich auf der steinernen Brüstung.

Es war ein kleiner Mann, ein sehr, sehr kleiner Mann, aber mit einem langen, langen Barte. Ein ganz echter Wichtelmann, ein Gnom.

»Halt!« rief eine sehr tiefe Stimme. Nicht eben auffallend für diesen äußerst breitschultrigen Zwerg mit dem langen Vollbarte.

Unten die rasenden Tänzerinnen erstarrten und verstummten plötzlich, blickten empor.

Und der Zwerg, auf der Brüstung stehend, machte eine höfliche Verbeugung und nahm das Wort.

»Meine hochverehrten Damen! Ich habe die Ehre, mich Ihnen vorstellen zu dürfen: mein Name ist Wenzel—Attila Ich bin professioneller Rechenkünstler. Ich erlaube mir, Ihnen eine kleine Probe von meiner Rechenkunst zu geben. Sie sind, wie ich zufällig weiß, genau 117 Damen. 117 dividiert durch 6 ist 19, Rest 3. Dazu werde ich die Probe aufs Exempel machen. Ich habe hier genau abgezählte 117 Stäbchen, sogenannte Rechenstäbchen. Diese werde ich in sechs Serien verteilen jede Serie zu 19 Stück, jede Dame erhält ein Rechenstäbchen, und wenn dann drei übrig bleiben, so muß das Exempel doch stimmen. Weshalb ich gerade sechs Serien nehme? Nun, meine Damen, Sie hatten doch die Güte meiner Frau, der Missis Rosamunde Wenzel—Attila, sechs Peitschenhiebe auf den nackten Rücken zu verabreichen! Für jeden Peitschenhieb eine Serie von neunzehn Stück! Und die letzten drei Pfeile sind für das Leben meines kleinen Hundes . . . los! Eins . . . «

Und beiden letzten Worten hatte der Zwerg hinter sich gegriffen, hatte plötzlich einen großen Bogen in der Hand, legte einen Pfeil darauf, der ihm ebenfalls gereicht wurde.

»Eins . . . «

Klatsch! ging es.

Die Weiber dort unten hatten regungslos gestanden, hatten ruhig zugehört, eben weil sie gar nicht wußten, was ihnen der kleine gepanzerte Mann dort oben erzählte, sich überhaupt schon über seinen Anblick wundernd, sich immer fragend, wie der denn da hinauf komme.

Da war der Pfeil geschwirrt gekommen.

Klatsch!

Er hatte eine gepanzerte Brust getroffen, nicht ganz genau in der Mitte, etwas mehr nach links.

In der Totenstille war dieses Aufschlagen der metallenen Spitze auf dem Bronzepanzer mit erschreckender Deutlichkeit zu hören gewesen.

Aber der Pfeil war von dem Schuppenpanzer nicht etwa abgesprungen, sondern er hatte ihn durchschlagen.

Und nicht nur den Brustteil, sondern die Spitze kam auch durch die Rückenseite wieder heraus.

Die durch das Herz geschossene Amazone warf die Arme hoch und stürzte lautlos zu Boden.

Da freilich wußten die anderen Weiber, was es geschlagen hatte, was der kleine Mann dort oben eigentlich wollte, und da blieben sie nicht mehr ruhig stehen.

Eine wilde Jagd nach dorthin, wo vorhin der Teufelszauberer verschwunden war, den Saal verlassen hatte. Ein furchtbares Drängen nach diesem einen Punkte.

»Zwei . . . « erklang es dort oben.

Klatsch!

Das zweite »Rechenstäbchen« war einer anderen Amazone durchs Herz gegangen, diesmal aber von hinten, durch den Rücken.

Das furchtbare Drängen nach ein und demselben Punkte war vergeblich gewesen, jetzt sahen es die Amazonen ein. Jene Tür war verschlossen, war gar nicht mehr vorhanden! Und einen anderen Ausgang aus diesem Saale gab es nicht!

»Drei . . . «

Klatsch!

Diesmal hatte sich der Pfeil einen Weg nach dem Herzen von der Seite her gesucht.

Wir wollen nicht jeden einzelnen Pfeil beschreiben.

Mit fürchterlicher Ruhe zählte der Zwerg sie her, wie er sie absendete.

Und unten rannten die Weiber herum.

Wie sollten sie sich vor den Todesboten schützen?

Es gab keinen Schutz, kein Versteck.

Höchstens hinter die Säule konnten sie sich stellen. Aber alle gingen sie nicht dahinter, noch nicht, da waren ihrer noch zu viele.

Zweimal war der Versuch gemacht worden, sich auf die Wendeltreppe der Säule zu stellen.

Beide Amazonen waren schleunigst wieder herabgesprungen, unter gellenden Schmerzensschreien.

Weshalb?

Nun, das war eben ein Ofen, der geheizt wurde, und er erhitzte sich von unten nach oben, war dort unten schon glühend heiß, wie ein gut angeheizter Kanonenofen, man konnte sich der Säule schon gar nicht mehr nähern, das war ganz deutlich erkennbar.

Das einfachste war da natürlich, daß sie sich hinwarfen, sich schon tot stellten.

Aber der fürchterliche Hunnenzwerg ließ sich nicht täuschen. Ganz abgesehen davon, daß er ja noch nicht den zehnten Teil Pfeile abgesendet hatte, wie dort Weiber am Boden lagen.

Er ließ sich nicht irre machen.

»Sieben! Sie sind wohl müde, meine Damen, daß Sie sich hinlegen? Oder Sie denken wohl, ich soll glauben, Sie hätten das Rechenstäbchen schon bekommen? Nein, meine Damen, da irren Sie sich, so einen Irrtum gibt es bei mir nicht, bei mir herrscht Ordnung, ich weiß ganz genau, wer sein Rechenstäbchen schon bekommen hat und wer noch nicht. Zum Beispiel Sie da, Madam, Sie dort hinten in der linken Ecke, passen Sie auf, ich stecke das Ihnen gehörende Rechenstäbchen unter Ihren rechten Arm, in die Achselhöhle hinein . . . acht!«

Und die bezeichnete Amazone hatte den Pfeil in die Achselhöhle bekommen, wälzte sich herum, krümmte sich wimmernd und streckte sich.

Da zogen die anderen vor, wieder aufzuspringen und ihr Heil in schnellem Hin— und Herrennen zu suchen.

Es nützte ihnen nichts.

Mit gelassener Ruhe zählte der Zwerg die Pfeile weiter, die ihm sein einbeiniger Begleiter einzeln reichte.

»Neunzehn! Die erste Serie ist voll! Die war also für den ersten Peitschenschlag. Jetzt kommt die zweite Serie für den zweiten Peitschenschlag. Eins . . . «

Klatsch!

Und so ging es weiter.

Und der Zwerg nahm sich Zeit.

Zwei Stunden gebrauchte er dazu, um die sechs Serien vollzumachen.

Jetzt hätten sich die letzten Überlebenden doch verstecken können müssen, ihn sonstwie täuschen.

Nein, es gelang keiner. Vergebens suchten sie sich mit Leichen zu decken. Der Zwerg ließ sich nicht täuschen, er wußte durch irgend ein Mittel immer ganz genau, ob eine Daliegende schon ihr »Rechenstäbchen« bekommen hatte oder nicht, und wie sie sich auch deckten, sein Pfeil wußte immer eine Blöße zu finden, immer in der Brust oder doch am Oberkörper, und wenn solch ein Pfeil durch den Magen oder durch die Eingeweide ging, dann war die Getroffene natürlich ebenfalls dem Tode verfallen, mußte sich nur noch länger in ihren Schmerzen krümmen.

Nur die allerletzten schienen Chance zu haben, ihr Leben noch zu retten, sich vor den Pfeilen zu schützen.

Diese wenigen konnten sich doch immer hinter der Säule halten, wie sie denn auch taten.

Jawohl!

Erstens blieb der Zwerg jetzt nicht mehr stehen, sondern veränderte auf der Brüstung manchmal seine Stellung, schon deshalb, weil Gruh die Pfeile portionsweise auf der ganzen Galerie verteilt hatte.

Nun, die letzten Amazonen achteten einfach darauf, daß die Säule zwischen ihnen und dem Todesengel blieb.

Aber dieser hatte es doch so leicht!

Er sprang einfach einmal herab von der Brüstung, verschwand dahinter, brauchte sich gar nicht erst zu bücken — und plötzlich stand er an einer ganz anderen Stelle wieder oben und sandte seinen unfehlbaren Pfeil ab, den Amazonen in den Rücken.

»Neunzehn! Die sechste Serie ist voll! Sind noch drei Pfeile vorhanden, Gruh? Ja? Also stimmt mein Rechenexempel. Dieser Rest von drei Pfeilen ist dem Andenken meines braven Hündchens geweiht, das Ihr in zwei Hälften halbiert habt! Eins . . . «

Klatsch! Und der zweite Pfeil warf die vorletzte Amazone nieder.

Stehen tat aber überhaupt keine mehr.

»Also das ist der letzte Pfeil, Gruh? Stimmt. Nun, wollen wir sehen, wo die letzte ist, der dieses letzte Rechenstäbchen gehört. Die ist so bescheiden, daß sie sich nicht freiwillig meldet. Aber da liegt sie ja. Hat sich ein bißchen ausgestreckt. Sie da, Madam, Sie da links von mir an der Säule, mit dem goldenen Helm, auf dem ein Raubvogel sitzt, der eine ganze Masse Augen hat — seien Sie doch so freundlich und drehen sich ein bißchen herum, sonst könnte ich Ihnen das Stäbchen nur in die Leber stecken

Da schnellte die bezeichnete Amazone empor, drehte sich ihm zu, breitete die Arme aus, um so den Todesboten durchs Herz zu erwarten.

»Danke sehr, — sehr freundlich. Drei!«

Klatsch! — Die letzte stürzte zu Boden.

Ruhe herrschte in dem von einer fürchterlichen Atmosphäre erfüllten Saale.

Es war erstickend heiß, und überall dampfte das Blut.

Nur hin und wieder noch ein leises Stöhnen, noch ein Todesröcheln.

Nur hier und da noch ein letztes krampfhaftes Zucken, ein Strecken im letzten Todeskampfe.

Nirgends mehr ein Krümmen und Winden.

Und jetzt streckte der auf der Brüstung stehende Zwerg den Arm aus, blickte halb empor, dabei aber seine Opfer nicht aus den Augen lassend, und feierlich erscholl seine tiefe Stimme:

»Großer Hunnenkönig, der Du jetzt herrschest in der himmlischen Wagenburg! Sieh hier das Werk Deines Enkels, des letzten Hunnen, der Deinen Namen führt! So hat er sich zu rächen gewußt! So hat er die Ehre seiner Gattin wieder hergestellt und damit auch seine eigene! Frau Rosamunde darf mit ihrem Gatten wieder an einem Tische sitzen!«

Sprach es, sprang herab von der Brüstung und verschwand durch die Galerietür.

Wieder herrschte Stille.

Diesmal war es wirkliche Todesstille.

Und doch — da erscholl neues Ächzen und Stöhnen.

Aber es erklang nicht hier unten, hier schlief schon alles still.

Dort oben auf der Plattform erklang dieses Ächzen und Stöhnen.

Schwer hing der Mann dort oben vorn über, nur die Banden, die ihn an den Pfahl fesselten, hielten ihn noch aufrecht.

Da öffnete sich dort unten wieder die verschlossene Tür.

Ein Mann trat in den Saal in gelbes Leder gehüllt Merlin.

Er schritt nach der Säule, über die Leichen steigend.

Er erstieg die steinernen Stufen.

Er hatte es nicht vermeiden können, daß seine Füße mit Blut besudelt worden waren, und bei jedem Schritte auf den Stufen zischte und qualmte es.

So glühend heiß waren diese Steinstufen Aber diesem rätselhaften Manne konnte die Feuersglut nichts anhaben, auch seine ledernen Schuhe verbrannten nicht, nur das fremde daran haftende Blut verzischte.

Er hatte die Plattform erreicht, er hob die Hand, strich dem Stöhnenden über die Augen, und das Stöhnen verstummte.

Dann band er den Gefesselten ab, hob den starken, schweren Mann auf seine Arme, als wäre es eine Strohpuppe, so trug er ihn die Treppe hinab, nur sorgsam darauf achtend, daß der Getragene nicht mit der Wand der Säule in Berührung kam.

Und so verließ er mit seiner Bürde den Saal.


111. KAPITEL.
ABWECHSLUNG MACHT VERGNÜGEN!

»Na‚ Sie kranker Starmatz, haben Sie endlich ausgeschlafen?«

Mit diesen Worten wurde Georg von Klothilde begrüßt, als er die Augen wieder aufschlug.

Er lag in seiner Koje, daneben saß Klothilde, den linken Fuß auf den Waschtisch gelegt und rauchte eine lange, schwarze Zigarre.

»Wo bin ich?« flüsterte der Erwachte.

»Na‚ nun stellen Sie sich mal nicht so dumm, als ob Sie das nicht wüßten.«

»An Bord unseres Schiffes, in meiner Kabine.«

»Die Wahrheit erkannt, o scharfsinniger und vom Lichte der Weisheit erfüllter Prophet!«

Georg schloß wieder die Augen und stöhnte

»Wenn Sie fertig sind mit Stöhnen, dann sagen Sies.«

»Klothilde, o Klothilde, wenn Sie wüßten, was ich erlebt habe . . . «

»Wir wissen alles. Wenn wir auch nicht dabei gewesen sind. Aber den Erfolg haben wir noch gesehen. Na, wir haben ja nicht schlecht schaufeln müssen, um diese Weiber unter die Erde zu bringen.«

»Sind denn alle tot?«

»Alle, alle, alle. Auch unsere vier Gefangenen.«

»Auch die?!«

»Haben die Zunge verschluckt.«

Noch einmal stöhnte Georg.

»Was stöhnen Sie denn schon wieder? Geniert Sie denn das, wenn andere Menschen Ihre eigene Zunge auffressen? Aber recht so, stöhnen Sie sich nur aus. Ja, mein lieber Waffenmeister, das hilft nun alles nichts, nun müssen Sie erst einmal alles erfahren. Ich habe meine Instruktionen bekommen. Erst einmal alles herunter von der Leber — dann aber ist auch vorbei! Also der Franz ist tot, hat damals in dem Scharmützel einen Pfeilschuß ins Auge bekommen. Und der Paul hat nur noch die linke Hand. Von der anderen verlor er den Panzerhandschuh und da ließ sich der dämliche Kerl die auch gleich abschlagen. Na‚ es hat für ihn nicht viel zu bedeuten. Paul war so wie so schon immer linkshändig. Und sonst ist nix weiter passiert.«

Georg drehte sich etwas um und vergrub sein Gesicht im Kopfkissen.

»Hören Sie, Waffenmeister, durch diese Taktik des Vogels Strauß wird weder Franz wieder lebendig, noch bekommt Paul seine rechte Hand wieder,« sagte die unbarmherzige Klothilde.

Und Georg drehte sich denn auch richtig gleich wieder um.

»Hat Franz noch lange gelitten?«

»Nee. Der Pfeil ging ihm durch das Augenloch des Helms direkt ins Gehirn, der war sofort tip—top—tot.«

»Tip—top—tot?«

»Yes. Sie wissen wohl nicht, was das ist? Dann, geehrter Herr Waffenmeister, sind Sie noch sehr rückständig, oder Ihre allgemeine Bildung hat durch den zwanzigstündigen Murmeltierschlaf etwas gelitten. Was das ist, tip—top—tot? Wenn sich jemand vom Leben zum Tode befördern will, und er hängt sich an einem Brückengeländer auf, überm Wasser, vorher noch nimmt er eine gute Dosis Arsenik ein, und dann, wenn er hängt, schneidet er sich die Pulsadern auf, und dann schießt er sich in jede Schläfe eine Revolverkugel, und dann hat er schon vorher auch noch eine glimmende Lunte angelegt, so daß der Strick nach einiger Zeit durchbrennt, so daß er also ins Wasser stürzt — wenn man dann den Kerl aus dem Wasser zieht, dann ist er tip—top—tot. Da ist jeder Scheintod ausgeschlossen, da sind alle Wiederbelebungsversuche vergeblich. Der ist einfach tip—top—tot.«

Aber Georg hatte kein Lächeln übrig.

»Klothilde, Klothilde — wie können Sie jetzt nur solche schreckliche Witze reißen!«

»Das will ich Ihnen sagen, weshalb ich das tue, Sie wißbegieriger Jüngling. Sie haben einen Wurm am Herzen sitzen. Es ist ein ganz trauriges Vieh. Dieser Wurm muß totgekitzelt werden. So hat jener Merlin gesagt, als er Sie angeschleppt brachte. So hat er zu Doktor Isidor gesagt. So behauptet der wenigstens. Und diesen traurigen Wurm an Ihrem Herzen totzukitzeln, diesen Auftrag hat die Klothilde Gracco aus Genua bekommen. Deshalb sitzt die hier und hat so lange gewartet, bis Sie aufgewacht sind.«

»Sie sollen mich zum Lachen bringen?«

»Ahem, Sie habens erfaßt. Die Krisis haben Sie bereits überstanden. Vergebens habe ich vorhin in Ihren semmelblonden Locken nach einem weißen Haare gesucht. Eine Laus habe ich drin gefunden — oder 's war wohl eine Ameise — aber kein einziges weißes oder auch nur gräuliches Haar. Und nun müssen Sie noch einmal herzhaft lachen, so daß Ihr ganzer hochgeschätzter Bauch wackelt und Ihr Zwerchfell einen kleinen Riß bekommt. Dann sind Sie wieder kerngesund. So hat der Merlin gesagt, so berichtet Doktor Isidor, und ich will verdammt sein, wenn ich nicht glaube.«

»Klothilde, Klothilde — was ich erlebt habe — ich werde das Lachen und jedes Lächeln für immer verlernt haben.«

Klothilde schnippste die Asche von ihrer Zigarre ab, nahm den Fuß vom Waschtisch und beugte sich vor, blickte den in der offenen Koje Liegenden ernst an, tiefernst.

Doch so tiefernst war sie überhaupt immer, und wenn sie auch die schrecklichsten Kalauer riß. Nur daß sie jetzt einmal nicht ihre gewöhnlichen Grimassen schnitt.

»Hören Sie, Waffenmeister, ich will Ihnen mal ein Geschichtchen erzählen. Selber erlebt. Etwas für Ihren Wurm, um den totzukitzeln, ist freilich nicht, im Gegenteil, der wird dadurch nur noch lebendiger. Aber schadet nichts, das Totkitzeln kommt erst später dran.

Sie wissen doch, was für ein klassisch gebildetes Frauenzimmer ich bin. Ich kann sogar lesen. Und so sorge ich immer für meine Weiterbildung. Und wenn ich einmal ein Buch haben will, dann kanns meinetwegen drei Groschen kosten, dann kaufe ichs mir.

Also da sehe ich einmal, wie ich mit meinem Schiffe in Hamburg liege, bei so einem fliegenden Buchhändler, der die ganze Weltliteratur mit der Schubkarre herumführt, einen kleinen Schmöker liegen. Die göttliche Komödie von Dante Alighieri. Sie kennen se. Ich ooch. Hatte sie im Urtext gelesen, im Italienischen. Das hier war eine deutsche Übersetzung. War doch gespannt, wie man das im Deutschen wiedergeben konnte.

Kostet? Fuffzn Reichsfenge. Ich berappe. Mehr als fünfzehn Pfennige war der Schmöker auch nicht wert. Erstens wars überhaupt nur der mittlere Teil, das Inferno — die Hölle — und zweitens hatte der alte Dante im Senf gelegen. Das ganze Buch ein einziger Senffleck. Wenns nicht etwas anderes gewesen war.

Also ich lese die deutsche Übersetzung von Dantes Hölle. Schön, sehr schön. Das heißt als Übersetzung.

Denn sonst — — Sie wissen doch, wie die armen Luder da unten geschunden werden.

Und wie ich nun zur letzten Seite gekommen bin, diese herumblättere, die allerletzte Seite sehe, die noch einmal extra recht tüchtig mit Senf beschmiert worden ist, da sehe ich eine Handschrift, ganz fein säuberlich mit Tinte geschrieben, und was ich da gelesen habe, die Zeilen eines namenlos gebliebenen Dichters, das steht mir noch heute ganz deutlich vor den Augen.

An den göttlichen Dante, nachdem ich seine Hölle gelesen habe:

»Um das Lächeln zu verlernen,
Brauchts nicht dort hinabzusteigen.
Allen Schmerz, den Du gesungen,
Alle Pein und Qual und Wunden
Hab ich schon auf dieser Erde,
Hab ich in Florenz gefunden.«

Klothilde machte eine Pause, ohne ihre Stellung zu verändern, dem in der Koje Liegenden immer tief in die Augen blickend.

»Sehen Sie, Waffenmeister,« fuhr sie dann fort. »Daran dachte ich als Sie vorhin sagten, Sie glaubten, das Lächeln für immer verlernt zu haben. Da mußten mir jene Zeilen natürlich sofort einfallen. Und was dieses Verslein auf mich damals für einen furchtbaren Eindruck gemacht hat, das kann ich gar nicht sagen. Das lag bei mir nämlich noch viel tiefer.

Nämlich auch ich war schon einmal in Florenz gewesen. Hatte mich einmal bezecht wie eine Strandkanone, mit dem höllischen Absinth, war bewußtlos von der StraBe aufgehoben worden. Wie ich wieder zu mir kam, lag ich im Asyl für Säuferinnen, Absinth—Säuferinnen.

Florenz war nämlich damals — zum Teil auch heute noch — durch und durch von Absinth verseucht. In keiner Stadt Italiens wird so viel Absinth getrunken als in Florenz. Und der Mann, der diesen Höllenstoff fabriziert, der namenloses Unglück in die Welt setzt, der ist in Italien dasselbe, was in Deutschland ein Kommerzienrat ist. Ist es durch seine »Verdienste« geworden.

Jener Dichter hatte nur von Florenz gesprochen, um eine der schönsten Städte der Erde zu nennen, wo man schon unter lebenden Menschen all das Elend, all die Pein und Herzenswunden finden kann, die Dante in seiner Hölle geschildert hat.

Ich aber habe dies als tatsächlich in Florenz gefunden!

In dem Asyl für Absinth—Trinkerinnen.

Drei Tage hielt man mich dort eingesperrt.

Waffenmeister, Waffenmeister — was ich da zu hören bekommen habe!

Was mir da diese armen Frauen und Mädchen erzählt haben, als sie mir einen Blick in ihr Herz gewährten!

Meistenteils ganz gute, brave Weiber — aber der Absinth, ach, dieser höllische Absinth — aus der Familie gerissen — getrennt vom Gatten und von den Kindern — verstoßen und verachtet vom Vater und von Mutter — von den eigenen Kindern angespien . . .

Waffenmeister, Waffenmeister — ich muß es wiederholen, ich kann nicht anders!«

»Um das Lächeln zu verlernen,
Brauchts nicht dort hinabzusteigen.
Allen Schmerz den Du gefangen,
Alle Pein und Qual und Wunden
gab ich schon auf dieser Erde,
Hab ich in Florenz gefunden!

Die Sprecherin schwieg.

Noch immer saß sie vorgebeugt da, dem Kranken tief und ernst in die Augen blickend, und ebenso blickte Georg.

»Klothilde,« sagte er dann, »was Sie doch für schöne Augen haben — wunder—wunderschöne Augen!«

Klothilde schnitt eine fürchterliche Grimasse, streckte die Hand aus und krabbelte Georg mit dem Zeigefinger unterm Kinn.

»Ei, Sie kleiner Schäker, Sie wollen mir wohl die Cour schneiden?! Nee, Waffenmeister, is nich — is nich mehr Klothilde hat abgesattelt.«

Sie lehnte sich wieder zurück, legte gleich alle beide Füße auf den Waschtisch und paffte mächtig.

»Es war nicht umsonst,« fuhr sie dann fort, »was ich Ihnen da erzählt habe. Es gibt ein Leid auf der Erde, das über jede Vorstellung geht. Die Abschießerei der 117 Amazonen durch unseren Hunnenzwerg ist dagegen die reine Kinderspielerei gewesen. Nicht viel anderes als wenn man mit einer persischen Insektenpulvergummiflinte in ein Wanzennest spritzt. Denn das waren ja überhaupt gar keine Menschen mehr, nicht einmal mehr mütterlich fühlende Wölfinnen. Wir haben nämlich überhaupt nichts mehr Lebendiges in jenen Felsenräumen gefunden. Zur Ehre Obis, um sich den Sieg über uns zu sichern, haben sie auch alle die Kinder geopfert, geschlachtet oder gar lebendig verbrannt, ihre eigenen Kinder, deren Väter jene Indianer und die englischen Matrosen waren. Was sagen Sie dazu?«

Diese Mitteilung machte trotz aller Fürchterlichkeit auf Georg nicht mehr solch einen Eindruck wie vorhin, da er den Tod des Matrosen erfahren hatte.

»Wie ist Attila eigentlich da hineingekommen?«

Klothilde berichtete, so weit sie selbst etwas davon wußte.

In dem vor nunmehr drei Tagen stattgefundenen Kampfe am Ufer um die Galeere waren nicht weniger als 87 Amazonen auf dem Platze geblieben. Überhaupt alle, welche zu dieser Galeere gehört hatten. Auf Georgs Rechnung allein waren elf gekommen, und hätten alle 85 Argonauten so gearbeitet wie ihr Waffenmeister, so hätte es ja 385 Tote geben müssen. Geschont war natürlich nichts worden, es gab keinen Pardon, was noch lebte, wurde nachträglich mit dem Gummiknüppel totgeschlagen, ohne daß der Betreffenden erst das Helmvisier gelüftet wurde, und so waren sie dann auch begraben worden.

Als die Amazonen auf den anderen Galeeren diesen furchtbaren Erfolg ihrer Feinde sahen, mochte sie kaltes Grausen überlaufen. Oder sie sahen eben die Zwecklosigkeit eines weiteren Kampfes zu Lande ein. Keine Galeere landete mehr. Sie alle zogen sich sogar sehr schnell zurück, als sie sahen, daß die Argonauten die erbeutete Galeere dazu benutzen wollten, um jetzt auch zu Wasser gegen sie vorzugehen.

Denn was es mit der geheimnisvollen Triebkraft der Galeeren für eine Bewandtnis hatte, das hatte man nun bald heraus. Wenn auch immer noch ein großes Rätsel dabei bestehen blieb.

Der Kielraum dieser metallenen Ruderboote bildete doch überhaupt ein geschlossenes Bassin. Der von dieser genommenen Galeere zeigte sich halb mit Wasser gefüllt. Weiter fand man in einem besonderen Kasten haselnußgroße Stücke einer Substanz, schwarz und glänzend wie Steinkohle, aber bedeutend schwerer.

Diese schwarze Masse hatte die Eigenschaft, das Wasser bei der bloßen Berührung in seine beiden Elemente zu zersetzen, also in Wasserstoff und Sauerstoff, welche Mischung man Knallgas nennt, was zwar unter Zischen geschah, aber ohne besondere Wärmeentwicklung.

Was das für eine Substanz war, das hatte Doktor Isidor in seinem Laboratorium bis jetzt noch nicht herausbekommen. Wohl hatte die Analyse schon Aluminium und Chlor in bestimmtem Mengeverhältnis ergeben, aber das dem Chemiker bekannte Chloraluminium war es nicht, das ist eine weiße, äußerst hygroskopische Masse.

Nun, damals hatte man sich nicht mit solchen Untersuchungen aufgehalten. Eine besondere Vorrichtung ganz einfach und doch überaus genial ausgedacht, ermöglichte, diese schwarze Masse in jeder beliebigen Quantität in den mit Wasser gefüllten Kielraum einzulassen, ohne diesen erst öffnen zu müssen, weiter erkannte man nun auch die beiden Röhren, die außen am Schiffskiel nach hinten liefen, das in dem geschlossenen Bassin entstehende Knallgas preßte das Wasser mit hohem Drucke nach hinten zu den Röhren heraus, auf diese Weise schoß das Fahrzeug so schnell vorwärts, das verbrauchte Wasser konnte immer wieder ergänzt werden.

Als man diese Vorrichtung erkannt hatte, ging die Jagd sofort los. Den gefangenen Waffenmeister wieder befreien, darum handelte sich jetzt doch alles!

Aber schon die sämtlichen Galeeren waren auf dem Rückzuge begriffen, und man konnte sie nicht einholen, und als man auch von der letzten noch weit entfernt war, verschwand auch diese in einem Felsentore.

Dafür stand an einer anderen Stelle des Ufers Merlin und winkte, er wollte an Bord, und er brachte gleich die beruhigende Nachricht.

»Seid ohne Sorge, Euer Waffenmeister lebt noch und wird am Leben bleiben — ich selbst werde ihn retten, was diese Amazonen auch über ihn beschließen.«

Zwei Tage vergingen. Die Sorge wuchs ja allerdings wieder, zumal sich Merlin nicht mehr blicken ließ, aber man traute doch seinem Versprechen.

Und gestern war er mit einem Boote angekommen, in seiner Gesellschaft befanden sich Attila und Gruh und auch den Waffenmeister brachte er mit, in tiefem Schlafe liegend!

Merlin hatte nur einige Anordnungen über den Geretteten gegeben, den er wohl in künstlichen Schlaf versetzt, Gruh war überhaupt kein Erzähler, und was Attila berichten konnte, war auch nicht viel.

Er war Merlin im Walde begegnet.

»Das Maß dieser Weiber ist voll. Willst Du sie sämtlich mit Deinen Pfeilen vernichten?«

So ungefähr hatte er gesprochen. Natürlich war der Zwerg mit Vergnügen hierzu bereit.

Er mußte gleich mitgehen, auch Gruh, die beiden hatten sich mit genügend Pfeilen versehen müssen.

Sie waren auf die Galerie des Saales geführt worden, in dem die Weiber die Orgie mit Menschenopfern feierten.

»Das andere wissen Sie ja selbst am besten!« schloß Klothilde ihren Bericht. »Wir sind dann hingegangen und haben die Toten nur noch begraben.«

»Wer hat nun den Ausgang verschlossen?« fragte Georg.

»Das wissen wir nicht.«

»Der Kapitän Satan selbst? Hat der es vielleicht selbst von vornherein darauf abgesehen, diese Weiber zu vernichten?«

»Das wissen wir nicht, kann ich nur wiederholen. Aber die Versicherung hat uns Merlin noch gegeben, daß wir in diesem Tale nun keinen Menschen mehr zu fürchten bitten, denn Kapitän Satan und seine Leute, obgleich sie noch hier hausten, kämen für uns gar nicht in Betracht. So, mein lieber Waffenmeister, nun wissen Sie alles, was ich Ihnen hierüber berichten kann, jede weitere Frage ist zwecklos. Sonst kann ich Ihnen nur noch mitteilen, daß die Reparatur unseres Schiffes gute Fortschritte macht. In einigen Tagen könnten wir, wenn wir wollten, diese Gegend wieder verlassen. Nun aber noch etwas anderes, was Sie sehr interessieren wird: wir werden in Bälde an Bord des Schiffes ein freudiges Familienereignis erleben.«

»Die Holle? Oder etwa gar die Chloe?!«

Wie schon gesagt, Klothilde war immer tiefernst, selten, sehr selten sah man sie lachen — aber dafür schnitt sie jetzt wieder eine ihrer fürchterlichen Grimassen.

»Na‚ mein lieber Waffenmeister, wenn Sie das an Bord unseres Schiffes ein besonderes freudiges Familienereignis nennen, wenn ein Hundevieh Junge bekommt, dann können Sie mir leid tun, und dann könnten wir ja Feste feiern . . . «

»Doch nicht etwa gar die Herzogin?!«

Jetzt riß Klothilde ihre Augen vor Staunen sperrangelweit auf.

»Waffenmeister, ich glaube, bei Ihnen piepts! Mensch — wie kommen Sie auf die Idee, unsere kleine Prinzeß könnte . . . «

»Um Gottes willen, Klothilde, ich meine doch unsere vierbeinige Herzogin, die Marquise, die Königstigerin!«

Klothilde verringerte die Weite ihrer Augen nur um ein geringes.

»Dann verstehe ich Sie immer noch nicht. Wie soll denn unsere Marquise zu Mutterfreuden kommen?!«

»Nun, durch unseren Leo.«

»Durch den Löwen?! Die Königstigerin?! Waffenmeister, Sie müssen doch noch nicht ganz bei Besinnung sein. Haben Sie denn etwa schon einmal gehört, daß eine Tigerin mit einem Löwen Junge erzeugen kann?«

Jawohl, das gibts! Klothilde war eben diejenige, die hiervon noch nichts gehört hatte. Es ist allerdings auch noch gar nicht so lange hier, daß solche Bastarde zwischen Löwen und Tiger erzeugt worden sind. Obgleich man schon im alten Rom davon gewußt zu haben scheint, bei den Kampfspielen im Zirkus sollen solche künstlich erzeugte Bastards verwendet worden sein. Mehrere Schriftsteller jener Zeit sprechen davon. Wir haben es ins Reich der Fabel verwiesen. Heute muß man es wieder als Tatsache anerkennen.

Klothilde mußte sich belehren lassen.

»Nein, auch die Marquise ist es nicht, es kommt überhaupt gar kein Vierbeiner in Betracht.«

»Was, ein Mensch, eine von unseren Borddamen?!« fuhr da Georg jäh empor.

»Ahem, jetzt haben Sies erfaßt.«

»Doch nicht . . . die Frau Major von Tonn?!«

»Nee.«

»Die Gräfin von Mohakare?!«

»Ooch nich.«

Man sah es Georg an, wie er sein Hirn marterte, wie er etwas aussprechen wollte, es aber nicht wagte.

»Eine von . . . den gefangenen Amazonen?«

»Mensch, da verlangen Sie zu viel, die sind doch tot! Bleiben Sie nur bei den Lebendigen, raten Sie weiter. Ich will Ihnen aber jedes unangenehme Gefühl dabei ersparen. Es hat nicht etwa ein Techtelmechtel stattgefunden, es ist eine verheiratete Dame. Na‚ kommen Sie nun auf den Trichter?«

»Eine verheiratete Dame?« wiederholte Georg. »Ja, welche hätten wir denn da außer den schon genannten noch an Bord?!«

»Wirklich keine mehr? Waffenmeister, Sie müssen durch den zwanzigstündigen Schlaf doch eine gute Portion von Ihrem Verstehstemich verloren haben. Sie kommen wirklich nicht drauf? Eine Dame, die etwas kurz geraten ist . . . «

»Was, doch nicht etwa die Frau Rosamunde?!«

»Ahem, jetzt haben Sies erfaßt.«

»Diese Zwergin?! Wie ist denn das möglich?!«

»Was noch niemals geschehen ist, kann noch immer jeden Tag möglich werden. Noch immer geschehen Zeichen und Wunder. Oder da braucht auch von einem Wunder gar keine Rede zu sein. Das macht eben die gesunde Seeluft und die gute Schiffskost, oder vielleicht haben auch die Klitsche mitgeholfen — Doch Spaß bei Seite! Frau Rosamunde ist in bester Hoffnung, in Bälde Mutter zu werden. Und wenn sonst alles klappt, dann müssen's Drillinge werden.«

»Was, Drillinge! Woher wollen Sie denn das wissen?!«

»Weil ichs geträumt habe. Faktisch ich habe vor acht Tagen geträumt, Frau Rosamunde hätte drei Drillinge bekommen . . . «

»Drei Drillinge?! Also gleich neun zusammen?!«

»Sie sind ein Quasselkopp! Nur dreie einfach, meine ich. Ich habe nichts von meinem Traume erzählt, er war ja doch zu blödsinnig, und nun ist doch so weit gekommen. Obgleich ich sonst nicht an solche Wahrträume glaube. An Drillinge dürfen wir freilich nicht denken. Und doch, vorkommen kann so etwas. Wir haben so einen Fall in unserer Verwandtschaft gehabt. Eine Tante von mir, ein ganz zartes Püppchen, wenn auch nicht gerade eine Zwergin, hatte einmal Drillinge, lauter Jungen, und wenn sie nicht gestorben sind, dann müssen es noch heute stramme Bengels sein.«

»Und ich, Klothilde, ich habe eine Tante, die Frau von meines Vaters Bruder, die hat zweimal Zwillinge und zweimal Drillinge bekommen, zusammen zehn Stück.«

»Auf einmal?«

»Nee. In drei Portionen, innerhalb von fünf Jahren.«

»Hm. Immerhin. Das ist viel. Da hat ihr Mann wohl immer in der Kneipe gesessen?«

»In der Kneipe gesessen? Wie meinen Sie das?«

»Kennen Sie nicht die Geschichte vom Herrn Huber?«

»Was für ein Herr Huber?«

»Lassen Sie sich erzählen.«

Und Klothilde erzählte.

Herr Huber sieht nach langjähriger kinderloser Ehe dem ersten Familienereignis entgegen. Er zieht es vor, da er ja doch dabei ganz überflüssig ist, diesen großen Moment in der Kneipe vorübergehen zu lassen, womit seine Frau auch ganz einverstanden ist.

Also Herr Huber sitzt nebenan seelenruhig beim Bier.

Da kommt die Hausmagd angelaufen.

»Herr Huber, ich gratuliere! Ein strammer Junge ist angekommen!«

»Schön, schön, ich danke Dir, meine liebe Annemarie!« sagt Herr Huber freudestrahlend. »Sage meiner Frau, ich hätte mir grad noch eine frische Maß bestellt — dann komme ich nach Hause.«

Herr Huber hat die frische Maß eben erst angetrunken, da kommt die Annemarie schon wieder gelaufen.

»Herr Huber, Herr Huber, es sind Zwillinge — es ist noch ein Mädchen nachgekommen!«

»S0o007? Na‚ schön. Sage meiner Frau, ich will noch hier die Maß austrinken, dann komme ich nach Hause.«

Herr Huber ist mit seiner Maß noch nicht ganz fertig, da kommt die Annemarie zum dritten Male angelaufen

»Herr Huber, Herr Huber, Herr Huber — es ist auch noch ein zweiter Junge nachgekommen, es sind Drillinge!«

Da springt der Herr Huber auf.

»Himmeldonnerwetter noch einmal! Nun wirds aber die höchste Zeit, daß ich nach Hause komme! Sonst macht die noch 's ganze Dutzend voll!

Klothilde schwieg, blickte den kranken Mann an.

»Na‚ fühlt sich der melancholische Wurm an Ihrem Herzen noch nicht gekitzelt?«

»Nein, Klothilde, mir ist noch immer durchaus nicht lachhaft zumute. Sagen Sie mal, Klothilde — mir fällt es gerade ein — Sie sind doch katholisch, nicht wahr?«

»Na und wie! Bis auf die Knochen und noch tiefer!«

»Römisch—katholisch?«

»Römisch—katholisch — immer nur römisch.«

»Also griechisch—katholisch sind Sie in Ihrem religiös bewegten Leben noch nicht gewesen?«

Da plötzlich legte Klothilde beide Hände an ihre linke Backe und fing zu heulen an wie ein Kettenhund, den man zu füttern vergessen hat.

»Aaaauuuu. Jaaaa — ich bin schon einmal griechischkatholisch gewesen — aaauuuu . . . «

»Na nu!« staunte Georg, wenn er auch noch kein Lächeln übrig hatte. »Was ist denn plötzlich los mit Ihnen?!«

»Aaaauuu!« heulte Klothilde nach wie vor, sich immer die linke Backe haltend. »Jaaaa, ich bin einmal griechisch—katholisch gewesen — einmal und nicht wieder — aaauuuu mir tun noch jetzt alle Zähne weh, wenn ich dran denke, wie ich getauft und gefirmelt worden bin.. <

»Hat denn das so weh getan?«

»Lassen Sie sich erzählen, wie mirs dabei ergangen ist!«

Klothilde gab ihre Heulerei auf, brannte sich eine neue Zigarre an und erzählte. Und zwar lassen wir sie diesmal mit eigenen Worten sprechen.

»In Odessa wars. Ich war von einem englischen Dampfer abgemustert worden, hatte als Stewardeß auch sonst fein verdient, und in Odessa kann man leben — ich hatte wieder einmal ganz mächtig gebechert.

Als ich wieder wußte, daß ich Klothilde Gracco hieß, hatte ich keinen roten Penny und keine Kopeke mehr im Sacke, mein Dampfer war schon fort und mit ihm meine sämtlichen Sachen. Das Päckchen, das ich anhatte, war ja noch ganz gut, nur der Kittel unten ein bißchen ausgefranzt, aber an den Füßen hatte ich ein Paar riesige Galoschen, die reinen Elbkähne ohne Hacken, ohne Sohlen, und vorne guckten mir die Zehen raus. Das heißt, ursprünglich hatte ich ganz feine Stiefelchen angehabt. Wie ich in meinem Trane zu diesen Dingern gekommen war, weiß ich heute noch nicht.

Na‚ so schlimm stand es ja noch nicht mit mir. Klothilde weiß sich schon zu helfen. Ich war auch nicht zum ersten Male in Odessa. Also zuerst nach Simons Heuerbureau. Was in Odessa anmustert, muß alles durch die Hände dieses deutschen Juden gehen, etwas anderes gibt es nicht.

Also ich gleich hin. Herr Gott, wie ich mich auf der Straße genierte, obgleich ich doch sonst gar nicht zimperlich bin. Alles blieb doch stehen und guckte mir nach. Denn stellen Sie sich nur vor, Waffenmeister — ich war wirklich pompös angezogen, einen blauen Atlasrock und oben eine knallrote Seidenbluse, das alles hatte in den zwei Lumpentagen gar nicht so gelitten, nur der Rock war unten ein bißchen abgetreten —— aber nun vor allen Dingen an den Füßen diese durchlöcherten Elbkähne ohne Hecken und Sohlen . . .

Na‚ ich lande glücklich in dem Heuerbureau. Der alte rothaarige Judas ist selber da, empfängt mich, er kennt mich noch von früher, der Seelenverkäufer hat mit mir schon einmal ein Bombengeschäft gemacht.

»Jawohl, Klothilde, ich habe etwas für Dich. Du kannst sofort auf einem erstklassigen Salonluxusdampfer ankommen, als erste Stewardeß in der ersten Salonkajüte. Monatlich zwar nur zehn Rubel Heuer, aber Du weißt doch, wie es da Trinkgelder regnet.«

»Was ist denn das für ein Salonkasten?« fragte ich mißtrauisch. Denn den alten Juden kannte ich schon.

Schließlich mußte er denn auch gestehen, daß es ein griechisches Pilgerschiff war, durch und durch verrottet, das Ungeziefer hatte sich bald schon durch die Eisenplatten gefressen.

Na‚ immerhin, ich nahm die Heuer an. Nämlich weil ich die Hälfte des ersten Monats im voraus bekam. Fünf Rubel. Die nahm ich — und machte mich dann natürlich unsichtbar. Ich fuhr doch nicht etwa auf so einem griechischen Pilgerkasten unter russischer Flagge, wo man Läuse massenhaft bekommt, aber keinen einzigen Kopeken Trinkgeld. Und das wußte der alte Simon natürlich auch, daß ich die Stelle nicht antrat, dann mit dem Vorschuß durch die Lappen ging. Aber das war dem doch ganz egal, dem kam es doch nur drauf an, die anderen fünf Rubel einzustecken.

»Ja aber, Klothilde, was ich noch sagen wollte,« fängt da der Jude noch an, wie ich schon unterschrieben habe, »nicht wahr, Du bist doch griechisch—katholisch?«

»Ich! Nee. Ich war noch niemals griechisch gewesen.«

»Ich denke doch?!«

Da hatte der alte Simon eben falsch gedacht.

Ich war damals gerade evangelisch — evangelischlutherisch — oder reformiert — nee, lutherisch — oder halt, ich glaube, ich war damals Methodistin — oder . . . na, das ist ja ganz egal, was ich damals war, jedenfalls nicht griechisch—katholisch.

»Ja, das hilft nix, Klothilde, De mußt werde griechischkatholisch wenn De willst fahre auf diese Schief. Und, heute mittag noch mußt De sain an Bord.«

»Ja, wenns möglich ist, wenn das so fix geht . . . «

»Na warum denn nich? De gehst hien in de Sakristei von den frommen Schwästern zum blutjen Rock, was da ies in den Probandystraße, un De sagst, De willst treten ein in de allein sälig machende Kärche, un De wärrschst aufgenomme mit Frraiden, un De wärrscht gefärmelt sofort, un wenn De wärrscht nich hamm ä Poor ganze Stiefelsohle, wärrschte bekomm ä Poor gute, feine Stiefelche

Was, auch ein Paar neue Stiefeln bekam ich, wenn ich griechisch—katholisch wurde? Na‚ dann allemal, dann mal los! Zumal ich vorher auch nicht die fünf Rubel bekam, als bis die Stewardeß die richtige Religion hatte, sonst galt der Kontrakt gar nicht.

»Und was ich noch wollte sagen, Klothilde, ruft mir der alte Simon noch nach, »wenn De wärrscht geschickt zum Färmeln, laß Dich nich schicke in de Kapelle, was da haißt de Verklärungskapelle, da färmelt drin ä Poppe, wo da heißt Pope Papapopulos, das is ä graußer Mann, un hat so grauße Hände, De wärrschst . . . «

Weiter kam er nicht, er wurde geschäftlich unterbrochen.

Ich segelte auf meinen beiden Elbkähnen schleunigst ab, in die Probandystraße in die Sakristei der frommen Schwestern zum heiligen Rock.

Um die Warnung, die mir Simon noch nachgerufen kümmerte ich mich gar nicht, dachte gar nicht mehr daran.

Es waren wirklich nette, feine, höchst freundliche Damen, denen ich meinen sehnsüchtigen Wunsch vortrug.

Gewiß, konnte ich haben, sofort. Brauchte ich etwas? Mein auffallendes Kleid hatte nichts zu sagen, da kam bei der Firmelung ein schwarzer Überhang drüber? Neue Stiefeln? Gewiß, herzlich gern. Ich bekam sofort einen Gutschein, konnte mir da und da ein Paar neue Stiefeln holen. Und außerdem bekam ich einen Schein, daß ich mich in der Verklärungskapelle zu melden habe, der Pope Papapopulos wurde gebeten, mir sofort eine Katechismuslektion zu geben und an mir dann die heilige Firmelung zu vollziehen.

Ich sockte wieder los. Also richtig hatte ich doch den Popen Papapopulos bekommen. Denken tat ich mir noch immer nichts dabei.

Ich fand die Verklärungskapelle. Richtig, der Pope Papapopulos war ein großer, ungemein knochiger Mann mit Pfoten, mit denen nur die unseres Napoleons konkurrieren können.

Ich trug mein Anliegen vor, gab meinen Zettel ab und wurde sofort in den Katechismusunterricht genommen. Nur eine halbe Stunde, das genügte. Während dieser halben Stunde, da ich allein mit dem Priester in der Sakristei saß, dachte ich doch manchmal daran, weshalb mich denn der alte Simon gerade vor diesem Popen Papapopulos gewarnt haben mochte.

Dieser Mann mittleren Alters war ein wirklich würdevoller Diener Gottes, faßte seinen Beruf mit wirklich heiligem Ernste auf, wußte zu sprechen, daß ich wirklich ganz gerührt wurde. Hauptsächlich freilich interessierte ich mich während dieser Katechismusstunde dafür, wie in den beiden langen schwarzen Locken, die ihm hüben und drüben unter dem Käppchen hervorquollen, die Läuse öffentliches Schauturnen machten, und dann, wie die beiden Ärmel des schwarzen Kaftans, aus denen die ungeheuren roten Tatzen hervorsahen, wie die silbernen Spiegel glänzten, weil er sich mit diesen Ärmeln aller drei Sekunden die Nase wischte. Aber sonst ein tadelloser Priester.

Ich war instruiert, konnte das Glaubensbekenntnis herbeten, konnte gefirmelt werden.

Wenn Sie die Verhältnisse nicht kennen sollten, Waffenmeister, so bemerke ich, daß in der griechischkatholischen Kirsche im Gegensatz zur römischen die Taufe mit der Firmelung oder Firmung zusammenfällt. Sofort nach der Taufe wird das Kind gefirmelt. Ist das Taufkind aber schon älter, so wie ich, dann wird es überhaupt nicht getauft, sondern nur gefirmelt. Dann ist in der griechischen Kirche zu dieser Firmelung jeder Priester berechtigt, während in der römischen Kirsche sie nur ein Bischof vollziehen darf. Sonst ist die Zeremonie so ziemlich dieselbe. Der Unterschied besteht fast nur darin, daß bei der römischen Firmelung nur die Stirn mit dem Chrisma, dem heiligen Öle, gesalbt wird, bei der griechischen auch Augen, Nase, Ohren und Füße.

Also ich war fertig, meine schwarze Kutte hatte ich schon an und folgte dem Popen in die Kapelle. Die Firmelung ist eine öffentliche. Insofern, als die Kirche oder Kapelle ja überhaupt Tag und Nacht offen steht.

Es sind denn auch einige fromme Leutchen drin, zumal Weiber, die sich heranmachen, um der Zeremonie beizuwohnen.

Da fällt mir auf, was die meisten dieser Frauenzimmer für schadenfrohe Gesichter machen, sogar so recht hämisch grinsen, wie sie hören, daß ich gefirmelt werden soll.

Aber ich hatte gar keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, weshalb die denn so schadenfroh grinsten. Es ging sehr schnell. Der Pope sagte seine Sprüchlein her, alle lateinisch, und als ich, die ich dabei knien mußte, wieder aufgestanden war, salbte er mir Stirn, Augen, Nase, Ohren und Füße mit Öl ein, dabei sagend: Ich bezeichne Dich mit dem Zeichen des Kreuzes, und kräftige Dich mit dem Chrisma des Heils im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes Amen.

Und nachdem der Pope dies gesagt hat, holt er mit seiner Rechten weit aus und knallt mir eine in meine linke Gesichtshälfte, daß ich doch gleich Denke, meine sämtlichen Zähne sollen batterieweise den Parademarsch zum Rachen raus machen! Aaaaaauuuuuul«

Und so heulend bedeckte Klothilde wiederum ihre linke Backe mit beiden Händen, eine furchtbare Schmerzensgrimasse schneidend.

»Ja in aller Welt weshalb denn das?!« staunte Georg

Er hätte das als ein Mann, der in der Welt herumgekommen, eigentlich selbst wissen können, brauchte deswegen kein Katholik zu sein.

Bei der Firmelung, in der römischen wie griechischen Kirche, erhält der Firmling zum Schluß vom Priester einen Backenstreich zur Erinnerung an die Leiden Christi unter Pilatus, wo er doch auch von den Kriegsknechten geohrFeigt worden ist, und überhaupt als Hinweis auf die eigenen Widerwärtigkeiten um des Glaubens willen

Natürlich ist das immer nur ein ganz sanfter Backenstreich, nur ein Berühren der Wange. Es ist doch eben nur ein Symbol.

Dieser russische Pope Papapopulos aber nun nahm sein Amt von der ernstesten Seite, auch diese Zeremonie, Christus hat doch auch nicht nur solche sanfte Backenstreiche bekommen, und dazu nun war er ein so großer, bärenstarker Mann mit solch ungeheuren Pfoten — da wurde aus dem sanften Backenstreich immer eine knallende Ohrfeige, dafür war er in ganz Odessa berühmt und berüchtigt.

So hatte Klothilde noch mit kurzen Worten erklärt, und dann fing sie wieder zu winseln an.

»Aaaaauuuuu! So eine Ohrfeige hatte ich noch nie bekommen. Acht Tage lang bin ich mit einer geschwollenen Backe herumgelaufen — so dick — konnte nichts essen, alle meine Zähne waren locker — so sauer habe ich mir noch nie ein Paar Schuhe verdient — nein, ich werde niemals wieder griechisch-katholisch — nich in de Hand — nich in de Diete. Na‚ was gibts denn da zu lachen?«

Ja, da war es geschehen!

Da erscholl in der Kabine ein herzliches, ein dröhnendes Lachen!

Und da war Georg wieder gesund.

Da konnte er mit gleichen Füßen zur Koje herausspringen.

Klothilde hatte den melancholischen Wurm, der ihm am Herzen saß und fraß, glücklich totgekitzelt.

Ende des Sechsten Teils