Das Gauklerschiff.
Die Irrfahrten der Argonauten
Lieferungs-Roman
von
Robert Kraft.
Druck und Verlag: Dresdner Roman-Verlag, Dresden, Maxastraße 6. 1912.
Nachdruck verboten - Uebersetzungsrecht vorbehalten. Das Werk darf in Leihbibliotheken und Lesezirkeln nicht geführt werden.
Copyright in U.S.A. 1912 by Dresdner Roman-Verlag. Dresden, Germany.
Inhaltsverzeichnis
112. KAPITEL. KARNEVAL IN SIBIRIEN.
113. KAPITEL. DER TEUFEL ALS BADEGAST. [Das Recht der dramatischen Aufführung und kinematographischen Wiedergabe dieser Pantomime behält sich der Verfasser vor.]
114. KAPITEL. DIE REVANCHE DES MAHARADSCHAS.
115. KAPITEL. WIE EIN TEUFEL STIRBT.
116. KAPITEL. GOG UND MAGOG.
117. KAPITEL. EIN ALTER BEKANNTER.
118. KAPITEL. DIE LETZTE POSAUNE.
119. KAPITEL. DIE NEUEN HUNNEN.
120. KAPITEL. WAS DER ZIGEUNER BERICHTET.
121. KAPITEL. DIE SINTFLUT KOMMT!
122. KAPITEL. DIE EXPERIMENTE DES PROFESSORS.
123. KAPITEL. WEITERE EXPERIMENTE, IN DIE SICH ZULETZT KLOTHILDE MISCHT.
124. KAPITEL. AN BORD DES »ELEKTRON«.
125. KAPITEL. »AUS DER WAHRHEIT FEUERSPIEGEL LÄCHELT SIE DEN FORSCHER AN.«
126. KAPITEL. FERUDA!
127. KAPITEL. DER NEUE SCHÜLER.
128. KAPITEL. AUSGESTOßEN!
129. KAPITEL. DIE RÄTSEL MEHREN SICH.
130. KAPITEL. DER BROBDINGNAG.
131. KAPITEL. AUCH EINE VERWANDLUNG!
Siebter Teil
112. KAPITEL.
KARNEVAL IN SIBIRIEN.
Vor seinem Löwengarten,
Das Kampfspiel zu erwarten
Saß König Franz.
Und um ihn die Großen der Krone,
Und rings auf hohem Balkone
Die Damen in schönem Kranz.
Wer kennt sie nicht, diese Strophen, welche Schillers Gedicht »Der Handschuh« einleiten.
Es war eine ganz andere Szenerie hier in diesem sibirischen Tal als jene, die der Dichter mit so wenigen Worten so scharf mit so wunderbarer Plastik zu schildern weiß, und doch wurde wohl jeder, der sie kannte an diese Strophen lebhaft erinnert, es konnte gar nicht anders sein.
Dort, wo einst die Amazonen gehaust hatten, Zog sich in Ziemlicher Hohe an der Felswand ein natürlicher Vorsprung hin, der von Menschenhänden zu einem Altan, zu einem Balkon umgebildet worden war, und auf diesem saßen alle die Personen der »Argos«, die nicht zur eigentlichen Schiffsbesatzung gehörten, alle die männlichen und weiblichen Gäste, hatten vor und unter sich den See, in dem sich die Vormittagssonne spiegelte, und harrten der neuen Überraschungen, mit denen ihnen jetzt Tag für Tag aufgewartet wurde, oftmals vom frühester Morgen an bis in die späte Nacht hinein, und niemand bekam diese Art von Spielen Überdrüssig, so daß noch niemand an eine Abreise dachte.
Und da es meist ritterliche Kampfspiele waren, die ihnen vorgeführt wurden, so war auch in alle diese Zuschauer ein ritterlicher Geist gefahren, den sie auch in ihrem Äußeren kund taten, ohne daß sie sich dessen eigentlich bewußt wurden, mindestens ohne daß sie deshalb eine Verabredung getroffen hätten.
Es war ein ungemein buntes, schillerndes, reizvolles Bild, das der Balkon bot. Alle die Damen in prächtiger Toilette, nicht aber etwa in modernen Ball— oder Gesellschaftskleidern, sondern in Kostümen, die allen Jahrhunderten angehörten, eines immer bunter und phantastischer als das andere, und dasselbe galt auch von den Herren.
Es kann mit ganz einfachen Worten gesagt werden, was hier vorlag: sie spielten Karneval, Maskerade! Und jedes hatte sich nach seinem Geschmack kostümiert.
Merkwürdig war nur, daß hier durchaus keine Verabredung vorgelegen hatte. Das war im Laufe von ungefähr acht Tagen alles so nach und nach von ganz allein gekommen. Sie hatten sich immer mehr den Schauspielen angepaBt, die ihnen vorgeführt wurden. So war es gekommen. Und da last sich ja gerade mit den einzelnen Stücken von Damenkleidern, die man gegeneinander austauscht, viel machen. Zumal auf solch einem Schiff, das seit vielen Jahren die ganze Welt bereist und Überall werden Nationalkostüme und Volkstrachten gesammelt, zum Andenken mitgenommen. Sonst war das ja auch bald zurechtgeschneidert.
Und da machten auch die beiden Tochter des Vaters Abdallah mit, ebenso ihre Dienerinnen, und diese mohammedanischen Araberinnen trugen schon längst keinen Schleier mehr, wozu auch, sie bildeten hier ja alle zusammen eine vertraute Familie — und wozu sollte der kostbare Juwelen— und Perlenschmuck, den sie mitgenommen, immer unbenutzt im Kasten liegen, sie hatten ihn angelegt, und dasselbe galt von allen den anderen Damen, und wenn das Geschmeide nicht ihnen selbst gehörte, so eben einer anderen, und das flimmerte und glitzerte alles im goldenen Sonnenschein.
Und auch die Herren machten also mit. Es kann unmöglich jedes Kostüm beschrieben werden. Es sei nichts weiter erwähnt, als daß Doktor Isidor mit Vorliebe als spanischer Grande paradierte, statt des Zylinders ein gewaltiges Samtbarett mit wallender Straußenfeder auf dem Affenschädel, an der Seite einen prachtvollen Galanteriedegen, der Griff strotzend von Diamanten, die zwar nur aus Glasscherben bestanden, nicht einmal aus geschliffenen Glasstücken, aber das tat ja nichts zur Sache, jedenfalls von dem ersten Maschinisten, diesem Hexenkünst1er, in aller Schnelligkeit wunderbar gefaBt, und daß Doktor Isidor seit einiger Zeit statt seines gewöhnlichen Klemmers eine große Brille trug, mit Horneinfassung, das sah zwar bei diesem spanischen mittelalterlichen Kostüm seltsam aus, war aber eigentlich ganz kostümgetreu, historisch treu, indem im 16. Jahrhundert in Spanien jeder, der den Kavalier und Stutzer markierte, eine große Hornbrille trug, so ungefähr wie heutzutage fast jedes Herrchen einen Klemmer auf der Nase balanciert, wenn es auch Augen wie ein Luchs hat.
Karneval von Sibirien!
Es war bereits zum Schlagwort geworden.
Den spielten sie.
Spielten ihn nun schon seit acht Tagen, und die Zeit war noch gar nicht abzusehen, da sie dieses Spieles Überdrüssig wurden.
»Lassen Sie mal erst den Winter mit Schnee und Eis kommen, was ich da arrangieren werde! Etwas, was in unserer Eisgrotte aufzuführen gar nicht möglich ist.«
So hieß es — jetzt, anfangs Juli, da der Sommer noch gar nicht richtig begonnen hatte!
Und das sagte jeder einzelne. Nämlich weil jeder einzelne immer neue Überraschungen ausheckte, einer wollte immer den anderen darin übertreffen, und sogar die Damen beteiligten sich an diesem Wetteifer in neuen Erfindungen.
So waren sie wieder einmal in aller Frühe, obgleich gestern die Vorstellung im Zirkus bis tief in die Nacht hinein gewährt hatte, hier zusammengekommen, um einem Wasserspiele beizuwohnen. Die Gäste und die sonstigen hohen Herrschaften hier auf dem Balkone, die anderen, so weit sie nicht dabei beteiligt waren, nicht mitwirken, mußten, wußten schon einen anderen guten Zuschauerplatz zu finden, man brauchte sich ja nur an eines der Felsenfenster zu stellen.
Was für ein Spiel oder Kampf oder sonstige Vorstellung stattfand, das wußte man niemals im voraus, das mußte stets eine Überraschung ergeben.
Nur kurz vorher wurde stets der Name der Person, welche die neue Schaubelustigung erfunden hatte und derjenigen, die das Ganze nach den Angaben des Erfinders arrangiert hatte, genannt, sonst nichts weiter.
Jedenfalls aber muthe es doch ein Spiel oder Kampf zu Wasser sein, sonst wäre man doch nicht eingeladen worden, hier auf diesem Seebalkon Platz zu nehmen.
Der Waffenmeister, der sonst am meisten arrangierte oder sich an den Spielen direkt beteiligte, schien diesmal nicht mit dabei zu sein, oder sogar ganz bestimmt nicht, denn er befand sich mit auf dem Balkon, in eine silberne Schuppenrüstung gehüllt, wie noch einige andere der Herren, und das war nicht nur ein Kostüm, mit dem man sich schmücken wollte, sondern zu sehr vielen der Schaustellungen war solch eine den Körper schützende Panzerung auch sehr nötig.
Da fiel in einiger Entfernung ein Kanonenschuß, und Stevenbrock erhob sich.
»Ein Wasserspiel, erfunden von der Frau Gräfin von Mohakare, arrangiert von Mister Juba Riata!« verkündete er und hob seinen Revolver, um zwei Platzpatronen abzufeuern, als Bejahung, daß das angekündigte Spiel beginnen könne.
Doch da, noch ehe er den ersten Schuß abgefeuert hatte, erscholl im Hintergrunde des weiten Balkons eine Stimme, der jederzeit dienstbereite Siddy war es, der aus dem Ausgange geeilt kam.
»Herr Waffenmeister, Mister Merlin wünscht Sie zu sprechen.«
Georg feuerte dennoch seinen Revolver ab, aber nur einen einzigen Schulz. Und dieser einzige Gegenschuß bedeutete, die Vorstellung mochte noch nicht beginnen.
Zum ersten Male wieder, nachdem Merlin den befreiten Waffenmeister schlafend zurückgebracht hatte, zeigte sich der geheimnisvolle Mann wieder. Das mußte gewürdigt werden, da wurde die Vorstellung aufgeschoben.
Georg verließ den Altan, begab sich hinein in den Felsen, in dem einst die indischen Amazonen gehaust hatten, wo noch jetzt alles mit orientalischer Pracht eingerichtet war.
Aber diese Räume, in denen diese menschlichen Bestien gehaust, wurden von den Argonauten nicht benutzt. Sie bildeten nur den Durchgang nach diesem im Freien liegenden Balkon.
In der Mitte des ersten Raumes, auch schon mit kostbaren Teppichen und Polstern und Kissen ausstaffiert, stand Merlin, wie immer in sein gelbes Lederkostüm gehüllt.
»Ich störe doch nicht?«
»Niemals.«
»Du hast meinetwegen die Vorstellung unterbrochen sie nicht beginnen lassen.«
»Wir haben Zeit.«
»Ich komme mit einer Bitte. Ich habe Gäste bekommen. Sie mochten gern Euren Vorstellungen beiwohnen. Es wäre dies möglich, ohne daß Ihr sie zu Gesicht bekommt. Aber das mochte ich nicht, es widerspricht meinen Gefühlen, ebenso denen meiner Gäste. So bitten sie Dich, daß sie Euren Vorstellungen offen beiwohnen dürfen . . . «
»Herzlich gern, sie sollen auch unsere Gäste sein!«
»Nein, bitte nicht! Sie mochten ganz für sich bleiben, nicht angesprochen werden verzeihe, daß ich solch eine Bedingung stelle.«
»Ich verstehe. Trotzdem sind sie mir und uns allen herzlich willkommen.«
»Nicht nur dieser Vorstellung, sondern auch allen anderen mochten sie beiwohnen. Sie bitten darum, daß sie auch jederzeit den Zirkus betreten können, wenn Ihr Euch darin belustigt.«
»Sie sind jederzeit unsere Gäste, obgleich wir uns niemals im geringsten um sie kümmern werden«
»Ich danke Dir. Also es findet keine Vorstellung statt. Ich meine: ich nenne Dir nicht ihre Namen, nicht woher sie sind und wohin sie wieder gehen werden. Übrigens kennst Du sie schon.«
»Ich kenne sie schon?!«
»Du hast sie schon einmal gesehen.«
»W0 denn?«
»Es wird Dir schon einfallen, wenn Du die ganze Gesellschaft siehst, wenn vielleicht auch nicht sofort.«
So hatte der jugendliche Greis zuletzt gelächelt, schlug einmal die Hände zusammen, sofort rollte einer der Wandteppiche zurück, und . . .
Und Georg begann zu starren!
Die angemeldeten Gäste traten ein.
Meist langbärtige, würdevolle Männer, alle in orientalischen Kostümen, halb indisch, halb türkisch, jedenfalls immer aufs Prächtigste gekleidet, mit Schwertern gegürtet, deren Griffe von Edelsteinen funkelten, dasselbe galt von den Dolchen und Pistolen — und dazwischen ebensolche orientalische Weiber, halb indisch, halb türkisch kostümiert, nämlich insofern, als viele von ihnen auch nie an die Knöchel reichende Pumphosen trugen, kein Obergewand darüber, was man in Indien nicht findet, alles schillernd von bunter Seide mit goldenen Stickereien, lauter junge, durchweg bildhübsche Weiber, das Antlitz unverhüllt, herrlich geschmückt, mit Juwelen und Perlen schier überladen . . .
Und Georg starrte und starrte.
Nicht allein über diesen Anblick wie aus einem Märchen aus Tausendundeiner Nacht.
Nein, noch etwas anderes war dabei, was ihn plötzlich ganz kopfscheu machte, was ihn sein Gehirn martern ließ.
Himmel noch einmal, wo hatte er denn nur diese ganze Gesellschaft schon einmal gesehen?!
Und zwar ganz genau ebenso eintretend, auch in solch einem orientalischen Prunkraum.
Die Erinnerung wäre ihm vielleicht nicht gleich gekommen, denn es war ein gar zu seltsames Zusammentreffen zwischen dem Jetzt und längst vergangenen Zeiten.
Aber eine einzige Gestalt brachte ihm sofort die Erinnerung zurück.
Ein Mann war darunter, der sich von den anderen ganz auffallend unterschied.
Ein Herr, ein kleines, zierliches, patentes Herrchen, schon sehr alt, das bartlose Gesicht ganz durchrunzelt, im schwarzen Frackanzug mit schneeweißem Oberhemd, Stehkragen und weißem Schlips, zierlich trippelte es auf Lackschuhen einher, die weißen Glacehandschuhe noch zuknöpfend, den chapeau claque unterm Arme . . .
»Himmel noch einmal, der Professor Beireis aus dem Seelandsfelsen bei Australien!«
Kein anderer war es.
Und da also erkannte Georg auch die ganze orientalische Gesellschaft gleich wieder!
Dieselbe, welche damals den orientalischen Saal betreten hatte, das heißt nur als Spiegelbild, Georg hatte dies alles nur im Spiegel gesehen!
Ebenso wie auch das Männchen, das sich in seiner Einbildung wie ihm später gesagt worden war, für den wiedergeborenen Professor Gottfried Beireis aus Helmstätt hielt.
Auch der hatte ja gar nicht in Wirklichkeit neben dem Speisenden auf dem Sofa gesessen, sondern nur als ein wesenloses Spiegelbild.
Dann ein Klingeln, und plötzlich war dies alles verschwunden gewesen. Und Schwester Anna hatte telephonisch um Entschuldigung gebeten, daß man den Gast sofort mit solchen Illusionen belästige. Aber Georg hatte erwidert, man möge nur mit den Illusionen ruhig fortfahren. Da jedoch war die Walfischjagd mit dem unglücklichen Ausgange dazwischen gekommen.
Jetzt trat diese ganze orientalische Gesellschaft in vollem Leben hier ein, und der Professor Beireis mitten dazwischen!
Er war auch der einzige, der nach dem Waffenmeister den zusammengeklappten Zylinder graziös schwenkte, ihn so begrüßte, die anderen Männer, die Inder und Türken und Araber, blickten würdevoll gerade aus, strichen sich höchstens die stattlichen Vollbärte, hatten fur Georg sonst gar keinen Blick. Während die weiblichen Mitglieder schon etwas neugieriger zu sein schienen, mit den mandelförmigen Augen bereits herumfunkelten. Doch Georg hatte ja gar keine Zeit, nähere Betrachtungen anzustellen.
»Jetzt erinnerst Du Dich, diese Herrschaften schon einmal gesehen zu haben, nicht wahr?« redete ihn Merlin, der sich überhaupt gar nicht von ihm abgewandt hatte, lächelnd wieder an. »Bitte, nun teile Deinen Freunden mit, um was es sich handelt, Deine Erlaubnis haben wir ja, dann sorgst Du wohl dafür, daß diese Gesellschaft für sich sitzen kann, und sie wird auf den Balkon kommen.«
Georg begab sich wieder hinaus, brauchte nur eine einzige Minute, um alles zu erklären, das Staunen war ja groß, aber da galt es vor allen Dingen zu handeln, der Balkon war groß genug, um noch eine ganz andere Menschenmenge zu fassen, man brauchte nur etwas zusammenzurücken oder überhaupt die eine Hälfte des Altans zu wählen, Georg rief zurück, daß alles in Ordnung sei, und die exotischen Gäste traten heraus.
Man brauchte nicht neugierig die Kopfe zu wenden, man konnte sie auch so beobachten, als sie die Plätze einnahmen.
Sechsundzwanzig Personen wurden gezählt, und die Hälfte davon schienen dienstbare Geister zu sein, nur männliche, darunter auch einige pechschwarze Neger. Die tiefschwarze Ebenholzfarbe schien wirklich eine ausgesuchte zu sein. Diese brachten schon wundervolle Kissen für die Steinplätze mit und außerdem riesige Wasserpfeifen und Tschibucks, alles überaus kostbar, mit Gold und Elfenbein ausgelegt und von farbigen Juwelen funkelnd, dazu Becken mit glühenden Holzkohlen, die vornehmen Inder und Türken, die sie bedienten, begannen sofort zu rauchen, während zwischen den Weibern, die offenbar keine besondere weibliche Bedienung hatten, die unvermeidlichen Schalen mit allerhand Naschwerk, wobei überzuckerte Blumenblätter immer die Hauptrolle spielen, aufgestellt wurden, und so konnte man die ganze Gesellschaft leicht voneinander unterscheiden.
Es waren nur vier vornehme Männer, durchweg schon vorgerückten Alters und mit langen, bis auf den Gürtel wallenden Bärten geschmückt; neun vornehme Weiber, alle jung und von auffallender Schönheit; dazu elf Diener, ebenfalls sehr kostbar gekleidet, aber ohne Schmuck und Waffen; und schließlich, um die 26 Personen vollzumachen, noch zwei andere.
Die eine von diesen war ja den Argonauten schon allgemein bekannt: der Professor Beireis. Man hatte ja im Seelandsfelsen während Georgs Abwesenheit längere Zeit ganz freundschaftlich mit ihm verkehrt.
Doch hatte er jetzt für die ehemaligen Freunde keine Begrüßung, keinen Wink mehr. Nur dem Waffenmeister hatte er vorhin zugewinkt. Jetzt auf dem Balkon kümmerte er sich um die anderen gar nicht mehr. Das war ja auch ganz richtig so, nachdem nun einmal ausgemacht worden war, daß die beiden Parteien völlig getrennt von einander bleiben sollten.
Fast noch auffallender als dieser kleine Salonmensch im schwarzen Frackanzug war die zweite fremde Gestalt, die ebenso wenig in diese exotische Gesellschaft, die ganz an Tausendundeine Nacht erinnerte, passen wollte.
Es war ein äußerst großer Mensch, ein Riese, dem »Bandlwurm« wenig an Länge nachgebend, aber mit mächtigen Schultern massiv, geradezu herkulisch gebaut. Auch er war ganz schwarz gekleidet, aber nicht etwa mit so einem modernen Frackanzug, sondern es war ein eng anliegendes Samtkostüm, mit Kniehosen und Wams, einen recht altertümlichen Eindruck machend, man wurde lebhaft an die holländische Hoftracht des 17. Jahrhunderts erinnert, nämlich deshalb, weil diese von Rembrandt so oft dargestellt worden ist, und wirklich trug der Riese auch die dazu gehörigen, auffallenden Schnallenschuhe und ebenso an Handgelenken und als Kragen die weisen, kostbaren Spitzen, wodurch der riesenhafte Mann etwas Kindliches bekam· Das heiß mit unseren modernen Augen betrachtet!
Und unter dem schwarzen Samtbarett quollen lange, flachsblonde Locken hervor. Das war aber auch das Einzige, woraus man sonst auf das persönliche Aussehen dieses Riesen etwas schließen konnte. Auch seine Hände waren schwarz bekleidet, und ebenso trug er vor dem Gesicht eine schwarze Maske.
Georg sah nur noch, daß die orientalischen Diener diesen holländischen Riesen mit ganz besonderer Aufmerksamkeit behandelten, jeder wollte ihm ein Kissen unterschieben, was aber von dem Schwarzen gar nicht gewürdigt wurde, oder nur insofern, als er mit einer zweifellos verächtlichen Bewegung die Kissen fortschleuderte und sich nun gerade auf die nackte Steinstufe niedersetzte, dann kümmerte sich Georg nicht weiter um die ganze Gesellschaft, hob seinen Revolver und feuerte die zwei Signalschüsse ab.
Hinter jener Felsenecke, die schon mehrmals eine Rolle gespielt hat, kamen die zwei Jollen der »Argos« hervor, von Matrosen gerudert, die sich durch nichts auszeichneten.
Sie hatten auch nur erst eine vorbereitende Arbeit auszuführen, verankerten im Wasser, etwa 50 Meter von einander entfernt, zwei »Tore«. Man wurde nämlich sofort an jene Tore erinnert, wie sie beim Fußballspiel gebraucht werden, und das sagt wohl genug.
Das Aufstellen dieser schwimmenden und verankerten Tore war schnell geschehen, und da kamen schon hinter der Felsenecke eine ganze Menge andere Fahrzeuge hervor, kleine, leichte Kanoes, aus gespannten Fellen hergestellt, vierzig Stück, davon die eine Hälfte schwarz, die andere Hälfte gelb, in jedem ein Indianer mit Schaufelruder. Die Kanoes fuhren auf, die Farben teilten sieht, und das indianische Wasserpolospiel begann.
Der Begründer der ganzen Indianerliteratur, die doch auch ihre weltgeschichtliche und volkswirtschaftliche Bedeutung hat, man bedenke nur, was für Unsummen dadurch ins Rollen kamen und noch kommen, ist Fenimore Cooper durch seine Lederstrumpf—Geschichten. Es gibt gar keine Indianererzählung, aus der man nicht immer Coopers Gesicht hervorschauen sieht. Sitten, Gebräuche, Redeweise usw. — alles ist Cooper. Was der von den Indianern nicht gewußt hat, das vermögen auch seine zahllosen Nachahmer nicht zu schildern, mögen sie sonst auch noch so selbständig sein.
Nun ist ja Cooper zweifellos ein tüchtiger Kenner der nordamerikanischen Indianer gewesen. Aber von ihren Ballspielen hat er entweder nichts gewußt, oder er hatte eben keine Gelegenheit, davon zu sprechen, und daher wissen auch alle seine Nachahmer wirklich nichts von dieser indianischen Leidenschaft. Nun aber gibt es doch auch noch andere Kenner des indianischen Lebens, mehr wissenschaftliche Forscher, so vor allen Dingen der gelehrte Amerikaner Daniel Sticker, der alles zusammengetragen hat, was über den indianischen Charakter bekannt geworden ist, von den historischen Anfängen an bis ums Jahr 1880.
Da liest man auch von der geradezu leidenschaftlichen Manie, welche die nordamerikanischen Indianer noch heute für alle Art Ballspiele haben, die Umwohner der großen kanadischen Seen speziell für die Wasserballspiele.
Die Lady Ethel Bristol, jetzige Gräfin von Mohakare, war eine geborene Amerikanerin. Sie mochte davon gelesen oder vielleicht auch selbst solche Wasserspiele beobachtet haben. Jedenfalls war sie es gewesen, die auf den Gedanken gekommen war. Was auch diese Apachen und Kommantschen für leidenschaftliche Ballspieler waren, ist schon gesagt worden. Wasserspiele kannten sie nicht, dazu hatten sie auf den wenigen Bächen, die ihr Heimatland durchfließen, ja gar keine Gelegenheit gehabt. Aber es brauchte ihnen nur davon gesagt zu werden, Juba Riata brauchte es nur einmal zu arrangieren, und sie waren sofort mit Feuer und Flamme dabei. Rudern konnten sie ja alle und solche Kanoes aus Fellen waren leicht im Handumdrehen gefertigt.
Und das Wasserpolo begann. Es handelte sich also darum, welche Partei den Ball durch das feindliche Tor trieb. Dieser Ball bestand aus einer großen, weisen Fischblase, durfte nicht mit den Händen angefaBt, nur mit dem Boote selbst getrieben oder mit dem Ruder geschlagen werden.
Solch ein Kampf läßt sich ja gar nicht schildern, keine einzige Phase davon. Es kann nur gesagt werden, daß die Zuschauer dort oben auf dem Balkon, besonders indem jeder bald für eine Farbe Partei nahm, nach und nach förmlich zu rasen begannen. Und auch der ernsteste der exotischen, würdevollen Gäste lachte schließlich aus vollem Halse, während die neun Weiber schon immer jubelnd in die Hände geklatscht hatten und von den Dienern besonders die Neger manchmal richtige Freudentänze aufführten.
Wie soll man da nun beschreiben, weshalb dieser lachende Jubel und begeisterte Enthusiasmus. Der Hauptwitz lag darin, daß die meisten der vierzig Indianer zwar schon so Ziemlich wieder ihre normalen Figuren bekommen hatten, daß sich darunter aber noch immer einige unförmliche Fettwänste befanden, die sich aber trotzdem mit Feuereifer der wilden Jagd um den Ball hingaben, und daß die leichten Boote fortwährend umschlugen. Sie waren seitwärts mit Luftkissen versehen, schwammen daher auch in gekenterten Zustande, konnten mit leichter Mühe wieder umgekehrt werden, man mußte sie nur wieder leer schöpfen, da mußte der Schwimmer aber erst wieder hineingeklettert sein, was gar nicht so einfach war, und so war dieses ganze Spiel ein einziges Umschlagen in ganzen Reihen und Wiederaufrichten und Leerschöpfen — und dabei ging es immer in tollem Kampfe um den großen, weißen Ball, der ständig hin und her sauste, und die sonst so ernsten, würdevollen Indianer gaben sich diesem Kampfe mit einer Leidenschaft hin, machten einen Spektakel dabei, brüllten und heulten, als ob zwei ganze indianische Kriegsheere im Kampfe auf Tod und Leben lägen.
So verging fast eine Viertelstunde mit diesem tollen, brüllenden, plätschernden und spritzenden Durcheinander, als der Ball von der gelben Partei durch das feindliche Tor getrieben wurde, und es war die höchste Zeit, denn fast hatte es schon ausgesehen, als ob sich auch dort oben die Zuschauer in die Haare fahren würden. So wie in England bei den Fußballspielen, wobei sich das vieltausendköpfige Publikum, für die Farben Partei ergreifend, manchmal förmliche Schlachten liefert.
»Gesiegt, gesiegt, Gelb hat gesiegt!« jubelten die einen.
»Den nächsten Ball aber schießt Schwarz, tausend Pfund wer setzt dagegen!« schrie Lord Harlin, ein sonst ganz phlegmatischer Mensch, der aber plötzlich ganz aus dem Häuschen war.
Aber es wurde nichts daraus, die 40 Kanoes fuhren schon wieder ab, es konnte gar nicht weiter gespielt werden, denn die beiden Jollen entfernten schon wieder die beiden Tore.
Alles nur einmal! Dieses Spiel konnte ja später wiederholt werden, aber zur Zeit immer eine Vorstellung schnell hinter der anderen.
Und da kam schon hinter jener Felsenecke eine zwanzigriemige Galeere hervor, golden im Sonnenschein glänzend, am Heck eine grüne Flagge führend, und gleichzeitig aus einem Wassertore, das sich unterhalb des Balkons geöffnet hatte, eine zweite mit roter Flagge, ebenso wie jene zur Hälfte von Matrosen, zur Hälfte von Schiffsjungen gerudert, was sich ja leicht verteilen ließ, und jetzt ging es anders im Rudertakt, die waren unterdessen eingepult worden!
Die rote wurde von Georg gesteuert, der sich unterdessen vom Balkon entfernt hatte, die grüne von Ernst, dem zweiten Steuermanne, und dann befanden sich an Deck noch andere Ritter. Denn gepanzert war alles.
Was jetzt vorgeführt werden sollte, das war ja sofort klar, auch ohne Ankündigung. Ein Kampf zwischen diesen beiden Galeeren. Wie der stattfinden sollte, das war ja allerdings noch die Frage.
Die beiden Galeeren näherten sich schnell, stoppten erst in kurzer Entfernung voneinander, und dann fand doch eine Ankündigung statt, oder vielmehr eine Herausforderung zum Zweikampfe, und zwar besorgte dies auf Georgs rotbeflaggter Galeere, deren Mannschaft goldgepanzert war, während drüben die silbernen Schuppenpanzer glänzten, Oskar. Denn der Steuernde konnte nicht gut zugleich der Hauptmann des Kriegsschiffes sein.
Also Oskar, ganz vorn auf dem hohen Vorderdeck stehend, schwang eine mächtige Lanze, mit der anderen Hand einen Schild, schlug mit dieser Lanze dröhnend gegen den Schild, und dann erhob er ebenso dröhnend also seine Stimme: »Ihr elenden Grünfinken! Ihr Himmelhunde! Ihr Karnickel! Ihr Rübenschweine . . . «
»Um Gotteswillen, Oskar, bist Du denn toll geworden?!« ließ sich da hinten der steuernde Waffenmeister ganz entsetzt vernehmen. »Was soll denn das Publikum dort oben denken! Das sind doch edle Ritter, die Du in ritterlicher Weise zum Zweikampfe herausfordern sollst!«
Ja, es war ein Fehlgriff gewesen, daß man gerade Oskarn für diesen Posten gewählt hatte, oder man hätte ihn wenigstens zuvor instruieren, ihm den Wortlaut der Herausforderung genau vorschreiben sollen, nicht seiner eigenen Schauspielerfähigkeit überlassen dürfen.
In anderer Hinsicht freilich . . . Oskar befleißigte sich vielleicht der möglichsten historischen Treue!
Denn wie es uns so viele Romanschriftsteller schildern wollen — so ist es in den alten Ritterzeiten sicher nicht zugegangen! Alle Hochachtung vor einem Gustav Freytag und Felix Dahn, aber gesprochen ist so edel und erhaben damals nicht worden! Ganz abgesehen davon, daß da jede Kuhmagd genau so edel und erhaben spricht wie die Königin. Wir haben aber historische Berichte und Dokumente von Zeitgenossen, daß es unter jenen herrlichen Rittern ganz anders zuging, daß sie sich ganz anderer Ausdrücke bedienten. Was die sich beim Herausfordern zum Zweikampf für Injurien an den Kopf warfen! Wie die sich titulierten! Nämlich auch in Briefen, die urkundlich noch erhalten sind! Den Damen gegenüber wohl, wenn es um die Minne ging, süß und aalglatt — aber die Ritter untereinander die reinen Rülpse.
Nun, wenn auch Oskar die Sache kannte und historisch treu sein wollte, so sah er doch ein, daß sich das hier nicht paßte. Er brach sofort ab, schwang noch einmal seine Lanze, schlug noch einmal an seinen Schild und hub nochmals also an:
»Meine edlen Herrn Grünfinken! Ihr Herren Karnickel! Edle Rübenritter . . . «
Auch diese Verbesserung seiner Ansprache wurde dadurch unterbrochen, daß die feindliche Galeere eine dritte verbesserte Auflage nicht abwarten wollte, sondern plötzlich mit voller Fahrt losging!
Allerdings nur mit Hilfe der Ruder, jene geheimnisvolle Kraft wurde hierbei nicht angewendet. Immerhin, diese Matrosen und Schiffsjungen verstanden jetzt zu pulen.
Und beinahe wäre der schnelle, unvermutete Angriff gelungen! Wenn nicht Georg ein noch schnelleres Kommando gegeben hätte, das ebenso schnell und exakt ausgeführt wurde, und wenn er nicht noch rechtzeitig das Steuer herumgeworfen hätte. Sonst hätte ihm die vorbeistreichende Galeere sämtliche Riemen auf Backbordseite abgeknackt, und darauf kam es an, hiermit wäre der Kampf sofort zugunsten der grünen Partei entschieden gewesen.
So fuhr die grüne Galeere der roten nur hinten zwischen die Rippen, brach ihr nur zwei Riemen ab, und diese durften sofort wieder ersetzt werden. Nur um eine ganze Reihe handelte es sich, erst dadurch sollte eine Galeere manövrierunfähig gemacht, besiegt sein.
Und der Kampf ging weiter. Fast eine halbe Stunde währte er, und er müsste wohl sehr, sehr interessant sein, sonst hätte das Publikum dort oben nicht wiederum so gejubelt und manchmal fast gerast. Aber solch ein Kampf läßt sich eben nicht beschreiben.
Es mag nur gesagt sein, daß die rote Galeere entweder vom Waffenmeister der Argonauten schlecht gesteuert oder von der Mannschaft gerudert oder von Unglück verfolgt wurde. Sie verlor einen Riemen nach dem anderen, einmal gleich acht gleichzeitig, so daß nur noch zwei auf der einen Seite hervorragten. Freilich konnten, so lange auch nur noch ein einziger auf einer Seite vorhanden war, die abgebrochenen immer wieder ersetzt werden. So war ausgemacht worden.
Immerhin, die grüne Galeere war der roten doch weit überlegen, das war ganz deutlich zu bemerken. Und außerdem war die Anzahl der Reserveriemen auch beschränkt. Die rote Galeere hatte gar nicht mehr viel Riemen zuzusetzen, vielleicht nur noch drei oder vier, wenn sie dann nur noch einen einzigen Riemen verlor, so war sie ebenfalls besiegt.
Da, als also fast schon eine halbe Stunde lang der Kampf hin und her gewogt hatte, ging die bisher sich fast immer nur auf die Defensive beschränkt habende rote Galeere, die eben von der grünen förmlich gejagt worden war, zum ersten Male zum ernsten Angriff über.
Und es war ein so kühner und unerwartet schneller Angriff, daß es schon geschehen war, ehe das Publikum noch richtig zum Bewußtsein des Manövers gekommen.
Die rote Galeere war plötzlich mit eingelegten Riemen an der grünen vorbeigeschossen und hatte dieser die ganze Ruderreihe auf Steuerbordseite abgeknackt!
Bei diesem Ruderabbrechen ging es niemals ohne Konfusion auf dem betroffenen Schiffe ab. Die betreffenden Ruderer wurden dabei natürlich immer von den Sitzen geschleudert. Es war auch ganz angebracht, daß sie gepanzert waren, es hätte doch leicht einmal Verletzungen geben können.
Bei diesem furchtbaren Vorüberstreifen war auf der grünen Galeere natürlich die ganze Steuerbordseite durcheinander geworfen worden, alles lag und purzelte noch übereinander weg.
Und da, noch ehe sie sich wieder aufraffen konnten, erscholl drüben schon ein neues Kommando, nochmals kam die rote Galeere zurückgebraust und hatte im nächsten Augenblick auch die ganze Riemenreihe auf Backbordseite abgemäht.
Der Waffenmeister der Argonauten hatte zum Schluß doch noch seiner Farbe zum Siege verholfen, noch viel mehr, als es nötig gewesen wäre.
»Der Kampf Mann gegen Mann beginnt!« wurde oben verkündet, nachdem sich der allgemeine Jubel etwas gelegt hatte. »Dieses neue Kampfspiel ist in Szene gesetzt und arrangiert vom Heizer Felix Brunner!«
Ehre, wem Ehre gebühret. Wer etwas Gutes ausgediftelt hatte, wobei es sich um ein gemeinsames Spiel handelte, der unterbreitete seine Idee dem Waffenmeister als der letzten Instanz. Ging der auf den Vorschlag ein, dann wurde die Sache auch arrangiert, und wenn auch sämtliche mitwirken mußten, die Szene wurde erst mehrmals geprobt und dann den Gästen vorgeführt, und dann wurde auch stets der Name des genialen Erfinders verkündet, und wenns auch der kleinste Knirps von Schiffsjunge war.
Wie sollte der Kampf zwischen den beiden Galeeren Mann gegen Mann stattfinden?
Natürlich wurde jetzt geentert.
Wie aber dann weiter?
Sollte wirklich mit Waffen gefochten werden? Die man vorher eingeruth hatte, um jeden sitzenden Hieb zu markieren?
Das wäre für die Zuschauer schwer zu erkennen gewesen, selbst durch ein gutes Fernglas. Außerdem hätte fortwährend ein Schiedsrichter einschreiten müssen.
Oder sich gegenseitig mit dem Lasso wegfangen?
Oder sich einander bei den Händen hinüber ziehen?
So wurde jetzt schon dort oben debattiert, und man sieht, es war gar kein leichtes Problem gewesen, welches der Heizer Felix da gelost, hatte. Denn daß der nun irgendwie etwas Geniales ausgeheckt, das war ja nun gar kein Zweifel, und da war ich doch wirklich gespannt.
Zuvor noch sei der Leser daran erinnert, daß der Heizer Felix der gelernte Buchdrucker war, der damals auf der Fahrt von Para nach Bordeaux, als man die Passagiere des französischen Dampfers aufgenommen, den ausgezeichneten Witz gemacht hatte. Wie der französische Journalist, der die Patronin der Argonauten in seiner Broschüre so verunglimpft, über der Winde hängend seinen Magen umgekrempelt hatte.
»Du sieh mal, Garl,« hatte er zu seinem Kollegen gesagt, »der schbuckt Letter n, setzt se glei zusamm . . . «
Es ist nicht umsonst, daß hieran noch einmal erinnert wird, der Leser wird es gleich merken.
Die beiden Galeeren hatten sich etwas von einander entfernt, und da sah man, daß die Mannschaften unterdessen auch schon die Kostüme gewechselt hatten. Statt der Schuppenrüstungen trugen sie alle jetzt weiße Hosen und farbige Trikothemden, wiederum durch Rot und Grün von einander unterschieden.
Und jetzt ließ jede Galeere zehn Boote über Bord zu Wasser.
Oder vielmehr keine Boote, sondern es waren Kähne, ganz einfach Zusammengefügte Bretter, wasserdicht gemacht, jeder Kahn konnte gerade zwei Mann bequem tragen, obwohl sie sonst Ziemlich lang waren.
In jedem Kahn setzte sich ungefähr in die Mitte ein Mann mit einem Schaufelruder, ein zweiter von der gleichen Farbe stellte sich aufrecht ganz hinten auf, bewaffnet mit einer langen Stange, an der sich vorn ein Brettchen befand.
Und das bekannte Spiel begann.
Was für ein bekanntes Spiel?
Wie kam gerade Felix, der Heizer und ehemalige Buchdrucker, dazu, dieses Kampfspiel zu Wasser zu erfinden? Es war gar nicht seine eigene Erfindung.
Aber gerade ihm war es ein sehr bekanntes Kampfspiel, nur er hatte diese Idee gehabt.
Nämlich weil Felix, ein geborener Leipziger war!
In Leipzig findet alljährlich im Sommer an einem gewissen Tage ein besonderes Fest statt: das Fischerstechen. Ein Volksfest darf man es nicht nennen, wenn auch alles daran teilnimmt, besonders alle Kinder — es ist aber doch nur das Fest einer Zunft, die es seit alten, alten Zeiten feiert und so auch noch heute genau in derselben uralten Weise.
An diesem Tage hält die Fischerinnung ihren Umzug durch die Stadt, die Fischer schicken eine Deputation ins Rathaus, werden dort auch bewirtet, und dann geht es auf einen Teich hinaus. Früher war es Schimmels Teich, heute wird das Kampfspiel auf dem Gewässer von Freges Waldgrundstück abgehalten.
Es ist ein ritterliches Tournier, übersetzt in die Fischerzunft. In jedem Kahne immer zwei Männer, der eine rudert, der andere ist der Kämpe, bewaffnet mit einer langen Stange. Irgend zwei Kahne nähern sich, legen nebeneinander an, werden festgehalten, die hinten stehenden Kämpen setzen ihre Stangen vorn mit dem Brettchen einander gegen die Brust, drücken und drücken, bis einer das Gleichgewicht verliert und hintenüber ins Wasser purzelt. Der scheidet aus. So werden der Kämpfenden immer weniger, bis zuletzt doch nur einer übrig bleiben muß. Das ist der Sieger, bekommt seine Trophäe und wird in die Weltgeschichte der Leipziger Fischer eingetragen. Das nachfolgende »Aalklettern« und eine lustige Wasserpantomime ist Nebensache. Hauptsache ist das eigentliche Stechen.
Man darf dieses Leipziger Fischerstechen nicht so leicht nehmen. Es ist eine uralte, heilige Tradition, die irgend seinen historischen Hintergrund hat. Der Stadtkommandant von Leipzig wohnt diesem Tourniere stets bei, und zwar nicht nur als eingeladener Gast, sondern als Vertreter des Königs! Ein »bekanntes« Kampfspiel hatten wir gesagt.
Wer kennt es?
Nun eben wer Leipzig kennt. Es gehört zu Leipzig wie die Messe.
Es sollte aber wirklich bekannter werden, nachgeahmt. Es ist wirklich ein ganz eigenartiges, amüsantes, ritterliches und dabei ganz harmloses Kampfspiel, obgleich es alle Kraft und Gewandtheit erfordert.
Der Heizer Felix hatte es als Leipziger gekannt, hatte seinen Vorschlag gemacht, und mit Jubel war die Idee aufgenommen und verwirklicht worden. Solche 20 Bretterkähne zu fertigen, das war ja für diese Mannschaft, die über hundert Paar geschickte Hände verfügte, eine Kleinigkeit gewesen.
Und das Wassertournier begann, Boot gegen Boot, Mann gegen Mann, immer wieder Rot gegen Grün.
Wer purzelte, der schied aus, übernahm aber zuerst die Führung des Bootes, jetzt kam der bisherige Ruderer daran, und wurde auch der besiegt, dann schied das ganze Boot aus, die beiden begaben sich auf ihre Galeere oder an Land zurück, wo beiderseits schon wieder Vorbereitungen zu neuen Spielen getroffen wurden.
Übrigens nahmen nicht alle Teil an diesem Stechen. Es waren ja auch mehr als 40 Mann auf beiden Galeeren gewesen. So auch Georg nicht. Er hatte gerade als Waffenmeister seine besonderen Gründe, sich nicht an solchen Einzelkämpfen Zu beteiligen.
Also es ging los. Die Kämpfer purzelten ins Wasser. Manchmal aber stemmten und drückten zwei eine ganze Viertelstunde lang, ehe einer den anderen zum Wanken brachte. Gerade deshalb ist es vorteilhaft, wenn gleich viele Boote gleichzeitig um die Palme ringen, das Auge hat mehr Abwechslung. Und an Abwechslung fehlte es denn auch nicht, nicht an humoristischen Szenen, daß oben auf dem Altan manchmal alles brüllte vor Lachen. Und außerdem nun, je mehr sich das Spiel seinem Ende näherte, sich die Boote lichteten, ging es wieder los mit dem Für und Gegen, jeder hatte natürlich seine Partei.
Zuletzt waren nur noch drei Boote übrig. Oder vielmehr nur noch drei Kämpen, die bisher noch nicht besiegt worden waren.
Das Schicksal war ziemlich gerecht gewesen. Es kam ja manches Unglück vor, das heith mancher war nur ausgerutscht, sogar direkt vornüber ins Wasser gefallen, was aber doch unbedingt mitzählen muß — im allgemeinen aber war es immer so gekommen, wie man ungefähr erwartet hatte.
Korperkraft und Gewandtheit siegten. Allerdings spielt hierbei auch das Korpergewicht eine grolze Rolle. Der ganz von Eisen und Stahl gebaute Kretschmar war doch für diesen Kampf etwas gar zu leicht, er war vom langen Heinrich spielend geworfen worden. Hingegen hatte dieser, der hochstens anderthalb Zentner wog, freilich auch nur aus Knochen bestand, den dreizentrigen August besiegt, wenn auch erst nach langem, langem Ringen.
Und so waren zuletzt — oder zu vorletzt — nur noch drei übrig: von der grünen Partei Häckel, von der roten Partei der lange Heinrich und Albert der Sänger.
Dieser letztere aber Zählte bei diesem Endgefecht nicht richtig mit. Allerdings war Albert, wie schon mehrmals erwähnt, ein bärenstarker Kerl. Er war ja auch derjenige gewesen, den damals Georg von allen Argonauten als einzigen auswählte, der ihm helfen sollte, die vierzentrige Mama Bombe über die schwankende Riffbrücke zu tragen. Diese seine Kraft sah man ihm gar nicht an. Er war zwar kräftig gebaut — natürlich — aber nicht von auffallender Muskulatur, hatte auch keinen besonders starken Knochenbau. Aber Mark hatte dieser Ostfriese in den Knochen, das war es! Und nun kam noch dazu seine ungemeine Bedächtigkeit, die manchmal bis zum impotenten Phlegma ausarten konnte.
Ja, und dennoch . . .
Dieser gottbegnadete Sänger war ein ganz echter Ostfriese, dort oben von der Waterkant her, aus Butjadingen — »jau jau.«
Wer so wie der Schreiber dieses ostfriesische Seeleute, Fischer und Bauern kennen gelernt hat, der weils, was das für ein merkwürdiger Menschenschlag ist.
Ein ganz, ganz merkwürdiger Menschenschlag und ein ganz gefährlicher dazu!
Nur daß man diesen Kerls nicht bose werden kann.
So plump, so schwerfällig, so langsam, eh die nur ein Wort herausbekommen — und dann wieder bei Gelegenheit, wenns einmal sein muß, mit der Faust fix wie’s Donnerwetter!
So bieder, so ehrlich, so treu — und dabei listig wie die Schlangen, faustdick hinterm Ohre, mit allen Hunden gehetzt!
Gastfreundschaftlich bis zum äußersten, der Ärmste gibt sein Letztes hin — aber dabei weiß ers immer nur vom Lebendigen zu nehmen, tut nichts umsonst!
Ein ganz merkwürdiger Menschenschlag, diese Ostfriesen!
Aber haben wir denn das nicht auch im großen als ganzes Volk, als Nation?
Diese Ostfriesen sind der letzte Rest der alten Angelsachsen in Deutschland, die heute in England dominieren und regieren! Das ist es! Drüben in England offenbart sich dieser Charakter der alten Angelsachsen, die einzigen Gegner, deren Karl der Große nicht allein durch Waffengewalt Herr werden konnte, ganz und gar, in der Politik sowohl wie in der Person. Auch bei diesem Wasserkampfe hatte sich Albert als echter Ostfriese bewiesen.
Zuerst hatte er gerudert, war aber gleich so vorsichtig gewesen, sich als Partner August den Starken zu wählen, den er immer nur mit den stärksten Gegnern zusammengebracht hatte.
Als dieser gefallen war, hatte natürlich Albert die Lanze nehmen müssen. Ehrlich und offen hatte er sich immer dem ersten besten Gegner genähert — nur merkwürdig, daß das immer gerade einer gewesen war, der ihm bei weitem nicht das Wasser reichen konnte. Die hatte dieser baumstarke Kerl, der er war, ja nun allerdings mit leichter Mühe abgefertigt.
Da war Häckel herbeigeeilt gekommen, um diesen männermordenden Roten unschädlich zu machen.
Gewiß, unverzagt stellte sich Albert diesem furchtbaren Gegner, denn bei so einem Ostfriesen gibt es doch nicht etwa so etwas wie Feigheit!
Da aber, wie die beiden die Lanzen schon eingestemmt, hatte Albert einen Hustenanfall bekommen.
Den mußte der edle Häckel natürlich erst vorüber lassen.
Aber er hatte gar lange zu warten. Albert hustete egal weiter.
Bis endlich Häckel die Geduld verlor.
»Na, hast Du Dich nun endlich ausge . . . hustet?«
Albert jiebste tief auf und blickte den Frager vorwurfsvoll an.
»Na wat denn, ick mott doch mien Keeehl skoooohhn?!«
Ja natürlich, wenn dieser gottbegnadete Sänger, wohl mit der größte Stolz der »Argos«, einen Hustenanfall bekam, da war nichts zu machen. Der muthe doch seine Kehle schonen.
Und als er nun immer wieder zu husten anfing, da hatte Häckel endlich aufgegeben.
Und da war der Hustenanfall sofort vorbei gewesen, Albert hatte kurz hintereinander den Peter und dann den Otto ins Wasser geworfen, geschleudert, daß es nur so knallte und spritzte!
Dann aber hatte ihn, der nun bald zu den letzten gehörte, Kaul erspäht und auserkoren. Kaul, der ehemalige Maler und Tapezierer, der sich die Haare an den Zimmerdecken abgestoßen hatte, ebenfalls ein ganz phänomenaler Pflaumenschmeißer
Und diesmal hatte Albert nicht wieder ausweichen können. Doch was denn überhaupt? So ein Ostfriese weicht keinem aus, am wenigsten tat es Albert. Natürlich konnte er jetzt auch nicht wieder einen Hustenanfall bekommen. Was hatte er überhaupt für diesen gekonnt?
Also Albert stemmte unverzagt die Lanze ein; er tat es freilich in ganz besonderer Weise. Setzte seinen Fuß zuerst etwas seitwärts und setzte auch seine Lanze dem Gegner etwas seitwärts auf die Brust, und als er dann seine Fußstellung verbesserte, hatte er den Gegner mehr von der Seite bekommen, und ehe der etwas von dieser niederträchtigen List merkte, war er schon sanft zur Seite gedrückt und purzelte ins Wasser, und da hatte alle Riesenkraft und Schlangengewandtheit nichts genützt. Aber er konnte sich auch nicht beschweren, den Kampf ungültig machen. Hier war jede List erlaubt, man durfte sich eben nicht überlisten lassen. Wer purzelte, der purzelte.
So war es gekommen, daß Albert mit in die letzten Endkämpfe trat, welche die eigentliche Entscheidung herbeiführen sollten.
Doch in Betracht kam er hierbei nicht. Es handelte sich nur darum, ob der furchtbare Häckel für Grün oder der gewaltige Heinrich für Rot siegen würde.
Und jetzt traten diese beiden sich gegenüber, stemmten ihre Lanzen ein.
Atemlose Stille herrschte unter den Zuschauern dort oben wie hier unten. Jetzt ging es um die Ehre der Farbe, der ganzen Partei.
Man sollte nicht lange gefoltert werden. Wer vielleicht doch noch auf den langen Heinrichs gehofft hatte, der hatte sich eben getäuscht. Höchstens eine Minute des furchtbaren Stemmens und Drückens, dann war schon deutlich erkennbar, daß der ehemalige Advokatenschreiber diesem Matrosen weit überlegen war, und da schlug der letztere auch schon rücklings ins Wasser. Gegen jenen germanischen Herkules war einfach nichts zu machen.
Auf dem Balkon wurde Bravo geklatscht, und auch hier unten jubelten die Grünen dem Sieger zu, der ihre Farbe trug.
Aber — das Richtige war es längst nicht!
Schon immer hatte während der letzten Kämpfe, als es immer deutlicher wurde, daß Häckel Sieger bleiben würde, etwas wie eine peinliche Stille über alle Zuschauer gelegen, dort oben wie hier unten.
»Mir scheint, jetzt würgt jeder einen Wurm hinter!« hatte Klothilde einmal zu ihrem Nachbar, dem Doktor Isidor gesagt.
Und sie hatte recht!
Häckel war ja ein ganz guter Kerl, der beste Kamerad, er gehörte vollkommen mit zu den Argonauten. Aber so ein ganz echter Argonaut war er doch nicht!
Er war nicht mit vom alten Stamme.
Und er war ein Advokatenschreiber gewesen, ein Schreiberlein.
Mußte der gerade der Sieger im Entscheidungskampfe, der unüberwindliche Held sein?
Kurz, wenn der lange Heinrich, dieser echte Seemann von der Waterkant, Sieger geblieben wäre, dann wären nicht nur die siegreichen Roten in einen ganz, ganz anderen Jubel ausgebrochen, sondern sogar die Grünen hätten mit eingestimmt. Obgleich ihre Partei doch verloren hätte. Dann aber wäre es eben ein ganz echter Argonaute gewesen, einer vom alten Stamme, der den Sieg davon getragen, nicht so ein hergelaufener oder gar von der Straße aufgelesener . . .
Na, nevermind, es war geschehen. Häckel hatte gesiegt, die ihm gebührenden Ovationen wurden ihm auch gezollt.
Doch halt, erst hatte er ja noch einen anderen Gegner abzufertigen, den Albert. Na, das wurde eben noch schnellstens besorgt. Schade, daß man da auch noch zusehen muthe
»Komm her, Albert. Daß Du aber nicht etwa wieder den Husten bekommst!«
»Wat Husten? Ick häww keen Husten.«
Und schon lagen die beiden Kähne nebeneinander.
Erst aber mußte sich Albert noch einmal die Nase putzen.
Also er klemmte seine Lanze zwischen die Beine, Zog bedächtig sein rotes Taschentuch hervor, faltete es bedächtig auseinander, suchte sich in dem schonen Muster, drei reifenspielende Jungfrauen darstellend, bedächtig die schönste Jungfrau aus, in die er seine Nase steckte, reinigte bedächtig sein linkes Nasenloch, dann reinigte er bedächtig sein rechtes Nasenloch, dann besah er sich bedächtig die so behandelte J Jungfrau, dann wickelte er das Taschentuch bedächtig zusammen, steckte es bedächtig in die Hosentasche, wischte sich erst noch einmal die Finger bedächtig am Hosenhintern ab — so, nun war er fertig, nun nahm er bedächtig wieder die Lanze zur Hand.
»Himmel, ist dieser Albert ein langweiliger Mensch!« stieß oben die Patronin unmutig zwischen den Zähnen hervor.
»Well!« stimmte der neben ihr sitzende Kapitän Martin verdrießlich bei. Der war übrigens der einzige, der die Maskerade nicht mitmachte, denn der trennte sich doch nicht von seinem blauen Bratenrock.
Nun, dafür würde es jetzt ja um so schneller gehen.
Die beiden setzten die Lanzen ein.
Häckel wußte, welchem Trick sein Kollege Kaul zum Opfer gefallen war, und er achtete darauf, daß ihm nicht so etwas passieren konnte, ergriff die feindliche Lanze und setzte sich das Brettchen selber auf die Brust, an der ihm passendsten Stelle.
Dann drückte er los, der gewaltige Herkules, gegen den der andere, so groß und stark er auch gebaut sein mochte, doch ganz verschwand.
Häckel schien sich Zeit zu nehmen, wandte vielleicht erst die halbe Kraft an, denn noch sah man seinen Gegner nicht wanken.
Und so vergingen vielleicht zwei Minuten — zwei unbeschreibliche Minuten!
Und dann vollzog sich ein Wunder.
Da sah man ganz deutlich wie Alberts rechtes in Kniebeuge vorgesetztes Bein langsam vorging, wie er also immer eine tiefere Kniebeuge machte, wonach auch sein Korper sich vorneigen mußte, und ganz ebenso ging Häckel nach rückwärts!
Und das ging Zoll für Zoll so weiter, oder vielmehr Linie für Linie, nur aller zehn Sekunden konnte man den Unterschied konstatieren, aber dieser Unterschied in den Körperstellungen vollzog sich auch unaufhaltsam!
Bis zuletzt Häckel das Ende seines Korpergleichgewichts erreicht hatte, die Stange fallen ließ und rückwärts ins Wasser schlug.
Während Albert bedächtig seine Stange zwischen die Beine klemmte, bedächtig sein rotes Taschentuch aus der Hose Zog, um seine Nase zu putzen.
»Du, Jochen, ich gläuw, ick häww dn Snuppen krägen.«
Jochen, sein Rudersmann, horte es leider nicht mehr konnte ihn daher nicht bedauern.
Denn da war der Tumult schon losgebrochen. Denn das war kein Jubel mehr, das war schon mehr Tumult und Aufruhr.
»Ich hab gewußt, ich hab gewußt!« heulte Georg auf seiner Galeere. »Bei Gott, ich hab gewußt, daß sich unser Albert nicht werfen läßt! Von Hexenkünsten kann der besiegt werden, aber nimmermehr von einem Menschen, so bald der einmal ordentlich Ernst macht! Bei Gott, ich habs gewußt . . . obgleich ich selber nicht dran geglaubt habe.«
Und das, was hier Georg sagte oder vielmehr heulte, nicht nur schrie, das wußten jetzt plötzlich alle, alle.
Sie alle, alle hatten ganz bestimmt gewußt, daß Albert als letzter Sieger aus dem Kampfe hervorgehen würde.
Weil es eine Kraft gibt, die überhaupt unbesiegbar ist.
Eine Kraft, die man dem, der sie besitzt, gewöhnlich oder sogar immer nicht ansieht, weil sie nicht in den Muskeln und nicht in den Knochen steckt, sondern ganz wo anders.
In den Knochen drin, konnte man hochstens sagen. »Der hat Mark in den Knochen.«
Asenkraft, nannten die alten Germanen diese Art von Kraft, die den unüberwindlichen Helden ausmacht, der selbst den Kampf mit Göttern erfolgreich aufnimmt.
Heute haben wir, die Nachkommen dieser Germanen, das romanische Wort »Genie« dafür. Freilich nur für eine geistige Kraft gebraucht, die sich in ihrer Wirkungsweise nicht weiter definieren läßt.
Unsere Vorfahren, die noch den Bären und dem Auerochsen mit der Lanze zu Leibe gingen, haben sich freilich um diese geistige Kraft verdammt wenig gekümmert.
Aber eine Asenkraft und ein Asentum kannten sie.
Und als ob sich das, was wir heute Genie nennen, nicht auch auf körperliche Kraft anwenden ließe!
Wir heute wissen freilich nichts mehr davon, das haben wir über unseren Millionen von Büchern total vergessen!
Diese Asenkraft besaß Albert eben — Mumm in den Knochen! — Und außerdem war er, was doch auch für seine geistigen Fähigkeiten sprach, so schlau, so klug, so genial gewesen, ein echter Ostfriese, diese seine ganze Kraft bis zum letzten Kampfe aufzusparen, während sich der Gegner schon sehr erschöpft hatte!
»Um Gottes willen, wo wollen Sie denn hin?!« schrie oben auf dem Balkon Klothilde und packte die Patronin beim Gürtel.
Denn es sah nicht anders aus, als wolle diese auf die Brüstung klettern, um die drei Etagen hinunter zu jumpen, in den See hinein. Natürlich nur, um den Sieger in ihre Arme zu schließen
Mag das genügen, um die allgemeine Stimmung zu schildern.
Oder höchstens noch, daß Kapitän Martin seine Hände aus den Hosentaschen genommen hatte und sich immer auf die Knie klatschte, nicht nur so gemächlich, sondern wie ein Wilder.
Mehr läßt sich aber wirklich nicht sagen.
»Die siegreiche Galeere bombardiert eine feindliche Festung mit Katapulten und Ballisten!« wurde verkündet. »In Szene gesetzt vom Segelmacher Oskar L· ·· aus Köln!«
Wir können seinen Namen nicht ausschreiben, denn dieser Segelmacher Oskar ist nicht etwa eine aus der Luft gegriffene Persönlichkeit, sondern sein Vater ist heute noch in oder bei Köln ein Großindustrieller, der mit seinen Katalogen zeitweise ganz Deutschland überschwemmt.
Weshalb aber überhaupt hatte der Herold diesmal die Vaterstadt des Betreffenden hinzugefügt? Sonst geschah das doch niemals.
Und diesmal war doch auch gleich verkündet worden, welche neue Überraschung kommen würde, wenigstens mit starker Andeutung.
Nun, es würde schon seinen Zweck haben. Hier wurde wenig oder gar nichts zwecklos getan und gesprochen.
Unterdessen war auf der Galeere mit der grünen Flagge ein Apparat aufgebaut werden. Eine Wurfmaschine, wollen wir gleich sagen.
Man unterscheidet zwischen Katapult und Ballist. Jeder Bogen, der durch seine Elastizität den Pfeil absendet, wirkt als Ballist. Denkt man sich aber den Bogen fest, starr, unelastisch statt der undehnbaren Sehne ist eine Gummischnur vorhanden, diese wird durch Zurückziehen gespannt, durch das Vorschnellen oder eigentlich Wiederzusammenziehen der Gummischnur wird der Pfeil vorwärts geschleudert, dann wirkt der Bogen als Katapult. Das ist der Unterschied dieser beiden Arten von Wurfmaschinen. Im Prinzip.
Eine Vereinigung beider Systeme war der sogenannte Onager, der zuletzt aber einfach Ballist genannt wurde.
Bei diesem stak ein Brett zwischen zwei Tauen, diese wurden durch Maschinerie zusammengedreht, das elastische Brett noch extra mit einer Winde zurückgebogen, es hatte hinten eine löffelartige Vertiefung, in diese kam das Geschoß, und wurde nun die Arretierung gelost, so schnellte das Brett hoch und vor, teils durch seine eigene Elastizität, teils durch das Bestreben der beiden Taue, sich wieder aufzudrehen.
Bei der Erstürmung von Konstantinopel durch Mohammed II. wurde solch ein Onager verwendet, der, wie wir genau wissen, Steine oder Eisenkugeln im Gewichte von sechs Zentnern 800 Meter weit schleuderte. Alle Hochachtung! Da brauchst man sich nicht zu wundern, daß solche Wurfmaschinen noch benutzt wurden, als die Pulverkanonen schon ziemlich weit vorgeschritten waren. Freilich war jenes Ballist auch ein ganzes Gebäude, seine Bedienung erforderte 200 Mann.
So großartig war dieses Ballist ja nun nicht, welches hier an Bord der Galeere einige Mann innerhalb von zehn Minuten aufbauten.
Aber immerhin, was diese Argonauten taten, das würde auch schon seinen Zweck erfüllen.
Also eine Festung wollten sie beschießen?
Wo war denn diese Festung?
»Augen zu, Maul auf, damit die Trommelfelle nicht platzen, wenns knallt!« horte man dort unten Oskars wohlbekannte Stimme brüllen. »Achtung — feeerrtick — Feuer!«
Natürlich war kein Knall zu hören.
Aber sehen tat man etwas.
»Himmel, die beschießen uns!.«
Jawohl, da kam der Todesbote schon angeflogen
Dort oben der Balkon, das war die schwache Stelle der Festung, die wurde beschossen, und der Feind war auch so unvorsichtig, sich dort zu zeigen.
Und da kam sie schon durch die Luft gesaust, eine ganz stattliche Kugel, von mindestens einem Viertelmeter Durchmesser, und sie sauste direkt auf den Balkon zu.
Klatsch, bruch, kladderadatsch!
Die Kugel war noch acht bis zehn Meter hoch über dem Balkon gegen die Felswand geschlagen.
Und es war eine Bombe!
Sie explodierte!
Sie explodierte so fürchterlich, daß sie sich gleich ganz und gar in einen braunen Staub auflöste der harmlos herabrieselte.
Dieser braune Staub war Nebensache.
Hauptsache war der auf den Feind herabsausende Regen und Hagel von Konfetti.
Konfetti!
Wir leben doch in einer ganz tristen Zeit! Man geniert sich förmlich, da mitleben zu müssen. Eine ganz und gar knausrige Zeit!
Fast alle Erfindungen streben nur danach hin, um irgend etwas billiger zu machen.
Und so ist es auch mit allem und jedem.
Nur immer sparen, nur immer knausern! Und dabei doch den Schein der Großartigkeit wahren!
Alles Lüge und Heuchelei!
Da sitzt man in einem Theater, sieht ein effektvolles Stück, sehr schon aufgeführt, man wundert sich nur, daß die Menschen egal mit den Kinnladen klappern und dennoch keinen Ton hervorbringen, und mit einem Male zuckt es und alles auf der Bühne ist verschwunden und dann flammt es wieder auf und alles ist wieder da, die Menschen schlenkern wieder die Gliedmaßen, reisen den Mund auf und klappern lautlos mit den Kinnladen — und dann ist wieder alles weg — und dann ist wieder alles da — na, und so erfährt man nach und nach, daß das überhaupt gar keine richtigen Menschen sind!
Kientopp!
Und so ist es mit allem und jedem heutzutage.
Alles Vorspiegelung falscher Tatsachen!
So ist es auch mit dem Konfetti, das in den Karnevalstagen geworfen wird.
Konfetti ist nichts anderes als das uns bekanntere Konfekt. Zuckerzeug, Süßigkeiten, Naschwerk.
Mit solchem echten Konfekt bewarf man sich in früheren Zeiten beim Karneval. Damit die Bonbons nicht am Boden schmutzig wurden, wickelte man sie in Papier, in schone, bunte Papiertüten. Und so war es noch Zu unserer Kinderzeit in den siebziger Jahren, als in noch gar vielen deutschen Städtchen öffentlich echter Karneval gefeiert wurde, da wurde noch mit echtem Konfetti geworfen, mit Bonbons und anderen Süßigkeiten, da führte Prinz Karneval und seine Begleitung solche eingewickelte Bonbons wagenweise mit sich und streute sie aus, da fuhren hunderte von Droschken herum und aus allen wurde mit einpapierten Bonbons geworfen, und dann hinterher wurden alle eingeworfenen Fenster vom Prinzen Karneval bezahlt — von der Gesellschaft, die dies alles arrangierte.
Oder ist es etwa nicht so gewesen? Ist es nicht so gewesen zum Beispiel im Jahre 1876 in Leipzig, als Georg Kuchs Prinz Karneval war?
Ja, es war so! Damals gab es freilich noch keinen Kientopp.
Und heute? Heute wirft man sich in den Karnevalstagen auch noch mit Konfetti, mit Konfekt. Aber die eingewickelten Bonbons das eigentliche Konfekt, hat man dabei weggelassen. Man wirft sich nur noch mit der bunten Papierumhüllung. Und die auch noch so klein als möglich geschnitten, in winzigen Schnipselchen ausgestanzt aus alter Makulatur, aus alten Abfällen, die man in der Fabrik nicht einmal mehr als Klosettpapier gebrauchen kann, dieses Zeug, die Düte einen Fünfer, der ganze halbe Liter einen Groschen, schmeißt man sich gegenseitig ins Gesicht und nennt es stolz Konfetti, nennt es Konfekt
Himmel, hast Du keine Flinte!
Es ist zum totschießen!
Nein, es ist zum Weinen!
Wir leben in einer ganz traurigen Zeit . . .
Aber solche traurigen Burschen waren diese modernen Argonauten nicht!
Die hatten einen ganzen Tag und eine ganze Nacht gewürgt, um unter August des Starken Anleitung echtes Konfetti herzustellen. Zucker und Schokolade und ähnliches Zeug war ja an Bord massenhaft vorhanden, und August der Starke selbst hatte geschwitzt, daß ihm immer der Schweiß von der Nasenspitze in den Marzipanteig getropft war, aus dem er dann Kartoffelchen und Brezelchen und andere schöne Sächelchen formte und buk.
Und dieses echte Konfetti nun, auch alles schon in buntes Papier eingewickelt, kam jetzt aus der Luft herabgeprasselt, nachdem die irdene Bombe in Atome zersplittert war.
Ach, war das ein Gejubel und ein Gequieke, als der bunte Regen auf das Publikum dort oben herabgeprasselt kam! Als man den Inhalt der bunten Papierchen erkannte! Die neun fremden Weiber jubelten und quiekten am allerlautesten mit und begannen zu lutschen und zu nutschen und zu tschutschen.
»Karneval — Karneval in Sibirien!« jauchzte die Patronin, in die Hände klatschend; dabei aber klang es fast und sah es fast aus, als ob sie zu weinen anfangen wolle.
Jaaaa, das war auch Oskar gewesen, der Kölner Jong, der diese Idee mit der Schießerei und dem Konfetti ausgeheckt hatte, und der ließ sich nicht lumpen, wenn es sich um den Karneval handelte, auch in Sibirien nicht!
»Well, das Zeug schmeckt ganz gütl« sagte Kapitän Martin, den letzten Rest einer Marzipankartoffel verzehrend.
Jaaaa, sollte die wohl auch nicht gut schmecken! Da steckte mancher Schweißtropfen drin, von August des Starken Nasenspitze hineingeträufelt!
Und Kapitän Martin hob eine zweite Marzipankartoffel auf, bilå hinein, schmeckte — und machte ein recht merkwürdiges Gesicht.
»Das — das — schmeckt doch grade wie — wie — wie Seeeefee?«
Jawohl, er hatte es sofort herausgeschmeckt.
Dieses Kartoffelchen hier war von Seefe. Von guter, deutscher, solider Kernseife.
Müssen denn auch alle Kartoffeln gerade von Marzipan sein?
Jetzt war es die kleine Ilse, die mißtrauisch eine längliche, bräunliche Kugel betrachtete, die sie aus Silberpapier gewickelt und in die sie schon gebissen hatte. Das heißt, da hatte sie schon viele Bonbons und Pralinees gegessen.
»Du, Tante, was ist denn das hier? Wie schmeckt denn das so komisch? Eigentlich ganz gut, so — so . . . würzig, aber — aber —«
Noch ehe die Patronin den fraglichen Bonbon untersuchen konnte, hatte ihn schon Klothilde in den Fingern.
»Das? Das ist eine Karnickelnorbel.«
Jaaaa, so etwas muß man beim echten Karneval mit in Kauf nehmen. Beim echten Konfetti. Zumal beim Karneval in Sibirica. Arrangiert von dem Segelmacher Oskar L· · · aus Köln.
Die Freifrau von der See fiel vor Lachen von ihrer Steinbank herunter.
Bruch, kladderadatsch!
Eine zweite Bombe, mit wunderbarer Genauigkeit geschleudert, war an der Felswand krepiert, ergoß ihren Inhalt über den Feind.
»Ach wie reizend!«
Lauter kleine weiße Mäuse, aus Zucker, mit Schwänzchen und allem, was dazu gehört.
Bruch, kladderadatsch!
Eine dritte Bombe war explodiert.
»Ach wie — — huuiiiiiiihhhh!«
Wiederum lauter kleine weiße Mäuschen. Diesmal aber lebendige!
Vater Abdallahs Mäusepalast, von ihm noch immer eifrigst gepflegt, hatte herhalten müssen!
Bruch kladderadatsch!
Man brauchte nicht so ängstlich nach oben zu sehen und schon im voraus zu quieken.
Wieder regnete es Konfekt herab, diesmal aber nur das allerfeinste.
Bruch, kladderadatsch!
Jetzt freilich konnte man mit Recht quieken und johlen.
Die krepierende Bombe entsendete eine ungeheure Wolke von Mehlstaub, der sich auf den Feind herabsenkte, Männlein und Weiblein einpudernd.
Und dann kamen wieder Marzipankartoffeln.
Und dann kam eine Bombe mit parfümiertem Wasser.
Und dann kam eine unparfümierte tote Katze.
Und hiermit wollen wir die Beschreibung dieses Bombardements schließen, obgleich es noch längst nicht zu Ende war.
Karneval in Sibirien!
113. KAPITEL.
DER TEUFEL ALS BADEGAST.[Das Recht der dramatischen Aufführung und kinematographischen Wiedergabe dieser Pantomime behält sich der Verfasser vor.]
Ein dröhnendes Signal, gerader furchtbar dröhnend, daß die Luft erzitterte, nämlich auf den größten Baßpfeifen der Orgel hervorgebracht, rief die Herrschaften zum Frühstück.
Es wurde wie alle Mahlzeiten immer an Bord des Schiffes eingenommen, das jetzt in einer bequem zu erreichenden Seitenschlucht lag.
Die letzte Bombe hatte ein Paket gebracht, mit der Aufschrift: Für Frau Rosamunde Wenzel—Attila.
Aus sorgsamster Watteverpackung kam ein stattlicher Nackfrosch zum Vorschein — stattlich als Porzellanpuppe, sonst für menschliche normale Verhältnisse ja viel zu klein. Natürlich wieder unbändiges Gelächter, als der kleinen Dame der Nackfrosch in den Arm gelegt wurde.
»Nun mochte ich bloß wissen, wo die Kerls diese Puppe herhaben?« hieß es auf anderer Seite.
Ja, was gibt es nicht alles an Bord eines Schiffes. Das jahrelang unterwegs ist! Was sich da alles anhäuft!
Ein neues Orgeldrohnen ermahnte, daß das Frühstück bereit stehe.
»Ach, dieser Meister Kännchen, daß der mit seinem Frühstück alles unterbrechen muß!« wurde unwillig gesagt.
»Horen Sie mal, die dort unten sind über diese Störung nicht so unwillig!«
Nein, was sich dort unten noch bewegte, das machte schleunigst, um an Bord des Schiffes zum Frühstück zu kommen. Sie hatten es sich auch redlich verdient.
Die Herrschaften verließen den Balkon, mehlgepudert und auch sonst total derangiert.
Nur die exotischen Gäste blieben noch zurück. Um diese durfte man sich ja nicht kümmern.
Allerdings wäre beinahe eine völlige Vermischung der beiden getrennten Gesellschaften eingetreten. Es hatte ja kaum anders sein können. Auch die würdevollen Männer waren von den geschauten Kampfszenen ganz hingerissen worden, von den Weibern und Dienern gar nicht zu sprechen, und nun gar bei dem letzten Bombardement war alles durcheinander gekommen, die orientalischen Damen waren vor den lebendigen Mäusen quiekend hinübergeflüchtet, nachdem sie sich kurz vorher um die weißen Zuckermäuse förmlich gebalgt hatten, und die Diener hatten auch treiben dürfen, was sie wollten, hatten sich keinen Zwang anzulegen brauchen. Die vier älteren Männer, die so stolz und würdevoll einmarschiert waren, hatten sich zuletzt gar keine Mühe mehr gegeben, durch Streichen der Bärte und andere Manipulationen ihr schallendes Gelächter im Keime zu ersticken.
Nur einer hatte eine Ausnahme gemacht. Der Professor Beireis war einfach ganz zapplig gewesen, der schwarze Riese hingegen hatte als einziger immer ruhig dagesessen. Nicht gerade bewegungslos, nicht steif, er hatte hinter seiner Maske alle Vorgänge dort unten immer aufmerksam verfolgt, aber jedenfalls hatte er nie gelacht, war auch bei der aufregendsten Kampfesszene niemals so aufgesprungen, anfeuernde Zurufe ausstoßend, wie es die vier Radschahs — so wollen wir sie nennen — oft genug getan hatten.
Das war jenseits der Grenze doch von einigen Augen beobachtet worden, es wurde dann beim Frühstück darüber gesprochen.
Jetzt, da es zum Aufbruch ging, saß diese exotische Gesellschaft wieder in sich abgeschlossen da, so wie sie Platz genommen, zwar ebenfalls mehlbestäubt und etwas derangiert, am meisten die neun Damen, aber doch immer wieder exklusiv, unnahbar.
»Wo und wann findet denn nun die nächste Vorstellung statt?« fragte noch einmal die Patronin mit vernehmlicher Stimme, ehe sie den Balkon durch Eintritt in den Felsen wirklich verließ.
Sie tat es mit Rücksicht auf diese fremden Gäste, denen sich Merlin nicht beigesellt hatte.
Diese Rücksicht war eigentlich gar nicht angebracht. Wenn man sich um diese Gesellschaft, wie aufs dringendste gebeten worden war, nun einmal gar nicht kümmern sollte. Die Patronin war dennoch Zu dieser Frage gedrängt worden, daß jene es noch hören konnten, womöglich auch die Antwort. Wegen der Mehlpuderung mit nachfolgendem Wasserregen, wodurch vielleicht manches kostbare Gewand für immer vernichtet worden war, verlor sie kein Wort, machte sich darüber überhaupt gar keine Gedanken, wie auch niemand anders hier, das war hier solch eine Kleinigkeit, das man überhaupt gar nicht daran dachte — aber jene Frage hatte die Patronin doch stellen müssen.
Es war niemand da, der sie beantworten konnte.
Doch, einer, Doktor Isidor, der wußte, wo und wann die nächste Vorstellung stattfand.
»Jetzt sofort — an Bord des Schiffes im Speisesalon. Meister Kännchen wird seine Künste auf der Frühstückstafel vorführen.«
Das Lachen über diese treffende Antwort erklang schon nicht mehr auf dem Balkon.
»Punkt zwölf Uhr beginnt eine neue Vorstellung im kleinen Zirkus.«
So war noch während der Frühstückstafel, für die man sich natürlich schon umgekleidet hatte, verkündet worden, und zur bestimmten Zeit saßen dieselben Personen auf den steinernen Bänken oder vielmehr Stufen des betreffenden Raumes.
Auch auf dieser Seite, auf der die Amazonen gehaust hatten, befand sich ein großer Felsenzirkus von denselben Dimensionen, wie man drüben ihn gefunden und benutzt hatte, außerdem aber noch ein kleinerer, bei dem der Durchmesser der tiefgelegten Manege nur etwa 22 Meter betrug, also den heutigen internationalen Manegedurchmesser immer noch um neun Meter übertreffend.
Auch diese Manege hier konnte unter Wasser gesetzt werden, es war bereits geschehen, und auch sonst waren schon Vorbereitungen getroffen worden.
In der Mitte des Wassers erhob sich eine Insel — eine Badeinsel, wollen wir gleich sagen. Daran zwei Bretterhäuschen, ein größeres als Unterkunft des Bademeisters mit seinen nötigen Utensilien, ein kleineres als Aus— und Ankleidezelle. Dann eine ins Wasser führende Treppe, ein Sprungbrett, eine Barriere, ein paar eingerammte Stangen, zwischen denen Leinen gespannt waren, an denen Badehosen und Handtücher trockneten, und noch einiges mehr, was sonst noch zur Szenerie solch einer Badeinsel gehört.
Mit dem Lande verbunden war sie durch eine schmale, hochaufgelegte Brücke, welche in eine Öffnung der Felsenwand mündete. Das heißt, wenn man dabei an den Zirkus denkt. Denn auch dieser hatte auf der einen Seite so eine glatte Wand, die dicht bis an die Manege heranging. Jetzt war dieser Aus- und Eingang für die auftretenden Artisten hübsch mit Schilf dekoriert, so daß es aussah, als ob die Brücke von der Badeinsel eben an ein felsiges, aber grünes Ufer führe.
Die kommenden Herrschaften wurden angewiesen, sich so zu setzen, daß sie gerade in die Badezelle, wenn deren Tür offen war, hineinblicken konnten. Dies muß erwähnt werden, sonst nichts weiter. So hatten sich auch alle anderen gesetzt, alle die Matrosen und Heizer und Schiffsjungen, nur mehr oben auf die Stufen des Amphitheaters. So hatte man auch die Treppe und das Sprungbrett vor sich, die Brücke führte seitwärts nach dem Lande, man konnte unter ihr wegsehen.
Übrigens konnte, muß doch noch bemerkt werden, jeder auch um die ganze Manege herumgehen, sich die Badeinsel von hinten betrachten, von allen Seiten. Wenn ihm nicht sein eigener Scharfsinn die Erklärung für die rätselhaften Vorgänge der nachfolgenden Pantomime gab, auf diese Weise, indem er um die Manege herumging, fand der Wahrheitssucher sie sicher nicht. Dann aber entgingen ihm die haarsträubenden Szenen, die sich vor den beiden Häuschen zu Wasser und zu Lande abspielten.
Es war nicht die erste Wasserpantomime, die hier in diesem kleinen Zirkus aufgeführt wurde.
»Weshalb ist denn heute das Wasser so dunkel, ganz undurchsichtig?« wurde denn auch sofort von verschiedenen Seiten gefragt.
Denn das hereinfließende Wasser, aus einem Felsenreservoir kommend, zeichnete sich durch außerordentliche Klarheit aus. Dazu kam nun der hellgelbe Grund von jenem Bernsteingummi, der auch hier gelegt war, so konnte man immer, wenn das Wasser nicht gar zu sehr aufgeregt war, bis auf den Boden des bei mittlerer Höhe zwei Meter tiefen Bassins blicken.
Man hatte auf diese durchsichtige Klarheit des Wassers noch gar nicht weiter geachtet, hielt sie eben für ganz selbstverständlich, und so fiel es nur umsomehr auf, daß diesmal das Wasser ganz undurchsichtig, direkt schwarz war.
Nun, man hatte diesmal eben das Wasser mit Absicht undurchsichtig gemacht, was mit einer Sepia ähnlichen Flüssigkeit, nur in geringer Menge zugesetzt, leicht zu erreichen war, und das würde schon seinen später erkennbaren Zweck haben.
Da, wie sich das »Publikum« schon geordnet hatte, was bei diesen Bordgästen natürlich mit militärischer Raschheit vor sich ging, erschien seitwärts auf einer der oberen Stufen wieder Merlin, und hinter ihm in einem größeren Eingange tauchten auch schon wieder die orientalischen schimmernden und funkelnden Kostüme auf.
Schnell ging Georg dem gelben Ledermanne entgegen.
»Als verantwortlicher Leiter all dieser Spiele bitte ich um Entschuldigung, dass vorhin den Kleidern Deiner Gäste übel mitgespielt wurde, besonders durch die Mehlbombe. Ich war über den Inhalt der einzelnen Bomben nicht weiter orientiert, konnte es dann nicht mehr verhindern so etwas wird in Zukunft nicht wieder vorkommen.«
Ja, jetzt war diese Entschuldigung allerdings angebracht, wenigstens eben vom verantwortlichen Leiter all dieser Vorstellungen.
Aber der jugendfrische Greis gab ebenfalls die hier einZig angebrachte Antwort, zunächst in Form einer Gegenfrage.
»Haben sich Deine Freunde und Freundinnen über den Mehlstaub beschwert?«
»O nein, die nicht,« lachte Georg, »die hätten auch noch etwas ganz anderes vertragen . . . «
»Dann bitte ich Dich, auf meine Gäste keine Rücksicht zu nehmen, oder es ist ihnen nicht möglich, Euren Vorstellungen fernerhin beizuwohnen, denn sie würden ihre Gegenwart als störend empfinden.«
»Na gut, also es wird auch fernerhin durchaus keine Rücksicht auf sie genommen werden. Übrigens kommt so etwas auch nur selten vor, bei dieser Pantomime hier braucht das Publikum auch gar nicht mitzuspielen. Dagegen muss ich Dich vorher auf eines aufmerksam machen. Bei dieser Pantomime jetzt spielt die Hauptrolle eine Entkleidungsszene. Die ganze Pantomime ist überhaupt nur eine einzige Aus— und Ankleideszene. Und unter Deinen Gästen sind viele Damen . . . «
»Und unter Euch doch ebenfalls. Ich verstehe, weshalb Du mich darauf aufmerksam machst. Nein, auch hierauf brauchst Du keine Rücksicht zu nehmen, und es sind überhaupt Orientalinnen, Inderinnen.«
Georg wusste, was hiermit gemeint war. Weil er ein Seemann war.
Wer den Menschen nicht sehen kann, wie ihn der liebe Gott geschaffen hat, der darf keine größere Reise nach dem Süden machen, noch weniger eine Reise um die Erde, oder er mag sich nur immer in seine Kabine einschließen, die Bollaugen gedichtet. Dann freilich wird er ja von seiner Reise nicht viel erzählen können. Schon in Madeira, ja schon in Lissabon fängt es an, wenn die portugiesischen Fischerjünglinge das Passagierschiff umschwimmen, darauf wartend, dass kleine Münzen ins Meer geworfen werden, nach denen sie tauchen, wobei sie auch jede Badehose als hinderlich betrachten, und je weiter südlich nach Osten oder Westen, desto loser wird das Gewand des Menschen, desto öfter wirft er es bei jeder Gelegenheit ab. Wer sich also hieran stößt, der soll lieber zu Hause bleiben. Freilich gesteht er hiermit auch ein, wie faul es mit seiner eigenen Moral und Sittlichkeit beschaffen ist.
Auch die exotischen Geister waren platziert worden, zwischen den Exklusiven und der Mannschaft der »Argos«. Es waren wieder dieselben, diesmal aber war noch Viviana hinzugekommen, ebenfalls in einem orientalischen Prachtgewand, und auch Merlin ließ sich auf einer Steinstufe nieder.
Ein Glockenzeichen erscholl, und der Waffenmeister, zwischen den anderen sitzend, erhob seine Stimme:
»Der rätselhafte geheimnisvolle und unheimliche Badegast. Oder: wie sich der Teufel einmal baden will. Eine stumme Pantomime, in Szene gesetzt und ausgeführt vom Matrosen Hahn.«
Ahaaaa! Durch die Reihen all der Matrosen und Heizer ging gleich eine lebhafte Bewegung. Einesteils wegen des vielversprechenden Titels, und dann wohl vor allen Dingen, weil »unser« Hahn derjenige war, welcher. Was man vorher eben absolut nicht wusste.
Der Leser erinnert sich seiner noch, des in der kaiserlichen Marine wegen verschiedener Bravourstückchen mehrfach dekorierten Matrosen, der aber alle seine Orden irgendwo in der Welt versetzt hatte — oder versoffen, wollen wir lieber gleich sagen, dieses Matrosen, der ganz ausnahmsweise bei seinem Vatersnamen gerufen wurde, weils eben ein Hahn war. Aber nicht nur ein einfacher Hahn, irgend ein Hahn, sondern es war »unser Hahn«.
Er schien mit dem Segelmacher große Charakterähnlichkeit zu besitzen. Nämlich insofern, als auch der Kopf dieses Matrosen voll lauter Dummheiten steckte. Aber diese Ähnlichkeit war eine nur scheinbare, sonst waren es zwei total verschiedene Charaktere. Die beiden waren auch keine besonderen Freunde. Das heißt, Kameraden wohl, etwas anderes gab es auf diesem Schiffe nicht, aber keine speziellen Freunde, was sonst doch wohl der Fall gewesen wäre, wenn sie sich im Charakter so geglichen hätten. Hahn war ein total verlumpter Mensch, den man nicht mit fünf Groschen nach der Post schicken durfte. Nicht etwa ein schlechter Mensch — dann hinterher weinte er wie ein Kind — eben ein für diese Welt verlorener Mensch, wie es unter den Seeleuten so viele, ach so viele gibt! Ein Glück, dass es ein Meer und Schiffe gibt.
Da war Oskar der Segelmacher ja nun freilich ein ganz anderer Kerl, der brauchte keine ständige Aufsicht, der wusste Recht und Unrecht zu unterscheiden, dem konnte man alles anvertrauen, ein so genialer Liedrian er auch sonst sein mochte.
Die größte Ähnlichkeit Zwischen den beiden bestand darin, dass auch Hahn ein verlorener Sohn war, und zwar aus einer Familie stammend, die sich ebenfalls niemals hätte träumen lassen, dass eines ihrer Mitglieder dereinst als Seemann in aller Welt Ruhm und Ehren und — Verachtung ernten würde. Er war der Sohn eines Strumpfwarenfabrikanten tief drin im Binnenlande. Und dann vor allen Dingen war Hahn ein ganz ausgezeichneter Schwimmer. Wenn er sich auch nicht gerade mit Oskar messen konnte. Dafür aber war er an Bord der »Argos« der beste Taucher. Er musste eine ganz besonders beschaffene Lunge haben, konnte fast zwei Minuten unter Wasser aushalten und dabei auch noch die verschiedensten Kunststückchen ausführen. Die Vorstellung begann, ohne ein weiteres Zeichen.
Die Tür des größeren Bretterhäuschens öffnete sich, ein Mann in weißer Hose und Hemd trat heraus. Das war aber nicht Hahn, sondern diese kolossale Gestalt konnte nur August dem Starken angehören, er hatte sich auch gar nicht weiter zu verändern gesucht.
Er spielte den Bademeister Hatte wohl geschlafen, gähnte und dehnte sich, begann Wäsche aufzuhängen und abzunehmen, nahm dazwischen immer einmal einen Schluck aus der Pulle.
Eine an dem Hause angebrachte Klingel schellte. Ehe die Brücke das Schilfland erreichte, war noch eine kleine Gittertür angebracht, von ihr führte ein Draht nach dieser Klingel, wenn das Türchen geöffnet wurde, läutete die Klingel.
Das war nun der Hahn, der dieses Türchen geöffnet hatte und jetzt über die Brücke schritt! Das erkannten die Kameraden doch gleich an seinem Gange, an seinen ganzen Bewegungen. Wenn er sich auch sonst unkenntlich gemacht hatte.
Sonst bartlos, trug er jetzt einen schwarzen Knebelbart, mit ganz steif ausgedrehten Spitzen — und das veränderte sich auch im Wasser nicht — Außerdem über dem linken Auge eine schwarze Binde. Ein höchst eleganter, wenn auch sehr auffallender Sommeranzug. Schwarz und weiß gestreifte Beinkleider, rote Seidenjacke, gelbes Seidenhemd mit blauen Blümchen, grüner Schlips, schwarze Schärpe, Panamahut mit grünem Band, ausgeschnittene Lackschuhe mit bunten, durchbrochenen Seidenstrümpfen.
Unverkennbar ein Dandy, ein nordamerikanischer Stutzer! Das sah dieses weitgereiste Publikum doch sofort.
Der Bademeister bekomplimentiert den vornehmen Herrn, der die Insel betreten hat.
Wünschen Sie zu baden?
Ja.
Bitte sehr. Es muss aber im voraus bezahlt werden.
Das heißt, es wurde nicht gesprochen, es war ja eine Pantomime, wobei das Eigenschaftswort »stumme« ganz überflüssig ist.
Die beiden hätten recht gut sprechen können, auch als Schauspieler. Aber die Pantomime hat ihre Vorteile, es muss alles durch lebhafte Gesten ausgedrückt werden, alles ist in ständiger, lebhafter Bewegung.
Der dicke Bademeister komplimentiert noch mehr, wie er ein Silberstück bekommt, wie es eine solche ungeheure Silbermünze überhaupt in der ganzen Welt nicht gibt! Theatralischer Effekt. Da verschwindet ein Taler oder Dollar doch ganz.
Bitte, hier ist die Auskleidezelle.
Der Badegast betritt sie, entkleidet sich ungeniert bei offener Tür. Jacke aus, Hose aus, Hemd ab, alles mit jener Fixigkeit, die man bei Artisten findet — und bei Seeleuten — alles wird aufgehängt, und der Mann steht in einem ballroten Trikot-Badekostüm da, die Brust mit einem großen, schwarzen Teufelskopf geschmückt, gehörnt, zum Munde hängt die rote Zunge heraus.
Außerdem trägt der Entkleidete am linken Handgelenk noch ein auffallendes Armband und am rechten Fußgelenk ebenfalls einen großen, goldenen, mit blitzenden Steinen besetzten Ring, den man schon vorher über dem Lackschuh auf dem Seidenstrumpfe gesehen hat.
Nun ist ja erst recht erwiesen, dass es ein nordamerikanischer Dandy ist. Das Tragen von kostbaren Fußringen war damals bei diesen Fatzken allgemein üblich, zum Teil auch heute noch. Heute sind es vor allen Dingen die Damen, welche ihre Verlobungsringe am Fußgelenk tragen, mit Sicherheitsschloss versehen, den Schlüssel dazu hat der Bräutigam in der Westentasche. Mag sehr nötig sein.
Der Herr ist fertig, tritt heraus, schließt hinter sich die Tür der Zelle (!), kühlt sich ab, greift sich unter die Arme.
Unterdessen hat sich auch der Bademeister zu beschäftigen gewusst, dabei immer einmal einen Schluck aus der Buttel nehmend. Nicht zwecklos für die Pantomime! Bei solch seiner Pantomime darf es, überhaupt keine einzige unnötige Bewegung geben. Dieses Schnapstrinken geschieht immer heimlich, mit einem scheuen Blick nach einem etwaigen Beobachter.
Jetzt bewundert der Bademeister zunächst das Kostüm des Herrn.
Was ist denn das für ein Teufelskopf drauf?
Nun, das ist eben ein modernes Badekostüm, nach meinem Geschmack gefertigt. Jetzt werde ich ins Wasser gehen.
Können Sie schwimmen?
Ei gewiss doch!
Sonst ist diese Seite für Nichtschwimmer.
Ohne Sorge, ich kann schwimmen
Und der rote Teufel nimmt einen Anlauf, geht mit einem eleganten Kopfsturz — einem »Aufsatz« — vom Sprungbrett ab.
Diesen Augenblick, den der Mann unter Wasser verbringt, benutzt der Bademeister zu einem noch recht tüchtigen Zug aus der Buttel.
Immer noch nicht oben? Na dann schnell noch einen.
Das heißt, jetzt fängt der Bademeister zu stutzen an. Der Kerl taucht nicht wieder auf.
Die Zeit vergeht unter dem Spähen des Bademeisters nach allen Seiten, der Kerl kommt nicht wieder zum Vorschein, und der Bademeister kriegt es mit der Angst zu tun. Er nimmt eine Stange und stochert im Wasser herum.
Aber wie er auch stochert, er bringt den Verschwundenen nicht wieder zum Vorschein, und es nützt nichts, dass er den Haken durch seine mächtige Harpune ersetzt, er kann den auf dem Grunde Liegenden nicht anspießen.
Es ist ein guter Mensch, der Bademeister, nimmt es sich furchtbar zu Herzen, oder vielleicht kann er auch seine Stellung verlieren — er ergibt sich dem stillen Suff.
Da, wie er verzweiflungsvoll dasitzt und aus der Buttel lutscht, schellt wieder die Klingel.
Also es kommt jemand.
Der Bademeister steht auf, um nachzusehen.
Und da wird der Bademeister von der Starrsucht befallen, er reißt die Augen auf.
Ach, und wie nun der in seinem Kürbisgesicht die Augen aufzureißen verstand! Und wie er dazu das Maul aufsperrte!
Es hatte schon vorher unter dem Publikum manchmal gewiehert, jetzt fingen aber auch die exotischer Gäste, sogar die vier würdevollen Radschas zu wiehern und zu grunzen an. Weil sie noch nicht richtig lachen wollten.
Der Bademeister hatte ja auch allen Grund, Augen und Maul so aufzureißen.
Denn da kommt über die Brücke ein Dandy geschritten, in schwarz und weißgestreifter Hose und roter Seidenjacke, mit schwarzem Knebelbart und schwarzer Binde über dem linken Auge . . . na, kurz und gut, derselbe!
Kann ich hier ein Bad nehmen?
Ach, dieser Bademeister! Er spielte eigentlich die Hauptrolle.
Was dieser ehemalige Bäckergeselle für ein gottbegnadeter Schauspieler war, das ist ja schon früher gesagt worden. Er musste ja auch in jenem großen »Argonautenschauspiele« eine der Hauptrollen spielen, da mimte er die Kaiserin-Mutter von China!
Und nun jetzt als Bademeister!
Dass dieser riesenstarke Fleischkoloss wie aus Gummi zusammengesetzt war, wurde ja ebenfalls schon wiederholt gesagt.
Und wie der nun jetzt dastand, vorgebeugt, den Hals wie eine Schildkröte vorreckend, das Maul sperrangelweit aufgerissen . . .
Die exotischen Gäste waren auch für solche theatralische Komik empfänglich. Das leise Wiehern und Grunzen der vier würdevollen Radschas verwandelte sich plötzlich in ein lautes Brüllen.
Doch weiter!
Kann ich hier ein Bad nehmen?
Da der Bademeister keine Antwort gibt, den Doppelgänger immer nur anstarrt, steckt ihm dieser das große Silberstück in den aufgerissenen Rachen.
Da rafft sich der Bademeister auf, zuckt die Achseln, führt den Herrn nach der Zelle.
Wie er deren Tür geöffnet hat, prallt er zurück, blickt wieder und wieder hinein und ist wieder ganz Starren.
Denn in der Zelle sind — wie auch das Publikum deutlich sieht — keine Sachen mehr. Die Kleider des ersten Badegastes sind daraus verschwunden.
Na, der neue weiß nichts davon, weiß nicht, weshalb der Bademeister so starrt und staunt, er zieht sich aus. Und steht wieder in einem roten Trikotkostüm mit schwarzem Teufelskopfe da, mit Armband und Fußreif.
Während dieser Entkleidungsszene hat der Bademeister immer regungslos dagestanden, in einiger Entfernung von der Zelle, immer nach dieser schielend.
Ach, und wie nun August der Starke dastand und schielen konnte!
Also der rote Teufel tritt heraus, kühlt sich ab, immer mit ganz genau denselben Bewegungen wie vorhin, so hat er auch jedes einzelne Kleidungsstück ausgezogen und hingehängt, nur dass jetzt keine weitere Unterredung mit dem Bademeister stattfindet, sondern der rote Teufel geht gleich mit einem eleganten Kopfsturz vom Sprungbrette ab.
Der Bademeister hat ihm nachgeschielt, jetzt schleicht er hin an die Barriere, blickt scheu und schielend ins Wasser.
Der Hineingesprungene taucht nicht wieder auf.
Scheu nimmt der Bademeister wieder die Stange und stochert in dem Wasser herum, aber ganz anders als vorhin, so scheu.
Ebenso scheu schleicht er dann nach der Zelle, öffnet sie. Da hängen keine Kleider mehr drin.
Der Bademeister betastet seinen Kopf und greift ganz folgerichtig zur Buttel.
Wie er noch so tiefsinnig dasteht und trank und trinkt, läutet die Glocke.
Langsam und scheu wendet der Bademeister den Kopf und ... scheint sich gar nicht so sehr Zu wundern, wie da der dritte Dandy mit schwarz und weiß karierter Hose und roter Jacke und schwarzer Augenbinde über die Brücke kommt.
Kann ich hier ein Bad nehmen?
Der Bademeister antwortet nicht, hält einfach die Hand hin, nimmt die große Silbermünze, lässt sie auch wieder in seiner Tasche verschwinden.
Aber nun dieses Gesicht dabei! Doch das lässt sich ja nicht beschreiben, schon eher, wie der Bademeister diesmal dem Dandy beim Auskleiden behilflich ist.
Oder nicht eigentlich behilflich. Sondern auf jedes Kleidungsstück, das der Dandy ablegt, stürzt er sich, hascht es wie eine Fliege weg, hängt es nicht auf, sondern klemmt es sich unter die Arme.
Der Dandy blickt ihn groß an.
Sind Sie verrückt?!
Dem Bademeister ist es ganz egal, was jener von ihm denkt, der hascht weiter nach den abgelegten Kleidungsstücken, reißt sie dem Dandy schnell aus den Fingern, jeden Schuh und jeden Strumpf, klemmt ihn sich unter die Arme, alles fest an den Leib pressend.
Wieder das rote Trikot mit Teufelskopf, Armband und Fußring.
Wieder das Abkühlen.
Diesmal aber kommt der rote Teufel nicht zum Sprung, nur zum Anlauf.
Der Bademeister hat neben Barriere und Sprungbrett die Kleidersachen zu Boden fallen lassen, stemmt fürsorglich seinen Fuß darauf, so nimmt er von der Barriere eine Leine, oder gleich zwei, und wie der rote Teufel an ihm vorbei läuft, um den Kopfsprung zu machen, fängt er ihn weg.
Was haben Sie denn?! Was ist denn los?
Der Bademeister gibt keine Antwort, auch nicht pantomimisch sondern er schnallt ihm einfach den Gürtel um, nimmt ihn an die Leine, und nicht nur um den Leib, sondern legt ihm eine zweite Schlinge auch nach um den Hals.
Mensch, sind Sie denn verrückt?!
Du darfst nur mit der Leine ins Wasser, weiß der Bademeister sich jetzt auszudrücken, auch springen darfst Du nicht, musst auf der Treppe hinabsteigen, Dein Kopf darf nicht unter Wasser kommen, deshalb noch diese Zweite Leine.
Aber ich kann doch schwimmen!
Ist mir ganz egal — Du kommst nur an dieser doppelten Leine und nur auf der Treppe ins Wasser!
Der Badegast fügt sich endlich achselzuckend, steigt hinein, schwimmt etwas herum, will einmal tauchen, aber der Bademeister erlaubt es ihm nicht, hält ihn mit der um den Hals gelegten Schlinge hoch, und dabei achtet er sorgsam immer auch darauf, dass sein Fuß noch auf den sämtlichen Kleidersachen steht.
Der Rote kommt wieder heraus, der Bademeister nimmt ihn in Empfang, hüllt ihn sofort in ein Badelaken, reibt ihn ab, ihn immer festhaltend, dann gibt er ihm sein Hemd, will nichts davon wissen, dass sich jener erst des nassen Badekostüms entledigen will — vorwärts, anziehen! — so reicht er ihm ein Stück nach dem anderen, ihn dabei auch immer noch festhaltend, und wie der Dandy den letzten Lackschuh zubindet, stülpt er ihm den Panamahut auf den Kopf, schiebt ihn nach der Brücke, macht ein höfliches Kompliment, und wie der Dandy kopfschüttelnd und gegen seine Stirn klopfend über die Brücke schreitet und jenseits zwischen dem Schilfe verschwindet, kehrt der Bademeister tiefatmend und hoch befriedigt zurück.
So richtig ist ihm freilich noch nicht zumute.
Erst, sucht er einmal ausgiebige Beruhigung in dem Inhalt seiner Buttel.
Dann fängt er über den Fall nachzusinnen an, immer einmal einen Schluck nehmend.
Er sieht auch noch einmal in die Zelle hinein, in der natürlich keine Kleider hängen, überzeugt sich noch einmal von ihrem Nichtvorhandensein durch komisches Hineintasten.
Dadurch kommt er auf die Idee, auch einmal in die Tasche zu greifen, in die er immer die Silbermünzen gesteckt hat.
Aber wie er auch sucht, er bringt nur eine zum Vorschein. Und es müssen doch, er braucht dazu gar nicht lange an den Fingern zu zählen, eigentlich drei sein.
Und da endlich kommt ihm die Erkenntnis!
Er hat das von den drei Doppelgängern, also eigentlich Triplegängern, muss man da wohl sagen — hast das alles nur geträumt!
Nur der letzte Badegast war eine reelle Figur gewesen!
Die Erscheinungen der beiden ganz ähnlichen Vorgänger hat er nur geträumt.
Allerdings sehr merkwürdig, denn das hätte er dann doch im voraus träumen müssen, es wären also sogenannte Wahrträume gewesen, aber das ist doch solch einem Bademeister wie diesem ganz egal, zumal wenn er die Buttel so liebt.
Jedenfalls hat er nun eine Erklärung für den ganzen Vorgang gefunden, das sieht man ihm gleich an, besonders wie hochbefriedigt er hierüber ist.
Nun weiß er aber auch, woher ihm diese unheimlichen Visionen gekommen sind.
Der Schnaps ist daran schuld.
Er hat einfach schon ein bisschen das Delirium.
Und da ergreift ihn ein Abscheu gegen sich selbst und eine furchtbare Wut gegen die Schnapsflasche, er nimmt sie hier, eine ganz tüchtige Kruke, hebt sie, um sie ins Wasser zu schleudern, holt noch weiter aus und trinkt erst noch einmal aus ihr — eigentlich schade, schade, dass noch so viel drin ist — aber das hilft nun alles nichts — er setzt seinen Entschluss mit eiserner Energie durch, holt aus zum Wurfe und besinnt sich doch noch einmal, nimmt erst noch einen tüchtigen, tüchtigen Zug — so, nun aber fliegt die Buttel über die Barriere ins Wasser hinein!
Und da, wie die Flasche versinkt — da plötzlich taucht an dieser selben Stelle pustend ein Menschenkopf auf, geschmückt mit schwarzem Knebelbart, um das linke Auge eine schwarze Binde, der obere Teil eines roten Trikots folgt nach, mit kräftigen Stößen schwimmt der Mann nach der Treppe, und an seinem linken Handgelenk sieht man ein kostbares Armband funkeln!
Ach, und nun dieser Bademeister, dieser August der Starke!
Wie der langsam seinen Gummihals vorreckt, immer weiter und weiter, mit diesem Gesicht, mit diesen Augen, wie er dabei langsam in die Kniebeuge geht und immer mehr mit den Knien zu schlottern anfängt!
Und so beobachtet er auch den roten Mann weiter.
Der hat die Treppe erstiegen, nimmt, ohne sich um den Bademeister zu kümmern, ein bereithängendes Badelaken, hüllt sich darin ein, betritt die Zelle, deren Tür immer offen gestanden hat, jetzt schließt er sie hinter sich.
Einige Minuten weiß der Bademeister vollkommen auszufüllen. Wenn er auch nichts weiter tut, als dass er ruhig dasteht, etwas gebückt, sein Hinterteil dem Publikum halb Zugekehrt — und nun was für ein Hinterteil und nach der Badezelle blickt, ohne noch mit den Knien zu zittern. Dafür wendet er jetzt manchmal das Gesicht nach dem Publikum, und nun was für ein Gesicht! Dieses Mienenspiel, diese Augen, dieses offene Maul!
»Ach, das ist ja zum Brüllen!« stöhnte Kapitän Martin, sich immer die Tränen aus den Augen wischend.
Und da plötzlich macht der dicke Bademeister einen Satz wie ein Frosch aber nach rückwärts. Denn da öffnet sich die Zellentür, der Dandy tritt heraus, vollkommen angezogen, er lüftet vor dem entsetzten Bademeister, der immer noch in der Kniebeuge steht, jetzt aber auch wieder mit den Beinen zu schlottern anfängt den Panama, schreitet über die Brücke, verschwindet am schilfigen Ufer.
Der Bademeister richtet sich langsam auf.
Jetzt gibt es nur eins für ihn.
Er geht ziemlich gefasst in sein Häuschen, kommt mit einer Geneverkruke zurück, entkorkt sie und ergibt sich wieder dem Suff.
Da, wie er die Buttel zum dritten Male an den Mund führt, nahe der Barriere stehend, hält er in der Bewegung plötzlich inne, erstarrt, reckt wieder den Gummihals vor und geht wieder in die Kniebeuge.
Denn da taucht genau an der vorigen Stelle, in gerader Linie mit dem Sprungsbrett, im Wasser wieder ein pustender Kopf mit schwarzem Knebelbart und schwarzer Augenbinde auf, natürlich fehlt auch das Armband nicht, so schwimmt der Mann nach der Treppe, ersteigt sie, nimmt ein Badelaken, geht nach der Zelle, deren Tür offen steht, wirft das von seinem Vorgänger zurückgelassene Badetuch heraus, schließt hinter sich die Tür.
Der erste Teil dieser dritten gleichartigen Szene ist genau so wie der erste Teil der vorhergehenden Szene. Nur dass der Bademeister gleich mit einem Ruck in die Kniebeuge gegangen ist und nicht so mit den Beinen geschlottert hat.
Und jetzt, wie sich die Zellentür geschlossen hat, bleibt er auch nicht mehr ruhig stehen, sondern er schleicht hin, hebt das herausgeworfene Badelaken auf, betastet es, ebenso auch dasjenige, welches der erste gebraucht hat, und da scheint dem Bademeister nach und nach das Verständnis aufzudämmern, er greift in die Tasche und bringt daraus richtig drei Dollars zum Vorschein
Na, nun ist ihm vollends alles klar! Er hat vorhin doch nicht nur geträumt. Drei Badegäste sind ins Wasser gegangen, drei sind wieder herausgekommen. Denn er hat doch auch die drei Dollars in der Tasche.
Dass sich diese drei Herren so ähnlich sehen, und wo die ersten beiden unterdessen so lange im Wasser geblieben sind, das ist diesem Bademeister ja ganz egal, darüber macht er sich weiter keine Kopfschmerzen. Die Hauptsache ist, dass er in der Hand die drei Dollars hat, die er immer wieder zählen kann, das ist ihm ein vollgültiger Beweis, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist.
Also wie nun die Zellentür zum dritten Male aufgeht und der dritte Dandy in schwarz und weiß karierter Hose und roter Seidenjacke heraustritt und beim Weggehen vor dem Bademeister den Panama lüftet, da macht dieser ebenfalls eine höfliche Verbeugung und komplimentiert jenen weiter bis zur Brücke.
So, nun ist die Sache in Ordnung. Drei sind gekommen, drei sind gegangen. Ganz gefasst kehrt der Bademeister zurück, hängt die nassen Laken auf.
Da, wie er wieder einmal an der Barriere steht, wird er abermals von starrem Entsetzen befallen.
Denn da taucht an jener selben Stelle pustend der vierte Kopf auf mit schwarzem Knebelbart und schwarzer Augenbinde.
Diesmal aber wartet der Bademeister nicht ab, bis jener schwimmend die Treppe erreicht hat.
Nur einmal noch Zählt er an den Fingern schnell oder auch bedachtsam bis vier, und dann macht er einen Satz und liegt hinter seinem Häuschen platt auf dem Bauche.
Und so versteckt beobachtet er, wie der vierte rote Mann aus dem Wasser steigt, ein Badelaken nimmt, sich darin einhüllt und die völlig leere Zelle betritt, die Türe hinter sich schließend.
Es genügt vollkommen, dass der Bademeister hinter dem Häuschen auf dem Bauche liegt und so darauf wartet, ob auch dieser vierte Kerl wieder angezogen aus der Zelle kommt.
Denn diese Gesichter, diese Augen, diese Halsverrenkungen! Und schließlich wie er manchmal auch an den Fingern bis vier zählt!
Das Publikum wälzte sich vor Lachen, in fast buchstäblichem Sinne dieses Wortes.
Und richtig, auch der vierte Teufel hat in der leeren Zelle Kleider zu finden gewusst, er tritt angezogen heraus, lüftet, ohne jemanden zu sehen, den Panama und verlässt die Insel.
Der Bademeister ist auf dem Bauche etwas nachgerutscht, um ihn auch noch über die Brücke schreiten zu sehen.
Dann erhebt er sich.
Ganz gelassen.
Er will sich nur erst überzeugen, ob er sich nicht geirrt, nicht verrechnet hat.
Also er zählt erst seine drei Dollars, dann zählt er die nassen Badetücher und bringt es da bis auf vier. Nun fängt er auch noch an den Fingern zu zählen an, das liegt ihm besser.
Und wie er da, wieder an der Barriere stehend, bis zum vierten Finger gekommen ist, während die drei Dollars vor ihm auf dem breiten Barrierenrand liegen — da taucht plötzlich an jener Stelle abermals pustends ein Kopf auf mit schwarzem Knebelbart und schwarzer Augenbinde, am linken Handgelenk das Armband, wie die anderen auch immer am rechten Fuß den Ring trugen.
Diesmal aber ist das Verhalten des Bademeisters ein ganz, ganz anderes.
Weit ausholend, konstatiert er an seinem fünften Finger, dass dies der fünfte ist, der da auftaucht, während vor ihm nur drei Dollars liegen.
Zu dieser Berechnung hat er auch Zeit, denn diesmal schwimmt und plätschert der rote Teufel erst etwas herum.
Und dann, wie der Bademeister seiner Rechnung sicher ist, verschränkt er die Arme über der Brust und schaut dem Schwimmer zu, mit ganz ruhigem Gesicht, das nur ein klein wenig finster ist — es malt sich darin ein fester Entschluss aus, wollen wir sagen, der mit aller Energie auch ausgeführt werden soll.
Doch gar nicht lange, so ersteigt der rote Mann die Treppe.
Ruhig, die Arme verschränkt, den Bauch hervorgereckt, betrachtet ihn der gewaltige Bademeister mit seinen zum Tode entschlossenen Augen.
In dem Augenblick aber, da der rote Teufel an ihm vorüberschreiten will, macht der Bademeister plötzlich einen Satz, packt den Kerl um den Leib und schmeißt ihn über die Barriere wieder ins Wasser hinein.
Der so Behandelte taucht wieder auf.
Mensch, bist Du denn verrückt?! Was fällt Dir denn ein?!
So weiß er durch Gesten zu fragen.
Der Bademeister aber gibt keine Antwort, ruhig steht er an seiner alten Stelle, die Arme verschränkt, den Bauch hervorgereckt, betrachtet mit finster entschlossenem Gesicht den Schwimmenden und Fragenden.
Na, der ersteigt zum Zweiten Male die Treppe, will nach seiner Zelle gehen, kommt aber nicht weiter, als bis er den Bademeister passieren muss — da stürzt dieser abermals blitzschnell auf ihn zu, packt ihn um den Leib, schmeißt ihn zum zweiten Male über die Barriere ins Wasser, dass alles nur so knallt!
Mensch, bist Du denn wahnsinnig geworden?! Was soll denn das heißen?!
Diesmal gibt der Bademeister eine Antwort.
Is nich, is nich, Du kommst nicht wieder herauf, an bleibst im Wasser!
So hört man ihn ganz deutlich sprechen, wenn er dies auch nur durch Handbewegungen, durch abwehrendes Schütteln der Hand ausdrückt.
Und dann kümmert er sich nicht weiter um den Schwimmenden, dreht sich um, hängt die nassen Bademäntel auf.
Na, der Dandy muss es zum dritten Male versuchen, das Trockene zu erreichen, auf der Treppe. Eine andere Gelegenheit, die ziemlich hohe Insel zu erklettern, gibt es nicht.
Also er tut es, ist sehr vorsichtig dabei, klimmt auf allen Vieren die Treppe empor, immer spähend, ob ihn der Bademeister beobachtet.
Nein, das tut der nicht. Er dreht jenem den Rücken zu. Aber dieser Bademeister muss wohl auch hinten am Kopfe Augen haben.
Denn in dem Augenblick, wie der rote Teufel richtig oben steht, sich eben aufrichtet, um mit einem Sprunge die Zelle zu erreichen, dreht sich der Bademeister blitzschnell um, hat den Kerl wiederum um den Leib gepackt und schmeißt ihn zum dritten Male über die Barriere ins Wasser!
Und diesmal lässt er es nicht hierbei bewenden, sondern er nimmt schnell eine andere Stange, eine, die vorn eine große Gabel mit runder Ausbuchtung hat, und wie der Schwimmer wieder auftaucht, setzt er ihm schnell diese Gabel in den Nacken, die passt gerade so hübsch über den Hals, drückt den Kopf tief unters Wasser, sehr tief.
So, der Herr Bademeister hat Zeit. Die Stange in beiden Händen, sieht er gelassen zu, wie dort immer Luftblasen emporquellen. Der Mann muss so tief hinabgedrückt worden sein, dass er mit den Händen schon nicht mehr die Oberfläche erreichen kann.
Doch, oder er hat die Gabel etwas gehoben — da taucht aus dem Wasser eine Hand auf, greift mit den Fingern wild um sich. Es ist die linke Hand, denn man sieht das Armband.
Das hätte ja nichts zu sagen, dadurch würde der Mann unter Wasser auch nicht vom Tode errettet werden, aber das passt dem Bademeister nicht, er mag von dem teuflischen Kerl, der ihn so veralbert hat, überhaupt gar nichts mehr sehen, und er weiß sich zu helfen, nimmt schnell, natürlich ohne die erste loszulassen, eine zweite Stange mit ebensolcher Gabel, nur etwas kleiner, titscht mit ihr auch diese Hand unters Wasser.
Da taucht etwas mehr nach vorn ein Bein auf, oder doch ein Fuß, aber auch das Unterbein kommt mit heraus, es ist der rechte Fuß, man sieht den Fußring, strampelt — da lässt der Bademeister mit der zweiten Stange die Hand los und titscht dafür diesen Fuß unter.
Da kommt wieder die rechte Hand zum Vorschein der Bademeister lässt den Fuß los und titscht die Hand unter.
Der rechte Fuß taucht wieder auf — wird untergetitscht.
Und so geht das noch mehrmals. Es ist immer nur der linke Arm oder der rechte Fuß, die abwechselnd auftaucht und vom Bademeister mit der kleineren Stange immer prompt untergetitscht wird.
Bis zuletzt nichts mehr erscheint, und der Bademeister merkt wohl, dass auch nichts mehr in der großen Gabel hängt, er zieht sie Zurück, wartet noch einige Zeit lauernd, immer mit der Stange bereit, wieder unterzutitschen — bis er sich endlich seiner Sache sicher ist.
Gott sei Dank, der Kerl ist ersoffen, ist mausetot!
Dass dieser Teufel schon früher so lange unter Wasser geblieben ist, ohne seinen Tod gefunden zu haben, daran denkt dieser versoffene Bademeister natürlich nicht.
Wenn aber nun das Publikum etwa glaubte, der rote Teufel würde nun doch wieder auftauchen, um den Bademeister zu foppen, so irrte sich das Publikum. Dann hätte der Matrose Hahn die ganze Sache schlecht arrangiert. Denn dann wäre das eine Wiederholung gewesen, die wohl manchmal erlaubt ist und sogar sein muss, aber in diesem Falle durfte eine solche Wiederholung nicht stattfinden. Jetzt musste wieder etwas ganz anderes kommen.
Tief befriedigt legt der Bademeister seine beiden Mordinstrumente hin.
Nun natürlich erst mal die Pulle her!
Dann aber kommt ihm doch das Bewusstsein, man merkt es ihm deutlich an, dass hier doch noch irgend was anderes geschehen müsse. Er hat doch einen Menschen quasi ermordet. Erst muss einmal die Leiche ans Tageslicht.
Also der Bademeister nimmt die gewöhnliche Hakenstange, stochert mit ihr im Wasser herum, bis auf den Grund.
Es bleibt nichts an dem gewöhnlichen Haken hängen.
Da greift der Bademeister, wie schon einmal, nach der Stange mit der gewaltigen Harpune.
Und es dauert auch gar nicht lange, so verrät schon sein Gesicht, dass er auf dem Grunde etwas angespießt hat, eine Hand taucht auf, es ist die linke, mit dem Armband, natürlich folgt der ganze Arm nach und . . .
Der Bademeister reißt vor Staunen sein Maul auf!
Denn er hat mit seiner Harpune nichts weiter als diesen Arm angespießt. Der Kerl muss dort unten im Wasser einfach aus dem Leime gegangen sein. Da ist wohl eine außerordentlich schnelle Verwesung oder sonst etwas eingetreten — kurz und gut, der linke Arm hat sich vom Rumpfe abgelöst.
Und gottvoll sah es nun aus, wie dieser Bademeister dastand, die Stange weit von sich abhielt, die Spitze in die Höhe gerichtet, und staunend den auf die Harpune gespießten Arm betrachtete.
Was dieser ehemalige Bäckergeselle und jetzige Bootsmann dabei für ein Gesicht machen konnte! Wie der den einzelnen Arm anguckte!
Georg wurde lebhaft an jene Szene erinnert, wie Mister Tabak in dem Speisehaus zu Marseille die elende Sardine mit seinem Riesenmesser angespießt hatte und sie tiefsinnig betrachtete.
Ja, erinnert wurde man lebhaft an diese Szene, sie hatte die größte Ähnlichkeit mit der hier.
Nur dass dieser Bademeister eine ganz andere Gestalt hatte, überhaupt, es war ja etwas ganz anderes und dann nun vor allen Dingen, was der für ein Gesicht dabei machte, wie der sein Maul aufriss, während er den angespießten Arm betrachtete.
»Ach, da platzt einem ja bald der Schädel!« schüttelte sich Kapitän Martin vor Lachen, auch wirklich seinen Kopf mit beiden Händen haltend, und wenn das dieser Mann sagte, und tat, zumal er hierzu doch auch erst die Hände aus den Hosentaschen nehmen musste, so hatte das doch sicher etwas zu bedeuten.
Wie sich das andere Publikum benahm, jetzt und während der ganzen Vorstellung, davon wollen wir lieber gar nicht erst anfangen.
Na, der Bademeister muss endlich dran glauben, er legt den einzelnen Arm hin, stochert weiter mit der Stange im Wasser nach dem Rumpfe.
Er bringt ein Bein zum Vorschein, das rechte mit der Fußspange — man muss annehmen, dass der andere Körper nachfolgt, denn solch eine im Wasser untergesunkene Leiche kommt doch nach und nach Zum Vorschein aber wiederum bleibt es bei diesem einen Beine, das der Bademeister an seiner Harpunenstange aufgespießt hält.
Natürlich wieder große Verwunderung. Aber doch nicht ein solches Staunen wie vorhin. Das wäre auch ganz verfehlt gewesen. Der Kerl ist eben aus dem Leime gegangen, hiermit muss sich der Bademeister nun auch abfinden.
Er stochert weiter nach dem Rumpfe oder nach den anderen Gliedmaßen und bringt wieder einen Arm angespießt herauf.
Aber auch der trägt ein Armband, und ist überhaupt ein linker Arm mit einer linken Hand.
Was, hat denn der Kerl zwei linke Arme gehabt?!
Jetzt freilich wird der Bademeister wieder vom größten Staunen befallen, besonders wie er sich durch Vergleichen mit dem anderen Arm und mit seinen eigenen Händen überzeugt, dass es wirklich wiederum ein linker Arm ist.
Und wie er das nun tut, und dieses misstrauische Staunen, das sich in dem Kürbisgesicht dabei ausmalt, das ist nun wieder einfach köstlich, dass sich das Publikum fast wälzen will! Jetzt will ich erst mal den anderen Arm haben, den rechten!
Ganz deutlich hört man es ihn durch seine Gesten sagen!
Und er stochert weiter, spießt aber wieder ein Bein an. Ein Bein, das um das Fußgelenk den bekannten Ring trägt, und es ist überhaupt wiederum ein rechtes Bein
»Was, hat denn der Kerl zwei linke Arme und zwei rechte Beine gehabt?! Mir ganz egal, ich will den rechten Arm haben!«
Der Arm kommt denn auch Zum Vorschein, aber es ist wiederum ein linker mit dem Ringe!
Und dann spießt die Harpune wieder ein rechtes Bein an.
Und dann wieder einen linken Arm.
Und dann wieder ein rechtes Bein.
Und dann wieder einen linken Arm.
Und dann wieder ein rechtes Bein.
Dieses letzte aber bringt der Bademeister nicht ganz herauf, sondern er wirft es ins Wasser zurück, mit einer Bewegung, die ganz deutlich sagt:
»Ich bin fertig! Diese Welt ist voller Teufel, und von denen lasse ich mich nicht mehr veralbern. Ich nicht! Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe!«
Dies alles sagte eine einzige Handbewegung in Verbindung mit einem entsprechenden Gesicht. Ganz deutlich glaubte man es sagen zu hören. Daher eben das Wort »Pantomime«. Und dieser ehemalige Bäckergeselle war eben ein ganz phänomenaler Pantomimiker. Welche schon Ziemlich wieder vergessene Kunst erst durch die kinematographische Dramatik, die freilich noch in den Windeln liegt, wieder zu Ehren kommt.
Es kam ein amerikanischer Schluss. Ein Wort, das sich in der Dramaturgie bereits eingebürgert hat.
Und ein anderer Schluss war hier auch wirklich sehr schwer zu schaffen. Es konnte nur ein sogenannter amerikanischer Schluss sein. Noch ein blutiger Witz, und dann ist es ohne Erklärung aus.
Der Bademeister schleuderte das fünfte rechte Bein mit jener Gebärde der resignierten Entsagung ins Wasser zurück, wandte sich, ging nach dem Häuschen, bückte sich und hing an seinen Gürtel, was da am Boden lag: mit Haken versehene Steine und Eisengewichte.
Und wie er sich so genügend beschwert hatte, nahm er noch einen tüchtigen Schluck aus der Buttel, und dann ging er nach der Treppe, stieg sie hinab — und wie sein Fuß das Wasser berührte, besann er sich, drehte sich um, ging zurück, nahm erst noch einmal einen tüchtigen Schluck aus der Buttel — so, nun war er bereit, seinen Vorsatz auszuführen, aus dieser schnöden Welt, in der man dermaßen veralbert wird, zu scheiden — aber wie er schon bis zu den Knien im Wasser stand, besann er sich drehte sich um, stieg hinauf, um die Buttel zu holen, mit dieser stieg er hinein ins Wasser unterwegs noch einmal trinkend — und wie ihm das Wasser schon bis an den Leib ging, besann er sich, drehte noch einmal um, holte noch eine zweite Geneverkruke, entkorkte sie, nahm sie in den anderen Arm, und nun war er definitiv vorbereitet, um den nassen Weg ins Jenseits anzutreten, und nun hätte eine nochmalige Wiederholung auch nicht mehr gewirkt, während noch die letzte wahre Lachsalven ausgelöst hatte — jetzt führt er seinen Vorsatz unaufhaltsam aus, nur dass er unterwegs noch einige Male aus der Flasche trinkt — dann taucht er unter, zur Vorsicht aber die Buttel mit der Hand noch über Wasser haltend — und unter Wasser besinnt er sich doch noch eines anderen, er taucht noch einmal mit dem Kopfe auf, um noch einmal zu trinken, und so taucht er mit dem Kopfe für immer unter, die Flasche noch am Munde, so ist er verschwunden für immer — da aber kommt noch einmal seine Hand zum Vorschein, sie hält die Flasche, die Öffnung nach unten, es fließt kein Tropfen mehr heraus — die Hand lässt die Flasche fahren, sie bleibt oben schwimmen, den armen Bademeister sieht man niemals wieder.
Nur noch einige aufsteigende Luftblasen bezeichnen die Stelle, wo er mit diesen letzten Luftblasen jetzt seinen Atem aushaucht.
Und dann wird es stille.
Ganz bänglich stille.
Das Publikum spannt, wird förmlich verlegen.
Denn was soll denn nun noch kommen?
Nun, da steigt ein großer Kork empor und bleibt neben der ersten Kruke schwimmen.
Und nicht lange dauert es, während aber das Publikum schon zu grunzen beginnt, da steigt auch noch eine zweite Geneverkruke empor, und bleibt neben der ersten schwimmen.
Der Bademeister hat die zweite Flasche, die er mitgenommen, noch unter Wasser geleert.
»Schluss der Vorstellung!« rief Georg konnte es aber vor Lachen kaum herausbringen.
Obgleich der schon zwei Proben dieser Pantomime beigewohnt hatte.
Dann kann man wohl begreifen, wie sich das eigentliche Publikum benahm, das keine Proben gesehen hatte.
Aber man muss diese Pantomime wohl selbst gesehen haben, diese Szenen, auch diesen Schluss, um begreifen Zu können, weshalb das Publikum sich so benahm. Eine Beschreibung tut es da nicht, das ist immer etwas Totes.
Aber wir wollen noch einen anderen Schluss hinzufügen. Dass heißt nämlich diesem Kapitel.
Der Verfasser möchte noch ein persönliches Erlebnis erzählen. Weshalb, das wird der geneigte Leser bald erkennen.
»Bitte, mein Freund, meine Tochter Viviana möchte Dich gern einmal sprechen.«
So hatte Merlin den Waffenmeister alsbald angeredet.
Georg begab sich eiligst hin zu der exotischen Gesellschaft, die also einige Stufen höher saß.
Sie hatten weidlich gelacht, alle die orientalischen Damen und Diener und auch die würdevollen Radschas. Sie hatten sich manchmal . . . gekugelt, wie man so sagt.
Nicht minder aber hatten sie oftmals gestaunt. Hatten gestaunt, wie es bei dem anderen Publikum gar nicht vorgekommen war.
Außerdem sei noch nachträglich bemerkt, dass diese orientalischen Damen und Herren während der Vorstellung immer eifrigst Augengläser benutzt hatten, eine besondere Art, halb Lorgnette, halb »Operngucker«. Sie hatten sie in der Tasche oder in am Gürtel hängenden Beutel gehabt, sie also häufig benutzend und dabei unter einander Bemerkungen austauschend.
»Das war ja wunder-wunder-wunderschön, so habe ich noch niemals gelacht!« wurde Georg von Merlins Tochter lachend wie ein Bruder empfangen, obgleich er sie doch kaum kannte. »Aber nun sage bloß, wie ist denn dies alles nur möglich gewesen?! Meine Freunde und Freundinnen hier bestürmen mich, ich soll eine Erklärung geben, aber wie kann ich denn das, ich war und bin immer noch selbst ganz starr vor Staunen, ich hoffe, diese Erklärung jetzt erst von Dir zu bekommen!«
»Was denn für eine Erklärung?« lächelte Georg, dabei aber selbst schon etwas Zu staunen beginnend.
»Nun, wie das alles nur möglich sein kann! Denn das sind keine Illusionen gewesen!«
»Illusionen?! «
»Du weißt doch, was ich meine — Gedankenübertragung, der Zuschauer muss sehen, was sich der Gaukler in seiner Einbildung lebhaft vorstellt. Wir alle waren erst fest überzeugt, dass dies alles nur Illusionsgaukelei sei. Denn wie konnte der Teufel denn immer unter Wasser verschwinden und wieder von der Brücke her zum Vorschein kommen, und dann wieder umgekehrt, und das war doch immer derselbe Mann. Und was nun sonst noch alles passierte! So lange kann doch kein Mensch unter Wasser bleiben, und wenns auch der geschickteste Perlentaucher ist! Also müsste es unbedingt doch Illusion sein, das Vorgaukeln von nur gedachter Einbildung. Nun hatten wir aber unsere Illusionsgläser bei uns. Hier diese Dinger, wenn man nämlich durch diese blickt, kann man sofort unterscheiden, ob etwas Illusion oder Wirklichkeit ist. Woher diese Wirksamkeit, das kann ich Dir jetzt nicht erklären, ich weiß es eigentlich selbst nicht. Kurz, dieses Instrument wirkt genau so wie ein Photographenapparat, aber direkt für das menschliche Auge. Die Wirklichkeit bleibt natürlich bestehen, wenn man durch diese Gläser blickt, jede Illusion dagegen verschwindet, man sieht einfach nichts. Nun aber war alles, was uns da vorgeführt wurde, auch durch diese Gläser zu sehen. Also konnte es sich doch auch nicht um Illusionen handeln. Und da ist bei diesen Apparaten jeder Irrtum ausgeschlossen. Ja, wie ist denn da dies alles nur möglich gewesen?! Wie habt Ihr diese Zauberei denn nur fertig gebracht?! Was für eine ganz besondere Art von Zauberei und Magie und Yoga ist denn das nur?!«
So hatte das junge Mädchen gesprochen, und einige Dutzend exotischer Augenpaare hingen mit spannender Erwartung an dem Mann, der die Erklärung dieser »Wunder« hoffentlich auch geben würde.
Und nun allerdings brach bei Georg vollends das offene Staunen hervor.
Wie, alle diese orientalischen Gäste fanden keine Erklärung für die Vorgänge dieser Zeremonie?!
Sie erhielten die Erklärung.
Der deutsche Leser braucht sie selbstverständlich nicht.
Die ziemlich hohe Insel war hohl, war nur ein Aufbau, unter ihrem Boden konnte man noch über Wasser atmen.
Zwischen diesem unsichtbaren Hohlraum und der Badezelle befand sich eine Kommunikation, also einfach eine Verbindung, diese benutzte der rote Teufel, in dem Hohlraum mochte er auch noch Gehilfen stecken haben, ferner waren in dem Hohlraum noch die sonstigen Requisiten untergebracht.
Ferner führte aus der Manege unter Wasser nach ein Tunnel hinaus ins Freie, das heißt hinter die Kulissen.
Der Matrose Hahn, dieser ausgezeichnete Taucher, schwamm einfach aus jenem Inselhohlraum durch diesen Tunnel in dem undurchsichtigen Wasser hinter die Kulissen, wenn er dann wieder über die Brücke kam, und umgekehrt.
Dass die Beine und Arme nur ausgestopfte Trikotgliedmaßen waren, braucht nicht erst gesagt zu werden.
Wie überhaupt, sei nochmals betont, der Leser gar keine Erklärung nötig hätte. So wenig wie das andere Publikum. Die von Bord der »Argos« hatten da doch niemals eine staunende Frage aufgeworfen, auch die kleine Ilse nicht.
Aber diese exotischen Gäste hatten eine Erklärung nötig gehabt.
Diese selben Personen, die, wie Viviana, die Tochter Merlins des Zauberers, mit Illusions- und Taschenspielerkünsten sozusagen ganz geschwängert waren!
Die hatten sich den ganz einfachen Vorgang nicht erklären können, die hatten schon an Zauberei, an übernatürliche Wunder geglaubt! Das ist es, worüber der Verfasser noch einmal sprechen, wozu er Außerhalb des Romans ein persönliches Erlebnis erzählen möchte.
Im Jahre 1889 lag ich in Bombay, hatte einmal Gelegenheit, obwohl zum Schiffsvolke vor dem Mast gehörend, also einfach Matrose, in eine bessere Gesellschaft eingeladen zu werden.
Der Gastgeber, ein Deutscher — wie überhaupt fast alles deutsch war — hatte dazu in sein Bungalo, seine Villa, auch einen Fakir bestellt, einen berühmten Illusionsgaukler. Also einen Yogi. Fakir und Derwisch ist ja eigentlich etwas ganz anderes.
Der Kerl kam, ein braunschwarzes, lebendiges Skelett, machte innerhalb seines Zauberkreises, in dem sich auch die Zuschauer befinden mussten, die wunderbarsten Sachen.
Viel Neues war es allerdings nicht, was wir zu sehen bekamen. Nicht viel anderes, als was man überall in den indischen Städten auf der Straße und in den Kneipen zu sehen bekommt. Alle diese Verwandlungsillusionen und Taschenspielerkünste und sonstigen Gaukeleien sind, wie schon einmal erwähnt, äußerst einseitig. Dadurch eben bilden sich diese Gaukler aber auch Zu solcher Vollkommenheit aus. Es ist eine einzige Schule, die seit Jahrtausenden besteht, jeder Lehrer lehrt seinem Schüler nur das, was er selbst kann, und so kommt immer dasselbe heraus, nun aber auch in der höchsten Vollkommenheit.
Dieser berühmte Yogi hier, selbst ein Guru, ein Lehrer in der Yoga-Wissenschaft, wusste aber nun in ganz wunderbarer Weise Illusionen mit wirklichen Taschenspielerkniffen zu verschmelzen, das war es, was ihn berühmt machte, worin er unvergleichlich war.
Es wurde viel photographiert, aber es war gar nicht möglich, dem Kerl mit dem Knipsapparat beizukommen, Illusionen von Wirklichkeit zu unterscheiden. Indem er das Publikum darin selbst ständig irre führte. Wenn man dachte, man photographiere eine Illusion, wobei also doch nichts auf die Platte kommt, dann photographierte man eine Wirklichkeit, durch Taschenspielerkniff hervorgebracht, und dann erzeugte er wieder durch Gedankenübertragung einen ganz einfachen Vorgang, so einfach, dass niemand daran dachte, diesen zu photographieren, der aber doch eine Hauptrolle insofern spielte, als er dazu diente, um die Aufmerksamkeit der Zuschauer von einem anderen Punkte abzulenken.
Immerhin, auch seine suggestive Illusionskraft war ganz erstaunlich.
Die Vorstellung war beendet.
Nun war unter uns auch ein Herr, der für eine deutsche Champagnerfirma Indien bereiste. So ein richtiger oller Reese-Onkel, mit allen Hunden gehetzt, ganz vollgepfropft mit Witzen und Anekdoten, auch sonst ein Tausendkünstler, spielte großartig Klavier und balancierte dabei einen Stuhl auf der blauroten Gesichtsgurke, setzte vorher auf das Klavier einen Topf mit frischer Milch, imitierte auf den Tasten ein Gewitter mit Blitz und Donner, und dann hinterher war die Milch sauer geworden. Und lauter solchen Unsinn.
»Nun werde ich diesem Hexenmeister einmal etwas vormachen!«
So sprach der Champagneronkel, und der Yogi war bereit, sich von diesem Abendländer eine Vorstellung geben zu lassen.
Der Champagneronkel machte ihm nichts weiter als Kartenkunststückchen vor. Allerdings nun großartig! Wie der, abgesehen von anderen Kartentricks das Kümmelblättchen schlagen konnte! Nicht nur mit drei, sondern mit vier und sogar fünf Karten! Es war gar nicht möglich, die richtige herauszufinden. Wie sich der Yogi auch bückte und mit seinen doch gewiss äußerst scharfen Taschenspieleraugen auch lugte.
Doch von solchen schwierigeren Sachen und komplizierteren Kartenkunststückchen ganz abgesehen.
Der deutsche Hexenmeister machte mit Absicht immer einfachere Sachen. Nämlich weil er sich selbst immer mehr zu wundern begann und zwar über das Verhalten dieses Yogis.
Ja, hier fand auch eine rätselhafte Umwandlung statt.
Der Weinreisende nahm eine französische Spielkarte, zeigte sie ausgebreitet dem Yogi, die Farben nach oben, drehte sie um, mischte die Blätter.
»Nun ziehe Dir eine beliebige Karte, mein Junge.«
Es geschah.
»Was hast Du gezogen? Piquedame. Die erkennst Du doch wieder. So, nun stecke die Karte wieder zurück — ich mische das Spiel vor Deinen Augen — nun ziehe wieder eine Karte . . . was hast Du gezogen? Wieder Piquedame! Merkwürdig. Stecke die Karte zurück — ich mische — ziehe — wieder Piquedame . . . «
Und so fort.
Na, der Leser weiß doch wohl, wie das gemacht wird!
Es ist so ziemlich das allereinfachste Kartenkunststückchen, wenn man die nötige Fingergewandtheit dazu besitzt. Der Herr vertauschte das richtige Kartenspiel einfach mit einem anderen, das überhaupt nur Piquedamen enthielt.
Das ist die ganze Sache zu dumm! Dieses Vertauschen will natürlich gelernt werden, dieser Champagneronkel hier brachte es großartig fertig.
Ach, und diesen Eindruck nun, den dieses allereinfachste Kartenkunststückchen schon — von den anderen, komplizierteren gar nicht zu sprechen — auf den braunen Hexenmeister hervorbrachte!
Wie der staunte, wie der sich förmlich entsetzte!
Wie der seine Götter anrief!
»O Civa und Whisnu, das ist Zauberei! Sahib, o Sahib, wie bringst Du diese Zauberei fertig! Was für ein Yoga ist das nur!«
Zuletzt wollte er den Champagneronkel sogar anbeten. Also da hat man es!
Es ist ein sehr, sehr lehrreiches Gleichnis!
Dieser indische Yogi war das, was man einen Adepten nennt, einen Magier, einen Zauberer.
Und er war tatsächlich ein Zauberer, ein mit übernatürlichen Kräften begabter Mensch.
Denn wenn jemand sagt: »Es wachse hier aus diesem Teppich heraus ein Mangobaum!« — und dieser Baum beginnt wirklich zu wachsen, bis er in voller Grö0e dasteht, die Zuschauer sehen ihn ganz deutlich, sie können sogar die Nüsse abpflücken und essen, so muss man das doch Zauberei nennen, der Betreffende ist ein ganz echter Zauberer.
Auch wenn alles nur Illusion durch Gedankenübertragung ist, verbunden mit Taschenspielergeschicklichkeit, man darf es dennoch echte Zauberei nennen. Oder es müsste erst näher definiert werden, was man denn überhaupt unter Magie und Zauberei verstanden haben will.
Dieser Inder besaß zweifellos magische Fähigkeiten, von deren reellem Vorhandensein, wenn man von Ammenmärchen und einzelnen Sekten absieht, wir Abendländer jetzt erst etwas zu ahnen beginnen. Er hatte sie durch ein besonderes körperliches und geistiges Training erworben, hatte wahrscheinlich jahrelang in einem düsteren oder gar stockfinsteren Raume eingemauert gesessen, regungslos in einer unnatürlichen Stellung verharrend, ständig nach der Nasenspitze schielend und das heilige Wort »Aum« aussprechend. Dabei müsste er hungern und dürsten, bis sein Leben fast erloschen, täglich waren ihm nie mehr als drei Stunden Schlaf vergönnt. So berichten fast alle, besonders Engländer, die unter der Leitung von Gurus die indische Geheimwissenschaft Yoga betreiben wollten. Dies wird zuerst von ihnen gefordert, für viele Jahre lang. Und das ist erst der Anfang! Immer entsetzlicher werden die asketischen Übungen, welche den Zweck haben, die Seele vom Körper frei zu machen, so dass der Geist den Körper vollkommen beherrscht, und wenn man sich selbst besiegt hat, so besiegt man die ganze Welt — dann also kann der Betreffende seine eigenen Phantasiegebilde auf andere übertragen. Und dass hierdurch im Menschen schlummernde Fähigkeiten frei werden, die er dann nach Willkür zur Erzeugung von Phänomenen verwenden kann, das ist nunmehr einwandfrei nachgewiesen worden, mag es auch noch genug geben, die daran nicht glauben wollen.
Dieser Inder hier hatte es so weit gebracht. Er hatte sein Fleisch in fast buchstäblichem Sinne des Wortes abgetötet, denn er hatte überhaupt gar kein Fleisch mehr an den Knochen. Er war ein echter Magier geworden, ein Zauberer, der bis zu einer Grenze den Naturkräften befehlen konnte, sie gehorchten ihm.
Und da wird diesem selben Manne ein ganz einfaches Kartenkunststückchen vorgemacht, und da bricht er körperlich und geistig zusammen, betet es als ein »Wunder« an! Das ist es, worauf es hierbei ankommt!
Es war gar kein so alberner Spaßvogel, der zuerst auf die Idee kam, den zehn Geboten noch ein elftes hinzuzufügen:
Mensch lass Dich nicht verblüffen!
Und das gilt auch umgekehrt für alle die Erscheinungen und Fähigkeiten, welche wir heute magische, also übernatürliche nennen. Wenn jemand etwa eine glühende Kohle in die Hand nehmen kann, ohne sich zu verbrennen; wenn jemand seinen Körper durchsticht, sich die schrecklichsten Wunden beibringt — ein Streichen darüber, und es ist nichts mehr davon zu sehen; es gilt für den ganzen Spiritismus mit all seinen unleugbaren Phänomenen.
Es dürfte die Zeit kommen — und sie kommt ganz gewiss — da man alles das, was wir jetzt magisch oder übersinnlich nennen, was von anderen einfach geleugnet wird, auf ganz natürliche Weise wird erzeugen können. Dazu aber muss man erst einmal der Wahrheit die Ehre geben, nämlich anerkennen, dass es noch andere Naturkräfte gibt, die in jedem Menschen schlummern und nur geweckt zu werden brauchen, was dann aber, wenn der Materialismus besiegt worden ist, nicht mehr durch körperliche, asketische Übungen geschieht, sondern wozu nur die Ausbildung der höchsten geistigen Kraft nötig ist, über welche der Mensch verfügt, und das ist die Liebe! In diesem Falle besser Mitleid genannt.
114. KAPITEL.
DIE REVANCHE DES MAHARADSCHAS.
Während Georg dem Mädchen die Erklärung gegeben, dieses den anderen exotischen Gästen berichtet hatte, war das Wasser abgelassen und der feuchte Grund schnell aufgetrocknet worden.
Die nächste Vorstellung sollte also wiederum hier stattfinden.
»Es ist noch eine Pause von einer Viertelstunde nötig,« musste dann Georg, der hinter den Kulissen gewesen war, verkünden, »es sind noch einige Vorbereitungen zu treffen.«
»Kann ich Dich sprechen?« wurde er wiederum von Merlin angeredet.
»Bitte.«
»Diese Viertelstunde wird durch nichts anderes ausgefüllt?«
»Nein, es ist nicht gut angängig, oder wir müssten diesen kleinen Zirkus erst verlassen. Die Vorbereitungen zur nächsten Nummer schieben sich nur etwas länger hinaus, als erst angenommen worden war.«
»Bis dahin bleibt die Manege frei?«
»Die Vorbereitungen geschehen in den Stallgängen.«
»Der Maharadscha, den ich meinen Gast nenne — verzeihe, wenn er seinen weiteren Namen verschweigt möchte gern Euch einmal eine Vorstellung geben. Willst Du ihm für diese Viertelstunde die Manege zur Verfügung stellen?«
»Gewiss doch! So lange er will, nicht nur eine Viertelstunde!«
»Gut. Dann lasse Deine Leute sich mehr nach unten setzen, um die ganze Manege herum, oder auch noch innerhalb derselben im Kreise.«
Eine Verkündigung, und es geschah Alles, verteilte sich auf der untersten Stufe im Kreise, die Manege selbst zunächst noch freilassend. Auch die exotischen Gäste hatten ganz unten Platz genommen.
Und da kamen schon aus einem Seitengange, der von den Argonauten nicht benutzt wurde, von dem man nur wusste, dass er in leere Felsenkammern führe, einige Chinesen heraus, ganz einfach gekleidet, Arbeiter, Kulis, die einen langen Pack trugen, legten ihn in der Mitte der Manege hin, breiteten ihn aus. Es war ein schwarzer, glatter, kreisrunder Teppich von etwa zehn Meter Durchmesser.
»Wollen sich Deine Freunde und Leute um diesen Teppich aufbauen!« sagte Merlin. »Die Gaukeleien, mit denen Euch der Maharadscha aufwarten will, müssen in möglichster Nähe beobachtet werden. Nur ein Gang nach jenem Tor möchte freigelassen werden.«
Es geschah, wie der vielgeplagte und unermüdliche Waffenmeister anordnete. Man gruppierte sich um den Teppich. Die exotischen Gäste hatten ja schon ihre eigenen Kissen mitgebracht, sie ließen sich gleich darauf nieder, dicht vor dem Teppich, hinter ihnen stellten sich die Diener auf, und so hielten es auch die anderen Herrschaften, für die schnell Kissen und Polster besorgt waren, das »Volk« baute sich dahinter im Kreise auf, der ja groß genug war, um in einigen Reihen alle zu fassen, es musste nur der Leibesgröße nach angetreten werden.
Ein Gongzeichen, und herein marschierten mit anmutigen Bewegungen eine Reihe chinesischer Gestalten, neun Stück: zwei Männer, drei junge Weiber und vier halbwüchsige und auch noch etwas kleinere Kinder.
Alle echt chinesisch gekleidet, mit langen, bunten Seidengewändern, nur dass bei diesen die langen, weiten Ärmel fortfielen, diese gingen, allerdings auch sehr weit, nur bis an die Ellbogen, um den Hüften prachtvolle Schärpen, die schwarzen Haare zierlich frisiert, mit Blumen und seltsamen Spangen geschmückt, lauter zierliche Gestalten, die hübschen Gesichter mit den listigen Schlitzaugen wie aus gelbem Elfenbein geschnitzt.
So marschierten sie anmutig in den Kreis, nach allen Seiten hin lächelnd, und lächeln taten sie überhaupt immer, verteilten sich nach allen Richtungen, zogen aus dem Gürtel, in dem sie die verschiedensten Gegenstände trugen, bunte Papierbogen, verteilten sie unter dem Publikum, dazu mit dünnen Stimmchen Bemerkungen machend, denen man das Scherzhafte gleich anhörte.
»Es ist farbiges, ganz gewöhnliches, wenn auch echt chinesisches Seidenpapier, das die Gaukler verteilen!« ließ sich Georg, der von Merlin wieder instruiert worden war, vernehmen. »Die Herrschaften, oder auch die dahinter stehenden Leute, sollen die Papierbogen nehmen und sie in Stückchen zerreißen. Ungefähr von der Größe der Oberfläche einer Streichholzschachtel. Doch kommt es gar nicht so darauf an. Auch auf die Form nicht. Immer lustig in Stückchen zerreißen, wie es kommt. Jedes Fetzchen Papier möchte einzeln dem betreffenden Gaukler zurückgegeben werden.«
Es geschah. Also es waren neun Personen, und jede hatte ein anders farbiges Blatt Seidenpapier zum Zerreißen unter das Publikum gegeben, welche Farben namentlich aufgeführt werden müssen, da es hierauf hauptsächlich ankommt: weiß, hellblau und dunkelblau, hell— und dunkelgrün, hell- und dunkelrot, hell- und dunkelgelb. Jede Farbe war von der anderen durchaus verschieden.
Der betreffende Gaukler, Mann, Weib oder Kind, ließ sich die zerrissenen Stückchen immer einzeln zurückreichen, faltete jedes noch einmal Zusammen, machte einen eigentümlichen Knick hinein und warf es dann achtlos auf den schwarzen Teppich.
Dies erforderte ja einige Zeit, die aber durchaus nicht langweilig wurde. Erstens konnte man sich wirklich gar nicht sattsehen an diesen chinesischen Gestalten, es waren so überaus zierliche Persönchen, die reinen Nippfiguren, was sogar von den erwachsenen Männern galt, und wie viel mehr nun noch von den jungen Weibern und den Kindern. Diese Gesichtchen mit den Schlitzaugen! Diese Händchen! Diese Figürchen! Alles eben wie aus gelbem Elfenbein geschnitzt. Und wenn man diesen Ausdruck wählt, so kann man dabei doch nicht an schlaffes Fleisch denken. Nein, besonders die von Muskeln und Sehnen starrenden Unterarme zeigten, obgleich immer noch wie von Künstlerhand geschnitzt, vom vollendetsten Ebenmaße, was auch diesen zierlichen Weibern und Kindern für eine Kraft innewohnen mußte.
Dann zweitens verstand fast ein jeder dieser Matrosen doch wenigstens einige Brocken Chinesisch, die wurden angebracht, und die Gaukler blieben auf neckische Fragen die schelmischen Antworten nicht schuldig, und die verstanden wieder einige Brocken Englisch was aber um so possierlicher klang, weil die Chinesen das R nicht aussprechen können, dafür meist ein L einschieben, und nun überhaupt ein heiteres Wesen, das Lächeln war nicht gekünstelt — und so kam es, dass im Handumdrehen eine allgemeine Plauderei mit Lachen und Kichern im Gange war.
Übrigens gehört dies mit zu einer echten orientalischen Vorstellung. Die Gaukler schwatzen unaufhörlich, unterhalten sich mit dem Publikum, dieses muss selbst mitspielen.
Der letzte Papierbogen war zerrissen, das letzte Fetzchen noch von Gauklerhand Zusammengefaltet und in eigentümlicher Weise noch einmal geknickt und dann achtlos zu Boden geworfen worden.
Jetzt zog jeder aus dem Gürtel einen kleinen Handbesen, sie fegten die Papierstückchen nach der Mitte zusammen, dass sie dort einen bunten Haufen bildeten.
Der Besen wurde zurückgesteckt, dafür nahm jeder aus seinem Gürtel zwei Fächer, feststehend, aus Stroh geflochten, die bekannten chinesischen Fächer, in jede Hand einen. So stellten sie sich um den bunten Papierhaufen herum, aber weit genug auseinander, dass man bequem zwischen ihnen durchschauen konnte, und begannen zu fächeln.
Hierzu möchte erst noch etwas bemerkt werden.
Auch die Artistik hat ihre Kunstströmungen. Was einst beliebt gewesen ist, wird vergessen. Das Publikum ist mit gewissen Produktionen übersättigt worden. So konnte man sich früher einen größeren, echten Jahrmarkt ohne gespanntes Turmseil gar nicht vorstellen, was es heute gar nicht mehr gibt, und man hat sich überhaupt von der ganzen Seiltänzerei abgewendet.
So ist es auch mit den chinesischen, indischen und arabischen Gauklern, die zu uns nach Europa kommen.
Heute produzieren sich diese, wenn man sie richtig beobachtet, hauptsächlich in Kunststückchen, welche auf den Gesetzen der Zentrifugalkraft und des Beharrungsvermögens beruhen.
Früher, noch zu unserer Kinderzeit, war das anders. Da hatten sich diese orientalischen Gaukler hauptsächlich auf die Beherrschung der Luftbewegung und des Luftwiderstandes geworfen.
Wer entsinnt sich noch des Schmetterlingsspieles, mit welchem die chinesischen und indischen Tausendkünstler uns als Kinder belustigten? Jetzt aber sieht man dieses Schmetterlingsspiel gar nicht mehr.
Das heißt nicht mehr bei uns in Europa. Wir Abendländer sind damit übersättigt worden, und die exotischen Artisten haben sich unserem Geschmacke angepasst. In ihrer Heimat aber steht dieses Schmetterlingsspiel noch in vollster Blüte.
Und das Schmetterlingsspiel war es, das diese neun chinesischen Künstler jetzt vorführten. Wie das Seidenpapier dabei in Stückchen gerissen wird, scheint ganz gleichgültig zu sein. Es kommt immer nur auf ein letztes Zusammenfalten und dann hauptsächlich wohl auf ein ganz besonderes Knicken an. Ach, was haben wir als Kinder uns abgemüht, nur zwei solche papierne Schmetterlinge oder auch nur einen einzigen durch Wedeln mit dem Fächer schwebend in der Luft zu erhalten!
Es kam über ein klägliches Resultat nie hinaus. Das Geheimnis muss eben in dem eigentümlichen Falten und dem letzten Knick liegen, und dann natürlich eine kolossale Ubung, von zarten Kindesbeinen an, tagaus, tagein, von früh bis abends, und schließlich kommt wohl auch die Vererbung in Betracht, innerhalb einer Kaste, die diese Kunst vielleicht schon seit vielen Jahrtausenden betreibt.
Die achtzehn wedelnden Fächer brachten den bunten Papierhaufen zum Aufwirbeln. Erst ein allgemeines Durcheinander, dann hatte jeder eine Gruppe Schmetterlinge über sich und um sich vereinigt, immer ein bis zwei Dutzend von allen Farben.
So trennten sie sich, jeder ging seinen eigenen Weg, seinen Schmetterlingstrupp um sich spielend lassend.
Es war ja schon erstaunlich genug, wie sie diese Papierschnitzelchen in der Luft zu beherrschen wussten, nur mit den beiden Fächern, in jeder Hand einen. Das hier war erst der allereinfachste Anfang, und schon konnte man Verschiedenes gar nicht begreifen, hielt es einfach für unmöglich, also hätte man doch eigentlich an übernatürliche Zauberei glauben müssen.
Es hatte sich zum Beispiel jemand isoliert, ließ ein Dutzend Schmetterlinge direkt vor seiner Brust gauklen, da sonderten sich drei ab, flogen ihm über den Kopf weg oder auch seitwärts um den Körper herum, gaukelten nun hinter seinem Rücken, während sich die Fächer nur vorn mit den Schmetterlingen beschäftigten. Dann kamen, offenbar so bald es gewünscht wurde, die drei Außenseiter wieder zurückgeflogen und vereinigten sich wieder mit dem Trupp.
Wie war denn das möglich? Dass die Fächer auch die Papierschnitzel hinten im Rücken beherrschen konnten, das war vollständig ausgeschlossen.
Man müsste gar scharfe Augen besitzen und in Beobachtung geschult sein, um dieses Rätsel lösen zu können.
Sie arbeiteten miteinander, verständigen sich durch geheime Zeichen, kamen sich gegenseitig zu Hilfe.
Diese junge Frau zum Beispiel, die jenes Experiment ausführte, hatte den Oberkörper etwas vorgebeugt um lächelnd den Haupttrupp Schmetterlinge vor sich in Schach zu halten, und dabei ihr linkes Bein graziös nach hinten frei ausgestreckt. Das war aber nicht nur eine elegante Attitüde, sondern mit dem ausgestreckten Füße gab sie geheime Zeichen, konnte sie richtig wie mit Worten sprechen, und sofort, aber ganz unauffällig, näherte sich ihr von hinten einer der Männer, er schien nur mit seinen eigenen Schmetterlingen beschäftigt Zu sein, regierte diese jedoch nur — und warum nicht! — nur mit dem linken Fächer, den rechten hatte er in der herabhängenden Hand und ließ ihn kaum merklich erzittern, und dennoch genügte diese Luftbewegung, um der Frau die drei Schmetterlinge abzunehmen, die sie hinter sich schickte, die nun er seinerseits hinter ihrem Rücken spielen ließ, und dies geschah so unauffällig und Außerdem immer noch in solch beträchtlicher Entfernung, dass niemand von dieser gegenseitigen Hilfe merken konnte.
Georg, der diese Frau gerade beobachtete, hatte gewiss scharfe Augen und verstand zu beobachten, aber er musste hierüber erst Aufklärung von seiner Nachbarin Viviana erhalten, nun erst war er imstande, mit seinen eigenen Augen die Hilfsleistung zu erkennen.
Und dies, schon erstaunlich genug, war erst der allereinfachste Anfang des ganzen Schmetterlingsspieles.
Ein quäkendes Kommandowort des einen Mannes, und alle nahmen die beiden Fächer nur in die rechte Hand.
So leitete jetzt jeder seine Schmetterlingsgruppe und dabei war deutlich zu sehen, wie die beiden Fächer in der einen Hand ganz selbständig von einander bewegt wurden, jeder für sich. Bald arbeiteten beide Fächer nach einer Richtung, bald gingen sie seitwärts auseinander, einmal stand der eine nach oben, der andere fast nach unten, und dabei bewegte sich der eine ganz langsam, der andere zitterte mit fabelhafter Schnelligkeit, usw. usw. in den denkbar verschiedensten Variationen, wie es eben das Zusammenhalten der Schmetterlinge erforderte.
Und dabei blieb die freigewordene linke Hand nicht unbeschäftigt. Jetzt kam auch noch die Taschenspielerei hinzu. Wenigstens so genannt, obgleich diese Gaukler unmöglich Kleidertaschen und ihre nur halblangen Ärmel benutzen konnten.
Sie zauberten, die linke Hand immer weit ausstreckend allerhand Sachen hervor und ließen sie wieder verschwinden, dicht vor den Augen der Zuschauer. Dabei immer schwatzend in ihrer possierlichen Weise.
»Eine Bohne, nichtwahl? Hui, zwei Bohnen, nichtwahl? One — two — thlee — nuiii dlei Bohnen — nuuiii, oheio, hundeltmal hundelt Bohnen!!«
Es waren Kaffeebohnen, mit denen der betreffende Gaukler gerade experimentierte. Er schien sie geradezu aus der Luft hervorgezaubert zu haben. Zuletzt Zeigte er, dass er eine ganze Masse Bohnen in der Hand hatte, er ließ sie auch befühlen, welche nehmen, um von der Wirklichkeit zu überzeugen — dann schloss er wieder die wunderbaren Elfenbeinfingerchen darüber, ein Reiben, und wie er die Hand, die er immer weit ausgestreckt gehalten hatte, wieder öffnete, waren alle Bohnen verschwunden.
Jeder führte etwas anderes aus. So zum Beispiel griff eines der halbwüchsigen Kinder, ein Mädchen, in seinen Mund, zog ein langes, weißes Band hervor. Dieses ließ es in der Luft flattern, dann griff die linke Hand nach, Zog das Band mit jedem Griffe ein, bis es sich ganz in der Hand befand, und wie das Mädchen die Hand öffnete, war das Band daraus verschwunden.
Dies geschah dicht vor den Zuschauern, und diese selbst mussten mitwirken. Sie mussten das wiedererschienene Band nehmen, von ganz dünner Seide, das Mädchen zog es innen aus den Händen heraus, bis es in seiner eigenen Hand überhaupt gänzlich verschwunden war.
Und die Sache ging noch weiter.
»Zelleiss es, zelleiss es in lautel kleine Stückchen!«
Gut, das lange Band wurde in lauter kleine Stückchen zerrissen, was mit leichter Mühe geschah, es war ein äußerst dünnes Gewebe, die kleine Gauklerin ließ sich die einzelnen Stücken als ein Päckchen in die linke Hand geben, die wunderzierlichen Fingerchen kneteten darauf herum, und dann plötzlich flatterte aus der Hand wieder das lange Band, von dessen Unverletztheit sich jeder überzeugen konnte.
Und während überall solche Kunststückchen ausgeführt wurden, immer verschieden, immer nur mit der linken Hand, wurden mit der rechten Hand die Schmetterlinge gaukelnd in der Luft erhalten, denen musste auch die ganze Aufmerksamkeit gelten, zumal sie jetzt noch anders dirigiert wurden.
Die Chinesen begannen immer mehr, die Zuschauer mit den Schmetterlingen zu necken, sie flogen auch um deren Köpfe herum, ließen sich auf ihnen nieder, auf der Nase, flogen ihnen beharrlich ins Gesicht, einer hatte es einmal besonders auf Klothildes Haarbüschel abgesehen, glaubte wohl, dieses Gewächs sei eine Blume, aus der er nippen wollte, ließ sich nicht verscheuchen, aber ebenso wenig fangen, wie Klothilde auch haschte und schlug.
Das Gelächter war groß. Ebenso aber auch das Staunen über diese unbeschreibliche Kunstfertigkeit, mit der diese beiden von einer einzigen Hand gelenkten Fächer die Papierschnitzelchen beherrschten.
»Ist das nur Illusion gewesen?« fragte Georg, der gerade das Kunststück des Kindes mit dem Seidenband beobachtet hatte, seine kindische Nachbarin, Merlins Tochter.
Er hatte sich nicht neben Viviana, sondern diese sich neben ihn gesetzt.
»Es ist alles Wirklichkeit. Nimm hier mein Illusionsglas, überzeuge Dich selbst!«
Georg nahm das dargereichte Augenglas, er sah überall dasselbe und wunderte sich hierüber nicht besonders. Erstens musste zunächst erwiesen werden, dass man durch diese Gläser wirklich Illusion von Wirklichkeit unterscheiden konnte, und dann war das vorhin von ihm gar nicht so gemeint gewesen. Er hatte nicht an eine eigentliche Illusion gedacht, dieses Zerreißen von Geweben und ein sofortiges Wiederzusammenfügen der einzelnen Stückchen war ihm von chinesischen und indischen Gauklern gar nichts Neues, als Neues kam hier nur das Schmetterlingsspiel hinzu, sondern er hatte nur gemeint, ob das Kind das Seidenband etwa vertauscht habe.
So äußerte er sich jetzt auch, als er das Glas zurückgab.
»Wie diese Kunststückchen ausgeführt werden, weiß ich nicht,« entgegnete Viviana. »Jedenfalls würde man über ihre Einfachheit, wenn man die Erklärung bekäme, dann lachen. Aber auch der Maharadscha könnte es Dir nicht erklären.«
»Kann denn der nicht die Erklärung bekommen, wenn er sie haben will?«
»Nein. Es handelt sich um das Geheimnis einer Kaste, und zwar hängt es mit der Religion zusammen, deshalb werden diese Geheimnisse um keinen Preis verraten, und wenn ein Gaukler dazu gezwungen werden sollte, so würde er eher Selbstmord begehen, ehe er sich das Geheimnis durch Schmerzen erpressen lässt.«
Das ist es, weshalb es ganz unmöglich ist, hinter die Schliche dieser Gaukler zu kommen! Es hat alles einen religiösen Hintergrund. Mindestens insofern, als alle diese mohammedanischen oder buddhistischen Gaukler einem Tempelorden angehören, dem sie auch fast ihren ganzen Verdienst zu überweisen haben.
Viviana winkte einer der jungen Frauen, die sich ganz besonders durch ihre Grazie wie auch durch die Geschicklichkeit ihres Schmetterlingsspiels auszeichnete.
Sie kam heran. Viviana sprach mit ihr.
»Du möchtest ihr einen oder mehrere Gegenstände geben, die sie bequem in ihrer Hand verbergen kann und die Du immer als Dein Eigentum wiedererkennst.«
Georg wühlte in seinen Hosentaschen, brachte einen Hosenknopf, ein kurzes Stückchen Bleistift und einen blauen Stein zum Vorschein, was ja nicht gerade für besonderen Reichtum sprach, aber was brauchte man denn hier in Sibirien Reichtümer eingesteckt zu haben.
Während dieses Suchens schon hatte die Gauklerin nebenbei ein Kunststück ausgeführt, das der Beschreibung wert ist.
Mit der rechten Hand immer die Schmetterlinge spielen lassend, nach diesen blickend, hatte sie mit der anderen Hand den linken Ärmel hochgeschlagen, ihn regelrecht aufgekrempelt bis über die Schulter hinauf.
Das ist einfacher gesagt als getan. Man probiere es einmal, den halblangen, bis zum Ellbogen gehenden Ärmel mit der Hand desselben Armes zu fassen und ihn noch zu krempeln. Hierbei ging überhaupt etwas schier Übernatürliches vor sich. Nicht nur, dass es schon ganz rätselhaft war, wie sie die Hand und die Finger so weit zurückbiegen konnte, bis sie den Saum des Ärmels fasste, sondern Georg sah auch ganz deutlich, wie sich ihr Unterarm dabei bog, es war auch gar nicht anders möglich, sonst hätte sie den Ärmel gar nicht fassen können, also hatte diese Gauklerin tatsächlich biegsame Knochen, die sie nach Willkür biegen konnte.
»Du sollst ihren Arm festhalten. Wo Du willst. Am besten ist es wohl am Handgelenk, das kannst Du ganz umspannen. Da ist ausgeschlossen, dass sie etwa die Sachen zurückschnellt, sie in der Achselhöhle verschwinden lä8t.«
Georg tat es, fasste diesen wunderbaren Arm, wie aus Elfenbein gedrechselt und geschnitzt, es gibt keinen anderen Vergleich, so wunderbar zierlich und doch so hart wie Stein, das Handgelenk dünn wie das eines vierjährigen Kindes — das sich nicht durch besondere Dicke auszeichnet — und der Oberarm dabei schwellend von Muskeln.
Zuerst fasste Georg nur mit der einen Hand das Gelenk, dann später auch mit der anderen Hand noch weiter oben den Arm, hinter dem Ellbogengelenk, dort noch immer den ganzen Arm mit seinen Fingern umspannen könnend.
Anfangs machte Viviana den Dolmetscher, bald war das nicht mehr nötig, die Chinesin konnte die einzelnen Gegenstände bei Namen nennen.
»Lege alles in meine Hand!«
Die Fingerchen wurden darüber geschlossen, machten reibende Bewegungen
»Was soll ich noch in meiner Hand haben?«
»Gar nichts mehr.«
Noch ein Reiben, die Fingerchen wurden aufgeschlagen — die Hand war leer.
Georg wendete sich hin und her, strich den Arm hinauf — es war unbegreiflich, wo die Gegenstände geblieben waren.
»Nun zaubere den Knopf zurück.«
Die Fingerchen wurden geschlossen, ein Reiben — in der Hand lag nur der Knopf.
Und so ging es weiter, ganz wie gewünscht wurde.
Dann aber gab die Gauklerin, immer lächelnd nur nach ihren spielenden Schmetterlingen blickend, auch ungewünschte Kunststückchen zum besten.
Plötzlich, wie Georg nur an seinen Hosenknopf und an das Bleistiftendchen dachte, kam aus der geschlossenen Elfenbeinhand, aus einer seitlichen Öffnung zwischen dem gebogenen Zeigefinger und dem Daumen, der buntschillernde, züngelnde Kopf einer Schlange zum Vorschein.
Es war begreiflich, dass Georg etwas zurückprallte. Eine Schlange ist immer eine Schlange.
»Gut Slankeee,« lächelte beruhigend die reizende junge, Frau, »gut Tielchen, tut niemand nix. Hast Du Vogelchen liebel?«
Das Schlangenköpfchen, immer mit funkelnden Augen lebhaft züngelnd, zog sich zurück, die Hand wurde geöffnet, in ihr lagen, wie Georg gewünscht hatte, der Knopf und der Bleistift.
Die Fingerchen wurden wieder geschlossen, wieder jenes Reiben, und aus der seitlichen Öffnung kam jetzt ein buntschillernder Vogelkopf zum Vorschein, den Schnabel weit aufsperrend, wie es in der Hand gehaltene kleine Vögel gewöhnlich tun, auch einmal in die Hand zu beißen versuchend.
Es dürfte Leser genug geben, die dieses Experiment schon gesehen haben, ganz genau so, wie es hier beschrieben wird, von indischen Gauklern, die sich immer mehr in Europa einfinden, sich auf Weltausstellungen und bei ähnlichen Gelegenheiten produzierend. Wenn man es sich etwas mehr kosten lässt, kann man dabei auch den Arm und die Hand am Gelenk halten, so dass der Gaukler die Sachen also nicht aus dem Ärmel herausholen kann, ganz abgesehen davon, dass der Mann meist mit nackter Oberkörper geht.
Georg hatte gerade dieses Kunststückchen — stereotyp wie die meisten — noch nicht gesehen, und daher war sein Staunen begreiflich, wobei er nicht Zu denen zu gehören brauchte die sich so leicht verblüffen lassen. Es ist, doch immerhin etwas ganz Außerordentliches, worüber man mit Recht staunen muss.
»Wunderbar! Fabelhaft! Wo bringt die nur diese Tiere her?«
»Ich weiß es auch nicht,« entgegnete Viviana. »Aber sei versichert, dass es keine Illusion durch Gedankenübertragung ist.«
»Das glaube ich schon. Also kann sie auch nicht alles aus der Hand kriechen lassen, was ich von ihr verlange.«
»Nein, das kann sie nicht. Eben weil es Wirklichkeit ist. Sie ist nur für gewisse Kunststücke eingerichtet.«
Die Gauklerin sollte diese Erklärung aber gleich Lügen strafen, obgleich sie in anderer Hinsicht doch richtig blieb.
Zunächst ließ sie den Vogelkopf wieder verschwinden, zeigte, dass sie in der Hand die drei Gegenstände hatte, schloss die Fingerchen, und aus jener seitlichen Handöffnung kam wieder der Schlangenkopf zum Vorschein.
Aber auch bei diesem Kopfe blieb es diesmal nicht, sondern der ganze Leib folgte nach, zunächst langsam bis Zur Hälfte, dann ließ die Gauklerin schnell die ganze Schlange nach unten herausgleiten, reichlich einen Viertelmeter lang, fasste sie am äußersten Schwanzende, hob das sich windende Tier hoch, Kopf zurück und Mund auf, und so ließ sie die Schlange in ihren Hals gleiten, verschluckte sie.
Nicht gerade sehr appetitlich, besonders bei diesem liebreizenden Dämchen sah es hässlich aus, aber man musste nun eben mit chinesischen Verhältnissen rechnen.
»Gut, gut, sell gut,« lächelte die Gauklerin und rieb sich vergnügt die Magengegend
Aber hierbei blieb es nicht, sondern sie zog mit der Fingerspitze eine Linie, vom Magen an hinauf über den linken Oberkörper, dann über die Schulter und den Oberarm bis Zum Ellbogen, weiter konnte sie mit dem linken Finger natürlich nicht reichen, es war schon erstaunlich genug, dass sie die Linie so weit ziehen konnte, dann schloss sie die Hand wieder, ein Reiben der Fingerchen, und zwischen ihnen erschien eine zweite Schlange, eben so schillernd und von derselben Größe, die gleichfalls verschluckt wurde, genau so, wie ein Italiener eine lange Makaroninudel in den Magen hinabbringt, ohne sie zu kauen.
»Was, die will doch nicht etwa behaupten, dass es dieselbe Schlange ist, die den Weg aus dem Magen durch den Leib nach oben nimmt, durch ihren Arm wieder in ihre Hand zurückkriecht?! «
»So sagt sie wenigstens,« lachte Viviana.
Noch zwei weitere Schlangen erschienen auf dieselbe Weise und wurden verschluckt.
»Ja, wo bekommt die denn nur alle diese Schlangen her?«
»Wenn man ihr glauben darf, so ist es immer ein und dieselbe Schlange!« lachte Viviana wieder.
»Ein sehr billiges Mittel, um seinen Hunger zu stillen, wenn der Magen dabei auch betrogen wird,« bemerkte nebenan Doktor Isidor.
Die Gauklerin sagte etwas Längeres auf Chinesisch.
»Du möchtest Deine Rocktasche etwas öffnen,« verdolmetschte Merlins Tochter, »sie will ihre Schmetterlinge hineinspazieren lassen.«
Diese junge Frau war auf die Kunst ihres Schmetterlingsspiels offenbar stolzer als auf ihre anderen Gaukeleien, und da hatte sie auch recht, sie verstand jedenfalls von allen die papiernen Schmetterlinge am besten zu beherrschen, auch hier während ihrer Produktionen mit der linken Hand hatte sie es bewiesen, die umsitzenden Zuschauer und besonders Georg fortwährend mit den bunten Papierschnitzelchen neckend, was aber nicht weiter beschrieben werden kann.
Also Georg setzte sich zurecht, öffnete die rechte Seitentasche seines Jacketts und sorgte dafür, dass sie gut offen blieb.
Zunächst ließ die Chinesin die Schmetterlinge in buntem Durcheinander um ihren Kopf gaukeln, dann streckte sie den linken Arm aus, die Schmetterlinge ordneten sich in der Luft zu einer Reihe, dicht nebeneinander, und plötzlich ließen sie sich alle gleichzeitig auf diesem Arme nieder, einer neben dem andern. Es war ein unbegreifliches Kunststück gewesen, dessen Effekt sich gar nicht schildern lässt. Wie die Schmetterlinge — es waren vierzehn Stück — in der Luft plötzlich eine Reihe gebildet hatten, wie die einexerzierten Soldaten, und sich mit einem Schlage auf dem ausgestreckten Arme niedergelassen hatten!
Nun lagen sie da, nun konnte man sehen, dass es nichts weiter als Zusammengefaltete und eingeknickte Seidenpapierschnitzelchen waren.
»Fabelhaft, fabelhaft!« staunte Georg wie alle die anderen.
Das war aber erst der Anfang gewesen.
Zunächst zählte die Gauklerin die auf ihrem Arme sitzenden Schmetterlinge, und das reizende, schlangenfressende Scheusal schien äußerst stolz darauf zu sein, dass es englisch bis vierzehn zählen konnte, freilich ohne das R aussprechen zu können.
»Welche!, welche!?«
»Du sollst den Schmetterling bezeichnen, der in Deine Tasche schlüpfen soll,« verdolmetschte Viviana die weiteren chinesischen Worte.
Georg bezeichnete einen in der Mitte, die Fächer in der rechten Hand klapperten, und sofort erhob sich der betreffende Schmetterling unter seinen ruhig sitzen bleibenden Kanneraden, gaukelte auf Georg Zu und schlüpfte in dessen Rocktasche.
Und so folgte einer nach dem anderen, wie Georg immer bezeichnete.
Dann, als alle vierzehn Schmetterlinge in seiner Tasche verschwunden waren, klapperten die beiden Fächer direkt vor dieser, und sofort schlüpften sämtliche Schmetterlinge aus der Tasche heraus, alle in einem Haufen, gaukelten einige Zeit in der Luft herum, bis sich einer nach dem anderen vom Schwarm ablöste und wieder in die Rocktasche schlüpfte.
Jetzt wiederholte sich das Herauskommen in anderer Weise, indem jeder einzeln zum Vorschein kam. Dabei konnte Georg einmal ganz deutlich beobachten, wie die Fächer auch nach rückwärts gehende Luftströmungen erzeugten, so dass also gewissermaßen oder auch tatsächlich ein luftverdünnter Raum entstand, in welchen der Schmetterling hineingezogen wurde. Sonst war es ja überhaupt auch gar nicht zu begreifen, wie sie die Papierschnitzel aus der Tasche herausbrachte.
Ganz, ganz wunderbar war es, wie sie jeden einzeln hervorlockte! Wohl kam es vor, dass manchmal gleich zwei durch den Wirbelwind hervorgezogen wurden, aber immer durfte nur einer abfliegen, der Zweite musste vorher zurück, bis auch er darankam.
Und am unbegreiflichsten war für Georg dabei, wie die nur mit den beiden Fächern in einer Hand auch den ganzen Schwarm in der Luft spielen lassen konnte, während sie sich doch so intensiv mit der Tasche beschäftigte! Und hier gab es keine fremde Hilfe, niemand anders befand sich in der Nähe!
Sie hatte jeden einzelnen gewissenhaft gezählt. Bis auf dreizehn war sie gekommen, der letzte fehlte noch, und
der wollte nicht aus der Tasche. Oder hatte sie sich im Zählen geirrt?
Alle Schmetterlinge mussten sich auf ihren Arm niederlassen.
Nein, es waren nur dreizehn.
»Wo ist del vielzehnte?«
Sie gab sich die größte Mühe, ihn aus der Tasche zu bringen, aber der musste sich in einer Falte verfangen haben.
Endlich wurde Georg aufgefordert, ihn selbst hervorzuholen.
Er fand in der leeren Rocktasche keinen vierzehnten Schmetterling.
Da öffnete die Gauklerin lächelnd ihre linke Hand, da lag der vierzehnte drin, erhob sich und gesellte sich dem ganzen Schwarme bei.
Es war ein Kunststückchen gewesen, dessen Effekt man nur nicht richtig zu würdigen wusste. Jeder hatte nur dreizehn Schmetterlinge gezählt, die aus der Tasche herausgekommen waren. Wie hatte sie den vierzehnten in ihre Hand bekommen? Nun, eben eine Täuschung. Sie hatte einmal zwei Zusammen herauspraktiziert. Ja, das war leicht gesagt, aber zu begreifen war es eigentlich nicht, wie, sie das fertig gebracht hatte.
Und es sollte sich gleich zeigen, dass diese Gauklerin noch etwas ganz anderes mit ihren Schmetterlingen fertig gebracht hätte, wenn sie nur gedurft hätte! Es sollte sich gleich zeigen, was unter dieser Bande für eine militärische Zucht herrschte!
Wieder ein quäkendes Kommando jenes männlichen Chinesen.
Es war ja keinem Zuschauer weiter aufgefallen, dass jeder Gaukler die beiden Fächer immer nur mit der rechten Hand geführt hatte, dass niemand einmal den einen Fächer in die linke Hand genommen hatte oder einen dritten hinzu, denn jeder hatte in seinem Gürtel noch andere Fächer stecken.
Jetzt aber, kaum war das Kommando erschollen, zog jeder aus dem Gürtel noch zwei andere Fächer, diese in die linke Hand nehmend. Also jetzt wurde mit vier Fächer gewedelt, jede Hand dirigierte zwei.
Zunächst begannen sie sich zu entkleiden, was ja auch freilich seine Schwierigkeiten hatte, indem sie doch mit beiden Händen die Fächer klappern ließen, so die Schmetterlinge spielen lassend, und diese langen Gewänder waren gar nicht so einfach abzustreifen.
Sie taten es mit den Füssen, traten auf den Strohsandalen, hoben die mit weißen Strümpfen bekleideten Füße, deren große Zehe isoliert war, lösten die Schärpen, zogen sich aus, bis sie alle in braunen Trikots dastanden.
Herrliche Gestalten, wenn auch alle etwas kurzbeinig geraten. Aber das vergaß man ganz über dem sonstigen Körperbau vom schönsten Ebenmaß.
Der eine Mann stellte sich in die Mitte der Manege, der zweite kletterte an ihm hinauf, ohne Benutzung der Hände, mit denen er ja die Fächer und Schmetterlinge dirigieren musste, stellte sich jenem auf die Schultern, dann kletterte seine Frau hinauf, eine zweite, die dritte, dann kamen die vier Kinder daran, bis alle neun Personen übereinander standen. Im Bauen solcher Pyramiden haben diese orientalischen Gaukler ja überhaupt etwas los.
Sie ließen ihre Schmetterlinge spielen, ein jeder einen Schwarm.
Da ein quäkendes Kommando, und die Sache änderte sich. Inwiefern, das war noch nicht gleich richtig zu erkennen. Man sah nur, dass die einen Schmetterlinge mehr in die Höhe flatterten, andere sich herabsenkten, bis das Resultat geschehen war. Jetzt hatte jeder einen Schwarm von nur einer einzigen Farbe.
Dies lässt sich nun freilich leichter sagen als ausführen. Es war ganz unbegreiflich, wie die diese Papierschnitzel von neun verschiedenen Farben von einander geschieden hatten, nur durch solches Fächerwedeln.
Und so ging das Spiel weiter. Die gleichfarbigen Schwärme senkten sich herab und stiegen in die Höhe, gingen durcheinander hindurch und waren doch immer wieder zusammen. Jetzt waren die weißen Schmetterlinge oben in der neunten Etage, die dunkelroten in der untersten, und alle Schwärme durchkreuzten sich, bis das Ganze umgekehrt war.
Es lässt sich weiter nicht beschreiben. Jedenfalls konnten sich die Zuschauer nicht sattsehen an diesem wunderbaren Spiele.
Die Pyramide wurde abgetakelt. Es kam die Schlussnummer dieses Schmetterlingsspiels, an sich wohl ziemlich unscheinbar, aber das Schwierigste hatten die Gaukler doch sicher bis zuletzt aufgespart, und das musste auch jeder Einsichtsvolle wohl erkennen, wenn es dabei auch ohne Bravourstückchen abging.
Jeder trieb seinen Schmetterlingsschwarm, wieder alle Farben durcheinander, nach der Mitte der Manege, dort sank alles zu Boden. Der eine Mann zeigte noch einmal, wie er alle die neun Farben durcheinandermengte.
Dann traten die neun Personen um den Papierhaufen herum und begannen mit den vier Fächern zu wedeln, in ganz eigentümlicher Weise, wie man es bisher noch nie beobachtet hatte, es war eine ganz andere Bewegung dabei.
Die Folge war, dass der Papierhaufen aufwirbelte. Zuerst alle Farben bunt durcheinander. Aber es dauerte gar nicht lange, so merkte man immer mehr, wie sich die neun Farben von einander trennten, obwohl immer noch in einem Wirbel zusammen — da, ein Kommando, jeder ging zurück, einen gleichfarbigen Schwarm Schmetterlinge nach sich Ziehend!
Es kam manchmal ein kleiner Irrtum vor, dass sich ein Schmetterling zu einem andersfarbigen Schwarm hielt, aber es war nicht anders, als ob dieser Papierschmetterling selbst seinen Irrtum einsehe, er verließ den fremden Schwarm und gesellte sich noch nachträglich zu seiner Farbe, und so kam man fast auf die Vermutung dass dieser Fehler absichtlich herbeigeführt worden war, um eben die Unfehlbarkeit in dieser Direktion zu beweisen.
Ganz erstaunlich war es ja auch schon, wie die Gaukler die Schmetterlinge jetzt nicht mehr vor sich her trieben, sondern hinter sich nachzogen!
»Das ist die schwerste Leistung, die es bei diesem Schmetterlingsspiel gibt,« erklärte Viviana. »Das bekommt vielleicht selbst der Kaiser von China selten zu sehen.«
Noch mehrere Male gingen die verschiedenen Farben bunt durcheinander jetzt aber immer in der Luft schweben bleibend, immer wirbelnd, wurden einzeln wieder zurückgezogen, dann ein Kommando, die Papierschnitzel fielen zu Boden, die neun Gaukler verbeugten sich flüchtig, hauptsächlich vor dem Maharascha, rafften schnell ihre Gewänder auf und sprangen hinaus.
Den ihnen nachfolgenden tosenden Beifall, den ihnen aber nur die Argonauten spendeten, hatten sie reichlich verdient.
Es war die Revanche des Maharadscha gewesen, nun wollte er sich wieder etwas vormachen lassen.
115. KAPITEL.
WIE EIN TEUFEL STIRBT.
Wir wollen und können nicht alle die weiteren Vorstellungen beschreiben.
Der sibirische Wisent und der amerikanische Bison lieferten sich gerade einen fürchterlichen Zweikampf, wenn auch ihre Hörner mit Kugeln geschützt waren, wobei letzterer Sieger bleiben sollte, als Georgs Schulter berührt wurde.
Es war wieder Merlin, der hinter ihm stand.
»Ein Mensch braucht Deine Hilfe, und Du wirst sie ihm nicht verweigern, auch wenn es Dein Feind gewesen ist.«
»Mein Feind?«
»Kapitän Satin.«
»Was ist mit ihm?«
»Das rächende Schicksal hat ihm endlich erreicht, er ist tödlich verunglückt, furchtbar verunglückt, er liegt im Sterben, kann unmöglich gerettet werden — aber es muss doch getan werden, was noch irgendwie zu tun ist, und da kann nur Dein Schiffsarzt in Betracht kommen.«
Schon war Georg aufgesprungen, um nach Doktor Isidor zu gehen, der einige Plätze entfernt saß.
»Und nimm doch einige Deiner Leute mit,« sagte Merlin noch, »vier Mann, der Verunglückte muss getragen werden.«
Georg wählte die vier Mann schnell aus, sie entfernten sich, von Merlin geführt.
Es war gerade eine so aufregende Kampfesszene in der Arena, dass dieses Entfernen von den anderen gar nicht bemerkt wurde.
»Was ist ihm denn passiert?« fragte Doktor Isidor hinterwegs, der glücklicherweise einmal ganz nüchtern war, als sie durch die Felsenkorridore schritten.
»Er ist in eine Maschinerie gekommen, ist total zermalmt worden. Seine Leute wussten nichts mit ihm anzufangen, sie brachten ihn mir, oder Kapitän Satin selbst hat es wohl verlangt. Ich weiß nichts anderes, als dass ich ihn Dir übergebe. Denn hier ist meine Macht zu Ende, hier bist Du als geschulter Arzt der Mächtigere.«
»Wo befindet er sich? Ich habe nichts weiter bei mir als ein kleines Taschenbesteck —«
»Ich dachte, Ihr nehmt ihn mit an Bord, oder doch in die Nähe Eueres Schiffes, wenn dieses nicht durch seine Gegenwart verunreinigt werden soll —«
»Davon ist gar keine Rede,« unterbrach diesmal Georg, »wenn er am besten in unserem Lazarett aufgehoben ist, dann kommt er hinein, und wenn es auch der leibhaftige Teufel selbst wäret.«
»Ich danke Dir. Hier liegt er schon.«
Sie hatten eine Felsenkammer betreten. In der Mitte derselben stand eine Bahre, bedeckt mit einem Tuche, unter dem man eine menschliche Gestalt erkannte.
Doktor Cohn hob das Tuch, warf nur einen Blick darunter, ließ es gleich wieder fallen.
»Ach Du lieber Gott! Lebt der denn wirklich noch?«
Die Antwort gab der vermeintliche Tote selbst.
»Hähähähähä!« erklang es meckernd unter dem Tuche.
Es war gewiss keine lächerliche Situation, zumal nach dem, was auch die anderen soeben Furchtbares unter dem Tuche zu sehen bekommen hatten, aber dieses meckernde Lachen auf jenen Ausruf hin wirkte wirklich humoristisch. Wenn es bei den Umstehenden auch nicht zu einem Lachen kam.
»Na, da fort mit ihm an Bord!« kommandierte Georg.
Das Schiff wurde durch Felsengänge, wobei Merlin wieder den nächsten Weg führte, erreicht, die Bahre wurde im Lazarett auf dem großen Operationstische niedergelassen, jetzt das Tuch entfernt.
Es war ein Wachstuch, das Blut konnte nicht durchdringen, so war der Verunglückte auch sonst gelagert worden, dass er beim Transport keine blutige Spur hinterließ.
Denn sonst lag er in einer Blutlache, es war überhaupt nur ein blutiger Fleisch— und Knochenbrei, was man erblickte, wenigstens die unteren Extremitäten waren vollständig zermalmt, dasselbe galt von den Armen und Händen, auch der Brustkasten schien eingedrückt zu sein, und Außerdem war der Mann skalpiert, die Kopfhaut ihm gänzlich abgerissen worden.
Mit Grausen blickte Georg auf das entsetzliche Bild herab.
Er hatte immer gehofft, diesem Manne noch einmal persönlich zu begegnen, seiner habhaft zu werden, um ihn im Guten oder im Bösen zu veranlassen, dass er vor Zeugen ein Geständnis ablege, wie er es gewesen sei, der damals in dem Neuyorker Hotel den Mord begangen habe, wofür der Bruder der Patronin als vermeintlicher Täter ins Zuchthaus gekommen und darin gestorben war.
Kapitän Satin hatte es ihm ja schon selbst gestanden, hatte damit renommiert, damals an Bord seines »Seeteufels«, aber das hatte doch wohl schwerlich genügt, um den Prozess wieder aufzunehmen, um die Ehre des unschuldig im Zuchthaus Verstorbenen wieder herzustellen.
Und nun war dieses persönliche Wiedersehen so erfolgt! Von dem war kein Geständnis vor Zeugen mehr zu erwarten, das wusste Georg gleich. An die entwendeten Flibustierschätze dachte er jetzt überhaupt nicht, da schon eher an den Ingenieur Breithaupt, den dieser Mann ja ebenfalls auf dem Gewissen hatte. Aber davon jetzt mit Fragen anzufangen, das hatte ja alles gar keinen Zweck mehr.
»Tja, da ist nichts mehr zu wollen,« sagte Doktor Isidor achselzuckend, ohne an eine Untersuchung zu gehen, ohne die blutige Masse nur zu berühren. »Der ist von einer Maschinerie so kunstgerecht in lauter kleine Stückchen tranchiert und frikassiert worden, dass ich ihn auch nach seinem Tode nicht wieder zusammenflicken könnte. Was haben ihn denn nur seine Leute noch zu uns geschickt?«
»Ich glaube, es war sein eigener Wunsch,« flüsterte Merlin, der selbst furchtbar erschüttert war.
»Tja,« machte der jüdische Schiffsarzt nochmals, »ich kann ihm nicht helfen. Höchstens — wenn die Anwesenden damit einverstanden sind, d. h. dass sie mich später nicht anzeigen, denn es ist etwas strikte Verbotenes, gerade einem Arzt aufs Strengste verboten, was ich vorhabe — höchstens, dass ich ihm ein Pulverchen eingebe, das ihn von allen Qualen befreit — nein, es ist gar nicht mehr nötig, der ist schon tot.«
Da aber, wie Doktor Isidor dies eben gesagt hatte, bewegten sich in dem entstellten Gesicht die blutigen Lippen.
»Hähähähähä!« erklang es noch einmal meckernd.
Das war aber der letzte höhnische Laut gewesen, den dieser Teufel im Leben von sich gab, durch den blutigen Brei ging ein Zittern, es streckte sich, was nur irgendwie noch zu strecken ging, der Kopf hob sich etwas und schlug wieder zurück, und — alle war es!
»So, der lacht nicht mehr,« sagte Doktor Isidor.
Sie blickten einige Sekunden schweigend auf den Toten herab, dann nahm Georg seine Kopfbedeckung ab, alle folgten seinem Beispiele.
»Was dieser Mann auch getan haben mag,« sagte er feierlich, »wir haben nicht mehr über ihn zu richten. Jetzt steht er vor einem höheren Richter. Ich lege nichts in die Wagschale seiner Sünden, ich verzeihe ihm, was er mir getan hat. Der Herr sei seiner Seele gnädig. Amen.«
Feierlichst hatte es Georg gesagt, wollte seine Mütze wieder aufsetzen, stockte erschrocken mitten in der Bewegung. Denn »Hähähähähähä!« erklang es da wieder aus dem blutigen Munde.
Alle standen ganz erstarrt da, und es war begreiflich. Nur Doktor Isidor war einer Bewegung und einer Bemerkung fähig, und was der nun für ein Gesicht dazu machte, als er es sagte:
»Na gottverpippich noch einmal! So etwas ist mir in meiner Praxis doch noch nicht passiert! Meckert der Kerl sogar noch nach seinem Tode!«
Wie er das gesagt hatte, und nun dieses Gesicht dazu mit den wackelnden Elefantenohren — die Folge davon war, dass wenigstens die vier Matrosen ein grunzendes Lachen von sich gaben, indem sie es unterdrücken wollten, was ihnen aber nicht gelang.
»Doktor, ist dieser Mann tot oder nicht?« fragte Georg ernst. »Das müssen Sie als Arzt doch beurteilen können.«
»Ich kann Ihnen nur sagen, dass ein toter Mensch eigentlich nicht mehr meckert, das ist mir etwas ganz Neues.«
Doktor Cohn ging doch noch an eine Untersuchung, so weit es da überhaupt eine Untersuchung gibt. Sämtliche Kennzeichen, um Tod von Scheintod zu unterscheiden, um überhaupt zu konstatieren, dass der Tod definitiv eingetreten ist, haben sich bisher als trügerisch erwiesen. Nur die beginnende Verwesung lässt keinen Zweifel mehr, was aber doch erst später eintritt und schließlich doch durch künstliche Mittel ganz aufgehoben werden kann.
Der Schiffsarzt hielt den Hauchspiegel vor die Lippen, prüfte den Puls, wo der noch zu prüfen war, lauschte durch das auf den Brustkorb gesetzte Stethoskop nach einem eventuellen Herzschlag, ließ dazu auch noch durch den Körper einen galvanischen Strom gehen »Meiner gewissenhaften Überzeugung nach ist dieser Mann tot, ist sozusagen mausetot, ist sogar eine tote Leiche —«
»Hähähähähä!« fing es da wiederum zu meckern an, wobei auch der eingedrückte Brustkasten erschüttert wurde.
Doktor Isidor hatte einen affenartigen Satz nach rückwärts gemacht.
»Die Wissenschaft kann sich irren,« sagte er dann einfach, »diese tote Leiche lebt noch.«
»Lassen wir ihn hier liegen, unter Beobachtung, entschied Georg, dann sein Taschentuch benutzend. »Wollen Sie selbst hier bleiben, Doktor?«
Ja, natürlich übernahm Doktor Isidor diese Beobachtung selbst, und den vier Matrosen schien es sehr recht zu sein, dass keiner von ihnen zum Dableiben aufgefordert wurde.
Denn geheuerlich war es niemandem zumute. Das hier war doch noch ein ganz anderer Fall, als der mit der jungen Inderin, die sich nun als Merlins Tochter entpuppt hatte. Bei der hatte man ja auch nicht gewusst, ob tot oder lebendig, aber bei der hätte sich niemand einer einsamen Wache zu entziehen gesucht. Das hier war eben etwas ganz anderes, etwas gar zu Grausiges, gerade dadurch, dass die ganze Sache durch das meckernde Lachen etwas Humoristisches bekam.
Tatsächlich, keiner der Matrosen hätte mit diesem lachenden Toten allein bleiben mögen, und erst recht nicht, wenn ihm der schreckliche Anblick des zermalmten Körpers durch ein verhüllendes Tuch entzogen würde. Man hätte fortwährend auf das meckernde Lachen gewartet. Der Waffenmeister sagte dann ganz offen, dass es ihm ebenso ginge. Er hätte nicht allein in der Kammer bleiben mögen, auch nicht am hellen Tage, von einer Nacht gar nicht zu sprechen.
Doktor Isidor machte sich nichts daraus, hielt auch ganz allein die Nachtwache, wollte von keiner Gesellschaft etwas wissen.
So war dieser Tag, die Nacht und der nächste Morgen vergangen. Ab und zu hatte ja eine der Hauptpersonen oder auch den Leuten wurde es gestattet, wenn sie den entsetzlichen Anblick einmal haben wollten — das Lazarett betreten.
»Hat er noch kein Lebenszeichen von sich gegeben?«
»Hädd he all wedder meckert?«
So und ähnlich wurde dann gefragt.
Doktor Isidor, der sich die Zeit mit Lesen, Kognak und Selterswasser vertrieb, konnte immer verneinen.
Am Mittag des zweiten Tages kam auch der Waffenmeister wieder einmal ins Lazarett, Doktor Isidor speiste gerade, hatte sich sein Mittagsessen auf dem Operationstisch servieren lassen, direkt neben der Leiche, speiste mit bestem Appetit.
»Hören Sie, Herr Waffenmeister — also diese Leiche ist wirklich tot. Nun gilts gar keinen Zweifel mehr. Merken Sie nichts?«
»Ich dächte, hier — hier — röche es recht unangenehm.«
»Wenn Sie das ein unangenehmes Riechen nennen, dann sind Sie ein unverbesserlicher Optimist. Die Zersetzung hat bereits heute nacht begonnen, der Kerl stinkt schon wie ein bereits vor acht Tagen an der jauchigen Wassersucht verreckter Ziegenbock —«
»Und da speisen Sie hier Schweinslendchen a la Jardiniere in Madeirasauce mit Blumenkohl und lecken sich die Finger ab? Na da guten Appetit!«
»Danke. Ich will Ihnen auch sagen, weshalb die Leiche jetzt unbedingt tot sein muss und warum der Kerl so schnell in Verwesung übergegangen ist. Ihnen will ich anvertrauen, den anderen brauchen Sies nicht zu sagen. Ich habe ihm schon gestern nachmittag eine Blausäurseeinspritzung gegeben, eine ganz konzentrierte Lösung, die auch kein echt höllischer Teufel nur eine Viertelminute überlebt. Was sollte denn auch anders geschehen. Zu retten war er doch nicht mehr, und wir werden uns von so einem meckernden Satan doch nicht auch noch im Tode veralbern lassen. Nun aber muss er schleunigst unter die Erde gebracht werden. Das ist, was ich Ihnen sagen wollte, weswegen ich Sie auch gleich aufgesucht hätte. Nur noch das Kompott hier und den Selleriesalat wollte ich mir zu Gemüte ziehen.«
Es geschah. Ein Aufruf, und einige Matrosen meldeten sich freiwillig, um behilflich zu sein, den Toten einzusargen. Auch Georg wollte dabei sein, um eben diesen Matrosen nicht an Heroismus nachzustehen.
Ein Sarg war im Handumdrehen gefertigt, die Leute hatten schon durch das Begraben der vielen Amazonen darin die größte Übung bekommen. An ein Entkleiden der Leiche war bei ihrer Verfassung gar nicht Zu denken.
Dagegen wurde jetzt gemerkt, dass dem Toten das linke Unterbein vom Knie an fehlte.
»Ich habe es ihm schon heute nacht abgelöst,« erklärte Doktor Isidor auf Georgs Frage, »mir fehlte unter meinen anatomischen Präparaten noch eine linke Achillessehne, die habe ich ihm abgenommen, musste ihm dazu natürlich den ganzen Unterschenkel abschneiden.«
»Hädd he dabie gemeckert?« musste ein Matrose fragen.
Der Fürwitzige bekam für seine Albernheit vom Waffenmeister einen Verweis, sonst wurde dieser ganzen Sache keine Beachtung geschenkt.
In eine Decke gewickelt, eingesargt und zugenagelt, der Kasten wurde nach dem Begräbnisplatze getragen, wo alle die Amazonen unter schlichten Erdhügeln ruhten, immer gleich dutzendweise.
Ein neues Einzelgrab wurde schnell ausgeworfen. Die Patronin hatte sich nicht eingefunden, keiner von ihren Gästen. Dagegen waren noch einige Matrosen und Heizer herbeigekommen.
Es ging ohne jede weitere Zeremonie vor sich.
Da, wie eben zwei Seile um den Sarg geschlungen wurden, prallten die hiermit beschäftigten Matrosen entsetzt zurück.
»Hähähähähähä!« hatte es ganz vernehmlich in dem Sarge geklungen.
Es lässt sich denken, wie auch alle anderen ganz erstarrt dastanden.
Im Augenblick zuckte durch Georgs Kopf nur ein einziger erklärender Gedanke.
Bauchrednerei!
Unter den Umstehenden war einer, der die Kunst des Bauchredens verstand, er hatte, gottlos, wie die Matrosen und ähnliche Geister nun einmal sind, das meckernde Lachen scheinbar in dem Sarg ertönen lassen. Im nächsten Moment müsste Georg diesen erklärenden Gedanken wieder verwerfen.
An Bord des Gauklerschiffes, was für Genies und Kapazitäten es auch sonst barg, befand sich niemand, der diese Kunst verstand. Im Laufe der Jahre hätte dies unmöglich verborgen bleiben können. Und ein Fremder war nicht zugegen, auch Merlin nicht.
Nein, das meckernde Lachen war wirklich in dem Sarge erschollen.
Oskar war es, der zuerst ein Wort fand und so ziemlich das ausdrückte, was jetzt alle dachten
»Nun schlage Gott den Deibel tot und diesen Kapitän Satin noch extra! Muss denn dieses stinkige Aas auch noch im Sarge feixen und meckern?«
»Öffnet den Sarg!« befahl Oskar.
Es geschah. Der Tote lag, wie er drin gelegen hatte. Vorausgesetzt, dass da überhaupt etwas zu unterscheiden gewesen wäre.
Da plötzlich stand unter den anderen auch Merlin, hinter ihm vier fremde Neger in grober Drillichkleidung. Niemand hatte ihr Kommen bemerkt.
»Was hat es mit dieser Leiche für eine rätselhafte Bewandtnis?« flüsterte Georg geradezu entgeistert.
»Ich weiß es nicht,« entgegnete Merlin ganz ruhig. »Wir können diesen Mann, der noch Laute von sich gibt, doch nicht begraben —«
»Das sollt Ihr auch nicht. Soeben kamen diese vier Männer zu mir, zu seinen Leuten gehörend. Sie bitten sich die Leiche ihres Kapitäns aus.«
Die konnten sie mit dem größten Vergnügen bekommen, gleich mit dem Sarge.
Und die vier Neger klappten den Deckel wieder zu, hoben den Kasten an den beiden Tragstangen auf und gingen mit ihm davon, verschwanden hinter einer Felsenecke, und mit ihnen auch wieder Merlin.
Die Zurückgebliebenen umstanden das Erdloch und wussten nicht recht, was sie nun anfangen sollten.
Bis ihr Waffenmeister das Wort ergriff.
»Wir wollen den anderen sagen, dass der tote Kapitän im letzten Augenblick von seinen Leuten abgeholt worden ist. Aber davon, wie er hier im Sarge noch einmal gemeckert hat, wollen wir niemandem etwas sagen. Es wird überhaupt mit keinem Worte mehr von ihm gesprochen. Verstanden? Das ist das beste Mittel, um diese alberne Geschichte so schnell als möglich zu vergessen. Denn sonst, wenn wir weiter über dieses Rätsel grübeln und schwatzen und plappern, dann veralbert uns dieser Teufelskapitän wirklich noch nach seinem Tode.«
So sprach Georg, und so geschah es.
116. KAPITEL.
GOG UND MAGOG.
»Kommen Sie mit, Waffenmeister?«
So wurde dieser am Nachmittage des folgenden Sonntags von Juba Riata gefragt.
Dieser Sonntag wurde wie immer in heiliger Stille begangen. In aller Frühe das gewöhnliche Deckwaschen, dann war Schluss aller Arbeit. Sonst gehen die Matrosen am Sonntag, wenn es die Verhältnisse erlauben, ihren Belustigungen nach, aber das musste hier, wo man die ganze Woche hindurch lärmenden Karneval feierte, ausgeschlossen sein.
Dagegen gehört zur seemännischen Heiligkeit des Feiertags unbedingt, dass man sich mit seiner Wäsche und sonstigen Kleidungsstücken beschäftigt. Nicht Zeugwaschen, sondern Ausbessern. Flickstunde.
Und dass der Seemann diese sonntägliche Flickstunde mit so tiefer Inbrunst auffasst, hat auch seinen tiefen Grund. Was soll denn sonst an Bord eines Schiffes daraus werden, wenn man sein Zeug nicht in tadelloser Ordnung zu halten sucht. Der Soldat in der Kaserne kann sich neue Strümpfe kaufen. Aber auf hoher See gibt es die nicht um alles Geld der Welt.
Der Herr Waffenmeister und Kapitän Georg Stevenbrock, in der Batterie auf einer Revolverkanone sitzend, Zog eine kleine, glattpolierte Kokosnuss aus dem grauen, plumpen Wollstrumpfe, der aber mehr kostete als manches Paar durchbrochener Seidenstrümpfe und dem jetzt kaum noch das schärfste Auge anmerkte, dass auch dieser Strumpf noch vorhin durchbrochen gewesen war, hinten an der Hacke mit einem tüchtigen Loch, steckte die Stopfnadel sorgfältig vorn ins Hemd und nahm von der Nase die große Stahlbrille, die er, schon etwas weitsichtig, bei solchen feinen Arbeiten trug — eine Arbeit, die er auch als Großadmiral keinem anderen überlassen, anvertraut hätte, so wie tatsächlich Admiral Schröder in den neunziger Jahren als Chef des Nordseegeschwaders noch mit eigener Hand sein Zeug in Ordnung hielt, so wie er auch einmal der versammelten Mannschaft seines Flaggschiffes mit eigener Hand demonstrierte, wie man die Seestiefel »insmürt«, nicht etwa mit der Bürste — »dat taun de Wiewer« — sondern das Fett muss immer fix mit dem Handballen eingerieben werden.
Köstliche Erinnerungen! Wie dieser alte Haudegen in Admiralsuniform vor den Augen von 400 strammstehenden Matrosen einen Seestiefel unter erklärenden Worten mit Fischtran bearbeitete, und wie nun alle die anderen Offiziere vom jüngsten Leutnant an bis zum ältesten Kapitän zur See — Oberst — aufmerksam spannen müssen, zumal es dem alten Admiral Schröder gar nicht darauf ankam, sich dieses Experiment vom nächsten besten Offizier nachmachen zu lassen! -
»Wohin, mein lieber Juba?«
»Eine halbe Stunde Kanufahrt von hier. Ich habe etwas Merkwürdiges gefunden.«
Dann, wenn Peitschenmüller nicht selbst mehr davon erzählte, fragte Georg auch nicht weiter.
»Ich bin bereit, ich komme mit.«
»Er trug sein Zeug weg und erschien bald am Strand in voller Ausrüstung, die aber nur darin bestand, dass er seinem aus Stiefeln, Hose und Hemd bestehenden Anzuge noch einen breitkrempigen Strohhut hinzugefügt, über die eine Schulter eine Decke, über die andere eine Doppelbüchse mit Patronentasche gehängt hatte.
Juba Riata erwartete ihn schon, sass in einem der ledernen Kanus, das allen Anforderungen entsprach und das Außer einem zweiten Mann auch noch Pluto aufnehmen konnte, den Bluthund, der freilich still sitzen musste, was das kluge Tier auch von ganz allein tat.
Sie griffen zu den Schaufelrudern und fuhren ab. Peitschenmüller lenkte quer über den See, der hier noch nicht seine ganze Breite hatte.
Gesprochen wurde nicht. Juba Riata war nicht sehr für Unterhaltung. Der konnte einen ganzen Tag lang mit jemandem zusammen sein, ohne einmal den Mund zu öffnen. Wenn er es jetzt doch tat, so musste es auch nötig sein.
»Ich hätte gern auch Doktor Cohn mitgenommen, aber der schlief, und Siddy sagte mir gleich, dass er jetzt nicht wach zu bekommen sei.«
»Haben Sie etwas gefunden, was den Schiffsarzt besonders interessieren dürfte?«
»Ja, in Felsen gehauene Figuren. Doktor Cohn ist doch wohl am besten in der alten Geschichte beschlagen. Verzeihen Sie, wenn ich das annehme. Oder haben Sie inzwischen mehr über das Urvolk erfahren, das einst hier gehaust hat?«
»Nicht mehr, als mir Merlin damals gesagt hat, und das war wenig genug, mehr weiß er wahrscheinlich selbst nicht, und das habe ich ja den anderen berichtet.«
»Nun, ich hielt es für meine Pflicht, Ihnen die merkwürdigen Figuren zu zeigen. Sie können ja dann entschließen, ob alle anderen sie besichtigen sollen. Meine Sache ist es nicht, da zu einem Massenbesuch aufzufordern.«
So sprach Juba Riata, der seinem Charakter eben immer treu blieb, und fiel in sein bisheriges Schweigen zurück. Was hatte es auch für einen Zweck, dass er die entdeckten Figuren näher beschrieb, wenn Georg sie gleich mit eigenen Augen schauen sollte.
Es ging in seinen Seitenarm hinein, ein kleiner See wurde passiert, wieder in einen schmalen Seitenarm, der sich erweiterte, wieder in eine Wasserstraße und so immer kreuz und quer durch weite und enge Geheimschluchten, die immer eine Kanufahrt erlaubten, in ein Labyrinth hinein, aus dem sich Georg allein nicht so leicht wieder herauszufinden getraut hätte, wie man überhaupt bei jedem Eindringen in diese Gebirgsschluchten Zur Überzeugung kam, dass hier eine hundertköpfige Schiffsmannschaft ein ganzes Menschenalter forschen konnte, jeder immer auf eigene Faust, und die meisten Schluchten wurden dennoch von keines Menschen Fuß berührt.
»Wir sind am Ziel,« sagte da Juba Riata.
Eine scharfe Biegung des träge fließenden Baches, eine breitete Schlucht eröffnete sich vor ihnen, und der merkwürdige Anblick war vorhanden.
In die glatte, himmelhohe Felswand waren in halber Plastik zwei kolossale, wohl 20 Meter hohe menschliche Gestalten eingemeißelt, Krieger mit Brustharnisch und Beinschienen, auf dem Kopfe einen einfachen Helm, in der rechten Hand ein Schwert, das im Verhältnis des ganzen Riesen etwas klein war, sich mit der linken Hand auf einen Schild stützend.
So schienen die beiden links und rechts stehenden Riesen eine nur schmale Steintreppe zu bewachen, die zwischen ihnen im Felsen hinauf und natürlich auch hineinführte, dadurch einen seltsamen Eindruck machend, dass diese Treppe durch die perspektivische Täuschung immer schmäler zu werden schien, bis sie sich ganz im Finstern verlor.
Das war das erste. Nun weiter befanden sich vor diesen beiden menschlichen Figuren am Boden zwölf Postamente, immer etwa zwei Meter voneinander entfernt, und auf dem einen Postament, auf dem vierten von links, stand eine schlanke Steinsäule, noch etwas höher als die beiden Riesen, dabei kaum einen viertel Meter im Durchmesser haltend, ganz frei auf dem Sockel, indem die schlanke, dünne Säule unten kegel— oder trichterförmig auseinanderging, einen solchen trichterförmigen Ansatz, aber einen bedeutend kleineren, hatte sie auch oben, so dass die ganze Säule einer kolossalen Posaune glich. Und die vielen umherliegenden zylindrischen Bruchstücke verrieten, dass auch auf den elf anderen Postamenten einst solche steinerne Riesenposaunen gestanden hatten. Sie müssten umgestürzt worden sein, sicher von Menschenhänden, denn sonst war schwer zu begreifen, wie auch das breite Kegelstück von dem Postament herabgekommen war.
Nur diese letzte Riesenposaune war stehen gelassen worden.
»Alle Wetter!« rief da Georg in hellem Staunen. »Am Ende haben wir da gar den Gog und Magog entdeckt!«
»Wen?« wunderte sich Juba Riata. »Was nannten Sie da für Namen?«
Georg berichtete.
Es war sein Zufall, dass er so ausführliche Auskunft geben konnte.
In Guildhall, dem Rathause von London, stehen vor einer Saaltür zwei Kolossalstatuen aus Holz, gepanzerte und mit dem Schwerte umgürtete Krieger. Der den Fremden führende Portier oder Diener erklärt, dass dies »Gog und Magog« seien, welche Figuren anno dazumal in einem Schutthaufen bei Cornwallis gefunden worden wären. Wahrscheinlich stammten sie aus der Römerzeit.
Mehr sagt der führende Nestor nicht. Mehr weiß er wahrscheinlich auch nicht über diese beiden Figuren. Trotz seiner vielen Ordenssterne und seiner schönen Pumphosen mit Schnallenschuhen. Diese beiden Kerls heißen eben Gog und Magog, und damit basta!
So war es damals, als unser Held das Londoner Rathaus mit seinem Besuche beehrte — und der Schreiber dieses, sei gleich hinzugefügt — und so wird es wohl auch heute noch sein.
Nun braucht man sonst gar nicht so wissbegierig Zu sein, kein Gelehrter, um von diesem Gog und Magog noch etwas mehr erfahren zu wollen. Zum Teufel, die beiden Holzfiguren können doch nicht so einfach die sonderbaren Namen Gog und Magog bekommen haben! Es muss doch irgend ein Grund dahinterstecken!
Übrigens, wenn man etwas frömmer wäre, d. h. wenigstens etwas mehr in der Bibel lese, dann würden einem diese beiden Namen gar nicht so unbekannt sein.
Da man sich aber nun leider um diese unerschöpfliche Fundgrube für die ganze Weltliteratur so wenig kümmert, so weiß man gar nichts davon, also schreibt man sich diese beiden Namen einstweilen hinter die Ohren, besser ins Notizbuch und schlägt dann bei Gelegenheit einmal in einem großen Konversationslexikon nach.
Es muss aber, will man mehr darüber erfahren, besonders auch die Quellenangabe, wo man Näheres nachzulesen hat, eine ältere Ausgabe sein. Die neueren Lexika haben sich zu viel mit Erfindungen zu beschäftigen, da werden solche Sachen immer nur mit wenigen Worten abgefertigt.
Die beiden Namen Gog und Magog werden in der Bibel dreimal unabhängig von einander erwähnt.
Das erste Mal im 1. Buch Mosis, 10, 2:
»Die Kinder Japhets sind diese: Gomer, Magog, Madai usw.«
Also wenigstens der Name Magog kommt vor.
Dann beschäftigt sich das ganze 38. und 39. Kapitel Hesekiel mit Gog und Magog.
Hier ist aber der Gog ein Fürst, ein König, der im Lande Magog herrscht. In diesen beiden Kapiteln weissagt der Prophet, dass nach der Wiederherstellung des Reiches Israels — was also bis heute noch nicht geschehen ist, denn da müssten nach allen Propheten die Juden erst ihren Messias gefunden, nach unseren Begriffen also Christum anerkannt haben — dass dann noch ein letzter, furchtbarer Ansturm der ganzen Heidenmacht unter jenem Gog stattfände, bis er vom Volke Gottes endgültig besiegt würde.
Und zum dritten und letzten in der Offenbarung Johannis Kap. 20, 8.
»Und der Satan wird ausgehen zu verführen die Heiden an den vier Örtern der Erde, den Gog und Magog, sie zu versammeln in einen Streit, welcher Zahl ist wie der Sand am Meer.«
Hier sind mit diesen beiden Namen also schon zwei Personen gemeint. — So weit die Bibel.
Nun gibt es noch heute eine Gegend, eine Stadt, in der noch heute ganz lebhaft von Gog und Magog erzählt wird.
Das ist die Gegend von Astrachan!
Unter der dortigen Bevölkerung zirkulieren noch heute ganz lebhaft die verschiedensten Sagen und historischen Berichte über die Hunnen.
Weshalb? Weil die Hunnen ihre Einfälle aus Asien nach Europa regelmäßig durch die astrachanische Tiefebene genommen haben! Und die sind ja viel öfter eingebrochen, als wir in Mitteleuropa davon wissen. Uns ist historisch beglaubigt nur ihr letzter Zug, der sie so weit nach Westen führte, wonach dieses rätselhafte Volk für immer aus der Weltgeschichte verschwand.
Und die Astrachaner bezeichnen noch heute mit Gog sind Magog zwei hunnische Könige. Das sind aber keine Personennamen, sondern das sind Titel! Die Hunnen sollen stets zwei Könige gehabt haben, von denen der eine den Titel Gog, der andere den des Magog führte.
Und je weiter man nun diese Sache verfolgt, desto interessanter wird sie.
Wir wissen ja von den Verfassungsverhältnissen dieses rätselhaften Nomaden— oder vielmehr Räubervolkes, das einst wie eine Gewitterwolke vernichtend über Europa hereinbrach, herzlich wenig — aber das wissen wir bestimmt, dass die Hunnenhorden, wenn sie im Kriege vereint waren, stets unter zwei Königen standen.
So hat auch Attila ursprünglich einen Mitregenten gehabt: seinen Bruder Bleda.
Attila, diesem ganz gewaltigen Herrschergeist, war dieser Mitregent hinderlich, er ließ ihn ermorden, schwang sich zum Alleinherrscher auf, was, wie wir jetzt genau wissen, bei den Hunnen die größte Ausnahme war. Sonst kannten sie immer nur Zwei Könige. Und Attila selbst trug dieser politischen Verfassung seines Volkes Rechnung, indem er als seine Nachfolger doch wiederum gleich Zwei Könige bestimmte: den Ellak und den Dengesich.
Nun, und kennen wir nicht noch andere Völker, die stets zwei Herrscher neben einander gehabt haben?
Gewiss. Zum Beispiel Japan. Die ursprüngliche Verfassung Japans schreibt immer zwei Regenten vor. Der eine heißt Mikado, was so viel wie »Volksbesitzer« bedeutet, der andere Siogon gleich Landeigentümer
Erst der jüngst verstorbene Mikado hat die Mitregentschaft des Siogons beseitigt.
Und dasselbe gilt auch für China. Auch China hat eigentlich immer zwei Regenten gehabt. Das ist uns nur niemals so zum Bewusstsein gekommen. War denn aber nicht zu unserer Zeit immer die Kaiserin-Mutter die eigentliche Herrscherin im Lande? Und den Chinesen war das ganz selbstverständlich. Ihr Sohn war nur Mitregent. Nach ihrem Tode ging die Revolution auch gleich los.
Und was bedeuten denn nun die Namen Gog und Magog?
Man braucht nur hinten das g wegzulassen, dann sind es ganz bekannte Worte. Das ist Chinesisch! Go heißt Mann, der Krieger, und Ma heißt Land. Mago würde also Männerland oder Kriegsvolk heißen.
Und wie haben sich die Hunnen selbst genannt? Sie zerfielen in die beiden großen Nationen der Kutrigoren und der Utigoren, diese wieder in die Horden der Sanigoren und Sanigoren.
Man sieht, überall kommt wieder das Go zum Vorschein!
Ebenso wie beim japanischen Siogon, das wäre der Gog, und wird man denn nicht beim Worte Mikado sehr an Magog erinnert?
Und nun wollen wir es kurz machen, wollen chinesische Geschichtsforscher sprechen lassen.
Im 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung rückte vom Norden her gegen China los mit ungeheurer Kriegsmacht ein rätselhaftes Reitervolk, das man noch nie gesehen hatte. Die Chiungnus, wie sie damals genannt wurden, kleine, untersetzte, überaus hässliche Menschen. Sie wurden nach langwierigen Kämpfen von den Chinesen besiegt. Der eine Teil floh nach Westen, ein anderer blieb im Lande, verschmolz mit den Chinesen, ein dritter Teil schlug sich nach Süden durch, schiffte sich nach den Inseln über, nach dem jetzigen Malaiischen Archipel, kehrte zurück und eroberte für immer die China direkt vorgelagerten Inseln, das heutige Japan.
So berichten chinesische Schriftsteller.
Und so ist es gar kein Zweifel: die heutigen Japaner sind die Nachkommen der ehemaligen Hunnen, vermischt mit chinesischem und malaiischem Blute! Das sieht man diesen Affenmenschen doch überhaupt gleich an, wenn man weiß, wie das Aussehen der Hunnen geschildert wird.
Und nun erinnere man sich der Prophezeiung des alten Hesekiel!
Und dann denke man an die heutige sogenannte gelbe Gefahr. Und dass die Japaner und Chinesen noch einmal über uns herfallen werden, als Buddhisten, also als Heiden, dass es auf der Erde noch einmal zu einem verzweifelten Rassenkampf kommen wird, das ist ja ganz zweifellos!
O es ist wunderbar, wunderbar!
Schließlich aber nicht wunderbarer als jene uralte Prophezeiung, wonach das israelitische Volk heimatlos in der Welt umherirren soll, verachtet und verfolgt, und dennoch immer das auserwählte Volk Gottes bleibend, alle Macht in Händen habend. Das Geld!
Und vor 2500 Jahren schon weissagte der Prophet Hesekiel oder Ezechiel von einem furchtbaren Verzweiflungskampfe zwischen dem gesamten Christentum und der gelben Rasse, welcher Kampf jetzt auf wirtschaftlichem Gebiete bereits begonnen hat!
Es ist wunderbar, wunderbar!
So hatte Georg seinem Freunde berichtet. Wenn auch nicht so weitläufig.
Dann aber hatte er noch etwas anderes hinzuzufügen.
Unter der Astrachaner Bevölkerung geht noch heute eine spezielle Sage über diesen Gog und Magog.
Die Hunnenfürsten und ihr Volk sind noch nicht ganz von der Erde verschwunden, sie sind noch nicht tot. Hoch oben im asiatischen Norden, irgendwo in einem unbekannten Gebirge, schlafen die beiden, Gog und Magog. Sie lehnen im Schlaf aufrechtstehend gegen die Felswand, riesige Kriegergestalten, und vor ihnen stehen zwölf riesige Posaunen. Und im Laufe der Jahrhunderte wird eine dieser Posaunen nach der anderen umstürzen, und wenn die letzte fällt, dann wird die Welt von einem furchtbaren Posaunenton erschüttert werden, und dann werden Gog und Magog erwachen, und die toten Hunnenkrieger werden aus ihren Gräbern steigen, und sie werden die Welt wiederum mit ihrem wilden Kriegsgeheul erfüllen, alle Kultur vernichtend.
So kann man in älteren Konversationslexikas lesen. Im großen Meyer z. B. in der Ausgabe von 1870.
Wie diese Sage entstanden ist, was die Zwölf Posaunen bedeuten sollen, weiß man nicht.
Ebenso wenig, wie man weiß, wo der Anfang der Sage mit dem Kaiser Barbarossa herstammt, der im Kyffhäuser schläft, um den die Raben kreisen.
Dagegen ist leicht erklärlich, weshalb diese Sage so lebhaft gerade in der Astrachaner Umgegend zirkuliert. Weil es dort eben noch heute viel hunnisches Blut gibt, man soll es den Leuten gleich ansehen. Da mögen sie dort noch heute von der alten Hunnenherrlichkeit träumen, die selbst einmal das mächtige Rom tributpflichtig machen konnte, mögen diese Zeiten zurückerhoffen.
»Peitschenmüller, wir haben hier den Gog und Magog mit ihren Zwölf Posaunen entdeckt!«
»So sollte an dieser Sage also wirklich etwas Wahres sein?«
»Irgend etwas Wahres ist ja an jeder Sage. Deshalb aber bleibt es doch immer eine Sage. Na, lassen wir das.
Jedenfalls haben wir hier den reellen Hintergrund gefunden, auf dem die Astrachaner Fabeln beruhen. Das sind doch zweifellos mongolische Gesichter und hunnische Gestalten, nur ins Riesenhafte übersetzt.«
Ja, das waren sie. Die noch ganz wohlerhaltenen Figuren hatten echte Mongolengesichter, hervorstehende Backenknochen und Schlitzaugen, die Nasen waren nicht abgeschlagen, wie man erst meinen mochte, sondern nur so Außerordentlich eingedrückt, und erst jetzt sei erwähnt, dass die Gestalten auch noch für ihre Riesengröße ungemein untersetzte Leiber mit ganz gewaltigen Schultern hatten. Und so werden uns die Hunnen geschildert, nur dass diese sehr klein waren, aber sonst sollen auch sie ganz unförmliche, fast rechteckige Leiber besessen haben, mit gewaltigen Schultern, das Urbild eines Hunnen, dessen Beschreibung am treuesten auf uns überkommen ist, war Attila — und diesen selben Körperbau finden wir auch bei den Japanern! Zumal bei den unteren Kasten, bei den Bauern, Fischern und Schiffern, die ihre hunnische Rasse eben wohl am reinsten erhalten haben.
»Besteht nicht wirklich eine große Ähnlichkeit zwischen unserem Wenzel—Attila und diesen Hunnengestalten?« meinte Juba Riata.
O ja, sie bestand.
»Schade, dass wir den nicht gleich mitgenommen haben,« setzte Peitschenmüller noch hinzu.
»Na, er wird es ja doch noch zu sehen bekommen.«
»Lieber nicht,« entgegnete Georg scherzhaft. »Der ist imstande und schmeißt diese letzte Posaune gleich um, damit die Hunnen als neue Welteroberer dann wirklich kommen.«
»Und Sie meinen, sie kämen dann auch wirklich wieder?«
Georg warf dem ganz ernsthaften Frager einen Blick zu. Nicht gerade einen erstaunten. Er kannte doch schon seinen Freund.
Es war ein ehemaliger Hinterwäldler und Cowboy, solche Naturmenschen huldigen doch allerhand Aberglauben, und das kam auch bei diesem sonst durchaus gebildeten Manne immer noch einmal Zum Durchbruch.
»Na, aus ihren Gräbern auferstehen werden die alten Hunnen wohl nicht wieder,« war dann Georgs Antwort. »Von wem aber mögen wohl diese steinernen Posaunen umgestürzt worden sein?«
Aufmerksam betrachtete Juba Riata die Umgebung.
»Von Menschenhänden sind sie nicht umgeworfen worden,« lautete dann sein Urteil.
»Nanu! Wie denn sonst? Wie sollen denn sonst die unteren steinernen Kegel, von denen jeder doch sicher einige Zentner wiegt, von den Postamenten herabgebracht worden sein?«
»Durch Wasserkraft. Dieser Bach muss manchmal übertreten und dann in dieser Schlucht schrecklich hausen.«
Juba Riata erläuterte näher, warum er dies aus gewissen Merkmalen schloss, und Georg musste ihm recht geben.
»Und wohin führt diese Treppe?« fragte letzterer dann.
»Bis zum Gebirgskamm hinauf, auf ein Plateau.«
»Sie waren schon oben?«
»Ja, heute früh. Man hat eine Stunde tüchtig zu steigen.«
»Und was sieht man oben?«
»Nach der einen Seite überblickt man unser Tal, nach der anderen sieht man in die freie Steppe hinab.«
»Sonst nichts weiter Interessantes?«
»Nach ungefähr zehn Minuten Steigens kommt man in eine Region, wo links und rechts von der Treppe Höhlengänge abzweigen. Da zeigte mir Pluto an, dass in solch einen Gang eines menschliche Spur führe.«
»Sie haben sie verfolgt?«
»Nicht sehr weit.«
»Weshalb nicht?«
»Es war ein ganzes Labyrinth von Gängen, ich hatte keine Lampe bei mir und alles Holz im Walde war heute früh noch zu feucht, um es als Fackel zu benutzen. Da habe ich mir erst eine Laterne besorgt.«
»Dann wollen wir die Spur einmal verfolgen!«
»Ich wollte Sie dazu auffordern.«
117. KAPITEL.
EIN ALTER BEKANNTER.
Sie erstiegen die etwa vier Meter breite Steintreppe.
Auf den Stufen stand hier und da noch Wasser, indem es heute nacht geregnet hatte, in diesem schattigen Gange, der sich immer tiefer in die Felsen hineinzog, trocknete es nicht so schnell ab, und daher war es auch erklärlich, dass der sonst so vorzügliche Spürhund nicht schon auf dieser Treppe die menschliche Fährte gewittert hatte, sie war vom Regen verwaschen worden.
Nach etwa zehn Minuten Steigens kamen zu beiden Seiten die Höhlengänge und in einem solchen zur rechten Hand zeigte Pluto alsbald auch wieder eine Spur an, gleich durch sein Benehmen verratend, dass sie von einem Menschen herrühre.
»Wie ich aber meinen Pluto verstehe,« meinte Juba Riata, »so ist es ihm kein ganz fremder Mensch. Mindestens weiß er schon im voraus, dass wir ihn nicht zu fürchten brauchen.«
»Es wird einer von der indischen Gesellschaft sein.«
»Das denke ich auch. Und auch wenn Pluto diesen Menschen selbst noch nicht gewittert hat, so wird es doch dieselbe Witterung sein, die dieser ganzen Gesellschaft wie jeder, die sich für sich hält, nun einmal anhaftet. Aber wird es einer solchen Person auch angenehm sein, wenn wir ihr nachspüren, da wir diesen Leuten doch Rücksicht schuldig sind?«
»Nun, wenn wir stören, so können wir uns ja sofort wieder zurückziehen. Sonst aber können wir doch nicht wissen, auf wessen Fährte wir uns befinden.«
Sie entzündeten ihre Taschenlampen und drangen ein, der Hund voran.
Er führte sie kreuz und quer durch Gänge, die leicht zu begehen waren, aber auch ein wahres Labyrinth bildeten, bis sie an eine hinaufführende Treppe kamen, die Juba Riata heute früh noch nicht erreicht hatte.
Pluto führte sie hinauf, höher und immer höher, drei normale Etagen hoch sicher, ehe wieder ein horizontaler Gang kam, da zeigte der Hund Unruhe, und da sahen sie auch schon deren Ursache.
In der Ferne schimmerte ein Lichtchen. Mit verdeckten Lampen schlichen sie vorwärts, und ganz besonders Georg leuchtete sich dabei vor die Füße, denn er dachte lebhaft an jene Rutschpartie, die ihn damals auch in solch einem finsteren Gange, als er in Begleitung Juba Riatas ebenfalls solch einem viereckigen Scheine zugestrebt war, plötzlich in die fatale Gefangenschaft der Amazonen befördert hatte.
Und wie ward ihm nun, als er den viereckigen Lichtschein, also einfach ein erleuchtetes Fenster, erreichet hatte und hindurchblickte.
Er sah nämlich so Ziemlich genau dasselbe wie damals!
Es war eine Felsenklause mit derselben Einrichtung, dasselbe Lagerbett mit allen anderen Hausgerätschaften, an der Wand dieselben schwarzen Rüstungen und mächtigen Schwerter, für einen Riesen bestimmt, derselbe Tisch mit derselben brennenden Lampe darauf, mit derselben aufgeschlagenen Bibel in deutscher Sprache, und schließlich auch derselbe Humpen.
Aber nicht, dass es dieselbe Felsenkammer gewesen wäre. Jene, nach der sie aus der Eisgrotte gelangt waren, befand sich ja ganz, ganz anderswo, lag jenseits des Sees.
Es war überhaupt eine andere Kammer, das sahen die scharfen Augen dieser beiden Männer gleich, sie war grösser als jene erste, hatte viel mehr aus dem Stein gehauene Vorsprünge und Konsole, dagegen war die Fensteröffnung kleiner, aber hier nicht durch eine Glasscheibe verschlossen.
Aber sonst war die Einrichtung der Klause dieselbe, und sie musste auch denselben Bewohner haben.
Nun, jener Klausner war einfach umgezogen, von dort hierher, vielleicht war jenes Erlebnis der beiden daran schuld, weil sie ihn in seiner Einsamkeit aufgespürt hatten, und nun müssten sie ihn hier zufällig zum zweiten Male finden.
Da bewegte sich an der Wand ein Vorhang aus Sackleinen, schnell wichen die beiden zurück, ohne den Blick durchs Fenster zu verlieren.
Ein Mann trat herein, ein Hüne, ein Riese, herkulisch gebaut, ganz schwarz gekleidet, in einem altertümlichen, holländischen Kostüm.
Der riesenhafte, schwarzgekleidete Mann mit der schwarzen Maske!
Es kam den beiden gar nicht so überraschend.
Sie hatten sich schon einmal darüber unterhalten, ob dieser Schwarzmaskierte unter den exotischen Gästen nicht vielleicht jener Klausner sei.
Wenn sie den damals auch gar nicht zu sehen bekommen hatten.
Aber es lag gar zu sehr auf der Hand.
Diese kolossalen Ritterrüstungen passten nur für solch eine kolossale Gestalt.
Und dann hatte man, so gut die schwarze Maske auch das Gesicht bedeckte, doch noch etwas Haut zu sehen bekommen, und die war schneeweiß gewesen, danach konnte sich dieser Mann nie Sonne und Wetter aussetzen, müsste sich immer in geschlossenen Räumen aufhalten.
Auch aus seinem Verhalten während der Vorstellungen konnte ein scharfer Beobachter mancherlei schließen.
Wohl verfolgte er alles mit größter Aufmerksamkeit, aber nie äußerte er eine Teilnahme, mochten sich seine sonst so ernsten, würdevollen Begleiter, die bärtigen Inder, auch noch so von der Begeisterung hinreißen lassen, niemals lachte er — und dennoch sah man deutlich, wie es in ihm zuckte
Er wusste sich eben mit aller Gewalt zu beherrschen.
»Zweifellos gehört er mit Zu jener geheimen Gesellschaft, in der Schwester Anna eine Hauptperson ist, noch weit über Merlin und dem Fürsten des Feuers stehend, und jedenfalls ist auch er einmal ein Abtrünniger gewesen wie der Kapitän Satin, oder er hat sich sonst etwas zuschulden kommen lassen, wofür er nun büssen muss, in der Einsamkeit, und wenn er hier zu unseren Vorstellungen mitgenommen wird, so ist auch das ihm nur eine Strafe, eine Qual, indem er sich vollkommen teilnahmslos zeigen muss, wie es in ihm auch kochen mag.«
So hatte Georg damals gesprochen, als er mit Juba Riata die Vermutung ausgetauscht, dass sie in der schwarzen Maske jenen ihnen unsichtbar gebliebenen Klausner vor sich haben könnten.
Übrigens hatte die schwarze Maske nur an jenem ersten Tage den Vorstellungen beigewohnt, dann war sie nie wieder unter der indischen Gesellschaft gesehen worden, die tagtäglich den Spielen der Argonauten beiwohnte, allerdings ohne sich diesen sonst irgendwie Zu nähern.
Und nun zeigte es sich, wie die beiden mit ihrer Vermutung recht gehabt hatten.
Der Eintretende war die sogenannte schwarze Maske.
Aber die hatte er jetzt nicht vors Gesicht gebunden.
Und es war ein ungemein gutmütiges Gesicht, das die beiden erblickten, geschmückt mit einem blonden Knebelbart, mit großen, blauen Augen, wozu man sich nun noch einen wahren Löwenkopf vorstellen muss, umwallt von einer blonden Löwenmähne.
Mit einem tiefen Seufzer ließ sich der Hüne auf dem schweren Stuhle nieder, dass dieser krachte, und begann in der alten Bibel zu lesen.
Nun konnten die heimlichen Beobachter sein Gesicht erst recht richtig im Lampenschein betrachten.
Ja, das Gesicht war weiß wie frischgefallener Schnee, aber von einem kränklichen Aussehen gar keine Spur, es war nicht nur dick, nicht nur pausbäckig, sondern es strotzte von runden Muskeln — und solche muskulöse Gesichter gibt es, man betrachte Tizians Simson! — es strotzte von Muskeln, wie die schneeweißen Hände und Finger, wie die ganze Hünengestalt, und die kerngesunde Lebenskraft leuchtete vollends aus den blauen, geradezu mächtigen Augen.
Ja, etwas melancholisch war dieses von der flachsblonden Löwenmähne umrahmte Germanengesicht. Aber vor allen Dingen war darin eine so Außerordentliche Gutmütigkeit ausgedrückt, dass man alles andere darüber vergaß.
Ein naives, ewig heiteres Riesenkind, das mit seinen sonnigen Augen vertrauensvoll auch in die schwärzeste Zukunft blickt, nur gegenwärtig, weil es sich einsam fühlte, etwas niedergeschlagen — das war der Eindruck, den man von diesem riesenhaften Manne bekam, immer deutlicher, je länger man ihn betrachtete, und der gewaltige Knebelbart konnte diesen kindlichen Eindruck nicht stören,
Übrigens las er nicht lange in der Bibel.
Plötzlich stutzte er, seine leuchtenden Augen flammten noch mächtiger auf.
Was war es für eine Bibelstelle, die ihn plötzlich so fesselte?
Nein, keine göttliche Offenbarung war es, die ihn inspirierte.
Oder vielleicht doch.
Über das Bibelblatt kroch etwas.
So gut war die Beleuchtung und so nahe standen die beiden Späher, dass sie deutlich sehen konnten, dass es eine kleine Spinne war.
Ein Holzspänchen genommen und die Spinne vorsichtig vom Blatt gehoben und auf den Tisch gesetzt, die Bibel als vorläufig überflüssig zurückgeschoben.
Die Spinne wollte das Weite suchen.
Schnell den Humpen hergenommen, etwas von der Flüssigkeit — und es schien nichts weiter als Wasser zu sein — auf den Tisch gegossen und um die Spinne einen nassen Kreis gezogen.
So, die war vorläufig gefangen, innerhalb eines mit Wasser gefüllten Burggrabens.
Aber sie sollte nicht gefangen bleiben, oder als Arrestant doch etwas mehr Bewegungsfreiheit genießen.
Auf dem Tische lag ein Stück Holz, mit einem Federmesser winzige Spänchen abgeschnitzelt, und der Riese begann mit seinen muskulösen Fingern ein winziges Brückchen über den Burggraben zu bauen, nachdem er noch eine zweite Wasserbarriere herumgezogen hatte.
Wir wollen einmal mit Georgs Kopfe denken.
Na, das kann ja noch gut werden! dachte der.
Nämlich wenn wir hierbleiben und weiter beobachten wollen, was der mit der Spinne noch alles anfängt.
Denn man weiß doch, auf was für Gedanken und Beschäftigungen ein intelligenter Mensch kommen kann, wenn er eingesponnen ist. Deshalb braucht man ja nicht gerade selbst schon hinter schwedischen Gardinen gesessen zu haben. Schaden tut es übrigens nichts. Kein braver Journalist, der nicht einmal gebrummt hat, sagte Bismarck. Oder wenn es wenigstens einmal der Karzer gewesen ist. Dann kann man mitsprechen. Es gehört wie mit zur allgemeinen Bildung, wenn man anfängt, eine Wanze zu dressieren.
Doch hier sollte das Spielchen bald beendet sein.
Mit einem Male war das Spinnchen aus seiner Wasserfestung verschwunden. Musste wohl in den weiten Ärmel gekrochen sein.
Der Riese hielt sich nicht lange mit einer Verfolgung des Flüchtlings auf.
Seinen gewaltigen Büffelschädel mochten dabei doch auch andern Gedanken durchkreuzt haben.
Plötzlich, wie er zur Decke emporblickte, nahm sein gutmütiges Gesicht doch einen recht, recht melancholischen Ausdruck an, und mit einem tiefen, tiefen Seufzer kam es über die bärtigen Lippen, in unverfälscht deutscher Sprache:
»O Gog und Magog, wann endlich werdet Ihr erwachen, wann endlich wird die letzte Posaune tönend stürzen, damit ich mit Euch kämpfen kann?«
Draußen die beiden blickten sich an.
Dann winkte Georg, schritt unhörbar davon, von wo er gekommen, und Juba Riata folgte ihm.
»Es widerstrebt mir,« sagte Georg dann, als sie Außer Hörweite waren, »diesen Einsiedler heimlich zu beobachten und zu belauschen. Ebenso auch, mich ihm zu zeigen. Seine Einsamkeit muss doch eine freiwillige sein, denn er hätte doch wohl Gelegenheit, zu entfliehen. Also wollen wir ihn nicht stören. Ich werde Merlin über ihn einmal fragen, und erhalte ich nur einen abweisenden Wink, so soll er mir genügen. Ich habe keine Ursache, mich in das Treiben dieser Menschen zu mischen, die ich als ganz vortreffliche erkannt habe.«
So sprach Georg, und einem Juba Riata genügte das. Nur noch eine Frage hatte letzterer.
»Er wartet darauf, bis die letzte Posaune ertönt und umstürzt, um dann mit Gog und Magog kämpfen zu können?«
»So sagte er. Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Vielleicht auch geistig umnachtet. Ich weiß es nicht.«
Hiermit war diese Sache erledigt für die beiden Männer.
118. KAPITEL.
DIE LETZTE POSAUNE.
Sie setzten das Ersteigen der Treppe fort.
Bald war die Anfangsspalte, obgleich die Treppe schnurgerade emporstieg, hinter ihnen kaum noch zu sehen, ebenso sah man über sich nur einen ganz schmalen Streifen des Himmels, infolgedessen wurde es immer dunkler, wenn auch nicht so, dass man die Laternen hätte benutzen müssen.
Und eine Hitze!
»Das ist ja der wahre Backofen, der unterm Äquator geheizt wird,« meinte Georg, sich den perlenden Schweiß von der Stirn wischend.
»Ja, es herrscht eine drückende Schwüle,« entgegnete Juba Riata, »es gibt sicher ein Unwetter.«
»Ein Unwetter? Wir hatten doch vorhin das herrlichste Wetter?«
»Das muss sich unterdessen geändert haben, wir konnten die aufsteigenden Wolken in der engen Schlucht nur nicht beobachten, von hier aus können wir es noch weniger. Aber das ist nicht nur eine gewöhnliche Hitze, die in diesem Kamin liegt. In der Atmosphäre bereitet sich etwas vor, ich fühle es ganz deutlich. Wir wollen uns beeilen, in diesem Kamin dürfen wir uns keinesfalls von einem Unwetter überraschen lassen.«
»Weshalb nicht? Was soll da für eine besondere Gefahr vorhanden sein?«
»Denken Sie nur, wenn jetzt ein heftiger Regenguss kommt, ein Wolkenbruch, nur ein kleiner braucht es zu sein. Wie ich das Plateau dort oben heute früh gesehen habe, so muss alles Wasser hier herabfließen. Wir geraten in einen Sturzbach, werden einfach fortgespült, können uns nur gleich verloren gehen.«
»Au weh!« machte Georg erschrocken. »An solch eine Möglichkeit habe ich noch gar nicht gedacht. Da wollen wir uns beeilen, wenn Sie so stark ein Unwetter vermuten. Oder wollen wir lieber umkehren?«
»Nein, lieber hinauf. Denn mehr als dreiviertel der Strecke haben wir schon hinter uns, und wenn es hinab auch schneller geht, das letzte Viertel aufwärts geht doch noch schneller.«
»Dann mal los!«
Sie nahmen immer gleich zwei Stufen auf einmal, was bei deren Beschaffenheit nur mit sehr großen Schritten möglich war.
So ging es noch eine Viertelstunde lang hinauf, und nur solche ausgebildete Sportleute und Athleten, wie die beiden es waren, konnten dabei nicht Außer Atem kommen, vermochten dies überhaupt auszuhalten.
Aber wie aus dem Wasser gezogen waren sie doch, als sie oben ankamen, einfach von der letzten Stufe hinaus und hinauf auf das freie Plateau tretend.
Weitere Umschau über das Plateau hielt Georg jetzt nicht, er hatte Zunächst etwas anderes zu betrachten den Himmel!
Es hatte seinen guten Grund gehabt, dass es in dem Treppenkamine so dunkel gewesen er und dass der auch dann, als oben die Spalte sich für das Auge wieder verbreiterte, nicht heller werden wollte. Die beiden hatten über sich immer einen tiefblauen Himmel zu sehen gemeint, einfach deshalb, weil dieser Himmel so beschaffen gewiesen war, von keinem Wölkchen getrübt, als sie sich noch unten in der Schlucht befunden hatten.
Jetzt aber sahen sie, dass dieser Himmel nicht tiefblau sondern pechschwarz war! Nur im Westen hatte er eine schwefelgelbe Färbung. Und auch hier oben herrschte jetzt in der fünften Nachmittagsstunde des Junitages eine Dunkelheit, dass man kaum noch zehn Schritte weit deutlich etwas sehen konnte.
Sonst war es jetzt bei drückender Schwüle noch völlig windstill, soeben kamen die ersten großen Tropfen herab, die auf dem heißen Steinboden sofort wieder verdunsteten.
»Alle Wetter, Juba — Sie haben recht gehabt — das gibt etwas, wie wir es hier in Sibirien noch nicht erlebt haben dürften!«
Kaum hatte Georg dies gesagt, als durch die Atmosphäre ein eigentümliches Sausen ging, eine Windsbraut kam angefegt, die gegen die bisherige Wärme geradezu eiskalt zu nennen war, und sie war es, die das ganze elektrische Spielwerk mit allen Nebenerscheinungen in Gang brachte.
Die erste Vereinigung der gespaltenen Elektrizität vollzog sich hier in dieser Gegend, vom Himmel lief zur Erde herab ein Blitz, der schon mehr eine gezackte Feuersäule zu nennen war, das fast gleichzeitige schmetternde Krachen war für das menschliche Trommelfell kaum noch zu ertragen, dann plötzlich stand der ganze Himmel unter einem Mordsspektakel in Flammen, und gleichzeitig begann das herabzuprasseln, was der Engländer beim Regnen »Bindfaden und Stricke« nennt.
»Wir müssen einen Schutz suchen.«
Das sagten aber die beiden nicht, sondern wie auf Kommando, als hätten sie es sich erst sorgfältig einstudiert, fassten sich die beiden plötzlich bei den Händen und rannten, was sie rennen konnten, der nächsten Felsformation zu, die sich auf dem Plateau erhob, und fanden auch wirklich gleich einen überhängenden Felsen, der sie vor dem Wassergusse vollkommen schützte.
Kaum hatten sie diesen Zufluchtsort erreicht, wohl schon tüchtig nass, aber doch noch nicht bis auf die Knochen, als Georg den dröhnenden Donner mit seinem schallenden Gelächter vermischte.
»Nun hört aber doch wirklich alle Gemütlichkeit auf! Solch einen plötzlichen Ausbruch eines Gewitters habe ich in der besten, gewitterverseuchtesten Tropenregion nicht erlebt — so deutlich habe ich noch nie mein Herz in die Hosen rutschen gefühlt!«
So lachte Georg aus vollem Halse, und merkwürdiger Weise stimmte auch der sonst so ernste Juba Riata ebenso herzlich mit ein. Eben weil er selbst ganz das gleiche Gefühl gehabt hatte.
Diese beiden Männer hatten sich einmal ins Boxhorn jagen lassen. Sonst machten sie sich ja nichts weiter daraus. Es war ein tüchtiges Gewitter mit einem tüchtigen Regenguss, nichts weiter. An eine Gefahr für ihre Gefährten dachten sie gar nicht, ebenso wenig an eine eigene hier oben. Wo sollte denn eine Gefahr liegen?
Anders war es, wenn sie daran dachten, wenn sie jetzt noch auf halbem Wege in dem Treppenkamin gesteckt hatten.
Diese Treppe war in Bezug auf solche Witterungsverhältnisse so unglücklich als möglich angelegt worden.
Aber es war ja überhaupt eine natürliche Felsenspalte, deren Boden ganz schräg hinaufging, bis er auf dem Plateau endete, und das, was die Natur geboten, hatte man eben zu einer Treppe benutzt, Stufen herausgemeißelt.
Diese Spalte, einige hundert Meter lang, lag an der tiefsten Stelle des Plateaus, das, sonst ganz eben, sich von allen Seiten hin darauf zu senkte, also musste auch alles Regenwasser nach dort abfließen, sich in die Spalte ergiessen, die jedenfalls überhaupt hierdurch erst entstanden war, durch Auswaschung im Laufe der Jahrtausende. Also das, was man in Amerika einen Canon nennt. Die Ureinwohner mochten sie deshalb, ehe sie die Treppe anlegten, mit einer Mauer umgeben haben, eben um das Regenwasser abzuhalten, es waren noch, wie spätere Untersuchungen ergaben, einige Spuren davon erhalten, jetzt aber floss alles Wasser von allen Seiten dort hinein.
Die unter dem Felsen Weilenden konnten es deutlich beobachten. Sie waren nur 20 Schritte von der Spalte entfernt, die unaufhörlichen Blitze sorgten für die nötige Beleuchtung. Von allen Seiten floss das Regenwasser gerade auf diese Spalte zu, ergoss sich hinein. Dazu brauchten ja nicht etwa große Fluten anzukommen, das Wasser berührte nicht den Fußrücken, aber bei einer Länge von einigen hundert Metern — und die Grösse des ganzen Plateaus kannten sie noch gar nicht — genügte das schon, um dort in dem Kamin einen wütenden Gießbach zu erzeugen. Später sollten sie es auch mit eigenen Augen erblicken.
Jetzt wollten sie sich lieber im Trocknen halten, sich nicht unnötig noch nässer machen. Und diese Vorsicht war sehr gut. Das Gewitter verzog sich schnell, aber der Regen währte fort. Stundenlang goss es in Strömen vom Himmel herab, und als er endlich nachließ, es nur noch leise rieselte, da war schon längst die Nacht angebrochen, eine stockfinstere Nacht.
Die Treppe mochte wieder begehbar sein, aber sie dachten nicht daran, jetzt hinabzusteigen, dazu hatten die beiden zu große Erfahrung, brauchten sich gar nicht erst zu beraten. Dass dort unten noch ihr Boot lag, darauf durften sie nicht hoffen. So, gut sie es auch befestigt hatten, der stundenlange Regenguss müsste dort unten in der engen Schlucht den sonst so friedlichen Bach ganz sicher in einen reißenden Strom verwandelt haben, der hatte das Kanu losgerissen, das war mit den beiden wasserdichten Decken und einigem Proviant auf und davon gegangen, daran war ja nun gar kein Zweifel.
Und was sollten sie dort unten in der Stockfinsternis herumtappen, da nützten ihre Taschenlämpchen nicht viel. Nein, sie mussten hier oben die Nacht verbringen, den Morgen erwarten.
Also sie machten es sich so bequem als möglich, jeder suchte sich — ironisch gesprochen — auf dem harten Stein die weichste Stelle aus, für den Kopf ein steinernes Kissen, und bald war Georg sanft entschlummert.
Wenn er sich dann recht erinnerte, so musste er etwas von einem jüngsten Gericht geträumt haben, als er erwachte.
Wieder goss es in Strömen vom Himmel herab.
Aber das war es nicht, weshalb er plötzlich in Todentsetzen auf seine Füße sprang.
Ein Ton erschütterte die Luft, der sich unmöglich beschreiben lässt.
Es war nicht anders, als ob hunderttausend Posaunen gleichzeitig mit seinem einzigen Tone schmetterten. Die Schwingungen der Luft waren so furchtbar, dass sie das Trommelfell zu zerreißen drohten. Unwillkürlich hielt sich denn Georg auch gleich die Ohren zu, er konnte den schrecklichen Ton aber dennoch kaum ertragen.
Glücklicherweise nur wenige Sekunden, dann nahm die Stärke schnell ab, wie in weiter Ferne verlor sich der schreckliche Ton.
»Um Gotteswillen, Juba, was war das?«
Neben ihm stand Peitschenmüller, er war nicht minder entsetzt, man hörte es gleich seiner Stimme an.
»Das war die Posaune des jüngsten Gerichts, anders weiß ich es nicht —«
Wieder geschah etwas, dass sich die beiden erschrocken packten, um nur ihre gegenseitige Nähe zu fühlen.
Ein furchtbares Krachen erscholl, das diesmal aber weniger die Luft, als vielmehr den ganzen Felsen in Schwingungen versetzte, das ganze Plateau erzittern ließ.
Noch ein nachfolgendes Poltern, es verklang und wieder herrschte Stille, bis auf den heftig plätschernden Regen.
»Um Gott, Juba, was war das nun wieder?«
»Da ist eine unterwaschene Felswand eingestürzt,« konnte der Gefragte jetzt mit Ruhe antworten.
»Und was war das für ein furchtbarer Posaunenton?«
Auch hierfür wusste Juba jetzt eine Erklärung.
»Es ist nicht nötig, dass wir glauben, Gog und Magogs letzte Riesenposaune habe diesen Ton von sich gegeben. Ich habe solch einen fürchterlichen Posaunenton schon einmal gehört, in Amerika, im Felsengebirge, und konnte seine Entstehung sogar mit den Augen beobachten. Ein unterirdischer Wasserlauf, bisher eingeschlossen, gewann plötzlich die Freiheit, und wie das Wasser aus der Felsenröhre hervorbrach, da erscholl auch solch ein merkwürdiger Ton von furchtbarer Heftigkeit.«
Ja, da kam dem Waffenmeister plötzlich die Erkenntnis. Auch er hatte solch einen Posaunenton schon einmal gehört. Wohl auch jeder Leser Zu Hause. Nur nicht mit solcher Heftigkeit.
In der Wasserleitung erschallen manchmal solche Töne. Das Wasser staut sich durch irgend ein Hemmnis, wahrscheinlich auch mit Luft vermengt, dadurch kommt die ganze Röhrenleitung oder ein Teil davon in Schwingungen, diese teilen sich der Luft mit, und in dem Hause vibriert ein eigentümlicher, machtvoller Ton, an eine Posaune erinnernd.
Und was hier in einer künstlichen Röhrenleitung geschieht, das wird die Natur wohl auch im großen ausführen können. Tatsächlich im amerikanischen Felsengebirge, wie aber auch besonders im Sinaigebirge, das ebenfalls mit engen Wassertunnels durchzogen ist, sind solche vibrierenden Posaunentöne öfters zu hören. Hier ist es der Stein, der ganze Felsen, der die Schwingungen aufnimmt und fortpflanzt und sie an die Luft abgibt, welche die Schwingungen in Töne umsetzt, wodurch aber natürlich auch ganz andere Töne entstehen als in den dünnen Eisenröhren einer Wasserleitung.
Es war gerade Mitternacht gewesen, als dies passiert war.
Noch zwei Stunden lang goss es in Strömen vom schwarzen Himmel herab, dann hellte sich dieser plötzlich auf, und da setzte in dieser hohen nordischen Breite auch schon die sommerliche Morgendämmerung ein.
Regnen tat es nicht mehr, aber noch immer floss reichlich Wasser ab, die beiden begaben sich hin nach der Spalte und sahen nun erst recht, wie das sich hinabergießende Wasser dort unten einen Sturzbach bildete, der natürlich an Fürchterlichkeit immer zunahm, je weiter er sich von dem Ausgange der Spalte entfernte. Denn da kam doch immer mehr Wasser hinzu. Da hätte sich kein Mensch und auch kein Elefant halten können, er wäre wie ein Stäubchen fortgespült worden.
Unterdessen, bis das letzte Regenwasser vollständig abgeflossen war, schritten die beiden an der Spalte entlang, um an den Rand des Plateaus zu kommen, von wo man, wenn das Terrain günstig war, in die Talschlucht hinabblicken können musste.
Sie sollten eine schauerliche Entdeckung machen.
Wohl legten sie ungefähr 300 Meter zurück, wohl erreichten sie den Rand des Plateaus, aber die ursprüngliche Grenze, die das Plateau noch gestern gehabt, war das nicht mehr!
Der Felssturz war in ihrer dichten Nähe erfolgt, die Felswand zu beiden Seiten des Treppenkamins war abgebrochen, in sich zusammen in die Tiefe gestürzt! Das konnten sie aus den frischen Bruchstellen ganz deutlich erkennen.
Ja, es war seine ganz schauerliche Entdeckung die sie da machten. Wohl waren sie noch 500 Meter von dieser Bruchstelle entfernt gewesen, wieviel abgestürzt war, konnten sie nicht beurteilen, jedenfalls aber hätten noch ganz andere Felsenmassen zusammenbrechen können, auch noch die Stelle, auf der sie gelegen, zumal man annehmen musste, dass der ganze Felsen unterwaschen war, und dann wären auch sie unter Trümmern begraben gewesen.
Und fürchterlich sah es dort unten aus, in einer Tiefe von 900 bis 1000 Metern. Georg konnte es deutlich mit blossen Augen erkennen.
Die ganze Talschlucht, durch die gestern noch ein harmloses Bächlein geflossen war, hatte sich in einen tobenden Strom verwandelt, und dort, wo sich die Trümmer der abgestürzten Felswand auftürmten, kochte es erst recht in fürchterlicher Weise.
»Da steht auch die letzte Posaune nicht mehr,« meinte Juba Riata.
»Und die beiden steinernen Riesen sind lebendig geworden,« fügte Georg hinzu.
»Lebendig geworden?«
»Na, sie haben doch wenigstens ihren alten Platz verlassen.«
Ja natürlich, die standen nicht mehr dort unten als Wächter neben der Treppe, dieser ganze Teil war ja zusammengebrochen.
»Merkwürdig,« sagte Juba Riata kopfschüttelnd, »so haben sich Gog und Magog in dieser Nacht wirklich bewegt, und dies geschah unter einem schmetternden Posaunentone und gleich darauf brach diese Posaune selbst zusammen. Merkwürdig! Da möchte man wirklich an Prophezeiungen glauben.«
»Hören Sie, Juba, wir wollen lieber nicht über diese alte Fabel nachgrübeln, wir wollen lieber Gott danken, dass wir gestern nachmittag hier heraufgeklettert sind. Denn wenn wir unten geblieben wären, dort unten einen Schutz vor dem Regen gesucht hätten in einer Höhle oder unter einem Baume, dann lägen wir jetzt ganz sicher dort unter den Felsmassen begraben. So haben wir nichts weiter als den Verlust unseres Kanus zu beklagen. Und dann freilich dürfen wir nicht mehr daran denken, dass wir noch die Treppe benutzen können. Die Schlucht erreichen wir auf ihr wenigstens nicht mehr, auch später nicht, wenn sich das Wasser verlaufen hat. Oder wir müssen uns auf eine halsbrecherische Kletterpartie gefasst machen.«
Natürlich, die Felswand war ja auf beiden Seiten der Treppe niedergebrochen. Wenn die Trümmer auch den Kamin nicht gefüllt hatten, so lagerten die Schuttmassen doch dicht davor, wie man es auch von hier oben aus erkennen konnte. Und das waren Schuttmassen, die sich nicht so leicht überklettern ließen, zumal doch alles nur lose zusammenhing, jeder Tritt konnte die ganze Masse wieder in Bewegung bringen, eine neue Zusammenbruchskatastrophe herbeiführen.
Sie begaben sich zurück ans Ende der Treppe und stiegen dennoch hinab. Untersucht musste die Sache ja doch werden.
Nachdem sie die Höhlenregion passiert hatten, sahen sie schon, dass sie nicht viel weiter kommen würden. Vor ihnen war der Kamin mit Wasser gefüllt, das zwar seitwärts in dem engen Schachte still sein musste, aber dort türmten sich die Trümmermassen auf, zwischen denen es fürchterlich kochte.
»Juba, das sieht gar nicht danach aus, als ob wir jemals diese Treppe wieder benutzen könnten, um das Freie zu gewinnen.«
»Und Außerdem steigt das Wasser noch,« setzte jener hinzu.
Nur eine kurze Beobachtung und Georg musste es bestätigen.
Schon nach fünf Minuten war das Wasser an der Treppe um mindestens einen Zentimeter höher gestiegen.
»Da wollen wir doch lieber gleich einmal sehen, was aus unserem Einsiedler geworden ist, jetzt ist Grund vorhanden, ihn anzusprechen. Wenn das Wasser noch länger so steigt, dürfte es uns zuletzt den Tunnel verschließen.«
Sie stiegen wieder empor. Plato nahm in dem betreffenden Höhlengange wiederum die Spur auf.
Beim weiteren Vordringen aber machten sie eine seltsame Entdeckung. Der Hund führte die unterirdische Treppe hinauf, den gestrigen Gang entlang, blieb stehen — zweifellos befanden sie sich an der Stelle, wo gestern das Fenster gewesen war, doch von diesem war jetzt keine Spur mehr zu bemerken.
Pluto führte sie auch noch weiter, offenbar der Fährte des Einsiedlers folgend, blieb aber wiederum an einer nackten Felsenwand stehen. Hier musste der Klausner seine Tür benutzt haben, von der aber nichts zu bemerken war, die nicht geöffnet werden konnte, wie man auch nach einem geheimen Mechanismus suchte, der ein Stück Felswand herausgedreht hätte.
Unverrichteter Sache mussten die beiden umkehren.
»Ich hatte gehofft,« sagte Georg, »der Klausner würde uns ein Frühstück vorsetzen können, ich werde immer lebhafter daran erinnert, dass wir gestern auch kein Abendbrot gehabt haben. Na, hoffentlich gibt es von dem Plateau noch einen Abstieg nach einer anderen Seite, den wir schleunigst benützen wollen, denn auf dem nackten Plateau selbst werden wir schwerlich eine gedeckte Tafel finden.«
Also sie erstiegen zum zweiten Male die Treppe, was wiederum fast eine ganze Stunde erforderte.
Als sie das Plateau erreichten, war es gegen fünf Uhr, die Sonne war unterdessen hochgekommen.
Es war ein ganz nacktes Felsenplateau, völlig eben bis auf einige Felsformationen, die man als Miniaturgebirge betrachten konnte. Nirgends hatte auch nur ein Grashälmchen Fuß fassen können. Eben weil jeder tüchtige Regenguss allen sich bildenden Humus von hier oben wegspülen musste.
»Von dort aus blickt man in die Steppe hinab, dort bin ich schon gestern früh gewesen, weiter bin auch ich nicht gekommen,« sagte Juba Riata.
Sie begaben sich hin, hatten noch etwa 250 Meter zu marschieren.
Wieder fiel hier die himmelhohe Felsenmauer ganz jäh hinab, und ein Anblick erwartete sie, den sie sich nimmer hätten träumen lassen.
119. KAPITEL.
DIE NEUEN HUNNEN.
Unter ihnen lag die Steppe sich unübersehbar nach Osten hinziehend, wie Silberfäden schlängelten sich sehr viele Bäche durch das im ersten Sommerschmuck stehende Gras, ein herrlicher Anblick — aber sie dachten jetzt nicht daran, diese Naturschönheit zu bewundern sie sahen überhaupt nur die riesenhafte Schlange, die sich durch diese Steppe bewegte, und diese riesenhafte Schlange bestand aus Menschlein, auf winzigen Pferdchen sitzend und dazwischen immer einmal ein Wägelchen von vier oder noch mehr Ochsen gezogen, wie auch solche Ochsen oder Rinder noch in ungeheuren Herden von Reitern getrieben wurden.
»Juba, Juba, was ist denn das für eine Völkerwanderung, die dort unten im Gange ist?« stieß Georg in grenzenlosem Erstaunen hervor.
»Das sind die Hunnen, welche durch Gogs und Magogs letzte Posaune wieder ins Leben gerufen worden sind,« entgegnete der Gefragte.
Und er hatte recht. Seine Adleraugen waren doch noch schärfer als die des Seemanns. Dieser musste erst sein Taschenfernrohr zu Hilfe nehmen, dann fand er seines Begleiters Ansicht bestätigt.
Das ausgezeichnete Taschenfernrohr zog 2mal heran, dadurch wurde jeder Gegenstand bei dieser Entfernung ungefähr aus 40 Meter dem Auge nahe gerückt, und da lässt sich ein Mensch schon deutlich unterscheiden.
Ja, das waren Hunnen, wie sie uns am besten, wenn man von Zeitgenössischen, aber sehr unklaren Schilderungen absieht, wohl Viktor von Scheffel in seinem Roman »Ekkehard« beschrieben hat, weil er eben erst gewissenhafte Quellenstudien gemacht hatte, dabei Fabel von Tatsachen unterscheidend.
Kleine, wilde, struppige Gestalten, in rohgegerbte Felle gekleidet, mit gelben Gesichtern von entsetzlicher Hässlichkeit, auf ebenso kleinen, wilden, struppigen Pferden sitzend, in einem roh aus Holz geschnitzten und gezimmerten Sattel, bewaffnet mit Pfeil und Bogen, Lanze und Schlingen, mit denen sie die ausbrechenden Rinder zurückbrachten die mit Fellen überspannten Planwagen mit vollen Rädern ausgestattet, auf ihnen hässliche Weiber und nackte Kinder massenhaft — so sind einst die Hunnen gewandert.
Und so weit das Auge reichte, bewegte sich diese mehrreihige Menschenschlange von Osten her durch die Steppe. Obgleich diese völlig eben war, für das Auge von keinem Gebirge begrenzt, konnte doch Georg mit seinem ausgezeichneten Fernrohr ihr Ende nicht erkennen, dann schmolzen die Figürchen zusammen, nur noch die dunkle Schlange ohne Schwanz war in dem grünen und blumigen Gras zu unterscheiden.
Die schlangengleiche Bewegung des Zuges kam daher, weil einige Vorreiter immer nach dem bequemsten Übergang über die angeschwollenen Bäche suchten, dorthin lenkte dann der Kopf der Schlange, dort wurden dann die Wagen durchs Wasser gezogen, wobei die nächsten Begleiter aus den Sätteln sprangen und mit in die vollen Räder griffen.
Woher kamen nun in solch ungeheurer Anzahl diese fremdartigen Menschen, die den ehemaligen Hunnen so ungemein ähnlich waren, sich mindestens in keine der bekannten Völkerrassen einreihen lassen wollten?
Denn dass man hier eine noch ganz unbekannte Völkerrasse vor sich hatte, das war den beiden sofort klar.
Nun, die beiden wussten ja, wo sie sich befanden: in einem asiatischen Waldgebiete, das sich vom Ob bis zur Jana erstreckt, 500 geographische Meilen lang und 1800 breit, das ist also ein Gebiet fünfzehnmal so groß als ganz Deutschland und das — aus Gründen die im 33. und 34. Hefte erläutert worden sind — noch viel unbekannter ist als der brasilianische Urwald.
Nun nehme man einmal Afrika an. Es vergeht doch fast kein Jahr, in dem nicht europäische Forschungsreisende ein neues, noch unbekanntes Volk finden, das noch nie mit Europäern in Berührung gekommen ist, oftmals von ganz gewaltiger Ausdehnung.
Und dabei ist doch Afrika schon so ziemlich erforscht. Wenn nicht Europäer, so kommen doch allüberall arabische Händler mit ihren Karawanen hin. Diese wollen den Europäern entweder nichts von diesen der anderen Welt noch unbekannten Völkern sagen, aus geschäftlichem Interesse, oder sie wissen wirklich noch nichts von ihnen.
Immerhin, es vergeht also fast kein Jahr, in dem von europäischen Forschungsreisenden nicht noch ganz unbekannte Völkerschaften entdeckt würden.
Dies gilt von Afrika. Wie mag es nun aber erst in dem ungeheuren Asien sein?
Man braucht nur an Tibet zu denken. Was hat es nicht für ungeheure Mühe einem Manne wie Sven Heddin gekostet, um mit diesem mächtigen Volke bekannt zu werden, das schon seit uralten Zeiten auf einer ganz bedeutenden Stufe der Kultur steht — wenn auch nicht mit unserer zu vergleichen — um uns auch nur die primitivsten Sitten der Tibetaner erzählen zu können! Von ihrem religiösen Kultus gar nicht zu sprechen.
Und nun dieses nordasiatische Waldgebiet von mehr als 150 000 geographischen Quadratmeilen, wobei diese Steppe, so unübersehbar sie auch selbst von hier oben aus sein mochte, gar nicht in Betracht zu kommen braucht, von welchem ungeheuren Gebiete man annimmt, dass nur einige tausend eingeborene Jäger es durchstreifen — sollte denn solch ein Terrain nicht wirklich mehr Menschen beherbergen?
Deutschland hat jetzt rund 65 Millionen Einwohner. Nun bedenke man, was für große Strecken man in gewissen Gegenden Deutschlands, in Ost— und Westpreußen aber auch anderswo, mit der Eisenbahn durchsausen kann, stundenlang am hellen Tage, ohne dass man einen einzigen Menschen, eine einzige Hütte erblickt!
Und dieses asiatische Waldgebiet ist fünfzehnmal so groß wie ganz Deutschland. Und da sollen sich nicht eine Million Menschen drin »verkrümeln« können in einer Weise, dass die andere Welt nicht das geringste von ihnen merkt?
Hierüber hatten sich die beiden unterhalten, mit eben solchen Argumenten.
»Spaß!« sagte Georg zuletzt, nachdem diese Erörterungen abgeschlossen waren. »Und wenn das wirklich eine Million Männer, Frauen und Kinder wären, zu welcher Zahl aber schon etwas gehört, und wenn es zehn Millionen Menschenköpfe wären — ich halte es für möglich, dass die sich in diesem ungeheuren Gebiete verborgen gehalten haben, wenn auch gar nicht mit Absicht. Die arrangieren jetzt eben eine Völkerwanderung, wollen sich einmal das weitere Land ansehen, natürlich mit der Absicht, jedes bessere Gebiet zu erobern.«
»Da könnte also noch einmal eine neue Welteroberung durch Hunnen entstehen,« meinte Juba Riata.
»Na, das nun weniger,« entgegnete Georg. »Wenn die weiter keine Waffen haben als Pfeile und Lanzen, dann sieht es traurig für sie aus, dann werden sie auf ihrem Eroberungszuge nicht weit kommen. Nicht einmal bis ins europäische Russland hinein. Die Zeiten haben sich unterdessen nun doch etwas geändert. Da werden diese russischen Regimenter höllisch schnell zur Stelle sein, zunächst die Kosaken, die mit ihren Karabinern umzugehen wissen, und dann kommen die Maschinengewehre angerückt, die alles Zusammenknattern. Nein, ein Weltumsturz durch solche primitive Hunnen ist heutzutage nicht mehr möglich. Die gelbe Gefahr, die von den Chinesen und Japanern ausgeht, die unsere europäische Macht und Kultur vielleicht einmal langsam erdrückt, bis es dann auch noch Zu offenen Feldschlachten kommt, das ist wieder etwas ganz anderes. Aber solche mongolische Nomadenhorden haben wir heutzutage nicht mehr zu fürchten, mit denen werden wir schon fertig, und wenn sie auch in Myriaden angeschwärmt kommen. Da kann ein einziger tollgewordener Bienenschwarm in einer Kavallerieschwadron schon mehr Unheil anrichten.«
»Auf wieviel Menschen schätzen Sie den Zug?« fragte Juba Riata.
»Auf 100 000 bis auf eine Million. Ich will hiermit sagen: das lässt sich überhaupt noch gar nicht schätzen. Ich kann ja noch nicht einmal mit dem Fernrohr das Ende des Zuges erkennen.«
»Wovon mögen sie sich auf einer längeren Zeit ernähren? Mit Jagd ist da nichts zu machen.«
»Sie führen doch genug Rinder mit, nicht nur solche, welche die Wagen ziehen müssen.«
»Ja, aber solche Menschenmengen essen, wenn sie nichts weiter haben, ganze Rinderherden schnell genug auf, das weiß ich aus bester Erfahrung — ah, sie treiben ja auch Schweine mit! Das ist schon etwas anderes!«
»Schweine? Wo?«
»Dort überall neben den Wagen werden sie ja getrieben.«
Georg hatte wohl schon Hunde zu sehen geglaubt, brauchte aber nur sein Fernrohr zu richten, so erkannte er, dass die vermeintlichen Hunde, die frei umherschwärmten, Schweine waren. Und in weiter Ferne wurden dann noch unermessliche Herden von solchen großen Borstentieren gesichtet.
Wenn diese neuen Hunnen Schweinefleischesser waren, wenn sie genügend Herden lebendiger Schweine mit sich trieben, dann allerdings konnte die Ernährungsfrage bei dieser Völkerwanderung für immer gelöst sein.
Kein anderes nutzbringendes Tier lässt sich so leicht ernähren und liefert in seinen Nachkommen so viel frisches Fleisch als das Schwein. Ein gewöhnliches Hausschwein bringt es im Jahre bis auf 20 Junge, ein Wildschwein womit hier wohl gerechnet werden musste, wenn es auch unter dem Schutze des Menschen stand — wirft jährlich sechs bis Zwölf Junge, und das reicht wohl aus, um eine ganze Familie zu ernähren.
Gesetzt den Fall, in Deutschland würde einmal acht Jahre lang kein inländisch erzeugtes Schweinefleisch mehr gegessen, während dieser Zeit aber immer intensiv die Schweinezucht betrieben, man würde die Schweine sich selbst überlassen, wodurch sie sich schnell wieder in echte Wildschweine verwandelten — nach acht Jahren brauchte in Deutschlands niemand mehr zu arbeiten, um sich zu ernähren, man brauchte nur noch Wildschweine zu erlegen und zu braten.
Es ist dies eine leere Phantasie, immerhin ist diese Berechnung von geeigneten Köpfen auch wirklich schon ausgeführt, ganz interessant.
Natürlich würde es dann auch kein Brot mehr geben, kein Korn und keine andere Frucht. Diese Wildschweine würden alles zerwühlen, dadurch den Boden wohl sehr fruchtbar machend, aber nur für Unkraut und den zukünftigen Urwald, der auf sumpfigem Boden nach ungefähr 50 Jahren ganz Deutschland wieder bedecken würde.
Doch wir wollen auf diese Phantasie nicht weiter eingehen. Jedenfalls waren diese Hunnen, wenn sie genug Borstenvieh mit sich führten, für immer auf ihren Wanderungen der Nahrungssorge enthoben. Das Wildschwein ist, so weit uns bekannt, gar keinen Krankheiten ausgesetzt und weiß auch im Winter immer Nahrung zu finden, wühlt sich durch den dicksten Schnee, wo kein Hirsch mehr durchkommt, und mästet sich Außer an gefrorenen Wurzeln auch noch an Insektenlarven aller Art.
Jetzt gingen die nach Furten suchenden Vorreiter zurück, der Kopf der Schlange bewegte sich der Felsenwand zu, auf der die beiden standen oder vielmehr schon lagen, um selbst nicht gesehen zu werden. Die Wagen fuhren im Halbkreis auf, immer mehr gesellten sich hinzu, es wurde also eine Wagenburg gebildet, wie es die wandernden Germanen und auch die Hunnen handhabten wenn sie für längere Zeit lagern wollten.
Wohl noch zwei Stunden beobachteten die beiden Freunde das Treiben dort unten. In der Nähe der Felsenwand war die Gegend dicht bewaldet, es wurde Holz gefällt, überall flackerten Feuer auf, an denen schon abgekocht oder wohl richtiger abgebraten wurde, noch ehe getötete Rinder und Schweine ausgeschlachtet worden waren. Man sah sogar deutlich, wie die Männer unter ihren Pferdesätteln schon vorhandene Fleischstücke hervorholten, die sie eben nach guter, alter Hunnensitte erst unter den Sätteln mürbe geritten hatten. Dabei rückten immer neue Scharen mit neuen Wagen und Viehherden an, dieses Lager immer mehr vergrößernd.
»Ja, mein lieber Juba, das ist alles höchst interessant aber ich muss gestehen, dass ich zunächst an mich denken möchte. Ich habe fürchterlichen Hunger. Und ich brauche gar nicht so egoistisch zu sein — wir müssen auch unsere Gefährten davon benachrichtigen, was wir für eine Nachbarschaft bekommen haben, auf deren näheren Besuch wir doch gefasst sein müssen.«
Sie erhoben sich und suchten das Plateau ab.
Wieder vergingen fast zwei Stunden, bis sie konstatiert hatten, dass dieses Plateau ungefähr einen halben Kilometer breit und drei Kilometer lang war, dass die Felswände nach allen Seiten glatt wie die Mauern abfielen und dass es nur noch einen zweiten Abstieg gab,wiederum eine künstliche Treppe, die nach der anderen Seite hinabführte, nach der Steppe zu, und offenbar führte sie gerade in die Wagenburg hinein.
Während dieser ganzen Zeit, während der letzten vier Stunden, schien das Wasser in der Talschlucht um nichts gefallen zu sein. Dort unten rauschte und schäumte es nach wie vor.
In dem Lager der Hunnen herrschte ziemliche Ruhe. Sie mochten trotz des fürchterlichen Regens die ganze Nacht gewandert sein, so dass sie sich jetzt der Ruhe hingaben. Aber für zahlreiche Wachtposten, weit in die Steppe vorgeschoben, war gesorgt.
»Ja, wenn wir hier oben nicht verhungern wollen, müssen wir dort zu den Hunnen hinab?« sagte Georg, seinen Gurt enger schnallend.
»Werden Sie wirklich so vom Hunger geplagt?«
»Ich habe faktisch seit gestern mittag nichts gegessen, und ich habe keine solche indianische Natur, um tagelang hungern zu können. Wenn ich etwas leisten soll, muss ich mich bei Kräften fühlen.«
»Was leisten?«
»Wir werden diese mongolischen Nomaden wohl nicht als Freunde ansprechen dürfen.«
»Hm. Mich wundert, dass sie noch nicht hier oben erschienen sind. Sollten sie die Treppe nicht von unten bemerken?«
»Wir müssen untersuchen, weshalb sie das nicht tun. Vielleicht geht sie auch im Zickzack, nimmt einen ganz anderen Weg, mündet ganz anderswo in der Steppe, so dass wir ungesehen an ihnen vorbeikommen. In unser Tal wollen wir dann schon wieder gelangen. Aber so lange warten, bis sie doch vielleicht die Treppe finden und sie ersteigen, wollen wir nicht. Begegnen wir ihnen als Feinde, so ist es schon besser, wir treffen mit ihnen auf der schmalen Treppe Zusammen, wo wir sie hinter einem Vorsprung so lange in Schach halten können, bis sich dort drüben das Wasser verlaufen hat. Oder haben Sie einen anderen Vorschlag Zu machen?«
Juba Riata wusste keinen. Sie stiegen hinab. Der Bluthund, von seinem Herrn mehr durch Gebärden und Streicheln als durch Worte instruiert, immer eine gute Strecke voraus, um rechtzeitig vor einer Gefahr zu warnen.
Diese Treppe führte richtig im Zickzack hinab. An jeder Ecke blickte Plato zurück und wusste durch Zeichen auszudrücken, dass die Luft rein sei.
So dauerte es wieder fast eine Stunde, bis sie das Ende der Treppe erreicht hatten. War es in dem Kamin schon immer dunkler geworden, so hätte es jetzt zuletzt ganz finster sein müssen, denn die Stufen mündeten in einer geschlossenen Höhle.
Aber ein eigentümliches Lichtspiel sorgte doch für hellere Beleuchtung. An der Wand vor ihnen zuckten Lichtstrahlen wie Blitze hin und her, und diese beiden erfahrenen Männer erkannten schnell, was hier vorlag.
Der Ausgang der geräumigen Höhle war mit Gebüsch bestanden, wohl dicht, aber nicht dicht genug, um nicht noch Sonnenstrahlen durchzulassen, diese fielen von Südosten her gerade darauf, und jedes sich bewegende Blatt half mit, dieses Spiel der Sonnenstrahlen zu erzeugen.
Sie schlichen näher an die grüne Mauer heran. Mussten sehr vorsichtig sein, denn sie hatten bereits menschliche Stimmen gehört, dazwischen das Brüllen von Rindern und Wiehern von Pferden.
Bald hatten sie geeignete Spalten gefunden, durch die sie blicken konnten. Die grüne Hecke zog sich jedenfalls an der ganzen Felswand entlang, die davor sitzenden Männer hatten keine Ahnung, dass sie hier eine Höhle verdeckte, in die eine nach oben führende Treppe mündete. Die Hecke, besonders aus Himbeersträuchern bestehend — und demnächst würde diese ganze Gegend, zumal das waldige Tal, Beeren aller Art in unermesslicher Fülle liefern, wie ja auch gerade das kalte Norwegen die Heimat der köstlichsten Waldbeeren ist — war kaum anderthalb Meter dick, und dicht davor brannte ein Feuer, um das vier Männer saßen.
Das war jetzt für die beiden die Hauptgruppe in der ganzen Lagerszenerie, die sie sonst hier zwischen den hochstämmigen Nadelbäumen ohne Unterholz vor Augen hatten.
Ja, das waren echte Hunnen, wie man sie beschrieben findet, wie man sie sich vorstellt.
Denn was Georg durch sein Fernrohr gesehen, ist nur wenig noch hinzuzufügen.
Durchweg sehr kleine, untersetzte Gestalten, manchmal durch die äußerst breiten Schultern richtig viereckig, mit gelben Mongolengesichtern, hervortretenden Backenknochen, Schlitzaugen und — was sonst nicht für alle Mongolen gilt — ein ungeheuer breiter Mund, gekleidet ausschließlich in Rehfelle, nur ganz roh gegerbt, die haarige Seite nach außen, aber meist kaum noch erkenntlich, denn alles an ihnen starrte von Schmutz und Fett. Um die Füße und Waden trugen sie aufgewickelte Riemen aus stärkerem Leder, auf dem Kopfe Pelzmützen der verschiedensten Art, wenn diese noch als solche zu erkennen waren. Eine Ausnahme schien nur zu bilden, dass sie nicht, wie wir von den ehemaligen Hunnen wissen, ihr schwarzes, straffes Haar kurz scherten, sondern es bis auf die Schultern herabhängen hatten, wodurch sie wieder den Samojeden glichen, oder auch den Eskimos. Das ist ja überhaupt alles ein Schlag.
Bemerkenswert war, dass die Lanzen— und Pfeilspitzen durchweg aus Stein, Knochensplittern oder starken Fischgräten bestanden. Sie kannten kein Eisen. Wohl auch kein Kupfer, Zinn und Zink. Sonst hätten sie doch wohl Messing oder härtere Bronze herzustellen gewusst. Es war nichts davon zu sehen. Auch die Messer waren von feiner dunklen Steinart. Dagegen waren die hölzernen Messergriffe, wenigstens die dieser vier Hauptpersonen, reich mit Silber und Gold ausgelegt, und das galt besonders von einem hölzernen Schilde, einen halben Meter hoch und etwas schmäler, der an einem Baume hing. Auch dieser war reich mit Silber und Gold ausgelegt, in Arabesken, die freilich jeden künstlerischen Geschmackes entbehrten, auch sonst nur eine ganz rohe Arbeit.
Das war Silber und Gold, nicht etwa Zink oder Zinn und Kupfer, das konnte man gleich unterscheiden. Es war auffallend, wie dieses Edelmetall an den Waffen sehr reichlich verschwendet worden war, während diese vier Männer, offenbar hohe Anführer, sonst nicht den geringsten Schmuck trugen.
Bis auf diese reichverzierten Waffen glichen die vier am Feuer Sitzenden ganz den anderen. Sie starrten genau so von Schmutz und Fett und getrocknetem Blut. Nur der eine zeichnete sich noch besonders durch seine Gestalt aus. Das war ein echter Attila, wie er uns von Zeitgenossen beschrieben wird. Viel größer mochte er nicht sein als die anderen, bildete aber noch ein ganz anderes Viereck. Zwischen den gewaltigen Schultern sass ohne Hals ein wahrer Büffelkopf, die Nase war so eingedrückt oder abgeplattet, dass sie kaum zu sehen war, und obgleich auch er nur Schlitzaugen hatte, so sprühte aus diesen doch ständig ein stolzes, verzehrendes Feuer, und so war auch in jeder Bewegung alles unbezähmbarer Stolz, so viehisch sich dieser Mensch auch sonst betragen mochte.
Die vier Zankten sich heftig. Das war aber nur scheinbar. Sie unterhielten sich nur in jener heftigen, schnatternden Weise, wie es alle Mongolen tun, auch die stolzen Japaner, wobei man immer glaubt, sie müssten sich im nächsten Augenblick in den Haaren liegen, während sie sich doch nur ganz gemütlich unterhalten. Auch hier waren kai und quai und tschai die Hauptlaute, die man zu hören bekam.
Man brauchte nur länger zu beobachten, so fand man doch heraus, mit welcher Ehrfurcht die anderen drei dem Breitschultrigen entgegenkamen. Hinwiederum dauerte es gar nicht lange, so holte der Breitschultrige mit der Hand aus und schlug mit dem flachen Handrücken einem anderen, doch sicher einem Häuptling ins Gesicht, dass gleich das Blut in dickem Strahle aus der Nase sprang und er hinten über schlug.
Aber das hatte in dieser gemütlichen Gesellschaft gar nichts zu sagen. Die beiden anderen lachten wiehernd auf, alle die anderen Hunnen, die es gesehen, lachten mit und ebenso auch der Geschlagene, der sich gleich wieder aufrichtete, immer ruhig das Blut aus der Nase fließen lassend.
»Schakai Gog, schakai Gog!« erklang es jubelnd und lachend im Chor.
Die beiden Beobachter wechselten Blicke.
»Da hätten wir also den oder einen Gog vor uns,« flüsterte Georg. »Übrigens eine feine Gesellschaft das, die müssen Knigges »Umgang mit Menschen« gründlich studiert haben.«
Der Gog, wie wir ihn nun gleich nennen wollen, also soviel wie König oder Kaiser, klatschte in seine ungeheuren Tatzen, die aber nur ganz kurze Finger hatten, und alsbald wurde von einigen Dutzend Hunnen ein widerspenstiger Bulle herangezerrt, ein wunderschönes Tier, wie man es sonst in den Alpen zu sehen bekommt, mit mächtigen Hörnern. Unter der dem Feuer am nächsten Kiefer wurde er an den Füssen gefesselt, der Hauptstrick über einen hohen, starken Ast geworfen, so wurde das Tier mit vereinten Kräften in die Höhe gezogen, also an den Füssen, aber in einer Weise, dass der Kopf noch tiefer herabhing, dann näherte sich ein Mann, ein gewaltiges, schwertähnliches Steinmesser in der Hand, wartete eine Gelegenheit ab, bis das geängstigte, furchtbar brüllende Tier einmal den Kopf still hielt, dann ein Schnitt über den Hals, und aus diesem schoss ein Strom rauchenden Blutes hervor.
Unterdessen hatte ein wohl noch junges, aber entsetzlich hässliches und ebenso schmutziges Weib vier große Schalen aus schwerem Golde gebracht, jeder der vier Häuptlinge nahm eine und hielt sie unter den Blutstrom, nicht anders, als ob sie die Schale unter eine Wasserquelle hielten, dabei war es ihnen ganz gleichgültig, dass sie selbst über und über mit Blut besudelt werden, und mit dem größten Behagen schlürften sie das dampfende Blut, während der Ochse noch zuckte, noch völlig lebte.
Noch einmal füllten sie ihre Schalen, dann erst kamen andere Hunnen mit hölzernen und steinernen Näpfen, um sich an dem Reste des Blutstroms zu delektieren.
Denn die größte Masse des Blutes war zwecklos auf die Erde gelaufen. Ein Zeichen, wie gering hier ein Rind im Werte stand. Wobei freilich auch zu bedenken war, dass es Fürsten waren, die sich einmal einen warmen Bluttrank zu Gemüte ziehen wollten.
»Na da guten Appetit,« konnte auch Juba Riata etwas humoristisch werden. »Die amerikanischen Rothäute trinken zwar ebenfalls das Blut von frisch geschlachteten Pferden und Rindern, die benehmen sich aber doch bedeutend manierlicher dabei.«
»Und ich,« fügte Georg hinzu, natürlich in ebenso leisem Tone, »möchte ganz gern an dem Gelage teilnehmen. Wenn ich auch nicht gerade Appetit nach dem heißen Blute habe, so möchte ich doch ein saftiges Beefsteak von diesem Ochsen haben, möchte gleich hineinbeißen, und ein kühler Trunk dazu wäre mir auch recht angenehm.«
»Werden Sie auch schon von Durst geplagt?«
»Ja, Juba, was soll daraus werden? Hier können wir nicht für immer stehen bleiben und beobachten. Wollen wir noch einmal nach der anderen Treppe, ob sich das Wasser verlaufen hat? Ich bezweifele es. Oder wollen wir hier männlich hervortreten?«
Sie sollten sich nicht lange zu beraten brauchen.
Plötzlich wurde die Höhle von einem roten, flackernden Lichte erfüllt, durch eine Seitenspalte, die sie vorhin in der Dämmerung gar nicht gesehen hatten, waren Hunnen eingedrungen, Fackeln in den Händen, immer mehr folgten nach.
Sofort hatten sie die beiden entdeckt, es konnte ja gar nicht anders sein, und die sahen auch gleich ein, dass hier jeder Widerstand nutzlos war.
Das waren viel, viel mehr, als wie sie über Schüsse verfügten, und auch mit dem Messer wären sie nicht durchgekommen, die ganze Höhle wimmelte plötzlich von solchen Hunnengestalten.
»Gut Freund!« konnte Georg noch rufen, in welcher Sprache er es getan, wusste er dann später selbst nicht, und da hatte sich auch schon der ganze Schwarm heulend auf sie geworfen, die beiden waren einfach zugedeckt, noch ehe sie wussten, wie ihnen geschah, wenn sie nun einmal nicht an Benutzung der Waffen gedacht hatten. Und ebenso schnell war der Bluthund trotz seines wütenden Beißens durch Schlingen unschädlich gemacht worden.
Unter Schnattern wurden ihnen die Hände auf dem Rücken gebunden, man riss sie empor, da hatten die Steinmesser auch schon eine Öffnung in die Himbeerhecke gehauen, sie wurden hindurch ins Freie gestoßen.
Das ganze Hunnenlager, so weit es sich zwischen den Bäumen überblicken ließ, kam in größte Aufregung, noch größer war das allgemeine Geschnatter.
Auch die vier Häuptlinge waren aufgesprungen, der Gog kam trotz seiner kleinen Figur mit ganz gewaltigen Schritten den beiden entgegen, ein Wink, und das Geschnatter verstummte.
Er fragte etwas, was natürlich nicht verstanden wurde. Einmal war Georg überzeugt, dass er auch Russisch sprach, aber Georg hatte die Zeit in Petersburg nicht weiter benützt, um vom Russischen mehr als die landläufigen Redensarten zu lernen, die man besonders in Restaurationen nötig hat, sonst hätte ein Seemann ja auch viel zu lernen.
»Sprechen Du Deitsch?« erklang es da zu seinem höchsten Staunen aus dem breiten Maule des abgebrochenen Riesen, der aber trotz aller Schmierigkeit immer einen wahrhaft majestätischen Eindruck machte, besonders das Blitzen der Schlitzaugen war wirklich achtunggebietend
Nun, weshalb sollte er nicht etwas Deutsch können? Ganz Russland und auch Sibirien ist ja mit Deutschen oder doch Deutschsprechenden durchsetzt.
»Ja, ich spreche Deutsch ich bin ein Deutscher.«
Und der Gog konnte nicht nur diese Frage ausdrücken, er sprach vollkommen Deutsch, wenn auch noch so holprig und ungrammatikalisch und sonst in merkwürdiger Weise, das wir aber nicht weiter wiedergeben wollen.
»Wer seid Ihr?«
Georg hielt es für das Klügste, ganz bei der Wahrheit zu bleiben. Mit einem Schiffe vom nördlichen Eismeere auf Flüssen ins Innere von Sibirien gefahren, ein von Felswänden eingeschlossenes Haus gefunden, wo man schon drei Monate Zugebracht hatte, gestern nachmittag in einer Schlucht eine Treppe erstiegen, Wolkenbruch, die Treppe verschüttet, eine zweite Treppe hinab, die hier in diese Höhle führte, wo man das Lager der fremden Männer beobachtet hatte.
So hatte Georg kurz und bündig berichtet. Natürlich nichts von den steinernen Figuren und Posaunen und dem Einsiedler, das war jetzt ja auch gar nicht nötig.
Schweigend, ohne ihn zu unterbrechen, hatte der Gog zugehört. Dabei aber hatte er immer aufmerksam die den beiden abgenommenen Gewehre und besonders die Jagdmesser untersucht, sich von deren Schärfe überzeugend.
»Ein Schiff, gut, ich weiß,« sagte er jetzt, als Georg seinen Bericht beendet hatte. »Und das hier nennt Ihr Gewehr oder Büchse?«
»Ja.«
»Damit schießt Ihr.«
»Ja.«
»Dabei knallt es.«
»Ja.«
»Zingo!«
Ein Mann trat vor, der den beiden schon aufgefallen war. Er war bedeutend grösser und schlanker als die anderen Hunnen, hatte ganz andere Gesichtszüge — Georg hatte überhaupt in dem schon älteren Manne gleich einen Zigeuner vermutet, der Name, mit dem er gerufen worden, hatte es ihm bestätigt.
Unsere Zigeuner werden in Italien Zingari genannt, Einzahl Zingaro, oder auch nur Zingo, in Russland heißen sie Romanischaves, wörtlich Menschenkinder, aber merkwürdigerweise führen gerade hier die Hälfte aller männlichen Zigeuner den Vornamen Zingo.
Der Gog redete ihn in seiner mongolischen Sprache an, der Zigeuner nahm das eine Gewehr, wendete es hin und her, untersuchte die Patronentasche, lud die Gewehrkammer, kannte die Konstruktion des Schlosses offenbar nicht, hatte sich aber schnell hineingefunden, legte an, zielte nach einem nahen Baume, der Schuss krachte.
Die Wirkung des Knalles, des Feuerstromes war eine ganz kolossale. Sofort aber ward auch offenbar, wie sich diese schnatternden, bei ihren Gesprächen sonst immer so aufgeregten Männer zu beherrschen wussten, wenn es einmal darauf ankam.
Sie alle waren erschrocken zusammengezuckt. Schreck und sogar Entsetzen malte sich in den hässlichen Zügen wider, dann aber war es sofort vorbei, es wurde Gleichgültigkeit geheuchelt, und allen gelang dies auch vollkommen.
Der Gog begab sich hin nach dem Baume, untersuchte die Stelle, wo die Kugel eingeschlagen war, wollte sie mit seinem Steinmesser herausholen, als ihm das nicht so leicht gelang, überließ er dies anderen, nahm das Gewehr, lud es selbst, sich ebenso unkundig aber doch geschickt beweisend, ließ sich von dem Zigeuner noch einmal über das Visieren belehren, zielt nach einem anderen Baume, feuerte, ging hin, untersuchte den Schuss wieder und kam zurück. Sein Gesicht drückte die spannendste Erregung aus, er wusste sich aber zu beherrschen.
»Gut, Zingo hat nicht gelogen. Du bist ein Mann aus dem Lande, wo es Eisen gibt. Ist’s nicht so?«
»Ja, Eisen gibt es bei uns.«
»Aber Du bist kein Russe.«
»Ein Deutscher.«
»Die Russen wohnen in Russland, die Deutschen in Deutschland.«
»So ist es.«
»Die Russen wollen Herrscher in diesem ganzen Lande sein, wo wir jetzt sind.«
»Ja.«
»Und dann kommt Deutschland es grenzt an Russland.«
»Ja.«
»Das ist noch weit von hier.«
»Noch sehr weit.«
»Wie weit? Wie lange braucht ein Mann, wenn er von früh bis abends geht?«
»Ungefähr hundert Tage,« sagte Georg aufs Geratewohl.
»Hundert, gut, ich weiß, hundert,« nickte der Gog gravitätisch. »Wieviel seid Ihr auf dem Schiffe gewesen?«
»Zweihundert,« entgegnete Georg kurzerhand, dabei die Indianer und englischen Seeleute mit einrechnend, wenn das ja auch eigentlich nicht stimmte.
»Nur zweihundert? Dann ist das kein sehr großes Schiff.«
Oho! Das klang verwunderlich!
»Doch, es ist ein sehr großes Schiff.«
»Es gibt Schiffe, auf denen tausend und noch mehr Menschen sind.«
Jetzt wusste Georg, was hier vorlag. Dieser Hunne war noch nicht mit anderen Menschen in Berührung gekommen, die Feuerwaffen besessen hatten, das war ja zweifellos. Aber dieser Zigeuner kannte die andere Welt, der hatte ihm auch schon von Kriegsschiffen und großen Passagierdampfern erzählt.
»Es ist ein Schiff von 50 000 Tonnen, mehr als hundert Meter lang.«
»Tonnen? Meter? Gut, ich weiß. Bist Du ein Häuptling von diesem Schiffe? Ein — Offizier, sagt Ihr doch wohl? Bist Du?«
»Ich bin der zweite Kapitän dieses Schiffes.«
»Kapitän. Gut, ich weiß. Alle die zweihundert Männer gehorchen Dir?«
»Sie gehorchen mir. Es sind aber auch Frauen und Kinder dabei.«
»Gut. Also, Du bist der zweite Kapitän, so viel wie der Magog.«
»Ich glaube wohl, dass meine Stellung so viel wie die eines Magogs ist.«
»Gut. Und Du stehst vor dem Gog der Kuturgoren. Weißt Du, was das ist? Hast Du diesen Namen schon gehört?«
»So nannten sich selbst jene Menschen, die wir Hunnen nannten.«
»Hunnen, gut, ich weiß,« erklang es immer wieder. »Was taten diese Hunnen?«
»Sie fielen einmal erobernd in Europa ein, kamen bis nach Deutschland und Italien.«
»Italien — gut, ich weiß — Rom. Wann war das?«
»Vor ungefähr 1500 Jahren.«
»Im fünften Jahrhundert nach —«
Erwartungsvoll blickte das feuersprühende Auge bald nach dem Gefragten, bald nach dem Zigeuner, der ebenso erwartungsvoll daneben stand.
»Nach Christi Geburt,« ergänzte Georg und musste sich doch immer wieder wundern, hier so examiniert zu werden.
»Christus — gut. Und wie hieß der Gog, welcher die Hunnen damals führte?«
»Attila.«
»Und der Magog?«
»Es war Attilas Bruder Bleda,« glaubte Georg wohl richtig zu antworten, und jener bestätigte es durch Kopfnicken.
»Gut. Und ich bin der Gog Rugila.«
Dann hieß der gerade so, wie der Vorgänger und Oheim Attilas geheißen hatte.
»Wo liegt Dein Schiff?« fuhr jener dann fort.
»Auf dem See eines Tales, das sich hinter dieser Felswand befindet.«
»Du kannst nicht den Weg zurück, den Du gekommen bist?«
»Ich bezweifle es. Wie ich Dir geschildert habe, ist die andere Treppe infolge des gestrigen Wolkenbruches zusammengestürzt.«
»Gibt es nicht einen anderen Weg in das Tal?«
»Ich muss ihn erst suchen.«
»Du kennst noch keinen?«
»Wir sind auf dieser Seite des Tales noch niemals gewesen.«
Die Augen des Hunnenherrschers schienen Georg durchbohren zu wollen, aber er musste wohl mit den Antworten zufrieden sein, er glaubte jenem, das sah man ihm gleich an.
»Ist dieses das Tal des Obi?« erklang es dann wieder ganz unvermutet.
»Ja.«
»Wer wohnt darin?«
»Wir haben darin zuerst keine Bewohner gefunden —«
»Du lügst!« fuhr da der Gog mit drohenden Brauen etwas empor.
»Zuerst nur einen einzigen Mann —«
»Wie hieß dieser?«
»Er nannte sich Merlin.«
»Gut,« erklang es immer wieder, wohl etwas düster, sonst aber befriedigt.
Dann fiel der Gog in tiefes Sinnen. Minuten vergingen, und er schien daraus nicht wieder erwachen zu wollen. Regungslos und schweigend standen auch alle anderen da, auf ihren Führer blickend.
»Erlaube mir, Gog, dass ich unaufgefordert spreche,« brach da endlich Georg das drückende Schweigen.
»Du wagst viel, Fremder. Doch ich verzeihe Dir. Weil Du eben ein Fremder bist, der unsere Sitten nicht kennt. Sonst wärst Du jetzt ein toter Mann. Nun? Sprich!«
»Wir haben Euch zufällig gesehen, wir haben Euch beobachtet, und ehe wir vortreten konnten, wurden wir von Deinen Leuten entdeckt und überwältigt —«
»Was willst Du? Sprich!«
»Wir haben nicht daran gedacht, Euch als Feinde zu betrachten —«
»Doch nicht etwa als Freunde die Ihr erwartet habt?« erklang es spöttisch.
»Nein, das auch nicht. Aber — wir sind gebunden worden. Wir sind noch gebunden. Wir haben seit gestern mittag nichts gegessen —«
Ein Wink, einige fremde Worte, und den Gefangenen wurden sofort die Hände auf dem Rücken befreit.
»Ist dieser Mann auch ein Häuptling? Ein Offizier?«
»Ja, er nimmt den Rang eines hohen Offiziers ein.«
»Seht Ihr den Wagen dort?«
Der Gog deutete auf einen in der Nähe stehenden Planwagen, der sich Außer durch seine Grösse dadurch auszeichnete, dass die ihn überdeckenden Felle rot gefärbt waren.
»Wir sehen ihn.«
»Ihr könnt doch bis hundert zählen.«
»Das können mir.«
»Ihr dürft Euch frei bewegen, dürft nehmen, was Ihr wollt. Aber zählt Eure Schritte. Entfernt Ihr Euch mehr als hundert Schritte von diesem roten Wagen, so seid Ihr des Todes! Und keinem Pferde dürft Ihr Euch auf mehr als zehn Schritte nähern! Oder Ihr seid des Todes! Sofort seid Ihr von Pfeilen durchbohrt! Und tretet Ihr so weit an einen Mann heran, dass er Euch mit seinem Messer erreichen kann, so habt Ihr dieses Messer sofort in Eurem Herzen! Verstanden?«
»Wir haben Dich verstanden.«
»Habt Ihr noch andere Waffen bei Euch?«
»Einen Taschenrevolver —«
»Legt sie ab.«
Die beiden entleerten ihre Taschen, legten einen kleineren Revolver, eine Browningpistole, einen Nickfänger und ein Taschenmesser ab.
»Nichts weiter?«
»Nein.«
»Wenn ich Euch jetzt untersuchen lasse, und ich finde noch irgend eine Waffe, so seid Ihr des Todes!«
»Wir haben keine Waffe mehr bei uns.«
»Gut. Ihr seid frei. So weit ich Euch gesagt habe. Wie Weit?«
Georg wiederholte die Bestimmungen.
»Gut. Esst und trinkt und nehmt, was Ihr findet. Es gehört Euch. Geht. Oder bleibt. Wie Ihr wollt. Bis ich Euch wieder rufe.«
120. KAPITEL.
WAS DER ZIGEUNER BERICHTET.
Der Gog wandte sich ab. Georg ging schnurstracks, von Juba Riata etwas langsamer gefolgt, nach einem kleineren Feuer, an dem niemand saß, aber neben dem mehrere große Fleischstücke lagen, löschte erst seinen Durst im Wasser des vorbeifließenden Baches, dann nahm er von den umherliegenden Gerätschaften ein Steinmesser und begann von den Ochsen— und Schweinevierteln zum Braten geeignete Stücke abzuschneiden, sie auf die glühenden Holzkohlen legend.
»Nette Geschichte, das,« brummte Juba Riata, sich ebenfalls am Feuer niederlassend, ohne vorher getrunken Zu haben. »Was meinen Sie nun Zu alledem?«
»Ich meine, dass es gut ist, solches Röstfleisch schon vorher etwas mit Salz einzureiben. Haben Sie welches bei sich? Nein? Im Boote gelassen? Und hier ist auch keins zu sehen. He, Freund sprichst Du auch Deutsch? Hast Du nicht eine Handvoll Salz? Verstehst Du mich nicht? Zum Teufel, was heißt denn Salz auf Russisch? Ich habe doch in Petersburg in den Restaurants — ach so, da verlangt man einfach die internationale Menage. Na, da bringe mal eine Menage her, mit Salz, Pfeffer und Senf. Essig und Ol brauche ich nicht, dagegen ist mir etwas Worchestersauce immer angenehm. Aber bitte — immer einen Schritt vom Leibe bleiben — von wegen Deines Steinmessers —«
So sprach Georg, sich mit seinen Fleischstücken beschäftigend.
Und schon hatten sich zahlreiche Hunnen eingefunden, die um die beiden einen Kreis bildeten, sie beobachtend, schon wieder schnatternd und dabei auch viel lachend.
Und wie sie jetzt lachten, da bekamen diese hässlichen, schmutzigen, sonst so wilden Gesichter einen überaus gutmütigen Ausdruck.
Und von überaus gutmütigem Charakter werden uns die ehemaligen Hunnen auch von zeitgenössischen Berichterstattern geschildert. Den fremden Frauen gegenüber von einer täppischen Galanterie, und besonders waren es die größten Kinderfreunde, spielten gern mit Kindern, wurden dabei selbst zu Kindern.
Das heißt: dies alles nur so lange, bis sie sich eben in echte Hunnen verwandelten. Wenn sie keine Gäste mehr, sondern Hunnenkrieger waren, dann hörte die ritterliche Galanterie gegen die Damen natürlich auf, und dann spielten sie nicht mehr mit den fremden Kindern, sondern zerschmetterten sie an Mauern und Bäumen oder warfen sie ins Feuer
Genau wie bei den Kosaken! Wir haben ja noch ganz frische Berichte, wie anno 1813 die Kosaken in deutschen Quartieren lagen, wie da die bärtigen Kerle, immer nach Branntwein und Knoblauch duftend, die Kinder abküssten, wie sie sich immer als Kinderwärterinnen anboten und ihre Sache auch vorzüglich machten, da war jeder Frevel ganz ausgeschlossen — aber sonst waren es, wenn sie sich in Soldaten verwandelten, eben Kosaken, welche ein Kind ebenso gern aufspießten wie einen Mann.
Aber sie schienen zu verstehen. Lachend machten sie unter Nicken Bewegungen, als ob sie Salz streuten. Und da kamen auch schon einige Weiber, die in einem Lederbeutel das unersetzbare Salz brachten, ferner trugen sie in großen Holzschalen, roh geschnitzt oder auch ausgebrannt, Milch herbei, teils frische, teils solche von mehr gelblicher Farbe, die etwas schäumte — unverkennbar Kumys, gegorene Pferdemilch.
»Immer einen Schritt vom Leibe bleiben!« wehrte Georg zunächst mit affektiertem Schreck ab, als sich das eine Weib ihm zu sehr genähert hatte.
»Ohne Sorge,« beruhigte ihn gleich Juba Riata, »ich habe vorhin ganz deutlich bemerkt, wie der Gog betonte, dass es sich nur um Männer handelt, die uns niederstoßen, wenn wir uns ihnen in Armweite nähern, nicht hingegen bei —«
Juba Riata brauchte nicht weiter zu erklären, die weitere Ausführung übernahm das Weib gleich selbst.
Plötzlich hatte die junge Frau, die sie sein mochte, die dem Waffenmeister gerade das Salz gereicht, diesen beim Kopfe gepackt und ihm einen Kuss auf die Lippen gebrannt, dass es nur so geknallt hatte.
Georg saß da, in der einen Hand den Salzbeutel, die andere noch ausgestreckt, während der sonst so ernste Peitschenmüller schon in ein schallendes Gelächter ausbrach, in das die umstehenden Hunnen brüllend einstimmten.
»Himmeldonnerwetter noch einmal!« brachte Georg dann hervor. »Na, was gibts denn da zu lachen?«
»Ach, dieses Gesicht, wie Sie jetzt mit halb offenem Munde dasassen!«
»Ja, soll man da nicht das Maul aufsperren? Himmeldonnerwetter noch einmal! So was ist mir lange nicht passiert! Küsst mich da solch eine holdselige Jungfrau, der ich mich noch gar nicht vorgestellt habe, frisch vom Flecke weg! Brrrrr. Die roch gerade wie eine angebrannte Knackwurst, bei der der Fleischer das n vergessen hat. Warten Sie — da haben Sie auch das Ihre weg! Na, hatte ich nicht recht? Riecht die nicht gerade so?«
Auch Juba Riata war von demselben Weibe beim Kopfe gepackt worden und hatte seinen Kuß aufgeknallt bekommen, mit seiner Schnelligkeit, dass einfach gar nichts dagegen zu machen gewesen war. Und nun machte Juba Riata auch ein ganz ähnliches Gesicht.
»Hoffentlich geht das nun nicht so weiter!« sagte Georg noch. »Daß uns nicht etwa alle die Hunnendamen so der Reihe nach abküssen!«
Nein, es blieb nur bei diesem einen Begrüßungskusse, diese eine Frau hatte ihn wohl für alle gegeben.
»Ja, das ist Kumys,« sagte Georg dann, an eine der Schalen riechend und dann trinkend, einen tüchtigen Zug nehmend.
»Das Luderzeug schmeckt ganz gut, aber, aber —«
Er kaute etwas, griff an die Lippen, brachte etwas zum Vorschein.
»Was ist denn das? Ein Frosch! Ein kleines Fröschlein. Tot! Eine sogenannte Leiche. Ganz vertrocknet. Eine Mumie. Armes Tier. Warum musstest Du so jung Dein Leben lassen? In der schönsten Blüte Deiner Jahre bist Du vom blassen Tod —«
»Hier sind auch Frösche drin,« wurde die diese nachträgliche Grabesrede von Juba Riata unterbrochen.
Er hatte eine kleinere Schale mit frischer Milch ziemlich geleert, dabei aber vorsichtig die Lippen etwas zusammenhaltend, und das war auch sehr gut gewesen.
»Frösche?« machte Georg, der noch nicht in die Schale sehen konnte.
»Gleich drei.«
»Lebendige?«
»Ebenfalls getrocknet. Hier in der frischen Kuhmilch.«
»Dann sind sie mit Absicht hineingetan worden. Kühe, die aus ihren Eutern Milch mit Froschmumien von sich geben, gibt es nicht in der Naturgeschichte. Aaaah!«
Er hatte mit dem Steinmesser in dem Kumys herumgekrebst, auch die Finger zu Hilfe nehmend und noch zwei weitere getrocknete Froschleichen zum Vorschein gebracht, und als dann die anderen Schalen mit Milch oder Kumys untersucht wurden, ergab es sich, dass eine jede drei solcher sehr kleinen, getrockneten Frösche enthielt.
»Das ist offenbar eine heilige Zeremonie, dass man hier in jedes Getränk drei einbalsamierte Froschkinder tut,« entschied Georg dann. »Hoffentlich gehört nicht dazu, dass man sie auch noch verschlingt, und diese Herren verübeln uns wohl nicht, wenn wir derartige Gratiszugaben sanft beseitigen.«
Nein, die umstehenden Hunnen verübelten es durchaus nicht. Sie wieherten vor Lachen. Aber sonst mochte Georg recht haben, um einen Schabernack konnte es sich doch nicht handeln, sonst hätten diese Schäker nicht ausschließlich getrocknete Frösche in die Getränke getan, immer gerade drei, da hat die Erfindungsgabe doch weiten Spielraum.
Georg vertiefte sich in das erste, ganz leicht angebratene Beefsteak, länger konnte er nicht warten, als der Zigeuner ans Feuer trat.
»Haben Du Tabak?« war seine erste Frage.
Er sprach ganz ganz genau dasselbe Deutsch wie der Gog. Er kannte alle Worte, konnte sie anwenden, nur dass er nichts von Konjugation und Deklination wusste.
Später von äußerster Höflichkeit, hatte er diese erste Frage mit wahrer Gier gestellt.
Ja freilich!
Armer Kerl!
Was ist denn ein Zigeuner ohne Tabak! Alles kann der Zigeuner vertragen, sogar dass sein Silberbecher, den auch der ärmste Schlucker hat, für lange Zeit nicht mit Branntwein gefüllt wird, nur keine Tabakslosigkeit — und keinen Wind. Sobald es etwas bläst, dann verkriecht er sich irgendwo und kommt nicht eher zum Vorschein, als bis die Luft wieder ruhiger geworden ist. Das ist etwas ganz Merkwürdiges.
Ja, Tabak hatten die beiden, auch ihre Pfeifen hatten sie nicht als Waffen abgegeben. Georg zog seine gefüllte Fischblase hervor, seine Pfeife war nicht nötig. Zingo hatte seine eigene, aus einem Knieast geschnitzt, stark gebraucht, wie überhaupt der ganze Kerl nach verbrannten Blättern roch, die freilich nichts mit Tabak zu tun gehabt hatten.
»Ich sein kein Hunne, ich sein Zigeuner, ich Dich nix töten,« sagte er dabei, als er nach dem Tabaksbeutel griff.
Dann, mächtig dampfend, berichtete er, ganz von allein, zunächst über sich selbst.
Wir geben es in etwas anderer Weise wieder.
Zingo hatte wohl in seinen jüngeren Jahren einer Bande angehört, später nicht mehr, hatte sich mehr als ein halbes Menschenalter lang in aller Welt herumgetrieben, sogar in Nord— und Südamerika, die Fiedel spielend, Kessel flickend, mit Pferden handelnd.
Als Pferdehändler war er zuletzt auch in Russland gewesen. Mehr noch aber als Spion einer anderen Macht, wenn er auch nicht in deren direkten Diensten stand. Erwischt worden, geknutet, gebrandmarkt und lebenslänglich nach Sibirien.
Aus den Bergwerken von Sllobodz geflohen Umstände hatten ihn gezwungen, seinen Weg nach Osten zu nehmen, immer weiter. Nachdem er die letzten Menschen getroffen hatten, eingeborene Jäger, war er noch ein halbes Jahr lang gewandert, immer nach Osten, ohne noch einem Menschen zu begegnen.
Da, ehe die strenge Winterkälte einsetzte, wurde der halbnackte Mann schier verhungert in dem Walde, aus dem es keinen Ausgang zu geben schien, von fremden Menschen gefunden, deren Sprache er ausnahmsweise nicht kannte. Denn sonst gehörte Zingo zu jenen Zigeunern, die nur acht Tage mit Fremden Zu verkehren brauchen, um sich fließend mit ihnen unterhalten zu können, ohne diese Sprache jemals richtig zu lernen.
Es waren Kuturgoren, wie sie sich selbst nannten, was soviel wie Pferdemenschen bedeutet, Zentauren.
Acht Jahre schon lebte Zingo unter ihnen, und hatte sie nun also zur Genüge kennen gelernt.
Auf 120 000 Mann schätzte Zingo sie, dazu noch Weiber und Kinder, Zusammen vielleicht eine halbe Million. Sie bildeten Horden, die unter Häuptlingen standen, diese wieder unter zwei nebeneinander regierenden Königen, welche die Titel Gog und Magog führten. Sie lebten in den unermesslichen Wäldern und Steppen von Pferde-, Rinder- und Schweinezucht, von Wurzeln, Zwiebeln und Beeren, und was der Wald sonst noch bietet, was aber nicht gezogen werden durfte. Jeder Anbau von derartigem Gemüse war durch Regierungsgesetz oder durch Tradition, wollen wir sagen, direkt verboten. Zwischen den einzelnen Horden kam es manchmal zu Kämpfen, die regelmäßig mit der vollständigen Ausrottung der besiegten Horde endeten. Wohl Aberglauben aller Art aber keine eigentlichen Zauberer, keine Priester, keine Spur von einer Religion.
So hatten die Kuturgoren immer gelebt, seit uralten Zeiten. Sie wussten nicht, dass es Außer ihren Wäldern und Steppen noch andere Gegenden mit wilden Menschen gebe, sie hatten auch niemals daran gedacht, sich auszubreiten. Hatten es nicht nötig.
Und doch, eine Sage hatte sich erhalten, dass es im Süden und Westen noch andere Menschen gebe, mächtige Völker, und dass die Kuturgoren schon einmal ihre Wälder und Steppen verlassen hätten. Dabei hatten sie sich geteilt. Die eine Hälfte wäre nach Süden, die andere nach Westen gewandert. Überall waren sie siegreich gewesen. Aber die nach Süden gezogenen Kuturgoren verschwanden für immer, die nach Westen vorgedrungenen wurden zuletzt doch wieder zurückgeworfen, kehrten nach langen Irrfahrten in ihre alte Heimat zurück, Zu einem kleinen Reste zusammengeschmolzen der sich langsam wieder erholte, bis zur jetzigen Volkszahl.
Doch das war nur eine Sage, eine Fabel, nichts weiter. Es glaubte niemand daran.
Da war der Zigeuner zu ihnen gekommen. Zingo hatte keine Schule besucht, aber er hatte einen Kopf, der nichts vergaß was er einmal gehört, und er war lange Jahre in Ungarn gewesen, wo man sich noch so lebhaft von den Hunnen erzählt. Und er hatte sofort erkannt, dass er echte Hunnen vor sich habe, ganz abgesehen davon, dass noch die alten Hunnennamen unter ihnen üblich waren, wie sie sich ja selbst Kuturgoren nannten, welches Wort ihm ebenfalls bekannt war.
Und nun, nachdem er ihre Sprache erlernt, hatte er von ihren Vorfahren erzählt. So beruhte die alte Sage also auf Wirklichkeit, und die mächtigen Völker im Süden und Westen existierten wirklich.
Am meisten Staunen aber erregte das Messer, das der Flüchtling noch bei sich gehabt hatte. Was war das für ein wunderbares Metall, das besser schnitt als der schärfste Feuerstein, das sich biegen ließ, und doch immer wieder in seine ursprüngliche Lage zurückkehrte?
Da hatte Zingo erzählt von jenen Ländern, in denen man für solch einen Ochsen 300 Stück dieser Messer erhielt, weiter nach Westen aber auch 500 bis zu 1000, immer billiger wurden sie.
Dieses Messer fast allein war es gewesen, das die Eroberungslust der Kuturgoren geweckt hatte. Sie wollten nach Westen ziehen und sich solche Messer holen, von vornherein nicht an friedlichen Handel, sondern nur an Beute denkend. Das alte Hunnenblut war wieder erwacht.
Aber so schnell ging das nicht. Zunächst hatte gerade eine furchtbare Viehseuche mehr als die Hälfte aller Männer pferdelos gemacht, und was war denn ein Kuturgore ohne Pferde! Jahre konnten vergehen, ehe der alte Pferdebestand wieder hergestellt war, und Gog Rugila konnte warten. Inzwischen wurden Späher nach Westen geschickt. Der chinesische Süden kam nach des Zigeuners Erzählungen für einen Raubzug nicht in Betracht. Immer neue Abteilungen gingen ab, aber keine einzige kehrte zurück. Wo sie geblieben waren, musste man nicht. Sie hatten sich eben in den unendlichen Wäldern und Steppen verloren. Dazu kamen auch noch innere Zwistigkeiten.
Kurz, acht ganze Jahre vergingen. Da endlich begann die allgemeine Völkerwanderung. Sie brachen auf, alle Frauen und Kinder und alles Vieh mitnehmend, sie verließen ihre Heimat, um jene fabelhaften Länder aufzusuchen.
»Seit nun bald vier Wochen sind wir unterwegs.«
So hatte der Zigeuner seinen Bericht geschlossen, sich immer so kurz als möglich fassend.
»Woher hat der Gog Deutsch gelernt?« war Georgs erste Frage.
»Von mir. O, was der alles von mir gelernt hat! Die ganzen Jahre habe ich ihn Tag und Nacht unterrichten müssen, ihm immer nur von jenen Ländern erzählen, und dabei hat er ganz regelrecht Russisch und Deutsch und Französisch und Englisch gelernt. Denn, sagte er, er muss die Sprachen der Länder, die er erobern will, auch selbst beherrschen. O, was dieser Gog Rugila für ein gewaltiger Mensch und für ein Kopf ist! Wenn Du ihn nur erst näher kennen lernst!«
Georg glaubte es, bekam schon allen Respekt vor diesem Manne, der sich erst so präpariert hatte, ehe er seinen Eroberungszug antrat.
»Wer ist der Magog, der zweite König?«
Magog Enak war schon ein sehr alter Mann, sehr vorsichtig dazu. Auch seinetwegen ist der Aufbruch so lange hinausgeschoben worden, denn er wollte niemals etwas von diesem Eroberungszuge wissen. Er war der Prophet des Volkes, warnte immer davor, sämtliche Kuturgoren würden dabei zugrunde geben. Da starb er, und nun konnte Gog Rugila seinen Willen, der auch der des ganzen Volkes war, durchsetzen. Bisher hatte man nur zu großen Respekt vor dem alten Magog gehabt.«
»Wird nicht immer gleich ein Zweiter neuer König gewählt?«
»Nein, es ist nicht unbedingt nötig. Nur wenn es das Volk verlangt, muss der eine König einen zweiten Mitregenten wählen. Dieses Verlangen ist noch nicht gestellt worden.«
»Woher wisst Ihr, dass dies das Tal des Obi ist, in dem ein Mann namens Merlin haust?«
Der Zigeuner warf erst einen scheuen Blick nach den umstehenden Hunnen, sprach dann aber ganz offen.
»Magog Enak war ein Prophet. Ich muss glauben, dass er wirklich die Gabe der Weissagung besaß, ich habe Proben davon bekommen. Außerdem aber war er selbst kein Kuturgore. Auch er verirrte sich vor langen, langen Jahren, noch ein junger Mann, als Fremder unter dieses Volk. Er lebte ganz einsam, ich habe ihn nur einmal zu sehen bekommen, und danach hätte ich ihn für einen Deiner Landsleute gehalten.«
»Für einen Deutschen?«
»Seine Heimat muss im fernen Westen gewesen sein. Er hatte früher blonde Haare. Und ein Russe war er jedenfalls nicht.«
»Und der hat von diesem Obitale und einem Manne namens Merlin erzählt?«
»Ich — weiß es nicht,« erklang es Zögernd. »Ich kann nur sagen, dass Magog Enak immer vor einer Auswanderung gewarnt hat. Die Kuturgoren, prophezeite er immer, würden nur bis an ein von hohen Felswänden eingeschlossenes Tal kommen, in welchem ein schrecklicher Gott Obi herrsche und ein rätselhafter Mann namens Merlin hause.
Die Kuturgoren würden dieses Tal betreten und dabei ihren völligen Untergang finden. Er hat dieses Tal auch beschrieben, das heißt die es einschließenden Felsen, und schon gestern haben wir erkannt, dass wir jetzt dieses Obital erreicht haben. Mehr weiß ich nicht. Ich gehöre nicht mit zu den Häuptlingen, die in alles eingeweiht sind.«
»Die Kuturgoren glaubten dieser Prophezeiung des Magogs?«
»Ja, sie glauben daran.«
»Und trotzdem wollen sie in das Tal eindringen?«
»Nein, das wollen sie eben nicht!«
»Sondern?«
»Es einfach umgehen. Dann können sie in dem Tale doch auch nicht ihren Untergang finden.«
»Aha! Stammte der Magog vielleicht aus diesem Tale? War er selbst drin gewesen?«
»Das weiß ich nicht. Bitte, frage auch nicht so. Ich habe Dir berichtet, was ich Dir berichten sollte.«
»Das solltest Du tun?«
»Ja, der Gog befahl es mir.«
»Weshalb?«
»Damit Du über altes unterrichtet bist, was Du wissen musst, wenn Du dann wieder vor den Gog kommst. Denn Du selbst bist ein Häuptling, er will Dich als seinesgleichen betrachten und Dich danach behandeln. Da sollst Du auch wissen, mit wem Du es Zu tun hast. So hat er mir befohlen.«
»Was ist aus meinem Hund geworden?« fragte jetzt Juba Riata, und er mochte diese Frage schon längst zurückgehalten haben, hatte nur nicht unterbrechen wollen.
»So viel ich weiß, hat man ihn vorhin mit Riemen umschnürt wie er war, unter einen Wagen geworfen.«
»Ist er verwundet worden?«
»Ich habe vorhin nichts davon bemerkt.«
»Kann er sich nicht wieder mir beigesellen?«
»Wird er nicht bösartig sein?«
»Nein, sobald ich ihm befehle, diese fremden Menschen als seine Freunde zu betrachten, mögen sie ihm vorher auch getan haben, was sie wollen.«
»Folge mir, ich werde versuchen, dass man ihn freiläßt«
Die beiden erhoben sich, die umstehenden Hunnen öffneten den Kreis weit, um den Fremden durchzulassen, den sie töten mussten, wenn er sich einem Manne bis auf Armlänge näherte.
Georg brauchte nicht lange seinen Gedanken nachzuhängen, so kehrte Peitschenmüller zurück neben ihm Pluto, der sich alsbald hungrig über die ihm abgetretenen Fleischstücke hermachte, auch er hatte ja lange genug gefastet, dabei aber noch immer seine ruhevolle Würde wahrend, was so gar nicht seinem Bluthunde entsprach, wie man sich einen solchen immer vorstellt.
»Sie haben keine Hunde,« erklärte Juba Riata zunächst, sich wieder niederlassend, »kennen gar keine Hunde, staunen dieses ihnen ganz fremde Tier an, halten es für eine besondere Art des Wolfes — da ihnen aber nun dieser eine ganz vertraute Erscheinung ist, mit dem sie ständig in Fehde leben, so haben sie sich auch nicht etwa vor meinem Pluto gefürchtet.«
»Ja, Juba, was sagen Sie nun zu alledem, was wir da erfahren haben?«
»Das ist höchst interessant. Also die alten Hunnen existieren noch, und als die Steinfiguren die Felsenwand verließen, und als der furchtbare Posaunenton erscholl, da sind sie richtig wieder aufgetaucht.«
Peitschenmüller hatte wohl recht, aber Georg wollte sich hierauf nicht weiter einlassen.
»Also sie wissen, dass in diesem Tale ein Gott Obi herrscht und ein Mann namens Merlin haust, und dass sie dieses Tal nicht ungestraft betreten dürfen.«
»Ja, auch das ist sehr merkwürdig, aber dazu kann ich gar nichts sagen,« wollte sich nun Peitschenmüller wieder auf dieses Thema nicht weiter einlassen.
»Wo ist der Zigeuner geblieben?«
»Er sagte, ich solle allein zu Ihnen zurückkehren, jetzt müsse er zum Gog.«
»Wo ist der?«
»Ich habe ihn nicht gesehen.«
121. KAPITEL.
DIE SINTFLUT KOMMT!
Und sie sollten ihn auch sobald nicht wieder zu sehen bekommen, so wenig wie den Zigeuner.
Zwei Tage waren vergangen, und jene beiden schienen verschwunden zu sein. Unterdessen hatte sich nichts geändert.
Die Hunnen schienen einen gewaltigen Marsch hinter sich zu haben, der Mensch und Tier erschöpft hatte, jetzt wollten sie für längere Zeit der Ruhe pflegen.
Die beiden Gefangenen waren sich selbst überlassen, konnten tun, was sie wollten, aber jede Flucht war ihnen unmöglich gemacht worden. Denn es war nicht nur bei dem Verbot und der Drohung geblieben, sich nicht weiter als hundert Schritte von dem roten Wagen zu entfernen, sondern um diesen herum war auch auf die angegebene Entfernung eine doppelte Kette von Posten gezogen worden, ein Hunne stand oder lag dicht neben dem anderen, sie wurden regelmäßig abgelöst in der Nacht brannten lodernde Feuer, und wenn sich die beiden der Wachtkette näherten, dann sprangen auch die Liegenden auf und hielten ihnen drohend die Lanzen entgegen. Ebenso war auch der Eingang zu der Höhle, welche die Treppe enthielt, stark besetzt, obgleich diese kaum 30 Schritte von dem roten Wagen entfernt war, so dass mehr ein Halbkreis gebildet wurde, dessen Hälfte von der glatten Felswand begrenzt war.
Diese Wachen ließen sich auch nicht anreden, immer nur drohende Bewegungen. Hier hörte eben jede Gemütlichkeit auf, während man in dem Halbkreise selbst den Gefangenen mit der größten Freundlichkeit begegnete.
Aber es hatte keinen Zweck, die Leute anzusprechen. Keine der ihnen bekannten Sprachen wurde verstanden, und jedenfalls nicht, dass man sie nur nicht verstehen wollte.
Sonst also die denkbar grösste Zuvorkommenheit. Männer, Frauen und Kinder, alle wetteiferten miteinander, die beiden unfreiwilligen Gäste mit Leckerbissen zu versehen und sie sonst zu ergötzen. Aber die »Leckerbissen« wurden lieber nicht angenommen.
Das mit den drei getrockneten Fröschen in jeder Milchschale war, wie nun schon erkannt worden, nicht nur eine religiöse Zeremonie, sondern Frösche galten hier eben als Leckerei, in Zeiten der Fülle wurden sie gesammelt und getrocknet, dann zum Genießen ließ man sie schnell etwas aufquellen, aber um mit diesem kostbaren Luxus nicht gar zu sehr zu wüssten, war strenges Gesetz, dass auch kein Häuptling in seine Trinkschale, die mindestens einen halben Liter fassen musste, gefüllt mit Wasser, Milch oder Kumys oder Blut, mehr als drei solcher getrockneten Frösche bekam, und da mussten sie schon sehr klein sein, und sie durften nicht eher verschluckt werden, als bis die Schale ausgetrunken war.
Jetzt brachte man den Gästen auch am Feuer geröstete Frösche und Eidechsen und Blindschleichen und Ringelnattern dar, die man in der Umgegend lebendig gefangen hatte, und dass sie Zurückgetrieben wurden, konnte dem Überbringer nur sehr angenehm sein, denn dann brauchte der, der dieses Viehzeug selbst gehascht und zubereitet hatte, diese Leckerbissen nicht abzuliefern, etwa an die Häuptlinge, sondern konnte sie gleich selbst verschlingen.
Der größte Jubel herrschte im Lager, als am Abend des zweiten Tages ein starker Ostwind Myriaden von Maikäfern gebracht hatte. Diese Insekten krochen hier viel später aus, sie mochten von weit her aus Eichenwäldern gekommen sein.
Alles war emsig beschäftigt, die schwärmenden Maikäfer niederzuschlagen und aufzusammeln. sie wurden in Ledersäcke gesteckt, auf diesen trampelte man mit den Füssen herum, bis als ein Brei war, dieser wurde in Steinschalen gekocht oder auf heißen Steinplatten geröstet und dann mit flüssiger Butter serviert. Dabei aber wurden schon immer ganze Maikäfer gekaut, gleich lebendig in die breiten Mäuler gesteckt und mit wonnigem Behagen geschmatzt.
Es gibt übrigens auch bei uns in Deutschland Leute genug, welche Maikäfer als ein vorzügliches Gericht rühmen. Und selbst Brehm empfiehlt in seinem »Tierleben« eine Bouillon von gerösteten Maikäfern als eine kräftige, ausgezeichnet schmeckende Suppe, besonders für Rekonvaleszenten geeignet. Und es ist eigentlich nicht einzusehen, weshalb sich nur von Laubblättern nährende Maikäfer unappetitlicher wären als zum Beispiel der ekelhafte Krebs. Und wenn die Maikäfersuppe eingeführt werden könnte, dann wäre sicherlich auch die Maikäferplage, die ja furchtbare Dimensionen annehmen kann, ganze Wälder vernichtet, durch die Engerlinge über große Gegenden Hungersnot bringt, schnellstens beendet.
Immerhin, es war den beiden nicht zu verdenken, dass sie von dieser Leckerei nichts wissen wollten, so lange sie andere Nahrungsmittel noch in Hülle und Fülle hatten.
Noch ehe diese Maikäferschmauserei bei Feuerschein beendet war, zogen sich unsere beiden Freunde in ihr Zelt zurück, dass sie sich aus Häuten gefertigt hatten.
»Juba, was soll daraus werden?«
So hatte Georg während dieser zwei Tage schon mehrmals gefragt.
Er war überzeugt, dass man in dem Tale von den Hunnen, von ihrer Gefangenschaft und von ihrer Sicherheit wusste. Dafür würde der schier allwissende Merlin gesorgt haben, und der würde die beiden auch nicht im Stiche lassen.
Aber sie hätten sich doch lieber durch eigene Kraft befreit. Dazu war vorläufig nur so gar keine Aussicht vorhanden. Die Wachtpostenkette war einfach undurchdringbar, und dazu kam noch, dass sie so gar nicht wussten, wie es Außerhalb derselben aussah. Denn diese Wagenburg hier befand sich ja doch in dem Kiefernwald, der sich längs der Felsenwand hinzog ehe die eigentliche Steppe begann, und so weit auch die Bäume auseinander standen und wenn auch alles Unterholz fehlte, man konnte nicht in diese Steppe hineinsehen, wo es doch jedenfalls auch von Hunnen wimmelte.
Bisher hatte Peitschenmüller noch niemals eine Antwort auf diese Frage gewusst, heute abend war es der Fall.
»Wir müssen eine finstere Nacht mit tüchtigem Regen abwarten, der jedes Holzfeuer unmöglich macht, dann müssen wir versuchen, uns durchzuschleichen, einen anderen Rat weiß ich nicht.«
Sprach es, streckte sich auf den Fellen aus, und schon in der nächsten Minute verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, dass er sanft entschlummert war.
Bald war auch Georg eingeschlafen. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht, als ihn gleichzeitig Plutos drohendes Knurren und ein heller Lichtschein weckte.
Die Augen aufschlagend, erblickte er zwei Hunnen, brennende Fackeln in den Händen, und zwischen ihnen stand der Gog, gleich an seiner vierschrötigen, trotz aller Kleinheit so kolossalen Gestalt erkennbar, wenn er auch in seinen Mantel von Eichhörnchenfellen, denen die Haare abgeschabt worden, eingehüllt war und die herabgezogene Pelzmütze fast das ganze Gesicht bedeckte.
»Sorgt für Euren Hund, dass ich ihn nicht töten muss,« war sein erstes herrisches Wort.
Da Plato nicht gehetzt wurde, ging er überhaupt nicht zum Angriff über.
»Steht auf, nehmt alle Eure Sachen und folgt mir!«
Was sie noch besaßen, hatten sie alles bei sich. Wenn Georg einmal nach seiner Taschenuhr gesehen oder das Fernrohr benutzt hatte, so hatte das bei den Hunnen wohl Staunen und Neugier erregt, aber niemand hatte auch nur gefragt, was das denn für Instrumente seien, auch sein Häuptling, da musste wohl ein strenger Befehl des abwesenden Gogs vorgelegen haben.
Und jetzt trat aus dem dunklen Hintergrund, den der Zelteingang bildete, noch ein vierter Hunne in den Lichtschein, und zu ihrem Staunen bekamen die beiden Gefangenen auch ihre Waffen ausgeliefert, die Gewehre und Patronentaschen und Messer.
»Nehmt und folgt mir!«
Sie ließen es sich nicht nochmals sagen und folgten dem Gog hinaus ins Freie.
Es war eine warme, stille, finstere Nacht. Hier und da ein verglimmendes Feuer, um das Hunnenkrieger schlafend lagen, oder wenn sie machten, so nahmen sie doch gar keine Notiz von den Fackelträgern, von ihren obersten Fürsten, durften es wahrscheinlich nicht tun. In weitem Umkreise aber brannte eine einzige Feuerkette.
Sie schritten nach dem Eingange der Höhle, wo ebenfalls ein helles Feuer brannte, hier standen die Wächter, die etwa noch gelegen hatten, schnell auf.
Ein gebieterisches Wort, und die Hunnen traten vor dem Gog ehrerbietig zurück.
Sie schritten durch die Höhle, es ging die Treppe hinauf, voran die beiden Fackelträger, dann der Gog, dann die beiden, die sich jetzt wohl nicht mehr als Gefangene betrachten durften, dann noch einige Hunnen, die nichts weiter als zugestutzte Kiefernäste als Reservefackeln trugen.
Georg blickte einmal nach der Uhr — gleich um eins.
Als sie nach einer Stunde oben auf dem Plateau waren, begann der junge Tag zu grauen.
Der Gog machte nur eine gebieterische Handbewegung und sofort drehten die Fackelträger und die anderen hunnischen Begleiter um und verschwanden wieder in dem Treppenkamin.
Noch einige nachgerufene Worte, und Georg bemerkte ganz deutlich, wie sie ihren Abstieg ganz Außerordentlich beschleunigten.
Jetzt wandte sich der Gog den beiden zu.
»Ich bin mit Euch hier oben allein,« sagte er in seinem mangelhaften Deutsch in dem er sich aber doch vollkommen auszudrücken wusste. »Ihr habt mich nicht mehr als Feind zu betrachten, so wenig wie ich Euch fürchte. Ihr seid frei und sollt zu den Euren zurückkehren. Wisst Ihr, wo ich während der zwei Tage und Nächte gewesen bin?«
Georg wusste es sofort.
Wohl nur von allein war dem Gog vorn der Mantel auseinander gegangen, und mit Staunen sah Georg an dem Gürtel, der den mächtigen Leib umspannte, zwei große Revolver im Futteral hängen, einen Säbel, und ferner hatte der Gog ein Fernrohr in der Hand — und Georgs Staunen war besonders deshalb berechtigt, weil er sofort erkannte, dass alles dies von Bord der »Argos« stammte.
»Du warst im Tal, Du warst an Bord unseres Schiffes!«
»Du sagst es. Ich habe mit Merlin gesprochen und war auch bei Deinen Gefährten, sie haben mich zwei Tage lang als Gast bewirtet, und was ich als Andenken auswählte, gaben sie mir freundlich als Geschenk mit. Sind da nicht auch wir Freunde? Nun kommt!«
Er wandte sich um und ging wieder voraus, führte sie dorthin, wo die beiden vor drei Tagen auf dem Plateau gestanden hatten, den Heranzug der Hunnen und das Auffahren der Wagenburgen beobachtend.
Obgleich der Tag schon dämmerte, galt das doch nur von hier oben, dort unten herrschte noch die finstere Nacht, man sah die Wachtfeuer leuchten.
Schweigend blickte der Gog einige Zeit hinab, dann wandte er seine geschlitzten Feueraugen wieder den beiden zu, speziell auf Georg.
»Zingo hat mir berichtet, so weit er selbst davon wusste. Ich habe den Prophezeiungen des Magog Enak nie geglaubt, habe ihm verlacht, und ich habe auch Merlins Behauptungen und Warnungen und Drohungen nie geglaubt. Denn ich kenne diesen Mann schon längst. Wovon aber Zingo nichts weiß, niemand anders. Dieser Merlin war schon öfters bei mir, in unseren fernen Wäldern, und ich war auch schon wiederholt bei ihm in diesem Tale. Wenn auch niemand von den Meinen etwas davon erfuhr. Ich habe ihm niemals geglaubt, dass es meinen Kuturgoren nicht möglich sei, die Welt zu erobern. Was er mir auch für Waffen zeigte, was er mir auch für Zauberei vormachte — ich lachte darüber. Solche Waffen wollten wir uns bald verschaffen, diese Zaubereien würde auch ich lernen, andere ebenfalls. Aber Männer konnte er mir nicht zeigen, Krieger, mit denen wir dereinst kämpfen würden, das war es!
»Jetzt hat er mir solche gezeigt. Zwei ganze Tage und Nächte war ich bei den Deinen. Und sie haben mir gezeigt, was sie können. Jetzt glaube ich es. Die Kuturgoren werden in ihre Heimat zurückkehren, ohne gekämpft zu haben. Genug.«
Wieder wandte der Gog seine Blicke hinab.
Es war inhaltsvoll genug gewesen, was er da gesagt hatte, und es braucht wohl keiner näheren Erläuterung. Er hatte die Argonauten kennen gelernt, hielt alle anderen Menschen, die westlich von hier wohnten, für solche unbesiegbare Helden — da gab er die Hoffnung auf, ging mit seinen Hunnen lieber gleich in seine Wälder zurück.
Jetzt begann es auch dort unten sich zu lichten, schon konnte man die Planwagen unterscheiden, welche die ganze Steppe bedeckten, schon wurde es im Lager lebendig, Reiterchen huschten hin und her.
»Wie heißt der Mann, der auf einem Schiffe alle Wunden und Krankheiten heilen kann?« wandte sich der Gog dann wieder an Georg.
»Doktor Cohn?«
»Nein, es war ein anderer Name, der zweite, Doktor I — si — dor?«
Mit etwas schwerer Zunge hatte es der Hunne hervorgebracht, der diesen Namen des Schiffsarztes eben allein gehört hatte.
»Ja, unser Doktor Isidor!«
»Ich habe mit ihm lange Zeit gesprochen. Er weiß noch viel, viel mehr als Zingo, er weiß alles. Wie wir darauf kamen, weiß ich nicht. Ja, ich fragte ihn über Rom, das einst Gog Attila belagerte. Kennst Du den Kaiser Nero?«
»Ich kenne ihn.«
»Was tat er? Wodurch hat er sich hauptsächlich berühmt gemacht?«
»Berüchtigt meinst Du wohl. Nun, Du meinst sicherlich, dass er selbst Rom an allen Ecken anzündete.«
»Er tat es nicht mit eigener Hand.«
»Es geschah es eben auf seinen Befehl!«
»Und was tat er dann, als die ganze Stadt brannte?«
»Er schaute zu und hatte seine Freude dran,« erriet Georg sicher das Richtige.
»Du sagst es,« bestätigte denn auch jener kopfnickend, »er zündete seine Stadt an und hatte seine Freude darüber, wie alles in Flammen stand, wie die Menschen durch die Strassen flohen, wie sie verbrannten.«
Wieder blickte der Gog in die Steppe hinab.
Soeben erhob sich die Sonne als ein feuriger Ball über dem östlichen Horizont, wie mit einem Schlage war plötzlich die ganze Steppe mit goldenem Lichte übergossen.
Da ließ der Gog seinen Mantel fallen und streckte seine herkulischen Arme vor.
»Ich bin der Kaiser Nero!« rief er mit schallender Stimme. »Ich zünde Rom an, laß alles in Flammen aufgehen — o, es muss herrlich sein!«
Wahrhaft entsetzt wich Georg zurück.
Lag es in der Gebärde oder lag es in der Stimme dieses Mannes, dass er sich plötzlich so entsetzte?
»Gog, was willst Du tun? Doch nicht das dürre Gras der Steppe in Flammen setzen?«
»Nein. Nicht das, was Kaiser Nero von Rom getan hat. Der Gog Rugila der Kuturgoren ahmt niemals etwas nach. Wohlan denn, Merlin, die Zeit ist gekommen, die Sonne hat diese Felswand erreicht — nun zeige, dass Du die Macht hast, meine Krieger ohne Waffengewalt von hier zu entfernen, und ich will Dir dankbar zuschauen, auch wenn es die Vernichtung meines ganzen Volkes bedeutete!«
Kaum hatte der Gog dies gerufen, als die Luft von einem dumpfen Knalle erschüttert wurde.
Gar nicht so laut, aber doch von furchtbarer Wirkung in dieser feierlichen Stille.
Eine Wirkung war zunächst nicht zu bemerken.
Dort unten ging alles den gewöhnlichen Morgenbeschäftigungen nach, die Männer, die keinen unnötigen Schritt zu Fuß machten, trieben zu Pferde die Kühe und die milchgebenden Stuten zusammen, die Weiber schickten sich zum Melken an.
Mit einem Male aber fing alles zu laufen an, das ganze Lager wurde wie von einem furchtbaren Schreck erfasst, und da hörte man auch schon ihr Schreien bis hier oben.
Und da sah man auch schon die Ursache.
Plötzlich schob sich von der Felswand her in das Lager hinein ein breiter, silberglänzender Streifen — Wasser! Und ehe man etwas richtig beobachten konnte, war schon das ganze Lager unter Wasser gesetzt, es riß alles mit sich fort, Tiere und Menschen, und schon begannen die Planwagen zu schwimmen, wurden nach Osten in die Steppe hineingetrieben und wenn sie auch hier und da an Baumstämmen hängen blieben, so wurden sie von der gewaltigen Strömung doch gleich wieder losgerissen.
Im Nu hatte sich die ganze Steppe in einen reißenden Strom verwandelt in der es von Menschen und Pferden und Rindern und Schweinen wimmelte, alle verzweifelt um ihr Leben kämpfend.
»Um Gotteswillen!« schrie Georg. »Unhold, Du hast diese Katastrophe mit Absicht herbeigeführt!«
»Nein, diese Katastrophe war unvermeidlich.«
Das hatte aber nicht der Gog gesagt.
Jäh fuhr Georg bei dem Klange der fremden und ihm doch so bekannten Stimme herum — hinter oder jetzt vor ihm stand Merlin.
»Die Wasserreservoirs in den hohlen Felsen,« fuhr dieser fort, »haben sich durch den letzten Wolkenbruch bis zum Überlaufen gefüllt, sie müssen unbedingt entleert werden, oder sie tun es von selbst, ich könnte es nicht hindern, und gebe ich dem Wasser keinen Ausfluss nach der östlichen Steppe, so würden sich die ungeheuren Wassermassen in das Tal ergießen und alles Lebendige töten, das sich nicht auf hohe Felsen zu retten vermag.«
»Aber hier diese zahllosen Menschen kommen um! Sie hätten doch vorher gewarnt werden können, dass sie sich rechtzeitig zurückzogen!«
»Sie hätten Schutz vor dem Wasser nur in meinem Tale gefunden, und das dürfen die Kuturgoren unter keinen Umständen betreten. Frage nicht nach dem Warum. Sie dürfen nicht! Und hätten sie sich anderswo in die Steppe begeben, dann allerdings hätten ihnen die Wasserfluten verderblich werden können. Glaube mir, dass hier der geeignetste Ort ist, wo sie den Kampf mit dem Wasser aufnehmen können, obgleich es gerade hier aus den Felsen hervorbricht. Es ist auch sonst nicht so schlimm, wie es aussieht. Das Gebiet der Kuturgoren ist reichlich mit Strömen und Flüssen durchzogen, es sind halbe Wassermenschen, die fortwährend mit Überflutungen zu kämpfen haben, und dasselbe gilt von allen ihren Tieren. Sobald ein jeder, Mann oder Weib oder Kind, ein Pferd oder seinen Wagen erreicht hat, dann fühlt er sich gesichert und lässt sich ruhig treiben, bis sie ein erhöhtes Terrain erreicht haben, und das ist gar nicht so weit von hier, wenn Du es auch nicht durch Dein Fernrohr erspähen kannst.«
»Aber warum sind sie dann nicht gewarnt worden, dass sie sich wenigstens vorbereiten konnten?« hatte Georg dann nur noch zu fragen.
»Ich habe den Gog gewarnt. Er wollte es nicht glauben, oder er wollte es doch mit eigenen Augen sehen, wie ich alle seine Scharen wegspülen kann, jetzt und jederzeit. Denn die Macht dazu habe ich immer, und ich will nicht, dass diese wilden Volksmassen die ihnen gezogene Grenze überschreiten. Ihre Zeit dazu ist noch nicht gekommen. Und auch ich handele dabei nur auf Befehl eines Höheren. Der Gog hat seinen Willen gehabt, er hat es mit eigenen Augen geschaut.«
Nicht lange dauerte es, so war das ganze Gewimmele von Menschen und Tieren verschwunden, erst für das Auge, dann auch für das beste Fernrohr, und unter ihnen glänzte nur noch ein ruhiger Wasserspiegel.
»Noch einen Tag dauert es, bis sich das Wasser völlig wieder verlaufen hat,« sagte Merlin noch, »kommt, folgt mir, ich bringe Euch zu den Euren zurück, die von einer anderen Stelle aus dieses Schauspiel beobachtet haben. Und vorher möchte ich noch einmal mit Dir allein sprechen.«
Sie folgten dem gelben Manne, den Gog allein lassend.
Merlin führte sie über das Plateau und jene erste, verschüttete Treppe hinab und in eine der ersten Höhlen hinein, von denen sie ja nur eine einzige untersucht hatten.
Georg wunderte sich nicht, nach kurzem Gange eine Felsenkammer zu betreten, die ganz komfortabel eingerichtet war, auch von jenem rätselhaften Lichte erfüllt.
»Setzt Euch, meine Freunde. Ihr habt vor drei Tagen hier in diesem Felsen den Mann ohne schwarze Maske gesehen, der Euch ja von der Gesellschaft der Inder schon bekannt gewesen ist. Ich weiß, dass Ihr ihn hier ohne Maske gesehen habt. Er heißt Raimund, ist ein Deutscher, gehört mit zu unserer geheimen Gesellschaft, war einmal abtrünnig geworden, mußte dafür büßen. Keine Bestrafung, die wir nicht kennen, sondern nur eine Läuterung. Das hat sich jetzt vollendet. Genügen Euch diese Angaben über den Mann?«
»Wir haben gar keinen Grund, weitere Aufklärungen über ihn zu verlangen,« entgegnete Georg.
»Doch. Nämlich weil ich Euch bitten möchte, diesen Mann unter Euch aufnehmen zu wollen. Als Freund, als Argonauten, der sich an allen Euren Spielen und sonstigen Beschäftigungen beteiligt. Wollt Ihr?«
»Herzlich gern!«
»Dieser Raimund passt nicht zu uns, fühlt sich unglücklich bei uns, seine ganze Natur fordert eine tatkräftige Beschäftigung, und die können wir ihm nicht geben. Er hatte gehofft, mit den Hunnen kämpfen zu können, aber ich durfte es nicht Zulassen, und als er diese Männer und ihre erbärmlichen Waffen gesehen, verzichtete er selbst verächtlich darauf. Bei Euch könnte er sich eher seinen Kräften entsprechend betätigen. Wollt Ihr ihn unter Euch aufnehmen, als Euren Kameraden?«
»Herzlich soll er uns willkommen sein, kann ich nur wiederholen!«
»Aber Ihr sollt nicht über ihn forschen, nicht ihn über seine Vergangenheit fragen. Was ich Euch von ihm gesagt habe, muss Euch genügen.«
»Nicht die geringste Frage wird an ihn gestellt werden.«
»Ich danke Euch. Raimund wird sich bei Euch einfinden. Nun noch etwas anderes. Wollt Ihr dieses Tal verlassen?«
»Wenn Du es wünschest —«
»Nein, ganz wie Ihr, wie Du bestimmst! Ich habe Euch in diesem meinem Reiche für alle Zeiten Gastfreundschaft zu gewähren, Euch immer zu Diensten zu stehen, und ich versichere Dir, dass ich es von Herzen gern tue.«
Die blauen Augen in dem faltigen und doch so jugendfrischen Antlitz blickten so ehrlich, dass man unmöglich an der Aufrichtigkeit dieser Worte zweifeln konnte.
»Ich selbst habe noch keine Neigung, dieses Tal zu verlassen, dessen Geheimnisse wir wohl noch längst nicht gänzlich erforscht haben. Doch hat hierüber in letzter Instanz unsere Patronin oder aber der gemeinsame Entschluss der ganzen Mannschaft zu entscheiden.«
»Nein, ich meine eigentlich, ob Ihr es einmal vorübergehend verlassen wollt?«
»Mit unserem Schiffe?«
»Nein. Das kann hier liegen bleiben.«
»Zu Fuß in die weitere Umgebung?«
»Auch nicht zu Fuß. Auf einem anderen Fahrzeug.«
»Auf was für einem?«
»Professor Beireis wird Euch weitere Erklärungen geben. Setzen wir unseren Weg fort. Diese Felsenräume hier hätten wir sowieso passieren müssen.«
122. KAPITEL.
DIE EXPERIMENTE DES PROFESSORS.
Sie waren wieder vereint, hatten sich gegenseitig erzählt, die beiden Freunde, was sie unter den Hunnen erlebt oder doch beobachtet hatten, die Zurückgebliebenen, wie die Argonauten dem von Merlin eingeführten Gog eine Vorstellung gegeben hatten, fast zwei Tage während, wie sie ihn sonst unterhalten hatten, was dies alles für einen mächtigen Eindruck auf den Hunnenfürsten gemacht hatte.
Am anderen Tage stellte sich gleichfalls von Merlin geführt, Herr oder Mister Raimunds ein, wie er fernerhin genannt wurde, einige jener fremden Neger trugen ihm etwas Gepäck nach, der jetzt Unmaskierte wurde mit der größten Freundlichkeit empfangen, doch wollte man sich jetzt um ihn lieber noch nicht viel kümmern, er bekam zwei Kabinen angewiesen, da mochte er sich nach und nach einrichten.
Dann kam eine Einladung für die Indianer und die englische Mannschaft, der Maharadscha wolle ihnen eine spezielle Vorstellung geben, sie verließen das Schiff und verschwanden in einem Felsengange, bald darauf stellte sich der schon angemeldete Professor Beireis ein, wie er sich nun einmal nannte und der er sein wollte, wie immer patent im schwarzen Frackanzug.
Wieder waren es einige Neger, die ihm verschiedenes nachtrugen, darunter als Hauptsache einen schweren Zylinder von ungefähr einem Meter Höhe und einem viertel Meter Durchmesser, überall mit Messingschrauben versehen. Er wurde wie die anderen Sachen, Kisten und Blechkoffer und dergleichen, einstweilen an Deck gesetzt.
Wie gesagt, des Professors Besuch war angekündigt worden, man wusste, dass er einen Experimentalvortrag halten wollte, alles hatte sich dazu schon an Deck versammelt, niemand fehlte. Nur eben die Indianer und die englischen Schiffsleute waren vorher entfernt worden, natürlich mit guter Absicht.
Eine Vorstellung war auch nicht nötig, man kannte diesen Professor Beireis ja schon zur Genüge, von jenem australischen Seefelsen aus, wo man ganz intim mit ihm verkehrt hatte.
Das kleine, zierliche Männchen blickte sich würdevoll im Kreise um und zog gravitätisch seine weißen Glacehandschuhe aus.
»Meine Herrschaften,« begann er dann. »Ich habe die Ehre, beauftragt worden zu sein, Ihnen einen Experimentalvortrag Zu halten. Es ist dazu nötig, dass ich ab und zu Fragen stelle, auch zum Teil solche, welche das Kommando dieses Schiffes betreffen. Soll ich mich dazu an Sie wenden, Herr Kapitän Martin, oder an den Herrn Waffenmeister?«
Kapitän Martin machte ein misstrauisches Gesicht und schlenkerte das rechte Bein nach dem Waffenmeister.
»Na da nehmen Sie nur mich,« begann dieser bereits zu lachen, denn das Männchen benahm sich von vornherein gar zu possierlich, was aber nicht weiter geschildert werden kann.
»Danke. Also, Herr Waffenmeister, Sie sind mein Partner. Sind alle Mann hier oben? Ist niemands mehr unter Deck?«
Schnell konnte konstatiert werden, ohne erst abzuzählen oder aufzurufen, dass sämtliche hier versammelt waren.
»Sind Ihre Kessel geheizt?« war die nächste Frage·
Nein, unter den Kesseln war schon seit langer Zeit kein Feuer mehr, jetzt hatte man es nicht mehr nötig, immer auf Dampf zu hatten. Außerdem war ein Hauptteil der Maschine gerade abmontiert worden, um eine allgemeine Schmierung vorzunehmen
»Dann bitte, wollen Sie die Trossen loswerfen lassen.«
Es geschah, wie das kleine Männchen sich ganz seemännisch ausgedrückt hatte.
Die »Argos« lag wieder an ihrer alten Stelle in der seitlichen Wasserschlucht, war mit einigen Tauen, welche durchs die Felsenfenster gingen, festgemacht, diese wurden losgeworfen und eingeholt.
»Danke. Sie erlauben doch, dass ich einmal die Führung des Schiffes übernehme? Ich hätte es eigentlich zuvor fragen müssen. Sie gestatten es mir? Danke. Haben Sie keine Sorge, weil das Schiff etwas stromab in die Schlucht hineingetrieben wird. In einer einzigen Minute habe ich es in meiner Gewalt.«
Und schnell hatte der Professor aus einem Kasten zwei dünne, blanke Kupferdrähte genommen, sie im Nu an zwei Klemmen des großen Zylinders, der mittschiffs an Deck stand, geschnaubt, sofort nahmen zwei seiner schwarzen Gehilfen das Ende je eines Drahtes, gingen hinüber nach der Bordwand, nach beiden Seiten, befestigten es dort, ganz oberflächlich und es schien auch gar nicht darauf anzukommen, wo sie es befestigten, denn der eine hatte den Draht um einen Cofenagel geschlungen, der andere ihn flüchtig um die Wante des Mittelmastes gewickelt.
Unterdessen hatte der Professor dem Kasten auch schon zwei andere, kürzere Drähte entnommen, sie ebenfalls an den Zylinder geklemmt, das andere Ende an ein schwarzes Brettchen befestigt, das mit vielen weißen Knöpfen besetzt war und das er immer in der Hand behielt.
»So, jetzt wollen wir eine kleine Spazierfahrt auf den See hinaus machen.«
Hatte man sich schon gewundert, was das Männchen da machte, wozu er das manövrierunfähige Schiff hatte abtauen lassen, so geriet doch jetzt alles vor Staunen schier Außer sich, als sich das mächtige Schiff plötzlich in Bewegung setzte, langsam zur Wasserschlucht hinausfuhr, draußen immer schnellere und schnellere Fahrt annahm, dabei einen großen Bogen beschrieb, plötzlich sich vorn aufbäumte und im nächsten Augenblick ganz still dalag, nur von dem erregten Wasser noch etwas geschaukelt.
Niemand war während dieses Manövers, das allerdings kaum eine Minute gewährt hatte, eines Wortes fähig gewesen.
»Ja, ist denn das nur eine Illusion?« erklang es dann.
»Glauben die Herren, dass dies nicht Wirklichkeit ist, dass Sie dies zu erleben sich nur einbilden, dies alles nur träumen?« lächelte der Professor, der sich immer mit dem Brettchen beschäftigt hatte, ab und zu einen Knopf drückend.
Nein, davon konnte keine Rede sein, das war nur so eine Redensart gewiesen.
»Wie ist denn das nur möglich?« erklang es dann.
»Nun, Herr Waffenmeister, wie erklären Sie sich die Sache?«
»Die wirkende Kraft kommt aus diesem Zylinder,« entgegnete dieser, wozu freilich nicht viel Scharfsinn gehörte.
»Sehr richtig. Was für eine Kraft?«
»Elektrizität.«
»Wiederum sehr richtig. Und wie treibt diese Elektrizität das Schiff vorwärts?«
»Das — ist mir unerklärlich. Denn Schraube und Ruder kann sie doch nicht bewegen.«
»Weshalb nicht?«
»Weil hinten gar keine Schraube ist, sie ist abgenommen worden, die Stopfbüchse ist gedichtet, und auch das Ruder ist abmontiert.«
»Kommt sonst eine der Damen oder einer der Herren auf die Idee, wie ich dann das Schiff durch Elektrizität fortbewegen kann? Oder durch Magnetismus, will ich gleich hinzufügen.«
Nein, auch dieser Hinweis auf die Wirkung von Magnetismus brachte niemand auf einen auch nur ahnenden Gedanken.
»Dann gestatten Sie mir, Ihnen zur Erklärung erst ein Experiment im Kleinen vorzuführen. Darf ich um eine größere Balje bitten, gefüllt mit Frischwasser.«
Er hatte Balje gesagt, nicht Wanne. Aber eine solche war es, groß genug, dass darin jemand ein Wannenbad nehmen konnte, schnell wurde sie durch die Handpumpe mit Frischwasser gefüllt, bis ziemlich an den Rand, wie der Professor angab.
Der hatte unterdessen einem Kästchen zwei andere Drähte entnommen, weiß und so dünn wie Rosshaar, man konnte sie kaum erkennen, hatte sie gleichfalls an den Zylinder befestigt, und jetzt bemerkte man, dass diese vielen Klemmschrauben verschieden gefärbt waren, weiß und gelb, und je zwei Drähte wurden immer an verschiedenfarbigen befestigt.
»So. Danke Für dieses erklärende Experiment möchte ich aber aus gewissen Gründen kein Modelschiffchen, sondern lieber einen kleinen Schlitten verwenden. Der demonstriert noch viel deutlicher als ein Schiffchen, das auf dem Wasser schwimmt. Einen Schlitten benützt man bekanntlich nur auf Schnee oder Eis. Also werde ich dieses Wasser Zunächst gefrieren lassen.«
Der Professor nahm unter seinen Sachen einen Stab, ungefähr zwei Meter lang, der mit Strichen und Zahlen markiert war, in der Mitte befand sich eine Null, und auf dieser Null war jetzt der bewegliche Schieber angebracht.
Er steckte den Stab dicht an der hölzernen Wand der Balje ins Wasser und bewegte den Schieber ein wenig hinab.
»So. Ich lasse jetzt das Wasser gefrieren, indem ich ihm seine Wärme entziehe. Das besorgt dieser Stab. Allerdings ist es kein gewöhnlicher Stab, aber auch kein Zauberstab, sondern es ist ein Instrument, welches dereinst auch die andere Menschheit, wenn die Wissenschaft so weit ist, erfinden und benützen wird, um sowohl jede beliebige Hitze, wie jede beliebige Kälte zu erzeugen. Dadurch nämlich, dass das eine Ende des Stabes die Wärme eines Körpers, wozu man am bequemsten Wasser nimmt, aufsaugt und sie am anderen Ende wieder ausstrahlt. So gefriert das Wasser, am anderen Ende entsteht eine intensive Wärmequelle. Wenn man will. Ich habe den Stab jetzt anders eingestellt, Sie könnten das obere Ende ruhig anfassen, würden gar nichts von Wärme verspüren. Denn diese puste ich jetzt in das endlose Weltall hinaus. So, es ist geschehen.«
Schon vor den letzten Worten hatte sich auf dem Wasser eine dünne Eisschicht gebildet, und mit einem Male war als zu einer festen Eismasse erstarrt, die sicher bis auf den Boden der Wanne ging. Da sich das Wasser beim Gefrieren ausdehnt, hatte sich die Oberfläche des Eises auch etwas gehoben. Der Stab blieb drin stecken.
»Nun habe ich hier das kleine Modell eines Schlittens.«
Er Zeigte, was er dem Kasten entnommen hatte. Nichts weiter als ein kleines Kinderspielzeug, nur wenig größer als eine Streichholzschachtel, die Kufen aus Holz, auf dem Sitz waren zwei kleine Klemmschrauben angebracht.
Die »Käsehitsche« — wie der technische Kinderausdruck für diese Art Schlitten lautet — wurde auf die Mitte dies Eises gesetzt.
»Nun, meine Herrschaften, stelle ich Ihnen ein Problem. Wie ist es möglich, einen Schlitten durch Motorkraft fortzubewegen ohne Hilfe von Rädern? Denn sonst ist es doch kein Schlitten mehr, der nur auf Kufen über Schnee und Eis gleiten soll.«
Ja, das ist allerdings ein Problem!
Hierüber haben schon viele erfinderische Köpfe nachgegrübelt und tun es heute noch.
Einen Schlitten durch Motorkraft fortzubewegen.
Es gibt ja schon solche Motorschlitten.
Aber immer müssen dabei Räder zu Hilfe genommen werden, an den Seiten angebracht, mit Stacheln versehen, die beim Umdrehen in das Eis angreifen den Schritten auf den Kufen so fortschieben.
Eine andere Art von Fortbewegung eines Schlittens durch Motorkraft kennt man noch nicht. Bei Schnee, der nur etwas lose zu sein braucht, versagt diese Vorrichtung natürlich.
Ja, wie soll man denn einen Schlitten überhaupt anders fortbewegen als durch solche Stachelräder, die sich drehen?
Man kann sich überhaupt gar nicht vorstellen, dass es eine andere Art von Fortbewegung eines Gleitschlittens gibt, abgesehen von menschlicher oder tierischer Zugoder Druckkraft oder durch Stoßen oder durch Segel oder durch Gleiten auf einer schiefen Fläche.
Wie soll man denn sonst nur einen Schlitten fortbewegen?
Und doch, es schlummert in manchen Köpfen etwas wie eine Ahnung, dass sich eine motorische Kraft noch anders übertragen lässt als nur auf Räder, die sich dann drehen.
Man muss nur einmal einen Ingenieur sprechen, der sich mit so etwas beschäftigt.
Merkwürdig ist nur, dass sich niemand auszudrücken vermag.
Die Ahnung besteht, aber man kann sie nicht in Worte kleiden.
Das ist ungefähr so wie mit der vierten Dimension.
Wohl jeder selbstdenkende Mensch hat manchmal Augenblicke, da ihm die Ahnung überkommt, dass es vielleicht noch etwas anderes geben könnte als Länge, Breite und Höhe.
Dies wird wohl immer nur eine Ahnung bleiben, deren Richtigkeit höchstens durch magische Experimente nachgewiesen werden kann.
Hingegen dieses Problem, einen Schlitten durch Motorkraft anders zu bewegen, als indem via Stachelräder benützt oder etwa eine Propellerschraube, welche wie bei einem Luftschiff wirkt, das dürfte eines schönen Tages gelöst worden sein, und einige Jahre später werden wir die Geschichte so einfach finden wie — wie heute etwa den Flaschenzug.
Denn der Flaschenzug ist eine ganz gewaltige Erfindung gewesen! Wer ihn erfunden hat, wissen wir nicht. Jedenfalls aber bannten die alten Ägypter ihn noch nicht, obgleich sie sich so viel mit dem Fortbewegen und Heben schwerer Lasten beschäftigten. Die mussten beim Bau ihrer Pyramiden noch schiefe Ebenen aus Erde anlegen, auf denen sie die kolossalen Steine und Platten hinaufbeförderten. Der Flaschenzug war ihnen unbekannt.
Nein, auch hier wusste niemand, wie man einen Schlitten anders als in den bekannten Weisen vorwärts bewegen sollte, und der Waffenmeister sprach es für alle aus.
»Danke,« dienerte das höfliche Männlein für diesen Bescheid. »Und dennoch ist es ganz einfach. Denken Sie sich — ich will das Experiment nicht erst ausführen, Sie können es sich doch lebhaft vorstellen — dieser Schlitten wäre von Eisen. Oder vorn und hinten wäre je ein Stück Eisen befestigt. Nun nehme ich einen Magneten. Halte ich diesen vor das vordere Eisenstück sorge dafür, dass er nicht mit ihm in direkte Berührung kommt, so wird der Schlitten doch immer dem Magneten nachfolgen. Habe ich dabei den positiven Pol gewählt, so wird dieses Eisenstück negativ Nähere ich dann diesen positiven Pol hinten dem Eisenstück, das vielleicht schon vorher positiv bestrichen worden ist, so wird der Schlitten doch vorwärts gestossen. Ist dem nicht so, meine Herrschaften?«
Ja, freilich, das geht!
Aber wer hält den Magneten, das ist die Frage!
Dann ist viel einfacher, man bindet den Schlitten an einen Strick und zieht ihn.
Allerdings trifft man ab und zu auf einen erfinderischen Kopf, der so eine geistreiche Idee hat. Man befestigt vorn an den Schlitten oder an einen Wagen oder an ein Wasserfahrzeug einen Magneten, der auf Eisenteile anziehend wirkt. Dann muss der Magnet das Fahrzeug nach sich ziehen.
Das ist natürlich Unsinn. Das ist nur etwas für Witzblätter. Dann wäre ja das Perpetuum mobile erfunden und noch viel mehr. Aber wenn das Fahrzeug mit dem Magneten fest verbunden ist, dann zieht sich das Eisen doch gegenseitig an, die Karre bleibt natürlich stehen, setzt sich doch gar nicht in Bewegung. Wie sollte denn das möglich sein.
So hatte auch der Waffenmeister für alle gesprochen.
»Sie haben recht. Und doch, es ist möglich, ein Fahrzeug an diese Weise durch Magnetismus fortzubewegen. Nur muss es ein anderer Magnetismus sein als der bisher der Menschheit bekannte, welchen nur Eisen besitzt und der nur wiedrum Eisen oder ganz reines Nickel anzieht. Und dass es noch die verschiedensten Arten von Elektrizität und Magnetismus gibt, ist Ihnen wohl schon im Schlosse der Entsagung, wie Sie es nennen, gesagt worden.
Der Magnetismus, den ich nun hierbei anwende, ist, wie wir ihn nennen, diametraler. Das ist wieder ein anderer als diagonaler, durch den jener Metallstaub mit elektrischen Lichtstrahlen dirigiert wird. Was man unter diametral versteht, wissen Sie wohl. Entgegengesetzt. Genau vom Mittelpunkt an gleichmäßig direkt entgegengesetzt. Weiter kann ich Ihnen jetzt nichts von diesem diametralen Elektromagnetismus berichten, nicht wie er erzeugt wird, das Recht steht mir nicht zu.
Eine der Haupteigenschaften des diametralen Magnetismus ist, dass er die verschiedensten Materien anzieht, respektive abstößt, je nachdem dazu der diesen Magnetismus erzeugende diametral—ektrische Strom angestellt ist. Ich bitte um eine Schale mit Wasser, etwa ein Waschbecken, es kann auch Seewasser sein.«
Während dieses gebracht wurde, entnahm der Professor seinem Zauberkasten einen Stab, etwa 30 Zentimeter lang, zur Hälfte schwarz, zur anderen Hälfte rot gefärbt und befestigte an zwei Klemmschrauben die beiden haardünnen, weißen Drähte.
Die Schale war nach seiner Anweisung auf einen höheren Kasten gestellt worden, der nur die Stelle eines Tisches vertrat.
»Danke verbindlichst,« dienerte das Männchen gegen den Matrosen, der die Schale gebracht hatte. »Sie sehen hier einen Stab. Es ist ein ganz gewöhnlicher Holzstab, voll, was für eine Sorte Holz weiß ich nicht einmal. Und Sie können sich auf meine Worte verlassen, ich will Ihnen doch hier nicht etwa mit einem hohlen Zauberstabe etwas vorgaukeln. Sie können ihn dann auch, wenn Sie wünschen, zerbrechen.
Ich habe diesen Stab mit der magnetischen Batterie verbunden. Dadurch wird er mit diametralem Magnetismus geladen, wird selbst ein diametraler Magnet. Und zwar ist dieser Magnetismus jetzt für Wasser eingestellt. Wie dies geschieht, kann oder darf ich Ihnen nicht erklären. Das schwarze Ende ist positiv, das rote negativ Nun nähere ich den positiven Pol dem Wasser — Sie sehen, er zieht das Wasser an.«
Das schwarze Ende des Stabes hatte die Wasserfläche noch nicht berührt, als das Wasser in einem dicken Faden hochsprang und sich von dem hochgehobenen Stabe auch noch höher ziehen ließ, bis der Strahl erst etwa in der Höhe eines halben Meters wieder zurückfiel, weil die Wasserlast eben für den Magneten zu groß wurde.
Das Staunen der Umstehenden war nicht ganz gerechtfertigt.
Ebenso hatte der Experimenteur nicht ganz Recht gehabt, als er vorhin behauptet, der uns bekannte Magnetismus zöge nur Eisen und reines Nickel an.
Dies gilt nur für Eisenmagneten.
Wenn man eine Stange aus Gummi oder Siegellack reibt, so wird diese bekanntlich elektrisch und zieht dann auch kleine Papierschnitzelchen, Korkstückchen, Holzspäne und dergleichen an, worauf schon früher einmal aufmerksam gemacht worden ist.
So einfach und bekannt diese Erscheinung auch ist, so hat sich die Wissenschaft doch noch gar nicht hiermit beschäftigt, das heißt insofern nicht, als sie die verschiedenen Substanzen in Betracht zieht, die hier dem Elektromagnetismus unterliegen.
Und es schadet gar nichts, wenn hierauf an dieser Stelle noch einmal aufmerksam gemacht wird.
Klein anderer als Arthur Schopenhauer, dieser exakte Wissenschaftler, behauptet, dass alle großen Erfindungen nicht von wissenschaftlichen Fachmännern, sondern von Dilettanten und Laien gemacht worden sind, im Grunde genommen! Die Gelehrten haben dann immer nur das einmal gelegte Ei ausgebrütet. Und so ist es nämlich auch, man braucht nur näher nachzuforschen!
Beireis Zog den an dem Holzmagneten kleben bleibenden Wasserstrahl noch mehrmals hoch.
»Ich könnte ihn noch viel höher ziehen, ehe er wieder abfällt, der Theorie nach sogar bis ins Endlose hoch, denn man kann diesen Magnetismus bis ins Endlose verstärken, aber mein Arm reicht nicht weiter. Das war die positive Seite. Nun nehme ich das rote, das negative Ende, das muss das Wasser natürlich abstoßen — da sehen Sie!«
Vor dem negativen Pol wich das Wasser zurück, es entstand in dem Wasser ein Loch, das überall hinging, wie sich der Holzstab bewegte, es war gar nicht möglich, den Magnet zu benetzen.
»Hier will ich den Magnetismus einmal tüchtig verstärken —«
Das schwarze Brett in der linken Hand, drückte er auf seinen weißen Knopf, dabei den Stab in die Schale tauchend, immer größer ward das Wasser. Doch das verdrängte Wasser hatte in der Schale keinen Platz mehr, floss über, und schließlich spritzte es nach allen Seiten bis zum letzten Tropfen heraus.
»So, dies war das einleitende, erklärende Experiment. Nun verbinde ich die beiden Drähte mit dem kleinen Schlitten. Und nun wissen die geehrten, scharfsinnigen Damen und Herren auch schon, wodurch sich jetzt der Schlitten wie von allein bewegt, zumal wenn ich noch hinzufüge, dass dieser Magnetismus sich gegen gefrorenes Wasser genau so verhält wie gegen flüssiges.«
Der kleine Schlitten setzte sich auf dem Eise in Bewegung, fuhr vorwärts und rückwärts, langsam und schnell und immer schneller, beschrieb Bogen und Achten, jagte im Kreise herum und blieb mit einem Ruck stehen, ganz wie der auf dem Knopfbrett herumfingernde Professor ihn dirigieren wollte, wie auch die Umstehenden manchmal wünschten.
Ja, die Erklärung war gegeben worden, aber das Staunen war doch grenzenlos, und Georg hatte noch Fragen zu stellen für alle anderen.
»Also der hölzerne Schlitten ist magnetisch, zieht vorn das Eis an und stösst es hinten von sich?«
»So ist es. Der diametrale Magnetismus bemächtigt sich des Gewichtsmittelpunktes eines jeden Körpers noch etwas anderes als der Schwerpunkt, was ich Ihnen jetzt aber nicht erläutern kann — teilt sich sofort. Vorn ist der Schlitten positiv magnetisch, hinten negativ Wo aber nun vorn und hinten ist, das kann auch bestimmt werden. So habe ich es in der Hand, den Schlitten auch rückwärts fahren zu lassen. Zum besseren Verständnis möchte man lieber sagen, dass auch das Wasser oder das Eis den Schlitten als Magneten anzieht. Vorn zieht es, hinten schiebt es. Natürlich gilt das auch für ein im Wasser schwimmendes Schiff. Dies, meine Herrschaften, ist das Fortbewegungsprinzip der Zukunft. Nur muss sich die Wissenschaft oder die ganze Menschheit erst einmal von dem wahnwitzigen Aberglauben befreit haben, dass es nur eine einzige Art von Magnetismus gebe. Denn diesem Irrglauben huldigt sie noch, obgleich sie doch schon von jeher zwei Arten von Elektrizität unterschieden hat, die der Reibung und die der Berührung, mit ganz verschiedenen Erscheinungen, und es gibt auch schon andere Arten von Elektrizitäten, und man wird noch erkennen, dass dieser verschiedenen Arten zahllose sind, und dann wird man auch noch die dazu gehörigen Arten von Magnetismus finden, und dann ist dieses Bewegungsprinzip gelöst, das allen Maschinen und Motoren ein Ende bereiten wird.«
»Wie lenken Sie denn aber nun den Schlitten?« fragte Georg.
»Einfach indem ich in die eine Kufe mehr Magnetismus leite als in die andere. Dann wird die eine Kufe doch auch von dem Eise vorn stärker angezogen und hinten stärker abgestoßen als die andere, der Schlitten muss sich drehen. Das kann ich alles hier von dem Tastenbrette aus dirigieren. Doch ist es eigentlich falsch, wenn ich von Kufen spreche. Es handelt sich immer um den ganzen Gegenstand, der mit diametralem Magnetismus erfüllt wird. Nun gibt es von diesem Magnetismus wieder verschiedene Arten. Lasse ich den Schlitten vorwärts oder rückwärts fahren, so wirkt der Magnetismus in der Längsrichtung Ich kann ihn aber auch nach der Breite hin wirken lassen. Dann wird die eine Breitseite positiv, die andere negativ Dann muss der Schlitten natürlich nach der Seite hin rutschen.«
Und es geschah. Der kleine Schlitten schusselte auf seinen Kufen erst etwas nach der linken Seite hin, dann nach der rechten, was natürlich nicht so gut gehen konnte als wenn er in der Längsrichtung fuhr. Immerhin, es ging.
»Bei einem im Wasser schwimmenden Fahrzeug geht das natürlich viel besser, es direkt nach einer Seite hin schwimmen zu lassen.«
»Dann könnten Sie also auch unser ganzes Schiff direkt nach einer Seite hin fahren lassen?«
»Gewiss. Was ich Ihnen hier im kleinen zeige, gilt alles auch für die größten Verhältnisse, und Ihr ganzes Schiff ist durch jene beiden starken Drähte diametral magnetisch gemacht worden. Ich dirigiere es durch dieses Tastenbrett ebenso wie den kleinen Schlitten. Bevor ich Ihnen jedoch zeige, was ich noch alles mit Ihrem Schiffe machen kann, will ich Ihnen das nächste Experiment wieder im kleinen vorführen, oder doch in ganz anderer Weise, und zur Abwechslung wieder etwas ganz anderes. O, wenn Sie ahnten, in welchem Zustande sich jetzt Ihr Schiff befindet! Bitte, Herr Waffenmeister, wollen Sie einmal in die Höhe springen und dabei die Augen offen behalten.«
Georg sprang in die Höhe. Dabei die Augen zu schließen, daran hatte er gar nicht gedacht.
Mit ganz verdutztem Gesicht stand er nach diesem Sprunge da, sprang immer wieder, und immer verdutzter ward sein Gesicht
»Ja, was ist denn das?«
Die Folge war natürlich, dass auch alle die anderen Luftsprünge machten, die Damen nicht ausgeschlossen, bis das ganze Schiff nur mit Irrsinnigen besetzt zu sein schien, die sich in Bocksprüngen gefielen und dazu ununterbrochen Ausrufe des grenzenlosesten Staunens taten.
Die Sache war nämlich die, dass jeder, der in die Höhe sprang, während der Zeit, da er in der Luft schwebte, nichts mehr von dem ganzen Schiffe sah. Auch nichts von den anderen Menschen. Er sah nur unter sich Wasser, dort den Strand, dort die Berge — das Schiff und die Menschen waren verschwunden! Bis seine Füße wieder das Deck berührten. Dann war alles wieder da.
»Ja, wie ist denn das nur möglich?«(
»Bitte, treten Sie einmal hier auf diese Unterlage,« lächelte das Männchen.
Schon hatte ein Neger einen kleinen, roten Teppich an Deck ausgebreitet, Georg trat darauf und -
Verschwunden war das Schiff und alles, was dazu gehörte und sich darauf befand, Georg stand auf dem roten Teppich, der frei in der Luft zu schweben schien. Unter sich sah er Wasser, den See, der aber hier ein langes, tiefes Loch bildete, einen Graben, den Dimensionen des Schiffes entsprechend, aber noch etwas länger und breiter, als wie das Schiff ins Wasser tauchte. Auch die Umgebung des Sees war deutlich zu sehen, genau wie sonst auch der See, nur eben das ganze Schiff fehlte mit noch einiger Wasserumgebung.
Als Georg von dem Teppich trat, nur mit der Fußspitze das Deck berührte, war das Schiff und alles wieder da.
Während einer nach dem anderen auf den Teppich trat und dieses Wunder über sich ergehen ließ, es konnten auch mehrere gleichzeitig darauftreten, nur durften sie nichts Außerhalb des Teppichs berühren, sonst gelang das Phänomen nicht, gab der Professor eine Erklärung.
»Wir haben schon einmal darüber gesprochen. Es gibt Substanzen, welche die Lichtstrahlen durchlassen, Wasser und noch viele andere Flüssigkeiten, von festen Substanzen zum Beispiel natürlicher Glimmer in dünnen Scheiben und künstliches Glas.
Das Glas ist durchsichtig. So sagen wir. Weshalb ist es durchsichtig? Weil es die Lichtstrahlen durchlässt. Weshalb lässt es die Lichtstrahlen durch? Das wissen wir nicht. Wir wissen also nicht, weshalb farbloses Glas durchsichtig ist. Da ist unsere Weisheit zu Ende. Genau so wenig kennen wir den letzten Grund, weshalb der Stein zur Erde fällt. Dieser letzte Grund ist Gott. Gott ist ein persisches Wort und bedeutet so viel wie unfassbar, das Unfassbare. Wer also daran Zweifelt oder sich darum streitet, ob es einen Gott gibt oder nicht, der hat die ganze Sache überhaupt noch nicht erfasst.
Nun ist aber gefunden worden, dass es noch andere Lichtstrahlen gibt als die für unsere Augen erkenntlichen, Lichtstrahlen, welche auch sonst undurchsichtige Substanzen durchdringen, sie daher für unsere Augen durchsichtig machen.
Die Konsequenz aus dieser zuerst von Professor Röntgen gemachten Entdeckung lässt sich noch gar nicht ziehen.
So hatte auch Professor Beireis zuerst gesprochen.
»Wieder ist es eine andere, besondere Art von Elektrizität,« fuhr er dann fort, »durch welche ich die gewöhnlichen Lichtstrahlen so umwandle, dass sie überhaupt jede uns bekannte Substanz durchdringe, sie also für unser Auge durchsichtig machen, und zwar in einer Weise, dass Form und Umrisse ganz verschwinden, dass der Gegenstand einfach unsichtbar wird. So wie etwa ganz reines Glas in ganz reinem Wasser vollkommen unsichtbar wird.
Ich leite durch dieses ganze Schiff einen Strom von solcher Elektrizität. Dadurch wird das ganze Schiff vollkommen durchlässig für die gewöhnlichen Lichtstrahlen, es scheint dem menschlichen Auge vollkommen Zu verschwinden.
Dies ist aber nicht für Sie bemerkbar, weil Sie selbst mit dem Schiffe in Kontakt stehen, weil Sie selbst von dieser Elektrizität durchdrungen werden. Das hebt die Wirkung auf.
Indem Sie in die Höhe springen, lösen Sie den Kontakt, die Verbindung, dann erblicken Sie das Schiff nicht mehr. Dasselbe erzielt dieser Teppich. Es ist eine besondere Substanz, welche gegen diese Elektrizität isoliert. Das ist die Erklärung.«
Ja, man musste es wohl glauben, man hatte die Tatsachen vor Augen.
»Wie kommt es,« fragte Georg, wieder auf dem Teppich stehend und hinabblickend, »dass das Loch in dem Wasser bedeutend größer ist als das Schiff selbst, so weit es ins Wasser taucht?«
»Finden Sie dafür nicht selbst eine Erklärung?« konnte das Männlein auch einmal schulmeisterhaft examinieren, und etwas Schulmeisterhaftes hatte es überhaupt immer an sich.
Aufmerksam blickte Georg über den Rand des Teppichs hinab.
Die Grenzen des Wassergrabens waren nicht scharf begrenzt. Das richtige, grünliche Wasser ging erst wie in einen Nebel über, der sich nach und nach auflöste, bis der scheinbar freie Raum kam.
Da sah Georg auch gerade, wie ein großer Fisch geschwommen kam, im Wasser erst noch ganz deutlich zu sehen, dann verlor er sich wie in einem Nebel, bis er ganz verschwunden war. Durch die Schiffsplanken hindurch konnte er natürlich nicht schwimmen. Er tauchte dann wieder auf, erst undeutlich im Nebel, dann deutlich im Wasser, war also vor den Schiffsplanken umgekehrt.
»Diese durchsichtig und unsichtbar machende Elektrizität pflanzt sich im Wasser nur auf eine gewisse Strecke fort,« sagte er dann, »wird immer schwächer, bis sie ganz versagt.«
»Bravo, Herr Waffenmeister, bravo!« konnte das gelehrte Schulmeisterlein auch loben, obgleich zu dieser Antwort sehr wenig Scharfsinn gehört hatte. »So ist es. Mehr habe ich dem nicht hinzuzufügen.«
Georg blickte empor.
»Aber sie ist doch noch bis in die Mastspitzen wirksam, die fast 30 Meter über Deck liegen, und das ganze Schiff ist mehr als 100 Meter lang.«
»Aber das ist seine kompakte, innig zusammenhängende Masse, sie leitet diese Elektrizität viel besser als das Wasser. Bitte, lassen Sie sich diese Erklärung genügen. Höchstens kann ich noch sagen, dass der Wirksamkeit dieser Elektrizität überhaupt Grenzen gesetzt sind. Natürlich, sonst brauchte ich den Strom ja nur direkt in die Erde Zu leiten, und die ganze Erde müsste unsichtbar sein. Bisher ist es uns nur gelungen, die völlige Wirkung bis zu einer Entfernung von 62 Metern zu erzielen. Wenn ich also den Strom etwa in einen Felsen hineinleite, und Sie stehen isoliert, so würden Sie in der Felsenwand ein Loch, eine runde Höhle von genau 124 Meter Durchmesser erblicken, aber nur 62 Meter tief. Denn der Strom pflanzt sich ja nach allen Seiten hin fort, und die eine Seite bleibt dabei frei. Verstehen Sie? Da hier der Apparat in der Mitte des Schiffes steht, dieses noch keine 124 Meter lang ist, so unterliegt es auch noch vollkommen der Wirkung, ist für den isoliert oder Außerhalb des Schiffes Stehenden vollkommen unsichtbar. Verstehen Sie?«
Ja, man verstand. So schwer es auch einigen Köpfen fallen mochte.
»Da muss man sich doch auch selbst unsichtbar machen können,« sagte Georg, wieder den Gedanken von anderen aussprechend.
»Gewiss. Sie alle sind überhaupt unsichtbar. Aber nur für diejenigen, welche sich Außerhalb dieses Radius befinden.«
»Kann man sich nicht auch innerhalb dieses Radius unsichtbar machen?«
»Dazu brauchen Sie nur auf diesen Isolierteppich zu treten. So, danke. Wenn ich Sie nun durch zwei Drähte mit der Batterie verbinde, noch besonders solch einen Strom durch Sie leite, dann sind Sie auch auf diesem Schiffe unsichtbar. Aber das ist nicht nötig. Ich habe hier eine kleine Batterie, die nehmen Sie einfach in die Hand, der Strom, so schwach er auch ist, durchläuft Ihren Körper, und Sie sind für die normalen Lichtstrahlen durchlässig, desgleichen alles, was mit Ihnen in Berührung steht, also auch Ihre Kleider — Sie scheinen für die Augen der anderen zu verschwinden.«
Der Professor hatte aus seiner Fracktasche eine kleine, weiße Büchse gezogen, von der Größe einer Zigarettenschachtel, fingerte daran etwas herum, obgleich man keine Knöpfe oder etwas Ähnliches sah und reichte sie dem Waffenmeister.
Sobald der Geber die Büchse freiließ, nur Georg sie in der Hand hatte, war er mit einem Schlage spurlos verschwunden, ebenso die weiße Büchse. Zu fühlen war er natürlich noch, aber keine Spur mehr von ihm zu sehen. Das heißt, das galt nur für die anderen. Mit seinen eigenen Augen sah er sich.
Einer nach dem anderen trat mit der Büchse auf den Isolierteppich und verschwand. Das Staunen lässt sich denken.
Professor Beireis lächelte verächtlich.
»Es werden keine hundert Jahre vergehen,« sagte er, »so wird dies die Menschheit so einfach finden wie die völlige Durchsichtigkeit einer Masse, hergestellt aus Sand, Soda und Metalloxyd, Glas genannt.«
Er mochte recht haben — aber vorläufig wurde diese Unsichtbarkeit doch als ein phänomenales Wunder angestaunt.
»Ist es nun nicht möglich?« fragte Georg dann, »sich auch anderswo unsichtbar machen Zu können als auf diesem Schiffe oder einem anderen Terrain, das nicht schon mit solcher Elektrizität durchdrungen ist?«
»Natürlich ist das möglich. Ob das Schiff oder ein anderes Terrain mit solcher Elektrizität durchdrungen ist oder nicht, daran kommt es überhaupt gar nicht an. Sie drückten sich überhaupt wohl nur falsch aus. Sie meinen jedenfalls, ob man sich in solchem unsichtbaren Zustande nicht auch frei bewegen kann. Natürlich kann man das. Dazu ist doch nur nötig, dass Sie jeden einzelnen Fuß isolieren, Strümpfe aus solcher Masse überziehen.«
Und das Männchen griff in die andere Schössentasche seines Frackes und brachte ein Paar rote Socken zum Vorschein. Sie waren groß genug, dass Georg sie bequem über seine Stiefel Ziehen konnte, nahm die weiße Büchse, und er war samt dieser und den roten Strümpfen für die Augen der anderen verschwunden. Setzen durfte er sich freilich nicht, auch nicht mit der Hand oder einem anderen Körperteil irgend einen anderen Gegenstand berühren, dann wurde er sofort in ganzer Gestalt wieder sichtbar, denn dann war ja der Kontakt mit dem Schiffe, mit dem Wasser, mit der ganzen Erde hergestellt, jene unsichtbar machende Elektrizität floss wirkungslos ab.
Hob er aber etwas in die Höhe, einen Eimer oder sonst etwas, dann wurde ja auch dieser Gegenstand isoliert, verschwand gleichfalls vor den Augen anderer Beobachter, nur vor den eigenen nicht.
»Wunderbar, wunderbar! «
So viele wie möglich wollten die roten Strümpfe anziehen. Einer der ersten, der sich dazu vordrängte, war der Segelmacher, weil der eben Oskar hieß. Hinter ihm machte sich gleich Mister Tabak bemerkbar, der aber beim besten Willen die Strümpfe nicht anziehen konnte, weil dessen quadratische Füße an Größenwahnsinn litten.
»Nun zum nächsten Experiment,« nahm Professor Beireis wieder das Wort, als sich die Sucht nach den roten Socken und der weißen Büchse endlich gelegt hatte.
»Ich greife zu dem einfachen, diametralen Magnetismus zurück, stelle ihn aber jetzt auf etwas anderes als auf Wasser ein. Trotzdem möchte ich dazu Wasser gebrauchen, das heißt kein Eis, ich möchte diesmal ein Schiffchen schwimmen lassen. Dazu muss ich dieses Eis erst wieder in Wasser zurückverwandeln.«
Das war schnell geschehen. An dem im Eise noch steckenden Stabe brauchte nur der Schieber etwas nach oben geschoben zu werden, über die Null hinaus, und es dauerte gar nicht lange, so war das Eis wieder geschmolzen.
Unterdessen hatte der Experimenteur den kleinen Schlitten von den beiden Haardrähten abgemacht, und dafür ein quadratisches, dünnes Holzbrettchen, das zwei Klemmschrauben trug, daran befestigt. Das Brettchen wurde auf das Wasser gelegt, wo es sich alsbald zu bewegen begann.
»Sie sehen, das Brettchen schwimmt vorwärts oder rückwärts oder seitwärts, ganz wie ich will. Woher das kommt, wissen Sie ja nun. Könnte ich aber nun nicht noch eine andere Bewegung einleiten?«
»Jawohl.«
»Und die wäre?«
»Nach oben und nach unten.«
»Richtig! Ich verteile die beiden verschiedenen Elektrizitäten auf die beiden Flachseiten des Brettchens, das hier ein Schiff vorstellen soll. Für die obere Seite schalte ich negativen Strom, für die untere Seite positiven Strom ein. Was wäre dann die Folge?«
»Wenn dann die untere Seite das Wasser anzieht, die obere Seite es abstößt, so muss das Brett untersinken.«
Plötzlich sank das leichte Brettchen wie eine Steinplatte unter, blieb auf dem Boden der Balje liegen.
»Um es nun wieder emporsteigen zu lassen, brauchte ich ja nur den elektrischen Strom auszuschalten. Denn es ist eben Holz leichter als Wasser. Nun will ich aber den Doppelstrom wechseln lassen, so dass die obere Seite positiv wird, also das Wasser anzieht, die untere Seite negativ, das Wasser also abstößt oder das Wasser das Brettchen, was ja immer ganz dasselbe ist. Was ist die Folge davon?«
Mit Vehemenz schnellte das Brettchen vom Boden der Balje empor, sprang über das Wasser, wohl Zehn Zentimeter hoch, fiel zurück, sprang bei Berührung der Wasseroberfläche wieder empor, und so ging das Spiel immer weiter, bis der Professor den Strom abstellte.
»Sie haben gesehen, der Theorie nach müsste das Brettchen ja frei in der Luft über der Wasseroberfläche schweben bleiben, weil der negative Magnetismus ja abstößt. Aber Sie wissen wohl alle, dass dies in der Praxis nicht möglich ist. Da kommen noch gaan andere Naturgesetze in Betracht. Es ist gerade wie beim Spiel der Papierschnitzelchen oder der Korkkügelchen unter der elektrisch gemachten Glasscheide. Kurz und gut, auf diese Weise kann man keinen magnetisch gemachten Gegenstand in der Luft frei schweben lassen. Es ist ein ewiges Hin- und Herpendeln. Und doch lässt es sich ermöglichen. Nur in anderer Weise. Also will ich Ihnen erst einmal etwas anderes zeigen.«
Einer seiner schwarzen Diener hatte unterdessen an die große Zylinderbatterie zwei andere Haardrähte befestigt, der Professor nahm aus einem großen Kasten ein etwa meterlanges Rohr, scheinbar nichts weiter als ein einzölliges Gasrohr, und schlang die Enden der beiden Haardrähte einfach darum.
»So. Dies ist tatsächlich nichts anderes als ein einfaches Gasrohr. Es ist nicht nötig, dass die Zuführungsdrähte angeschraubt werden. Bei dem Schlitten und dem Brettchen habe ich das nur der Bequemlichkeit halber getan, damit sie bei der Herumfahrerei nicht im Wege sind.
Es ist auch keine metallische Berührung nötig. Sie sehen ja auch, wie oberflächlich ich die Leitungsdrähte befestigt habe, mit denen ich das ganze große Schiff dirigierte.
Ich mache diese Gasröhre wieder diametral—magnetisch. Diese vordere Seite ist positiv, die hintere negativ Jetzt aber habe ich den Magnetismus auf atmosphärische Luft eingestellt, was allerdings nicht so einfach ist, denn es kommt dabei ein Gemenge von 21 Volumteilen Sauerstoff und 78 Volumteilen Stickstoff in Betracht. Das fehlende Teil besteht aus Argon und anderen Gasen. Doch schließlich brauchte ich auch nur auf Stickstoff einzustellen, der Sauerstoff würde mitgerissen.
Aber der Apparat ist nun einmal für atmosphärische Luft eingestellt, die in allen Höhenlagen eine ganz gleiche Mischung zeigt. Jetzt geht der elektrische Strom durch die Röhre. Was ist die Folge? Vorn der positive Pol zieht die Luft an, sie geht durch die Röhre, wird hinten vom negativen Teile wieder mit Vehemenz ausgestoßen. Bitte, überzeugen Sie sich.«
Ja, die vordere Öffnung des Rohres saugte ganz mächtig die Luft ein. Aus Fräulein Gerlachs Frisur wurde eine Haarnadel, obgleich sie ziemlich fest stak, sofort herausgerissen und sauste hinten mit Vehemenz wieder heraus, es war ein ganz gewaltiges Sauggebläse.
»Und diese Kraft kann ich theoretisch bis ins Endlose steigern. Praktisch nicht weiter, als bis das Rohr durch die Kraft der durchstreichenden Luft auseinandergerissen würde. Schon längst vorher aber würde es mir aus den Händen gerissen werden, und auch ein Herkules könnte es dann nicht mehr halten. Stecke ich das positive Ende ins Wasser, dann hört das Saugen natürlich auf. Das Rohr ist ja nur für Luft eingestellt. Stelle ich den Magnetismus für Wasser ein, dann würde das Rohr natürlich als Pumpe und als Spritze wirken. Dieses Experiment brauche ich Ihnen nicht erst vorzuführen. Wir bleiben hier bei der Luft. Was lässt sich hieraus nun für eine besondere Wirkung erzielen?«
»Das ließe sich vortrefflich zur Fortbewegung eines Luftschiffes verwenden!« rief Georg.
»Richtig, danke. Verwandeln wir also dieses Wasserschiff, durch ein einfaches Brettchen markiert, das sich aber auch schon als Unterseeboot erwiesen hat, in ein Luftschiff.
Der Professor legte das Gasrohr weg und wandte sich, in der einen Hand immer das Tastenbrett, wieder der Wasserbalje zu, auf der noch das Brettchen schwamm.
»Zunächst muss ich noch etwas erwähnen. Wir sind doch auch Menschen, denen Grenzen gezogen sind. Es ist mir nicht möglich, dieses Brettchen, so leicht es auch sein mag, kaum Zehn Gramm wiegend, nur allein durch magnetische Luft vom Wasser zu heben. Denn ich kann ja nur den positiven Magnetismus der oberen Seite dabei wirken lassen, der die Luft ansaugt, oder, anschaulicher ausgedrückt, dass das Brettchen oben von der Luft in die Höhe gezogen wird. Wohl ist die untere Seite negativ, abstoßend, aber unter dem Brettchen ist ja keine Luft, die abgestoßen werden kann. Und die Kohäsion des Brettchens mit dem Wasser ist so stark, dass die Anziehungskraft der Luft nicht ausreicht, um diese Kohäsion zu überwinden. Ich könnte das Brett einfach aus dem Wasser nehmen, dann würde es sofort geben. Aber ich will nun einmal das Brett aus dem Wasser heben, ohne es zu berühren, nur durch Magnetismus.
Und dass ich gleichzeitig zweierlei Magnetismus einleite, einen für Wasser, einen für Luft, dieses Problem haben unsere Physiker — das heißt die unserer Gesellschaft — noch nicht lösen können. Auch wir müssen eben jede Schranke mühsam überwinden.
Aber das lässt sich nun auch noch anders machen. Ich schalte zuerst Magnetismus für Wasser ein, unten negativ Dadurch wird das Brettchen nach oben abgestoßen. In demselben Augenblicke nun, da es in der Luft schwebt, schalte ich für Luft um. Da ist das Brettchen gefangen! Unten stösst die Luft, oben zieht sie. Es fliegt immer weiter in die Höhe, bis ich den Strom so geregelt habe, dass die beiden magnetischen Kräfte genau der Schwere des Brettchens entsprechen, dann muss es in der Luft schweben bleiben. Passen Sie auf.«
Plötzlich schnellte das Brettchen von dem Wasser empor, wollte zurückfallen, besann sich, man sah, wie die Wasseroberfläche heftig bewegt wurde, es stieg immer ganz wagerecht bleibend, höher, senkte sich wieder, so ging es noch einige Male auf und ab, immer kürzere Pendelbewegungen machend, bis es regungslos in der windstillen Luft schwebte.
»So, die Schwerkraft ist ausbalanciert. Das ehemalige Unterseeboot hat sich in ein Luftschiff verwandelt. Ein solches muss aber doch auch manövrieren können. Und das habe ich in der Hand. Ich lasse einigen überschüssigen Magnetismus, natürlich immer diametralen, vorn und hinten wirken, auch seitwärts, so kann ich das Luftschiff vorwärts oder rückwärts fahren lassen, kann es lenken, wie ich will, es natürlich auch steigen oder sich senken lassen.«
Und es geschah. Das Brettchen, immer hübsch in horizontaler Schwebe bleibend, fuhr hin und her, hob und senkte sich, führte die verschiedensten Manöver aus. Nur die Länge der beiden Haardrähte bedeuteten eine Grenze.
»Wunderbar, wunderbar! «
Mehr konnte man wirklich nicht sagen.
»In hundert Jahren wird es nicht mehr wunderbar sein. Ja, ich möchte fast garantieren, dass keine hundert Jahre vergehen werden und auch die andere Menschheit hat diesen diametralen Magnetismus entdeckt. Und damit ist auch das Luftschiff in seiner höchsten Vollendung erfunden. Denn eine größere Vollkommenheit können wir mit unseren Menschengehirnen vorläufig nicht ausdenken.«
»Sie meinen, durch diesen Luftmagnetismus kann man auch einen großen, schweren Körper, wie ein solcher ein Luftschiff doch ist, auch ohne Gasballon heben und treiben?« fragte Georg zweifelnd.
»Gewiss kann man das. Aber Sie haben ganz recht, wenn Sie daran Zweifeln. Ja, da muss allerdings noch etwas anderes hinzukommen. Also schreiten wir zum nächsten Experiment. Ich bitte um eine Wage. Etwa um eine Tafelfederwage, sie ist dazu am praktischsten. Haben Sie eine solche vielleicht an Bord?«
Sie brauchte nur aus der Kombüse geholt zu werden, so eine gewöhnliche Küchenwage, bei der eine Feder niedergedrückt wird.
Unterdessen hatte der Professor das Brettchen, das bereits an Deck lag, von den Drähten gelöst, nahm eine ihm von einem Neger aus einem Kasten gereichte schwarze Platte, die ziemliches Gewicht zu haben schien.
»Meine hochgeehrten Herrschaften! Sie sehen hier eine volle gusseiserne Platte von genau 20 Zentimeter im Quadrat und zwei Zentimeter Dicke. Da das spezifische Gewicht dieses Gusseisens 7,84 ist, beträgt das Gewicht der Platte 6272 Gramm. Sie ist mit einem Lack überzogen, dessen Gewicht ja auch noch hinzukäme, dafür aber hat man hier zwei kleine Löchelchen gebohrt, gleichzeitig dazu bestimmt, die Kontaktstifte aufzunehmen. Diese wiegen 8 Gramm. Es ist eine Experimentalplatte, daher die genauen Berechnungen, bei uns muss auch noch das Gewicht der Haardrähte in Betracht gezogen werden, aber solche Genauigkeit ist ja hier nicht nötig.
Die beiden Drähte sind unterdessen mit solchen Kontaktstiften versehen worden, ich stecke sie in die Löcher, lege die Platte auf die Tafelwage. Was gibt der Zeiger an? 13 Pfund. Die Wage geht falsch. Sie zeigt rund 280 Gramm zu viel an. Die Feder ist zu stark abgenützt, kann solche ziemlich große Gewichte nicht mehr tragen. Doch das hat ja hier bei uns gar nichts zu sagen. Also nehmen wir nur ruhig an, die Platte wiege dreizehn Pfund.
Jetzt leite ich durch diese Eisenplatte einen negativen Strom von diametraler Elektrizität, ohne sie aber dadurch magnetisch Zu machen. Was bemerken die Herrschaften?« Man bemerkte, dass die schwarze Farbe nach und nach in ein Grau überging.
»Und was bemerken Sie an dem Zeiger der Wage?«
Ja, da staunte man allerdings.
Der Zeiger ging immer mehr zurück, die Platte schien also immer leichter zu werden, und das um so mehr, je heller sie wurde.
Fast hatte sich die graue Farbe schon dem Weiß genähert, als die Nadel nur noch ein viertel Pfund anzeigte.
»So, hören wir vorläufig auf. Sie glauben doch nicht etwa, dass die Wage Sie betrügt? Nach meinem Strommesser, den ich hier an der Registertafel habe, wiegt die Platte jetzt ganz genau 1 17 Gramm. Bitte, wollen Sie sich durch Aufheben überzeugen, dass die Platte wirklich so leicht geworden ist. Fassen Sie sie ruhig an. Nur reißen Sie die Drähte nicht ab, die Kontaktstifte nicht heraus. Obgleich das keine andere Wirkung hätte, da der Strom unterbrochen wird, dass die Platte plötzlich wieder 13 Pfund schwer ist. Dann dürfen Sie sie sich vor Schreck nicht auf die Füsse fallen lassen.«
Verschiedene nahmen die Platte in die Hände. Ja, die wog höchstens noch ein viertel Pfund. Und in einigen Händen ließ der Experimenteur sie auch nochmals ihr volles Gewicht annehmen, aber es langsam bis auf dreizehn Pfund bringend, dann das Gewicht wieder abnehmen lassend.
»Mann, Sie können wohl auch die Schwerkraft aufheben?« rief Georg Außer sich vor Staunen.
»Können wir,« war die selbstgefällige Bestätigung, obgleich dann hinterher ein bescheidenes Geständnis kam. »Was ist Schwerkraft? Das wissen auch wir Physiker in jener geheimen Gesellschaft nicht. Wir vermuten nur, dass diese Erscheinung, die wir Schwer— oder Anziehungskraft nennen, auf besonderen Atherschwingungen beruht, die jeden Körper durchdringen. Jedenfalls aber haben wir ein Mittel entdeckt, um diese Schwerkraft in jedem Körper nach Belieben zu verstärken oder zu verringern. So, bitte, legen Sie die Eisenplatte auf die Wage Zurück. Ich mache sie noch leichter, vermindere ihr Gewicht bis auf 20 Gramm. Sie sehen, die Platte ist fast schneeweiß. So, das genügt. Jetzt schicke ich durch die Platte auch noch einen doppelten diametralen Strom, der sie magnetisch macht, und Zwar für Luft. Unten negativ, oben positiv, der Doppelstrom tritt als Elektromagnetismus in Aktion — da liegt die Eisenplatte.«
Ja, da flog sie in der Luft herum. Genau wie vorhin das hölzerne Brettchen. Vorwärts, rückwärts stieg, senkte sich, beschrieb die verschiedensten Figuren, ganz wie der Dirigent wollte, wie Wünsche geäußert wurden.
Die weiße Platte senkte sich auf einen Kasten herab und färbte sich mit einem Schlage tiefschwarz.
»Bitte — ziemlich 13 Pfund schwer. Bitte nehmen Sie die Platte, schlagen Sie sie auseinander, heben Sie sich die Stücke als Andenken auf. Wir haben noch genug solcher Dinger. Oder geben Sie mir irgend ein anderes Eisenstück, irgend einen anderen Gegenstand, Ihr Taschenmesser oder sonst etwas. Ich mache alles gewichtslos und lasse es in der Luft herumfliegen, auf mein oder Ihr Kommando. Die Sachen brauchen auch nicht gefirnißt zu werden. Nur dürfen sie dann nicht mit erdleitendenden Gegenständen in Berührung kommen. Dann geht natürlich die ganze Elektrizität flöten.«
So hatte das Männchen gesprochen.
Die Zuhörer brachten lange kein Wort hervor, bis diesmal Kapitän Martin es war, der es zuerst fand, natürlich ohne dabei seine Hände aus den Hosentaschen zu nehmen.
»Ei die tausend Sapperlot! Da können Sie wohl hier unser ganzes Schiff hochheben?«
»Kann ich.«
»Bis in die Wolken hinein?« fing Kapitän Martin jetzt doch Zu stutzen an.
»Kann ich.«
»Und mit diesem unserem Schiffe in der Luft herumgondeln?«
»Kann ich.«
Und als das Männchen in Frack und weißer Halsbinde diese dritte Bestätigung gegeben hatte, da geschah etwas großes in der Weltgeschichte.
Da nahm Kapitän Martin seine beiden Hände aus den Hosentaschen, zwecklos, nicht einmal um sich ein Stück Kautabak abzubeißen.
»Well, dann mal los,« erklang es dann von seinen bärtigen Lippen. »Aber ich komme nicht mit. Ich will erst an Land gesetzt sein. Und ich betrete dieses Schiff auch nicht wieder. Dann lege ich das Kommando nieder. Ein Seeschiff von 5000 Tonnen, mit dem jeder Schneidergeselle auch in den Wolken herumgondeln kann, das mag ich nicht mehr kommandieren. Das geht gegen meine seemännische Ehre«
Da brach das würdevolle Männchen in ein herzliches Lachen aus.
»Nein, nein, Herr Kapitän, beruhigen Sie sich, ich kann es nicht, da verlangen Sie zu viel von mir —«
Doch schnell wurde der Professor wieder ernst.
»Und doch, ich könnte es, dieses Schiff hier bis in die Wolken heben, es in ein perfektes Luftschiff verwandeln. Aber so schnell geht das nicht. Dazu bedarf es Vorbereitungen. Wohl reicht diese Batterie hier zehnmal aus, um es Zu heben, denn Sie ahnen nicht, wie viele Millionen Volt dieser Zylinder entwickeln kann, aber dazu müsste doch erst das ganze Schiff vom obersten Flaggenknopf bis zum Kiel aufs Sorgfältigste gefirnißt werden. Denn sonst wird ja alle Elektrizität ins Wasser geleitet. Ich muss es doch zuerst gewichtslos machen. Und auch dann noch würde hier oben durch das Ansaugen der Luft ein Wirbelstrom entstehen, der alle Masten aus den Fugen reißen wurde. Gar nicht davon zu sprechen, dass sich Menschen an Deck halten könnten. Nein, wenn die Herrschaften gestatten, so lade ich Sie zu einer Spazierfahrt auf einem Schiffe ein, welches extra für diesen Zweck erbaut worden ist.«
»Sie haben ein solches hier?« fragte Georg ganz erregt.
»Ja. Es ist hier in diesem Tale schon früher von unseren Leuten erbaut worden.«
»Sowohl als Wasserfahrzeug wie als Luftschiff zu benutzen?«
»Sie sagen es. Und als Unterseeboot dazu!«
»Ah! So hat es also damals Kapitän Satan benutzt, um die Amazonen hierher zu bringen?«
»Nein. Wohl hatte sich der abtrünnige Kapitän Satin dieses Fahrzeugs bemächtigt, konnte sich aber seiner nicht bedienen, verstand es nicht in Betrieb zu setzen. Bei der Herbeibeschaffung der Amazonen benutzte er ein Unterseeboot, das er uns allerdings ebenfalls geraubt hatte, aber die Verwendungen jener Elektrizitäten, durch die er es in ein Luftschiff hätte verwandeln können, waren ihm fremd, so weit gingen dessen Kenntnisse gar nicht. Also darf ich das Universalfahrzeug hierbeibeordern? Wollen Sie eine Spazierfahrt mit mir machen?«
»Sehr gern!«
123. KAPITEL.
WEITERE EXPERIMENTE, IN DIE SICH ZULETZT KLOTHILDE MISCHT.
Professor Beireis zog seine goldene Taschenuhr an langer goldener Kette, ließ den Deckel aufspringen, der nahestehende Georg sah ein regelrechtes Zifferblatt mit Zeigern, der Professor blickte auch darauf, dann aber führte er gleich die Uhr an seinen Mund, sprach mit fremden, den anderen unverständlichen Worten gegen das Glas, dann hielt er die Rückseite der Uhr an sein Ohr.
Obgleich nichts zu hören war, musste er wohl eine Antwort bekommen haben, eine ihm nicht gefallende, denn er machte ein etwas verdrießliches Gesicht.
»Ich bitte um Entschuldigung es vergeht noch einige Zeit, ehe das Fahrzeug hier erscheinen kann,« sagte er dann, die Uhr zurücksteckend
»Das war wohl ein drahtloses Telephon?« fragte Kapitän Martin, der seine Hände wieder in den Hosentaschen untergebracht hatte.
»Ja.«
»Well, was kostet so ein Ding?«
Es ist nicht so leicht zu erklären, weshalb sehr viele der Umstehenden, alle die, die Sinn für Humor hatten, plötzlich in ein heiteres Lachen ausbrachen. Es lag auch mit in dem eigentümlichen Blicke, den das kleine Männlein dem riesenhaften Kapitän zuwarf.
»Diese Erfindung ist uns nicht feil, keine — die anderen Menschen mögen sie nur selbst machen. Ja, es wird noch einige Zeit vergehen, bis der »Elektron« betriebsfähig ist, es wird gerade etwas montiert.«
»»Elektron« heißt das wunderbare Fahrzeug?« fragte Georg.
»Elektron. Das hat aber eigentlich nichts mit Elektrizität zu tun. Elektron ist — verzeihen Sie, wenn ich Sie unnötig belehre — ein griechisches Wort und bedeutet so viel wie »auserwählt«. So wurde von den Griechen der Bernstein genannt, den die Seefahrer, wohl erst Phönizier, aus dem hohen Norden nach ihrer Heimat brachten. Weil es eben etwas ganz Kostbares, Seltsames, Auserwähltes war, wurde diese gelbe Substanz Elektron genannt. Und weil an diesem gelben Harze durch Reiben zuerst jene rätselhafte Naturkraft erkannt wurde, leitete man dann deren Namen von dieser Substanz ab, so entstand unser Wort Elektrizität. Bei unserem Fahrzeug trifft alles dreies zusammen: es ist etwas ganz Auserwähltes, die Hauptrolle spielt die Elektrizität, und zur Isolierung aller Teile wird Bernstein verwandt — so führt es seinen Namen »Elektron« wohl mit Recht.
Nun, meine geehrten Herrschaften, möchte ich Ihnen die Zeit vertreiben, bis der »Elektron« kommt. Darf ich Ihnen noch einige andere interessante Experimente vormachen? Oder haben Sie zu den bisher geschienen noch Fragen zu stellen?«
»Ja, das hätte ich!« rief Georg schnell.
»Bitte. Ich bin zu jeder näheren Erklärung gern bereit, so weit ich darf.«
»Sie haben gezeigt, wie Sie die Eisenplatte leichter machen konnten. Können Sie sie auch schwerer machen als Eisen?«
»Kann ich.«
Die Platte, noch mit der Batterie verbunden, wurde wieder auf die Wage gelegt, der Professor drückte auf die Knöpfe seines Brettes, wieder begann sich das schwarze Eisen heller zu färben Jetzt aber ging der Zeiger der Wage herab, immer tiefer, stieg an der anderen Seite wieder herauf. Die große, starke Waage gab bis zu 40 Pfund an.
»32 Pfund! Demnach hätte dieses Eisen jetzt das spezifische Gewicht 20, das ist aber das spezifische Gewicht des gediegenen Goldes. Ich gebe immer noch sechs Pfund zu. So, 38 Pfund. Es gibst ja einige seltene Metalle, die noch schwerer als Gold sind, aber ein so schweres kennen wir nicht. Und die Platte hat sich immer erst grau gefärbt. Aber weiter gehen darf ich aus verschiedenen Gründen nicht, kann es jetzt auch nicht. Und Sie würden auch schon erschrecken, wenn Sie erführen, was für eine furchtbare Spannung jetzt die elektrische Batterie hat, in der sich also auch diese Platte befindet. Das geht nach Ihrer Rechnung in die vielen Millionen Volt! Doch brauchen Sie keine Sorge zu haben, es kann nichts passieren, Sie können die Platte auch heben. Nur bedenken Sie, dass es 38 Pfund sind, die Sie sich eventuell auf die Zehen fallen lassen.«
Sie wurde von verschiedenen Händen gehoben.
Ja, das waren 38 Pfund, welche diese Platte wog, nur zwanzig Zentimeter im Quadrat haltend und zwei Zentimeter dick! Noch viel, viel schwerer, als wenn sie aus gediegenem Gold bestanden hätte!
Ein Mann benahm sich ungeschickt, hatte solch eine Last nicht erwartet, ein Kontakt fiel heraus, und da erschrak er noch mehr, hätte die Platte beinahe hochgeschleudert. Denn plötzlich hatte die Platte ihr ursprüngliches Gewicht von 13 Pfund angenommen, war also dreimal leichter geworden als soeben.
»Es ist fabelhaft!« staunte Georg für alle. »Ja, wenn die Platte das spezifische Gewicht des Goldes angenommen hat, besteht sie denn dann aus Gold?«
»Nein. Ebenso wenig, wie sie sich beim Leichterwerden verwandelt. Dann wird sie auch nicht zu Holz und zu Watte.«
»Es bleibt immer Eisen?«
»Ja.«
»Wie ist das möglich?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären.«
»Verdichtet sich die ganze Masse, rücken die Moleküle näher zusammen?«
»Nein. Dann müsste doch die ganze Platte zusammenschrumpfen.«
»Kommt das Eisen in einen anderen Aggregatzustand?«
»So ungefähr«
»Sie dürfen es uns nicht erklären?«
»Nein. Und Sie würden mich auch nicht verstehen keiner von Ihnen.«
»Aber ich darf doch weiter fragen?«
»Bitte sehr. Ob ich Ihnen antworten darf, das freilich ist eine andere Sache.«
»Wenn die Eisenplatte das spezifische Gewicht des Goldes erreicht hat, kann nun das Eisen dann auch in Gold überführen?«
»Ja.«
»Aber es gehört noch etwas anderes dazu?«
»Ja.«
»Wollen Sie uns das einmal vormachen?«
»Hierzu habe ich nicht die Erlaubnis bekommen.«
»Wird diese Erfindung einst auch die ganze Menschheit machen?«
»Ja. Sobald die diametrale Elektrizität entdeckt worden ist.«
»Wird dann als vorhandene Gold entwertet?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Die künstliche Herstellung wird stets viel, viel teurer sein als die Gewinnung des Goldes, wie es uns die Natur liefert.«
Das ist die Antwort, die man auf solch eine Frage regelmäßig von allen vernünftigen Sachverständigen und Geistern bekommt! Es ist dies schon einmal gesagt worden.
»Nun gut. Also nach unten, bei der Gewichtszunahme, ist Ihnen eine Grenze gezogen, wenigstens jetzt und hier. Und wie ist es nun nach oben?«
»Wie meinen Sie?«
»Wie leicht hatten Sie die Eisenplatte vorhin gemacht, als Sie sie als Luftschiff fungieren ließen?«
»Zehn Gramm.«
»Können Sie nun auch noch diese zehn Gramm wegnehmen, so dass die Platte völlig gewichtslos wird?«
Der Professor blieb die Antwort schuldig und benahm sich höchst seltsam.
Ein zappliges Männchen war es überhaupt immer, und plötzlich wurde es noch viel zappliger, trippelte hin und her und schlenkerte die Finger, dabei mit einem ganz merkwürdigen Gesicht.
»Ja — ich kann es,« fing es dann an, »ja — ich will es Ihnen vormachen — weil Sie es wünschen — und weil es mir nicht verboten worden ist, es Ihnen vorzumachen — aber gern tue ich es nicht — weil, weil, weil, weil, weil — es mir höchst unangenehm ist. Mir ist bei so einem Experiment etwas passiert. Wissen Sie denn, ja, wissen Sie denn —«
Und er blieb stehen, zog die Brauen hoch, das bartlose, faltige Gesicht bekam noch viel sorgenvollere Falten.
»Ja, geehrter Herr, wissen Sie denn eigentlich, was Sie da von mir verlangen? Wissen Sie denn, was das bedeutet: Gewichtslosigkeit? Kennen Sie denn irgend etwas, was absolut gewichtslos ist? Die Flaumfeder ist es doch nicht etwa. Nicht einmal ein Atom Wasserstoff. Und Sie verlangen von mir, ich soll diese dicke Eisenplatte dort absolut gewichtslos machen?«
»Nun, wenn Sie’s können, dann machen Sie’s nur einmal,« lächelte der Waffenmeister ob des erregten kleinen Herrn, der sich gar so possierlich benahm. Oder ist das Experiment gefährlich?«
»Nein, gefährlich ist es nicht. Nur ich, weil ich das Registrierbrett unbedingt halten muss, bekomme einen elektrischen Schlag, gegen den ich mich durch nichts schützen kann. Auch dieser Schlag ist mir nicht gefährlich, schädlich, aber aber, aber, aber — mir höchst unangenehm. Es ist ein ganz besonderer elektrischer Schlag. Es ist ein ganz verteufelter Schlag. Er geht einem durch alle Kaldaunen — pardon —«
Das Männchen hob mit noch höher gezogenen Augenbrauen wie warnend den Zeigefinger seiner niedlichen Hand.
»Meine Damen und Herren! Sie werden etwas zu sehen bekommen, was über jeden menschlichen Begriff geht! Sie werden einen Blick in die tiefsten Geheimnisse der Natur tun, hinter die Kulissen der Schöpfungskraft. Sie werden etwas zu sehen bekommen, etwas erleben, was jedenfalls — meiner festen Überzeugung nach — sogar über die Hutschnur der Götter geht. Mehr kann ich nicht sagen.«
Und er ging an die Vorbereitungen, die nur darin bestanden, dass er den abgelösten Draht mit dem Kontaktstift wieder in die Platte steckte und diese wieder auf die Wage legte.
Die Zuschauer bauten sich in spannendster Erwartung im Kreise herum auf. sollte man da auch nicht spannen! Wenn das, was man jetzt zu sehen bekam, sogar über die Hutschnüre der Götter ging!
»So. Die Geschichte geht los. Sie werden zuletzt auf dieser alten Wage nicht mehr mitlesen können. Ich habe hier auf meinem Registerbrett den allerfeinsten Messer, davon lese ich ab. Also jetzt sind es schon nur noch 12 Pfund — 10 Pfund — 5 Pfund —«
Die schwarze Farbe der Platte begann zu erblassen, bis sie zuletzt schneeweiß wurde oder noch weißer, wenn es etwas Weißeres als Schnee gibt — ein Pfund — ein halbes Pfund — ein viertel Pfund — 100 Gramm — 50 Gramm 20 Gramm — 10 Gramm, jetzt haben wir schon die vorige Leichtigkeit erreicht, nun passen Sie auf, es geht gleich los — 5 Gramm — 1 Gramm — ein halbes Gramm — ein hunderstel Gramm — ein Milligramm — ein halbes Milligramm — ein zehntel Milligramm — ein dreißigstel Milligramm ein aaaaauuutsch!!!«
Und mit schmerzhaft verzogenem Gesicht krümmte sich das Männchen, ließ das Registerbrett fallen und rieb sich die weiße Weste in der Magengegend
Doch schien es schnell vorüber zu sein, er richtete sich gleich wieder auf.
»Wieder eine bittere Pille verschluckt! Nun, und wo ist die Platte geblieben?«
Ja, wo war die weißgewordene Eisenplatte geblieben? Als der Professor sein »Autsch« gejammert hatte, war sie plötzlich mit einem Ruck verschwunden gewesen. Die beiden Drähte mit den Kontaktstiften waren herabgefallen.
Unsichtbar geworden, d. h. durchlässig für die Lichtstrahlen? Nein. Sie war auf der Tafelwage auch nicht mehr zu fühlen.
»Ah, ich weiß!« sagte da Georg. »Ist die Eisenplatte völlig gewichtslos geworden, so wird sie ja auch von der Erde nicht mehr angezogen, sie macht also die Umdrehung der Erde um sich selbst nicht mehr mit, vielleicht auch nicht einmal mehr die Erdbewegung um die Sonne, das Beharrungsvermögen ist aufgehoben — während die Erde weitersaust, ist diese Platte im raumlosen Weltall stehen geblieben!«
»Diese Vermutung ist sehr scharfsinnig ausgedacht und logisch begründet,« lobte der kleine Mann wieder, »allein sie ist falsch! Meine Herrschaften, wir haben dieses Experiment in unseren Laboratorien zahllose Male gemacht, unter den verschiedensten Verhältnissen. Wir haben die betreffende Masse, die wir absolut gewichtslos machen wollten, in eine luftleere Bombe eingeschossen, haben diese einfach mit Quecksilber ausgefüllt. Die Bombe, viele tausend Atmosphären Druck aushalten könnend, war nach menschlichen Begriffen absolut undurchlässig für jedes bekannte Gas. Zwei hermetisch eingeschmolzene Drähte gingen durch, so wurde das Quecksilber mit diametraler Elektrizität gewichtslos gemacht, die Bombe selbst war nichtleitend.
Nachdem wir unsere Pille geschluckt hatten, das heißt den Schlag bekommen, der am besten den gewünschten Zeitpunkt markiert, wurde die Bombe geöffnet. Sie war absolut luftleer. Das zu konstatieren, dazu sind wir in unserem Laboratorium in der Lage. Das Quecksilber also verschwunden. Und das haben wir zahllose Male gemacht, nicht nur mit Quecksilber. Wir wollen aber bei diesem bleiben.
»Wo ist nun das Quecksilber hingekommen?«
Meine Herrschaften! Wir stehen hier staunend vor einem der tiefsten Geheimnisse der Natur und Schöpfungskraft!
Es ist nicht anders anzunehmen, als dass sich dieses Quecksilber wie dort das Eisen wie jede andere Substanz, wenn sie absolut gewichtslos gemacht wird, in die Urmaterie aufgelöst hat.
Nur schade, dass wir uns unter diesem Wort »Urmaterie« gar nichts vorstellen können.
Ebenso wenig, wenn wir dafür Äther sagen.
Da gibt es nur eines: da kann man nur niederknien und die Gottheit anbeten!
Und wenn man dieses Gebet in Worte kleiden will, so betet unsereins vielleicht: Herr, lass mich nicht wissen, sondern lass mich forschen!«
Und das Männchen Zog ein Seidentüchlein hervor und trocknete den plötzlich perlenden Schweiß von der Stirn. Es war übrigens ein schönes Wort gewesen, das er da zuletzt gesagt hatte, es konnte mit seiner sonstigen Selbstüberhebung aussöhnen.
Doch man müsste wohl selbst ein Physiker sein, um zu begreifen, was ihn hierbei so mächtig erregte, und das sprach er selbst auch gleich aus.
»Meine Herrschaften! Wir stehen hier staunend vor Herren! Ich bitte um Verzeihung dass Sie mich so schwach gesehen haben. Verzeihen Sie aber auch, wenn ich glaubte, dass Sie den Grund hierzu nicht richtig erkennen. Ich werde Ihnen ein anderes Experiment vorführen, welches scheinbar diesem ganz ähnlich ist, Sie wohl noch ganz anders in Staunen setzen wird. Obgleich es eigentlich nur eine kindliche Spielerei ist, eine Gaukelei, nichts weiter. Das heißt nicht etwa eine Illusion, auch nicht durch Taschenspielertricks ausgeführt, sondern mit Hilfe von physikalischen und chemischen Kräften, also in das Gebiet der sogenannten höheren Salonmagie fallend. Ich gebe das Resultat zum Besten, um Sie zu überraschen und füge erst später die ganz einfache Erklärung hinzu.«
Er nahm aus seinem Koffer ein Dutzend Kästchen und verteilte sie zur Untersuchung.
Die Kästchen waren aus schwarzem Holze, sehr dünnwandig, ungefähr sechs Zentimeter im Kubik, innen wohl mit Zinnfolie belegt, hatten einen Klappdeckel, nicht weiter verschließbar.
»Finden die Damen und Herren an diesem Kästchen irgend etwas Besonderes?«
»Nein.«
»Sind Sie überzeugt, dass die Kästchen leer sind?«
»Selbstverständlich.«
»Ist es möglich, dass in den Kästchen etwas verborgen ist, in einem Doppelboden?«
»Etwas großes und Dickes kann es jedenfalls nicht sein.«
»Etwa so eine Figur hier?«
Er Zeigte sie. Georg nahm sie als erster in die Hand.
Es war eine sitzende Buddhafigur, durch die gekreuzten Beine ebenso breit wie hoch, wieder ungefähr sechs Zentimeter, aus feinem grauen, porösen, ungemein leichten Steine.
»Was ist das für eine Steinart?« fragte Georg.
»Was meinen Sie?«
»Bimsstein?«
»Erraten. Und Außerdem ist die Figur hohl. Deshalb ist sie so leicht. Kann solch eine Figur etwa in einem Kästchen verborgen sein?«
»Ausgeschlossen.«
»Wollen Sie nun die Figur in solch ein Kästchen stecken und den Deckel zumachen.«
Es geschah. Die Figur ging ganz genau hinein, mit etwas Reibung; aber sonst ohne Schwierigkeit.
»Sie haben das Kästchen mit der Figur in der linken Hand. Nun nehmen Sie in die rechte Hand ein zweites Kästchen, wählen Sie ein beliebiges. So. Halten Sie die beiden Kästchen ausgestreckt oder am Körper oder ganz wie Sie wollen. Sind Sie überzeugt, dass sich die Figur in dem linken Kästchen befindet, das rechte leer ist?«
»Ich muss wohl davon überzeugt sein.«
»Sehen Sie noch einmal nach.«
Man brauchte mit den Händen nur einen Ruck zu machen, so klappten die leichten Deckelchen in den Charnieren sofort auf, konnten dann ebenso leicht wieder umgelegt werden.
Natürlich, in dem linken Kästchen befand sich die Figur, das rechte war leer.
»Klappen Sie die Deckel wieder zurück. So. Bitte, nun wollen Sie die Deckel wieder öffnen.«
Georg starrte und starrte. Plötzlich befand sich die Buddhafigur in dem rechten Kästchen, das linke war leer. Er wurde auch aufgefordert, sie herauszunehmen.
»Wie ist denn das möglich?«
»Die Erklärung erfolgt später. Jedenfalls geht es mit ganz rechten Dingen Zu. Soll dieser Umtausch wiederholt werden? Dann in anderer Weise.«
Georg musste die Figur in ein Kästchen zurücktun, behielt nur dieses in der Hand, die anderen elf Kästchen wurden an elf verschiedene Personen verteilt. Es wurde nur verlangt, dass sie den Deckel geschlossen hielten, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass das Kästchen leer sei.
»In welches Kästchen soll die Figur wandern?«
»In das der Frau Patronin.«
Diese stand reichlich zehn Schritt von Georg entfernt.
»Ist die Figur noch in Ihrem Kästchen? Bitte, überzeugen Sie sich erst noch einmal.«
Ja, sie befand sich noch drin. Ebenso musste die Patronin noch einmal in ihr Kästchen blicken, auch hineinfühlen, es war leer!
»Schließen Sie die Deckel wieder. Eins, zwei, drei! Öffnen Sie die Deckel wieder.«
Georgs Kästchen war leer, die Figur befand sich im Kästchen der Patronin.
»Fabelhaft, fabelhaft! Entweder wir sind alle hypnotisiert oder das ist ganz echte Zauberei!«
»O nein. Das ist ein ganz einfacher, mechanischer Vorgang. Sie werden später, wenn ich die Erklärung gebe, einsehen, dass Sie etwas ganz Ähnliches schon längst kennen, dass es sich hierbei um etwas Ihnen ganz Geläufiges handelt. Sie lassen sich nur düpieren. In welches Kästchen soll Ihre Figur wandern, gnädige Mylady?«
»In das des Herrn Kapitän Martin.«
Sofort war die Figur dort.
»Bitte wollen Sie die Figur mit dem Messer durchschlagen,« wandte sich der Professor wieder an Georg.
Der brauchte nur sein Messer anzusetzen und leicht mit der Hand darauf zu schlagen, so war die Figur halbiert, innen dasselbe graue, sehr poröse Gefüge zeigend.
»Die ist ja gar nicht hohl, die ist ja voll!«
»Ja. Verzeihen Sie, dass ich vorhin sagte, die Figur wäre hohl. Ich kam Ihnen nur entgegen, um Ihnen die große Leichtigkeit plausibel zu machen. Es ist nämlich gar nicht Bimsstein. Denn so leicht dieser wiegen seiner Porösität auch ist, dass er auf dem Wasser schwimmt, nur fünf Gramm könnte die Figur dann doch nicht wiegen. Es ist eine künstliche Masse, die wir Menonith nennen. Nehmen Sie an, es sei versteinerte Schwammsubstanz, dann kommen Sie der Wahrheit auch ziemlich nahe. Nun wollen sie die Figur noch vollständig zerpulvern, wozu Sie am besten wohl, damit nichts verloren geht, hier diesen Mörser nehmen.«
Es geschah. Das Zeug, so hart es auch war, ließ sich wegen seiner Sprödigkeit ungemein leicht zum feinsten Staube zerpulvern.
Der Professor schüttete das Pulver in ein Kästchen, die letzten Stäubchen mit einem Haarpinsel auswischend, Georg musste es wieder mit geschlossenem Deckel halten.
»Zu wem soll der Staub wandern?«
»Zum zweiten Steuermann.«
»Öffnen Sie die Deckel.«
Das Kästchen von Georg war leer, in dem von Ernst aber befand sich kein Staub, sondern wieder die unversehrte Buddhafigur.
Das Staunen lässt sich denken.
»Und das wollen Sie dann auf ganz einfache Weise erklären?«
»Ich werde es tun. Jetzt nehme ich hier ein großes Blatt Stanniolpapier, wickele darin die Figur gut ein — so — nun wollen Sie die Figur frei in die Hand nehmen, aber noch die Finger darum schließen, recht fest. So. In welches Kästchen soll die Figur wandern?«
Georg stand da mit ausgestrecktem Arm, in der Hand die eingewickelte Figur, die Finger darüber halb geschlossen.
»In das des Grafen Mohakare.«
Kaum hatte er dies gesagt, als seine Finger zusammenklappten, das leere Stanniolpapier zusammendrückten. Die Figur befand sich in dem Kästchen des Grafen.
Dieses erstaunliche Experiment musste noch mehrmals wiederholt werden. Wenigstens die Hauptpersonen wollten alle fühlen, wie die Figur in ihrer Hand plötzlich zu einem Nichts zerrann.
»Nun werde ich selbst einmal kommandieren,« sagte der Hexenmeister, als gerade Tönnchen die eingewickelte Figur in der Hand hatte. »Sind die zwölf Kästchen verteilt? Nur elf. Das Zwölfte steht hier. Bitte, nehmen Sie es. Hokuspokus, eins, Zwei, drei! Öffnen Sie die Deckel.«
Tönnchen konnte die leere Stanniolfolie zusammendrücken in jedem der zwölf Kästchen befand sich eine Buddhafigur, sie konnten herausgenommen werden, wurden nebeneinander hingestellt, eine war genau wie die andere. Zum Beispiel fehlte an sämtlichen das linke Ohrläppchen, das erst neuerdings bei der Versuchsfigur abgebrochen war.
»Dieses Experiment, wie ich die Figuren bis zu jeder Zahl vervielfältigen kann, gehört schon nicht mehr hierher, ich will Sie auch nicht weiter düpieren, sondern Ihnen nun gleich die Erklärung geben.
Nehmen Sie an — praktisch brauche ich das gar nicht erst vorzuführen — ich hätte hier eine gewisse Quantität Wasser. Einen Liter will ich sagen. In was für seinem Gefäß sich dieses Wasser befindet, das ist Zunächst ganz gleichgültig.
Mir wird diese Aufgabe gestellt, dieses Wasser in ein anderes, leeres Gefäß zu übertragen, das zehn Meter von mir entfernt steht.
Wie löse ich diese Aufgabe?
Nun, ich nehme einfach das volle Gefäß, gehe hin und gieße das Wasser in das leere Gefäß.
Da habe ich die mir gestellte Aufgabe gelöst.
Bitte, wollen Sie das nicht als eine Naivität auffassen. So einfach muss man anfangen, um durch logische Schlussfolgerungen Zum Kompliziertesten zu kommen.
Ich habe aber gar nicht nötig, erst hinzugehen.
Ich nehme das Gefäß und schleudere das Wasser in das andere hinein, und ist dieses groß genug, so braucht dabei nichts verloren zu gehen, das hängt dann nur von meiner Geschicklichkeit ab.
Oder ich fülle das Wasser in eine größere Flasche, verstöpsele diese, durch den Kork gehen zwei Glasröhren, die eine bis auf den Grund, die andere erreicht das Wasser nicht, in diese blase ich kräftig, die Luft wird komprimiert, durch den Druck wird das Wasser zu der anderen herausgespritzt, ich lenke den Strahl in das andere Gefäß hinüber.
Das ist schon wieder eine ganz andere Methode, um das Wasser hinüber zu befördern.
Oder auf diese Weise kann ich das Wasser auch durch eine Glasröhre direkt hinüberleiten.
Und solcher Methoden lassen sich noch viele andere ausklügeln.
Bisher ist das Wasser immer im flüssigen Aggregatzustand gewesen.
Nun aber kann ich dieses Wasser auch erst gefrieren lassen.
Dann kann ich den Eisklumpen hinübertragen, oder werfen, oder mit einer kleinen Schleudermaschine hinüberschleudern. Drüben taut der Eisklumpen wieder auf.
Dann kann ich das Wasser auch als Dampf hinüberdestillieren, der drüben wieder kondensiert wird.
So, das waren die drei Aggregatzustände, in denen das Wasser hinüber befördert werden kann, als flüssiges Wasser, als festes Eis und als gasförmiger Dampf.
Kann ich das Wasser nun noch in einer anderen Weise, in einem anderen Zustande hinüberbringen?«
»In einem vierten Aggregatzustande?« fragte Georg sofort.
»Nein, ein vierter Aggregatzustand kommt dabei nicht in Betracht.«
Da konnte Georg diese Frage nicht beantworten, und auch kein anderer, Übrigens weiß man gar nicht, wie man sich einen vierten Aggregatzustand vorstellen soll.
Doch, einer wusste es: Doktor Cohn.
»Ich zerlege das Wasser durch Elektrolyse in seine Urbestandteile, in Wasserstoff und Sauerstoff, leite das Knallgas durch eine Röhre hinüber, vereinige die beiden Gase durch einen elektrischen Funken wieder zu Wasser.«
»Sehr richtig,« nickte der Professor zufrieden, und nun wussten es alle, die nur eine kleine Ahnung von Chemie hatten, und das nahm der Vortragende auch an, er gab dazu weiter keine Erklärungen. »Also auch auf diese Weise kann das Wasser hinübergeschickt werden.
Doch wollen wir dies erst einmal sein lassen. Ich komme noch einmal auf das gefrorene Wasser zurück.
Nehmen Sie an, ich hätte hier eine Flasche, welche die Form seiner Buddhafigur hat. Es gibt übrigens solche Flaschen — Schnapsflaschen, wenn dabei auch nicht gerade der heilige Buddha verwendet wird.
Die inneren Wandungen machen die Linien der äußeren Seite mit. Fülle ich diese Flasche mit Wasser, lasse es gefrieren, zerbreche die Flasche, so habe ich also eine Buddhafigur aus Eis.
Jetzt destilliere ich dieses Wasser, gefroren oder nicht, nach einer anderen, leeren Flasche hinüber, die diese Gestalt seiner Buddhafigur hat, kondensiere es durch genügende Kühlvorlage, lasse das Wasser gefrieren, zerbreche die Flasche, oder wenn sie eine enge Mündung hat, so zerbricht sie durch die Ausdehnung des gefrierenden Wassers von ganz allein — ich habe in der Hand eine Buddhafigur, die sich in einem Raume, in dem eine Temperatur unter Null Grad herrscht, auch für immer erhält. Nicht wahr, meine geehrten Damen und Herren?«
Ja, man sah ein, wie der Hexenmeister durch solch logische Folgerung der natürlichen Erklärung des scheinbaren Wunders immer näher rückte.
»Außerdem braucht es ja gar kein Wasser zu sein,« fuhr er fort. »Es gibt gar kein Metall, welches sich bei nötiger Vorsicht nicht unverändert destillieren ließe. Also könnten wir ja etwa auch Blei dazu nehmen.
Nun komme ich wieder auf die Elektrizität zurück.
Ich habe gesagt, dass Ihnen das, was Ihnen da so wunderbar erscheint, eigentlich eine schon ganz bekannte Erscheinung ist. Und das ist Tatsache. Nur dass es sich dabei um eine zweidimensionale Wirkung der Elektrizität oder um ein zweidimensionales Resultat handelt.
Meine Damen und Herren, Sie alle haben doch schon von der sogenannten Fernphotographie gehört. Es ist dies ein falsch gewählter Ausdruck, denn es handelt sich dabei nur darum, ein schon vorhandenes Bild auf elektrischem Wege zu vervielfältigen, wobei die Entfernung keine Rolle spielt.
Worauf es bei dieser sogenannten Fernphotographie ankommt, darauf will ich mich hier nicht einlassen. Dass können Sie in jedem neueren Konversationslexikon nachlesen.
»Und was nun der anderen Menschheit bisher mit Hilfe der Elektrizität nach zwei Dimensionen hin gelungen ist, in Form von Bildern, das haben wir bereits auf alle drei Dimensionen übertragen, so dass es uns möglich ist, einen Körper auf elektrischem Wege anderswo zu kopieren.
Übrigens ist auch dies Ihnen schon längst bekannt; einfach die Galvanoplastik. Nur darf ich die hierbei nicht zum Vergleich heranziehen, da es sich bei der Galvanoplastik um einen chemischen Vorgang handelt, während dieser hier ein rein physikalischer, ein ektrolytischmechanischer ist. Aber sonst ist das Resultat dasselbe. Und somit komme ich nun zur letzten Erklärung.«
Der Professor nahm eine der zwölf Buddhafiguren zwischen Daumen und Zeigefinger und zeigte sie der Zuhörerschaft, als wenn er vom Katheder aus doziere.
»Diese Substanz ist eine von uns künstlich hergestellte Kohlenwasserstoffgasverbindung, die wir Menonith nennen.
Sie wissen, dass alle reinen Kohlenwasserstoffverbindungen Gase sind.
Trotzdem wird es Sie nicht Wunder nehmen, dass es uns einmal gelungen ist, eine feste Kohlenwasserstoffverbindung herzustellen. Es ist dies nicht wunderbarer, als wenn Sauerstoff und Wasserstoff zusammen Wasser ergibt, das doch auch zu festem Eis gefriert.
Übrigens ist es ja gar nicht richtig, dass sämtliche Kohlenwasserstoffgase auch wirkliche Gase sind. Die kohlenstoffreichen kennen wir auch als Ole und Fette und selbst als harte, kristallisationsfähige Substanzen.
Kurz, es ist uns gelungen, eine Kohlenwasserstoffverbindung auf synthetischem Wege herzustellen, die einem Steine gleicht, hier dieses Menoniths, das sich unverändert erhält.
Wir werden sicher auch noch einmal dahin kommen, dass wir auch jede andere Substanz auf jede beliebige Entfernung hin plastisch übertragen können, vorläufig aber ist uns dies nur mit diesem Menonit gelungen. Und nun komme ich zum demonstrativen Experiment.«
Schon hatten seine schwarzen Assistenten zwei Stative in einiger Entfernung von einander aufgebaut, der Professor spannte zwischen ihnen einen Draht, verband diesen mit der Batterie, zeigte eine graue Kugel von der Größe eines Billardballes, sie war bis Zur Mitte fein angebohrt, steckte sie an das eine Ende dies gespannten Drahtes.
»So. Jetzt lasse ich einen elektrischen Strom durch gehen Diese Kugel besteht also ebenfalls aus Menonith. Was ist die Folge?«
Man sah es. An dem anderen, leeren Ende des Drahtes entstand ein Pünktchen, es schwoll zum Kügelchen an, und wie die ursprüngliche Kugel am anderen Ende abnahm, so schwoll diese hier an, bis die Kugel eben nach dem anderen Ende des Drahtes gewandert war, wozu es ungefähr einer Minute bedurft hatte.
»Wie ist das möglich? Der feste Kohlenwasserstoff wird durch die Elektrizität in seinen gasförmigen Zustand verwandelt, der elektrische Strom reißt die Gasmoleküle mit sich fort, sie gleiten also an dem leitenden Drahte entlang, können aber nicht weiter als bis an sein äußerstes Ende, hier müssen sie sich wieder verdichten, nehmen die regelmäßigste Figur an, die wir kennen: die der Kugel, wie doch auch jeder Wassertropfen eine Kugel zu bilden sucht, jeder Weltkörper kugelförmig ist.
große Schwierigkeiten hat es uns bereitet, diesen Vorgang so langsam vor sich gehen zu lassen, wie ich es hier gezeigt habe. Der elektrische Strom muss gewissermaßen gebremst werden. Wir brauchten diese Langsamkeit, um dabei nähere Untersuchungen anstellen zu können. Viel einfacher ist es, dem elektrischen Strome freien Lauf zu lassen, wodurch sich dieser Vorgang in dem Bruchteil einer millionstel Sekunde vollzieht. Nur für das menschliche Auge wird es dann wunderbarer, in Wirklichkeit ist es doch viel natürlicher. Also ich lasse den Strom zurückwandern, ohne ihn zu bremsen.«
Mit seinem Ruck war die Kugel an dem anderen Ende des Drahtes, und so ließ, der Professor sie noch mehrmals blitzschnell hin und her wandern.
»Nun komme ich dazu, wie man statt der Kugeln jede beliebige Figur übertragen kann.«
Statt der beiden Stative wurden zwei Glaskästen aufgestellt, bedeutend größer als jene schwarzen Holzkästen, innen mit Zinnfolie belegt, in die Wände waren an einigen Stellen Drähte eingeschmolzen, durch diese wurden die beiden Kästen sowohl mit der Batterie wie unter sich verbunden.
»Sie sehen hier eine gleiche Buddhafigur aus Menonith, nur im vergrößerten Maßstabe. Sie geht gerade in den Glaskasten hinein, berührt an sehr vielen Stellen die Zinnfolie. Das ist nötig, um möglichst viel leitende Kontakte herzustellen. Denn jetzt erfolgt nicht wie bei der Kugel die Übertragung von innen heraus, sondern von außen. Deshalb, und auch den Kopf der Elektrizität direkt zugänglich zu machen, bedecke ich den Kasten noch mit einer Glastafel, ebenfalls mit Stanniol überzogen. Wenigstens will ich Stanniol sagen, in Wirklichkeit ist es etwas ganz anderes.
Dadurch ist Ihnen die Figur unsichtbar geworden, Sie sollen aber den Vorgang beobachten. Nun, da mache ich das Stanniol einfach auf die früher beschriebene Weise für die Lichtstrahlen durchlässig, also für Ihre Augen durchsichtig.«
Der Professor drückte auf einen Knopf seines Registerbrettes, und beide Glaskästen waren durchsichtig in dem einen sah man die graue Buddhafigur.
»Die Transformation geht vor sich, zuerst langsam.«
Man sah, wie in dem leeren Glaskasten hier und da an den Wänden graue Knoten entstanden, welche schnell wuchsen, und wenn man genau beobachtete, so konnte man konstatieren, dass diese ersten Knötchen in dem leeren Glastasten genau an denjenigen Stellen der Wände entstanden, welche denen entsprachen, wo im anderen Kasten die Figur die Wände berührte.
Hier nahm aber die Substanz nicht etwa ab. Diese Berührung blieb. Die Sache war eben die, wie der Experimenteur auch erklärte, dass die Transformation von innen heraus erfolgte, wenigstens von der einen Seite aus, aus der anderen Seite aller geschah das Wachsen von aussen nach innen.
Zuletzt zerbrach die ursprüngliche Figur auch, man sah, dass sie ganz hohl geworden war, nur noch dünne Häutchen klebten an den Wänden, sie schmolzen immer mehr zusammen, um auf der anderen Seite die noch nicht ganz volle Figur auszufüllen.
»So, die Umwandlung ist geschehen. Nun hebe ich die Bremswirkung auf, lasse dem elektrischen Strome freien Lauf, der auch durch die Glaswände hindurch wie durch jede andere Masse die Kohlenwasserstoffmoleküle mit sich fortreißt. Zuck — zuck — Zuck —«
Die Figur wanderte blitzschnell hin und her.
»Jetzt löse ich die Drahtverbindungen der beiden Kästen, sie sind ganz unabhängig von einander. Dass ich dasselbe auch ohne leitende Drahtverbindung erzielen kann, ist Ihnen doch ganz selbstverständlich. Es ist doch auch nur eine Frage der Zeit, dass auch die andere Menschheit den elektrischen Vorgang der zweidimensionalen Fernphotographie wie der dreidimensionalen Galvanoplastik auf drahtlosem Wege erzielen kann. Ich habe hier einen kleinen Apparat —«
Er zeigte ihn. Zwei Metallröhren vereinigten sich in einer größeren Kugel, an der sie nach allen Richtungen hin verschiebbar waren.
»In dieser Kugel befindet sich die elektrische Batterie, die ich dazu nötig habe. Ich visiere mit dem einen Rohre nach diesem Glaskasten, mit dem anderen nach jenem. Jetzt schalte ich ein. Die elektrischen Wellen verbinden die beiden Kästen, aber nicht direkt unter sich, sondern nehmen ihren Weg eben durch diese Kugel. Also wenn ich den magnetelektrischen Strom in volle Wirksamkeit treten lasse, so nehmen diesmal die Menolithmoleküle ihren Weg durch diesen Apparat. Eine langsame Wiederholung ist wohl nicht möglich. Zuck — zuck — zuck —«
Wieder wanderte die Buddhafigur blitzschnell aus einem Kasten in den anderen. Der Professor legte den Apparat weg.
»Sie haben mich dieses Instrument nicht benutzen sehen, keinen meiner Assistenten. Aber ich habe noch andere Helfershelfer. Unsichtbare. Alle diese Vorgänge werden in einem weit, weit entfernten Laboratorium beobachtet. Wie dies geschieht kann ich Ihnen unmöglich erklären, oder ich müsste tagelang sprechen, und Sie würden mich wahrscheinlich auch noch nicht verstehen. Da muss von grundauf eine ganz besondere Schule besucht werden, die auch ich durchgemacht habe, und ich stehe erst am Anfange meiner Universitätszeit. Ich bin erst ein Stümper gegen jene, welche in unserer Gesellschaft und Verbrüderung den Rang von Lehrern einnehmen.
Kurz, es handelt sich um eine Spiegelung, sowohl optisch wie akustisch wie elektrisch wie noch in anderen Weisen wirksam, für welche Ihre Gelehrten noch gar keine Ausdrücke haben.
Also dort wird in einer Art von Spiegel alles beobachtet und auch gehört, was hier gesprochen wird. Denn ausgesprochen muss es werden. Ein Gedankenlesen gibt es bei uns nicht, wenigstens nicht in diesem Laboratorium, wo exakt wissenschaftlich gearbeitet wird.
Wie oft, Herr Waffenmeister, soll die Figur hin und her wandern?«
»Viermal,« flüsterte der Gefragte
Er flüsterte es, denn so klar dieser Vortrag auch gewesen war, dass das anfängliche Wunder auf ganz natürliche Weise erklärt worden, so wurde es ihm wie vielleicht allen anderen jetzt erst recht ganz unheimlich zumute.
Kaum hatte er es ausgesprochen, nur geflüstert, als die Buddhafigur viermal aus einem Glaskasten in den anderen wanderte.
Und der Professor fuhr fort:
»Einer weiteren Erklärung bedarf es wohl nicht. Das wird jetzt eben dort in dem Laboratorium reguliert, von einem ganz gleichen Apparat aus, wie ich ihn hier zeige. Die Entfernung spielt dabei keine Rolle, auch in Bezug auf die Schnelligkeit des Resultats nicht. Sie haben doch wohl schon von der sogenannten Molekularbewegung gehört. In jeder Substanz ist jedes Molekül in ständiger Bewegung. Ihr Professor Clausius hat ja darüber die genauesten Messungen angestellt. So bewegt sich ein Sauerstoffmolekül 400 Meter in der Sekunde, wenn man diese Notation in die Länge übertragen wollte, ein Wasserstoffatom gar fast 3000 Meter in der Sekunde. Hierbei kommt aber nicht nur diese Molekularbewegung in Betracht, sondern auch noch, dass diese Moleküle von dem elektrischen Strome mitgerissen werden. Also spielt der Theorie nach die Entfernung überhaupt gar keine Rolle, um in einem Moment überall hin die Figur zu transformieren, in der Praxis nur so weit, als wir spiegeln können, wobei uns allerdings Grenzen gezogen sind.
Alles andere können Sie sich nun wohl selbst erklären. Dass die Figur zerpulvert wurde, hatte nichts Zu sagen. Oder da wurden Sie eben getäuscht. Dieser Staub wanderte aus dem Kästchen nach unserem Laboratorium zurück, wo das Original der Figur steht. Also ist es doch ein leichtes, von dort aus auch in jedem Kästchen eine Kopie entstehen zu lassen, es braucht nur unter einen elektrischen Wellenstrom genommen zu werden, wobei Sie es auch in der Hand schnell hin und her bewegen können. Vom Laboratorium aus weiß man es schon zu treffen. Sie könnten es sogar in die Tasche stecken oder anderswie verbergen, es in einem Panzerschrank unter Schloss und Riegel nehmen. Diese elektrischen Wellen durchdringen jede Substanz, jede, und man weiß, dass Kästchen auch immer zu finden, da wir auch jede Substanz durchsichtig machen können. Sonst habe ich dem nichts weiter hinzuzufügen.«
Das Männchen machte zum Zeichen, dass sein Vortrag beendet sei, nach allen Seiten hin eine zierliche Verbeugung.
Kein Bravo wurde ihm gezollt.
Das tiefste Schweigen herrschte ringsherum im Kreise.
sie alle standen unter dem gewaltigen Eindruck der Erkenntnis, dass es auf dieser Erde eine Vereinigung von Menschen gab, welche an Wissen und Können weit, weit über der anderen Menschheit stand, denen gegenüber unsere Gelehrten und Forscher Kinder zu nennen waren. Wenn einer unserer akademischen Physiker und Chemiker mit all seinen Apparaten und Instrumenten und sonstigen Hilfsmitteln nach einem wilden Volke Zentralafrikas kommt und diesen Leuten dort die modernsten Erfindungen vorführt — es wäre nichts anderes, als was soeben hier geschehen war, und es hätten die bedeutendsten Physiker und Chemiker zugegen sein können.
Ein solcher war ja übrigens auch zur Stelle: Doktor Isidor Cohn. Aber der konnte nichts weiter als immer nur den Kopf schütteln und mit seinen Ohren wackeln.
»Sehr schön, sehr schön,« ließ sich da endlich eine Stimme vernehmen. »Sagen Sie mal, geehrter Herr Professor, können Sie auch hier diesen Stein so leicht machen, dass er auf dem Wasser schwimmt?«
Klothilde war es, die mit diesen Worten vortrat.
Sie harte sich schon während des letzten Teils des Vortrags zurückgezogen, auch einmal mit dem Segelmacher längere Zeit geflüstert, was aber niemand bemerkt hatte.
Ferner ist ein Grund vorhanden, dass wir gleich im voraus ihre Toilette beschreiben: diese bestand, bequem und zigeunerhaft, wie man an Bord dieses Gauklerschiffes nun einmal ging, dem Äußeren nach aus nichts weiter als aus einem buntgestreiften Rocke, auf dem Oberkörper hatte sie wohl nichts weiter als ein geschlossenes Hemd. Fußbekleidung trug sie gar nicht, ging barfuß, konnte ihre zierlichen Füßchen auch wirklich sehen lassen.
Bei jenen Worten Zeigte sie eine braune Figur, die ungefähr einer Ente glich, etwa, um ein Maß anzugeben, die Größe einer Streichholzschachtel hatte. Ja, es war eine Ente, aber ganz plump ausgeführt.
Der Professor nahm sie, betrachtete sie von allen Seiten, wog sie in der Hand.
»Was ist das für eine Gesteinsart?«
»Ich weiß es nicht. Ich habe den Stein am Seeufer gefunden, er gefiel mir, weil er gerade wie eine Ente aussah.«
»Der Stein ist voll?«
»Ja, natürlich ist er voll, nicht hohl. Können Sie den Stein gewichtslos machen, oder doch so leicht, dass er auf dem Wasser schwimmt?«
Der Professor kratzte zunächst mit dem Fingernagel darauf herum.
»Ist er mit einer Isolierschicht überzogen?«
»Mit was denn für einer Isolierschicht? Er ist so wie ich ihn am Seeufer fand.«
Der Professor hielt den Stein zwischen zwei von der Batterie ausgehende Drähte und fingerte auf seinem Tastenbrett herum.
»Nein,« sagte er dann, »dieser Stein muss erst mit Firnis oder einer anderen Isolierschicht überzogen werden, dann kann ich sein Gewicht nach Belieben verändern. So ist das nicht möglich, dieses Problem haben wir noch nicht gelöst. Ohne Isolierschicht wird die bidiametrale Elektrizität, welche die Wirkung der anziehenden Ätherschwingungen aufhebt, abgeleitet, selbst von der Luft. Und noch nicht einmal im luftleeren Raume ist uns dieses Problem Zu lösen gelungen.«
»Ich aber kann diesen Stein gewichtslos machen.«
Überrascht blickte der Professor auf die Sprecherin.
»Ohne Firnisüberzug?«
»Ohne jede Firnisserei.«
»Ja, was wissen Sie denn überhaupt von diesem ganZ besonderen Firnis, der unser ureigenstes Geheimnis ist?«
»Ich weiß gar nichts von diesem Firnis, sagte ich ja schon. Ich kann diesen Stein gewichtslos machen oder doch mindestens so leicht, dass er auf dem Wasser schwimmt.«
Zunächst legte der Professor den Stein auf das Wasser der Balje. Die Figur sank sofort unter, wie eben eine steinerne Ernte, die nicht hohl ist, untersinkt.
»Wie wollen Sie denn das machen?« fragte er dann mit geringschätzenden aber doch schon etwas unsicherem Lächeln.
»Das ist nun wieder mein ureigenstes Geheimnis. Aber ich will es Ihnen verraten. Das mache ich mit parambolidynamischer Elektrizität.«
Der Professor machte zunächst ein unbeschreibliches Gesicht.
»Mit pa — pa — pa —«
»Es papat sich dabei nichts, sondern es ist ganz einfach parambolidynamische Elektrizität, die sich natürlich auch in parambolidynamischen Magnetismus umwandeln lässt.«
»Was ist denn das, parambolidynamische Elektrizität?«
»Das ist eine Elektrizität, die ich erfunden habe, oder doch entdeckt. Sie befindet sich als Naturkraft überall in der Luft, aus dieser kann ich sie nach Belieben herauspumpen.«
Es sei gleich bemerkt, dass den anderen Zuhörern nicht ganz geheuer zumute war. Es war doch Klothilde, die so etwas behauptete, und deren tiefernstes Gesicht kannte man doch schon. Und gerade weil sie einmal keine Grimassen schnitt — das war gerade das Gefährliche dabei!
Aber dieses Männchen, das sich Professor Beireis nannte, mochte es die Klothilde nun schon kennen oder nicht — das war nur der wissenschaftliche Forscher, der die Wahrheit ergründen will.
»Sind Sie imstande, mir das vorzumachen, dass der Stein auf dem Wasser schwimmt?«
»Jawohl, bin ich.«
»Wann wollen Sie das Experiment ausführen?«
»Jetzt sofort.«
»Bitte sehr.«
»Folgen Sie mir.«
Man brauchte nur nach dem Vorderdeck zu gehen, dort hatte Klothilde bereits ihre Vorbereitungen getroffen.
Und wiederum wurden alle anderen ganz kopfscheu, oder bekamen sogar schon so eine kleine Ahnung, als sie merkten, dass derjenige, der diese Vorbereitungen getroffen hatte, der Klothilde dabei unterstützen wollte, kein anderer als der Segelmacher war.
Klothilde und Oskar — na, wenn die beiden zusammen arbeiteten, unter einer Decke steckten, da musste ja etwas Schönes dabei herauskommen!
Nur der Professor merkte nichts, ahnte nichts. Der wurde nur immer zappliger.
An Dreck war ein dunkelgemusterter Teppich ausgebreitet, fast schwarz, zwei Meter im Quadrat. In der Mitte desselben stand auf drei kleinen Bieruntersetzern aus Porzellan eine größere Kokosnussschale, bis ziemlich an den Rand mit Wasser gefüllt, das sehr schmutzig aussah, jedenfalls ganz undurchsichtig war.
»Bitte, meine Herrschaften,« nahm Klothilde das Wort, »wollen Sie sich um diesen Teppich herum aufstellen. Das Betreten des Teppichs ist nicht erlaubt, keine Berührung mit der Fußspitze. Sonst wird die parambolidynamische Elektrizität abgeleitet. Denn, Herr Professor, eine Isolierung habe ich dennoch nötig. Nur keinen Firnis. Wohl aber besteht dieser Teppich aus einem besonderen Stoffe, der isoliert. Wenn die Herren Matrosen behaupten, das wäre ja die Klaviervorlage aus ihrem Klubsalon, so haben sie ja allerdings ganz recht, aber ich habe den Teppich erst imprägniert. Womit, das ist mein Geheimnis. Desgleichen muss die Wasserschale isoliert werden, mit porzellanenen Tellerchen, die man gewöhnlich kurzweg Bieruntersetzer nennt. Die Schale ist die Hälfte einer Kokosnuss, gefüllt mit einfachem Frischwasser, das ich mit etwas Sepiasfarbe undurchsichtig gemacht habe. Dass dies alles so ist, dass sonst kein Hokuspokus in Betracht kommt, davon können sich Herr Professor dann hinterher überzeugen. Das Wasser muss undurchsichtig sein, weil im durchsichtigen Wasser die Wirkung der parambolidynamischen Elektrizität aufgehoben wird, ich den untergesunkenen Stein also nicht mehr erleichtern und ihn so heben könnte. Eine ausführlichere Erklärung folgt später. Und hier ist der Apparat, mit dem ich die parambolidynamische Elektrizität erzeuge.«
Klothilde, schon auf dem Teppich stehend, entnahm den Händen des Segelmachers ein meterlanges Rohr.
Es war nicht nötig, dass sie einmal mit ihren schwarzen Karfunkelaugen im Kreise herumblitzte. Sie kannte ihre Argonauten und die dazu Gehörenden doch schon, die verrieten mit keiner Miene, falls sie schon etwas ahnten.
Und der Professor war und blieb ahnungslos, und dasselbe galt von seinen schwarzen Gehilfen.
Es war ebenfalls ein ganz gewöhnliches Gasrohr, welches der Herr Professor mit eigenen Händen untersuchen durfte, nur dass es herrlich angemalt worden war, mit Ringen von allen möglichen Farben. Sonst war absolut nichts weiter daran.
»Hiermit erzeugen Sie die pa — pa — parambolidynamische Elektrizität?«
»Nicht papaparambolidynamische, sondern ganz einfach parambolidynamische Elektrizität. Jawohl, mit diesem Instrumente, das ich Ihnen später erklären werde, wird sie aus der Luft gepumpt und dorthin geschickt, wo man sie haben will, und ihre Wirkung werden Sie gleich sehen. Nur ist dann nötig, dass die elektrischen Wellen von oben her auf das Wasser fallen. Bitte, Oskar, klettern Sie hinauf.«
Oskar nahm das Rohr, erstieg die Wante, die hier über Deck zum Kreuzmast emporging, hing sich in einiger Höhe in die Stricke, visierte mit dem Rohre nach der Wasserschale.
»Allright, die carambokonstantinopolitanische Elektrizität ist fertick!« erklang es von oben.
»Nicht carambokonstantinopolitanische Elektrizität, sondern parambolidynamische,« verbesserte Klothilde mit unerschütterlichem Ernste. »Halt, noch nicht! Herr Professor, hier haben Sie wieder den Stein. Sie sollen ihn selbst in das Wasser werfen. Ist es noch derselbe?«
»Gewiss, es ist derselbe,« musste der nach kurzer Prüfung erklären.
»So erlaube ich Ihnen, dass Sie noch einmal den Teppich betreten, um den Stein selbst ins Wasser zu werfen. Dann müssen Sie ihn aber gleich verlassen. Bitte.«
Unterdessen hatte sich Klothilde mit untergeschlagenen Beinen auf dem Teppich niedergekauert, einen Meter von der Schale entfernt.
Der Professor betrat den Teppich, ging hin, ließ den Stein aus geringer Höhe in das Wasser fallen, Zog sich, rückwärts gehend, die Schale immer im Auge behaltend, wieder zurück.
Die steinerne Figur war natürlich untergesunken.
»Allright, Oskar!«
Oben ertönte jetzt ein eigentümliches, summendes Schnarren.
»Hören Sie? Jetzt saugt das Rohr die parambolidynamische Elektrizität aus der Luft auf und strahlt sie am anderen Ende wieder aus. Mein Assistent richtet sie direkt auf das Wasser und fingert auf dem Rohre herum, als ob er Flöte spiele. Die farbigen Ringe sind nämlich Kontakte, die ein— und ausgeschaltet werden können, so hat er den Stein ganz in seiner Gewalt, führt meine Kommandos aus. Also passen Sie auf: Hoch!«
Sofort tauchte die steinerne Ente auf, schwamm oben auf dem Wasser.
Der kleine Professor vergaß seine Zappelei, er war nur noch Auge.
»Unter!«
Sofort verschwand die Ente unter Wasser.
»Hoch!«
Oben war sie wieder.
Und so ging das noch einige Male. Oben in den Wanten fingerte Oskar auf dem schnarrenden Rohre herum, immer nach dem Wasser visierend.
»Es sind auch noch andere Bewegungen möglich Guten Morgen, Frau Ente!«
Die auf dem Wasser schwimmende Ente nickte ganz energisch.
»Wie ist Ihr Befinden? Gut?«
Die steinerne Ente zappelte noch energischer.
»Fort, verschwinden Sie!«
Weg war sie, untergetaucht.
Jetzt griff Klothilde in das trübe Wasser und brachte die Ente wieder zum Vorschein.
»Ist es derselbe Stein?«
Sie hatte ihn, sich im Liegen vorstreckend, dem Professor gegeben.
Es war ganz umsonst, dass der die nasse Ente so genau untersuchte. Es war dieselbe steinerne Ente.
Klothilde nahm sie wieder, warf sie ins Wasser, der Stein sank unter.
»Hoch!«
Da schwamm sie wieder oben,
»Gefällt es Ihnen im Wasser?«
Bejahung durch Zappeln.
»Können Sie auch tanzen? Soll ich Ihnen einmal etwas vorspielen?«
Ein noch energischeres Zappeln als Bejahung.
Klothilde griff vorn zwischen Hemd und Hals, Zog eine kleine Flöte heraus, fing an zu blasen, eine quäkende Melodie, bald langsam, bald schnell, und so tanzte auch die Ente auf dem Wasser, bald langsam, bald schnell, genau den Takt einhaltend.
Oben fingerte Oskar auf dem schnarrenden Rohre herum.
Während dieses Tanzes hatte der Professor einem seiner schwarzen Diener einige fremde Worte zugerufen, der Neger lief davon, kam mit einer Art Opernglas zurück, das der Professor vors Auge nahm. Es war jenes Instrument, durch das man Illusion von Wirklichkeit unterscheiden konnte.
»O Wunder über Wunder, es ist Tatsache!«
»Fort!«
Die Ente verschwand unter Wasser·
Da kniete der Professor einfach an Deck hin und hob gegen Klothilde die gefalteten Hände.
»Was soll das?«
»Ich bete Sie an!« erklang es in furchtbarer Erregung.
»Ach, machen Sie doch keinen Sums. Das ist ganz einfach parambolidynamische Ektrizität. Mann, stehen Sie doch auf!«
Wohl gehorchte der kleine Professor, aber die gewaltige Erschütterung blieb, und er sprach es aus:
»Miss! Sie haben da eine Erfindung gemacht, mit welcher sich die tiefsinnigsten Geister unserer gelehrten Gesellschaft schon seit langen, bangen Jahren vergebens beschäftigen, ohne das Problem lösen zu können. Jede Substanz noch auf eine andere Weise als die uns bekannte Weise schwerer oder leichter machten zu können, ohne sie erst isolieren zu müssen. Sie haben dieses Problem gelöst! Sie haben eine Art von Elektrizität entdeckt! Und wir suchen solche ingeniöse Köpfe in aller Welt, um sie unserer geheimen Gesellschaft einzuverleiben! Fräulein, Fräulein, ich beschwöre Sie, geben Sie mir eine nähere Erklärung über diese rätselhafte Naturkraft, die Sie aus der Luft saugen, die Sie beherrschen, oder ich werde auf der Stelle wahnsinnig, wenn ich’s nicht schon bin. Bitte, bitte, geben Sie mir eine Erklärung! Und ich gratuliere Ihnen, dass Sie in unserer geheimen Gesellschaft gleich eine Lehrstelle, eine Professur einnehmen sollen!«
Mit ihrem tiefernstem Gesicht, ohne einmal Grimassen zu ziehen, hatte Klothilde das Männlein angehört.
»Nein, mein lieber Professor, wenn Sie nicht schon wahnsinnig sind — meinetwegen sollen Sie’s nicht werden. Ich gebe Ihnen die ausführliche Erklärung Hier ist, die steinerne Ente —«
Sie griff in das Wasser, holte den nassen Stein hieraus, zeigte ihn,
»Und hier —«
Da tauchte an dem Wasser noch eine zweite Ente auf, ganz genau so aussehend.
»Und hier ist noch eine zweite Ente, die aber aus einem leichten Holze geschnitzt ist. Sie ist an einem schwarzen Rosshaar befestigt. Die Kokosnussschale hat am Boden ein ganz feines Löchelchen, durch dieses geht das Rosshaar. Das andere Ende des Haares habe ich hier an meiner großen Zehe befestigt, die ich unter dem Rocke verborgen hatte. So habe ich die hölzerne Ente in meiner Gemalt. Die steinerne sinkt natürlich zu Boden, ein kleines Nachgeben meiner Zehe und die hölzerne Ente steigt empor, ich kann sie tanzen lassen und wieder herabziehen. Die Schale hat einen doppelten Boden, der Hohlraum ist mit Sägespänen gefüllt, die sich erst mit Wasser vollsaugen müssen, ehe es durch das Löchelchen tropfen kann. Das Rohr dort oben ist ein angemaltes Gasrohr. Der Segelmacher hat im Maule eine Mundtrommel, oder im Munde eine Maultrommel, wollte ich sagen. Was parambolidynamische Elektrizität ist, weiß ich nicht. So, das ist die ganze Erklärung. Die Professur in Ihrer geheimen Gelehrtengesellschaft nehme ich an. Wie hoch wird die Stelle bezahlt?«
So hatte Klothilde gesprochen.
Ach, diese verdutzten Gesichter ringsherum!
Bis dann das schallende, das brüllende Gelächter losbrach.
Und es galt nicht zum mindesten dem kleinen Professor.
Wie der dastand, etwas in die Kniebeuge gehend, mit was für seinem Gesicht, dann mit geknickten Knien etwas herumschleichend und sich dabei hinterm Ohre kratzend.
»Au!«
Wir wollen gleich erwähnen, was die anderen erst später erfahren, wie Klothilde auf diese Idee gekommen war.
Sie hatte eben am Strande einmal diesen Stein gefunden, der wie eine Ente aussah, und da war ihr die geniale Idee so gekommen, wie eben jede geniale Idee entsteht.
Sie hatte nur ihre Gefährten veralbern wollen. Hatte sich solch eine Wasserschale gefertigt, auch das Rohr, das aber nur als Zauberstab dienen sollte, oder zu sonst einem Zwecke. An Elektrizität hatte sie dabei noch gar nicht gedacht.
Da war nun der Professor gekommen mit seinen elektrischen Zaubereiexperimenten die Gelegenheit war gerade so günstig — well, nun wollte auch Klothilde einmal etwas mit ihrer eigenen Elektrizität zum besten geben, hatte dazu den Segelmacher schnell eingeweiht.
So war es gekommen.
»Teufelsweib, Teufelsweib!«
Nur Kapitän Martin konnte das sagen, die anderen waren vor Lachen noch keines Wortes fähig.
Da sah man, wie der Professor schnell seine Uhr zog und sie ans Ohr hielt, nach einiger Zeit machte er eine Handbewegung, und es wurde still, weil man wusste, dass jetzt wieder etwas Besonderes kommen müsste.
»Meine Herrschaften! Ich soll Ihnen mitteilen, dass dieser ganze Vorgang dort in unserem Laboratorium beobachtet worden ist. Gleichzeitig soll ich Ihnen aber auch auf Ehrenwort erklären, dass Sie sonst nicht etwa dort beobachtet werden, wozu man etwa noch gar Ihre Kabinenwände durchsichtig macht.
Solche Beobachtungen sind bei uns vollkommen ausgeschlossen. Die Erfindungen befinden sich in besten Händen, und das ist eben der Grund, weshalb wir sie nicht gleich der anderen Menschheit preisgeben, damit nicht — doch davon jetzt abgesehen.
Also dieser Vorgang ist dort beobachtet worden, weil das Schiffsdeck nun einmal wegen jener Experimente bespiegelt werden musste.
Meine hochgeehrte Dame,« wandte sich der kleine Professor jetzt mit einer tiefen Verbeugung speziell an Klothilde. »Miss Gracco, nicht wahr? Dort auf der Station befindet sich gerade einer unserer höchsten Meister. Auch er hat den Vorgang beobachtet, und er amüsiert sich köstlich über den Streich, den Sie mir soeben gespielt haben. Mir ist es ja nicht gerade angenehm, dass ich dies Ihnen mitteilen muss, aber ich entledige mich hiermit meines Auftrags. Dort in unserem Laboratorium ist jetzt nicht minder herzlich gelacht worden als wie hier, und bei uns wird selten gelacht. Dieser Meister möchte sich revanchieren für die ergötzlichen Minuten, die Sie ihm bereitet haben. Er möchte Ihnen etwas verehren, ein Andenken an diese Stunde. Ob Sie nicht irgend etwas halten, eine kleine Porzellanfigur oder etwas Ähnliches —«
»Eine kleine Porzellanfigur? Nee, die habe ich nicht. Ich habe überhaupt niemals nischt.«
Da hatte Klothilde allerdings ein großes Wort gelassen ausgesprochen.
Mit nichts war sie damals in Rio de Janeiro an Bord gekommen, und heute hatte sie noch immer nichts. Sie gehörte zur besitzlosen Klasse, und auf diesen respektablen Stand hielt sie mit stolzer Energie. Wenn das Schiff in einen Hafen lief, ging sie in Lumpen gehüllt an Land, kaufte sich ein pompöses Kleid, Strümpfe und Stiefelchen und Hut und was sonst noch dazu gehört, und wenn sie es dann wieder einmal anziehen sollte, dann hatte sie immer wieder »niemals nischt«. Wo das Zeug blieb, das war ein Rätsel. Na, mit übernatürlichen Dingen ging das ja nicht zu. Wenn etwa einmal das Wasser durch das Bollauge in ihre Kabine geschlagen war, dann nahm sie einfach ihr neues Kostüm her und schwabberte damit das Wasser am Boden aus, und dann war das doch kein Kostüm mehr, sondern nur noch ein Lappen. Sie war noch viel mehr als eine Zigeunerin. Wie gesagt, sie war stolz daraus, zur besitzlosen Klasse zu gehören, die »niemals nischt« hat.
»So gelben Sie die steinerne Einte, die passt gerade recht gut für den beabsichtigten Zweck —«
»Ja, den Stein können Sie bekommen, Steine habe ich eine ganze Menge, die ganze Erde voll — oder halt, da fällt mir etwas anderes ein, ich habe doch noch etwas Besonderes —«
Flink wie ein Wiesel rannte sie davon, kam gleich wieder zurück, ein Stück Segeltuch in der Hand.
»Können Sie vielleicht das brauchen?«
Es war ein gewaltiger Hirschkäfer mit mächtigen Scheren, den sie in dem Lappen präsentierte. In diesen Buchenwäldern kamen viele Hirschkäfer vor, aber solche stattliche Exemplare waren doch selten.
»Ich habe ihn gestern gefangen, wollte ihn unserem Doktor Isidor in die Koje setzen, aber das Luder ist krepiert. Geht der nicht für eine Nippfigur durch?«
Der kleine Professor zog die Stirne kraus, als er das Ungeheuer betrachtete.
»Der ist freilich nicht von Porzellan, wie der Meister sagte, das ist organische Substanz — aber warten Sie —«
Er benutzte wieder seine Uhr als drahtloses Telephon.
»Meine Herrschaften, jetzt werden Sie Zeuge eines großartigen Vorganges, den auch ich nicht begreife.
Übrigens haben sie mich vorhin schon gefragt, ob ich dieses Experiment ausführen könnte, ich bejahte, habe auch alles da, was dazu gehört, dennoch weigerte ich mich, weil ich keine Erlaubnis zur Vorführung dieses Experiments hatte — nun ist es der zweite Meister selbst, der es ausführen wird, ich bin dabei nur sein Assistent, nur sein Handlanger.«
Der Professor baute einen Apparat auf, die Hauptsache daran war eine Art Brennglas, das er nach der Sonne richtete, auf eine Platte darunter legte er den Hirschkäfer.
Nicht lange dauerte es, so begann der braune Käfer zu erblassen, bis er sich ganz weiß gefärbt hatte.
»Jetzt ist die organische Substanz zerstört. Oder sie ist vielmehr in eine anorganische überführt worden, und das gilt auch von allen inneren Teilen. Und jetzt — da ist es schon geschehen.«
Mit einem Schlage hatte der weiße Käfer eine goldgelbe Farbe angenommen. Der Professor nahm ihn von der Platte.
»Meine Herrschaften — eine Transmutation, wie die alten Alchimisten die Umwandlung einer anderen Substanz in Gold nannten! Wenn sie dabei auch immer von einem schweren Metalle ausgingen. Das ist bei uns nicht nötig. Wir können auch Wasser in Gold verwandeln, müssen dazu freilich erst andere Elemente hinzufügen und das kommt uns selbst teuerer zu stehen, als wenn wir natürliches Gold kaufen. Hier handelt es sich ja aber um etwas ganz anderes. Dieser Hirschkäfer ist durch und durch in Gold verwandelt worden. Wenn Sie ihn durchschneiden so würden Sie unter dem Mikroskop noch die winzigen Zellen erkennen — aber alles Gold. Fräulein Klothilde, ein Meister verehrt Ihnen dies zum Andenken für die köstliche Viertelstunde die Sie ihm bereitet haben. Tragen Sie diesen goldenen Hirschkäfer als Brosche.«
Mit diesen Worten überreichte der Professor ihr den goldenen Käfer, der ungefähr zwanzigmal schwerer geworden war.
»Danke,« sagte Klothilde einfach. »Als Brosche soll ich das Ding tragen? Da hätte Ihr Meister aber auch ich eine Nadel dranmachen sollen.«
124. KAPITEL.
AN BORD DES »ELEKTRON«.
»Meine Herrschaften der »Elektron« ist zur Stelle!«
Neben dem Schiffe tauchte eine schwarze Masse auf, zunächst nur eine Plattform, nicht ganz so lang wie die »Argos« — oder, um gleich die richtigen Masse anzugeben — genau 106 Meter lang und 14 Meter breit, vorn und hinten etwas spitz zulaufend.
»Wollen sich die Herrschaften an Bord des »Elektron« für eine längere Reise einrichten? So nehmen Sie alles mit. Auch Ihre ganze Menagerie. Es ist alles, alles dafür eingerichtet worden. Das hat eben die Ankunft des »Elektron« etwas verzögert.«
»Für eine längere Reise?«
»Ja. Die ganze Welt steht uns ja offen. So weit man darunter diese Erde mit einer Luftschicht von 10 000 Meter Höhe versteht. Wir können ja eine kleine Reise um die Erde machen. Sie können alles mitnehmen. Was nicht nötig ist, werde ich immer sagen. Zum Beispiel Klaviere sind nicht nötig. Die haben wir selbst an Bord.«
Zwischen der Patronin, Kapitän Martin und dem Waffenmeister fand eine kurze Beratung statt, wobei der Professor nur noch nähere Auskunft geben musste.
Die »Argos« konnte ganz verlassen werden. Sie kam einstweilen in das Wasserbassin des Schlosses der Entsagung hinein. Die Indianer und englischen Matrosen blieben allein hier, standen aber unter genügender Aufsicht.
»Ja wenn es so ist, dann sind wir bereit, auf den »Elektron« überzusiedeln,« lautete dann der Entschluss.
Und der Umzug begann sofort. In einer Stunde war es geschehen.
Das Unterseeboot hob sich, bis die Plattform mit dem Deck der »Argos« bei umgelegter Bordwand in einer Linie lag, man hatte mehr als hundert Händepaare Zur Verfügung und dann halfen wenigstens noch ebenso viele Männer von der Besatzung des »Elektron« mit, aus einer Musterkarte aller Völkerrassen bestehend, wenn auch die Japaner vorherrschten.
Und da hatte man gleich eine große Überraschung.
»Was, das sind doch die japanischen Matrosen von der »Schwester Anna«?«
Der kleine Professor konnte es nur bestätigen.
Aber eine alte Bekanntschaft brauchte nicht erneuert zu werden. Man war mit diesen japanischen Matrosen, die nur unter sich so geschwätzig gewesen, niemals bekannt geworden.
»Aber den Kapitän des »Elektron« werden Sie sehr gut kennen und sich freuen, ihn wiederzusehen, wie auch er sich freut,« setzte Beireis noch hinzu.
»Kapitän Price O’Fire, der Fürst des Feuers?«
»So ist es. Er wird Sie dann begrüßen. Jetzt ist er noch beschäftigt. Ich habe Ihnen noch mitzuteilen, Herr Waffenmeister, dass der »Elektron« aus fünf übereinanderliegenden Etagen besteht. Die beiden obersten und die unterste Etage stehen nur Ihnen und Ihren Freunden und Leuten zur Verfügung, ebenso können Sie sich jederzeit, wenn es möglich ist, oben an Deck aufhalten. Die Vorrichtungen, die Sie handhaben müssen, werden Ihnen erklärt, soweit es Ihnen nicht Freude macht, sie selbst auszukundschaften.
Die beiden mittleren Etagen sind nur für die Mannschaften des »Elektron« bestimmt, den Kapitän nicht ausgeschlossen, auch ich werde nur kommen, wenn Sie mich rufen. Die beiden verschiedenen Mannschaften kommen gar nicht in Berührung, jede lebt wie in einer Welt für sich. So ist es bestimmt worden, ich muss es Ihnen mitteilen, es ist meine Pflicht. Nur jetzt halten sich die Ihnen schon bekannten Japaner und auch noch andere unserer Matrosen in Ihren Etagen auf, wegen des Umräumens, um erst einmal die Sachen aufzustapeln, um Ihren Leuten behilflich zu sein, damit der Umzug schnell vor sich geht, womit Sie doch einverstanden sind. Dann werden diese Leute Ihren Augen für immer verschwinden.«
So wurde es denn auch gehandhabt. Die Leute der »Argos« trugen die Sachen immer nur bis an die offenen Luken, wo sie von fremden Händen in Empfang genommen wurden. Erst als die ganze Menagerie an die Reihe kam, wobei selbst Vater Abdallahs weiße Mäuse nicht vergessen wurden, begaben sich auch die Argonauten unter Deck, fanden für die Tiere schon leere Räume mit geeigneten Vorrichtungen.
Unterdessen wanderte Georg durch das ganze Schiff, wenigstens durch die unterste, vierte und fünfte Etage, zu den anderen beiden, der zweiten und dritten, fand er gar keinen Eingang.
Durch jede Etage ging ein breiter Korridor, hüben und drüben reihte sich ein Raum an den anderen, teils durch Schiebetüren mit einander verbunden, teils isoliert, Schlafkabinen, Wohnräume, Salons, alles aufs Komfortabelste eingerichtet, aber nicht fremdartig, nach europäischem Geschmack, praktisch und bequem und künstlerisch zugleich. Fremdartig war nur, dass kein einziger Fenster vorhanden und dass dennoch alles von hellem Tageslicht erfüllt war. Doch auch das war ja den Argonauten nichts Neues mehr.
Auch Treppen gab es nicht. Dafür überall Aufzüge deren Betrieb sofort erkenntlich war. Hier und da auch ein Liftzug dessen Zweck durch eine besonders Aufschrift charakterisiert wurde. Er führte aus der dritten Etage direkt in die unterste hinab, oder umgekehrt, ohne in der zweiten und dritten Etage Halt zu machen.
Dann auch viele leere Räume, besonders in der obersten Etage, in denen jetzt die Tiere untergebracht werden, die auch mit einem Liftzug an Deck befördert werden konnten.
In der Etage darunter war der Korridor kürzer, weil er in einen großen Saal mündete, der nach beiden Seiten durchging und Außerdem doppelte Höhe hatte.
»Was für eine Bestimmung hat dieser Raum?« fragte Georg einen Japaner, der damit beschäftigt war, einen großen Wandschrank anzubringen.
»Der Turnsaal.«
Und schon wurden alle die Turngeräte angeschleppt gebracht, Japaner in blauem Monteuranzug arbeiteten wie die Ameisen, um alles aufzustellen und festzuschrauben, wobei erst Löcher gebohrt werden mussten, wie die Argonauten angaben.
Auf seinem weiteren Gange durch das jetzt noch herrschende Durcheinander kam Georg an einer geräumigen Kabine vorüber, in der Hammid bereits seine Zimmermannswerkstätte einrichtete, an einer anderen, in der sich der erste Maschinist als Goldschmied etablierte, und dann kam ein größerer Raum mit vielen Kästen, zwischen denen Meister Kännchen stand, und der Chinese wollte dem erklärenden Japaner nicht glauben, dass dies die Küche sei.
Er wurde belehrt, auch über die Handgriffe welche die elektrischen Koch— und Backöfen in Funktion setzten, und die Töpfe und Pfannen waren nur nicht öffentlich ausgestellt.
»Und wie steht es mit dem Proviant?«
»Hier ist alles drin,« sagte der Japaner, die Tür eines in die Wand eingelassenen Schrankes öffnend.
»Da ist ja gar nichts drin!«
»Hier daneben ist das Telephon. Da rufen Sie hinein, was Sie brauchen. Dazu muss erst die Schranktür geschlossen sein. Wenn hier die weiße Platte sich in eine rote verwandelt, wobei ein Klingelzeichen ertönt, was spätestens nach fünf Minuten geschieht, öffnen Sie die Tür vorher ist es auch nicht möglich — und in dem Schranke wird das Gewünschte sein.«
»Schon zubereitet?«
»Wie gewünscht wird. Dann allerdings dauert es etwas länger. Ich dachte jetzt nur an Proviant, die Sie selbst zubereiten.«
Meister Kännchen wusste sich sofort hineinzufinden, die Mittagszeit nahte überhaupt heran — und was ein Schiffskoch zu bedeuten hat, was man von ihm verlangt und was er können muss, was einen Schiffskoch überhaupt erst ausmacht, davon haben wir schon einmal gesprochen: und wenn er ganz bestimmt weiß, dass in den nächsten fünf Minuten das Schiff in die Luft fliegen wird, so hat er doch erst sein Essen fertig zu machen, dann kann er mitfliegen, oder er eignet sich eben nicht zum Schiffskoch — also Meister Kännchen klappte den Schrankdeckel zu und trat ans Telephon.
»Zwanzig Pfund bestes Ochsenfleisch, Hinterteil, für Rouladen für die Offiziersmesse!« schrie er hinein.
Um die Ausführung kümmerte er sich nicht, sondern ließ in einen großen Kessel Wasser laufen, schon fast kochend. Er hatte aber den Hahn kaum angedreht, als ein Glockenton erscholl, die weiße Platte am Telephon hatte sich rot gefärbt, und wie der Koch den Schrank aufmachte, da lag jetzt ein mächtiges Stück frisches, delikat aussehendes Ochsenfleisch darin.
Woher das kam, das war diesem Schiffskoch ganz egal, wenn er’s nur hatte, und er legte es auf den Hacketisch, unter dem Beile und Messer geordnet lagen.
»Einen Kalbskopf für die Patronatskajüte!« kommandierte der Chinese jetzt in das Telephon hinein.
»Na da verlangen Sie aber ein bisschen viel,« meinte Georg.
Es hatte einmal in der Eiskammer der »Argos« einige Kalbsköpfe gegeben, aus Petersburg mitgenommen, aber die waren schon längst verspeist.
Doch wiederum nur eine halbe Minute, so kam das Zeichen, und in dem Schranke lag ein abgehäuteter Kalbskopf.
»Wo haben Sie denn den her?« rief Georg erstaunt
Die Antwort gab nicht der Japaner, sondern Professor Beireis, der eben hinzugetreten war, da er den Waffenmeister schon gesucht hatte.
Wir geben eine etwas andere Erklärung.
In großen Städten sieht man heutzutage in den betreffenden Schaufenstern Konserven ausgestellt, an die man vor 20 Jahren noch gar nicht gedacht hat, und die Auswahl nimmt fast täglich zu. Beefsteak mit Schoten und Spargel, Rebhühnchen, Hirschrücken, alles schon fix und fertig gekocht und gebraten, in Büchsen oder Gläsern eingemacht — alles ist vorhanden. Für Jäger, für Touristen, für Picknicks, auch für einsame Gastwirtschaften ist das sehr geeignet. Besonders auch kann dadurch das große Risiko sehr vermindert werden, ob an Festtagen ein Massenbesuch wird oder nicht.
Das ist aber noch gar nichts gegen das, was man in dieser Hinsicht in großen Seestädten Zu sehen bekommt. Wenn nicht in Schaufenstern, dann in Lagermagazinen, wo Schiffe und Expeditionen ausgerüstet werden. Da liebt man Präserven, die im Binnenlande nicht zu haben sind. Denn wenn auch heute Entfernungen die durch Eisenbahn verbunden sind, gar keine Rolle mehr spielen, so handelt es sich doch immer um den Bedarf, um die Nachfrage. Wer denkt denn zum Beispiel im Binnenlande an konserviertes Frischbrot. Und eingemachte Semmeln, oder etwa an saure Flecke in Büchsen. Und doch gibt es das. Es gibt heutzutage überhaupt alles, alles eingemacht.
Doch es ist gar nicht so leicht zu haben. Da hat etwa ein ehemaliger Seemann, der sich im Binnenlande niedergelassen hat, wieder einmal Appetit nach Schiffszwieback, von dem es hunderterlei Sorten gibt, vom gröbsten an bis zum allerfeinsten, dabei doch immer Hartbrot bleibend, kein Biskuit werdend, von den verschiedensten Firmen hergestellt. Solch ein Schiffszwieback ist gar nicht so leicht zu haben. Auch nicht in Hamburg. Da muss man genau seine Quelle wissen. Weil eben sonst gar kein Bedarf vorhanden ist, er wird nirgends angeboten.
»Wir sind mit allem, allem verproviantiert, was sich nur denken lässt, lassen wir den kleinen Professor Beireis jetzt selbst sprechen, und das in Hülle und Fülle. Und dies alles ist ganz frisch. Wenigstens scheinbar. Wir verstehen Fleisch und alles so Zu präservieren, dass es seinen vollkommen frischen Zustand für alle Ewigkeit behält. Und dabei tritt auch nicht der Nachteil ein, der allen gekochten Präserven anhaftet. Man bekommt keinen Skorbut danach, das ist hierbei ganz ausgeschlossen.«
Ja, man nährt sich nicht ungestraft nur von Konserven. Die Natur lässt ihrer nicht ungestraft spotten. Der dauernde Genuss von gekochten Konserven zieht regelmäßig Skorbut nach sich. Nicht dagegen der dauernde Genuss von getrocknetem und geräuchertem Fleisch, von getrocknetem und wieder aufgeweichtem Obst und Gemüse. Denn das Trocknen ist ein natürlicher Vorgang. Die ganze Kocherei und Braterei aber ist unnatürlich, Zumal wenn diese Konserven längere Zeit aufbewahrt werden. Das duldet die Natur nicht, da weiß sie sich zu rächen. Sie warnt zuerst dadurch, dass sie die Zähne locker macht und zuletzt ganz ausfallen lässt, ehe der richtige Skorbut einsetzt.
»Sie sind mit allem verproviantiert?«
»Mit allem, allem! Sie können verlangen, was Sie wollen.«
Kurz entschlossen trat Georg ans Telephon. Der Schalk, den er in diesem Augenblicke hinterm Ohre sitzen hatte, sah man ja nicht.
»Ich bitte um einen Elefantenrüssel! Um einen recht großen! Abgezogen braucht er noch nicht zu sein!«
»Au!« machte der kleine Professor wie schon einmal, sich auch wieder hinterm Ohre kratzend. Ja, wenn Sie freilich so etwas verlangen —«
»Da müssen Sie eben vorsichtiger in Ihren Behauptungen sein,« lachte Georg.
»Bim,« ging es da in dem Schranke, und die weiße Platte färbte sich rot.
Georg öffnete den Schrank.
Und der kleine Professor starrte genau so hinein wie der Waffenmeister.
In dem Schranke lag zusammengerollt ein grauer Riesenarm.
Was konnte das sein?
Nun eben der gewünschte Elefantenrüssel, unabgezogen!
Noch eine kleine Pause, dann griff Georg mit kühner Hand zu.
Zwei Meter lang und fast einen Fuß dick war der Riesenwurm.
Jetzt aber erkannte man den Irrtum.
Kein Elefantenrüssel, sondern eine Leberwurst.
Es war nichts so Ungewohntes für einen Seemann.
Solche Riesenwürste sieht man überall in Hamburg und Bremen und in anderen deutschen Seestädten in den betreffenden Schaufenstern ausgehängt, noch länger als zwei Meter, drei Meter lang, noch dicker als ein Fuß!
Solche ungeheuere Riesenwürste und nicht etwa nur zur Schau ausgestellt, sind nämlich der Stolz der verfressenen Nordgermanen. Ja, man muss sagen: verfressen. Denn bei denen fängt der Mensch doch überhaupt erst mit dem »Frühstück« an. Was aber nur sie so schön aussprechen können, dass man dabei schon Appetit bekommt.
Am herrlichsten sind die Holsteiner Fleischwürste, ein Mittelding zwischen Zervelat und Salami, aber von Dimensionen, dass man sie als Balken beim Bau von Häusern verwenden könnte. Sie haben überhaupt schöne Sachen, dort oben.
»Na, wenn dort in der uns verschlossenen Unterwelt auch der Humor so blüht, dann werden wir uns hier schon wohlfühlen!« lachte Georg aus vollem Halse.
»Herr Waffenmeister, ich habe Sie aufgesucht, um Ihnen die besten Räume als die Ihren zu Zeigen,« sagte der Professor, »denn vorhin wurde schon Ihr abgeschraubter Schreibtisch gebracht.«
»Die besten Kabinen gehören der Patronin.«
»Die hat bereits gewählt. Es sind auch nicht die schönsten Räume, aber doch die für Sie geeignetsten, wo Sie als Waffenmeister alles in der Nähe haben, was nun einmal zu Ihrem Posten gehört.«
»So zeigen Sie mir dieselben, dann bin ich einverstanden.«
Sie lagen ganz vorn im schiffe, verteilten sich auf alle drei den Argonauten zur Verfügung stehende Etagen, waren durch besonderen Fahrstuhl miteinander verbunden, Außerdem immer zwei Räume nebeneinander.
Einer davon war mit Rädern und Hebelwerk aller Art angefüllt.
»Von hier aus können Sie das Schiff steuern, beherrschen sämtliche Vorrichtungen. Es wird Ihnen alles noch genau erklärt werden. Irrtümer sind dabei ganz ausgeschlossen.«
Georg blickte sich um, auch nach dem Zimmer zurück, in dem soeben sein Schreibtisch derja viele Schriftsachen barg, aufgestellt wurde.
»Hm. Das sieht ja bald aus, als sollte ich hier als Hauptperson gelten.«
»Die sind Sie doch auch.«
»Hm, eigentlich — na lassen wir das. Ich soll wohl gar auch das Kommando übernehmen?«
»Darf ich Ihnen jetzt den Kapitän des »Elektron« zuführen?« wich der Professor dieser Frage aus. »Ist es Ihnen angenehm?«
»Ich bitte sehr.«
Professor Beireis verabschiedete sich mit einer Verbeugung, verließ das Zimmer, und statt seiner trat durch die Tür ein hünenhafter Mann mit langem blondem Vollbart ein.
»Ah, Kapitän Price O’Fire, der Fürst des Feuers!«
Mit ausgestreckter Hand ging Georg freudig auf ihn zu.
Der aber nahm die Hand nicht, sondern legte die seine in militärischer Haltung an die Mütze, salutierte also.
»Melde mich zur Stelle, Herr Patron!«
»Wat?« brachte Georg verblüfft hervor.
»Ich bin nur der Kapitän des »Elektron«, Sie sind sein Eigentümer, ich stehe unter Ihren Befehlen.«
Georg fragte nicht lange, achselzuckend fügte er sich in das Unvermeidliche. Es war ja nicht das erste Mal, dass er von den Leitern dieser geheimen Gesellschaft solch eine ungemeine Gunstbezeigung bekam.
»Well, wenn es so ist — meinetwegen kann man mir die ganze Erde nebst den umliegenden Himmelskörpern schenken — ich nehme alles an, wenn ich mich dafür nicht groß zu bedanken brauche.«
125. KAPITEL.
»AUS DER WAHRHEIT FEUERSPIEGEL LÄCHELT SIE DEN FORSCHER AN.«
Wir lassen die beiden allein und versetzen uns in eine deutsche Universitätsstadt.
In einer elenden Zwischengasse, die zwei glänzende Geschäftsstraßen miteinander verband, prangte am Torweg eines baufälligen Hauses ein blitzendes Messingschild.
»Gustav Richter, Holz und Kohlen.«
Dieser Gustav Richter gehörte zu denjenigen Menschen, von denen es nur eine Frage ist, ob sie auch wirklich wissen, wie glücklich sie sind.
Besser freilich ist es, sie wissen es nicht. Sonst könnten die Götter neidisch werden.
Vor nunmehr vierzig Jahren hatte Gustav Richter, nachdem er als aktiver Soldat den deutsch-französischen Krieg mitgemacht hatte, wobei ihm in seinem halben Dutzend glorreich mitgefochtenen Schlachten nur einmal eine Kugel den Helm vom Kopf gerissen, hier eine Stelle als Arbeiter gefunden, beim alten Grohmüller, der dieses Kohlengeschäft schon vom Vater geerbt hatte, und das ganze Haus dazu.
Fünf Jahre lang hatte Gustav von früh bis abends in dem düsteren Schuppen große Kohlen klein geklopft, eingeschaufelt, Holz gehackt und die Bestellungen mit dem Handwagen ausgeführt, gegen volle Kost, monatlich vier Taler und zu Weihnachten einen neuen Anzug, drei Hemden und sechs Schürzen.
»Ich habe genug, ich werde mich zur Ruhe setzen,« hatte da eines Tages der alte Grohmüller gesagt. »Weißt Du niemanden, Gustav, der mir mein Geschäft kauft?«
»Ich? Nee, ich weess niemanden.«
»Na, da kauf Du es mir doch ab.«
»Ich? Ich habe nur 182 Taler auf der Sparkasse.«
»Na, da heirate doch meine Luise.«
»Ich? Ja, wenn sie mich will.«
»Hast Du denn noch gar nicht gemerkt, wie gut Dir die Luise ist?«
»Ich? Nee.«
Die Luise, das einzige Kind, schaufelte ebenfalls von zarten Kindesbeinen an in dem finsteren Schuppen Kohlen und hackte Holz. Hübsch war die nun zweiundzwanzigjährige Jungfrau dadurch eben nicht geworden, aber vierschrötig, stellte einen ganzen Mann, sogar zwei Männer.
Nein, Gustav konnte gar nicht bemerkt haben, dass die Luise ihm gut war, denn nie hatte sie ihm so etwas merken lassen, dazu war sie viel zu — sittsam. Dumm kann man nicht sagen. Denn die Luise führte die Geschäftsbücher, aber ohne etwas zu schreiben, die hatte alles im Kopfe, und die vergaß nichts, am wenigsten eine noch nicht bezahlte Lieferung.
Nun, wenn es so stand — Gustav war kein Feigling, er fragte an und wurde erhört.
Hätte denn der alte Grohmüller, ein wirklich vermögender Mann, Besitzer eines schuldenfreien Hauses, das über kurz oder lang noch einmal ein hochwertvolles Spekulationsobjekt werden musste, keinen anderen Schwiegersohn finden können als solch einen armen Schlucker?
Der alte Grohmüller dachte eben anders, der hatte die Wahrheit erkannt.
Wenn jemand monatlich vier Thaler bekommt, und erspart sich davon drei, in fünf Jahren 182 Taler, der ist, wenn sonst alles klappt, in der Finanzwelt dereinst ganz sicher noch Zu etwas Hohem berufen!
Sechzehn Jahre lang schaufelte das Ehepaar zusammen in dem finsteren Schuppen Kohlen und hackte Holz, ein Knecht führte die Bestellungen aus, immer noch mit dem Handwagen.
Bis sich eines Tages Frau Luise ins Knie hackte, woran sie starb.
Der Witwer war allein in der Wohnung in der vierten Etage. In der Nacht — tagsüber war er ja in seinem Schuppen, und abends saß er jetzt regelmäßig in der Winkelkneipe nebenan, wenn auch nie mehr als vier Glas Bier trinkend, und dann zum Schluss einen Korn.
Der Schwiegervater hatte schon längst das Zeitliche gesegnet, noch früher die Schwiegermutter, Kinder waren dieser Holz— und Kohlenehe nicht entsprungen.
In solch einer einsamen Nacht entstand in Gustavs Kopf der Entschluss, wieder zu heiraten. Nicht dass er in seinem Schuppen eine billige Arbeitskraft gebraucht hätte. Seitdem sich in den beiden Hauptstraßen glänzende Läden etabliert hatten, ging das Kohlengeschäft immer mehr zurück. Es wurde nur noch ein Mann gebraucht, der die Bestellungen ausführte, der Herr Prinzipal konnte allein einsacken. Aber diese einsamen Nächte in der leeren Wohnung ertrug er nicht. Und dann vor allen Dingen die Esserei! In der Kneipe nebenan schmeckte es ihm nicht. Und eine andere Kneipe kannte er nicht. Und Luise hatte ganz ausgezeichnet kochen können. Besonders saure Flecke. Zweimal in der Woche oder, wenn sie beim Fleischer Zu haben waren, auch dreimal. Und er war überhaupt gewöhnt, zu Hause zu essen.
Ja, er wollte wieder heiraten. Aber erst versuchsweise. Das heißt: sich erst eine Wirtschafterin nehmen. Natürlich in allen Ehren. Immer erst prüfen, ob sich die Wirtschafterin als Gattin eignete, und wenn nicht, dann wurde sie eben wieder fortgeschickt, und das so lange, bis er die richtige mit den sauren Flecken und so weiter gefunden hatte.
Und Gustav war und blieb der Liebling der Götter.
Er brauchte gar nicht zu annoncieren.
Nur eine Äußerung seines Wunsches am abendlichen Stammtisch, und sie wurde ihm gleich ins Haus gebracht.
Freilich schrien sie zu ihm zu passen wie ein weißer Zitronenfalter in den finsteren Kohlenschuppen.
Ein ältliches Mädchen mit einem schüchternen, durchgeistigten Madonnenantlitz. Die Tochter eines pensionierten Briefträgers. Oder vielmehr einer Briefträgersehegattin mit Witwenpension. Sie war froh, nach dem Tode der Mutter irgend einen anständigen Unterschlupf zu finden. Bisher hatte sie Klavierunterricht erteilt, die Stunde fünf Groschen, oder auch noch billiger.
»Können Sie saure Flecke kochen?« war Gustavs erste Frage.
»Ja, die aß mein seliger Vater so sehr gern, und ich musste sie ihm immer kochen,« flüsterte die durchgeistigte Madonna.
Da war sie angenommen — versuchsweise.
Aber als Gustav Zum ersten Male von ihrer Hand mit sauren Flecken geätzt worden war — gleich am zweiten Tage, am Dienstag, Montag haben die Fleischer noch keine Flecke — da stand es bei ihm schon felsenfest, dass die und keine andere seine zweite Frau werden müsse. Allerdings nicht nur wegen dieser sauren Flecke. Er hatte unterdessen doch auch beobachtet, wie Fräulein Hedwig in den zwei Tagen die völlig versaute Wohnung gesäubert hatte. Sogar am Sonntag, wo er zu Hause gewesen, und er hatte doch gar nichts davon gemerkt, wenn er nichts davon merken wollte, und doch hatte sie sich ihm nur sauber und adrett gezeigt.
Es kam zur Aussprache, und ein Vierteljahr später wurde Hochzeit gefeiert. Wenn der Kohlenmann wusste, was er an der Briefträgerstochter hatte, so die Briefträgerstochter auch, was sie an diesem Kohlenmanne besaß. Es waren wahrscheinlich alle beide Lieblinge der Götter.
Und genau an demselben Tage nach Jahresfrist an dem Frau Hedwig ihm die ersten sauren Flecke gekocht hatte, wurde dort oben in der vierten Etage ein Knäblein geboren, das in der heiligen Taufe den Rufnamen Otto erhielt.
Es ist über den Knaben vorläufig nichts weiter zu sagen, als dass er seiner Mutter wie aus den Augen geschnitten war, nur dass er anstatt eines Mundes einen Gedankenstrich hatte. Immer die Lippen fest zusammengekniffen. Dabei lässt sich nicht gut schreien.
Und als acht Jahre ins Land gegangen waren, ohne dass noch andere Kinder hinzugekommen, da erhielt der Kohlenhändler eines Tages vom Herrn Direktor der Bürgerschule, die Otto besuchte, ein Briefchen, eine höfliche Aufforderung, Herr Richter möge ihn doch einmal in der Sprechstunde besuchen, wegen Rücksprache betreffs seines Sohnes.
Der Kohlenhändler warf sich in seinen Sonntagsanzug und begab sich hin.
»Wissen Sie, was Sie an Ihrem Otto für einen Sohn haben?«
Na und ob dass der Vater wusste!
»Ich hätte ihn schon die vorige Klasse überspringen lassen können, aber ich bin prinzipiell gegen solche Überspringerei. Das rächt sich immer. Sind Sie in der Lage, Ihren Sohn studieren zu lassen?«
»Na und Ob!«
»Bringen Sie ihn aber nicht vor dem zehnten Jahre aufs Gymnasium und lassen Sie ihn auch dort niemals eine Klasse überspringen. Ich habe Erfahrung, ich rate Ihnen nur das Beste.«
Mit seinem neunzehnten Jahre verließ der Sohn des Kohlenmannes und der Briefträgerstochter das Gymnasium als Primus omnium, als Erster von allen.
Er war genau derjenige geworden, der zu werden er schon als kleines Kind versprochen hatte.
Ein stiller Wasser, hochaufgeschossener Jüngling mit schlechter Haltung, in dem durchgeistigten Gesicht unter der scharfen Nase immer einen ausgeprägten Gedankenstrich. Keinen Freund, keinen Umgang. Auch den Eltern gegenüber niemals vertraulich werdend. Aber die fanden nicht etwa was dabei. Das war ihnen ganz selbstverständlich. Und als die Mutter einmal sehr krank geworden, während seiner Ferien, da hatte er zwei Wochen lang Tag und Nacht neben ihrem Bett gesessen, um der Fiebernden immer das kühle Getränk reichen zu können. Aber immer die Lippen fest geschlossen, nur auf die notwendigsten Fragen die notwendigsten Antworten zu geben. Und die Eltern kannten es nicht anders, als dass er nur das Allernotwendigste sprach, dass er nur für seine Bücher und für sein Laboratorium lebte. Dass er aber auch, wenn es nicht anders sein konnte, sofort bereit gewesen wäre, für seine Eltern Kohlen einzuschaufeln, Holz zu hacken und in Säcken auf dem Rücken fortzutragen.
Er hatte zum Studium die Chemie gewählt. Aber nicht erst, nachdem er das Gymnasium absolviert hatte. Als in der Untersekunda die ersten Chemiestunden begonnen, hatte er sich sofort zu Hause in einer Bodenkammer ein Laboratorium eingerichtet, und aus den primitivsten Anfängen entwickelte es sich zu einer Werkstatt der Wissenschaft, um die ihn mancher Privatchemiker beneidet hätte. Was er brauchte, bekam er ja also.
Dann studierte er zwei Jahre lang in den Hörsälen und Laboratorien der Universität Chemie und Physik.
»Hätten Sie Lust, Herr Richter, nach Ihrem bestandenen Staatsexamen mein Assistent zu werden?«
So hatte ihn sowohl ein Professor der Chemie wie einer der Physik gefragt, unter deren Anleitung er praktisch arbeitete.
Da starb der Vater an einem Herzschlage, wenige Wochen darauf folgte die schon einige Zeit bettlägerig gewesene Mutter nach.
Tränenlos hatte der Sohn am Grabe beider gestanden.
Dann war sein erstes, dass er das Höchstgebot eines jener Häuserspekulanten annahm, die den alten Richter schon längst bestürmt hatten, immer vergebens.
Und das Zweite war, dass der begüterte Jüngling in einem Vorort, zwanzig Minuten Eisenbahnfahrt von der Stadt entfernt, dann noch eine halbe Stunde zu Fuß, ein Gartengrundstück mit einem Häuschen kaufte, in das er mit allen Möbeln und seinem Laboratorium übersiedelte.
Dieser Kauf war nicht so von ungefähr und muss nun nachträglich etwas erwähnt werden.
Gustav Richter hatte als guter Christ immer den Sonntag geheiligt. Insofern, als er jeden Sonn- und Feiertag viel später aufgestanden war, dann nebenan einen solennen Frühschoppen gehalten, hatte, dann nach dem Essen ein Sonntagnachmittagschläfchen und hierauf mit Frau und später mit Kind einen Ausflug in die schöne Umgegend machte.
Das hatte er schon mit seiner ersten Frau so gehalten.
Da, als Otto zwölf Jahre gewesen, war die Familie auch einmal nach diesem Vorort gekommen, hatte dieses Grundstück passiert, von einer hohen Mauer umringt, die aber an einer Stelle halb eingefallen gewesen. Man hatte in den Garten sehen können. Ein sehr schöner Garten mit alten Bäumen, ein hübsches Landhäuschen.
»Wenn ich mich einmal zur Ruhe setze, das möchte ich kaufen.«
So hatte Gustav Richter gesagt. Wie man eben einmal auf solch einen Gedanken kommt. Der dachte ja gar nicht dran, sein Kohlengeschäft aufzugeben, so lange er nur irgendwie noch kriechen konnte.
Und dennoch, es sollte sein letzter Spaziergang gewesen sein. Am anderen Tage hatte er das Podagra in den Beinen. Und das wurde niemals wieder. Kriechen konnte er wohl noch, auch nach wie vor seiner Arbeit nachgehen, aber aus den Sonntagnachmittagspartien wurde nichts mehr.
Der arme Junge! Und dass der sich einer anderen Familie anschloss oder Freunden, daran war gar nicht zu denken.
»Otto, das geht nicht, wenigstens am Sonntag musst Du einen Spaziergang machen, wenigstens am Nachmittag.«
Schweigend hatte Otto seine Bücher zugeklappt, schweigend war er gegangen. Geld hatte er immer bei sich, weil er es nicht verbrauchte. Er war wieder nach jenem Vorort gefahren, hatte sich wieder an die verfallene Mauer gestellt, um wieder einige Zeit mit zusammengekniffenen Lippen in den Garten zu blicken, so wie er es vorigen Sonntag getan hatte.
Dann aber war er nicht wieder nach der Station gegangen, sondern war zu Fuß nach Hause marschiert, ein tüchtiger Marsch von drei Stunden, hatte ohne zu fragen den manchmal ganz verschlungenen Weg, ehe er die Landstraße erreichte, zu finden gewusst.
Und von nun an war er jeden Sonntagnachmittag nach diesem Vorort marschiert, jetzt auch hin, immer drei Stunden hin und drei Stunden zurück, gleichgültig ob glühender Sonnenbrand oder Schneesturm, um einige Minuten über die verfallene Mauer, die sich nicht erneuern wollte, in den Garten und auf das Häuschen zu blicken.
Elf ganze Jahre hatte er das so getrieben! Sonntag für Sonntags!
Die Eltern wunderten sich nicht. Für diese war der Sohn kein geheimnisvolles Rätsel. Weil sie ihn eben von zartester Kindheit an nicht anders kannten. Und andere Leute gab es nicht, die sich über diesen Knaben und Jüngling als ein menschliches Charakterrätsel hätten den Kopf zerbrechen können.
Wem fiel es denn auch auf, dass der Junge und Jüngling jeden Sonntag die drei Meilen hin und her im Geschwindschritt Zurücklegte, auch im glühendsten Sonnenbrande, ohne unterwegs einmal einzukehren, ohne einmal aus dem klaren Bache zu schöpfen, der die Landstraße begleitete?
Wer beobachtete ihn dabei, wie er dann, zu Hause angekommen, verstaubt und durchglüht, sich in seinem Laboratorium, das mit Wasserleitung versehen worden war, seinen Kochbecher voll frisches Wasser laufen ließ, das Glas wiederholt ausgießend und wieder füllend, um eben erst das alte, abgestandene laue Wasser aus der Leitung zu lassen, dann aber dieses Wasser in dem Kochbecher über Gas erst langsam zum Sieden brachte, ehe er es dann mit einem Löffelchen in kleinen Schlückchen nippte?
War er etwa so vorsichtig, dass er in seinem erhitzten Zustande kein kaltes Wasser trinken wollte?
Das wäre allerdings eine ganz einfache Erklärung gewesen. Aber wozu sorgte er denn dann regelmäßig erst für möglichst frisches, kaltes Wasser, das er zum Kochen brachte, ehe er es genoss?
Und es kann nur gesagt werden, dass dieser blasse Jüngling nur als Kind die obligatorischen Masern gehabt hatte, vorher und hinterher niemals krank gewesen war, und dass er absolut nicht um seine Gesundheit besorgt war, so wenig wie seine Eltern, da sie es eben nicht anders kannten, als dass in diesem nur scheinbar so schwächlichen Körper ein eiserner Kern steckte.
Nein, in dieser Handlung war ein Rätsel verborgen.
Wer in die alte Philosophie gut eingeweiht ist, der konnte es vielleicht ergründen.
Wenn er entdeckte, dass auf dem Nachttisch neben dem Bett dieses Jüngling ein stark abgegriffenes Büchlein lag, welches er am Tage meist in der Tasche trug, bei jeder Gelegenheit darin lesend.
Sein Titel lautete: Epiktet, Handbüchlein der Moral.
Epiktet, um 50 nach Christi geboren, war der griechische Sklave eines vornehmen Römers, der ihn einmal so misshandelte, dass Epiktet dann Zeit seines Lebens hinkte. Später freigelassen, lehrte er öffentlich als stoischer Philosoph. Seine ganze Hinterlassenschaft bestand in einer Holzbank, einem Kopfkissen und einer irdenen Lampe. Viel mehr wissen wir nicht von seinem sonstigen Leben. Aber wie berühmt er gewesen, das wird am besten dadurch bewiesen, dass bald nach seinem Tode ein reicher Mann diese irdene Lampe für 8000 Drachmen erstand, was ungefähr 2500 Mark sind, damals aber etwa 30 000 Mark entsprochen haben würde.
Epiktet selbst hat nichts geschrieben. So wenig wie Buddha oder Christus oder Sokrates oder Diogenes und andere, die man dennoch nicht vergessen hat. Seine Aussprüche sind von dem griechischen Schriftsteller Flavian Arrian gesammelt worden. Sie bilden den Inhalt des »Handbüchleins der Moral«.
Es ist nicht etwa ein seltenes Werk. Es ist für 20 Pfennige in jeder Buchhandlung zu haben.
Und nicht etwa der Schreiber dieses sagt es, sondern einer unserer größten modernen Religionslehrer hat es gesagt, dabei ein Mann von aufrichtiger Frömmigkeit, der es mit seinem christlichen Glauben ehrlich wie selten einer meint, der Schweizer Professor Dr. Hilty nämlich, dass man den Kindern lieber nicht so viel Religion beibringen soll, Bibelsprüche und Gesangbuchverse und dergleichen, sondern ihnen lieber das Büchlein dieses griechischen Heiden in die Hand geben soll. Denn Religion kann überhaupt nicht gelehrt werden, das ist nur eine Sache der Erfahrung. Durch dieses Büchlein aber kann man sich den Charakter systematisch aneignen, der später die Grundlage eines christlichen Lebens bildet.
Und was hat Epiktet gelehrt?
Von dem, was in des Menschen Macht steht, und von dem, was nicht in seiner Macht steht. Nur das erstere kann vernünftigerweise erstrebt werden, das letztere muss man lassen, ganz aus seinem Leben streichen.
Und dann eine Menge Lebensregeln.
Da heißt es zum Beispiel im 47. Abschnitt:
»Umklammere keine Bildsäulen.«
Und das ist nicht etwa symbolisch aufzufassen.
Als die stoische Philosophie zu entarten begann, stellten sich ihre ruhmsüchtigen Mitglieder im kalten Winter vor die öffentlichen Bildsäulen hin und umklammerten sie, um den anderen zu Zeigen, wie unempfindlich sie gegen Kälte seien, um dafür bewundert zu werden.
Man muss sich nur in jene alten Zeiten zurückversetzen können, um dies zu verstehen.
Dies soll man also nicht tun.
»Sondern,« heißt es dann weiter, »wenn Dich heftig dürstet, so nimm den Mund voll kaltes Wasser, speie es wieder aus und — sage niemandem davon!«
Es ist die Philosophie der Verachtung! Nicht etwa Verachtung gegen andere — im Gegenteil, andere soll man nur lieben, ihnen nur Gutes tun, mindestens ihnen gegenüber in Taten, Worten und Gedanken jede mögliche Rücksicht ausüben — aber sich selbst soll man verachten, das heißt seine eigenen Schwächen.
Und diese Lebensregeln des griechischen Philosophen befolgte dieser Jüngling buchstäblich, hatte sie für eigenen Bedarf noch weiter ausgearbeitet.
Er löschte seinen furchtbaren Durst nur mit kochend heißem Wasser, das er nur in kleinen Schlückchen genießen konnte.
Und wenn er nicht direkt auf einem nackten Brette schlief, sondern auf seiner Lagerstätte eine Matratze hatte, wenn auch so hart als möglich, und darüber noch eine Decke, so tat er das nur, um nicht Anstoß zu erregen, auch nicht seinen Eltern gegenüber.
»Ich schlafe besser hart als weich,« hatte er damals gesagt, als in dem Knaben diese Philosophie erwacht war, als er seine ganze Lebensweise danach einzurichten begann, und damit war die Sache erledigt, da konnte er sein System durchsetzen, ohne als ein Narr zu gelten und ohne darüber sprechen zu müssen.
Der wusste schon, was er tat! Und noch etwas anderes sei nachträglich erwähnt. Otto hatte sich wegen der zukünftigen Militärpflicht zur ärztlichen Untersuchung stellen müssen.
Fast mitleidig betrachtete der alte Stabsarzt den blassen, langaufgeschossenen, dürren Jüngling mit den herabhängenden Schultern, ehe er ihm das Messband über die Brust spannte.
Untauglich wiegen hoffnungsloser Engbrüstigkeit.
Nicht zurückgestellt, sondern gleich hoffnungslos für den Militärdienst aufgegeben!
Und da als Otto wieder gegangen, hatte es auch einmal um die Winkel seines zum Gedankenstrich geschlossenen Mundes mitleidig gezuckt.
Nur mitleidig, nicht verächtlich.
Ha, wenn diese Menschlein wüssten, geahnt hätten!
Jetzt also hatte er jenes Gartenhaus käuflich erworben, nach dem er elf ganze Jahre lang jeden Sonntagnachmittag ohne Ausnahme gewandert war, um es für einige Minuten zu betrachten.
Der begüterte Jüngling hatte einfach den geforderten Preis bezahlt.
Während die elterlichen Möbel und sein Laboratorium hingebracht wurden, was zwei Tage in Anspruch nahm, musste das Stück eingefallene Mauer erneuert werden.
Dann hatte er sich eingerichtet. Auf der Universität hatte er sich als Hörer und Praktikant im Laboratorium streichen lassen. Ohne seinen Grund hierfür anzugeben. Er war ja niemandem Rechenschaft schuldig. Und wer sollte ihn auch fragen. Er hatte nicht den geringsten Verkehr. Die Professoren, die einmal Hoffnung auf ihn gesetzt, hatten den so überaus verschlossenen Menschen schon längst aufgegeben.
Nur seinen Laboratoriumsdiener nahm er mit, einen Mann von 50 Jahren, der versuchsweise angestellt worden war und den Erwartungen nicht entsprochen hatte. Insofern nicht, als er sich von einem Assistenten nicht hatte kujonieren lassen. Da war ihm für den nächsten Monat gekündigt worden.
»Wie heißen Sie? Bertram Wehner? Wollen Sie einen Posten in meinem Privatlaboratorium übernehmen? Auch meinen Hausstand müssten Sie führen. Etwas kochen können Sie doch? Auch den Garten etwas in Ordnung halten.«
So hatte der junge Student Zu dem Manne gesagt, dem er bisher noch gar kein Wort, keinen Blick gegönnt hatte, dessen Namen er noch gar nicht gekannt, weil dieser Mann während der wenigen Tage in einem anderen Revier beschäftigt gewesen, nur ab und zu an ihm vorübergegangen war.
Und dieser Bertram schien auch so einer zu sein, der die Menschen anders beurteilte als nur so oberflächlich dem Äußeren nach. Dass er sofort bereit dazu war. Obgleich die Missstimmung doch dadurch gekommen war, weil sich der Laboratoriumsdiener von dem im selben Flügel wohnenden Assistenten nicht als Botengänger und Mädchen für alles hatte brauchen lassen wollen. Und obgleich er schon in einem anderen Laboratorium eine sehr gut bezahlte und höchst bequeme Stellung mit sofortiger Pensionsberechtigung in sicherer Aussicht hatte. Er ließ sie sofort in Stich, um dieses Angebot des jungen Studenten anzunehmen, den er ganz und gar nicht kannte, und er hatte nicht einmal nach den Lohnverhältnissen gefragt, nach gar nichts weiter. Nur dass der ruhige, besonnene Mann mit dem intelligenten Gesicht dem Frager einige Zeit fest in die Augen geblickt hatte.
»Ja, zu Ihnen gehe ich gern,« lautete dann die Antwort.
»Sie sind doch natürlich unverheiratet, haben auch sonst gar keinen Anhang.«
Das war eine sehr, sehr merkwürdige Frage, die erst jetzt hinterher gestellt wurde.
Sehr, sehr merkwürdig wenigstens für den, der die Menschen mit anderen Augen als den gewöhnlichen beobachtet. Besonders wenn er wusste, dass der junge Student tatsächlich gar keine Ahnung von den Verhältnissen dieses Mannes hatte. Und es war ja eigentlich gar keine Frage gewesen, sondern eine ganz direkte Behauptung.
» Ich bin unverheiratet und stehe auch sonst ganz allein.«
Also richtig taxiert! Wie aber hatte das Otto so bestimmt wissen können?
Diesem Manne war seine Weltverlassenheit absolut nicht anzusehen. Am allerwenigsten etwas wie Vergrämtheit. Das bärtige, männliche Gesicht drückte nichts anderes als ruhige Freundlichkeit aus, stille Zufriedenheit.
Und es hatten sich denn auch zwei Menschen zusammengefunden, die für einander wie geschaffen waren. Als Herr und Diener!
»Hier haben Sie hundert Mark als Wirtschaftsgeld. Wenn die alle sind, sagen Sie es, Rechnung darüber brauchen Sie mir nicht abzulegen.«
»Was wünschen Herr Richter heute mittag Zu essen?«
»Das, was Sie mir vorsetzen werden. Also —?«
»Das, was mir am besten schmeckt,« entgegnete der Diener.
»Richtig. Und das immer so.«
Es war das erste und das letzte Mal gewesen, an diesem Tage des Einzugs, dass über so etwas gesprochen wurde.
So lebten die beiden nun schon seit einem Jahre in dem Gartengrundstück. Als Herr und Diener. Aufs Engste miteinander verknüpft — durch eine unüberwindliche Schranke von einander getrennt.
Der junge Gelehrte setzte keinen einzigen Schritt Außerhalb der Gartenmauer. Was man im Haushalte brauchte, wurde aus dem Orte geliefert, und was Otto im Laboratorium bedurfte, besorgte Bertram ab und zu aus der Stadt, hauptsächlich Chemikalien und Glassachen.
Der Einzug war im Frühjahr erfolgt. Bis zum Spätherbste hatte Otto täglich zwei Stunden, von nachmittags Punkt zwei bis Punkt vier Uhr, im Garten gearbeitet. Sicher nicht nur aus Liebe zur edlen Gartenbaukunst. Unkrautausjäten und dergleichen, und das ausgerechnet gerade in den heißesten Stunden, wenn es ihm auch ganz gleichgültig war, ob es dabei vom Himmel goss oder der Blitz dicht neben ihm einschlug. Er tat es nur Zur geistigen Erholung, oder vielmehr, um auch dem Körper etwas zu tun zu geben, tat es für seine Gesundheit. Und er war eben ein Pedant. Ein geradezu lächerlicher Pedant. Dass er gerade so diese zwei Nachmittagsstunden einhalten musste, in denen anderer Menschen, die es sich leisten können, der Ruhe pflegen. Ein Pedant von jenem Holze, wollen wir aber auch noch hinzusetzen, aus dem die Welteroberer geschnitzt sind.
Als dann der Winter kam, im Garten beim besten Willen nichts mehr zu tun war, marschierte er während dieser beiden Stunden immer an der Gartenmauer entlang. Natürlich immer nur an der inneren Seite!
Aber gegen Ende des Winters setzte er mit diesen abgezirkelten Spaziergängen plötzlich aus, und als der Frühling nahte, Bertram umzugraben begann und von den Rosenbüschen die Strohumhüllungen entfernte, beteiligte sich der junge Gelehrte auch nicht mehr an diesen Arbeiten. Er kam gar nicht mehr aus seinem Laboratorium heraus. Oder höchstens auf das Dach hinauf.
Was trieb er nun eigentlich in seinem Laboratorium und jetzt so oft auf dem Dache seines Häuschens?
Die Leutchen im Orte hatten sich ja weidlich über den menschenscheuen Einsiedler den Kopf zerbrochen, über den »Goldmacher«, über den »Doktor Faust«, oder was sie ihm nun sonst für Namen gegeben hatten. Doch das war nur anfangs gewesen. Wenn man die Leute lassen kann, so wird man ja bald auch von ihnen gelassen. Nach Goethe.
»Wer sich der Einsamkeit ergibt,
Ach, der ist bald allein!
Ein jeder hasst, ein jeder liebt
Und kümmert sich nicht dein.«
Sie kümmerten sich auch diese Leutchen bald nicht mehr um den Einsiedler. Zumal nachdem er die erste Einladung zum Ortsvereinsfeste abgeschlagen hatte. Ganz fremd war er ihnen ja nicht. Es gab welche, die den alten Kohlenhändler Gustav Richter in der nahen Stadt gekannt hatten, und die konnten auch erzählen, dass »Richters Otto« schon als Kind so gewesen war.
Da ließ man ihn. Wenn man ihn auch nicht gerade vergaß. Man sprach nur mit größter Hochachtung von ihm. Denn erstens war er sehr, sehr vermögend, die Schätzung schwankte zwischen einer viertel und einer halben Million; zweitens bezog er alle Lebensbedürfnisse aus dem Orte; und drittens hatte er, als die Liste für das seit Jahrzehnten projektierte Brausebad — »um die Reinlichkeit zu fördern« — endlich herumgegangen war, eine ganz beträchtliche Summe gezeichnet.
Schade nur, dass bei diesem jungen, reichen Sonderlinge an eine Verehelichung gar nicht zu denken war. Da ließen ihn alle die Frauen- und Jungfrauenvereine links liegen. Und das gab in diesem Orte den Ausschlag.
Aber selbst ein alter, erfahrener Praktikant wie Bertram wusste nicht, welchen Forschungen aus dem Gebiete der Chemie sein Herr eigentlich nachging. Obgleich Bertram zu jenen professionellen Laboratoriumsdienern gehörte, die manchmal mehr in der Fingerspitze haben als mancher Dozent mit dem Doktor— oder gar Professortitel im Kopfe. Bertram brauchte den neu gelieferten Schwefel nur anzuriechen und etwas auf die Zunge zu nehmen, und er konnte sofort sagen, dass der Schwefel wieder einmal nicht chemisch rein war, dass er mit billiger Schwefelblüte vermischt worden, an die stets etwas freie, schweflige Säure gebunden ist. Ein anderer muss dazu erst eine langwierige Analyse vornehmen.
Und auch dieser erfahrene Praktikant wusste nicht, welchem Geheimnisse im Labyrinth der chemischen Wissenschaft sein Herr eigentlich nachging, obgleich ihm das Laboratorium jederzeit offen stand.
Ja, auf das Quecksilber hatte er sich hauptsächlich gelegt. Sowohl nach chemischer wie nach physikalischer Richtung hin.
Die Hauptsache, mit der sich der junge Gelehrte ständig herumquälte, war ein Glaskasten mit sehr starken Wänden, 40 Zentimeter im Quadrat und nur 2 Zentimeter hoch, der auch mit einem Glasdeckel verschlossen werden konnte.
Dieser flache Glaskasten war mit Quecksilber gefüllt, das ständig den Strahlen der Sonne ausgesetzt wurde, ob sich diese nun hinter Wolken verbarg oder nicht. Aber das war nicht so einfach, sondern die Strahlen mussten immer ganz direkt im rechten Winkel auf das Quecksilber fallen. Dazu wurde der Kasten auf einem Apparat befestigt, dessen Plattform ganz genau die Bewegungen der Sonne mitmachte, was durch ein kompliziertes Uhrwerk erzeugt wird, wie solche Apparate heute schon in höchster Vollendung hergestellt werden, Heliostaten werden sie genannt, für physikalische und astronomische Zwecke, einstellbar für jeden Tag bis zur Sekunde, so dass man also zum Beispiel, solange die Sonne sichtbar ist, einen Strahl immer auf ein und denselben Punkt fallen lassen kann, durch ein Loch im Fensterladen oder in der Wand ununterbrochen in ein finsteres Zimmer hinein.
Wenn also die Sonne im Osten auf— oder im Westen unterging, dann stand die Platte des Heliostaten mit dem Quecksilberkasten ganz senkrecht.
Erst war dieser Apparat im Garten aufgestellt gewesen, dann später war er auf dem nur wenig schrägen Dache des Hauses angebracht worden, aus dem Laboratorium führte eine kleine Wendeltreppe direkt hinauf.
Und diesem Quecksilber nun entnahm der junge Gelehrte ab und zu eine kleine Dosis, um sie in seinem Laboratorium in Retorten und Tiegeln den verschiedensten chemischen Prozessen auszusetzen, was, da Quecksilberdämpfe sehr giftig sind, meist im Abzugs— oder sogenannten Gastraume geschah. Das ist einfach ein großer Glasschrank, in dem sich oben in der Wand eine Öffnung befindet, die nach dem Schornstein geht, in dem Kanal brennt eine Gasflamme, diese saugt die Luft in den Schornstein hinein. Natürlich muss dieser auch ziehen. Aber tut er das nicht, so erkennt man dies ja gleich an der Gasflamme, sie schlägt nicht nach hinten.
Der schöne Maientag war zur Rüste gegangen, die Nacht war angebrochen.
Der junge Gelehrte befand sich in seinem Laboratorium. In dem Giftschranke brodelte über dem Bunsenbrenner ein Glaskolben, das Destillat ging durch mehrere komplizierte Vorlagen.
Doch darum kümmerte sich der Chemiker nicht. Er saß an dem einfachen Schreibtische, an dem er immer seine Berechnungen und Notizen machte, an dem er aber auch regelmäßig seine Mahlzeiten einnahm. Auch jetzt stand neben ihm das Abendbrot, das ihm Bertram schon vor einer Stunde gebracht hatte, belegte Brotschnitten, und es war noch unberührt.
Die Ellbogen auf den Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, so starrte Otto regungslos in den vor ihm aufgebauten Spiegel.
Es war der Quecksilberkasten, der jeden Abend vom Heliostaten abgenommen und hier auf diesem Tische an der Wand sorgfältig befestigt wurde. Wohl aus keinem anderen Grunde, als dass er eben hier für die Nacht seinen bestimmten Platz hatte.
Dieser flache vollständig mit Quecksilber gefüllte Glaskasten, so, dass sich auch kein einziges Luftbläschen dazwischen befand, war ja nichts anderes als der denkbar klarste Spiegel. So werden ja noch heute die besten Spiegel gefertigt, indem man eine Glasscheibe hinten mit einem Quecksilberamalgam belegt. Noch besser spiegelt ganz reines Quecksilber, nur müsste es dann eben wie hier zwischen zwei Flächen gespannt werden.
Aber mit diesem Quecksilber war im Laufe des Jahres eine Veränderung vor sich gegangen.
Wohl war es noch flüssiges, silberglänzendes Quecksilber, aber es irisierte. Das heißt, es schillerte in allen Regenbogenfarben, je nachdem das Licht darauf fiel oder von welcher Seite aus man es betrachtete.
Jetzt, wie Otto gerade davor saß und hineinblickte, zeigte der Spiegel eine intensiv feuerrote Färbung. Er brauchte den Kopf nur ein klein wenig nach rechts zu neigen, so ging das Rot in ein prachtvolles Grün über. Etwas nach links, und er sah eine blaue Oberfläche. Dabei aber war und blieb es immer ein vollkommen klarer Spiegel.
Ja, verändert musste sich dieses Quecksilber unbedingt haben. Etwa dadurch, weil es länger als ein ganzes Jahr bei jeder Gelegenheit den Sonnenstrahlen direkt ausgesetzt worden war?
Das war nicht nötig. Man durfte überhaupt gar nicht von »diesem« Quecksilber sprechen. Es brauchte gar nicht mehr das ursprüngliche zu sein. Otto nahm ja ab und zu etwas heraus, täglich auch mehrmals, und das fehlende ersetzte er sofort wieder, so dass der Kasten immer ganz gefüllt blieb, und es war sehr die Frage, ob es auch wirklich reines Quecksilber war, was er wieder zusetzte. Bertram war nie dabei gewesen, wenn er dies tat, obgleich es dann nicht direkt entfernt wurde, aber er glaubte aus gewissen Kennzeichen, dass es etwas anderes war, was sein Herr immer nachfüllte.
Dem Anscheine nach war es allerdings noch einfaches Quecksilber, flüssig, silberweiß und spiegelnd, was dort den Kasten erfüllte. Nur dass es immer mehr zu irisieren begonnen hatte.
Ohne anzuklopfen trat Bertram ein, wie immer Zu dieser selben Stunde und Minute, um das Abendbrot abzuräumen. Das heißt das, was sein Herr davon übrig gelassen hatte oder übrig gelassen haben sollte.
Etwas ganz Außergewöhnliches aber war es, dass Bertram heute einige Zeit erst seitwärts hinter dem Stuhle seines Herrn stehen blieb, wobei doch schon einige Sekunden etwas zu bedeuten haben.
Betrachtete er das Gesicht seines Herrn einmal im Spiegel, so wie dieser selbst tat?
Ach, wie hatte sich dieses Gesicht in letzter Zeit verändert!
Es waren ja von jeher hagere, durchgeistigte Züge gewesen, und die täglichen zwei Stunden im Freien hatten sie nie viel bräunen können. Denn dazwischen waren ja immer 22 sonnenlose Stunden im Zimmer gewesen.
Aber jetzt war dieses Antlitz geradezu eingefallen! Tiefliegende Augen mit großen Ringen darum! Und diese blauen Augen, die früher immer nur eigentlich gestrahlt hatten, glänzten jetzt in einem wahrhaft verzehrenden Feuer!
Vor einem Vierteljahre, seitdem der junge Gelehrte plötzlich seine winterlichen Spaziergänge längs der Mauer aufgegeben und dann auch die Gartenarbeit nicht wieder aufgenommen, hatte diese Umwandlung mit ihm begonnen, und es war immer schlimmer geworden, jetzt hatte er kaum noch ein Lot Fleisch auf den Knochen. Man konnte ihm förmlich durch die Backen sehen, ebenso wie durch seine schlanken, schmalen Hände.
Dazu kam nun noch, dass Bertram gerade so stand, dass er das Gesicht seines Herrn im Spiegel jetzt in einem grüngelben Lichte sah. Da war es nun vollends der reine Totenschädel, in dem nur noch die Augen lebendig waren. Und wie die flammten!
»Herr Richter!« erklang es da leise.
»Ja?«
Bertram hatte ihm ja immer einmal etwas Zu melden. Der eigentümliche Ton dabei schien jenem nicht aufgefallen zu sein.
»Sie haben Ihr Abendbrot wieder nicht gegessen.«
Das freilich war etwas, was zwischen den beiden noch nicht passiert war!
Es war nichts anderes, als wenn etwa der persönliche Kammerdiener Seine Majestät gelegentlich fragt, weshalb sie ihre Barttracht verändert hat.
Es war einfach etwas ganz Unerhörtes, etwas ganz Unglaubliches, diese Frage Bertrams, weshalb sein Herr sein Abendbrot nicht gegessen habe. Man musste die beiden nur kennen, wie die Zusammen und nebeneinander lebten.
Die Folge war, dass Otto das Stützen seines Kopfes aufgab, und sich halb im Stuhle dem Diener zukehrte. Sagen tat er nichts. Er öffnete den immer schärfer gewordenen Gedankenstrich unter der Nase nicht so leicht. Bertram würde schon von allein fortfahren, und das tat der denn auch.
»Sie haben heute auch das Mittagsessen gänzlich unberührt gelassen. Sind Sie krank, Herr Richter?«
»Nein.«
»Nicht magenkrank?«
»Nein.«
»Haben sich keine Quecksilbervergiftung zugezogen?«
Der junge Gelehrte warf einen Blick hinüber nach dem Giftschrank, wo es in dem Destillierkolben noch immer brodelte, und oben schlug die Gasflamme weit in den Schornstein hinein.
»Nein.«
»Wirklich nicht, Herr Richter?«
»Nein. Ich würde die Erscheinungen einer Quecksilbervergiftung sofort erkennen, ich prüfe mich daraufhin auch regelmäßig.«
»Dann weiß ich, was Sie vorhaben.«
»Was denn?«
»Sie wollen Selbstmord begehen. Durch langsames Verhungern.«
Es war ausgesprochen, das Ungeheuerliche.
Es brachte in den durchgeistigten Zügen, in denen nur ein scharfer Menschenbeobachter die ungeheure Energie erkannte, die diesem zarten Körper innewohnte, nicht den geringsten Eindruck hervor.
»Woraus schließt Du das, Bertram?« erklang es ganz gleichgültig.
»Der erwachsene Mensch, auch wenn er nicht körperlich arbeitet, braucht zu seiner Ernährung täglich mindestens 80 Gramm Eiweiß, ungefähr 50 Gramm Fett und 400 Gramm Kohlehydrate. Das erfordert der Stoffwechsel. So etwas weiß doch auch unsereins, auch wenn man nicht studiert hat. Diesen Bedingungen haben Sie früher entsprochen. Sie haben früher ganz gut gegessen. Bis vor einem Vierteljahr. Bis zum 6. Februar. Wo sie plötzlich Ihre Spaziergänge aufgaben. Von da an aßen Sie immer weniger. Und das wurde immer weniger und immer weniger. Jetzt rühren Sie Frühstück oder Mittagessen oder Abendbrot manchmal gar nicht mehr an. Heute bereits die beiden Mahlzeiten nicht mehr. Wie ich mir ausgerechnet habe, haben Sie in den letzten zwei Monaten täglich nicht mehr als 20 Gramm Eiweiss und 10 Gramm Fett und 150 Gramm Kohlehydrate Zu sich genommen. Dabei muss der Mensch bei lebendigem Leibe verhungern. Ganz, ganz langsam, meine ich.«
»Woraus aber schließt Du, dass ich mich zu Tode hungern will? Ich kann doch einmal eine Hungerkur durchmachen. Ohne krank zu sein. Aus wissenschaftlichen Gründen. Ich kontrolliere mich dabei. Studiere die Erscheinungen. Dann, wenn es mir zu viel wird, fange ich wieder zu essen an.«
»Mein lieber Herr!«
Mit ganz wehmütiger stimme hatte es Bertram hervorgebracht, dabei die Hände faltend.
»Und?«
»Nein, Sie wollen sich zu Tode hungern.«
»Woraus willst Du denn das nur mit solcher Sicherheit schließen?«
»Vorgestern musste ich einen Brief zur Post bringen.«
»Das kommt doch wohl öfters vor.«
»Einen eingeschriebenen.«
»Auch das ist nichts Neues.«
»An Herrn Doktor Malwen, Rechtsanwalt und Notar.«
»Und?«
»Und gestern nachmittag, als Sie mich in die Stadt geschickt hatten, war der Notar hier bei Ihnen.«
»Und?«
»Sie haben Ihr Testament gemacht.«
»Woher weißt Du denn das?«
»Die Fleischersfrau sagte es mir vorhin, wollte mich aushorchen.«
»Woher will denn die Fleischersfrau das wissen?«
»Der Notar ist gestern noch einmal im Gasthofe eingekehrt und hat erzählt, dass Sie Ihr Testament gemacht hatten.«
Ein ganz klein wenig zogen sich die Augenbrauen über der kühnen Nase zusammen. Es war ja auch ein starkes Stückchen, was der Besitzer dieser Brauen und Nase da zu hören bekam.
»Herr Doktor Malwen traf in dem Gasthof einen Freund,« suchte Bertram diesen selbst zu entschuldigen, »er erzählte es ihm im Vertrauen, wie das manchmal so geht, glaubte sich mit ihm allein in der Gaststube und wusste nicht, dass die Kellnerin das Gespräch belauschen konnte! Nun weiß es natürlich das ganze Dorf.«
»Auch was ich testamentiert habe?«
»Nein, so weit ging die Vertraulichkeit nicht. Doktor Malwen sagte nur, dass sie soeben Ihr früheres Testament umgeändert hätten. Nichts weiter.«
Schon hatten die Augenbrauen wieder ihre normale Stellung eingenommen. Es hatten auch scharfe Augen dazu gehört, um dieses Zeichen nur einer Verstimmung zu bemerken. In den Augen selbst war nicht das geringste davon aufgeflackert.
»Nun, und weshalb soll ich nicht mein Testament umändern? Da siehst Du doch, ich hatte es schon einmal gemacht, gleich nachdem ich die Erbschaft angetreten. Unterdessen habe ich es mir eben anders überlegt.«
»Und auf diesem Tische hier lag neulich ein Buch, und es hatte schon öfters hier gelegen.«
»Was für ein Buch?«
»Es handelte über die Religion der Dschainisten.«
»Du hast darin gelesen?«
»Nein, aber ich kenne die Dschaina ganz genau.«
»Woher denn?«
»Ich war einmal in einem Laboratorium angestellt, in dem sich einige Herren ständig über diese Religion unterhielten.«
»Inwiefern? Was weißt Du davon?«
»Diese Sekte entstand in Indien fast gleichzeitig mit dem Buddhismus. Auch ihren Mitgliedern ist Nirwana das höchste Ziel, und um es schnellstens zu erreichen, um womöglich alle Wiedergeburten zu vermeiden, soll der Mensch Selbstmord begehen. Aber nur eine einzige Art ist erlaubt, führt überhaupt zum Ziel. Langsames Auflösen des Körpers, was durch Verhungern erreicht wird. Und zwar womöglich ein ganz langsames Verhungern. Nicht sofortige Nahrungsverweigerung, sondern sie muss nach und nach reduziert werden. Bis die Seele endlich den erschöpften Körper verlässt. Dann geht sie ganz bestimmt in Nirwana in das Reich des seligen Unbewusstseins ein. Und jene Herren, die sich darüber so häufig unterhielten, waren hochgebildete Menschen, und sie alle waren sich darüber einig, dass der Dschainismus die idealste Religion sei, die es auf Erden gebe und dass ihr Gründer auch dieses langsame Verhungern ganz plausibel zu machen gewusst habe. Herr Richter, ich bin fest überzeugt, dass auch Sie dies durchführen wollen!«
Ruhig hatte der junge Gelehrte zugehört, den Sprecher immer fest anblickend.
»Du sagst es. Dass Du nicht darüber sprichst, was Du erraten hast, das weiß ich. An meinem Entschluss kannst Du natürlich nichts ändern. Nur das erfahre noch, dass ich auch Dich in meinem Testament reichlich bedacht habe. Du sollst fernerhin unabhängig leben können. Außerdem habe ich Dir dieses Gartengrundstück vermacht, da ich weiß, wie sehr Dein Herz schon daran hängt. Geh, mein lieber Bertram! Heute nimm das Abendbrot wieder mit. Morgen aber bringst Du mir wieder Frühstück, und kümmere Dich nicht darum, oh ich es anrühre oder nicht. Geh!«
Es war in einer Weise gesprochen worden, wenn auch ohne jede Betonung, dass der Diener sofort den Teller nahm und nach der Tür ging.
Dort aber drehte er sich noch einmal um, er musste doch noch etwas sagen, und im flehendsten, kläglichsten Tone erklang es:
»Mein lieber, lieber Herr Richter —«
»Geh!«
Da ging er.
Der freiwillige Hungertodeskandidat stand auf, ging nach dem Giftschrank, beobachtete einige Zeit den chemischen Prozess, blickte nach der Wanduhr.
»Um neun. Vor Mitternacht kann ich das Resultat nicht erwarten.«
Er ging hin nach der Uhr, die mit einem Wecker versehen war, stellte diesen auf zwölf ein, dann begab er sich in den Nebenraum, der seine Bibliothek enthielt, eine sehr stattliche, wählte nach kurzer Überlegung ein Buch, mit dem er sich bis dahin die Zeit vertreiben wollte.
Dabei zeigte es sich, dass dieser junge Gelehrte auch noch für anderes Sinn als nur für seine Wissenschaft hatte. Es waren Schillers Gedichte, die er gewählt hatte, und wer sie vielleicht auch alle auswendig kann, der wird sie doch immer wieder lesen — wenn er eben Sinn für so etwas hat.
Er begab sich mit dem Buche zurück ins Laboratorium, setzte sich wieder an den Tisch vor den Spiegel, begann zu lesen, wie er die Seiten gerade aufschlug.
Die Stunden vergingen. Er blätterte und las und blätterte.
Der große Zeiger der Wanduhr war noch fünf Minuten von der Zwölf entfernt, der kleine schien diese Zahl schon erreicht zu haben.
An die Freude.
Wer kennt dieses Gedicht nicht.
Freude schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten freudetrunken,
Himmlische, dein Heiligtum.
Wo ist dieses Gedicht entstanden?
Ausgerechnet in einer elenden Dachkammer zu Gohlis bei Leipzig, wo Schiller vom Gnadenbrot eines Gönners lebte.
In einem schiefen Dachkämmerchen, in dem man nur ganz vorn aufrecht stehen kann, ausgestattet mit einer armseligen Bettstelle, einem ebensolchen Tische und zwei Stühlen, auf dem einen steht das Waschbecken.
Seid umschlungen, Millionen,
Diesen Kuss der ganzen Welt!
Ob das auch in einem Prunksalon gesungen worden wäre?
O, Welt, da versinken alle deine Prunksalons in Staub und Moder!
Und der junge, blasse Gelehrte, dem schon der Tod den Stempel aufgedrückt hatte, las weiter:
Freude heißt die starke Feder
In der ewigen Natur.
Freude, Freude treibt die Räder
In der großen Weltenuhr.
Blumen lockt sie aus den Keimen
, Sonnen aus dem Firmament,
Sphären rollt sie in den Räumen,
Die des Sehers Rohr nicht kennt.
Froh wie seine Sonnen fliegen
Durch des Himmels prächt’gen Plan,
Wandelt, Brüder, eure Bahn,
Freudig wie ein Held zum Siegen.
Aus der Wahrheit Feuerspiegel
Lächelt sie den Forscher an -
Da schnarrte leise der Wecker.
Mitternacht!
Der Leser blickte auf.
Blickte gerade in den Spiegel, der ihm feuerrot entgegenleuchtete.
Und da plötzlich ging mit dem jungen Gelehrten etwas vor sich.
Plötzlich öffneten sich seine festgeschlossenen Lippen, noch weiter öffneten sich seine Augen, sie nahmen einen ganz starren Ausdruck an, und er streckte die Hände aus, ungläubiges Staunen malte sich in seinen sonst so unbeweglichen Zügen wider, und so erhob er sich, der Stuhl fiel um, so schlich er rückwärts, gebückt, die Hände noch immer gegen den Feuerspiegel vorgestreckt, dann fiel er auf die Knie nieder »Feruda! Feruda!«
126. KAPITEL.
FERUDA!
In seinem traulichen Parterrestübchen schlief Bertram in seinem Bett. Das Weckerschnarren und das Stuhlumfallen hatte er nicht gehört.
Erst ein lautes Klingeln in seinem eigenen Zimmer weckte ihn. Neben dem Bett lief an der Wand ein Gasrohr hinauf, eine Drehung des Hahnes, und die Gasflamme, bisher nur ein winziges Flämmchen, verbreitete helles Licht.
Welche Zeit? Halb eins,
Sein Herr begehrte ihn.
Das war nichts Außergewöhnliches, kam häufig vor, dass er ihn mitten in der Nacht aus dem Bette holte. Dafür ist man Diener bei einem Gelehrten, der einen einmal geleiteten chemischen Prozess manchmal Tag und Nacht beobachten muss. Bertram hatte ja sonst Zeit genug, konnte schlafen, wann er wollte.
Aus dem Bett gesprungen, in dem er in Unterkleidern gelegen, in Hose und Jacke und Pantoffeln geschlüpft und hinauf.
Der Prozess im Giftschrank war beendet, die Vorlage schon weggenommen. Otto sass wieder an dem Tische, hatte geschrieben.
Aber kaum hätte ihn Bertram wiedererkannt.
Obgleich sich an ihm absolut nichts weiter verändert hatte, als dass er seine Lippen nicht mehr so fest geschlossen hielt. Sonst waren es noch genau dieselben Züge, dieselben Augen. Aber diese etwas geöffneten Lippen genügten, um seinem Gesicht einen total anderen Ausdruck zu geben.
»Setze Dich, mein lieber Bertram· Hierher zu mir, ich habe mit Dir Zu sprechen.«
Dass er den Diener »mein lieber Bertram« anredete, das kam ja öfters vor. Aber noch nie, nie hatte er ihn aufgefordert, sich hier zu setzen.
Der Diener gehorchte, Otto wandte sich ihm zu.
»Heute nacht ist es mir endlich gelungen, das Problem zu lösen, dem ich schon seit vielen, vielen Jahren nachforsche, eigentlich schon von Kindheit an. Es war schon als kleines Kind immer mein Traum gewesen!«
»Eine wichtige Erfindung?« fragte Bertram leise, ebenfalls zum allerersten Male solch eine Frage stellend.
»Ja. Eine höchst wichtige Erfindung. Eine epochemachende. Sie würde die ganze Welt umstürzen. Die sozialen Verhältnisse dieser Erde, meine ich. Aber auch namenlosen Jammer über die Menschheit bringen. Und das ist der Grund, weshalb ich meine Erfindung mit mir ins Grab nehmen werde. Diese Erfindung wird dereinst noch von anderen gemacht werden, wenn man nur erst zu der Erkenntnis gekommen ist, dass die alchimistische Lehre von der umwandelnden Kraft der Sonnenstrahlen doch nicht nur so ein leerer Wahn gewesen ist — recht so, mögen andere diese Erfindung machen und sie der Öffentlichkeit übergeben — ich will an diesem anfänglichen Jammer der Menschheit nicht schuld sein.
Ich will Dir kurz andeuten, worum es sich handelt, wie ich überhaupt an das ganze Problem gekommen bin.
Du weißt, dass mein Vater Kohlenhändler war. Wahrscheinlich aber nicht, dass er der Sohn eines Bergmanns gewesen. Im Kohlenbergwerk beschäftigt. Auch schon mein Vater hatte von seinem dreizehnten Jahre an im Kohlenschacht arbeiten müssen. Bis er zum Militär kam. Dass er dann auch wieder zu den Kohlen überging, war jedoch nur ein Zufall.
Jedenfalls aber konnte er viel von den Bergleuten erzählen, von dem Leben tief unter der Erde im Kohlenschachte, von einem schrecklichen Unglück durch schlagende Wetter, dem auch mein Großvater zum Opfer fiel, dem mein Vater, ein Kind noch, nur mit knapper Not entrann.
Gern erzählte mein Vater von dieser seiner Bergmannszeit. Und ich hörte immer mit atemloser Spannung zu.
Und der Menschheit ganzer Jammer packte mich.
Immer und immer wieder.
Du weißt, warum, Bertram.
Du bist auch einer von jenen wenigen, die nicht zu den Herdenmenschen gehören.
Diese Hunderttausende von Menschen, Kinder der Sonne — sie müssen um ein kärgliches Brot fast ihr ganzes Leben tief unter der Erde verbringen, damit die anderen Menschen nicht frieren, damit sie kochen können, um Lokomotiven und Schiffe zu heizen, um Kriege führen zu können, um zahllose Maschinen zu bewegen, die meistens ganz unnötiges Zeug fertigen.
Deshalb müssen viele Hunderttausende von armen Menschen, Kinder des Lichtes und der Sonne, in finsteren Schächten schwer arbeiten, ständig umringt von tausend Gefahren Ließe sich das nicht ändern?
Ließe sich diese schwarze Kohle nicht durch irgend etwas anderes ersetzen?
War diese schwarze Kohle nicht auch erst ein Produkt der heiteren Sonne?
Das war es, was mich schon als Kind Tag und Nacht beschäftigte.
Ich wollte diese armen Sklaven der schwarzen Kohle befreien, sie wieder ans Licht der Sonne ziehen.
Deshalb bin ich Chemiker geworden.
Schon als Kind.
Und heute nacht habe ich dieses Problem gelöst!
Bertram, ich habe eine Substanz erfunden, welche alle Kohle überflüssig macht!
Eine Quecksilberverbindung, welche Wasser in seine Elemente zerlegt, nur durch einfache Berührung.
Also die Substanz selbst zersetzt sich nicht, nützt sich nicht ab.
Mit einem erbsengroßen Stücke könnte man alle Weltmeere in Knallgas verwandeln.
Aber die beiden Gase sind bei der Entwickelung auch getrennt aufzufangen.
Du weißt, Bertram, was das zu bedeuten hat. Alle Kohle, alles Petroleum, alle anderen jetzt zu Heiz- und Beleuchtungszwecken dienenden Produkte sind überflüssig geworden.
Aber unterdessen ist aus dem träumenden Kinde ein nüchterner Mann geworden, der zu rechnen versteht.
Und ich habe eine Rechnung aufgestellt, schon früher.
Und da bin ich zu Zahlen gekommen, die mich mit Entsetzen erfüllt haben.
Nämlich die Zahlen, welche das Elend schildern, das meine Erfindung erzeugen würde, wenn ich sie der Öffentlichkeit preisgebe.
Alle die Hunderttausende, ja Millionen von Menschen, die in Kohlenbergwerken arbeiten, die sonst mit der Kohle zu tun haben, mit Petroleum und ähnlichen Materialien, alle würden sie brotlos, alle diese Arbeiter samt Frauen und Kindern!
Und die Banken, welche zusammenkrachen würden!
Diese Revolution auf dem ganzen Weltmarkte!
Die hierdurch herbeigeführte Katastrophe lässt sich nicht schildern, nicht ausdenken.
Nein, ich nehme meine Entdeckung mit ins Grab. Mögen sie nur andere machen.
Genug hiervon!
Etwas anderes ist es auch, worüber ich Dich jetzt sprechen wollte, Bertram.
Was sagen die Leute hier im Orte über mich?«
Mit gespanntester Aufmerksamkeit hatte der in Chemie wohlbewanderte Diener den Ausführungen gelauscht.
Diese letzte Frage musste ihm ja höchst überraschend kommen, und es braucht wohl nicht erst betont Zu werden, dass sein Herr eine solche noch niemals gestellt hatte; was andere über ihm sprächen. Sie würde aber schon ihren Grund haben.
»Dass Sie ein sehr guter Mensch seien, aber ein großer Sonderling,« fasste Bertram es kurz und bündig Zusammen.
»Sonst nichts weiter?«
»Hm, nein, eigentlich nicht.«
»Nicht, dass ich zu bedauern wäre —?«
»Ach so — ja — natürlich — Sie müssten — müssten wohl — ich weiß nicht —«
»Sprich es nur aus! Ich weiß schon, was jetzt kommen Wird!«
»Sie müssten wohl eine unglückliche Liebe im Herzen haben.«
»Richtig,« nickte der junge Gelehrte beistimmend. Eines Lächelns war er wohl nicht fähig, sonst würde er sicher dazu gelächelt haben.
»Ja natürlich,« setzte Bertram noch hinzu, »anders geht es bei diesen Leutchen hier doch nicht, bei denen die Frauenzimmer die Herrschaft führen. Wer so zurückgezogen lebt, wie Sie, der muss unbedingt einen geheimen Liebesgram haben.«
»Sehr richtig,« nickte Otto wiederum. »Und was denkst Du über mich, Bertram?«
Zunächst faltete der alte Diener die Hände.
»Dass Sie der allerbeste Mensch sind, den es auf Gottes Erdboden gibt! Wenn Sie es auch nicht so von sich geben können.«
»Hier meine Hand, Bertram!«
Das allererste Mal, dass der Herr seinem Diener die Hand gab. Und dessen Hand bekam einen Druck, dass er fast schmerzhaft das Gesicht verzog, welche Kraft man dieser zarten, schmächtigen, gedrückten, jetzt auch noch so ausgedörrten Gestalt nimmermehr zugetraut hätte!
»Glaubst Du, dass ich glücklich bin, Bertram.«
»Ja, das glaube ich,« wurde im Brustton der tiefsten Überzeugung versichert.
»Weshalb glaubst Du das so bestimmt?«
»Weil — weil — weil Sie für nichts weiter als wie für Ihre Wissenschaft Interesse haben, ganz darin aufgehen. Solche Gelehrte sind immer glücklich.«
»Wenn ich Dir aber nun sage, dass ich tief, tief unglücklich bin!«
»Ja?!« brachte der biedere Bertram mit ungläubigem Staunen hervor.
»Wäre es nicht möglich, dass ich eine tiefe Sehnsucht im Herzen habe?«
»Was denn für eine?«
»Ich will es Dir sagen. Auch ich habe als Kind Indianer- und Abenteuergeschichten gelesen. Dann später wissenschaftliche Reiseberichte. Habe auch Vorlesungen über Erdkunde gehört. Forschungsreisender hätte ich werden mögen.«
»Warum sind Sie es nicht geworden?« war die ganz richtige Frage.
»Weil das mit den Kohlen dazwischen kam. Und Dieser Gedanke behielt die Oberhand. Mein Ideal. Aber die Sehnsucht, fremde Länder zu sehen, die ganze Erde, sie blieb.«
»So folgen Sie doch jetzt Ihrer Neigung.«
»Ja, Bertram, wenn ich nicht der wäre, der ich bin. Ich bin ein Sonderling. Stimmt. Ich bin ein Phantast. Wenn man mir vielleicht auch nichts davon anmerkt. Nein, ich bin noch viel mehr. Ich bin ein unverbesserlicher Träumer. Ich greife nach Sonne, Mond und allen Sternen.
Was ich hiermit sagen will?
Mich auf die Eisenbahn setzen, Schiffe benutzen?
Es genügt mir nicht. So wie die anderen Menschen zu reisen.
Gib mir die Möglichkeit, mich auf einen Telegraphendraht zu setzen und mich im Nu dorthin befördern zu lassen, wo ich sein will, im fernsten Weltteil — und ich will auf der Erde bleiben und dieses Laboratorium, meine ganze Wissenschaft verlassen. Glaubst Du, dass solch eine Art von menschlicher Beförderung möglich ist, per Telegraphendraht?«
»Hm,« brummte Bertram. »Möglich wäre es schon, wenn wir uns jetzt auch gar nicht vorstellen können, wie das Zu machen wäre. Aber vor hundert Jahren konnte man sich auch nicht vorstellen, wie man sich telegraphisch verständigen könnte, hatte auch noch keine Ahnung von einer Lokomotive und Eisenbahn. Es wäre ganz unmöglich gewesen, jemandem das prophetisch beschreiben Zu wollen. Man hätte denjenigen, der dies versucht, doch gleich ins Irrenhaus gesperrt.«
»Richtig. Und ich bin so unbescheiden, dass ich mich noch nicht einmal mit der telegraphischen Beförderung zufrieden geben würde. Denn da bin ich immer wieder an Draht und Stationen gebunden. Und auch drahtlose Beförderung genügte mir noch nicht. Immer wieder Stationen! Nicht Luftschiff, nicht Vogelschwingen! Ich möchte sein, wo ich im Moment sein will, mit Körper und Geist. Ein Wunsch — und über mir steht die Sonne des Äquators. Eine Mücke sticht mich — ein Wunsch — eisige Polarstürme umtoben mich. Sage, Bertram, wäre das nichts?«
»Herr, das ist nicht möglich!«
»Ich weiß es. Und die Okkultisten, die so etwas für möglich halten, sogar das Rezept dazu geben, wie man die Seele bei Lebzeiten vom Körper lösen und sie nach Belieben auf Reisen schicken kann, sogar nach fernen Planeten — ich glaube nicht daran. Aber diese geheime Sehnsucht ist es auch nicht, die mich so tief, tief unglücklich macht.«
»Noch eine andere?«
»Bertram, hältst Du mich der Liebe für fähig?«
»Nein!« erklang es ganze ruhig und bestimmt.
»Weshalb nicht?«
»Weil — weil — ich habe es schon vorhin gesagt. Ihre Geliebte ist die Wissenschaft.«
»Bertram, hast Du einmal geliebt?«
»Ja.«
»Und bist dadurch unglücklich geworden? Bist der geworden, der Du jetzt bist?«
»Ja.«
»Ich habe es mir gedacht, habe es gewusst, weshalb Du Dich von der großen Herde abgesondert hast. Willst Du es mir erzählen?«
»Ja.«
Und der alte Mann erzählte. Ganz kurz.
Die alte, uralte Geschichte
Doch bleibt sie ewig neu,
Und wem sie just passieret,
Dem bricht das Herz entzwei.
Und dabei braucht man kein hochgebildeter Mensch zu sein, kein idealer Jüngling oder sentimentales Mädchen.
Das kann auch dem gewöhnlichsten Arbeiter einmal passieren.
Eine glückliche Ehe. Mit der Jugendgeliebten. Ein herziges Kind. Da war der Teufel gekommen. Sie war mit einem anderen davongelaufen. Er hatte nur noch das Kind, den Sohn. Und dann die Diphtheritis Da am Sterbebette des erstickenden Kindes war der verlassene Mann der geworden, der er nach zwanzig Jahren noch heute war. Der Zufrieden war, wenn er in seinem ihm liebgewordenen Berufe seinen Unterschlupf gefunden hatte, als Laboratoriumsdiener solch einen Herrn.
So hatte Bertram erzählt. Ganz kurz.
»Und was ist aus ihr geworden?«
»Ich — weiß es nicht.«
»Sie ist gestorben?«
»Nein — ja — nein —«
»Du liebst die Treulose noch immer?«
»Ja,« erklang es hauchend in dem Raume.
»Gut. Ich habe mir so etwas Ähnliches gedacht, und nun weiß ich, dass ich zu Dir sprechen kann. Denn wie kann man sonst zu jemandem über so etwas sprechen, der niemals über eine alltägliche Liebelei hinausgekommen ist, und hat sie auch im Grabe geendet. Glaubst Du, Bertram, dass auch ich solch eine unglückliche Liebe im Herzen trage?«
»Sie?«
Mit ungläubigem Staunen hatte es der alte Mann hervorgebracht.
Und da streckte sein Herr mit plötzlich ganz verändertem Gesicht beide Arme aus, als wolle er ein Phantom umfangen, und dann legte er die linke Hand aufs Herz, die rechte auf seine Stirn, und in namenlosem Jammer kam es langsam über seine Lippen:
»Mein Herz ist Feuer — und mein Hirn ist Glut — und mein Leib verzehrt sich in Sehnsucht!«
Mit namenlosem Staunen, dem sich aber auch Schreck, fast Entsetzen beimischte, blickte der alte Diener auf seinen jungen Herrn.
Ganz abgesehen davon, dass er diesen Gelehrten gar keiner Liebe für fähig gehalten hätte — nein, dieser furchtbare Verzweiflungsausbruch war es, der ihn völlig überrumpelte!
Denn wie, wie der das hervorgebracht hatte! Dieser Jammer, diese Verzweiflung!
Doch schnell hatte er sich wieder gefasst, war wieder derselbe.
»Lass Dir erzählen, Bertram.
Du bist der einzige, dem ich mich einmal offenbare.
Es drängt mich etwas Unwiderstehliches, dass ich einmal mein Herz ausschütte, und ob Du ein Fürst oder ein Bischof oder ein Arbeiter bist, ist mir gleichgültig.
Du bist mein lieber Bertram, den ich während dieses Jahres, da wir Zusammenleben, ins Herz geschlossen habe, und für den ich bereit bin, durchs Feuer Zu gehen und die Folterqualen der ewigen Hölle zu ertragen, wie Du dasselbe auch für mich tun würdest.
Das wissen wir beide.
Auch wenn wir beide noch kein einziges Wörtchen deswegen verloren haben.
Höre mich an, Bertram.
Eine ganz, ganz seltsame Geschichte.
Ein Märchen.
In unsere Familie hat sich ein rätselhaftes Traumbild eingedrängt.
Mein guter Vater — der Herr aller Welten segne ihn war der denkbar nüchternste, prosaischste Mensch, hatte nichts weiter als sein Kohlengeschäft im Kopfe und im Herzen. Und dann vielleicht noch seine Stammkneipe nebenan.
Und dann natürlich seine Familie.
Doch das ist bei einem Menschen, der kein Bösewicht, selbstverständlich.
Auch der Wolf sorgt für seine Brut. Wenn er nicht anormal veranlagt ist, dass er sie lieber auffrisst.
So prosaisch war mein Vater, dass er nicht einmal träumte. Niemals.
Nur von einem einzigen Traume konnte er erzählen. Und er tat es gern, lachend, und unter Tränen zugleich.
Wie mein Großvater das Opfer einer Katastrophe im Bergwerk wurde, habe ich schon gesagt. Und auch mein Vater war dabei, sein Sohn, als sechzehnjähriger Junge.
Er befand sich ganz allein in einem abgelegenen Schachte. Da, eine einzige Flamme, ein Krachen — und die Wände stürzten auf ihn herab.
Gegen 18 Stunden hat er da verschüttet gelegen.
Das erfuhr er aber erst hinterher
Er war immer besinnungslos.
Nach seiner damaligen Vorstellung verlor er das Bewusstsein, im nächsten Augenblick schon hatte er es wieder, und da holten sie ihn unter den Schuttmassen hervor.
Und wähnend dieses scheinbaren Augenblicks also hatte er einen Traum, den einzigen seines Lebens.
Plötzlich stand vor ihm in hellem Lichtscheine ein strahlendes Weib, antik gekleidet, so wie es der einfache Mann beschreiben konnte. Also feenhaft, wollen wir sagen. Am besten konnte er beschreiben, dass sie um die Stirn ein goldenes Band trug, das die Haare zurückhielt, vorn mit seinem großen Diadem. Und dann konnte er nicht genug ihre bezaubernde Schönheit, ihr holdseliges Lächeln schildern. Eben eine Fee.
Und sie sprach zu ihm:
Ich bin die Freude. Sei getrost, Du wirst gerettet werden.
Nichts weiter. Verschwunden war sie wieder.
Also 18 Stunden nach der Katastrophe wurde der Junge ausgegraben.
Allerdings war es merkwürdig, dass man in dem toten Gange, in dem niemand mehr etwas zu suchen hatte, noch nachgegraben und dadurch ihn gefunden hatte. Aber nicht etwa, dass die Retter von einem Lichtschein geführt worden waren oder sonst etwas Seltsames erlebt hatten. Gar nichts. Einfach ein Zufall, dass man auch dort nachgeforscht hatte. Der Junge, mein späterer Vater, war nur dadurch dem gewissen Tode entgangen, dass sich ein stürzender Balken quer über ihn gelegt hatte, ohne ihn zu erdrücken.
Dies ist das Geschichtchen, das mein Vater gern erzählte. Nur aus dem Grunde, weil es der einzige Traum seines Lebens gewesen war. Worauf er nämlich sehr stolz war, dass auch er einmal so etwas wie einen Traum gehabt hatte. Sonst gab er gar nichts weiter darauf.
Mein Vater wurde Witwer, heiratete zum zweiten Mal.
Ich erblickte das Licht der Welt. Meine Mutter, ein äußerst zartes Persönchen, hatte eine sehr, sehr schwere Niederkunft, obgleich es auch nur so etwas Nixiges war, was da zur Welt kam.
Ganz merkwürdig war nur, dass sie hinterher gar nichts davon wissen wollte, was sie für Schmerzen ausgestanden, wie sie gejammert und geschrien hatte.
Sie wisse nichts davon. Sie habe geschlafen.
Und einen Traum habe sie dabei gehabt.
Plötzlich habe an ihrem Schmerzenslager eine Fee gestanden, um die Stirn ein goldenes Band, in der Mitte ein Diadem. Ein holdseliges Weib mit holdseligem Lächeln.
Ich bin die Freude. Sei getrost, ich bleibe bei Dir und helfe Dir.
So hatte die Fee gesprochen und hatte die Wehmutter gespielt. Und als sie verschwand, da erwachte meine Mutter, und ich war zur Stelle, alles gut abgelaufen. Und dass sie in ihren Schmerzen so geschrien, davon wollte meine Mutter nichts wissen. Sie hatte nicht die geringsten Schmerzen empfunden.
Nun, was war weiter dabei? Eben eine Ideenverbindung. Mein Vater hatte so viel von seinem Traum in höchster Not erzählt, da hatte auch meine Mutter in ihrer Leidensstunde denselben Traum gehabt. Nichts weiter. Leicht erklärlich. Und dass eine Niederkunft in unempfindlichem Zustande erfolgt, ohne dass der Wöchnerin ihre Bewusstlosigkeit anzumerken ist, das kommt öfters vor. So sagten die Ärzte.
Ich war Zwölf Jahre alt, als ich einmal zufällig mit anhörte, wie meine Mutter dies einem Besuch erzählte. Sonst sprach sie nie davon, am wenigsten doch einem Kinde gegenüber. Ich muss betonen — es ist von Wichtigkeit — dass diese erlauschte Geschichte auf mich gar keinen Eindruck machte, oder höchstens, dass ich im Inneren darüber lachte und spottete; denn ich befand mich damals in jenem kritischen Stadium des Knabenalters, da jeder intelligente Junge an die Erzählungen des Religionslehrers zu zweifeln beginnt, und Außerdem hatte ich Büchners »Kraft und Stoff« gelesen. Ich war bereits ein ganz perfekter Materialist, der nur an das glaubt, was er mit Fäusten packen oder doch wenigstens in mathematische Formeln zwangen kann.
Drei Jahre vergingen. Wieder kam ich in ein kritisches Stadium, zu dessen Charakterisierung ich am besten sagen möchte:
Ein unbegreiflich holdes Sehnen
Trieb mich durch Wald und Wiesen hinzugehn
, Und unter tausend heißen Tränen
Fühlt ich mir eine Welt entstehn.
Du verstehst, Bertram.
Wenn dies Goethe seinen Faust auch bei einer ganz anderen Gelegenheit sprechen lässt.
Es trifft doch ganz für einen Knaben zu, der in diese Periode tritt.
Allerdings irrte ich nicht in Wäldern und Wiesen umher. Dazu hatte ich keine Zeit. Mein Stundenplan war bis zur Minute festgelegt. Und auch sonst entging ich allen Versuchungen, oder wusste sie doch mit zusammengepressten Zähnen zu überwinden; denn ich hatte schon meinen Epiktet gelesen, den ich ja auch Dir in die Hände gegeben habe. Ich betrieb schon eifrig die Philosophie der Verachtung, und das ganz besonders dem anderen Geschlecht gegenüber.
Ich ging damals in die Obertertia. Wir nahmen gerade die altfranzösische Literaturgeschichte durch.
Nun erst eine Frage, Bertram: Hast Du das altfranzösische Epos »Feruda« gelesen oder doch davon gehört?«
Der alte Diener verneinte.
»Es wäre auch wunderlich, wenn Du es kenntest. Es ist ein fast vollständig vergessenes Denkmal der alten französischen Literatur, und es ist dem Inhalt, wie der Ausführung nach auch gar nicht wert, dass man es in der Erinnerung behält. Unser Literaturlehrer war nur so pedantisch, nichts zu übergehen.
Dieses Epos stammt wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert, seinen Verfasser kennt man nicht, zum ersten Male gedruckt wurde dieses Epos in Genf 1519, ich glaube kaum, dass es noch andere Ausgaben gibt.
Es ist ein phantastisches Epos, ein Märchen in Gedichtform. Feruda ist eine Zauberin. Sie versteht die Kunst, sich unsichtbar zu machen, Außerdem kann sie im Moment sein, wo sie will. Sich sogar mit Gedankenschnelle auf fremde Himmelskörper versetzen. Es ist eine gute Zauberin, sie greift helfend in die Geschicke der Menschheit ein. Im übrigen ein ganz verschrobenes Machwerk. Der Verfasser, wahrscheinlich ein Mönch, strotzt vor Unkenntnis und falschen Vorstellungen. Am Südpol ist es glühend heiß, in Skandinavien lässt er die Menschen arabisch sprechen, und die anderen Planeten besetzt er mit Schulen, in denen ausschließlich Mönche die seligen und unseligen Menschen unterrichten.
Dann muss ich noch bemerken, dass unser Literaturlehrer irrtümlicherweise — oder es mochte so auch in seinem Handbuche stehen — immer »Ferude« sagte, es französisch aussprechend, also Ferüd.
Merkwürdig! Wie ich das hörte, zuckte mir gleich etwas durch den Kopf. Ferude — ist das nicht das Anagramm von dem deutschen Wort Freude? Natürlich, es sind dieselben Buchstaben. Da musste ich natürlich lebhaft an die Fee denken, die meinem Vater und meiner Mutter im Traum erschienen war. Die hatte sich ja immer »Freude« genannt.
Als es mir mein Stundenplan erlaubte und sogar vorschrieb, ging ich hin nach der königlichen Bibliothek, fragte den Bibliothekar, der mich begönnerte, nach dem altfranzösischen Epos »Ferüd«.
Doch nicht etwa, weil dieser Name mich an die Träume meiner Eltern erinnert hatte. Dass ich nun da etwa weiter nachforschen wollte. Gott bewahre! Da hätte ich mich doch selbst verachtet! Nein, sondern ich las überhaupt alles, was in der Literaturstunde auch noch so flüchtig erwähnt wurde, regelmäßig im Urtext. So gewissenhaft war ich. Und nun dazu noch eine ausgeprägte Neigung für Literatur. Ich mag wohl der einzige vom ganzen Gymnasium gewesen sein, der das so hielt. Ich war schon seit Jahren Stammgast in der königlichen Bibliothek. Die Bibliothekare unterhielten sich gern mit mir, staunten mich Knirps als ein kleines Literaturwunder an.
Ferüd? Ferude? Nein, gibt es nicht. Altfranzösisches Epos, wahrscheinlich aus dem 14. Jahrhundert? Ah, Du meinst Feruda!! Ja, das haben wir. Genf 1519.
Ich nahm den uralten Schmöker und zog mich auf mein Lieblingsplätzchen zurück, in ein Zimmerchen, das nicht so leicht von anderen Besuchern gefunden wurde, angefüllt mit ausrangierten Wörterbüchern aller Sprachen, also wie geschaffen für meine fremdliterarischen Studien.
Ich begann meine Lektüre. Nun, sie war gar nicht so uninteressant. Dieser Mönch war gar nicht so ungebildet und borniert, wie ihn unser Literaturlehrer hingestellt hatte. Er war eben ein Kind seiner Zeit gewesen. Dass er den Südpol von der Sonne verbrannt hinstellte und die Skandinavier arabisch sprechen ließ, das zeigte doch nur, wie es in den Köpfen der damaligen Menschen ausgesehen hat.
Anderseits herrliche Naturgemälde! Und dann imponierte mir mächtig, wie sich diese Zauberin Feruda so mit Gedankenschnelle überallhin versetzen konnte, wohin sie wollte. Das war es ja, was ich im geheimen immer ersehnt hatte.
Und ferner konstatierte ich, dass diese Zauberin tatsächlich den Namen »Freude« führen sollte. Wenn sie Franzosen erschien, so wurde sie nämlich auch Lajoie genannt, nannte sich selbst so. Und das ist doch eben »die Freude«. Sie war eine Skandinavierin, der Mönch hatte wohl etwas von dem deutschen Worte »Freude« gehört, hatte es latinisiert, das heißt in seinem Küchenlatein »Feruda« daraus gemacht.
So versenkte ich mich in die wundersamen Reisebeschreibungen auf dieser Erde und auf fremden Weltkörpern, bis ich mit den Augen zu blinzeln begann und plötzlich, ehe ich es verhindern konnte, eingeschlafen war. Ich war übermüdet gewesen.
Was Wunder nun, wenn sich jetzt bei mir der Traum meiner Eltern wiederholte.
Plötzlich ein Lichtmeer und in demselben die noch blendendere Erscheinung eines Weibes.
Eine Fee in Feenkostüm. Um die Stirn ein goldenes Band mit Diadem. Ein junges Weib von überirdischer Schönheit, mit dem holdseligsten Lächeln, das sich denken lässt.
Und sie begann zu sprechen.
Ich bin Feruda.
Ich bin die Freude, die schon Deinem Vater und Deiner Mutter in ihren Nöten beigestanden hat, auf dass Du für dieses Leben nicht verloren gingest.
Denn in diesem Leben sollst Du Dein irdisches Ziel beenden, um dann in anderer Weise wirken Zu können.
Denn Christus hat gesagt: Ich hätte Euch noch viel zu sagen, aber Ihr würdet mich nicht verstehen.
Du wirst bald reif dazu sein, um es verstehen zu können.
Doch bedarfst Du einer Führung.
Ich bin Zu Deiner Führerin bestimmt.
Und wir kannten uns schon immer, wovon Du jetzt aber nichts weißt.
Und immer wieder handelt es sich um einen freien Entschluss.
Ich bin Dein und Du bist mein. Willst Du mein Geliebter sein?
So hatte sie gesprochen.
Wort für Wort, wie ich es hier wiedergebe.
Und mir kam das alles so ganz selbstverständlich vor. Es war ja nur ein Traum.
»Ja, ich will Dein Geliebter sein!« entgegnete ich ganz einfach.
»Wirst Du mir auch treu sein?« fuhr sie fort.
»Ich werde Dir immer treu sein.«
»So höre, mein lieber Fortunat.
Denn für mich heißt Du Fortunat, wie für alle die, zu denen ich Zähle. Strebe Deinem Lebensziele, das Du Dir gesteckt, weiter nach.
Du wirst es erreichen.
Und wenn Du es erreicht hast, dann werde ich Dir wieder erscheinen.
Nicht früher.
Und wenn Dir Feruda als Freude erscheint, nicht nur im Traume, dann richte unser Hochzeitsmahl an.
Dann lasse das Beste auftragen, was Du in Deinem Hause hast. Nichts mehr und nichts weniger.
Versprichst Du mir das?«
»Ich verspreche es Dir!« entgegnete ich.
»So lebe wohl und warte, bis ich Dir wieder erscheine, um mit Dir das Abendmahl einzunehmen, das unsere Verbindung auf ewig bestätigt. Und hier, Geliebter, nimm meinen Verlobungskuss.«
Und sie beugte sich herab und küsste mich auf die Stirn und küsste mich auf die Lippen.
Und da erwachte ich und saß in dem Lesezimmer!«
Der Erzähler machte eine Pause, legte die Hand vor die Augen und atmete schwer.
»Bertram, o Bertram!« fuhr er dann fort.
»Lass es mich nicht schildern. Wie könnte ich es auch! Dieser Kuss, dieser Kuss!
Wie der mir damals nach dem Erwachen auf Stirn und Lippen brannte; wie er mir die ganzen sieben Jahre lang gebrannt hat und heute noch brennt.
Doch nicht mit verzehrender Glut!
Von keuscher Reinheit!
Wie kühles Feuer, das von einem klaren Kristalle ausgeht.
Bertram, ich bin ihr treu geblieben, dieser Traumgestalt.
Nie habe ich ein Weib angesehen. Nur meine Mutter.
Ich fühlte mich verlobt.
Und wenn ich darüber verächtlich spotten wollte, so erstarrte plötzlich dieser Spott vor Scham in meinem Herzen.
Und durch diesen Kuss bin ich der geworden, der ich bin.
Ich habe meiner Verlobten gegenüber mein Wort gehalten.
Fest und stark habe ich mein Lebensziel verfolgt!
Wohl glühte in meinem Busen ständig eine verzehrende Sehnsucht, aber dieser Vulkan gab mir doch nur die treibende Kraft.
Und auch sonst hielt sie mich aufrecht.
Fast möchte ich das vermessene Wort aussprechen: Wer kann mich einer Sünde zeihen?
Nein, ich bin mir während dieser sieben Jahre keiner Sünde bewusst.
Genug!
Ich war verlobt. Von namenloser Sehnsucht erfüllt, harrte und harrte ich ihrer Wiedererscheinung.
Merkwürdigerweise träumte ich trotz seiner grenzenlosen Sehnsucht niemals wieder von ihr. Ich träumte viel, aber alles andere, nur nicht von ihr, von ihr!
Doch wollte sie mir nicht anders erscheinen als im Traume?
Und sollte ich nicht erst mein Lebensziel erreichen?
Ich arbeitete.
Wieder eine längere Pause.
»Vor einem Vierteljahre fasste ich den Entschluss!« erklang es dann weiter mit ruhiger Stimme.
»Durch eine Erkenntnis, durch einen Blick in die Geheimnisse der Natur, war mir mein Ziel weiter denn je entrückt worden.
Und in meinem Herzen die brennende Sehnsucht!
Da beschloss ich, diesem Spiele ein Ende zu machen.
Auf welche Weise, weißt Du, Bertram, Du hast es erraten.
Den Lebensfaden einfach durchzuschneiden, das widerstrebte mir.
Ja, ich bin für die Dschaina eingenommen.
Also verhungern, möglichst langsam.
Dabei bleibt man auch arbeitsfähig bis zum letzten Atemzuge. Denn Gehirn und Rückenmark nimmt nicht ab durch Fasten, und wenn sich auch sonst der physische Körper bis zur letzten Eiweisszelle verzehrt hat. Zusammensetzung und Gewicht dieser Nervensubstanzen bleiben immer die gleiche, bis zum Eintritt des Todes.
Hoffte ich etwa, im Tode mit meiner Braut vereinigt zu werden?
Ich will hierüber nicht weiter sprechen.
Ich komme jetzt Zum Schlusse.
Heute nachmittag leitete ich einen neuen chemischen Prozess ein. Dort im Abzugsraum.
Ungefähr sechs Stunden würde es währen, ehe ich ein Resultat erwarten konnte.
Ein befriedigendes erwartete ich durchaus nicht; denn wie gesagt, die Erkenntnis einer Wahrheit und eines Irrtums zugleich, hatte mir mein Ziel ferner denn je gerückt.
Gegen neun Uhr war es, als ich mich nach langem Rechnen etwas erholen wollte. Ich stellte den Wecker auf zwölf ein und nahm Schillers Gedichte zur Hand.
Ich las und las, hier an diesem Tische; der Quecksilberkasten stand so wie jetzt, wie jede Nacht. Wie die Zeit verging, wusste ich nicht.
Ich kam zu dem Gedichte »An die Freude«. Du kennst es? Wenigstens einigermaßen? Gut.
Da kommt doch auch die Stelle vor: Aus der Wahrheit Feuerspiegel lächelt sie den Forscher an.
Wer?
Nun eben die Freude, welche hier als das mächtigste Prinzip im ganzen Weltgetriebe aufgefasst wird. Gar nicht so mit Unrecht. Es ist richtiger, als dabei an die Liebe zu denken; denn es gibt auch eine Liebe ohne Freude. Es ist ja überhaupt nur symbolisch gedacht. Die einzelnen Phasen dieses Gedichtes sind schon vielfach von Künstlern in Bildern festgehalten worden bei diesen Zeilen: aus der Wahrheit Feuerspiegel lächelt sie den Forscher an — haben sich alle Künstler immer dasselbe gedacht. Immer ein chemisches oder physikalisches Laboratorium, mit freudigem Staunen betrachtet der Gelehrte das gezeitigte Resultat seiner letzten Experimente.
Gerade bin ich an diese Zeilen gekommen, habe sie schon gelesen, da schnarrt der Wecker.
Ich blicke auf, muss unwillkürlich auf diesen Quecksilberkasten sehen, und da, Bertram, da sieht mir aus diesem Quecksilberspiegel, der in purpurnem Feuer glüht, ein menschlicher Kopf entgegen — um die Stirn ein goldenes Band mit Diadem — Feruda — meine Geliebte — meine Braut — lächelt mich holdselig an — nickt mir zu — bewegt die Lippen.
Wie ich mich benommen habe, weiß ich nicht. Ich musste dann den Stuhl aufheben.
Feruda!
Da ein Knistern und leises Krachen und ich bin wieder nur noch der Gelehrte, der forschende Chemiker.
Ich springe hin nach dem Abzugschrank.
Richtig, der Destillierkolben ist gesprungen.
Und in der Vorlage liegt eine Substanz, die ich nicht kenne, die ich aber schon seit Jahren dort einmal zu finden gehofft habe!
In der Vorlage befindet sich etwas Wasser, das zischend verpufft.
Knallgas!
Was kann’s denn anderes sein!
Schnell die Gasflamme ausgedreht, die Entwicklung unterbrochen, ehe das ganze Haus in die Luft fliegt!
Ja, die schwarze Masse behält ihre Eigenschaft, das Problem ist gelöst, mein Lebensziel ist erreicht!
Als sie mir wieder erschienen, da hatte ich es erreicht!
Und nicht im Traume war sie mir wieder erschienen, sondern dort im Spiegel — im Feuerspiegel, als Freude, als Wahrheit.
Jetzt freilich war sie nicht mehr darin.
Hatte ich eine Vision gehabt?
Bah, was heißt Vision!
Jetzt war ich der Chemiker, der zu untersuchen hatte, ob das in der Retorte erzielte Resultat eine Vision war oder nicht.
Es war und blieb eine Tatsache.
Da rief ich Dich, Bertram.
Und nun kommt der zweite Teil daran.«
Der junge Gelehrte war aufgestanden.
»Bertram, hältst Du mich für irrsinnig?«
»O nein. Es mag ja nur eine Vision gewesen sein, aber —«
»Davon spreche ich nicht, darnach frage ich Dich nicht. Ich möchte wissen, ob Du mich für irrsinnig hältst, wenn ich Dich jetzt bitte, hier den Tisch für Zwei Personen zu decken und schnell das Beste aufzutragen, was Du in Küche und Keller hast. Und ich erkläre gleich, dass ich nicht etwa mit Dir speisen will. Erblickst Du in dieser meiner Forderung ein Anzeichen von Irrsinn?«
Stumm blickte der alte Diener seinen jungen Herrn einige Zeit an.
»Nein,« erklang es dann leise, »ich würde dasselbe tun.«
»So bitte. Ich selbst werde den Tisch für zwei Personen decken, bringe, was dazu nötig ist, dann richte das Essen für zwei Personen her.«
»War1n?«
»Wie Du willst. Das überlasse ich ganz Dir. Wir müssen doch auch noch Wein im Keller haben.«
Bertram ging, brachte alles, was zum Decken des Tisches für zwei Personen gehörte und entfernte sich wieder.
Otto deckte einen in die Mitte des Laboratoriums gerückten Tisch. Eine Viertelstunde später trug Bertram zwei warme und mehrere kalte Schüsseln auf, setzte eine Flasche Weißwein und eine Flasche Rotwein hin, aufgezogen, vor jeden Teller zwei Gläser.
»Ist es recht so, Herr Richter?«
»Hast Du nichts vergessen?«
»Ich wüsste nicht.«
»Dann bitte, lass uns — mich allein, bis ich Dich wieder rufe. Ich danke Dir, Bertram.«
Der Diener sah noch, wie sein junger Herr den zweiten Stuhl zurecht rückte.
Dann sass Bertram in seinem Stübchen.
Bis ihn ein dumpfer Fall aus seinen Träumen weckte
Er eilte hinaus, öffnete die Tür.
»Allmächtiger Gott!!«
Der junge Gelehrte lag neben seinem Stuhle am Boden.
Am anderen Morgen, oder eigentlich an demselben, klingelte der Briefträger vergebens an dem Gartentore.
Es kam ihm schon verdächtig vor, dass die Milchkanne und der Beutel mit dem Frühstücksbrot, die unter einer kleinen Verdachung ihren Platz hatten, heute nicht weggenommen worden waren. Als der Briefträger dann zum Gemeindevorstand kam, benachrichtigte er diesen davon. Der schickte den Gemeindediener, der holte alsbald telephonisch den Gendarm herbei.
Über die Mauer wurde gestiegen, dann ein Parterrefenster zertrümmert, als alles Klingeln und Klopfen vergebens gewesen war.
Man drang ein, kam ins Laboratorium.
Da hatte man die Bescherung!
Ein gedeckter Tisch mit Speisen und Weinflaschen besetzt, neben dem einen Stuhle am Boden lag der junge Gelehrte, neben dem anderen sein Diener.
Die Weingläser waren vollgeschenkt, auch die Speisen auf beiden Tellern schon vorgelegt, angerührt hatten sie sie noch nicht gehabt.
Da war das eingetreten, was ihrer beider Tod herbeigeführt hatte.
Tatbestand aufgenommen, die Leichen wurden aufgehoben, dann gerichtlich untersucht, seziert.
»Tödliche Vergiftung durch Quecksilber, wahrscheinlich als Dampf eingeatmet.«
Das Testament des Herrn Otto Richter wurde erbrochen.
Er kannte keine Verwandte. Alles für wohltätige Anstalten, nur seinem Diener hatte er eine Summe ausgesetzt, von dessen Zinsen jener recht gut hätte leben können, wenn er jetzt nicht schon tot gewesen wäre. Und dieses ganze Grundstück dazu.
Nun, bei dem hatten sich schnell lachende Erben gefunden.
Sie wurden begraben. Der Diener auf dem Gemeindefriedhof, der junge Gelehrte kam zwischen Vater und Mutter.
127. KAPITEL.
DER NEUE SCHÜLER.
»Hier Waffenmeister. Wer dort?«
»Hier Beireis. Darf ich Sie einmal sprechen, Herr Waffenmeister.«
»Sie sprechen ja schon mit mir, Herr Professor!«
»Bitte, nur Beireis. Also, Herr Waffenmeister, darf ich Sie einmal sprechen?«
»Aber mein geehrter Herr Beireis —«
»Bitte, auch das Herr wollen Sie weglassen — ganz, einfach Beireis. Oder meinetwegen auch Reisbrei, weil mich Ihre Leute unter sich nennen, was ich sehr wohl weiß.«
»Nanu, was ist denn heute mit Ihnen los?!« staunte Georg am Telephon, und das mit Recht.
Denn das kleine Männchen war überaus stolz auf seinen Professorentitel, obgleich er ihn doch jedenfalls gar nicht hatte, wie er sich doch auch nur einbildete, jener Helmstedter Sonderling zu sein.
Da er sich aber nun einmal in diesem Wahne befand, so wollte er auch nur Herr Professor Beireis angeredet sein, oder doch Herr Professor, das Männchen war ja überaus eitel, allerdings auch genau so wie jener echte Helmstedter Gelehrte, und als er einmal gehört hatte, wie Matrosen über ihn als über den »Professor Reisbrei« gesprochen hatten, da war das Männel wie eine Rakete in die Höhe gegangen, hatte sich vor lauter Zappelei gar nicht wieder beruhigen können, bis ihm in aller Formalität Abbitte geleistet worden war.
Und nun sprach er plötzlich so! Forderte selbst dazu auf, dass man ihn nur ruhig »Reisbrei« nennen solle, ohne jede weitere Titulatur
»Nanu, was ist denn heute mit Ihnen los?!«
»Ja, geehrter Waffenmeister, der Mensch kann sich manchmal plötzlich sehr ändern; mir ist eben etwas dazwischen gekommen.«
»Was denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber sagen Sie mir, mein lieber Waffenmeister: Sind Sie ganz sündenrein?«
Zunächst machte der Herr Waffenmeister am Telephon ein recht dummes Gesicht.
»Ick? Als wie ich? Ob ich ganz sündenrein wäre, meinen Sie?«
»Ja, das meine ich.«
»Was verstehen Sie denn eigentlich unter sündenrein, Herr Professor?«
»Nur Beireis, nur Beireis. Oder meinetwegen auch Reisbrei, das zu hören ist mir sogar noch viel lieber. Nun, ob Sie manchmal ein Gebot übertreten.«
»Ick? Als wie ich? Manchmal? Ich übertrete jeden Tag alle sieben Gebote.«
»Sieben?«
»Ja, alle, alle.«
»Da fehlen aber doch noch drei.«
»Was fehlen drei? Ich übertrete jeden Tag, den Gott werden lässt, alle sieben Gebote, sage ich.«
»Es sind aber doch zehn Gebote.«
»Nee, sieben. Das weiß doch jedes Kind. Und machen Sie ja nicht etwa noch drei hinzu, mein lieber Beireis oder Reisbrei, ich habe an diesen sieben Geboten gerade genug.«
»Sie denken wohl immer an die sieben Bitten? Der Gebote aber sind es zehn.«
»Himmel dunnerwetterja! Sie haben recht, Beireis! Da sehen Sie, auf was für schwachen Religionsbeinen ich stehe. Also da übertrete ich die anderen Gebote täglich auch noch. Alle zehn zusammen. Und die sieben Bitten noch extra dazu.«
»Ooooo, Herr Waffenmeister, wie sind Sie mir doch über!« erklang es seufzend aus dem Telephon.
»Sie wissen wohl noch mehr Gebote, die Sie übertreten können?«
»Das nicht. Aber in der wahren Demut, da sind Sie mir Über.«
»In Demut?«
»Ja, indem Sie sich offen als einen großen Sünder bekennen, während ich vor Eitelkeit manchmal bald platze.«
»Na, mein lieber Beireis, was wollen Sie denn nun eigentlich von mir?«
»Ich wollte nur höflichst anfragen, ob ich Sie einmal sprechen darf.«
»Na Zum Deiwel noch einmal, jetzt quattern Sie schon eine halbe Stunde —«
»Bitte, ganz genau sechs Minuten erst, oder die sechste ist noch nicht einmal ganz voll.«
»Also dann sprechen Sie weiter. Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, dass ich nur noch vier Stunden Zeit habe.«
»O, ich wollte Sie höchstens eine Viertelstunde in Anspruch nehmen.«
»Also?«
»Ob Sie gestatten, dass ich Sie einmal spreche. Ich meine, ob ich Sie einmal in Ihren Räumlichkeiten aufsuchen darf?«
»Ja gewiss, immer, mein lieber Professor — Reisbrei ohne den Professorentitel.«
»Und ob ich Ihnen jemanden vorstellen darf?«
»Wen?«
»Die Vorstellung darf aus gewissen Gründen eben erst persönlich erfolgen
»Bringen Sie ihn. Nur dass es nicht etwa so ein Hokuspokusmacher ist. Ich habe vorläufig genug, das muss ich erst verdauen, sonst werde ich doch noch wahnsinnig.«
»Nur auf etwas möchte ich Sie erst noch aufmerksam machen.«
»Und?«
»Ich habe über den jungen Mann zu sprechen und er muss immer dabei sein.«
»Kann er.«
»Das dürfte Ihnen aber vielleicht unangenehm sein.«
»Weshalb denn?«
»Weil Sie so zartfühlend sind.«
»Ich?«
»Das sind Sie. Und der junge Mann muss alles anhören, was man sonst nur unter vier Augen zu —«
»Kommen Sie nur, bringen Sie ihn mit. Schluss!«
Kopfschüttelnd hing Georg den Hörtrichter an den Haken.
Er befand sieh in dem »Elektron«, dem man nicht anmerkte, dass er jetzt als Luftschiff hoch über den Wolken dahinsauste, aber dieses Telephon in der Kajüte des Waffenmeisters war sein gewöhnliches.
Übrigens kam ihm dieses Verhalten des Professors Beireis nicht so ganz rätselhaft vor, er fand schon eine Erklärung dafür.
Wenn er jener geheimen Gesellschaft auch noch um keinen Schritt nähergerückt war, nur mit einigen Mitgliedern wie mit anderen Menschen verkehrte, so hatte er doch schon gemerkt, dass in dieser gelehrten Verbrüderung eine ganz stramme Disziplin herrschen musste.
Ungefähr so wie in der katholischen Kirche unter den Geistlichen, auch wie zwischen Beichtvater und Beichtkind.
Nur dass man hier wegen gewisser Vergehen nicht gerade Gebete am Rosenkranz hersagen musste.
Weshalb hatte denn der blonde Hüne, der erst eine schwarze Maske getragen, nicht lachen, kein anderes Zeichen irgend welcher Gemütsbeugung geben dürfen?! Weshalb hatte er zwischen Ritterrüstungen in einer einsamen Zelle sitzen und in der Bibel lesen müssen?
Nun, der hatte ganz einfach irgend etwas begangen, wofür er büßen musste. Das hatte ja übrigens Merlin selbst gesagt.
Und zweifellos war dieser Professor Beireis jetzt einmal wegen seiner Eitelkeit hochgenommen worden. Er musste sich demütigen, sich vor anderen selbst erniedrigen, was das Männchen nun in seiner Weise tat.
Wahrscheinlich war auch Merlin nicht umsonst in jenes Tal gebannt. Auch der hatte irgend etwas auf dem Kerbholze. Jetzt allerdings befand er sich mit an Bord des »Elektron«. Aber meist unsichtbar. Das heißt in den mittleren Etagen. Jedenfalls aber hatte er Zu irgend einer Busse fremden Menschen Dienste zu leisten.
Die Tür öffnete sich nach einem Klingelzeichen, herein trat Professor Beireis, ihm nach folgte eine andere Gestalt, und ein größerer Gegensatz zu dem kleinen, ausgetrockneten Professor im schwarzen Frack mit weißer Halsbinde war kaum denkbar.
Ein ideal schöner Jüngling. Ein Apollo oder ein freundlich lächelnder Adonis, gehüllt in ein langes Gewand von einem grünen Gewebe, welches den zarten Gliederbau durchschimmern ließ.
Ein freundlich lächelnder Adonis, das weiße, klassische Antlitz von blonden Locken eingerahmt — diese Beschreibung genügt. Und dann noch um die Stirn ein goldenes Band, auf dem in der Mitte ein wundervolles Diadem glänzte.
Das Professorchen hatte seine übliche tiefe Verbeugung gemacht.
»Herr Waffenmeister, Sie haben die Ehre — nein, ich habe die Ehre, wollte ich sagen, Ihnen vorstellen zu dürfen — Fortunatus, einen unserer Meister.«
Mit unverhohlenem Staunen betrachtete Georg den Jüngling.
So etwas von Schönheit hatte er noch nicht gesehen! Und zwar war ganz merkwürdig dabei, dass sich nicht etwa was Weibliches dazwischen mischte. Das ist nämlich auch die wunderbare Kunst, welche die alten Künstler in ihre Knaben— und Jünglingsgestalten zu legen wussten. Das gelingt heutzutage kaum noch. Aus derartigen Gestalten wird immer etwas Mädchenhaftes.
»Bitte, Herr Waffenmeister, genieren Sie sich nicht. Ich habe schon angedeutet, dass Fortunatus zwar unbedingt dabei sein muss, wenn ich jetzt zu Ihnen über ihn spreche, dass er sonst aber gar nicht für uns existieren darf. Bitte, sprechen Sie ruhig, was Sie auch sonst sprechen würden.«
O, der Waffenmeister Georg Stevenbrock war auch nicht gewöhnt, sich ein Blatt vor den Mund zu nehmen.
»Dunnerlitzchen noch einmal! Gerade wie ein gemalter Engel!«
»Wie ein gemalter?« fragte der Professor.
»Ja. Einen anderen habe ich noch nicht gesehen. Sie? Ich nicht; oder nur welche aus Stein oder Gips. Dann aber hatten sie immer Risse und Sprünge. Und manchmal fehlte auch ein Arm oder Bein. Nee, faktisch, gerade wie ein gemalter Engel!«
Ruhig und in zwangloser Haltung stand der gemalte Engel dabei. Das Lächeln war stereotyp, lag im Gesichtsausdruck. Es lag schon in den großen, blauen Augen.
»Fortunatus heißt er?«
»Fortunatus. Oder einfach Fortunat. Das Herr wollen Sie fortlassen. Ihn auch mit Du anreden.«
»Deutsch?«
»Wie Sie belieben. Ja, deutsch. Erst aber reden Sie mit mir. Meister Fortunatus hat sich vorläufig ganz passiv zu verhalten.«
»Er ist in Ihrer Vereinigung ein Meister?«
»Ja, ein Meister.«
»Er steht noch über Ihnen?«
»Uber mir?! Herr, was meinen Sie?! Hoch — hoch hoch — hoch — hoch — hoch —«
Und das kleine Männchen, zuerst die Hand in Kopfeshöhe erhebend, hob diese zollweise immer höher, immer höher, bis es auf den Zehenspitzen räkelte.
»Halt, halt, halt, halt!« fiel ihm Georg in den Arm. »Bleiben Sie mal hübsch hier unten, sonst fahren Sie mir noch oben zur Decke hinaus. Sie meinen, so hoch steht dieser Jüngling über Ihnen?«
»Und immer noch viel, viel, viel, viel, viel —«
»Höher!« ergänzte Georg. »Aber ich denke, Sie sind selbst ein Meister?«
»Ich? Wer hat denn das gesagt?«
»Sie selbst und das oft genug.«
»Dann habe ich gelogen, geflunkert, ich stinke überhaupt immer vor Lügen, ich bin nichts weiter als ein Lehrling in dieser geheimen Verbrüderung, ein saudummer Junge —«
Das sonst so eitle Männchen, das sich plötzlich so umgewandelt hatte, schimpfte noch weiter über sich selbst.
»Und weshalb nun stellen Sie mir diesen Meister Fortunatus vor?«
»Ich tue es im Namen unserer Verbrüderung mit der Bitte, dass Sie ihn in Ihre Lehre nehmen möchten.«
»In meine Lehre?«
»Ja.«
»Was soll ich denn solch einem geistig so himmelhoch stehenden Meister noch lehren?«
»Nicht geistig, sondern ihn körperlich ausbilden, sowie Sie Ihre Schiffsjungen, alle Ihre Leute körperlich ausgebildet haben.«
Georg machte ein ganz besonderes Gesicht.
»Aha! Ahaaa! Das können Sie nicht?«
»Nein.«
»Sie können ihn doch turnen lassen, erst Freiübungen, die Kniebeuge und so weiter, dann geht’s zu Geräten über —«
»Herr Waffenmeister! Spotten Sie doch nicht! Sie wissen doch ganz genau, was hier vorliegt, um was es sich handelt. Sie sind von uns schon seit langer Zeit beobachtet worden; seitdem Sie das sogenannte Gauklerschiff, die Argonauten, übernahmen. Ja, wir sind den anderen Menschen über. Himmelhoch über. Aber nur in geistiger Hinsicht. In körperlicher Hinsicht haben Sie etwas geleistet, wobei man bei uns — mit Respekt zu sagen — Maul und Nase aufgesperrt hat. Sie haben uns etwas vorgemacht, wovon auch unser Großmeister sich nichts hat träumen lassen, dass so etwas in so kurzer Zeit zu erreichen sei. Und wenn ich Sie schließlich noch daran erinnere, dass eine Schwester Anna Sie einmal innig gebeten hat, ihr von Ihrem Meister Hämmerlein etwas vorspielen zu lassen, so wissen Sie doch nun ganz genau, um was es sich handelt. Ersparen Sie mir also bitte alle weiteren Worte.«
Ja, Georg hatte verstanden. Übrigens etwas, was sich gar nicht so leicht mit Worten ausdrücken lässt.
Vielleicht aber wird man noch einmal dahinkommen, dass man den Kindern nicht mehr mit wöchentlich sechsunddreißig Stunden die Köpfe vollpfropft und nur zwei Stunden fürs Turnen übrig hat, sondern dass man sie sechsunddreißig Stunden im Turnen und in Handfertigkeiten aller Art unterrichtet, das »Geistige« hingegen wöchentlich auf zwei Stunden beschränkt. Denn um das zu erlangen, was man »allgemeine Schulbildung« nennt, Lesen und Schreiben und Rechnen und dergleichen, alles so falsch wie möglich, dazu gehört verflucht wenig! In Amerika ist die Bewegung dazu schon stark im Gange.
»Dieser junge Meister,« fuhr der Professor fort, »hat bisher nur die Ausbildung seines Geistes gepflegt, die seines Körpers total vernachlässigt, und ist verpflichtet worden, dies nun nachzuholen. Aber auch hierzu braucht man sachgemäße Anleitung, will man da schnell vorwärts kommen oder überhaupt etwas erreichen. Wollen Sie ihn in Ihre Dressur nehmen?«
»Dressur ist gut. Ja, ich will ihn in meine Dressur nehmen. Soll er nur körperlich kräftig werden, nur durch Freiübungen, meine ich, oder soll er auch an Geräten turnen lernen?«
»Turnen, jawohl, richtig turnen lernen soll er!« bestätigte eifrig das kleine Männchen. »Die Kniewelle — und die Armwelle — und die Bauchwelle — und und und —«
Mehr schien der Herr Professor von der edlen Turnerei nicht zu wissen.
Und Georg rieb sich nachdenklich das etwas stachliche Kinn, während er den neuen Schüler betrachtete.
»Hm. Dass der aber, wenn er die Bauchwelle macht, sich nur nicht etwa in Dunst auflöst.«
»Wie meinen Sie?«
»Nu, dass der durch die Zentrifugalkraft, die doch auch bei solchen Wellen in Aktion tritt, wenn man am Reck herumwirbelt, nicht etwa aus dem Leime geht, sich in seine einzelnen Atome auflöst; denn der sieht gar so ätherisch aus.«
»O nein, da brauchen Sie keine Sorge zu haben, das hält bei dem alles ganz fest zusammen!« beruhigte der Professor.
»So, na das ist ja hübsch!« lachte Georg. »Aber in diesem antiken Kostüm kann er beim Turnen nicht bleiben, da kann er nicht die Kniewelle und die Krätsche machen, da bleibt er hängen.«
»So stecken Sie ihn nur in einen richtigen Turneranzug, oder er kann sich ja auch gleich selbst umziehen. Willst Du, Fortunat, ein Dir passendes Kostüm wählen?«
Kaum war dies gesagt, als das grüne Gewebe wie in Luft zerrann, und gleichzeitig legte sich um die zarten Glieder, die man, wenn auch undeutlich, in Fleischfarbe hatte durchschimmern sehen, etwas Dunkles, und der Jüngling stand in einem braunen Trikotanzug da. Und nicht nur das, sondern ebenso war auch plötzlich das goldene Band auf der Stirn mit dem Diadem verschwunden, in nichts zerflossen, und die blonden Locken waren ganz bedeutend kürzer geworden.
»Was ist denn das?!« staunte Georg.
Es war ihm ja hier schon viel vorgegaukelt worden, aber so etwas, dass ein Mensch plötzlich sich so veränderte, denn doch noch nicht!
»Nun, Fortunatus hat sich eben in seinem Äußeren mehr seiner zukünftigen Tätigkeit angepasst.«
»Ist das Illusion?!«
»Das ist vollkommene Wirklichkeit.«
»Ja wie ist denn das möglich?!«
»Ich sagte Ihnen doch, dass dieser Jüngling einer unserer Meister ist. Das ist ein Adept. Der ist Herr des Stoffes.«
»Herr des Stoffes? Was soll das heißen?«
»Ich will Ihnen mit einem Worte der Bibel antworten, von Christus selbst ausgesprochen: So Ihr Glauben habt nur wie ein Senfkorn und Ihr sprecht zum Berge: hebe Dich auf — so wird es geschehen«
»Dieser junge Mensch könnte Berge versetzen?!«
»Und den Elementen gebieten — ja — und sie werden ihm gehorchen.«
Georg, der fast Außer sich hatte werden wollen, beruhigte sich schnell wieder. Er nahm es auf seine Weise hin, wie es eben war.
»Ich wollte mir keinen Hokuspokus mehr vormachen lassen, jetzt wird aber meine Neugier doch rege. Dieser Adept beherrscht die Elemente, die Naturkräfte?«
»Ja.«
»Er kann dem Sturm gebieten, er kann es vom blauen Himmel regnen lassen, wenn er will?«
»Er kann es, aber er wird es nicht tun.«
»Weshalb nicht?«
»Weil er nicht gegen die göttliche Ordnung handelt.«
»Aha! Die alte Geschichte!«
»Zweifeln Sie nicht, dass er es nicht wirklich könnte. Hier im geschlossenen Raume oder überhaupt im Kleinem, wenn dadurch nicht die Ordnung im Makrokosmus gestört wird, kann er Ihnen die verschiedensten Proben seiner Kraft geben. Und er ist bereit dazu. Sie brauchen nur Zu fordern.«
Georg blickte sich suchend um, griff in die Tasche und zog einen Nickfänger hervor.
»Kann er dieses Messer aus meiner Hand verschwinden lassen?«
Da geschah es schon. Das große Messer in Georgs Faust Zerrann wie in einen Nebel, Zerrann in nichts.
»Ist das keine Illusion?«
»Nehmen Sie doch das Illusionsglas, das man Ihnen gegeben hat, wodurch Sie Illusion von Wirklichkeit unterscheiden können.«
»Ich kann hypnotisiert sein, da nützt dies alles nichts.«
»Ich versichere es Ihnen auf mein Ehrenwort, dass Sie nicht hypnotisiert sind, sich in keinem anderen ähnlichen Zustande befinden — ich versichere Ihnen auf Ehrenwort, dass dies alles vollkommene Wirklichkeit ist!« erwiderte der kleine Mann gravitätisch und Georg glaubte es ihm sofort.
»Wo ist das Messer geblieben?«(
»Es ist auf magische Weise verschwunden. Eine andere Erklärung kann ich Ihnen nicht geben, ich verstehe es selbst nicht.«
»Es soll in meine Hand zurückkehren.«
Es geschah sofort. Nur wusste Georg selbst nicht, wie ihm die Finger sanft auseinandergepreßt wurden, bis er das Messer wieder in seiner Hand hatte. Teils geschah es nach und nach, teils mit einem einzigen Ruck — er hätte es unmöglich beschreiben können.
»Kann ich auch verlangen, dass das Messer anderswohin versetzt wird?«
»Sicher. Nur wollen Sie nicht gar zu große Forderungen stellen, nicht das ganze Universum dabei in Betracht ziehen: Es darf dabei niemand erschreckt werden.«
»Es soll dort in dem Polster stecken.«
Fast in demselben Augenblick war es so ausgeführt worden, wie es sich Georg im Geiste vorgestellt hatte. Denn wenn man so etwas ausspricht, muss man es sich noch bestimmter in Gedanken vorstellen.
Er hatte, ohne hinzusehen, an das in dieser Kajüte stehende sofa gedacht, mit grünem Plüsch überzogen, und im Nu war das Zugeklappte Messer aus seiner Hand verschwunden und stak mit geöffneter Klinge bis zum Heft in diesem Polster, an derselben Stelle, an die er gedacht hatte.
Er ging hin, Zog es heraus, untersuchte den Stich im Polster, der bestehen blieb.
»Das ist einfach Zauberei!«
»Eine Zauberei, die jedem Menschen möglich ist!« entgegnete der Professor.
»Wie erlangt man diese Fähigkeit?«
»Dadurch, dass Sie mindestens sieben Jahre lang ohne jede Sünde leben.«
»Weshalb gerade sieben Jahre lang?«
»Wissen Sie nicht, dass sich der menschliche Körper innerhalb von sieben Jahren vollständig neu aufbaut?«
Ja, das wusste Georg.
Dass sich der Körper beständig abnützt und erneuert, ist ja bekannt genug. Wir sehen immer, wie sich die Haut abreibt, wie Haare und Nägel wachsen. Nun aber haben unsere Gelehrten mit absoluter Gewissheit konstatiert, dass sich nach spätestens sieben Jahren der normale menschliche Körper überhaupt vollständig neu ersetzt hat! Auch in den Knochen ist kein phosphor- oder kohlensaures Kalkmolekül mehr dasselbe wie vor sieben Jahren! Alles hat sich durch den Stoffwechsel neu gebildet; denn auch alle Knochen sind ja mit zahllosen Äderchen durchzogen, in denen ständig das Blut zirkuliert, alte Bestandteile abspülend, neue Zellen aufbauend.
Was daher die Nahrung für einen kolossalen Einfluss auf den Körperbau auch noch in späteren Jahren haben muss, das muss aber erst noch durch langjähriges Studium geprüft werden, so weit sind wir noch nicht, und an die psychologische Einwirkung denkt unser materielles Zeitalter noch gar nicht.
»Wenn man sieben Jahre lang ganz sündenrein gelebt hat, dann soll man solche Zaubereien ausführen können?«
»Noch nicht sogleich. Dann aber werden Sie schon Ihren Führer bekommen, der Sie auf Ihrem einmal eingeschlagenen Weg auch weiter leitet.«
Georg warf dem Sprecher einen langen Blick zu — und zuckte skeptisch die Achseln.
»Dieser Adept kann überhaupt jeden Gegenstand verschwinden lassen und ihn irgend anderswohin versetzen?«
»Jeden. Soweit es nicht gegen sein — Gewissen geht, wollen wir sagen.«
»Gut, ich verstehe. Sie sagten aber doch, die Physiker Ihrer geheimen, wissenschaftlichen Gesellschaft seien vorläufig nur imstande, nur eine einzige Substanz, die Sie Menonith nennen, aufzulösen und anderswo wieder zu materialisieren, so wie Sie es uns an der Buddhafigur demonstrierten. Man hoffe zwar, dies auch noch bei jeder anderen Substanz fertig zu bringen, vorläufig sei das aber ein noch ungelöstes Problem.«
»Das ist ja wieder etwas ganz anderes!«
»Inwiefern?«
»In jenem Laboratorium wird nur physikalisch, nur exakt-wissenschaftlich gearbeitet. Da handelt es sich also im Grunde genommen doch nur um mechanische Effekte; hier aber wird dasselbe durch geistige Kraft erzielt. Das ist doch etwas ganz anderes.«
»Ich verstehe diesen Unterschied nicht recht.«
»Nun, können Sie Ihren Gegner im Schachspiel nicht auch auf zweierlei Weise besiegen?«
»Auf zweierlei Weise?«
»Durch geistige und mechanische Kraft.«
»Durch geistige, ja. Aber wie denn durch mechanische Kraft?«
»Woran kommt es beim Schachspiel an?«
»Dass man den feindlichen König mattsetzt.«
»Mattsetzt, was heißt das? Indem man ihm den König zuletzt wegnimmt, nicht wahr?«
»Im Grunde genommen ja.«
»Und das geschieht durch geistige Kraft. Aber Sie können Ihrem Gegner doch den König einfach vom Brett nehmen, dann hat er auch keinen König mehr, und wenn Sie der Stärkere sind, so vermag er es nicht zu hindern, oder Sie schlagen ihn tot. Dann haben Sie das Schachspiel durch mechanische Kraft entschieden.«
Lachend musste Georg die Richtigkeit dieser eigentümlichen Beweisführung anerkennen.
»Kann dieser Adept auch mich selbst an einen anderen Ort versetzen?« fragte er dann weiter.
»Das kann er, aber das wird er nicht tun.«
»Weshalb nicht?«
»Sie sind keine tote Materie. Ein Gefühl würde Sie dabei überlaufen, ein Grausen, das mit Wahnsinn enden könnte.«
»Dann lieber nicht. Kann er sich selbst an einen anderen Ort versetzen?«(
»Das kann er. Wohin soll er sich versetzen?«
»Er soll plötzlich dort auf dem Stuhle sitzen«
Ruhig und lächelnd wie immer, jetzt nur im braunen Trikotkostüm, hatte der Jüngling dagestanden.
Kaum hatte Georg den Wunsch ausgesprochen, als die braune Figur in nichts zerrann und gleich darauf auf dem angedeuteten Stuhle saß, der sich mindestens vier Schritt von jener Stelle entfernt befand.
»Wunderbar, wunderbar! «
Hierzu sei etwas bemerkt.
Will der Leser glauben, dass es Anleitungen gibt, wie so etwas zu erreichen ist? Ganz moderne Anleitungen?
Es ist schon einmal von einer »Psychio Research Company« gesprochen worden. Das ist eine Gesellschaft von theosophischen Okkultisten, die volle Wissenschaftlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Es sind auch berühmte Wissenschaftler dabei. Auch Edison gehört dazu. Ihren Hauptsitz hat sie in Chikago, hat dort einen großartigen Palast.
Diese Gesellschaft gibt Bücher heraus. In einem derselben wird das Rezept gegeben, wie man alles das ausführen kann, was hier beschrieben wurde, und noch ganz anderes dazu; wie man einfach Gottähnlichkeit erlangt.
Wer dieses Rezept ausführen, alle die Regeln befolgen kann, der tue es.
Nur eines sei erwähnt:
Ein einziger unkeuscher Gedanke vernichtet alle die jahrelangen Bemühungen!
Also es ist einfach unausführbar!
Aber das kann versichert werden: Was sonst in diesem Buche steht, das hat alles Hand und Fuß, in Hinsicht der theoretischen Möglichkeit ist nicht der kleinste logische Fehler! »Sie können Sie auch Ihre Gestalt verändern?« wandte sich Georg jetzt direkt an den Jüngling, der sich vom Stuhle erhoben hatte und in seiner bescheidenen Weise und doch so majestätisch wieder dastand.
»Ich kann es.«
»Irgend eine beliebige Gestalt annehmen?«
»Ich kann es. Nur verlange nichts von mir, was mir widerstrebt.«
»Was widerstrebt Ihnen in dieser Beziehung?«
»Etwa die Gestalt eines Tieres anzunehmen.«
»Gut, ich verstehe. Und ich kalkuliere, dass Sie auch meine Gedanken lesen können.«
»Ja.«
»So präsentieren Sie sich mir so, wie ich Sie jetzt zu sehen wünsche.«
Ein unbeschreibliches Schwellen der Gliedmaßen, der ganzen Gestalt begann, und vor Georg stand ein Mann, der die größte Ähnlichkeit mit der Figur Häckels hatte, an den Georg gedacht, also ein Herkules mit schwellenden Muskeln.
»Ist das Illusion?« wandte sich Georg erst an den Professor.
»Nein, das ist Wirklichkeit, auf Ehrenwort!«
»Darf ich ihn befühlen?«
»Ja weshalb denn nicht?«
Georg trat ein und tat es. Es waren eiserne Muskeln, die er befühlte.
»Ja, Mann, was soll ich Sie denn noch in die Lehre nehmen?! Sie sind doch schon der reine Herkules, sind es immer, sobald Sie wollen, können sich dann doch auch jederzeit die nötige Gewandtheit wünschen.«
»Mit nichtem.«
Es war aber der Professor, der diese Einwendung gemacht hatte.
»Was mit nichtem?«
»Er ist nur scheinbar ein Herkules. In Wirklichkeit kann er kaum fünfzig Pfund heben.«
»Nicht?! Wie kommt das?!«
»Weil kein Mensch mehr kann, als was er gelernt hat. Über seine Fähigkeiten hinaus kann sich auch kein Adept erheben. Oder glauben Sie etwa, wenn dieser Jüngling niemals Klavier oder Violine gespielt hat, und er wünschte es zu können, er wäre plötzlich ein unübertrefflicher Virtuos auf Klavier oder Violine? O nein, er kann nur so darauf stümpern wie jedes Kind. Hier hört alle Magie auf. Das muss alles, alles mühsam erlernt werden, so wie jede andere geistige und körperliche Fähigkeit.«
Mit sehr, sehr ernsten Augen betrachtete der Waffenmeister seinen neuen Schüler, der bereits wieder seine ursprüngliche Gestalt angenommen hatte.
»Ah, was ich da zu hören bekommen habe, das freut mich! Nun bin ich wieder auf irdischen Boden entrückt worden, mag ich auch noch so hoch in den Wolken schweben, meinetwegen meinen Flug nach einem fernen, noch unbekannten Planeten nehmen. Gut! Sind Sie bereit, mir in den Turnsaal zu folgen, wo jetzt gerade unsere Übungen in vollem Gange sind?«
»Ich bin bereit dazu.«
»So folgen Sie mir.«
128. KAPITEL.
AUSGESTOßEN!
Nach einer Viertelstunde verließ Georg den großen Turnsaal wieder, der sich also der Höhe nach durch die vierte und fünfte Etage des Elektron zog.
Auf dem Korridor begegnete ihm Juba Riata.
»Herr Waffenmeister, ein Wort — ich habe eine Entdeckung gemacht.«
»Welche?«
»Ist es direkt verboten, die zweite und dritte Etage zu betreten?«
»Nicht direkt. Diese beiden Etagen, die als Aufenthalt der eigentlichen Mannschaft dieses Schiffes dienen, sind uns nur verschlossen. Haben Sie einen Eingang gefunden?«
»Ja. In meiner Kabine, die sich, wie Sie wohl wissen, in der vierten Etage befindet, stand mir der Waschtisch recht unbequem. Ich konnte mich beim Eintritt durch die Tür kaum zwischen ihm und Bett vorbeidrücken. Vorhin kam ich auf die Idee, ihn lieber an die andere Wand zustellen. Er war am Boden festgeschraubt, die Schrauben ließen sich aber ganz leicht lockern. Da, wie ich den Waschtisch abgerückt hatte, zeigte es sich, dass der Boden darunter offen ist, man erblickt eine Leiter, die also in die dritte Etage hinabführt.«
»Sie sind hinabgestiegen?«
»Nein.«
»Weshalb nicht?«
»Ich wollte es Ihnen erst mitteilen, ob es erlaubt ist. In fremde Geheimnisse möchte ich nicht dringen.«
»Sie sind gar zu rücksichtsvoll, Juba! Das müssen wir natürlich einmal untersuchen, wo die Leiter hinführt.«
Nach kurzem Gange betraten sie die Kabine, die also in derselben Etage lag, in der sie sich schon befanden.
Richtig, dort, wo ursprünglich der komfortable Waschtisch gestanden hatte, zeigte sich am Boden ein viereckiges Loch, man erblickte den Anfang einer metallenen Leiter. Erleuchtet war der Raum, doch konnte man nichts weiter sehen, oder man hätte mindestens erst niederknien müssen.
Das tat Georg nicht, ohne Zögern stieg er hinab, Juba folgte ihm.
Sie kamen in einen Raum von normaler Höhe und Breite, wie letztere überall durch Außenwand und Korridor bedingt wurde, etwa fünf Meter lang.
Er enthielt nichts weiter als eine Art Steuerrad und dann noch verschiedene auf Stangen ruhende Hebel und kleinere Räder.
»Das ist ein Steuerraum, da wollen wir uns lieber nicht einmischen, hier bin ich noch nicht eingeweiht worden!« sagte Georg.
»Und jetzt hat sich dort oben eine Tür vorgeschoben!« setzte Juba hinzu.
Georg blickte zurück und nach oben.
Richtig, die Öffnung hatte sich geschlossen; ohne das geringste Geräusch war es geschehen.
Georg stieg wieder die Leiter hinauf, aber vergebens tastete er und probierte seine Kraft nach allen Richtungen, die Platte ließ sich nicht hinauf und hinab schlagen, noch sonst verschieben, und vergebens probierte auch Juba Riata.
Eine andere Tür war nicht zu erblicken.
»Fatal,« lachte Georg ärgerlich, »wir sind in eine Menschenfalle geraten und es bleibt uns nichts anderes übrig, als dies offen einzugestehen. Wir müssen rufen und klopfen, dass ein Sachverständiger kommt, der uns hier wieder herauslässt.«
Sie riefen und klopften und donnerten gegen die Wände. Ganz vergebens. Niemand kam. Kein Gegenzeichen erscholl.
»Ja, wir müssen eben immer weiter klopfen, bis wir gehört werden.«
Wohl eine halbe Stunde lang suchten sie sich bemerkbar Zu machen, ohne dass dies ihnen gelang.
Da plötzlich ein ziemlich heftiger Ruck von unten, und gleichzeitig erlosch das Licht, Stockfinsternis umgab die beiden.
»Juba, was war das?!« flüsterte Georg.
»Das Luftschiff ist gelandet.«
»Es sind aber von den vierundzwanzig Stunden, welche diese Fahrt währen sollte, noch keine achtzehn vergangen.«
Nachdem die Argonauten mit allem, was sie mitnehmen wollten, an Bord gegangen waren, hatte der Elektron unter Kapitän O’Fires Führung einige Rundfahrten über das Tal gemacht, nur damit Georg Stevenbrock selbst in die Führung eingeweiht wurde.
»Wohin wünschen Sie jetzt zu fahren?« hatte Price O’Fire dann gefragt.
»Mir ganz egal!« hatte Georg in seiner Weise geantwortet.
»Darf ich Ihnen das Interessanteste zeigen, was es wohl in der Welt, auf dieser Erde gibt?«
»Mir recht.«
»Es bedarf dazu aber einer Fahrt von ungefähr vierundzwanzig stunden.«
»Meinetwegen.«
Und fort war es gegangen. Das war gegen Mittag gewesen.
Wenn es sich nun einmal um eine große Überraschung handelte, so wollte Georg auch gar nicht erfahren, nach welcher Richtung die Fahrt ging, wozu nur die paar Kompasse abgestellt zu werden brauchten.
Ebensowenig wusste man etwas über die Schnelligkeit der Fähre.
Wohl konnte der untere Boden durchsichtig gemacht werden, so dass er ein einziges Fenster bildete, wie schließlich alle Seitenplanken auch, aber das Luftschiff befand sich hoch über den Wolken, da war nichts zu sehen.
So waren vierzehn Stunden vergangen. Die Argonauten hatten sich vollends eingerichtet, hatten geschlafen, und dann, als dem Waffenmeister ein neuer Mann vorgestellt wurde, den er als Schüler aufnehmen sollte, hatten sie im Turnsaal schon wieder ihren gemeinschaftlichen Übungen obgelegen.
Jetzt war es nachts zwei Uhr. Aber einen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab es hier ja ebensowenig, wie an Bord eines Seeschiffes, wenn man nicht gerade an einen Passagierdampfer denkt.
»Dann haben wir unser Ziel eben schon in vierzehn Stunden erreicht!« meinte Juba Riata. »Jedenfalls sind wir gelandet.«
»Woraus schließen Sie das?«
»Wir sind doch ziemlich heftig aufgestoßen.«
»Deshalb aber brauchen wir noch nicht gelandet zu sein. Doch ist dies der Fall, dann wird man uns auch bald vermissen; trotzdem können wir noch etwas weiter pochen.«
»Halt!«
»Was haben Sie?«
»Es ist nicht nötig, dass wir uns weiter bemerkbar machen.«
»Weshalb nicht?«
»Da — fühlen Sie nichts?«
»Nein. Was denn?«
»Die Tür oben muss wieder offen sein; ich fühle einen frischen Luftzug.«
In der Tat, jetzt merkte das auch Georg. Keiner hatte eine Taschenlampe mit, sonst hätten sie diese schon längst entzündet. Juba war der erste, der die Leiter hinaufstieg.
»Waffenmeister, das ist etwas ganz, ganz Merkwürdiges!«
»Was denn?«
»Wir müssen doch wieder in die vierte Etage des Schiffes kommen, in meine Schlafkabine.«
»Ja natürlich. Aber sagen Sie mal, Juba, hat es denn da drin schon vorhin so nach Zimt und Vanille gerochen?«
Denn ein solcher Duft durchzog jetzt plötzlich hier diesen Raum.
»Ja, Zimt und Vanille — Waffenmeister, wir befinden uns in einer tropischen Gegend, und zwar ganz direkt, wir befinden uns nicht mehr im Elektron, wir sind im Freien.«
»Ist nicht möglich!«
»Überzeugen Sie sich selbst.«
Jubas Stimme hatte schon nicht mehr in dem Raume erklungen, eiligst kletterte Georg hinauf.
Stockfinsternis! Nicht die Hand war vor den Augen zu erblicken. Ein starker Duft nach exotischen Blüten und Gewürzen. Nichts regte sich.
»Vorsicht, ich stehe hier an einem Abgrund!« warnte da Juba Riata.
»Was, an einem Abgrunde?!«
Georg brauchte nur einen Fuß vorsichtig vorzusetzen, so merkte er es selbst. Er fühlte keinen Boden mehr, wäre ins Leere getreten. Und so war das nach allen Seiten hin.
»Haben Sie Ihr Feuerzeug bei sich?«
Wer diese Frage stellte, ist gleichgültig.
Sie hatten alle beide keines. Georg hielt überhaupt nicht immer darauf, und Juba Riata hatte gerade seinen Gürtel abgeschnallt gehabt, an dem solche Utensilien hielten.
»Ja, was liegt denn hier nur vor?!«
»Mir ahnt es.«
»Nun?«
»Der Raum, den wir betreten haben, war ein kleines Beiboot, vollständig in das Schiff eingebaut, wir haben aus Versehen irgend einen Hebel gedreht, haben das Boot in Betrieb gesetzt, es hat das Schiff verlassen und ist gelandet, ohne dass wir zuerst etwas davon gemerkt haben, und die Schiffsmannschaft hat ebenfalls nichts davon gemerkt.«
Nach kurzer Überlegung musste Georg dieser Vermutung seines Freundes beistimmen.
Sie überzeugten sich, dass sie sich auf einer Plattform von vier Meter Breite und fünf Meter Länge befanden, das waren also auch die Dimensionen jenes Raumes gewesen, überzeugten sich hiervon aber nicht durch Abschreiten, sondern nur durch vorsichtiges Kriechen, denn bei einem unvorsichtigen Schritte konnten sie in eine Tiefe stürzen, die mindestens dreieinhalb Meter betragen musste.
»Haben wir denn nur gar kein Mittel, uns Licht zu verschaffen?«
Nein, es war keine Möglichkeit vorhanden.
Auch hinab konnten sie nicht so leicht gelangen, oder mindestens dann nicht wieder herauf; denn eine Höhe von dreieinhalb Metern will von zwei Menschen überwunden sein, die nichts über nichts weiter als über die Länge ihrer Leiber und die ihrer Arme zu verfügen haben.
Oder ob die Leiter abzumachen ging?
Gerade fingen sie an, daran herumzustellen, als ganz in der Nähe ein unheimliches Brüllen ertönte.
»Das ist das Brüllen eines hungrigen Sundapanthers!« konnte der tierkundige Juba Riata, dieser professionelle Tierbändiger, sofort erklären.
»Sie haben doch Waffen bei sich, Juba?«
»Gar keine. Ich hatte mich gerade gewaschen und dazu meinen Gürtel abgelegt.«
»Auch keinen Sackpuffer in der Tasche?«
»Auch nicht.«
»Kein Messer?«
»Gar nichts.«
»Und ich — auch nicht!«
Georg hatte in die Hosentasche gegriffen und darin sogar seinen Nickfänger vermisst. Er müsste ihn nach dem Experiment mit dem Adepten in seiner Kajüte liegen gelassen haben.
Die beiden befanden sich, wie sie gewöhnlich gingen, nur in Hemd und Hose, alles so bequem wie möglich, der eine hohe Stiefeln, der andere leichte Turnschuhe an den Füssen, und ihre Hosentaschen enthielten absolut gar nichts.
Und jetzt erscholl das Brüllen des hungrigen Panthers noch näher.
»Nette Geschichte das!«
Nach kurzer Beratung Zogen sie sich in das Innere des Raumes zurück, wollten aber dafür sorgen, dass die Öffnung nicht etwa zum zweiten Male Zuging, um sie vielleicht niemals wieder herauszulassen
Juba erbot sich, die Wache Zu übernehmen, blieb auf der Leiter stehen, mit halbem Körper oben heraussehend, während sich Georg unten auf die nackten Metallplatten niederlegte, um womöglich bis zum Tagesanbruch zu schlafen. Was sollte man auch anderes tun? Vor einem Angriff von Raubtieren war man wohl sicher, die wagten sich nicht so leicht an diesen ihnen fremden Gegenstand, in dem sie nur eine Falle vermuten konnten.
Georg schlief richtig bald ein.
»Auf, Waffenmeister!«
Durch die Luke drang helles Tageslicht herein, oben dröhnten Jubas schwere Stiefeln. Georg sprang auf und kletterte die Leiter empor· Der Metallkasten lag im gelben Sande einer Wüste.
Aber nur eine Wüste en miniature.
Eine ebene, ziemlich kreisrunde Sandfläche von etwa einem Kilometer Durchmesser, von Hügeln eingeschlossen, und diese waren dicht bewaldet. Der Kasten lag fast genau in der Mitte dieser Sandfläche.
»Juba, wir sind noch nicht verloren, und wir brauchen alle unsere Hoffnung auf Rettung nicht nur darauf zu setzen, dass das Luftschiff unser Fehlen bald merkt, auf die Suche geht und uns schnellstens findet, so lange wir noch nicht verhungert und noch eher verdurstet sind. Wo solcher Wald ist, da muss es auch Wild geben und Wasser dazu.«
»Das hat uns überhaupt heute nacht schon der Panther erzählt!« ergänzte Juba.
»Ja, der Panther! Wenn der uns nur nicht etwa als Konkurrenten betrachtet; der ist uns jetzt mit seinen Klauen und Zähnen ganz bedeutend über.«
»Wir wollen uns wenigstens mit Metallteilen bewaffnen, die wir abschrauben, ehe wir die erste Expedition antreten.«
Sie krochen noch einmal in den Raum hinab, dabei wieder an die Klappe denkend, die sie zu Gefangenen machen konnte. Wie diese Schiebetür zu öffnen und zu schließen war, das hatten sie jetzt im hellen Sonnenlichte bald herausgefunden, aber vergebens bemühten sie sich, eine der Metallstangen, auf denen Hebel und Ventilräder angebracht waren, abzulösen. Zu schrauben war gar nichts, trotz aller Kraftanstrengung vermochten sie auch die schwächste solcher Stangen nicht einmal zu verbiegen. Es müsste ein ganz besonderes Metall sein.
»Na, da marschieren wir erst einmal dort nach dem Wald und brechen uns dort einen tüchtigen Knüppel ab, um mit diesem als Urmensch wieder von vorn zu beginnen, oder meinetwegen auch als Robinson.«
»Als Robinson?« wiederholte Juba.
»Ich kalkuliere doch, Sie haben den unsterblichen Robinson Crusoe gelesen.«
»Gewiss; aber Sie meinen, wir wären hier verurteilt, ein Robinsonleben zu führen?«
»Ich meine gar nichts. Wie soll ich jetzt irgend etwas wissen. Vielleicht sind wir in dichter Nähe einer großen Stadt, oder vielleicht ist in den nächsten zehn Minuten schon das Luftschiff wieder zur Stelle. Ich hatte nur so einen kleinen Wunsch ausgesprochen. Mir wäre es ganz lieb, wenn ich einmal einige Zeit von der ganzen Bande getrennt würde, hier so den Robinson spielen könnte, zumal mit Ihnen — na, lassen wir das, es ist ein nicht ganz kameradschaftlicher Wunsch.«
Da unser Held so sprach, oder vielmehr nicht weiter sprechen wollte, wollen auch wir es nicht tun. Nicht ergründen, weshalb er wünschte, einmal einige Zeit allein leben zu können, ganz auf sich selbst angewiesen, oder doch nur in Gesellschaft solch eines Freundes.
Sie verließen den Raum wieder, sprangen die dreieinhalb Meter hinab in den weichen Sand und schritten ostwärts, der über den Bäumen aufgehenden Sonne entgegen, der Hügelkette zu.
Wenn man von Hose und Hemd absah, aus Baumwolle oder Lodenstoff, von leichten Strümpfen, Fußbekleidung und Kopfbedeckung, so waren die beiden so, wie der liebe Gott sie erschaffen hatte.
Sie hatten noch keine hundert Schritte getan, als sie in dem weichen Sande eine Fährte bemerkten, die sich im Kreise herumzog.
»Das ist die Fährte des Panthers, der uns heute nacht umschlichen hat!« erklärte Juba.
»Dass er dies getan hat, ist dies ein Zeichen, dass er den Menschen schon kennt oder nicht?«( fragte Georg.
»Das vermag ich nicht zu beurteilen. Das kommt ganz darauf an. Er kann Menschen schon kennen, aber solche ohne Feuerwaffen, oder die ihn überhaupt mehr fürchten als er sie, oder er kann auch sehr von Hunger geplagt worden sein. Dem fremden Gegenstande aber wagte er sich nicht weiter zu nähern.«
»Bemerkt Ihr kundiges Jägerauge sonst noch Spuren, was das meinige nicht tut?«
»Nein. Doch ich erkenne aus gewissen Anzeichen, dass dieses sandige Tal nicht so ganz vor Wind geschützt ist, er muss manchmal über die niedrige Hügelkette hier einfallen, und dann verwischt er in dem überaus feinen Sande jede Spur.«
Juba bückte sich und nahm etwas Sand auf die Zunge.
»Schmeckt sehr salzig. Das ist der Boden eines ehemaligen Salzsees. Hier sind auch winzige Muschelchen zu erkennen. Der ganze Sand scheint aus zersplitterten Muschelschalen zu bestehen.«
sie schritten weiter.
Da hatten sie einen wundersamen Anblick.
Es war keine zusammenhängende Hügelkette, welche die kleine Wüste umgab, sondern ein isolierter Hügel lag dicht neben dem anderen, die obere Laubgrenze des Waldes beschrieb also immer Wellenlinien, und aus solch einem tiefen Zwischenraum, von dem sie sich keine hundert Schritt mehr entfernt befanden, trat jetzt ein riesenhafter Elefant mit mächtigen Stoßzähnen hervor, witterte einen Augenblick mit erhobenem Rüssel, dann schwenkte er diesen und setzte seinen Weg in die Wüste hinein fort, und alsbald folgte ein zweiter, und da erschien schon zwischen den dichten Büschen der Kopf eines dritten.
»Achtung, Juba, jetzt fragt es sich, ob wir uns feig zur Seite drücken oder mutig nach unserer Mausefalle retirieren wollen!«
»Es ist nichts zu fürchten, bemerkt haben uns die Tiere natürlich schon, aber sie beachten uns gar nicht, ich kenne den indischen Elefanten genau.«
So gingen sie den Dickhäutern nur etwas aus dem Wege.
Und es blieb nicht nur bei diesen dreien, sondern nicht weniger als sechsundsiebzig Elefanten wurden gezählt, die hintereinander aus dem Walde in die Wüste traten! Junge Männchen, die der alte Führer noch in seiner Herde duldete, und dann viele Weibchen mit Jungen.
Nur beim Heraustreten waren sie so vorsichtig gewesen, dann bildeten sie im langsamen Vorwärtsgehen schnell einen geschlossenen Trupp, alsbald begann auch ein allgemeines Spielen, hier und da blieb ein Elefant stehen und wiegte den Oberkörper hin und her, ohne die Vorderbeine vom Boden zu entfernen, desto mehr den Rüssel schwingend, dabei mit anderen Rüsseln zusammenklatschend, was die indischen Elefanten sowohl, wie die afrikanischen manchmal stundenlang tun, eben eine Spielerei, ein Zeichen des Wohlbehagens, verbunden mit gegenseitiger Liebkosung, noch mehr wurden die kleinen Elefantenkinder, die sich zwischen den Beinen der Mütter herumtrieben, ab und zu an den Eutern saugend, mit den Rüsseln geliebkost, richtig geküsst, und besonders auffallend war es, dass keine Mutter ihr Junges bevorzugte, so wie dieses auch bald an diesem, bald an jenem Euter laut schmatzend saugte, und überall fand es die gleiche Liebe.
»Gott segne meine Augen!« flüsterte da Juba Riata ganz erregt. »Gott, ich danke Dir, dass Du mir einmal solch einen Anblick gewährst! Ich habe mehr als zwanzig Elefanten zusammen beobachtet, in einem Distrikt, wo sie so gut wie frei waren, aber gefangene waren es doch, und was war das gegen diese wilde Herde hier!«
»Und ich danke Dir, Gott,« ergänzte Georg, »dass Du mir meine Donnerbüchse abgenommen hast!«
»Könnten Sie darauf schießen?«
»Na, wenn nicht jetzt sogleich — über kurz oder lang könnte ich meine Jagdlust doch nicht bezähmen; oder Sie etwa nicht?«
»Gott verzeihe mir — Sie haben recht!« gestand der ehrliche Juba Riata.
Aber diese beiden Männer gehörten wenigstens nicht zu denjenigen »Menschen«, die es geradezu für ihre Pflicht halten, solch ein Tier sofort niederzuknallen oder doch anzuschießen, wenn es die Polizei nur irgendwie erlaubt oder die Jagderlaubnis nicht gar zu hoch für ihren Geldbeutel ist. sonst nur immer totgeschossen und dann sich auf den Kadaver siegesbewusst gesetzt und sich photographieren lassen!
Der alte Bulle gestattete eine Weile dieses Spielen, dann führte er seine große Familie weiter über die Wüste; sie verschwanden jenseits wieder in einem waldigen Hügeleinschnitt.
»Wir sind auf Borneo!« sagte Peitschenmüller·
»Woher wissen Sie das?«
»Von diesen Elefanten. Ihre Ohren sind unten so ausgezackt, das ist das charakteristische Merkmal des Elefanten von Borneo!«
Georg glaubte es ihm.
Also auf Borneo!
Diese Insel ist zweimal so groß wie Deutschland, allerdings die umliegenden Inseln mit inbegriffen, sonst als kompakte Masse noch anderthalbmal so groß wie Deutschland.
Von den politischen und Ansiedlungs-Verhältnissen wollen wir hier nicht sprechen, da sie für uns nicht in Betracht kommen.
Das würde auch nur für die Küstengegenden gelten, manchmal nur ganz schmale Ränder.
Das Innere dieser mächtigen Insel, nach Neuguinea die größte der Erde, ist uns noch gänzlich unbekannt.
Weshalb?
Weil in den Wäldern der Rotang wuchert, aus dem wir unser spanisches Rohr machen, das im natürlichen Zustande über und über mit großen, furchtbaren Stacheln besetzt ist.
Kann man sich denn da nicht mit einem Messer einen Weg hauen?
Nun, man kennt doch das spanische Rohr, wie schwer sich dessen glasharte Rinde mit dem Messer bearbeiten lässt.
»Es ist leichter, sich durch eine meilendicke Mauer von holländischem Käse zu essen, als mit Messer und Axt einen Weg von nur hundert Ellen durch diesen Rotangwald zu hauen.«
So drückt sich sehr drastisch, aber wohl ganz richtig der Engländer Mac Wallace aus, der es am Anfang dieses Jahrhunderts versuchte, an der Grenze der bebauten Gegenden ins Innere vorzudringen, mit allem ausgerüstet, was er dazu zu gebrauchen gedachte.
Innerhalb von wenigen Stunden waren mehr als zweihundert der besten Messer und Axte vollständig unbrauchbar gemacht worden. Und nun diese schrecklichen Dornen! Die Hälfte seiner großen Karawane musste die Arbeit wegen Fleischwunden, wegen Blutverlust aufgeben.
Nur in ganz trockenen Jahren kann ab und zu ein Stückchen Urwald niedergebrannt werden. Dann kommt ein Sumpf und das Feuer verliert seine Macht; und das kann doch immer nur von den Küsten aus geschehen.
Das Innere von Borneo, ein Gebiet fast so groß wie Deutschland, ist uns noch gänzlich unbekannt. Es wird behauptet, dass darin in ausgebrannten Waldinseln gegen eine Million Dajaks leben, Eingeborene, ganz verschieden von den Malaien, die sich auch nicht vermehren, weil die in kleinen Horden lebenden Dajaks ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, sich gegenseitig die Köpfe abzuschneiden, um den getöteten Feind als Sklaven mit in die Ewigkeit hinüberzunehmen, wozu man ihm aber unbedingt den Kopf abgeschnitten haben muss.
Doch woher will man das wissen? Weil solche Dajaks einst auch an den Küsten gehaust haben, zum Teil auch heute noch, sonst aber verschwunden sind. Diese eingeborenen Kinder der Insel mögen ja allerdings einen Weg ins Innere gefunden haben — vielleicht auch nicht — und ihre Anzahl ist völlig aus der Luft gegriffen.
So hatte Georg, der die Verhältnisse von Borneo ungefähr kannte, gesprochen, während die beiden vollends dem Waldsaume zugeschritten waren.
Hier die Wüste, hier der Wald. Der Salzgehalt des ehemaligen Wasserbeckens verursachte diese scharfgezogene Grenze. Wohl rankten sich überall an den Urwaldbäumen Schlingpflanzen empor, aber von dem schrecklichen Rotang gar keine Spur, und auch sonst fehlten die Dornengewächse
Wo sich die Elefantenherde durch den Wald bewegt hatte, das war auf dem sonst kurzbegrasten Boden nur für ein Jägerauge erkenntlich. Es ist ja ganz wunderbar, mit welcher Gewandtheit die Elefanten durch den dichtesten Wald zu schleichen wissen, ohne auch nur das geringste Geräusch von sich zu geben. Das heißt sobald sie sich nicht bemerkbar machen wollen! Das Leittier geht voran, untersucht mit der Rüsselspitze erst jede einzelne Stelle, auf die es seinen Fuß setzen will, schiebt jedes dürre Ästchen zur Seite, und jeder nachfolgende Elefant setzt den betreffenden Fuß genau auf dieselbe Stelle, und dennoch wandert der lange Zug mit einer Schnelligkeit, dass ein Pferd nur in flottem Trabe mitkommen kann, und so schmiegsam sind die Sohlen trotz aller Härte, dass unter den Tritten der mächtigen Tiere auch kein trockenes Blatt raschelt!
Mancher Jäger kann nicht genug davon erzählen, wie erstaunt er gewesen ist, plötzlich — wie er etwa unter einem Baume gelegen hat — in seiner dichtesten Nähe einen großen Trupp Elefanten an sich vorüberziehen gesehen Zu haben, ohne dass er das geringste Geräusch hörte.
Überdies kann man diese ungemeine Gewandtheit dieses scheinbar so plumpen Dickhäuters ja schon in jedem Käfig beobachten, mit welcher wahren Eleganz er sich nach den wenigen Schritten immer auf den Hinterfüßen herumwirft, und wie graziös er überhaupt die Füße setzt. Das ist nur ein leichtes Tänzeln!
Anders natürlich, wenn sich solch eine Herde sorglos der Äsung hingibt. Dann kracht der ganze Wald vom Abbrechen der jungen Zweige, vom Malmen der Backenzähne, und von dem eigentümlichen Geräusch, mit dem die aus dem Boden gerissenen Stämmchen gegen größere Bäume geklopft werden, um die Wurzeln von der anhängenden Erde zu befreien.
Auf solch eine Strecke kamen die beiden bald, wo alle erreichbaren Zweige abgebrochen und jüngere Stämmchen herausgerissen waren. Aber ein für Menschen bequem begehbarer Weg durch den Wald entsteht dadurch niemals; denn der Elefant wählt niemals wieder denselben Weg, auch nicht um von einem Tränkplatz zum anderen zu kommen, stets sucht er sich einen neuen Weg, es sei denn, dass der alte schon wieder vollkommen Zugewachsen ist.
Da aber wurde dieser schmale, so wüst aussehende Elefantenpfad von einer breiten Chaussee gekreuzt!
Ja, es war eine ganz regelrechte Chaussee, wenn man auch nicht gerade an eine der unsrigen denken darf.
Mitten durch den Ward ein breiter, fester Weg, der sich wohl um größere Bäume herumschlängelte, aber alle kleineren waren samt Wurzeln ausgehoben und seitwärts an den Rand geschafft, wo solche ziemlich ansehnliche Stämme manchmal förmliche Barrieren bildeten.
»Ein Rhinozerospfad!« konnte Juba Riata sofort bestimmen, obwohl er einen solchen in der Wildnis noch gar nicht gesehen hatte.
Aber so war es! Im Gegensatz zum Elefanten nimmt das Nashorn, auch in Monomamie lebend und höchstens von zwei Jungen begleitet, immer ein und denselben Weg. Diesen Weg hält es auch in peinlichster Ordnung, entfernt alle aufkeimenden Baumschösslinge daraus, schleudert sogar herabgefallene Zweige zur Seite. Allerdings tut es dies nicht aus Ordnungsliebe, sondern das Rhinozeros, ob es nur zwei Hörner auf der Nase hat oder nur eines, frisst mit Vorliebe Baumwurzeln, deshalb gräbt es mit seinem Horne Bäume aus, unterwühlt sie, bis sie umstürzen. So schafft es sich Zunächst einen Weg durch den Wald, den es nun allerdings auch fernerhin immer benutzt, einfach aus Bequemlichkeit. Und ferner frisst das Rhinozeros im Gegensatz zum Elefanten nur ganz trockene Zweige, die frisch herabgefallenen schiebt oder schleudert es einstweilen Zur Seite, wahrscheinlich einfach weil sie ihm noch nicht behagen, verzehrt sie erst später auf dem Rückmarsche, wenn sie den Saft verloren haben.
So entstehen nach und nach durch den Wald Wege, welche auf Java ganz direkt als Landstraßen benutzt werden. Die gestürzten Baumstämme schafft das Nashorn selbst beiseite. Freilich duldet es auf diesem seinen Wege kein anderes lebendes Wesen. Dann geht es gleich wütend darauf los. Aber man braucht nur zur Seite zu treten, in den Wald hinein, dann Zieht das Rhinozeros wieder ruhig seines Weges dahin, vorausgesetzt, dass es nicht sonst gereizt oder gar angeschossen worden ist.
Ja, man hat sogar mit Bestimmtheit konstatiert, dass auch die Schlangen diese Rhinozerospfade meiden; als ob sie wüssten, dass das gewaltige Tier sich bei ihrem Blick sofort auf sie stürzt und sie unter seinen Füssen zermalmt. Das mag von den Schlangen und anderen Kriechtieren ja Instinkt sein, aber — wenn wir nur erst wüssten, was Instinkt eigentlich ist! Vorläufig nichts weiter als ein leeres Wort.
Zunächst jedoch wandten sich die beiden Freunde seitwärts dorthin, wo sie aus einer Felsenformation eine klare Quelle als kleinen Wasserfall hervorspringen sahen und auch hörten.
Die Wasserfrage war schon gelöst, denn aus dem Vorhandensein von vielen Tieren allein hatte man nicht darauf schließen können, reines Quellwasser zu finden; die begnügen sich ja oft genug mit Sumpfwasser, das für den Menschen direktes Gift ist, zumal in tropischen Gegenden.
»Und hier sind schon unsere ersten Hausgerätschaften, die wir später auch als Wasserflaschen an den Gürtel hängen können!« sagte Juba, von einer starken Liane einige Flaschenkürbisse abbrechend.
»Die sind doch gefüllt, haben Fleisch in sich!« meinte Georg.
»Das wohl, aber das Fleisch ist gekocht kaum genießbar.«
»Darauf kommt es mir gar nicht an, sondern ich meine, wie man nun das Fleisch aus dem Kürbis herausbekommt, ohne die Flaschenform zu zerstören.«
»Man legt die Kürbisse in die Sonne, wie ich es jetzt schon tue, nach einigen Tagen ist das Fleisch innen ganz vertrocknet, Außerdem löst es sich dabei von der Schale, nun muss man das Zeug von oben mit einem spitzen Stocke herausbäbeln, dann ist die schönste Kalebasse fertig, absolut wasserdicht.«
»Ausbäbeln?« lachte Georg. »Sie haben Ihr Deutsch wohl in Sachsen gelernt? Bei uns zu Hause heißt das ausbuchsen. Zwar ebenfalls kein schönes Wort, aber es hängt doch jedenfalls mit Büchse zusammen. Und sagen Sie mal, Sie sind wohl schon einmal in Borneo gewesen?«(
»Nein. Weshalb?«
»Erst halten Sie mir einen langen Vortrag über den Elefanten, dann über das Rhinozeros — nun, das schlägt ja in Ihr Metier — aber woher wissen Sie, wie man aus solch einem langhalsigen Kürbis eine richtige Flasche macht?«
»Weil wir solche Flaschenkürbisse auch in Texas haben!« lautete die einfache Erklärung.
Dann brachen sie sich tüchtige Knüppel ab, was gar nicht so einfach war, und begannen den Hügel zu ersteigen, um oben Umschau zu halten.
Georg befand sich in der denkbar besten Stimmung.
»Ich fühle mich zehn— bis dreißigtausend Jahre zurückversetzt. Ich fühle mich in der Wiege der Menschheit liegen. Ich fühle mich als Urmensch. Ja, schon fühle ich mein Gehirn kleiner werden und dafür meine Unterkiefer mächtig hervortreten. Dieser Knüppel ist meine erste geistige Errungenschaft. Dieser Knüppel wird sich in meiner Hand in zehn— bis dreißigtausend Jahren in ein elektrisch betriebenes Feuergewehr verwandeln; schon fühle ich ahnungsvoll auf meinem Leibe einen Pelz wachsen —«
Er brach ab und schaute wie Juba Riata nach oben. Dort saß auf einem Aste ein großer Affe, sofort als Orang-Utan erkennbar, kratzte sich und fletschte nach den beiden Menschen die Zähne, aber durchaus nicht unfreundlich, eher lachend, er schnatterte dabei.
Lebhaft winkte Georg hinauf.
»Sei mir gegrüßt, Du trauter Kamerad! Ach, wenn Du wüsstest, wie geistig verwandt ich mich mit Dir fühle! Warte nur, warte nur, balde — wenn mir erst die Fetzen vom Leibe gefallen sind, dann klettere auch ich auf den Bäumen herum, dieser mein Freund hier wird mir die Flöhe aus dem Pelze absuchen —«
Georg machte einen Satz, schlug mit seinem Knüppel zu und hatte eine meterlange, grünschillernde Schlange tödlich getroffen.
»Das war nicht nötig, sie ist nicht giftig!« sagte Juba Riata gelassen.
»Was ist das für eine Spezies?«
»Ich weiß nicht. Mir unbekannt.«
»Woher wollen Sie denn da das wissen? Sie haben doch noch gar nicht untersucht, ob sie Giftzähne hat oder nicht?«
»Auf Borneo gibt es keine einzige Giftschlange.«
Das ist eine Tatsache! Auf Java und Sumatra und Celebes und den anderen Sunda-Inseln gibt es Giftschlangen genug — auf Borneo ist keine einzige bekannt.
Man muss immer daran denken, dass das ja ganz gewaltige Gebiete sind, die immer ihre eigene Fauna und Flora haben, und in ihre letzten Geheimnisse lässt sich die Natur eben nicht blicken.
Weshalb gibt es denn in Irland keine Frösche? In England und Schottland massenhaft, in Irland keinen einzigen. Künstlich ausgesetzte halten sich auch nicht, obgleich ihnen das gemäßigte, feuchte Klima doch sehr zusagen müsste. Besonders die so nützliche Kröte hat man einzuführen versucht. Bald sind alle spurlos verschwunden. Man steht vor einem Rätsel.
»Ich weiß es ganz bestimmt,« versicherte Juba nochmals auf Georgs Zweifel, »dass es auf Borneo keine einzige Giftschlange gibt, wenigstens bekannt ist keine.«
»Gut, ich glaube Ihnen, und das freut mich sehr zu hören, denn sonst wäre es mein erstes gewesen, mir lange Schaftstiefeln zu fertigen, die ich dann auch als menschenähnlicher Affe nicht abgelegt hätte. Aber sagen Sie mal, mein lieber Peitschenmüller, Sie wussten wohl schon, dass wir den Elektron versehentlich in einem Luftboot verlassen und auf Borneo landen würden, haben sich da vorher noch schnell über die Verhältnisse dieser Insel orientiert, weil Sie alles so genau kennen?«
»Ich habe überhaupt niemals etwas über Borneo gelesen.«
»Woher ist Ihnen denn da alles so genau bekannt?«
»Ich war in einem Zirkus lange Zeit mit einem Malaien zusammen, der stammte von Borneo, und da allerdings habe ich keine Gelegenheit versäumt, mich belehren zu lassen.«
»Dann freilich! Und nur gut ist’s, dass ich gerade Sie als Begleiter erwischt habe, Giftschlangen sind mein Fall nicht; Sie haben mich beruhigt.«
»Und wissen Sie, wem man es zu verdanken hat, dass es gerade auf dieser Insel keine einzige Giftschlange gibt?«
»Nun?«
»Dem dort oben.«
Und Juba deutete nach dem Aste, auf dem der große Affe noch immer saß.
»Dem Orang—Utan dort?«
»Jawohl. Ein Waldmensch — nichts anderes bedeutet ja das malaiische Wort Orang—Utan — ist einmal von einer Giftschlange gebissen worden und daran gestorben, oder jedenfalls ist das sehr häufig passiert, als es hier noch Giftschlangen massenhaft gab. Da haben sich alle Waldmenschen zusammengetan und nicht eher geruht, als bis der letzten Giftschlange samt ihrer Brut der Garaus gemacht worden war. So meldet die Sage, so erzählte mir jener Malaie.«
»Danke Dir, mein lieber Kamerad!« winkte Georg hinauf. »Nun wollen wir den Aufstieg fortsetzen. Nehmen wir die tote Schlange mit?«
»Wozu?«
»Um sie zu braten. Schlangenfleisch soll delikat schmecken. Chinesinnen lassen sie zwar gleich ungekocht und sogar lebendig in den Hals hinabgleiten, als wär’s eine Makkaroninudel, wie ich selbst gesehen habe, aber dafür bin ich nicht. Na, lassen wir sie nur liegen, ich werde mit meinem Knüppel schon noch was Besseres schießen. Aber sagen Sie, Juba, können Sie sich Feuer aus den Augen schlagen oder sonstwie erzeugen? Der Mensch fängt erst mit dem Feuer an, auch der Unmensch. Das Feuer ist überhaupt das einzige, was den Menschen vom Affen unterscheidet — manchen Menschen wenigstens.«
»Man reibt einfach zwei Hölzer zusammen —«
»Gehen Sie weg mit Ihrer Reiberei!« wehrte Georg im Weitergehen mit erkünsteltem Entsetzen ab. »Das habe ich mehrmals als Junge versucht, auch noch zweimal als Mann, habe mir selber die Hände durchgerieben, aber keinen Funken Feuer hervorgebracht!«
»Man muss einen Holzstab quirlen —«
»Gehen Sie mir weg mit Ihrer Quirlerei! Habe ich auch versuchst! Ich habe gequirlt, bis aus meinem Schweisse Buttermilch wurde — nischt is es!«
»Es geht schon,« lächelte Juba Riata, »man muss nur die richtigen Holzarten wählen, und einige Übung und ein gewisser Kniff gehört natürlich auch dazu. Ich werde es Ihnen vormachen, sobald wir Feuer bedürfen.«
Sie setzten ihren bequemen Aufstieg fort, währenddessen Juba noch einen anderen, fingerdicken Ast abbrach, von einer Art Weide ein Stück Bast abschälte, einige Vogelfedern aufhob und sich andere kleine Gegenstände nicht entgehen ließ, sich mit ihnen beschäftigte, mit Hilfe der Fingernägel und der Zähne.
Georg wusste, was er vorhatte, wollte ihn aber nicht durch seine Bemerkungen stören.
»Ist Ihnen hiermit gedient?« sagte er nur einmal, ein Stück spitzen Feuerstein aufhebend.
»Vortrefflich!« rief Juba erfreut. »Nach so etwas habe ich mich schon immer umgeschaut! Das erste Messer! Ich bin schon verschiedene Male in meinem Leben ohne Messer gewesen, und doch immer wieder empfindet man dann erst, was ein Messer oder nur etwas Messerähnliches zu bedeuten hat. Ich fertige nämlich Pfeil und Bogen.«
»Das habe ich mir gleich gedacht. Dass Sie mit Ihrem ersten Fitschepfeil nur nicht gleich einen Elefanten über den Haufen schießen!«
Sie hatten den Gipfel des ebenmäßigen Hügels erreicht. Umschau konnten sie wegen der Bäume nicht halten, und das würde sich auch nirgends ändern. Nach einiger Auswahl erklommen sie mühelos einen Affenbrotbaum, von dort oben hatten sie richtig freien Ausblick nach allen Seiten.
Im Westen unter ihnen das sandige Tal. Jenseits der Hügel, die sie zum Teil noch überblicken konnten, flaches Grasland, ebenso wie im Osten und in allen anderen Himmelsrichtungen, nur dass sich ab und zu aus der Ebene ganz plötzlich ein bewaldeter Hügel, in der Ferne auch recht ansehnliche Berge erhoben, aber niemals zusammenhängend, immer isoliert.
Es ist eine Spezialität von Borneo, dass es keine eigentlichen, keine zusammenhängenden Gebirge hat. Alle Berge erheben sich isoliert wie die Inseln.
Dort hinten glänzte auch der Spiegel eines Sees, ein breiter Fluss mündete hinein. Und auf diesen Prärien überall verstreut große Herden von Antilopen und Hirschen aller Art, dazwischen auch Rinder und Pferde, die ihrer Morgenäsung nachgingen.
»Wie, auch Pferde?« meinte Juba kopfschüttelnd. »Die gibt es auf Borneo nicht.«
»Aber genug!« entgegnete Georg. »Das weiß ich nun wieder besser. Ich hatte einmal einen Passagier an Bord, der hatte auf Borneo eine große Pferdezucht.«
»Ja, Sie denken an gezähmte. Das sind aber doch sicher wilde.«
»Vielleicht entflohene und verwilderte.«
»Sie mögen recht haben.«
»Hoffentlich habe ich es; dass wir hier nicht etwa ganz in der Nähe einer Ansiedlung sind.«
»Dieser Wildreichtum schließt das wohl aus. Ja, aber was ist denn das?«
Juba machte seinen Freund auf einen Rudel Vierfüßler aufmerksam, die sich jetzt in der Wüste bewegten. Da sie fast genau die gleiche gelbe Farbe hatten wie der Sand, waren sie kaum zu unterscheiden, das Auge musste sich erst daran gewöhnen.
»Nun, was soll das sein? Das sind eben Antilopen.«
»Nein, das sind Gazellen.«
»Na dann eben Gazellen.«
»Sie machen wohl gar keinen Unterschied zwischen Antilopen und Gazellen?«
»Ich wüsste ihn nicht zu definieren.«
»Ich — eigentlich auch nicht!« gestand Juba Riata. »Ja, die Gazelle mag nur eine Art von Antilope sein, zu diesen gehörend; aber das weiß ich, dass dies echte Gazellen sind, die nicht in Indien vorkommen, sondern ausschließlich in Nordostafrika und Arabien; wenn meine Wissenschaft auch nur aus zoologischen Gärten und mehr noch aus Zirkusmenagerien stammt. Wie kommen diese Gazellen hierher?!«
Georg verstand nicht, weswegen sein Freund sich darüber so aufregen konnte.
Aber der ehemalige Dompteur hatte ganz recht, vermochte sich nur nicht richtig auszudrücken. Wohl gehört auch die Gazelle zu den Antilopen, aber sie ist eine ganz besondere Spezialität, zwischen einer Gazelle und einer anderen Antilope ist ein Unterschied wie zwischen einem Pferd und einem Esel, und wer die Gazellen nun einmal kennt, für den ist eine Gazelle in Indien ein Ding der Unmöglichkeit, oder sie ist künstlich eingesetzt worden oder einem Wildpark entflohen.
Doch da Georg dieser Angelegenheit weiter keine Beachtung schenkte, fing auch Juba nicht wieder davon an.
»Und was sind das für Rinder mit den hakenförmigen Hörnern?«
»Das sind Tiere, bei deren Anblick mir wiederum der Verstand stehen bleiben möchte.«
»Was? Warum denn das?«
»Weil das Kaffernbüffel sind.«
»Kaffernbüffel? Kommen die denn nicht nur in Afrika vor?«
»Ja freilich, und das ist es eben! Wie kommen die denn hierher nach Borneo?!«
»Sie irren sich nicht? Sie kennen diese Tiere genau?«
»Irrtum ausgeschlossen. Das sind afrikanische Kaffernbüffel.«
»Ja, mein lieber Freund,« sagte Georg leichthin, »dann sind wir eben nicht auf Borneo, sondern in Afrika.«
»Aber wir haben doch schon einen Orang—Utan gesehen, der nicht in Afrika vorkommt, überhaupt nur auf Borneo und Sumatra.«
»Der Orang—Utan? Na, der hat einfach einmal eine Reise nach Afrika gemacht!«
»Und das dort sind lauter Antilopen, die nur in Indien vorkommen, niemals in Afrika!«
»Na, die sind einfach mitgereist.«
»Sie scherzen, Waffenmeister.«
»Natürlich scherze ich nur. Aber merken Sie nun endlich, was ich mit diesen Scherzen sagen will? Dass es mir verdammt schnuppe ist, ob ich in Indien oder in Afrika bin. Ich habe Hunger. Ist Ihr Fitschepfeil endlich fertig? Dann, bitte, schießen Sie mir dort so einen Büffel, gleichgültig, ob es ein indischer oder afrikanischer ist, damit ich mir ein Beefsteak herausschneiden kann. Ein Messer haben wir ja schon und Feuer haben Sie moderner Prometheus mir versprochen.«
Ja, auch hier oben im Baumgipfel war Juba, nachdem er den Bogen schon fertig gehabt, unablässig mit Herstellung des Pfeiles beschäftigt gewesen. Er hatte dazu möglichst hartes Holz gewählt, dann war auch eine besondere Spitze nicht nötig, das Holz selbst brauchte vorn nur spitz geschabt zu werden, dann durchdringt es schon Fleisch und auch ein nicht allzudickes Fell. Mehr Schwierigkeiten hatte es ihm mit seinen primitiven Hilfsmitteln bereitet, hinten im Schaft einen Schlitz und in diesem eine Feder der Länge nach anzubringen, und diese Feder ist unbedingt nötig, um den Pfeil bei seinem Fluge im Gleichgewicht Zu halten, sonst wird er abgelenkt, er flattert. Bei der Konstruktion der modernen Luftschiffe kommt diese Erkenntnis, die alle wilden Völker gemacht haben, wieder zum Vorschein.
Und da entschwirrte schon der erste Pfeil dem primitiven Bogen. Ein großer, truthahnähnlicher Vogel, der zwischen den Zweigen zu erblicken war, auf dem Aste eines anderen Baumes sitzend, war das Ziel gewesen, und durchbohrt flatterte das Tier mit eigentümlichem Schreien zu Boden nieder, hatte sich bald für immer beruhigt. Sie stiegen hinab.
»Es war das Schreien eines Truthahnes im Todeskampfe, und es ist auch nichts anderes als ein amerikanischer Truthahn!« sagte Juba, als er das stattliche Tier an den Flügeln aufhob.
»heißt aber in England türkisches und in Frankreich indisches Huhn!« versetzte Georg.
»Kommt aber wild nur in Amerika vor,« konnte Juba versichern, »seine Heimat ist Mittelamerika.«
Sie begaben sich wieder zu der Quelle hinab. Georg machte sich mit dem Feuerstein, der glücklicherweise eine sehr scharfe Bruchkante hatte, über den Vogel hier, während sich Juba nach einem zweiten Stück Holze umsah, um durch Reibung Feuer zu erzeugen. Als erstes sollte dieser selbe Pfeil dienen, und so hatte er auch schon vorher bei einem gestürzten Baumstamm, der von Insekten in Pulver verwandelt wurde, etwas trockenes Holzmehl aufgesammelt, es einstweilen in die Hosentasche gesteckt.
Das geeignete Stück trockene Baumrinde war bald gefunden, Juba schlang um den Pfeil die Bastsehne des Bogens, legte das Stück Rinde gegen einen Baumstamm, setzte die Pfeilspitze dagegen, den Schaft stemmte er gegen seine Brust, aber auch erst noch in ein Stück weichere Rinde, die eine kleine Höhlung bekommen hatte, so quirlte er den Pfeil mit dem Bogen schnell hin und her, dann streute er auf die Spitze Holzmehl, fing das herabfallende mit einem dritten Stückchen Rinde auf, immer wieder nachschüttend, und gar nicht lange dauerte es, so fing er glimmende Holzpartikelchen auf, die mit dürren Laubblättern durch Blasen schnell helles Feuer ergaben.
Das ist sehr einfach, will aber gelernt sein, und schon das letzte Anblasen lernt mancher niemals. Wirklich leicht aber, sich durch Reiben Feuer zu verschaffen, hat man es dort in Indien, wo es Bambusrohr gibt oder wenn man immer ein Stück davon bei sich hat. Man braucht nur einen Span abzuspalten und mit dessen scharfer Kante auf dem noch vollen Rohre herumzufitscheln. Wenn man durchgefitschelt ist, bläst man in das Rohr und es kommt ein Feuerstrom heraus, der nur noch aufzufangen und in helles Feuer zu verwandeln ist, was dann sehr leicht gelingt. Die Rinde des Bambusrohres enthält viel Kieselsäure, ist daher äußerst hart, beim gegenseitigen schnellen Reiben spritzen fortwährend Funken, allerdings so klein, dass man sie gar nicht sieht, aber wenn die Rinde durchgesägt ist, genügen sie doch, um die sich im Innern angehäuften Holzpartikelchen, an sich schon sehr heiß, in Brand zu setzen, und dann kann man dieses Feuer eben herausschütten oder herausblasen. Solche Stückchen Bambusrohr werden denn auch in Indien ganz allgemein als Taschenfeuerzeuge getragen.
129. KAPITEL.
DIE RÄTSEL MEHREN SICH.
Das Feuer brannte und Georg hatte den Truthahn ausgenommen, gerupft und ausgewaschen.
»Die Braterei kann beginnen. Nun fehlt uns aber noch eine der wichtigsten Substanzen, ohne die der Mensch auf die Dauer gar nicht auskommen kann. Wissen Sie, Juba, was das ist?«
Der Gefragte griff in die linke Hosentasche — in der rechten hatte er das Holzmehl gehabt — und präsentierte eine Handvoll schneeweißes Salz.
»Oho!! Haben Sie immer Salz in Ihren Hosentaschen?!«
»Nein, aber wir haben doch vorhin neben einer Salzsaline gestanden.«
»Wann denn?!«
»Vorhin, als die Elefanten an uns vorbei marschierten, da war neben uns in einer Vertiefung des gelben Sandes eine weiße Kruste, ganz vortreffliches Salz. Während Sie in die Betrachtung der Elefanten vertieft waren, habe ich mich verproviantiert.«
»Und ich habe nichts davon bemerkt? Na meinetwegen. Juba, Sie sind ein Allerweltskerl! Fahren Sie so fort. Haben Sie immer in den Hosentaschen, was ich begehre, ich brauche gar nicht gemerkt zu haben, wie Sie es hineinpraktiziert haben.«
Der mit Salz eingeriebene Truthahn schmorte an einem grünen Zweige über der flammenlosen Glut, als ein Schnauben und Grunzen erscholl.
Auf der Chaussee, die von hier aus noch zu erblicken war, sie befanden sich keine fünfzig Schritt davon entfernt, wälzte sich auf vier unförmlichen Beinen etwas Gewaltiges von dunkler Farbe heran.
»Achtung, da kommt der Herr Wegebaumeister!« flüsterte Georg. »Also, Juba, Sie garantieren, dass das Rhinozeros seinen Pfad niemals verlässt, um seitwärts zwei truthahnessende Menschen auf sein einfaches oder doppeltes Horn zu nehmen und dann unter seinen Füssen Gewiegtes zu machen?«(
»Für ein Rhinozeros kann ich garantieren, nicht aber für ein Nilpferd, dessen Gewohnheiten kenne ich nicht so genau.«
»Was? Nilpferd? Was wollen Sie denn mit einem Nilpferd? Hier auf Borneo gibt’s doch gar keinen Nil!«
»Möglich, aber was dort ankommt, das ist kein Nashorn, sondern ein afrikanisches Flusspferd.«
Georg war ausgestanden, machte den Mund halb auf.
»Na weiß Gott!« brachte er dann hervor. »Das ist kein Rhinozeros! Erstens hat es keine Hörner auf der Nase, zweitens hat das Luder so ein breites Maul, und drittens ist’s überhaupt ein Flusspferd! Wie kommt denn das hierher nach Borneo?! Jetzt blickt’s hierher und nickt mir zu. Und Sie können nicht garantieren, dass auch ein Nilpferd niemals von dem schmalen Pfade der Tugend abweicht und den breiten Weg der Sünde betritt? Wissen Sie was, Juba, ich werde einen kleinen Ausflug machen. Ich habe so einen inneren Drang nach etwas Höherem. Ich werde einmal ein bisschen auf diesen schönen Baum klettern. Kommen Sie mit?«
Aber der Rückzug war nicht nötig, die Gefahr in Gestalt des gewaltigen Flusspferdes ging vorüber, verschwand zwischen den Bäumen.
Georg hob seinen Knüppel auf und schwang ihn drohend nach jener Richtung.
»Na, danke Deinem Schöpfer, Biest, dass Du nicht hierhergekommen bist! Dir hätte ich ja einen schönen Empfang bereitet! Na was gibt’s denn da zu lachen?«
Ja, der sonst so ernste Juba Riata lachte aus vollem Halse.
»Sie befinden sich ja in ganz vorzüglicher Laune, Waffenmeister!«
»Ja, mein lieber Juba, mir ist, als wäre ein schöner Traum in Erfüllung gegangen, den ich als Kind geträumt habe. Und mir ist nicht nur so, sondern das ist eine Tatsache. Juba, ich glaube, ich bin ein Glückspilz. Mir ist ja schon mancher phantastische Kindestraum in Erfüllung gegangen. Ich habe das Schiff und die Mannschaft gefunden, von der ich einst geträumt. Aber auch noch von anderem habe ich als Kind geträumt. So hier in Hemd und Hosen am Feuer zu sitzen, das man sich nicht durch Streichhölzer verschafft — absolut nichts in den Taschen wenn man auf einen Baum steigt, dann hat man auf der Erde nichts mehr zu suchen — und nun noch solch einen Freund dazu — ach, Juba, das ist ja einfach himmlisch! Sehen Sie, und nun bekommen wir ja auch Besuch aus Australien.«
Uber den Weg hüpfte ein Rudel großer Känguruhs, war gleich wieder zwischen den Bäumen verschwunden.
»Känguruhs, wahrhaftig!« rief Juba. »Und da wundern Sie sich nicht?!«
»Ich? Nee. Wie gesagt, wenn ich auf einen Baum steige, habe ich auf der Erde nichts mehr zu suchen, und da ist es mir doch ganz egal, ob dieser Baum in Indien oder in Afrika oder in Australien steht. Wenn ich mich übers etwas wundere, so ist es nur darüber, dass Sie sich wundern. Ich glaube dieses Rätsel bereits gelöst zu haben.«
»Ja?!«
»Wir befinden uns hier ganz einfach in einem Wildpark, der mit allen möglichen Tieren besetzt worden ist, angelegt von —«
Georg stockte.
»Himmeldunnerwetter noch einmal! Sehen Sie, mit der Kraft des gesprochenen Wortes hat es doch etwas auf sich. An solch einen Wildpark habe ich schon gedacht, kaum aber spreche ich den Gedanken laut aus, so komme ich noch viel mehr auf den Trichter! Da war vor zehn bis fünfzehn Jahren ein Amerikaner namens Osborne, ich entsinne mich seines Namens noch ganz genau —«
»Elias Osborne!!«
»Nanu! Jetzt kennen Sie wohl auch diesen Mann? Ja freilich, Sie stammen ja auch von daher, es schlägt ja überhaupt ganz in Ihr Fach. Was wissen Sie von dem?!«
»Es ist genau dreizehn Jahre her. Ein schwerreicher Mann, ein vielfacher Millionär. Er kaufte in St. Louis die großartige Menagerie des Metropolitan—Zirkus, der durch die Spielwut seines Besitzers, des Mister Ritchie, in Konkurs kam. Da bin ich doch zum ersten Male als Dompteur aufgetreten.«
»Ach nee! Na und was machte nun dieser Elias Osborne?«
»Er brachte die ganze Menagerie auf ein Schiff, sein eigenes, um mit ihr eine Tournee durch Europa anzutreten. Das Schiff ist verschollen, ist untergegangen mit Mann und Maus.«
»Richtig, aber nach Europa ist er nicht gefahren, wollte keinen Zirkus aufmachen, sondern dieser reiche Sonderling, ein großer Tierfreund, beabsichtigte in geeigneter Gegend einen großartigen Tierpark anzulegen, hatte dazu schon im Innern Javas ein mächtiges Areal gekauft.
Auf der Fahrt nach Java ist sein Schiff mit Mann und Maus untergegangen.«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Das mit dem Tierpark auf Java? Ganz, ganz genau. Es hat damals in allen Zeitungen gestanden. Auf Java war das Areal schon gekauft.
»Hm!« brummte Juba. »Das mit der Europareise war auch nur so eine Vermutung von uns und Zeitungen habe ich dann nicht mehr gelesen. Es war damals gerade die Zeit, wo ich mich von der Welt absonderte.«
»Na, Juba, nun wollen wir annehmen, das Schiff ist nicht untergegangen, sondern an der Küste von Borneo gescheitert, gestrandet, dieser Mister Osborne hat sich mit seiner ganzen Menagerie ins Innere von Borneo zu schlagen gewusst. Ist das nicht eine Erklärung?«
»Allerdings. Oder wir befinden uns hier auf Java.«
»Nein, das bezweifele ich. Erstens hat Osborne sein Ziel auf Java nicht erreicht, das weiß ich bestimmt, und zweitens trägt diese Gegend vielmehr den Charakter von Borneo, als von Java. Besonders durch die Inselberge, die sich jäh aus der Ebene erheben. Soviel geographische Kenntnisse habe ich vom Sunda—Archipel.«
»Na gut, dann ist ja alles erklärt. Wir befinden uns auf Borneo, wo Osborne seinen Tierpark doch noch gegründet hat, ohne dass die andere Welt etwas davon erfuhr.«
»Wenigstens ist es eine Theorie, die viel Möglichkeit für sich hat. Aus was bestand denn diese Menagerie?«
»Aus allem, allem möglichen. Es war eine höchst stattliche und auserlesene Menagerie.«
»Na, da wollen wir dann mal sehen, was wir noch weiter finden. Hoffentlich hat der gute Mann nicht auch Giftschlangen losgelassen. Aus Löwen und Tiger mache ich mir viel weniger; auch aus Menschen, die wir dann wohl auch erwarten müssen. Jetzt werde ich erst einmal dieses eine Truthahnherz essen. Es ist schon gar, Delikat! Das andere Herz können Sie essen, Juba.«
Bald war auch der ganze Truthahn gar, den teilte Georg mit seinem Freunde redlicher als das Herz.
Der letzte Knochen war abgenagt. Es waren zwei gesunde und sehr hungrige Männer gewesen, die den großen Vogel bewältigt hatten.
»So, nun wollen wir vertrauensvoll in die Zukunft blicken und erst einmal weiter nachforschen, was Mister Osborne von seiner Menagerie alles hierher geschafft hat und wie sich die lieben Tierchen unterdessen vermehrt haben.«
Sie verfolgten den Rhinozerospfad nach Osten weiter. Georg die Hände in den Hosentaschen, die Mütze in den Nacken gerückt, den Knüppel unterm Arme.
»Studio auf seiner Reis’, jubheidi, jubheida, ganz famos zu leben weiß, jubheidi heida. Immer fort durch Dick und Dünn, schlendert er sein Dasein — —. Juba, da fällt mir gerade ein — blicken Sie auch manchmal hinter sich? Wenn hinter uns ein Nashorn oder so etwas Ähnliches kommt, sagen Sie es mir rechtzeitig, damit ich rechtzeitig zur Seite treten kann, damit ich nicht genötigt bin, das arme Tier totzuschlagen — aaahhh!!«
Auf einer sonnigen Lichtung wucherte üppig ein Kraut:
»Wissen Sie, was das ist?«
»Tabak.«
»Ja, Tabak. Der Samen ist von Vögeln hierher getragen worden, oder vielleicht hat dies alles hier schon einmal unter Kultur gestanden. Mir ganz egal. Jedenfalls ist das zweite unentbehrliche Lebensbedürfnis nach Salz gesichert. Aus Brot mache ich mir nicht viel, wenn ich nur jeden Tag meine drei Pfund Fleisch habe.«
Er pflückte einige schöne große Blätter, die schon etwas verwelkt waren, ab.
»Die können Sie aber noch nicht rauchen, die Blätter müssen erst eine Gärung durchmachen.«
»Weiß ich, sonst könnte man auch Kastanienblätter oder gezupftes Hemd rauchen. Aber Sie werden staunen, wie schnell ich diese Tabaksblätter die nötige Gärung durchmachen lasse. Ich habe dafür mein eigenes Patent.«
Er schob die Blätter vorn auf der Brust zwischen Haut und Hemd, sie pilgerten weiter.
Jäh machte der Urwald der Kalira Platz, der malaischen Savanne, der Prärie. Ein herrlicher Graswuchs! Er erreicht nur Kniehöhe, bleibt auch im heißesten Sonnenbrande immer von saftigem Grün, und verdorrt er doch zuletzt, so zerfallen die Zarten, überaus dicht stehenden Halme sofort in Staub, den Boden düngend, da aber ist auch schon wieder neues Grün vorhanden, das in zwei Tagen die normale Höhe erreicht.
Ein überraschender Anblick wartete ihrer.
Unvermutet waren sie hinter den letzten Bäumen hervorgetreten, und in dichter Nähe vor ihnen weidete eine große Herde Zebras, zwischen ihnen die schier unvermeidlichen Strauße; denn diese beiden Tierarten halten in Amerika fast regelmäßig zusammen. Das Zebra benützt den langhalsigen Vogel als scharfsichtigen Wächter, der Strauss wiederum fühlt sich zwischen den starken, mutigen Zebras vor manchem Raubtier sicher.
Beim Hervortreten der Menschen freilich stob die ganze Herde, wohl aus hundert Köpfen bestehend, in wilder Flucht davon.
»Da haben wir es!« rief Juba. »Der Zirkus hatte auch eine stattliche Anzahl Zebras und Strauße, die Osborne mit erwarb!«
»Da haschen Sie sich ein Zebra und zeigen Sie, dass Sie es zureiten können. Ich bitte um einen gut eingerittenen Strauss!«
»Nun, glauben Sie, dass man Strauße reiten kann?«
»Ich habe es gehört, dass in einigen Gegenden Afrikas Strauße geritten werden. Besorgen Sie mir nur einen kräftigen Vogel, über den ich meine Beine hängen kann. Meinetwegen kann er auch — nanu!«
Etwas erschrocken hatte es Georg hervorgestoßen.
Wenn einem in solch einer weltverlassenen Gegend plötzlich von hinten der Hut vom Kopfe genommen wird, soll man wohl auch erschrecken.
Und wie sich Georg schnell umkehrte, hätte er eigentlich noch mehr erschrocken, bis zum Tode entsetzt sein sollen.
Hinter oder jetzt vor ihm stand ein mächtiger Elefant, sogar ein Riese unter diesen mächtigen Dickhäutern, von fast weißer Farbe, den Kopf etwas zurückgeneigt, soweit das einem Elefanten möglich ist, das Maul mit den gewaltigen Stoßzähnen halb geöffnet, und in dem Greifapparat des ganz in die Höhe gehaltenen Rüssels Georgs Hut!
Ja, da kann man wohl erschrecken.
Nun aber tat das Georg gerade nicht!
»Moiiin!« sagte er ganz trocken und unverfroren.
Eigentlich hatte er ja auch ganz recht. Ausreißen konnte hier nicht piel helfen.
Freilich hatte er dieses abgekürzte »Guten Morgen« wohl nicht so recht mit voller Besinnung gesagt.
Oder doch?
Mindestens kam es ihm jetzt zum Bewusstsein, dass diese Sachlage nun einmal nicht zu ändern war, und da konnte er nun auch gleich fortfahren.
»Moiiin! Du alter Schneesieber, gib mir mal meinen Hut wieder her.«
Richtig, gehorsam senkte der Elefant den Rüssel, Georg konnte ihm den Hut abnehmen und ihn sich wieder aufsetzen
»I Du kleiner Schäker, Du hast wohl ein Späßchen mit mir machen wollen?«
Das Ungeheuer hob den rechten Vorderfuß. Georg griff einfach Zu.
»Moiiin, moiiin!« sagte er, den ungeheuren Fuß kräftig schüttelnd, soweit Menschenkraft solch einen mächtigen Elefantenfuß schütteln kann. »Freut mich sehr, Sie wiederzusehen.«
Dann aber, während der Elefant mit ausgestrecktem Vorderfuß stehen blieb, blickte Georg erst einmal nach seinem Freunde, wortlos, nur in den Augen mit der Frage: »Was sagen Sie denn dazu?«
Juba stand wie eine Bronzefigur da.
»Ein gezähmter Elefant!« sagte er jetzt.
»Ja natürlich. Von jener Menagerie stammend.«
»Ausgeschlossen!«
»Was ist ausgeschlossen?«
»Noch kein weißer Elefant ist nach Europa oder Amerika gekommen. Es ist ein indischer, und die Inder geben doch nicht etwa solch ein heiliges Tier her, am wenigsten eines von solch heller Farbe. Der ist ja wirklich ganz weiß zu nennen! Was hat der übrigens an seinen Zähnen?«
Er trat näher, Georg brauchte es nicht erst Zu tun, bemerkte es aber doch erst jetzt.
Die beiden gewaltigen Stoßzähne waren über und über mit ziemlich tief eingeschnittenen Hieroglyphen bedeckt.
»Das sind Buchstaben des Sanskrit!« sagte Juba. »Ich kann zwar kein Sanskrit, aber ich weiß, dass solche weiße Elefanten in ihre Stoßzähne Sprüche aus den heiligen Büchern der Inder eingeschnitten bekommen. Inder, mit denen ich verkehrt, haben mir genug davon erzählt. Dieser weiße Elefant stammt aus einem indischen Tempel.«
»Wie kommt der hierher?«
»Was weiß ich?«
»Richtig, es war eine dumme Frage von mir. Weshalb aber hebt er immer den Vorderfuß? Will er Pfötchen geben?«
»Er ladet uns ein, seinen Rücken zu besteigen.«
»Ach so! Richtig, so werden ja alle Reitelefanten dressiert.«
»Aber das wundert mich sehr.«
»Weshalb?«
»Heilige weiße Elefanten werden sonst niemals zum Reiten benutzt.«
»Daraus ersehen Sie, dass er schon in anderer Dressur gewesen ist.«
»Oder er gehört zu einem indischen Tempel, zu einer Sekte, die über das Reiten eben anders denkt.«
»Na, da wollen wir einmal aufsteigen.«
Und Georg schwang sich auf den ausgestreckten Fuß, schwang sich höher bis zum Rücken hinauf, setzte sich rittlings dicht hinter die Ohren.
Es gehörte aber ein tüchtiger Turner dazu, um das fertig zu bringen! Selbst die indischen, professionellen Elefantenreiter brauchen einen Haken dazu, sonst kommen sie nicht hinauf; für die anderen wird eine Leiter angelegt.
»Waffenmeister, was wollen Sie tun?«
»Auf diesem Elefanten reiten.«
»Können Sie einen Elefanten lenken?«
»Ich? Nee. Ich will mal sehen, wohin dieser Elefant mich lenkt.«
»Wir müssen vorsichtig sein!«
»Weshalb?«
»Es könnte hier doch noch ein bevölkerter Tempel existieren, mit fanatischen Priestern, das Tier könnte uns hinbringen.«
Georg machte es kurz.
»Juba, entweder kommen sie mit oder Sie bleiben unten; dann reite ich allein davon.«
Da schwang sich auch Juba hinauf, setzte sich hinter seinen Freund.
»Hotte hüh, Schimmel!« kommandierte dieser.
Sofort setzte sich der Elefant in Gang, nahm seinen Weg durch die Prärie.
Georg ließ ihm freien Lauf, hätte auch gar nicht gewusst, wie er ihn lenken sollte. Er hatte wieder die Hände in die Hosentaschen gesteckt, den Hut im Nacken und den Knüppel unterm Arm. So saß er seelenvergnügt hinter den Ohren auf dem Halse des Ungetüms.
»Bin doch gespannt, wo der uns hinbringen wird.«
Der Elefant, immer im Tritt gehend, strebte über die Savanne einem der isolierten Berge zu, hatte ihn nach einer Viertelstunde erreicht, umging ihn, und da sahen die beiden schon das offenbare Ziel.
Der Eingang zu einem buddhistischen Höhlentempel! Man braucht einen solchen nur einmal bildlich gesehen zu haben, um ihn immer wieder zu erkennen, und in der Bibliothek der »Argos« befand sich das Prachtwerk von Frederic Algot, der sechsundvierzig indische Höhlentempel beschreibt und bildlich wiedergibt, und Georg war in Bombay gewesen und hatte den Höhlentempel auf der Insel Elephantine besucht.
Er ist bei weitem nicht der größte, aber schon da steht man staunend und fragt sich, wie Menschenhände so etwas geschaffen haben können, alles aus dem Felsen herausgehauen, nur mit Hammer und Meißel! Gegen einen einzigen solcher indischen Höhlentempel, wenn man die herausgeschaffte Kubikmasse berechnet, verschwinden alle unsere modernen Tunnelbauten! Und nun diese Kunst dabei, diese Säulen, diese zahllosen Figuren, die man dabei hat stehen lassen! Also nicht draußen gefertigt und dann hineingetragen, sondern das ist noch derselbe ursprüngliche Felsen, an dem der Meißel vorübergeglitten ist.
Alle diese Höhlentempel haben drei Eingänge. Das heißt, der einzige Haupteingang hat immer drei Portikusse, er ist durch zwei Säulenreihen in drei Teile geteilt, und stets steht davor linkerhand noch eine einzige schlichte Säule.
Was diese Säulenanordnung in Bezug auf Gottheiten bedeuten soll, das sei hier nicht weiter erklärt, das würde zu weit führen, es mag nur angedeutet werden, dass diese einzige linke Säule bei jedem indischen Hause und jeder Hütte, in der ein Civa—Verehrer wohnt, durch einen einfachen Pfahl vertreten ist, der täglich mit heiligem Kuhmist eingesalbt wird.
So war es auch hier. Zwei Säulenreihen in dem mächtigen Tore, links davor eine einzige Säule.
Der Tempel war verlassen, sonst wäre diese einzige Säule und die vorderen der anderen nicht mit Schlingpflanzen überwuchert gewesen. Erst wo das Sonnenlicht nicht mehr hindrang, hörte die Vegetation auf.
»Oder doch nicht mehr von Priestern bewohnt, die ihn in Ordnung halten, wollen wir lieber sagen!« meinte Georg.
Der Elefant war vor dem Portale stehen geblieben, etwas rechts davon, vor einem kleinen Bassin, mit klarstem Wasser gefüllt, ziemlich tief, uneingefasst, wie man etwa solche Wasserlachen oftmals in Steinbrüchen findet. Auch dieses Wasserbassin gehört mit zum indischen Höhlentempel, es ist gewissermaßen das Weihbecken, wenn auch nicht überall vorhanden.
Also vor diesem Bassin war der Elefant stehen geblieben und hob den linken Vorderfuß.
»Absteigen? Hm. Sage mal, mein liebes Tierchen, kannst Du denn nicht —«
In diesem Augenblick dachte Georg an etwas.
Man saß doch in einer ganz beträchtlichen Höhe, auch für einen gewandten Turner sah es gar nicht so einfach aus, beim Abgleiten gerade auf den ausgestreckten Elefantenfuß zu kommen, man kann sich dabei leicht eine Beinverstauchung holen.
Und Georg hatte abgerichtete Elefanten gesehen, in Indien, nicht zu Kunststückchen dressiert. Der Elefant lässt sich auch noch anders besteigen und wieder verlassen. Er kniet auch auf Kommando nieder. Mit welcher Leichtigkeit das dieser nur scheinbar so plumpe Dickhäuter tut, ist ja bekannt. Und Georg hatte mehrmals gesehen, wie der betreffende Elefant dazu nur einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte, dann war das Tier sofort in die Knie gegangen, erst in die vorderen, dann in die hinteren.
Daran also hatte Georg gedacht, und da hatte er dem Elefanten auch schon eins mit der Faust auf den Kopf gegeben; sehr rücksichtsvoll braucht man dabei ja nicht zu sein.
Richtig, sofort knickte auch dieser weiße Elefant gehorsam vorn Zusammen.
Und in demselben Moment schoss Georg über den Kopf des Tieres hinweg, machte einen eleganten Hechtsprung — also kopfüber — in das Wasserbassin hinein.
Und wie er wieder auftauchte, da plätscherte auch schon sein treuer Begleiter neben ihm.
»I, Peitschenmüller, was machen Sie denn hier in dem Wasserbassin?! Oder ziehen Sie sich denn nicht wenigstens vorher aus, wenn Sie ein Bad nehmen wollen?!«
»Zum Henker noch einmal,« pustete Juba, »mit solchen Überraschungen verschonen Sie mich! Sagen Sie es wenigstens vorher, wenn Sie einen Elefanten niederknien lassen wollen!«
Lachend kletterten die beiden wieder aufs trockene.
Ihr Reittier war schon damit beschäftigt, seitwärts aus den Felsenspalten würzige Kräuter zu rupfen und zu verspeisen.
»Na, da wollen wir einmal diesen alten Höhlentempel besichtigen.«
Wer ihn angelegt, darüber sprachen die beiden jetzt nicht.
Es hätte auch wirklich keinen Zweck gehabt, und die Hauptsache wussten beide, nämlich dass alle diese Sunda-Inseln, die großen wie die allerkleinsten, ganz mit riesenhaften Bauten übersät sind, die man, in Ruinen liegend oder noch wohlerhalten, nur unter den Schlingpflanzen zu finden wissen muss. Da kann es einem aber so gehen wie einem holländischen Kaufmann, der seine Villa in der dichten Nähe von Batavia hatte, etwas hoch gelegen, inmitten von Obstkulturen, schon sein Großvater hatte hier ständig gewohnt, und vor kurzem entdeckte dieser Mann, dass sich unter seinem Kartoffelkeller ein mächtiger Höhlentempel erstreckt, der gegen zweitausend Steinfiguren enthält, in Überlebensgröße.
Und eben jetzt wieder hat man auf einigen kleinen Karolinen—Inseln — deutsches Gebiet — ungeheure Bauten entdeckt, ganz offen zu Tage liegend, wohlerhalten.
Mit unserer Menschheitsgeschichte, die wir uns zurechtgezimmert haben, ist es eben nichts! Widerwillig muss die exakte Wissenschaft endlich anerkennen, dass die phantastischen Okkultisten, die mit prophetischem Blick in die Vergangenheit schauen, doch recht behalten; nämlich dass es schon vor jener Zeit, da wir den Urmenschen auftreten lassen wollen, ganz gewaltige Völker mit der höchsten Kultur gegeben hat. Die alten Aegypter, sechstausend vor Christi, mögen die letzten Reste dieser dem Untergang geweihten Menschenrasse gewesen sein, und hier in Indien haben sicherlich buddhistische Sekten erst wieder aus den Ruinen dieses verschwundenen Geschlechtes gebaut oder noch Vorhandenes benutzt, das ist aber für unsere Kultur nun auch schon wieder verschwunden!
Und wenn die modernen Propheten recht behalten, dann ist in zwei— bis dreitausend Jahren ganz Europa wieder mit Urwäldern bedeckt, in denen Mongolen der Jagd auf Pelztiere obliegen. Erst aber musste Juba Riata noch einmal Feuer schaffen, unterdessen suchte Georg nach trockenen Ästen, die als Fackeln geeignet waren; denn aus dem Hintergrunde des Portals gähnte es ihnen schwarz entgegen.
Mit einer brennenden Fackel und noch einem genügenden Vorrat, drangen sie ein.
Der Feuerschein jagte Fledermäuse und andere fliegende Säugetiere, an denen gerade die Sunda—Inseln so reich sind, bis zur Größe eines Fuchses, ins Freie; doch war die Anzahl von Nachttieren, die hier hausten, nur mäßig, sie mochten anderswo noch bessere Schlupfwinkel in Masse finden.
Eine weite Halle, rechteckig gehalten, die ungewölbte Decke von stehengelassenen Säulen abgestützt, auch überall an den Wänden eine Säule dicht neben der anderen, aber nur von halber Höhe, auf ihnen menschliche Figuren in Lebensgröße, Männlein und Weiblein, in möglichst obszönen Stellungen, so wie immer in diesen indischer Tempeln. Es gehört mit zur Religion. Es verherrlicht die Schöpfungskraft.
Dann weiter hinten in der Mitte der stets vorhandene runde Kuppelbau, eine Art Kiosk, in dem man sich die Gottheit, welcher der betreffende Tempel speziell geheiligt ist, wohnend dachte, es heute noch tut. Er hat niemals einen Eingang, braucht ihn auch gar nicht zu haben, denn er enthält überhaupt keinen Raum, es ist voller Felsen, in dem die Gottheit wohnt, die doch natürlich den Stein durchdringen kann.
Zwischen den Wandsäulen führte hier und da ein Gang ab, in den Felsen hinein.
»Wohin mögen diese Gänge führen?« fragte Juba Riata.
»Nun nach den Nebenräumen, nach den Priesterwohnungen und dergleichen!« entgegnete Georg. »Mit solch einem Tempel war und ist ja immer noch vielerlei verbunden, meist auch ein Tierasyl, in welchem die brahmanischen und buddhistischen Priester — eine sehr lobenswerte Sitte — alle kranken Tiere, die ihnen gebracht werden, aufnehmen, um sie zu kurieren, aber die sie dem Besitzer niemals wieder ausliefern! Diese Tiere, ob nun Kanarienvogel oder Hund oder Pferd, werden dann bis an ihr Lebensende verpflegt. Wollen wir einmal hier in diesen ersten besten Gang eindringen?«
»Aber nicht weiter, als bis höchstens die Hälfte unserer Fackeln verbraucht worden ist!« sagte der besonnene Juba.
»Selbstverständlich nicht.«
»Na — das ist bei Ihnen gar nicht so selbstverständlich! Gesetzt den Fall, die Hälfte der Fackeln ist verbraucht und Sie sehen vor sich gerade etwas recht Interessantes — Sie würden doch nicht gleich den Rückweg antreten, sondern erst noch ein bisschen herumfackeln. Da kenne ich Ihren Charakter schon gut genug, aber das gibt’s nicht bei mir!«
»Nein, Juba, ich werde mich ganz Ihren Anordnungen fügen, obgleich ich weiß, dass Sie auch im Finstern den Weg zurückfinden würden.«
»Da irren Sie sich! Da trauen Sie meinen Sinnen zu viel zu. Ja, so lange geschlossene Räume erleuchtet sind, kann ich mich niemals in der Richtung täuschen, auch im verwickeltsten Labyrinth würde ich den einmal begangenen Weg zurückfinden, dasselbe gilt im Freien für die schwärzeste Nacht — aber in finsteren geschlossenen Räumen verlässt mich mein Orientierungssinn vollkommen.«
Eine Erscheinung, die man bei allen mit den schärfsten Sinnen ausgestatteten Naturmenschen konstatiert hat. Solche wilde und halbwilde Jäger können auch im geschlossenen Raume jederzeit die Himmelsrichtungen angeben, man mag sie noch so kreuz und quer und in Windungen geführt haben. Das ist ganz erstaunlich! Das hört aber sofort auf, wenn man ihnen während des Ganges die Augen verbunden hat oder wenn sie also durch finstere Räume gekommen sind. Hierüber sind schon die genauesten Untersuchungen angestellt worden.
»Na, wir werden uns schon wieder herausfinden, vorausgesetzt, dass wir wirklich in ein Labyrinth kommen.«
Ja, ein solches war es, in das sie drangen. Insofern, als immer einmal rechts und links ein Gang abzweigte, der Haupttunnel sich spaltete, und dass es keine Merkmale gab, nur nackte Felswände, und das nennt man doch wohl ein Labyrinth.
Juba Riata schlug möglichst immer eine östliche Richtung ein, die ursprünglich begonnene. Dann kam eine Treppe, ein Absatz, immer wieder hinaufführende Treppen, bis ihnen das Tageslicht entgegenschimmerte, dann die goldene Sonne.
Durch eine unverschließbare Felsentüre traten sie auf eine Art von Altan, mit gemauerter Brüstung versehen, und hatten einen herrlichen Anblick.
Auf dieser Seite, die sie vorhin bei dem Elefantenritt nicht umgangen waren, fiel der Berg ganz steil ab, also eine fast glatte Felswand, und unter ihnen in einer Tiefe von wenigstens hundert Metern, lag weit ausgebreitet eine Ruinenstadt.
Alles mit Vegetation bedeckt, überwuchert, selbst auf den Dächern wuchsen stattliche Bäume, trotzdem aber konnte man doch immer noch die ehemalige Stadt ganz deutlich erkennen, auch wie die zum Teil mächtigen Bauwerke gar nicht so sehr zerfallen sein konnten. Nur die Wurzeln der größeren Pflanzen hatten viel auseinandergesprengt, sonst aber durfte man nicht eigentlich von Ruinen sprechen.
»Sapristi, was ist das?!«
Juba Riata hatte es gerufen, und auch Georg drehte sich gegen die Felswand um, gegen die Tür, aus der sie getreten.
Ja, das war allerdings etwas ganz Überraschendes, was sie da erblickten.
Der Balkon, ursprünglich sicher eine natürliche Schöpfung, ein Vorsprung, war ungefähr sechs Meter lang und vier breit. Die Tür befand sich an der einen Ecke, und in der anderen Ecke nun war in der Felswand eine kleine Grotte, wie eine hohle Halbkugel, ungefähr einen Meter hoch und also ebenso tief, und in dieser kleinen Grotte nun zeigte sich das Rätsel.
Der Boden der Grotte, in welche die Morgensonne schien, war mit feiner Erde belegt, bunte Steinchen bildeten Figuren, man erkannte gleich, dass das Ganze einen Garten vorstellen sollte, die Blumenbeete waren eben durch Steinchen von allen Farben imitiert, ganz echt dagegen waren die Pfirsich— und Orangebäumchen, welche die Wege einfassten, mit Blüten, halbreifen und ganz reifen Früchten, nur dass solche Bäumchen sonst gar nicht in der Natur vorkommen, denn sie waren höchstens anderthalb Spannen hoch; und dennoch waren es ganz echte, natürliche Pfirsich— und Orangenbäume
»Ein chinesischer Miniaturgarten!« riefen die beiden wie aus einem Munde.
Dies bedarf einer Erläuterung.
Die Chinesen haben im Gartenbau und in der Pflanzenkultur etwas los durch ihre vieltausendjährige Erfahrung, durch ihre ganze Düftelei, verbunden mit unsäglicher Geduld, worin ja jeder Chinese groß ist. Aber wie in allen Künsten, so fallen sie auch hierbei ins Bizarre, ins Extreme. Aus einem gewöhnlichen Rettich ziehen sie — durch jahrhundertlange Überkultur — einen zentnerschweren Riesenkopf, und große Bäume lassen sie zwerghaft verkrüppeln.
Am besten scheint sich hierzu der Pflaumenbaum zu eignen, den sieht man wenigstens am häufigsten in solchen Miniaturexemplaren.
Der Theorie nach ist die Sache ganz einfach.
Von einem alten, möglichst kleinen Pflaumenbaum wird die kleinste, aber tadellose Frucht ausgesucht; der Kern muss sich im Topfe Zu einem fruchttragenden Baume entwickeln, bei sorgfältigster Pflege, nur dass immer die Entwicklung der Wurzeln verhindert wird. Dadurch und bei fortwährendem Topfwechsel entsteht ein viel kleinerer Baum, und die Hauptkunst liegt darin, ihn gesund zu erhalten und Früchte bringen zu lassen.
Von diesem kleinen Baume, der aber schon alt sein muss, wird die kleinste, kerngesunde Frucht gewählt, der Kern wird in noch kleineren Töpfen zu einem noch kleineren Bäumchen gezogen.
Und so geht es weiter, bis man ein spannenhohes Bäumchen gezogen hat, das erbsengroße Pflaumen hervorbringt. Und das ist nicht etwa mit so einem Schössling zu vergleichen, der unter günstigen Umständen auch einmal Früchte tragen kann, sondern es ist ein richtiger Pflaumenbaum, mit sich weit ausbreitenden Zweigen, nur eben in Miniaturausgabe, nur von Spannenhöhe. Übrigens gibt es auch eine besondere Behandlungsweise, wodurch nur der Baum selbst so zwerghaft wird, die Früchte aber behalten die ursprüngliche Größe.
Das ist aber nun leichter gesagt als getan. An der Erzeugung solch eines Zwergbäumchens arbeiten viele Generationen! Es soll einige hundert Jahre dauern! Natürlich wird nicht immer nur ein einziger Kern genommen, sondern man experimentiert im Anfange mit hunderten, die Hälfte missglückt gleich im Beginn, immer mehr Bäumchen gehen ein oder tragen keine Früchte mehr, bis der Ururururenkel froh ist, wenn er nur ein einziges spannenhohes Bäumchen mit jährlich reifen Früchten hervorgebracht hat. Es gehört chinesische Geduld dazu, dann ist auch ein Geheimnis dabei, wenn dieses auch nur in Erfahrung bestehen mag.
Solch ein tadelloses Zwergbäumchen wird dann von einem reichen Chinesen zu einem horrenden Preise gekauft, die letzte armselige Schluckerfamilie, die es Tag und Nacht behütet hat, wird für die Bemühungen einer ganzen Ahnenreihe bezahlt. Ist der Käufer ein Fürst oder hat er sonst die Macht dazu, so erhebt er den Mann auch gewöhnlich in den Adelsstand oder gibt ihm eine auskömmliche Beamtenstelle.
Aber nicht genug, dass der Liebhaber nun das Töpfchen mit dem Bäumchen hinsetzt und sich ab und zu an seinem Anblick weidet. Wenn er es sich leisten kann, so legt er sich eine ganze Sammlung von solchen Zwergbäumchen an, ordnet sie, und so entsteht daraus der chinesische Minaturgarten, der seinen Platz im sonnigen Zimmer auf einem Tische findet. Das heißt auf einem Gestelle von Gold und Elfenbein; denn wer sich solch einen Garten Zulegen kann, dem kommt es dann auch auf den Rahmen, auf die Stellage nicht an. Solch ein winziger Garten kostet Hunderttausende, wenn nicht Millionen. Und was ist weiter dabei? Bei uns in Europa, besonders in England, werden doch für Rosen und mehr noch für Orchideen fabelhafte Preise bezahlt. Richtiger aber vergleicht man diese Liebhaberei mit unseren Gemäldesammlungen. Und zahlt ein schwerreicher Kunstfreund für einen Rembrandt oder sonst einen alten Meister nicht auch gleich einige hunderttausend Mark bar auf den Tisch? Von Gemälden weiß der Chinese nichts, der liebt wieder solche winzige Gärtchen.
Im britischen Museum sind einige solcher chinesischen Miniaturgärtchen ausgestellt. Reizend! Sie haben auf einem gewöhnlichen Ausziehtische Platz. Die Blumenbeete sind durch farbige Gläser markiert, die Wege mit Goldsand bestreut, kleine Teiche und Flüsschen mit richtigem Wasser, winzige Brückchen führen hinüber, winzige Pavillons und dergleichen mehr, was zu einem Garten gehört. Auch die Büsche und Sträucher sind imitiert, aber die winzigen Bäume sind echt! Nur sind sie sämtlich eingegangen. In den achtziger Jahren war einmal ein Gärtchen mit grünenden und sogar blühenden Pflaumenbäumchen zu sehen, frisch aus China importiert, aber auch sie verloren bald die Blätter, gingen ein. Es muss doch wohl noch ein besonderes Geheimnis dazu gehören, um diese Bäumchen auch zu erhalten, und das verraten diese Züchter, eine Kaste bildend, nicht.
Solch ein chinesisches Miniaturgärtchen lag also auch hier vor.
Das hatten die beiden weltbewanderten Freunde sofort erkannt und es gleichzeitig ausgesprochen, als sie nur den ersten Blick darauf geworfen.
Nun muss es aber noch näher beschrieben werden, denn mit den Bäumchen und den bunten Steinchen allein war es noch nicht getan.
Also hier waren es einmal zwerghafte Pfirsich— und Orangenbäume, welche den Baumbestand bildeten, höchstens anderthalb Spannen hoch, erstere mit erbsengroßen, letztere mit haselnussgroßen Früchten, teils ganz reif, teils halbreif, und derselbe Baum trug dann auch schon wieder Blüten, wie es solche Obstbäume in tropischen Breiten, wenn ihre Akklimatisation einmal gelungen ist, immer tun.
Die zwischen den mit farbigen Steinen markierten Blumenbeeten hinführenden Wege waren ebenfalls mit Goldsand bestreut.
Auch das Wasser durfte bei einem chinesischen Garten natürlich nicht fehlen.
Aus einem Löchelchen in der Felswand stürzte ein kleiner Wasserfall herab, der dann als Bach durch den Garten floss, in der Mitte einen Teich bildend, in dem wieder auf einem Inselchen das unvermeidliche Entenhäuschen lag, alles wunderhübsch ausgeführt. Über den Bach führten an zwei Stellen Brückchen. Dann ein Pavillon. Und um nun den Eindruck zu verstärken, als ob hier wirklich Menschen hausten, den Dimensionen dieses Gärtchens entsprechend, war vor dem Pavillon ein Tischchen mit zwei Stühlen aufgestellt, aber alles im chinesischen Genre, darauf stand ein Teeservice mit winzigen Tässchen und was sonst noch dazu gehört. Nicht einmal die Tabakspfeifen fehlten, die ja schon in Wirklichkeit bei den Chinesen klein genug sind, der Kopf nur von der Größe eines Fingerhutes Diese Pfeifen hier brachte man am besten unter das Vergrößerungsglas.
Wir haben ganz ähnliche Spielereien — wobei auch alles ganz getreulich ins Zwerghafte übertragen wird übrigens auch bei uns einfach Puppenstuben oder ganze Puppenhäuser mit voller Einrichtung. Solche Puppenstuben kennt der Chinese nicht, er überträgt aber dasselbe auf den Garten, macht also einen Puppengarten daraus, jedoch nicht als Spielzeug für Kinder, sondern auch der würdevollste Mandarin hat an so etwas seine Freude.
Noch sei erwähnt, dass durch ein zweites Löchelchen in der Felswand der Bach den Garten wieder verließ, und in der Mitte zwischen diesen beiden Wasserlöchern befand sich eine größere Öffnung, auch etwa anderthalb Spannen, also dreißig Zentimeter hoch und zehn Zentimeter breit, mit Säulchen eingefasst, an denen sich zierliche Schlingpflanzen hinaufrankten, also den Zugang zu diesem Garten bildend, der auf seiner freien Seite mit einer hohen Mauer umgeben war, das heißt auch nur wieder anderthalb Spannen hoch. Für solch einen Luxusgarten natürlich keine einfache Mauer, sondern wiederum aus farbigen Steinen ausgeführt, die Mosaikmuster bildeten.
»Ein chinesischer Miniaturgarten!« hatten die beiden wie aus einem Munde gerufen.
Juba Riata, der ja schon früher die Frau Helene Neubert auf ihren Weltreisen begleitet, hatte solche bei vornehmen Chinesen zu sehen bekommen. Georg war noch viel weiter in der Welt herumgekommen, aber der einfache Seemann hatte niemals Zutritt in solche reiche Häuser gehabt, er hatte nur die Muster im britischen Museum gesehen.
»Sind diese Bäumchen aber auch echt?« war Jubas nächste Frage.
Ja freilich, da gibt es auch Imitationen, aus Wachs oder einer sonstigen Masse, für solche Liebhaber, die keine Hunderttausende für derartige Zwergbäumchen bezahlen können. Und auch bei diesen Imitationen liegen so wie hier abgefallene Früchte und weiße und rote Blüten am Boden.
Juba pflückte von den Bäumchen Blätter ab, Früchte, kostete sie.
»Wahrhaftig, das sind echte Zwergbäumchen!«
»Und dieser Garten wird doch zweifellos in Ordnung gehalten,« setzte Georg hinzu, »die Wege sind doch geharkt!«
Die beiden blickten sich an, sahen sich scheu um und blickten sich wieder an.
»Hier sind Menschen, welche diesen Garten pflegen!«
»Wenigstens mit einem haben wir zu rechnen.«
»Oder sollten etwa gar — ach, das ist ja Unsinn.«
»Was wollen Sie sagen?« fragte Juba. »Sprechen Sie es nur ruhig aus.«
»Mir stieg der wahnwitzige Gedanke auf, in diesem Gärtchen könnten Liliputaner hausen.«
»Was sind das, Liliputaner?«
So gebildet er auch sonst sein mochte, es war diesem ehemaligen Cowboy nicht zu verargen, dass er »Gullivers Reisen« nicht gelesen, noch nichts davon gehört hatte.
,Es dürfte überhaupt gar nicht so viel geben, die Swifts Originalwerk gelesen haben. Immer nur Auszüge für Kinder.
Georg erklärte es ihm kurz, spannenhohe Menschlein, Däumlinge.
»Nun,« meinte Juba, »an solche winzige Menschlein möchte ich ja allerdings Zweifeln, aber ich selbst habe in Singapore gesehen, wie in solch einem Gärtchen — da kommen sie ja schon!«
Aus dem Felsenlöchelchen, in dem der Bach wieder verschwand, kam eine Schar Entchen herausgeschwommen, den Dimensionen dieses Gärtchens entsprechend, ungefähr so groß wie Zaunkönige, aber sonst ganz richtige Enten, entweder ganz weiß oder in allen Farben schillernd.
Georg war ja erst Außer sich vor Staunen, aber er beruhigte sich bald, und wir wollen gleich erledigen, worüber sich dann die beiden ausführlich unterhielten.
Wir tun unrecht, die Chinesen ob ihrer Verkrüppelungskunst zu bewundern. Wir Europäer haben in Sachen der Zucht ins Riesenhafte und ins Zwerghafte doch noch viel, viel Erstaunlicheres geleistet. Man denkt nur nicht immer daran, weil es uns eben etwas ganz Geläufiges ist.
Abgesehen on der Pflanzenkultur. Wir wollen gleich mit der Tierzucht beginnen.
Die natürlichen Hundearten, die sich als konstant erwiesen haben, auch bei den verschiedensten Kreuzungen immer wieder als »echt« zum Vorschein kommen, sind in ihrer Anzahl gar nicht so groß. Die kleinste Art ist der Dachshund, die größte der Schäferhund.
Nun bedenke man, was wir alles aus den Hunden gemacht haben, wie wir deren Umwandlung in unsere Macht bekommen haben! Man nehme den riesenhaften Neufundländer und den zwerghaften Seidenhund an. Beide sind ein und dieselbe Art! Beide sind die gleiche Kreuzung vom Pudel und dem jetzt nicht mehr existierenden Pariser Fleischerhund. Die Umwandlung ins Zwerghafte wird durch Innenzucht erzielt, durch ständige Kreuzung enger Blutsverwandtschaft, wobei aber das Kunststück darin besteht, die sonst schädlichen Folgen solcher Innenzucht zu vermeiden, die Bastards gesund und fortpflanzungsfähig zu erhalten.
Fürwahr, wir haben aus den uns von der Natur gegebenen Hunderassen — und der Ursprung ist eigentlich ja nur der Wolf — etwas gemacht, worüber unsere Urahnen wie über Zauberei staunen würden. Und ist es nicht auch schon erstaunlich, wie unsere Spezialzüchter Pferde, Rinder, Schafe, Tauben, Hühner, Enten, Kaninchen usw. nach und nach verändern, sie teils immer größer, teils immer kleiner werden lassend, oder wie sonst Sport oder praktische Ausnutzung es wünscht?
Aber alle diese Zuchtversuche sind noch ganz neuen Datums, vor hundert Jahren hat sich noch niemand darum gekümmert, mit Ausnahme in Bezug auf den Hund, dessen Zucht wird auch in Europa schon seit Jahrtausenden kultiviert, und das ist es eben, deshalb gerade beim Hunde solche großartigen Erfolge.
Und dabei beginnen wir erst jetzt richtig zu erkennen, was sich da noch für unbegrenzte Möglichkeiten eröffnen! Gibt uns denn die Natur nicht selbst Fingerzeige, was alles noch möglich ist? Noch ums Jahr 1870 hat Doktor Alfred Brehm bezweifelt, dass Maultiere fortpflanzungsfähig sind, hält Erzählungen von solchen Geburten für Fabeln. Noch vor zehn Jahren hielt man es für ganz ausgeschlossen, dass Löwe mit Tiger Blendlinge erzeugen können. Heute ist beides eine ganz alltägliche Geschichte.
Hat denn aber die Natur nicht selbst einen echten Blendling zwischen Hund und Katze geschaffen, den Leoparden? Hat nicht das australische Schnabeltier einen ganz richtigen Entenschnabel? Ja, dieses rätselhafte Säugetier legt sogar Eier, aus denen seine Jungen hervorgehen! Diese ehemalige Fabel ist jetzt als Tatsache konstatiert worden!
O, niemand von uns ahnt, was in hundert Jahren solche Zuchtversuche gezeitigt haben können, wenn wir die Winke der Natur befolgen werden!
Und wie wir uns seit alten Zeiten her speziell auf die Zucht des Hundes geworfen haben, so die Chinesen sich auf die der Enten. Es ist ihre größte Liebhaberei. Aber wiederum besteht ihr ganzer Ehrgeiz hierin, möglichst kleine Enten zu erzielen, deren allerkleinstes die reichen Leute auf den Teichen ihrer Miniaturgärten schwimmen lassen.
Dass wir solche Zwergentchen von der Größe eines Sperlings oder gar eines Zaunkönigs nicht bei uns zu sehen bekommen, darüber dürfen wir uns nicht wundern. Das sind doch Kostbarkeiten, welche die reichen Leute wie Juwelen für sich behalten, solche lebende Raritäten lassen sich auch nicht so leicht wie Juwelen oder Gemälde in Museen oder anderswo ausstellen, und wahrscheinlich würden die äußerst empfindlich gewordenen Tierchen den Transport gar nicht vertragen, so wenig man in Europa die hummelgroßen Kolibris sieht, obgleich manche Gegenden von Amerika doch davon wimmeln.
Na, und wenn sich diese walnussgroßen Entchen nun auch bei uns einbürgerten, würden wir noch etwas Staunenswertes daran finden?
Die chinesische Zuchtkunst hat uns ja schon so etwas geliefert, man findet die Tiere in den ärmsten Familien und niemand denkt sich noch etwas Außergewöhnliches dabei
Unsere Goldfische!
Der Goldfisch ist ursprünglich ein Goldkarpfen gewesen oder eine Goldkarausche, ist es ja eigentlich heute noch. Jedenfalls ein großer Fisch von mindestens ein Pfund Schwere. Durch vieltausendjährige Zucht hat der Chinese aus diesem den heutigen Goldfisch gemacht, sein Gewicht auf das hundertfache herabgebracht und dementsprechend auch seine Größe.
Die Goldfische pflanzen sich auch nicht von allein fort. Allerdings ist keine künstliche Befruchtung nötig, wie dies etwa bei den Forellen geschehen kann, sie ist bei den Goldfischen überhaupt nicht möglich, sie müssen zur Selbstbefruchtung veranlasst werden, was aber höchst umständlich ist, es ist ein Geheimnis dabei, das jetzt meist von französischen Züchtern gehütet wird, und immer wieder einmal müssen neue Goldfische aus China bezogen werden.
Also wer staunt denn den Goldfisch im Wasserglase heute noch als ein Wunder der Zuchtkunst ins Zwerghafte an? Niemand. Weil es etwas Alltägliches ist. So ist eben der Mensch. So sieht er auch, wie die Raupe sich einspinnt, wie aus der Puppe ein Schmetterling hervorkriecht, ohne noch ein rätselhaftes Wunder darin zu schauen. Als Kuriosität sei noch erwähnt, dass ums Jahr 1750 ein englischer Seekapitän die ersten weißen Mäuse aus China mit nach Europa brachte, fünf Stück, sie dem englischen König Georg verehrte, und der war über diese wunderbaren, noch nie gesehenen Mäuse so entzückt, dass er den Kapitän durch Ritterschlag in den Adelsstand erhob.
Nun wolle man einmal heute nach hundertfünfzig Jahren einem König fünf weiße Mäuse Zum Präsent machen! Da käme man wahrscheinlich ins Irrenhaus. So hatten die beiden Freunde gesprochen, während sie die winzigen Entchen beobachteten.
Diese benahmen sich ganz wie ihre normalen Vettern, schwammen langsam stromaufwärts, putzten sich, schnatterten mit dünnen Stimmchen, schienen im Wasser etwas für menschliche Augen Unsichtbares zu fressen.
»Die müssen doch gefüttert werden!« flüsterte Georg.
»Ja natürlich. Dass hier Menschen vorhanden sind, mindestens einer, darüber sind wir uns doch schon vorhin einig geworden.«
Georg wollte eben daran gehen, eines der Tierchen zu greifen, als er wie erschrocken die Hand zurückzog und dafür seines Freundes Arm packte.
Der hatte es auch schon gesehen.
Aus dem kleinen Felsentore war ein Figürchen getreten.
Ein winziger Mensch, wollen wir gleich sagen, kaum eine Spanne hoch.
Nur drei Sekunden war er zu sehen gewesen, dann war er wieder verschwunden.
Er hatte offenbar die beiden für ihn riesenhaften Menschen erblickt, war erschrocken, hatte sich blitzschnell umgewandt und sich mit einem Sprunge wieder in Sicherheit gebracht.
»Nun hört aber die Gemütlichkeit auf!« flüsterte Georg ganz atemlos. »Juba, haben Sie’s gesehen?!«
»Ich habe die Gestalt gesehen.«
»Das war ein Mensch!«
»Dem Anschein nach, ja.«
»Er hatte ein blaues Pumphöschen und ein rotes Jäckchen an.«
»Und auf dem Kopfe eine weiße Mütze mit gelber Troddel.«
»Ein richtiges Menschengesichtchen von gelber Farbe.«
»Ein echt chinesisches Gesicht.«
»Und in dem Händchen hatte er etwas wie eine Sichel.«
»Die habe auch ich bemerkt.«
So deutlich hatten die beiden das Figürchen gesehen, wenn auch nur für drei Sekunden.
»Na, nun könnte man aber doch gleich lang hinschlagen!« fuhr dann Georg in seiner Weise fort. »Juba, halten Sie denn so etwas nur für möglich? Wir träumen doch nicht!«
»Nein, das tun wir nicht, und ich begreife nur nicht recht, worüber Sie denn so Außer sich geraten.«
»Na, Juba, nun hören Sie aber auf! Ein Mensch, der nicht größer ist als ein normaler Bleistift!«
»Und schon zehn übereinandergesetzte Bleistifte dürften wohl die Länge seines normalen Menschen ergeben. Wenn wir Hunde züchten können, die nur den Zwanzigsten Teil eines großen Köters wiegen, die Chinesen ebenso Enten und Fische, welche letztere sogar nur noch den hundertsten Teil des Gewichtes ihres Ahnherrn haben, weshalb soll es denn nicht auch einmal chinesischer Geduld gelingen, solche winzige Menschlein zu züchten?«
Ja, eigentlich hatte Juba Riata ganz recht. Es will einem nur so schwer in den Kopf hinein, bis man es einmal gesehen hat. Und dann will man’s immer noch nicht recht glauben.
So wie es jetzt Georg erging.
Er hatte das winzige Menschlein mit eigenen Augen ganz deutlich gesehen und doch mochte er es nicht glauben.
So hat man auch Jahrhunderte lang an die Zwergvölker Zentralafrikas gezweifelt, oder an den Gorilla, hat alle Berichte von eigentlich sonst durchaus glaubwürdigen Augenzeugen als Fabeln verspottet — bis man solche metergroße Zwergmenschen und den ersten Gorilla nach Europa gebracht hat.
130. KAPITEL.
DER BROBDINGNAG.
Das Menschlein ließ sich nicht wieder blicken.
»Er hat uns erblickt, ist erschrocken, hat vor uns die Flucht ergriffen!« sagte Georg, nun einfach mit der geschauten Tatsache rechnend. »Das verrät doch schon einen gewissen Grad von Intelligenz.«
»Nun, jede Fliege flieht auch, wenn man ihr mit dem Finger nahe kommt, deshalb braucht sie nicht gerade sehr intelligent zu sein!« meinte Juba. »Da spricht für seine geistige Fähigkeit schon eher, dass er bekleidet gewesen ist.«
»Wenn Sie mich so korrigieren wollen, dann mache ich Sie darauf aufmerksam, dass man auch Äffchen kostümieren kann.«
»Er hatte eine Nadel in der Hand.«
»Die kann man einem Affen auch in die Hand gehen.«
»Worüber streiten wir uns eigentlich, Waffenmeister? Verstecken wir uns und beobachten wir weiter, vielleicht kommt er wieder.«
Sie legten sich auf beiden Seiten der Grotte hin, so dass sie, wenn es nötig war, auch schnell den Kopf zurückziehen konnten, spähten über die kleine Mauer in den Garten hinein, nur noch ganz leise flüsternd, dabei aber auch den großen Haupteingang nach dem Balkon im Auge behaltend, um nicht etwa unangenehm überrascht zu werden.
Die Entchen ergingen sich nach wie vor im Wasser, die hatten sich nicht vor den großen Menschen gefürchtet.
Nicht lange währte es, so fiel den beiden auf, wie sich das bisher ganz klar gewesene Bächlein plötzlich zu trüben begann, eine milchige Farbe annahm, doch währte das nicht lange, so klärte sich das Wasser wieder.
Aber für die Entchen hatte das genügt. Mit Gier verschlangen sie das Wasser, oder das, wodurch dieses getrübt worden war, und folgten der letzten weißen Trübung auch hinaus, verschwanden also wieder durch das Felsenlöchelchen, durch das der Bach abfloss.
»Man hat etwas in das Wasser geschüttet, was den Tierchen sehr gut schmeckt,« sagte Juba, »so hat man sie wieder hinausgelockt.«
Wenn das so war, dann musste man aber auch die Hoffnung ausgeben, noch einmal den Liliputaner im Garten erscheinen zu sehen.
Jetzt erst wurden sie in dem Gärtchen etwas handgreiflich, überzeugten sich, dass die Porzellantässchen von dem Tische abzuheben waren, dass die Kanne zur Hälfte auch noch mit einer gelben Flüssigkeit gefüllt war.
»Das scheint richtiger Tee zu sein!« meinte Georg.
»Und diese farbigen Steine, welche die Blumenbeete markieren, sind echte Edelsteine, Rubine und Saphire und Smaragde und dergleichen!« fügte Juba hinzu, sich mit diesen beschäftigend.
»Es stehen zwei Tässchen da; demnach hätten wir schon mit zwei solcher Liliputaner zu rechnen.«
»Und das ist auch echter Goldstaub, mit denen die Wege bestreut sind. Natürlich, bei solchen Miniaturgärtchen wird nicht gegeizt. Aber hier hinter dem Pavillon lehnt sogar die winzige Harke, mit der die Wege geharkt worden sind.«
»Und durch das Türchen des Pavillons sehe ich eine Art von Sofa — ach, wie niedlich!«
So tauschten sie gegenseitig die Resultate ihrer Untersuchungen aus.
»Ob wir nicht hinter diese Felswand in die Innenräume gelangen können?« lautete dann die Frage.
Sie erhoben sich und verließen den Balkon, die Mitnahme ihrer Fackeln nicht vergessend.
Noch ehe die Treppe wieder begann, führte ein Gang nach rechts ab, in dem aber schon wieder Finsternis herrschte
Die letzte brennende Fackel war natürlich schon längst erloschen. Doch jetzt war der erfahrene Hinterwäldler jederzeit imstande, sich Feuer zu verschaffen, er hatte die dazu geeigneten Holzstücke immer bei sich.
Nach drei Minuten brannte wieder ein kieniger Ast, sie drangen in den Felsentunnel ein, der nach jener Richtung führte, in der sich der Balkon mit dem Gärtchen befand, nur eben dass sie davon schon durch eine dicke Felswand getrennt waren.
Nicht lange währte es, so wurde der Tunnel immer niedriger und schmäler, so dass sie schon gebückt gehen mussten, ehe sie aber auf Händen und Füssen kriechen mussten, was dann auch notwendig war, wobei sie nur schlecht die Fackel brennen lassen konnten — der Qualm hätte sie ja erstickt — schimmerte ihnen Tageslicht entgegen.
Der vorankriechende Juba löschte die Fackel, jetzt musste der Weg wirklich auf Händen und Füssen fortgesetzt werden.
Da aber konnte er sich schon wieder aufrichten, gleich darauf auch Georg.
Die Überraschung war eine große.
Nach allem, was sie dort draußen Zwerghaftes gesehen, hatten sie doch auch hier mit ganz kleinen Dimensionen gerechnet, das letzte Kriechen auf Händen und Füssen hatte sie auch schon darauf vorbereitet.
Statt dessen standen sie jetzt in einer ungeheuren Halle, die ihr Licht teils aus seitlichen Felsenspalten erhielt, teils von einer großen Öffnung an der Kuppeldecke, die mit einem Fenster von Milchglas geschlossen zu sein schien.
Die weite Halle, deren Durchmesser sich nicht so leicht abschätzen ließ, war eingerichtet, möbliert.
Aber es dauerte einige Zeit, ehe sich die beiden zurecht gefunden, ehe sie diese Möblierung erkannt hatten.
Und dann fühlten sie sich förmlich ganz zusammenschrumpfen.
Das in der Mitte stehende Gerüst konnte nur ein Tisch mit vier Beinen sein, ins Riesenhafte übertragen. Vier Meter hoch, oben die Plattform dreimal so breit und lang, die Beine vierkantige Balken von einem Viertelmeter Durchmesser.
Dass es ein Tisch war, konnte man am deutlichsten auf dem daneben stehenden Stuhle erkennen, der ganz diesen Dimensionen entsprach.
An dem einen Tischbein lag am Boden ein Schwert, nicht spitz, sondern vorn abgerundet, dessen Klinge mindestens dreiviertel Meter lang war, fast ebenso lang aber auch der hölzerne Griff. Man wurde an ein gewöhnliches Tischmesser erinnert, nur ins Riesenhafte übersetzt.
Das war das erste, was die beiden erblickten, den Stuhl, den Tisch und dieses Messer, um alles andere kümmerten sie sich vorläufig nicht.
»Juba, wir haben uns in der Hausnummer geirrt!« flüsterte Georg. »Wir wollten zu den Liliputanern und sind aus Versehen zu den Brobdingnags gekommen.«
»Brobdingnags? Was ist das?«
»So nannten sich die Riesen, zu denen Gulliver verschlagen wurde, nachdem er das Land der Liliputaner hinter sich hatte. Riesen so groß wie die Kirchtürme, an die hundert Ellen hoch, und Gulliver war immer noch eine winzige Maus dagegen.«
»Solche Dimensionen können hier nicht in Betracht kommen!« entgegnete Juba gelassen. »Nehmen wir an — und ich werde mich nicht irren — jener Tisch sei vier Meter hoch. Die Höhe eines normalen Tisches beträgt fünfundsiebzig bis achtzig Zentimeter, die eines normalen Menschen hundertachtzig. Das ist also zweieinhalb Mal so viel. Demnach könnte der Mensch, der hier haust, nur Zehn Meter hoch sein.«
»Nur zehn Meter?! Hören Sie, Juba — wir wollen lieber machen, dass wir wieder zu den Panthern und Nilpferden hinauskommen, die sind doch gegen solch ein menschliches Ungeheuer noch unschuldige —«
Hinter ihnen knallte es. Sie brauchten sich nur umzudrehen, so sahen sie die Ursache. In dem Loch, aus dem sie hervorkrochen, war eine Verschlussplatte heruntergefallen, nicht von hier draußen wieder aufzuziehen, sie kam von oben aus einem Schlitz.
Einige Bemühungen, sie wieder hochzuschieben, zeigten sich erfolglos.
»So, jetzt ist uns das Mauseloch versperrt, zum zweiten Male so niederträchtig gefangen — was ist das?!«
Ein Bollern ertönte, oder richtiger gesagt erdröhnte. Ja, dieses Geräusch war nur ein Bollern Zu nennen. Sie erkannten es gleich, wenn sie so etwas auch noch niemals gehört hatten. Es war das Husten eines Menschen. Das hatten sie wohl schon oft genug gehört, aber noch niemals von solch furchtbar dröhnender Stärke.
Und jetzt ein anderes Geräusch, ein gewaltiges Klappen — es konnte nur von Schritten herrühren, ins Ungeheure übersetzt.
»Juba, hier können wir nicht bleiben — alle guten Geister — fix dort untern Schrank!«
Sie eilten dorthin, wo das Ding an der Wand stand — ein ungeheurer Kasten, aus Brettern gefertigt — mindestens Zwei Wohnetagen hoch und dementsprechend breit und dick — nämlich wenn man überzeugt war, dass das Ding einen Kleiderschrank vorstellen sollte der untere Boden, auf gewaltigen Klotzfüßen ruhend, noch einen halben Meter über den Steinfliesen erhaben.
Dorthin rannten sie und krochen darunter; aber ganz einen halben Meter betrug die Höhe nicht, und da kann man nicht mehr auf Händen und Füssen kriechen, wenn sie auch nicht direkt auf dem Bauche zu rutschen brauchten.
Dagegen konnten sie sich dann, nachdem sie sich umgedreht hatten, vollkommen ausstrecken und waren immer noch geborgen, konnten den Arm ausstrecken, ohne mit der Hand hervorzugreifen.
Und da kam es herein, dort, wo der Steinmetz in der Felswand ein großes Loch gelassen hatte, ein hohes, weites Portal.
Ein Mensch!
Aber nun was für einer!
Juba hatte sich vorhin nicht verrechnet, höchstens ein klein wenig Zu niedrig taxiert.
Zehn Meter hoch war dieser Kerl sicherlich, dabei breitschultrig und sehr fleischig. Wenn dieses menschliche Ungetüm fünf bis sechsmal so groß war als ein anderer, normaler Mensch, so braucht man nur alles mit fünf bis sechs zu multiplizieren, um auch alle anderen Dimensionen zu haben. Also Finger von einem halben Meter Länge — ohne Berechnung der ganzen Hand — und dabei sehr fleischige, dicke, kulpige Finger, und der kugelrunde Kopf von einem ganzen Meter Durchmesser.
»Alle himmlischen Heerscharen!« hauchte Georg. »Juba, das ist noch ein Junge, noch nicht einmal ein Jüngling, der hat noch nicht die Kinderschuhe ausgezogen, der kann noch wachsen!«
Das Kindische lag wenigstens im Anzuge, der auch hier aus blauen Pumphosen und einer roten Jacke bestand. Dazu Strümpfe aus einem grauen, Großen Zeuge, an den vier Fuß langen und dementsprechend breiten Sohlen hölzerne Sandalen, aus den dicksten Brettern, mit Stricken befestigt.
Kindlich war sogar das gelbe Gesicht zu nennen, wenn man sich nur erst einmal an die ungeheuren Dimensionen gewöhnt hatte. Bartlos und sehr gutmütig. Die blauen Augen, so groß und rund wie Untertassen, glotzten ganz freundlich, sonst freilich alles andere erschrecklich, besonders dadurch, weil der Unterkiefer etwas weit vorsprang und das Maul überhaupt sehr groß war, immer etwas offen stand, so dass man die ungeheuren Schneidezähne sah. Und Außerdem machte das hässliche und doch so gutmütige Gesicht doch den Eindruck von unsäglicher Dummheit.
Jetzt blieb er stehen, nahm die Zipfelmütze ab, kratzte sich nachdenklich, wobei das dumme Gesicht noch dümmer wurde, den Riesenschädel, der vollständig nackt war.
»Bei dieser Zucht ins große sind die Haare verloren gegangen!« meinte Juba.
»Neenee, das ist noch ein Baby, das bekommt erst noch Haare!« erwiderte der Waffenmeister, natürlich immer im leisesten Flüstertöne, nur hauchend. »Aber sein Gehirn haben die Züchter nicht größer machen können, das stimmt. Wenn es noch kein Pulver gebe, der würde es sicher nicht erfinden — nicht einmal das rauchlose Insektenpulver.«
Die Folge dieses nachdenklichen Kopfkratzens war, dass das Ungeheuer den Raum wieder verließ, durch dasselbe Tor, durch das gekommen war.
»Ja, Juba,« begann jetzt Georg in ganz anderem Tone, wenn auch noch immer im flüsterndsten, »was sagen Sie nun hierzu?«
»Hier haben die Chinesen einfach einmal die Zucht nicht ins Kleine, sondern ins große getrieben!« lautete die Antwort. »Denn chinesisch ist diese ganze Sache, einen chinesischen Typus hatte dieser Mensch, trotz seiner runden Augen, besonders durch die hervortretenden Backenknochen.«
»Ganz einfach, sagten Sie? Wissen Sie, Juba, ich bin ja unter Umständen auch so ein Nevermindman wie Sie, aber ganz einfach finde ich diese Sache denn doch nicht. Ein Mensch von zehn Meter Höhe — der geht ja auf gar keine Kuhhaut.«
»Wir müssen uns aber damit abfinden, dass so etwas doch möglich ist. Und ich garantiere Ihnen, dass ein stattlicher Bernhardiner fünf bis sechsmal so groß ist als ein normaler Dachshund, der keine künstliche Zwergzucht ist, sondern zu einer konstanten Rasse gehört.«
Juba hatte recht. Es ist gar nicht einzusehen, weshalb nicht auch einmal solch große Menschen gezüchtet werden sollen, denn von einer Züchtung muss man dabei natürlich sprechen. Aber wer hat sich denn schon einmal mit solchen Menschenzuchtversuchen abgegeben?
»Gewiss, es ist schon einmal geschehen. Es scheint tatsächlich nichts Neues unter der Sonne zu geben, man mag ersinnen, was man will, immer ein Anklang wenigstens ist immer schon einmal dagewesen.
Friedrich Wilhelm I. der Vater des alten Fritzen, der hat diesen Versuch, möglichst große Menschen zu züchten gemacht, indem er, um für seine Garde recht viel »lange Kerls« zu bekommen, diese mit riesenhaften Jungfrauen kopulierte, ob sie wollten oder nicht. Das darf man doch wohl einen ganz regelrechten Züchtungsversuch nennen.
Dass dies aber ein falscher Weg ist, um sehr große Menschen zu erzeugen, das ist nun schon längst erwiesen. Unsere Tierzüchter sind ganz davon abgekommen, Eltern mit gleichen charakteristischen Merkmalen zu paaren, in der Hoffnung, dass in den Nachkommen diese charakteristische Körperbeschaffenheit sich vermehrt zeigen wird. Worauf es nach der neuesten Theorie bei der Zucht ins große und Schwere ankommt, das kann hier nicht erläutert werden. Nur das sei hier noch angedeutet, dass man jetzt durch Einspritzen eines Präparates der Schilddrüse ins Blut ein Mittel gefunden hat, um das Wachstum ungeheuer zu fördern. Doch haben diese Versuche erst begonnen, vorläufig gehen die Versuchstiere auch noch regelmäßig ein; immerhin, die Möglichkeit ist bereits erwiesen.
Für Georg hatte schon der Bernhardiner und der Dackel genügt, er hatte gegen die Möglichkeit solch eines menschlichen Ungetüms nichts mehr einzuwenden.
»Gut. Also behandeln wir die zweite Frage: Wie kommen wir hier wieder — — pst, hier riecht’s nach Schweinsknochen mit Sauerkraut!«
Vor allen Dingen aber krachten wieder die Holzsandalen, der Brobdingnag, wie wir das menschliche Ungeheuer nach klassischem Muster gleich nennen wollen, kehrte zurück.
Zwischen seinen Händen trug er vor sich eine runde Badewanne, aus der weiße Kugeln hervorsahen, so ungefähr von der Größe, wie auf solchen Kugeln Zirkuskünstler mit den Füssen laufen, und sie dampften.
»Das sind Klöße, Mehlklöße!« entschied Juba.
»Nein, das sind Schweinsknochen mit Sauerkraut. Na ja, die Dinger da oben sind ja Klöße, das stimmt, aber die gehören doch ganz selbstverständlich Zu den Schweinsknochen. Und die rieche ich aufs allerbestimmteste, auf das Sauerkraut will ich weniger schwören.«
Der Brobdingnag setzte die Badewanne auf den Tisch, sich selbst auf den Stuhl, bückte sich, hob das Schwertmesser auf und begann zu speisen.
Wenn man das speisen nennen konnte. Wie der sein Maul dabei aufriss! Und dieses Schmatzen!
»Mahlzeit,« sagte Georg, freilich vorsichtig genug, »gesegneten Appetit will ich ihm weiter nicht wünschen, das hat der nicht nötig. Herrgott, frisst der Kerl da Schweinsknochen mit Klößen und lässt mich ruhig zusehen! Und der verschluckt sogar gleich die Knochen mit. Haben Sie’s gesehen?«
Ja, Juba hatte es gesehen.
»Dieses Pökelfleisch hat einem normalen Schweine angehört, da braucht der die Knochen nicht erst lange abzunagen, die bedeuten für den nichts anderes als für uns Sperlingsknöchelchen, oder von Krammetsvögeln, will ich sagen, die man recht gut mit verknuspern kann.«
»Wieviel solcher normalen Schweine mag der fressen — pardon, verspeisen können?«
»Ein ganzes ist sicher in der Schüssel. Sehen Sie, jetzt zermalmt er zwischen den Zähnen einen ganzen Schinkenknochen, als wär’s ein Froschkeulchen.«
»Ja, es sind nicht nur Schweinsknochen, ich habe mich geirrt, aber jedenfalls ist es Pökelfleisch, das roch ich gleich.«
Der Essende ließ ein mächtiges Stück Fleisch auf dem Wege zum Munde vom Messer rutschen, klatschend schlug es auf den Steinboden auf.
»Dieser kleine Bissen hätte mich totgeschlagen, wenn ich gerade darunter gestanden!« musste Georg wieder bemerken.
Der Bissen wurde einfach aufgehoben und in den Mund gesteckt.
»Der Kerl frisst — pardon, speist gerade wie ein Schwein!« setzte Georg seine Bemerkung fort, und das mit Recht, denn es kam fortwährend vor, dass der Riese etwas fallen ließ, auf den Tisch, auf die Knie oder gar auf den Boden, es wurde einfach aufgenommen und in den Rachen gesteckt.
Jetzt rutschte von dem Messer ein angespießter Kloß ab und fiel zur Erde.
Das konnte doch kein gewöhnlicher Mehlkloß sein, so wie ein Gummiball springt und rollt kein gewöhnlicher Mehlkloß.
Der ungeheure Ball rollte gerade auf den Schrank zu und der Riese war schon aufgesprungen, um dem Flüchtling nachzusetzen!
»Juba, dort kommt unser Schicksal angerollt! Und auf dieser Kugel steht für uns keine Göttin Fortuna! Wenn das Luder nicht noch rechtzeitig seinen Lauf bremst! Jetzt heißt’s schnellstens zu überlegen, was besser ist: Zu beten oder auszukneifen!«
Es war unserem Helden durchaus nicht humoristisch Zumute. Es war nur seine Ausdrucksweise.
Und richtig, der Riesenkloß rollte unter den Schrank!
Und schon war das Ungeheuer, das Messer in der Faust, niedergekniet, bückte den Oberkörper noch tiefer, die beiden sahen den Kopf erscheinen, wie die Augen unter den Schrank klotzten.
Sah er die Menschlein?
Jetzt griff die Hand unter den Schrank. In Höhenstellung wäre sie nicht darunter gegangen. Die beiden hatten sich geräuschlos möglichst gegen die Wand geschmiegt. Zuvorderst lag Georg, und er brachte es fertig, den Riesenkloß gerade gegen diese Hand zu dirigieren.
Er wurde gefühlt und vorgeschleudert.
Die Hand zog sich zurück, schon glaubten die beiden erleichtert aufatmen zu dürfen.
Da aber glotzten die tellergroßen Augen noch einmal unter den Schrank, noch einmal tastete die Riesenfaust.
Und da wurde Georg von ihr am Fuße gepackt und vorgezogen.
Der Brobdingnag saß am Boden und hatte das winzige Menschlein in seiner Faust; denn ein Püppchen bedeutete dieser Mensch nur für ihn.
Ist ein Mensch hundertfünfundsiebzig bis hundertachtzig Zentimeter groß, so war es nur eine Puppe von dreißig Zentimeter Länge, nichts weiter.
Den ungeheuren Mund weit geöffnet, so saß der Brobdingnag da und betrachtete die lebendige Figur.
»Ja, da staunst De wohl, was?« sagte Georg.
Nein, es war unserem Helden durchaus nicht humoristisch zumute.
Jetzt hatte er dieses Riesengesicht in Meterweite vor sich, jetzt erst erkannte er den blödsinnigen Ausdruck desselben, und er erkannte weiter, dass er von diesem menschlichen Ungeheuer nichts Gutes zu erwarten hatte.
Ein blödsinniges Kind, das einen Menschenkäfer erwischt hat, mit ihm spielen will — das unglückliche Tier hat sicher nichts Gutes von diesem Kinde zu erwarten, und ist es noch nicht weit über die Bewusstseinsgrenze hinaus, so braucht es vielleicht nicht einmal blödsinnig oder grausam veranlagt zu sein. Wahrscheinlich wird das »Spiel« mit dem Ausreißen der Beine beginnen.
Georg war sich über sein Schicksal in dieser Faust, deren Finger seinen Leib schmerzhaft umspannten, nicht im unklaren.
Aber er konnte nicht anders sprechen, als nun einmal seine Ausdrucksweise war — die Ausdrucksweise von einigen zehntausend Seeleuten, deutschen Seeleuten.
Noch niemand hat einen Schiffsuntergang so geschildert, wie er in Wirklichkeit geschieht.
Niemand würde es auch glauben.
Es ist überhaupt zu schildern gar nicht möglich.
»Die einen lagen betend auf den Knien, die anderen fluchten gotteslästerlich.«
So heißt es dann wohl.
Ach Du lieber Gott!
Nichts als blutige Witze und Spott und Hohn — bis das feuchte Grab allen Qualen ein Ende gemacht hat.
Zwei große Reisen als Schiffsjunge zwischen echten deutschen Matrosen genügen, um diesen Charakter fürs ganze Leben einzuprägen. Je härter einem das Schicksal anpackt, desto blutiger wird es verhöhnt, verlacht.
Prometheustrotz!
»Ja, da staunst De wohl, wat?«
Der Brobdingnag richtete sich schwerfällig auf, das Messer ließ er neben dem Schranke am Boden liegen, ging zurück, legte die in seinen Händen wie eine Puppe erscheinende Person Georgs auf den Tisch und setzte sich davor
Das Maul blieb weit geöffnet, die Augen glotzten.
Schweigend, nur mit rasselndem Atem, begannen die Riesenfinger der anderen Hand das lebende Püppchen zu betasten, zu untersuchen. Die Fingerchen, die Ärmchen, besonders die Haare; nicht minder aber auch die Bekleidung.
Dabei kamen als Zeichen des Staunens nur grunzende Laute aus dem zähnestarrenden Rachen.
Die erste Besichtigung von vorn und hinten war beendet.
Jetzt wurde das Püppchen zur weiteren Untersuchung kopfüber gedreht.
Wie soll sich ein dreißig Zentimeter hohes Püppchen, wenn es lebendig wäre, gegen die Kraft eines erwachsenen Mannes wehren können?
Georg hatte bei alledem, auch als er so mit dem Kopfe nach unten hing, nur einen einzigen Gegenstand im Auge, der auf dem Tische lag.
Das Püppchen wurde wieder umgekehrt und so auf den Tisch gesetzt, wie eben ein kleines Kind eine Puppe hinsetzt. Erst ein Schlenkern, dass die Beine nach vorn fliegen und dann ein schnelles Stauchen.
»Bist Du ein Mensch? Kannst Du mich verstehen?!« schrie Georg in höchster Todesnot.
Noch grenzenloseres Staunen in dem blödsinnigen Gesicht.
»Häoo, häoo!« kam es unartikuliert aus dem geöffneten Maule hervor.
Jetzt wurde das Püppchen freigegeben, aber vorsichtig legten sich die Riesenfinger als geschlossener Wall herum, und um sich keine Bewegung entgehen zu lassen, hatte das Ungetüm seinen Kopf mit dem Kinn auf die Tischplatte gelegt.
Georg sprang empor. Noch fühlte er sich unverletzt
Zunächst kreuzte er die Arme über der Brust, und in ganz besonderem Tone erklang es:
»Ich oder Du! Jetzt wird es sich entscheiden, ob der normale Mensch, wie ihn Gott geschaffen hat, mit der Behauptung, es sei sein Ebenbild, Herr aller Kreaturen ist, oder ob Du ungeheuerliche Missgeburt es sein sollst! Wohlan, riesenhafter Brobdingnag, wehre Dich gegen den Waffenmeister der Argonauten —«
Mit diesen letzten Worten, in furchtbarer Weise hervorgestoßen, war Georg mit gleichen Füssen über den Fingerwall gesprungen, hatte sich auf das zweite Messer gestürzt, das auf dem Tische lag, packte den Griff mit beiden Händen, die meterlange Klinge sauste durch die Luft — tief grub sie sich in die rechte Seite des ungeheuren Halses, sofort sprang eine dicke Blutfontäne aus der furchtbaren Wunde.
In Fechterstellung sprang Georg Zurück, um nach ihm greifende Hände oder doch die Finger abzuschlagen.
Es war nicht nötig.
Wohl gar nicht wissend, wie ihm geschehen, die Wunde noch gar nicht fühlend, wie es stets im ersten Schmerze ist, erhob sich der Brobdingnag schwerfällig, taumelnd.
Da kam dort unten Juba Riata angestürmt, jenes andere riesenhafte Schwertmesser in beiden Händen; noch im Laufe holte er zum Schlage aus, er hieb nach dem rechten Fuße des Ungeheuers, und dieses brach dröhnend zusammen.
Juba hatte die Vorgänge dort oben auf dem Tische beobachtet, und er hatte seinen Freund nicht im Stiche gelassen — höchstens fünf Sekunden später, da sich Georg selbst zu schützen verstanden, hatte Juba dem Ungetüm die Achillessehne durchhauen, natürlich auch eine Schlagader öffnend.
Jetzt fand der auf der Seite am Boden liegende Brobdingnag noch andere Töne, er brüllte wie zehn Ochsen Zusammen.
Und sein Gebrüll rief Hilfe oder doch Rache herbei.
Durch jenes Portal stürmte eine Schar Chinesen herein, kräftige, wild aussehende Männer, krumme Schwerter in den Händen.
Der unten stehende Juba Riata war bereit, sie zu empfangen, mit den krummen Schwertern sein Riesenmesser zu kreuzen, und er blieb nicht allein.
Im Nu hatte Georg sein Messer hinabgeworfen, war hinabgesprungen, und die Höhe von vier Metern hatte für ihn nicht viel zu sagen, sein Messer wieder aufgerafft, und er stand neben dem Freunde.
Die chinesische Schar hatte Halt gemacht.
»Unglückliche, was habt Ihr getan?« erklang es auf englisch aus ihrer Mitte.
»Come on, my boys!« ermunterte Georg.
»Ihr irrt, wir kommen doch nicht als Feinde — erkennen Sie mich denn nicht?«
Und aus der Mitte drängte sich ein Mann hervor, nicht chinesisch gekleidet, mit langem, blondem Vollbarte Price O’Fire!
Da schleuderte Georg mit einem fürchterlichen Fluche das Messer von sich.
»Zur Hölle mit Euch und Eurem blutig verdammten Gaukelspiele!!«
Aber es war noch ein ganz anderer Fluch gewesen.
131. KAPITEL.
AUCH EINE VERWANDLUNG!
Über die indische Prärie schritten zwei Männer.
Georg Stevenbrock und Price O’Fire.
Sie unterhielten sich. Am meisten jedoch sprach der letztere, Georg stellte nur selten eine Frage.
Und dann tat er das im kürzesten Tone, sogar herrisch und gebieterisch, und so war auch der Ausdruck seines Gesichtes beschaffen — herrisch und finster.
Und der sonst so hoheitsvolle Price O’Fire schien recht kleinlaut zu sein.
So erreichten sie ihr Ziel, das Juba Riata unter anderer Führung schon vor ihnen aufgesucht hatte.
Den Elektron.
Das lange Luft— und Wasserschiff lag zwischen zwei Hügeln gebettet.
Einige der Argonauten trieben sich davor herum, und ganz merkwürdig war es, dass sich niemand von ihnen um den Kommenden, um den Waffenmeister bekümmerte.
Hier musste irgend etwas Besonderes vorangegangen sein.
Es war, als ob die drückende Schwüle des Nachmittags, die in der Atmosphäre brütete, ein nahes Gewitter verkündend, sich auch über all diese Menschen ausgebreitet hätte.
Und Georg schien den Elektron und seine treuen Gefährten gar nicht Zu sehen.
Unter einem Mangobaume, der noch in beträchtlicher Entfernung von jenen beiden Hügeln einsam auf dem Graslande stand, blieb er stehen.
»So. Ich bleibe hier. Also gehen Sie, richten Sie es aus. An meinem Entschlusse wird nichts geändert.«
Kapitän Price O’Fire machte ganz ausnahmsweise eine Verbeugung, die ihm auch gar nicht stand und schritt dem Elektron zu.
»Halt!« erklang es, als er erst einige Schritte getan hatte. »Haben Sie nicht Pfeife und Tabak oder eine Zigarre bei sich, damit ich mir unterdessen die Zeit vertreiben kann? Ich lechze überhaupt darnach!«
Der zurückgekommene Kapitän präsentierte ihm sein Zigarrenetui, Georg nahm eine, der Fürst des Feuers holte aus der Westentasche die bekannte schwarze Kugel hervor.
Da, als diese zwischen seinen Fingern zu erglühen begann, stutzte Georg plötzlich.
»Nein! Danke! Verzeihen Sie! Es war ein Irrtum. Bitte, nehmen Sie die Zigarre zurück.«
»Aber Herr Waffenmeister,« fing der sonst so energische Mann vor Bestürzung fast Zu stammeln an, »weshalb wollen Sie denn nicht —«
»Wollen Sie die Zigarre zurücknehmen?!« wurde er herrisch unterbrochen.
»Ich weiß gar nicht — ich kann doch nicht —«
Zerbrochen und zersplittert flog die Zigarre ins Gras. Ein starrer und auch etwas trübseliger Blick darauf; mit leisem Achselzucken wandte sich Price O’Fire, das Feuerzeug in die Westentasche zurücksteckend, um und setzte seinen unterbrochenen Weg nach dem Elektron fort.
Georg schritt im Schatten des Mangobaumes auf und ab und kam dabei immer an der zerbrochenen Zigarre vorbei. Sie schien seine Aufmerksamkeit zu fesseln, immer mehr und mehr, es ging etwas vor sich mit ihm, es schien ihm in allen Fingern zu zucken — bis er sich bückte und einige Bruchstücke aufhob.
Offenbar wollte er sie als Kautabak verwenden.
Da wieder ein Besinnen, mit Heftigkeit zermürbelte er die Bruchstücke vollends, verstreute sie, griff auf die Brust unters Hemd, Zog die noch frischen, nur etwas verwelkten Tabaksblätter hervor, die er erst heute früh gepflückt hatte, fing die zu kauen an — ein sehr zweifelhafter Genuss.
Price O’Fire war im Innern des Elektron verschwunden. Nicht lange dauerte es, so kam von dort ein Männlein im Frackanzug getrippelt — Herr Professor Beireis.
Georg schien ihn nicht zu sehen, auch als er dicht neben ihm stand; denn Georg wandte sich ihm gar nicht zu, setzte seinen Spaziergang unter dem Baume fort.
»Hoch geehrter Herr Kapitän und Waffenmeister. Ich habe das Vergnügen —«
»Was wollen sie?!« wurde er angeschnauzt; denn das war kein Anfahren mehr.
Mit höchst ängstlichem Gesicht war das Männlein gekommen, und dass es jetzt noch ängstlicher wurde, begreiflich.
»Ich komme im Auftrage des —«
»Sind Sie Merlin?!«
»Nein, Sie wissen doch, dass ich —«
»Sind Sie der Höchste an Bord des — von jenem Dinge da?«
»O nein, ich bin nur —«
»Wer ist der Höchste auf dem Dinge da?«
»Das ist dem Range nach Meister Fortunatus —«
»Ach papperlapapp! Was soll ich denn mit dem ätherischen Knaben, der egal aus dem Leime geht! Der nicht einmal für sich selbst sprechen kann! Ist nicht der Mann, der sich Merlin nennt, die höchste, maßgebendste Person dort auf dem Dinge da?!«
»Ja!« gab das Professorlein jetzt mit immer kläglich werdender Stimme zu.
»Ist Merlin an Bord?«
»Ja.«
»Hat ihm Price O’Fire meine Bestellung ausgerichtet?«
»Ja.«
»Na und?«
»Er hat mich geschickt, ich soll —«
»Ach was! Merlin soll selbst kommen!!«
»Aber Ihre Frau Gemahlin selbst sagte —«
»Frau Gemahlin, Frau Gemahlin? Was denn für enne Frau Gemahlin? Ich habe keene Frau Gemahlin. Ich bin glücklicherweise noch ledig.«
»Die allergnädigste Freifrau von der See sagte —«
»Ach was! Mit der Patronin und mit meinen Leuten spreche ich später! Jetzt will ich erst einmal mit diesem Merlin sprechen! Er soll herkommen!«
»Er will aber nicht kommen!« fing das Männchen jetzt fast zu weinen an.
»Dann bleibt er eben. Und ich bleibe hier!«
»Ich soll mit Ihnen verhandeln —«
»Sie?! Was habe ich denn mit Ihnen zu tun?! Scheren Sie sich doch zum Deiwel oder meinetwegen hängen Sie sich hier an diesem Ast auf, hier haben Sie gleich eine schöne Liane, mit Blüten dran, die können Sie als Strick benutzen — ich schneide Sie nicht ab. Ich will hier an dieser Stelle Merlin sprechen, er soll mir Rede und Antwort stehen —«
Da kam er schon über die Prärie geschritten, wie immer in seinem gelbledernen Anzuge.
Kaum erblickte ihn der kleine Professor, als er mit ganz erleichtertem Gesicht machte, dass er fortkam.
Georg hatte die Arme über der Brust verschränkt, so erwartete er den Kommenden, und der blieb in ruhiger Haltung vor ihm stehen.
Eine halbe Minute lang standen die beiden Männer sich so gegenüber, schweigend sich anblickend; dann ging es los, nun aber auch ohne jede Einleitung.
»Mister Price O’Fire hat mir alles berichtet!« begann Georg.
»Ich weiß es.«
»Wir befinden uns hier im Herzen von Borneo?«
»Ja.
»Wohin vor ungefähr zwölf Jahren der verschollene Amerikaner Elias Osborne seine ganze Menagerie glücklich gebracht hat.«
»Ja.«
»Die Tiere blieben am Leben, haben sich vermehrt aber — Mister Osborne hat mit allen seinen Gefährten hier den Tod gefunden?«
»Ja.«
»Sie wurden von Chinesen, die hier hausen, ermordet?«
»Die Amerikaner drangen in die Geheimnisse dieser Chinesen und —«
»Wurden ermordet!«
»Getötet.«
»Meinetwegen getötet. Diese Chinesen, die in jenem alten Buddhatempel hausen, gehören mit zu Ihrer geheimen Gesellschaft?«
»Sie sind erst vor kurzem hier aufgenommen worden.«
»Gut. Das Ziel des Elektron war hier diese Stelle?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Um Dir und Deinen Leuten einige Überraschungen zu bereiten, um Dir die größten Sehenswürdigkeiten dieser Erde zu zeigen.«
»Von diesen chinesischen Mördern?«
»Es sind ganz friedsame Menschen geworden.«
»Gut. Das Luftschiff war nicht mehr weit von diesem Ziele entfernt, als wir, Mister Juba Riata und ich in der Nacht durch eine zufällig entdeckte Luke in die dritte Etage drangen. Ist das Ihnen bekannt?«
»Ja.«
»Sie wussten sofort darum?«
»Ja.«
»Wurde die Klappe mit Absicht geschlossen?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Beireis war es, der sich diesen Spass erlaubte.«
»So! Spaß! Weshalb tat er das?«
»Um Euch eine besondere Überraschung Zu bereiten. Er benachrichtigte zunächst die Freifrau von der See, ob er sich diesen Scherz auch erlauben dürfe. Allerdings hatte er da die Klappe schon geschlossen, aber er hätte sie ja sofort wieder öffnen können. Die Mylady gab jedoch die Erlaubnis dazu.«
»So. Und um was für einen Scherz handelte es sich nun?«
»Du befandest Dich mit Deinem Freunde in einem Boote. Es wurde ausgesetzt und durch Fernleitung hierher dirigiert. Auch wir landeten, aber an anderer Stelle als Ihr. Wir wollten Euch beobachten.«
»Was beobachten?«
»Wie Ihr Euch in Eurem ganz hilflosen Zustande in dieser Wildnis benehmen würdet. Gefahr war dabei nicht vorhanden, immer wäre sofort Hilfe zur Stelle gewesen. Die Freifrau von der See war mit alledem ganz einverstanden.«
»So. Glauben Sie nicht etwa, dass ich der Patronin das übelnehme. Nicht im geringsten! Bei mir handelt es sich jetzt um etwas ganz anderes. Da kam der weiße Elefant, der wahrscheinlich — na lassen wir das, darum kümmere ich mich ebenfalls gar nicht, ebensowenig wie ich wegen der Zwerge und Riesen auch nur eine einzige Frage stellen werde, soweit sie nicht hier diesen einzigen Fall anbetrifft. Wir befanden uns in dem Raume des Riesen doch in einer äußerst gefährlichen Lage?«
»Ja.«
»Denn der hatte doch kein normales menschliches Gehirn, das war mehr ein Tier, der hätte mir aus Spielerei doch auch den Kopf abgebissen?«
»Ja, es war alles von ihm zu erwarten.«
»Bin ich mit Absicht in diese gefährliche Lage gebracht worden?«
»Nein.«
»Sondern?«
»Ihr begabt Euch von selbst hinein, wir erfuhren erst davon, als es Zu spät war. Dann taten wir, was wir konnten, benachrichtigten sofort die hier hausenden Chinesen, dass sie Dich aus den Händen des Riesen befreiten, auch Price O’Fire war als erster unterwegs.«
»So. Nun hören Sie, Mister Merlin, was ich Ihnen zu sagen habe.
Ich fasse mich ganz kurz, bleibe nur bei der Hauptsache.
Als ich vorhin unter den Chinesen Price O’Fire auftauchen sah, da war mir eigentlich alles sofort ganz klar, alles!
Und in demselben Augenblick, da mich diese Erkenntnis blitzschnell überkam, und als der Riese, von meinem Schwerthieb tödlich getroffen, sich verblutend und brüllend am Boden lag, da tat ich einen Schwur!
Vorher mögen Sie aber doch erst noch etwas anderes erfahren.
Ich habe diese ganze Gaukelei, mit der mir immer aufgewartet wird, schon längst satt!
Bis an die Halsbinde stand sie mir manchmal.
Immer habe ich nachgegeben, mir neue Sachen vorgaukeln lassen.
Aus Rücksicht gegen die anderen.
Es war eine Schwäche von mir; wenigstens ich hätte endlich ausscheiden sollen, da ich nun einmal den Entschluss gefasst hatte.
Jetzt aber ist diese Schwäche überwunden.
Nun ist’s genug!
Ich habe mit jener geheimen Gesellschaft, der Sie angehören, nichts mehr zu tun!
Und ich verbitte mir jede weitere Einmischung!!
Also gehe ich natürlich auch nicht mehr an Bord des Elektron!
Ich rühre nichts mehr an, was von Ihnen stammt!
Ich verhungere lieber, ehe ich einen Bissen in den Mund nehme, der von Ihnen stammt oder der nur von Ihnen und Ihresgleichen berührt worden ist!
So wahr mir Gott helfe!
Wir sind fertig miteinander!«
Mit der größten Betonung und dennoch mit der größten Ruhe hatte Georg gesprochen.
Traurig blickten ihn die blauen Augen des jugendfrischen Greises an.
»Was habe ich Dir getan?«
»Gar nichts haben Sie mir getan! Aber fragen Sie nicht so, dazu sind Sie überhaupt viel zu gescheit.«
»Ja, ich kann Dich verstehen.«
»Dann ist’s ja gut. Ich habe meinen vorigen Worten nichts mehr hinzuzufügen.«
»Was willst Du tun?«
»Hier bleiben.«
»Was willst Du denn hier?«
»Na, nicht für immer hier bleiben. Ich schlage mich nach der Küste durch.«
»Das ist unmöglich.«
»Weshalb denn?«
»Es gibt keinen Weg durch den Rotangwald, es gibt kein Durchkommen.«
»Der Mister Osborne ist doch auch mit seiner ganzen Menagerie und all seinen Leuten durchgekommen.«
»Das war damals, jetzt ist es nicht möglich.«
»Weshalb denn nur nicht?«
»In dem ungeheuren Rotangwald, der diese freie Gegend hier umgibt, hausen viele Dajakstämme in kleinen Dörfern, die untereinander durch Wege verbunden sind, die nur als Kriegspfade dienen, damit ein Stamm dem anderen die Köpfe abschneiden kann. Diese Sitte der Dajaks kennst Du ja wohl.
Wie diese Wege durch den furchtbaren Dornenwald einst geschaffen worden sind, das weiß man heute gar nicht mehr, ist ganz unerklärlich. Auch wir mit allen unseren technischen Hilfsmitteln könnten einen solchen Pfad nicht herstellen. Da die Wege aber nun einmal existieren, können sie von den Dorfbewohnern mit leichter Mühe offen gehalten werden. Wird dies freilich während eines Jahres versäumt oder nur vernachlässigt, dann wächst der Pfad mit Rotang Zu, er kann nicht wieder freigemacht werden, solch ein Dorf ist dem Hungertode verfallen.
Bis vor etwa zwölf Jahren führten solche Wege aus den benachbarten Dörfern auch bis hierher in diese rotangfreie Gegend, die einige Quadratmeilen umfasst. Aber hausen taten hier keine Dajaks, es war ein neutrales, geheiligtes Gebiet für die umwohnenden Stämme, man hielt es für den Sitz von Geistern. Lass Dir diese Erklärung genügen, es ist Dir doch nur recht, wenn ich mich so kurz wie möglich fasse.
Jener Mister Elias Osborne scheiterte mit seinem Schiffe an der Südküste Borneos, wo nur Dajaks wohnten. Er hatte Kämpfe mit ihnen zu bestehen, bis er die Freundschaft eines Priesters und Zauberers machte, den er sich auch tief verpflichtete.
Es war ein Wanderpriester, wie es hier solche gibt, die ständig von Dorf Zu Dorf ziehen. Dieser versprach dem Osborne, ihm eine Gegend zu zeigen, wie er sie für seine Zwecke wünsche, und er führte ihn mit seiner ganzen Karawane von Dorf zu Dorf auf den geheimen Wegen, die noch kein Weisser, kein Fremder betreten hat bis hierher.
Gerade um jene Zeit wurden chinesische Mitglieder von unserer geheimen Gesellschaft abtrünnig und flüchtig. Sie begaben sich hierher — freilich auf andere Weise, wie, das kannst Du Dir wohl denken — fanden die Amerikaner hier schon vor, haben sie getötet, wie ich Dir ja bereits sagte.
Dann haben sie auch unter den umwohnenden Dajaks Angst und Schrecken zu verbreiten gewusst, diese wagten die nun wirklich verzauberte Gegend nicht mehr zu betreten, so sind die hierher führenden Wege im Laufe der Jahre wieder total verwachsen.
Jene Chinesen haben sich wieder uns unterworfen, sie sind zwar hier geblieben, müssen es, aber kein Mensch hat sie noch zu fürchten, wenn Menschen noch hierher gelangen könnten, es ist nicht mehr möglich.
Mehr habe ich Dir nicht zu sagen. Du kannst nicht wieder von hier fort, es sei denn, dass Du das Luftschiff benutzest!«
Aufmerksam hatte ihm Georg zugehört, ohne ihn einmal zu unterbrechen.
»Das ist sehr fatal, was ich da zu hören bekommen habe,« sagte er dann ruhig, »aber an meinem Entschlusse lässt sich nichts mehr ändern. Mich bindet ein Schwur, und wenn Sie wüssten, wie feierlich ich ihn in jenem Augenblick geleistet habe, bei was ich geschworen habe, dann würden Sie sich keine Mühe mehr geben, mich von hier fortzulocken. Tun Sie es also nicht, ersparen Sie sich jedes weitere Wort, es hat gar keinen Zweck! Ich betrete Euer Luftschiff nicht wieder! Dieses nicht und kein anderes! Ich nehme auch nicht das geringste mehr an, was irgendwie von Euch stammt; nicht einmal einen Ratschlag!
Weise die hier hausenden Chinesen nicht etwa an, dass sie mir beistehen sollen!
Ja, Mister Merlin, ich fordere jetzt Ihr Ehrenwort, dass Sie sich niemals wieder irgendwie in meine Angelegenheiten mischen!
Und, wenn ich mich auch in höchster Todesnot befände und Sie hätten die Macht, mir helfend beizuspringen — Sie werden es nicht tun! Bitte, geben Sie mir hierauf Ihr Ehrenwort. Das ist die allerletzte Gefälligkeit, um die ich Sie bitte.«
Noch trauriger denn zuvor blickten die schönen Augen des Greises den Sprecher an.
»Ist es denn gar nicht möglich —«
»Geben Sie sich doch nur keine Mühe mehr! Ihr Ehrenwort will ich haben!«
»So muss ich mich Dir fügen. Du hast mein Ehrenwort.«
»Dass Sie sich nicht im geringsten mehr in mein Schicksal und in meine Verhältnisse mischen?«
»Ich gebe Dir daraufhin mein Ehrenwort.«
»Und natürlich geben Sie Ihr Ehrenwort auch für Ihre Leute und für alle anderen, die zu jener geheimen Gesellschaft gehören?«
»Ja.«
»Auch von jener Schwester Anna werde ich nie wieder etwas hören, nie wieder ein Zeichen erhalten?«
»Nein.«
»Sie sind berechtigt, daraufhin ein bindendes Ehrenwort zu geben?«
»Ich bin es.«
»Dann nur noch eines. Damit wir ja nichts vergessen. Meine Gefährten bringen Sie doch natürlich nach Sibirien zurück, an Bord der »Argos« oder wohin sie sonst wollen —«
»Selbstverständlich.«
»Gut. Das geht mich nichts mehr an. Die mögen machen, was sie wollen. Vorläufig scheide nur ich aus. Es gibt Verhältnisse, welche jeden Heuerkontrakt lösen, jeden. Nun könnte es aber doch sein, dass einige mich nicht verlassen, hier bei mir bleiben und mein Schicksal teilen wollen. Auch für diese gilt Ihr Ehrenwort, dass Sie auch diesen nicht mehr helfen; denn das wäre doch nur eine indirekte Hilfe für mich. Nicht wahr?«(
»Ja, auch für diese gilt alles das, worauf ich mein Ehrenwort geleistet habe.«
»Gut. Dann sind wir fertig miteinander. Mister Merlin, ich danke Ihnen für alle Freundlichkeit, die Sie mir erwiesen haben. Leben Sie wohl. Grüßen Sie herzlichst Ihre Tochter Viviana von mir, aber sehen möchte ich sie nicht mehr. Leben Sie wohl.«
Er hielt ihm die Hand hin, sie wurde genommen, gedrückt, dann wandte sich Merlin schnell und ging davon.
Hochaufatmend blickte ihm Georg nach.
Es war doch etwas dabei, was ihn gewaltig packte, man sah es ihm an, und er breitete beide Arme aus und blickte Zum Himmel empor.
»Gelobt sei Gott!« kam es leise aus tiefstem Herzen hervor. »Der Spuk ist zu Ende! Und mag es nun ein Teufelsspuk oder ein Himmelswunder gewesen sein — ich habe ihm ein Ende bereitet, und ich weiß, dass es mit Deinem Willen geschah. Herr aller Welten, an den ich glaube, jetzt habe ich es nur noch mit Dir zu tun, jetzt bin ich nur noch auf die Kraft und Fähigkeiten angewiesen, die ich allein Dir zu verdanken habe — Dich allein will ich fürchten und bewundern und sonst nichts auf der Welt — und wenn es Dir gefällt, so führst Du mich dennoch durch diese Dornenmauer hindurch, trotz allen menschlichen Prophetengeistes. Amen.«
Dann steckte er zwei Finger in den Mund, ein trillernder Bootsmannspfiff gellte.
Die vor dem Luftschiffe sich aufhaltenden Matrosen blickten nach ihrem Waffenmeister, wenn sie es nicht schon immer getan hatten, und der semaphorierte mit den Armen:
»Möchte Kapitän Martin und Patronin hier sprechen.«
Das Verstandenzeichen wurde gegeben und bald kamen die beiden.
Eine halbstündige Unterredung, dann ging Kapitän Martin zurück. Die Patronin blieb, weinte erst und dann lag sie jubelnd und lachend an des Geliebten Brust.
Und dann kam eine Deputation, bestehend aus einem Offizier, einem Unteroffizier und einem Matrosen. Wer diese waren, ist gleichgültig. Hauptsache ist, dass diese drei im Namen aller ein und dieselbe Erklärung brachten:
»Wir bleiben hier bei Ihnen.«
»Wisst Ihr auch, was das zu bedeuten hat?«
Eine weitere Erklärung war nicht nötig. Sie wussten es, es gab an dem gemeinsamen Entschlusse nichts mehr zu ändern.
Trotzdem versuchte es Georg noch einmal.
»Ihr habt aber Angehörige zu Hause —«
»Das geht Euch gar nischt an, Waffenmeister!« wurde er sofort unterbrochen. »Der Kapitän hat entschieden, dass wir unter solchen Verhältnissen unseres Heuerkontraktes entbunden sind, und nun können wir machen, was wir wollen. Wir bleiben bei Euch, Waffenmeister.«
Auch diese drei gingen wieder zurück.
»Helene, nun möchte ich ein bisschen zu heulen anfangen!« meinte Georg, in seinen Hosentaschen vergebens nach einem Taschentuche suchend.
Und dann, als schon ausgeladen wurde, alles was den Argonauten gehörte, sonst aber auch nicht ein Bündel Kabelgarn, fand eine Versammlung der Gäste der »Argos« statt, immer wieder hier unter diesem Mangobaum, weiter näherte sich Georg dem Luftschiff nicht.
Und wieder eine Stunde später stieg der riesenhafte Elektron federleicht in die Lüfte empor, um in einiger Höhe urplötzlich spurlos zu verschwinden.
Zurückgeblieben war alles, was zur »Argos« im eigentlichen Sinne gehört hatte. Auch die einunddreißig Schiffsjungen mit ihrem »Fabs«, sogar die Madame Pompadour
»Die hängen wir, wenn wir den Weg nach der Küste antreten, zwischen zwei der stärksten Elefanten, und haben wir keine Elefanten, dann tragen wir sie selber.«
An Bord des Luftschiffes befanden sich nur die eigentlichen Gäste, die sich so nach und nach angesammelt hatten. Man hatte von ihnen gleich Abschied für immer genommen.
Solche Sachen wie des Waffenmeisters Schreibtisch konnten natürlich auch zurückgehen.
Und ferner war noch Kapitän Martin mitgegangen, mit ihm auch die beiden Samojeden.
Er wollte mit der englischen Mannschaft die »Argos« aus Sibirien herausbringen und dann nach Pontiniak dampfen, dem Haupthafen von Borneo. Und wenn man dort noch nichts gehört hatte von einigen hundert Menschen, die ganz verwildert aus dem Innern der Insel gekommen waren, und wenn Kapitän Martin und seine Agenten auch beim Absuchen der ganzen Küste nichts von ihnen erfahren konnten — — nun, der Geist und Witz auch der anderen, ganz ordinären Menschheit, hat Flugmaschinen und Luftschiffe erfunden, mit denen man bereits hundert Meilen weit ohne Zwischenlandung fliegen kann, auch über undurchdringliche Rotangwälder hinweg — — mit denen wollte man dann weiter schauen.
Ende des Siebten Teils