🠔Karl-May-Gesellschaft → Abenteuerliteratur

Ein moderner Lederstrumpf. Roman von
Robert Kraft.

   

1. Capitel.



Aus Laune.

Pall-Mall heisst der Stadttheil Londons, in welchem sich die Paläste der vornehmen Clubs befinden, deren Mitgliedssteuer im Jahre durchschnittlich zwanzig Pfund Sterling beträgt. Fast das Doppelte und hundert Pfund Eintritt kostet der Lady-Champion-Club.

Seine Mitglieder sind fast nur unverheirathete Damen, meist selbstständig, alleinstehend. Was soll man denn nur mit der fürchterlich vielen Zeit anfangen! Die Eine sammelt Briefmarken, die Andere führt Buch über die ihr täglich begegnenden Schimmel, die Dritte liest alte Stiefeleisen von der Strasse auf — man dressirt Meerschweinchen und füttert Möpse todt — sie spielen Whist, Theater, Billard, Lawn-Tennis — sie reiten, turnen, fechten, schwimmen, fahren Rad und rennen mit dem Kraftwagen den festesten Laternenpfahl und den standhaftesten Policeman über den Haufen. Der Club ist die einzige Zuflucht vor dem schrecklichen Gespenst der Langenweile, hier kann man wenigstens in Gesellschaft gähnen — bis Heirath oder ein anderes Ereigniss ihrem Leben eine nützlichere Richtung giebt, ausgenommen bei einigen emancipirten Fanatikerinnen, welche am liebsten die ganze Männerwelt als einen Missgriff der Schöpfung ausrotten möchten.

In dem prunkvollen Bibliothekszimmer befanden sich zwei junge Damen. Die Eine, vor dem Tische stehend und mit einem Cirkel auf Landkarten messend, vertrat den Typus der normannischen Rasse, welche zur Zeit, als sie England eroberte, schon stark mit französischem Blute gemischt war: schwarz, tiefbrünett, klein, zierlich, aber voll; im uebrigen ein schönes, gereiftes Weib, Lady Judith Barrilon, eine kinderlose Wittwe. Die Andere dagegen, welche sich in dem amerikanischen Schaukelstuhle wiegte, Miss Ellen Howard, war angelsächsischen Stammes, die echte, schlanke Engländerin mit dem aschblonden Haar, den blaugrauen Augen, der geraden, stolzen Nase und dem wunderbaren Teint, welcher an Schläfe und Hals die blauen Aederchen durchscheinen lässt.

»Nun? Wieviel Meilen sind es?«

»Einen Augenblick noch, liebe Ellen, ich bin gerade bei Europa.«

Seit gestern prangte an allen Ecken Londons ein riesengrosses Plakat in bunten Farben, einen von einem langhaarigen Windhunde begleiteten Radfahrer darstellend, der sich in einem ganz merkwürdigen Lande in einer ganz gefährlichen Lage befand. Zunächst versuchte ihn ein hinter ihm her in Carriere reitender Araber mit seiner Lanze anzuspiessen; dann wollte ihm ein Australneger, der mit dem Pferde gleichen Schritt hielt, mit der Kriegskeule den Schädel einschlagen; ein Indianer, welcher auch nicht schlecht laufen konnte, hatte es offenbar auf seinen Scalp abgesehen; ein Malaye wollte ihn mit dem Kris anstechen; bequemer hatte es ein Tatar hoch zu Kameel, und diesen zweifüssigen Verfolgern schlossen sich ein zähnefletschender Löwe, ein Panther und sogar eine Riesenschlange an.

Doch das Publicum brauchte so wenig wie der Radfahrer Angst zu haben, denn darüber stand in grossen Lettern: »Das Globe-Rad holt Niemand ein« und darunter: »In fünfhundertundzwölf Tagen auf ein und demselben Globe-Rade rund um den Erdball« und dann weiter wurde gesagt, dass dies der berühmte Mr. Harry C. Stout sei, über dessen Abenteuer die Globe-Rad-Fabrik eine Broschüre herausgegeben habe, welche Jedem gratis und franco zugeschickt würde.

Nun, lauter Schwindel war dies nicht. Jener Stout hatte diese Reise gemacht. Man hatte oft in den Zeitungen von dem Weltenfahrer gelesen, manchmal hatte Jemand im Ausland, der ihm begegnet, einen Bericht über ihn geschickt; als einmal in Beludschistan ein europäischer Radfahrer massacrirt worden war, hatten sich auch Andere als nur Sportsmen für ihn interessirt — doch Mr. Stout war das nicht gewesen, denn der war vor einigen Tagen gesund zurückgekehrt; das Rad, das er benutzt, stand jetzt lorbeerbekränzt und noch mit dem letzten Schmutze bedeckt in einem Schaufenster der Regentstreet. Und die Maschine sah allerdings aus, als ob sie etwas erzählen könne; in den Knochenhandgriffen waren ganz deutlich die Fingerabdrücke zu erkennen, und da waren einige Reparaturen vorgenommen und in einer Weise ausgeführt worden, welche einen Fahrradschlosser oder auch einen knotenkundigen Matrosen über die technische Geschicklichkeit dieses Sportsmans nachdenklich machen musste.

Lady Judith maass den zurückgelegten Weg aus. Von London mit dem Schiffe nach New-York, quer durch Amerika nach San Francisco, wieder mit dem Dampfer über Singapore nach Calcutta, und nun die grosse Landtour Nagpore, Bombay, nordwärts die Küste entlang über Hyderabad am Indus, durch Beludschistan, durch Persien über Kerman und Ispahan, weiter über Bagdad, Aleppo, Constantinopel, Belgrad, Wien, Frankfurt a. M., Antwerpen zurück nach London.

»Das sind,« sagte jetzt Lady Judith, »rund 8500 Meilen1), welche er per Rad zurückgelegt hat, und ich kann ja nur die Luftlinie von Stadt zu Stadt messen; was mag da Alles noch dazukommen. Eine ganz erstaunliche Leistung!«

»Wie viel Meilen kommen da durchschnittlich auf den Tag?« Jene nahm statt des Cirkels den Bleistift zur Hand. »Da ist zunächst die Seefahrtszeit abzurechnen. Die Reise von San Francisco nach Calcutta wird allein vier bis fünf Wochen in Anspruch nehmen — ich will, um eine runde Zahl zu bekommen, auch die Wartezeit bedenkend, 62 Tage abziehen. 8500 Meilen dividirt durch 450. Sagen wir: 19 Meilen den Tag.«

»Nicht mehr?!« erklang es verächtlich vom Schaukelstuhle her. »Da sehen Sie, wie man sich von grossen Zahlen täuschen lässt. 19 Meilen den Tag! Das ist ja ein Kinderspiel.«

»Na, na, liebe Ellen, machen Sie das einmal nach. Und dann müssen Sie doch auch die Verhältnisse bedenken. Man fährt nicht in der Luft, sondern auf krummen Wegen, und was für Wege mögen dies manchmal sein.«

»Immerhin, dies verdient wirklich keine Bewunderung. 8500 durch 30 macht ungefähr 280 — sagen wir 32 Meilen pro Tag — jawohl, ich will die ganze Geschichte in 300 Tagen machen.«

Die längere Pause entstand dadurch, dass Lady Judith ein silbernes Etui aus der Tasche zog, ihm eine Cigarette entnahm, diese bedächtig anbrannte und erst einige Rauchwölkchen durch die kleine, gebogene Nase blies.

»Sie?« lachte sie dann spöttisch, und merkwürdig war es, dass sie erst so spät lachte. »Verzeihen, Sie, Miss Howard — aber wirklich — ich stellte Sie mir nämlich vor, wie Sie durch Indien radeln, jeden Tag 32 Meilen. Ich war schon in Indien. Nein, liebe Ellen, das könnten Sie nicht fertigbringen.«

»Ich spreche ja gar nicht von mir,« rief Ellen gereizt, hustend und mit dem Taschentuche wedelnd. »Aber glauben Sie denn, ich könnte nicht 32 Meilen den Tag fahren?«

»Jawohl, auf der Landstrasse von London nach Oxford, den Wind im Rücken, und hinterher ruhen Sie sich drei Tage lang aus,« spottete die Cigarettenraucherin weiter.

»Oho, ich bin von hier nach Edinburg in 7 Tagen gefahren, das sind ungefähr 40 Meilen am Tage, und ich war nicht im geringsten ermüdet. — Bitte, Judith, blasen Sie den Qualm doch nach der anderen Seite.«

»Aber das war immer nicht in Indien, dort dürfte Cigarettenrauch das kleinste Uebel sein. Nein, meine Liebe, geben Sie sich doch keinen Illusionen hin. In 300 Tagen können Sie diese Strecke, zu welcher jener Mann 512 Tage gebraucht hat, nicht machen. Ich habe ihn gesehen, er ist übrigens ein Deutscher, »stout« ist auf deutsch »stark«, Curt Starke heisst er, und der sieht gar nicht aus, als ob er sich mit Kinderspielereien abgebe.«

»Wie der aussieht, ist mir ganz gleichgültig, und ich behaupte: ich könnte dieselbe Tour in 300 Tagen zurücklegen. Ueberlegen Sie sich doch die Sache, Judith. Auch Sie lassen sich wiederum von Zahlen täuschen. 32 Meilen den Tag, was ist denn das!! Wie der Weg auch beschaffen ist, vier Meilen in der Stunde mache ich doch, das ist nur wenig schneller als ein Fussgänger, ich trete also jeden Tag meine acht Stunden ab, in aller Ruhe, suche mir dazu die beste und kühlste Tageszeit aus, dann kann ich ja wieder 16 Stunden Pause machen und wenn ich auch einmal viele Tage lang das Rad schieben muss, so hole ich die verlorene Zeit auf gutem Wege wieder ein. In 300 Tagen mache ich es bequem.«

»Ja, mit dem Munde.«

Mit einem Ruck blieb der Schaukelstuhl plötzlich stehen.

»Bitte, Mylady, erinnern Sie sich gefälligst, dass Sie nicht mit Ihrer Kammerjungfer sprechen, welche derartige Ausdrücke von Ihnen gewöhnt sein mag — ich bin's nicht!«

Wie sich die beiden Freundinnen hassten! Natürlich stand »Er« zwischen ihnen.

Lady Judith wandte ihr den Rücken zu und hob die vollen Schultern.

»Dann sprechen Sie doch nicht so, meine Liebe. Oder beweisen Sie es doch, machen Sie es uns vor. Sie können es nicht.«

»Was kann ich nicht? Was gilt die Wette? 10 000 Pfund?«

Mit hochrothem Gesicht hatte es Ellen gerufen, unüberlegt, es war ja auch nur eine Frage gewesen.

Blitzschnell drehte sich Judith um. In diesem Augenblicke kam eine Schaar Damen aus dem Nebenzimmer in die Bibliothek, sie hatten die ethnographischen Sachen gemustert, welche ein sich in China aufhaltendes Mitglied dem Club geschickt hatte.

»Meine Damen, soeben hat Miss Howard mit mir gewettet, denselben Weg, den Mr. Stout um die Erde genommen hat, in 300 Tagen auf dem Rade zurückzulegen!«

Rufe der Ueberraschung wurden laut; man umdrängte die aufgestandene Ellen, und nur Wenige waren darunter, welche sie bestürmten oder mit ruhigen Worten baten, doch von solch' einem Unternehmen, dessen Gefährlichkeit sie wohl gar nicht ermesse, abzustehen; das könne doch nicht ihr Ernst gewesen sein. Die Meisten waren vielmehr gleich Feuer und Flamme, die Eine fragte schon, ob sie da Rock oder Hose trüge, eine Andere erbat sich aus jeder Stadt eine Ansichtspostkarte und aus dem Ganges ein lebendes Krokodil, das wenigstens einen Menschen gefressen hatte.

Eine ältere, hagere Dame, eine von jenen, welche den Schwur der Ledigkeit abgelegt hatte, nahm die Sache sofort mit englischer Wichtigkeit in die Hand.

»Zu welchen Bedingungen. Die Seefahrtszeit mit in die 300 Tage gerechnet? Gut. Allein oder in Begleitung?«

»Allein, natürlich allein.''

Wieder hatte es Ellen ohne jede Ueberlegung gesagt. Dieses Drängen, dieses Fragen verwirrte sie immer mehr.

»Sie, Miss Howard, behaupten, Sie können es in 300 Tagen leisten? Sie, Lady Barrilon, behaupten, Miss Howard kann es nicht? Allright, das ist eins zu eins. Um was geht die Wette?«

»Um 10 000 Pfund. Eins gegen eins.«

Diesmal aber hatte es Ellen mit Ueberlegung gerufen, und sie sah, wie die Gegnerin die Lippen zusammenpresste.

Genau so viel betrug das Vermögen der jungen Wittwe, und hätte es Sir Barrilon nicht in zwölfprocentigen Gwalioractien angelegt gehabt, sie hätte nicht in diesem Club verkehren, nicht einmal standesgemäss in London leben können. Für Miss Howard dagegen, deren Vater bei Lebzeiten den Pelzmarkt beherrscht hatte, bedeuteten 10 000 Pfund kaum eine jährliche Rente. Und schliesslich war es doch der gleiche Einsatz: hier Leben und Gesundheit, dort das Vermögen.

Es war auch nichts mehr zurückzunehmen, dafür sorgten die begeisterten Damen, welche schon Wetten unter sich auf die Beiden abschlossen.

Die Hauptwette wurde in schriftliche Worte gekleidet, der Weg in grossen Strichen markirt, und das, worauf es ankam, detaillirt. Es war ja ganz einfach. Ausser Schiff und Boot, um über Wasser zu kommen, durfte nur ein durch die Füsse in Bewegung gesetztes Zweirad benutzt werden. Schieben und tragen konnte sie es natürlich, so viel wie sie Lust hatte. In 300 Tagen, von der Abfahrt von London gerechnet, musste sie wieder englischen Boden betreten. Ausserdem allein, also ohne jede Begleitung.

»Halt, hiergegen muss ich mich verwahren,« fiel Ellen ein. »Ich verpflichte mich, keinen Führer zu engagiren, keine Begleitung zu erbitten, aber ich kann Niemandem verbieten, neben mir zu fahren, und sei es wochenlang, und wenn ich Jemand nach dem Wege frage, und er geht, fährt oder reitet mir aus Höflichkeit voraus, so kann ich ihn nicht zurückweisen. Auch muss ich gegen das Verbot der Benutzung eines Wagens eine Einwendung machen. Es kann mir etwas zustossen; ich nehme an, ich werde ohnmächtig, oder ich bin gefangen, kurz, ohne meinen Willen fährt man mich auf einem Wagen, hebt mich auf ein Pferd, so kann dies nicht einen definitiven Verlust der Wette für mich bedeuten.«

Man gab ihr vollkommen Recht. Die Damen wussten ja, um was es sich im Princip handelte, und auf Miss Howard konnte man sich verlassen, da gab es keine Deutelei. Wenn die in einem weltverlassenen Winkel der Erde dies Radfahren überdrüssig bekam, so begab sie sich auf die nächste Station, fuhr mit der Eisenbahn und telegraphirt, so bald sie kommt, nach London: ich habe verloren — und nicht etwa, dass sie, wenn sie sich in der Eisenbahn ausgeruht hatte, ihre Radtour wieder aufnahm. Ja, fast alle Damen glaubten, so würde es kommen, weil eben 10 000 Pfund für sie gar kein Verlust waren; nur eine dachte gerade das Gegentheil, Lady Judith, und sie grub die weissen Zähnchen noch tiefer in die Unterlippe.

Durch die vielen auf sie gerichteten Blicke, durch diese Förmlichkeiten, besonders auch durch das Bewusstsein, dass es nun Ernst geworden, war über Ellen eine unnatürliche Ruhe und Besonnenheit gekommen.

»Heute haben wir den 29. August. Jeden Ersten geht von Liverpool ein Schnelldampfer nach New-York, das weiss ich. Lange vorzubereiten habe ich mich nicht. So werde ich am 1. September England verlassen — und wann müsste ich da wieder hier sein?«

»Am 27. Juni,« wurde ausgerechnet.

»Am 27. Juni werde ich wieder den Boden Englands betreten. Meine Damen, auf Wiedersehen morgen Abend.«

Sie gewinnt nicht, es ist unmöglich, sie wird es bald aufgeben, und ein Glück ist es nur, dass sie mit den Vereinigten Staaten beginnt, wo sie mehr Gelegenheit zur schnellen Rückfahrt mit der Eisenbahn hat als dort unten bei den Heiden - so lautete das allgemeine Urtheil der Zurückgebliebenen, als man sich die Tour auf der Landkarte näher besah und nach gegenseitiger Uebereinstimmung wurden die kleinen Wetten ohne Reugeld zurückgenommen, da aber doch etwas dabei sein musste, wettete man, wie weit sie kommen würde.

Nur die tolle Oliva Hobwell, die Tochter eines der sieben Lords, denen ganz London gehört, welche immer grübelte, wie sie allein ihr Nadelgeld auf eine anständige Weise los würde, sagte phlegmatisch:

»Ich mache Buch für Miss Howard, wer wettet gegen Lady Barrilon, und ganz London soll sich daran betheiligen; die armen Leute, die immer auf ihr Pferd verlieren, wollen auch einmal gewinnen.«



2. Capitel.



Zu spät gekommen.

»Ist Miss Ellen Howard zu sprechen? Dann bitte diese Karte abgeben.«

Mit Kennerblick musterte die Zofe den jungen Herrn. Dunkle Beinkleider bei der Hitze? Das hübsche Gesicht mit dem flotten Bärtchen war doch für gewöhnlich sicher nicht so feierlich wie jetzt? Und seit wann nennt man denn den Vornamen, wenn man einer Dame einen Besuch abstattet? Entweder war's ein Crimineller, die Gnädige hatte wieder einmal etwas auf dem Kerbholze, obgleich sie doch gar nicht mehr Rad fuhr — oder er wollte sie heirathen.

Der verdächtige Mann stand im Empfangssalon vor einem Gemälde und schlug mit dem Cylinder auf seinem eigenen Rücken den Tact zu dem Concert, welches »Die beiden Musikanten« machten.

Sir Robin Munro war der zweite Sohn eines Lords, führte daher nur den Titel Baronet mit einem »right honorable«, hatte keinen Sitz im Parlament, dagegen, als einziges Kind aus zweiter Ehe, eine sehr reiche Mutter gehabt, und so konnte er unabhängig Zinsen verzehren, die sein Stiefbruder, der Lord im Oberhause, nicht besass. Auch stand auf seinen gewöhnlichen Visitenkarten einfach »Robin Munro«, nichts weiter. Viele, die mit ihm schon jahrelang verkehrten, wussten nicht einmal, dass er mit jener gräflichen Familie auch nur verwandt sei, und aus alledem lässt sich schliessen, dass der junge Mann Verstand genug besass, um sich aus seiner Freiheit und seinem Gelde ein recht hübsches Leben zusammenzuzimmern. Anstatt die kostbare Zeit in tausend Thorheiten zu vertändeln, wie es meist die jeunesse d'orée that, erweiterte er seine Sprachkenntnisse; er trieb Musik, malte und daneben huldigte er mit weiser Vernunft einem gesunden Sport; er ritt, er spielte jeden Dienstag Nachmittag mit Anstand Lawn-Tennis; er übte Hand und Auge durch Fechtstunden, er war überhaupt keinem Sport abgeneigt — — — — aber nur nicht radfahren! Er hasste das Radfahren! Er verachtete alle Radfahrer! Radfahrer kamen gleich hinter Anarchisten! Rowdies, Raufbolde, Räuber, Raubmörder, Radfahrer ....

Er übertrieb immer etwas mit Absicht, lächelte über sich selbst. Aber nicht, wenn die Sprache auf die radelnde Frau kam! Oh Schmach der Menschheit, Scandal der Weltgeschichte, barbarischer Hohn aller Aesthetik! Jawohl, da sitzt sie und trampelt — womöglich gar noch in Pumphosen — und zu Hause liegen die zerrissenen Strümpfe; der Mann näht sich die Knöpfe selbst an, das Essen kocht über, und aus der Wiege stürzt das Kind. Wenn er in Eifer kam, konnte er auch noch weiter erzählen: der erschrockene Vater springt auf, reisst den Petroleumofen um, die Gardine brennt, die Stube brennt, das Haus brennt, die Strasse brennt, das Stadtviertel brennt, ganz London brennt, die Bank von England verbrennt mit, die Soldaten bekommen keinen Lohn, Meuterei, Irland reisst sich los, die Russen fallen in Indien ein, die Vereinigten Staaten nehmen Canada, Frankreich macht auch mit, Deutschland wird mit in den allgemeinen Weltkrieg verwickelt, Oesterreich und Italien helfen natürlich, die Chinesen gehen gegen die Japaner los — und dies Alles wegen solch einer Radlerin in Pumphosen! Doch nein, Scherz bei Seite — die radelnde Frau war ihm eine unästhetische Scheusslichkeit. —

Lady Barrilon war es gewesen, welche dafür gesorgt, dass Sir Munro einmal zu dem grossen Herrenabend des Damen-Clubs eingeladen wurde, denn sie hatte auf den jungen reichen Mann, dessen Titel so gut zu dem ihren passte, schon speculirt, als ihr kränklicher Gatte noch gar nicht richtig todt gewesen. Er war gekommen. Sie fuhren gern Alle Rad — na, schliesslich waren es doch auch Menschen, und er wollte sich diese Champion-Damen einmal in der Nähe betrachten.

Da hatte er auch Miss Howard kennen gelernt, und schon an jenem Ahend dachte Lady Judith ernstlich darüber nach, ob es nicht ein unauffällig, aber sicher wirkendes Gift gäbe, das die Gerichtsärzte dann nicht an der Leiche nachweisen könnten.

Sie sahen sich noch öfters, Miss Howard und Sir Munro, auf Bällen, im Theater, im Hyde-Park, und obgleich er sie auch mehrmals zu Rade gesehen hatte, sagte er doch eines Abends in einer Tanzpause, als sie in einer einsamen Fensternische sassen: Ich möchte Sie heirathen.

Das heisst, er gebrauchte viel mehr Zeit dazu; aber diese vier Worte bildeten doch den kurzen Inhalt seiner langen, wohlgesetzten Rede.

Sie hatte ein paar Mal den Fächer auf- und zugeklappt, betrachtete nachdenklich die Spitzen ihrer Tanzschuhe und wendete das Gesicht ihm zu.

»Nicht wahr, Sie fahren wohl Rad?''

»Nein, und wenn Sie meine Gattin sind, wenn Sie also Liebe für mich empfinden, so werden Sie mir zu Liebe das Radfahren aufgeben.«

»Ach, wie schade, mein lieber Sir Munro! Ich habe mir nämlich gerade gestern eine neue Maschine mit zweijährigem Garantieschein gekauft.«

»Und Sie wollen diesen Garantieschein erst abnutzen.«

»Wenigstens für ein Jahr. Länger hält das Ding doch nicht.«

»So werde ich mir erlauben, in einem Jahre wieder vorzufragen.«

Sprach's, stand auf, machte eine vorschriftsmässige Verbeugung und ging.

»Vorausgesetzt, dass Sie radeln,« erklang es ihm nach. Natürlich war es nur Scherz gewesen. Sie liebte ihn, er wusste es. Wie könnte ein Rad der Liebe im Wege stehen! Sie war noch jung, sie wollte noch ein Jahr frei sein, und er wartete geduldig. Aber radeln that sie doch noch. Allerdings nur noch dreiviertel Jahr, dann rannte ihr eine scheu gewordene Droschke in die Maschine. Sie kam mit einer verstauchten Hand weg, das Rad dagegen ging in tausend kleine Stücke, und das Geschäft, welches den Garantieschein ausgestellt hatte, wollte von einer kostenlosen Reparatur nichts wissen; sie solle sich an den Droschkengaul halten. Seit dieser Zeit radelte Ellen nicht mehr. Nun hätte er kommen können, aber er kam nicht; Munro war in allen Geschäftssachen auffallend pünktlich.

Aber jetzt war das Jahr um; jetzt hatte er seine Visitenkarte mit Titel und Adelswappen abgegeben.

»Miss Howard lässt bitten,« sagte die Kammerzofe, schloss hinter ihm die Thür und legte das Ohr an das Schlüsselloch.

Ellen sass vor einem Tisch, auf dem eine grosse Landkarte ausgebreitet lag, stand auf, neigte den Kopf, machte eine Handbewegung nach einem Stuhl und setzte sich selbst nieder.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Sir Munro?«

»Vor einem Jahre fragte ich Sie, ob Sie meine Gattin werden wollten,« steuerte der junge Engländer frischweg auf sein Ziel los. »In einem Jahre sollte ich die Frage wiederholen, ich thue es hiermit, denn meine Liebe zu Ihnen ist dieselbe geblieben.«

»Ich entsinne mich noch recht genau. Ja, Sir Munro, haben Sie unterdessen radfahren gelernt?«

Diesmal klang es gar nicht scherzhaft; sie sah auch recht bleich aus.

»Nein. Sie kennen meine Ansicht darüber. Dagegen weiss ich, dass Sie, seitdem Sie vor drei Monaten den schweren Sturz thaten, noch kein Rad wieder bestiegen haben.«

»Ganz richtig, aber was berechtigt Sie zu dem Glauben, dass ich deswegen nie mehr radfahren werde? Ich beabsichtige das Gegentheil, und ich muss fast annehmen, dass Sie Ihrer Frau diesen Sport verbieten werden. Ich aber würde mir das unschuldige Vergnügen nicht verbieten lassen.«

»Oh Ellen, wie können Sie so sprechen!« sagte er leise, und dabei blickte er sie so treuherzig und wehmüthig zugleich an, dass sie die Augen zu Boden schlagen musste. »Genügt Ihnen denn nicht meine Erklärung: Ich liebe Sie? Glauben Sie wirklich, ich könnte Ihnen eine Freude missgönnen, weil sie nicht mit meinen Neigungen oder Ansichten übereinstimmt? Nein, nein, Ellen! Fahren Sie ruhig Rad, und wenn Sie mich lieben, werden Sie es dennoch aufgeben, nicht meiner Launen wegen, sondern weil ich ständig in Todesangst sein werde, wenn ich meine geliebte Ellen durch die Strassen fahren weiss.«

Mit ihrer erkünstelten Fassung war es vorbei; tief liess sie das Haupt sinken.

»Ich kann nicht mehr,« flüsterte sie und ihre Augen füllten sich mit Thränen, »Sie sind zu spät gekommen.«

Eine lange Pause entstand. Schmerzlich blickte er sie an.

»Zu spät?« flüsterte auch er. »Dann freilich ....«

»Nein, nein,« unterbrach sie ihn hastig. »Ich bin frei. Aber ich habe vorhin gewettet, in 300 Tagen auf dem Rade um die Erde zu fahren und so müssen Sie wieder ein Jahr warten.«

Er glaubte nicht recht gehört zu haben. Es war aber doch eigentlich merkwürdig, sie sprach doch ganz deutlich und er hörte ganz gut. So beugte er sich etwas vor.

»Bitte, um — um — um was wollen Sie fahren?«

»Um die Erde.«

»Um — um — um die Erde?« lächelte er verlegen. »Bitte, ich verstehe immer noch nicht recht. Was ist das: die Erde? Habe noch nie davon gehört.«

»Nun, unsere Erde hier. In 300 Tagen.«

»Um — um unsere Erde hier wollen Sie fahren? Auf dem Rade? Sie meinen unsere Erde, auf der wir leben? Rund herum?«

»Jawohl, rund herum, dieselbe Tour, welcher jener Stout gemacht hat, aber in 300 Tagen, und zwar ganz allein.«

Munro fiel mit dem Rücken schwer gegen die Lehne des Stuhls, liess die Arme hängen, streckte die Beine aus, weiter als es der Anstand erlaubte, und machte sogar den Mund auf. So blieb er sitzen. Dann zog er wieder die Beine an, und um den geschlossenen Mund trat abermals jenes verlegene Lächeln, als er seitwärts nach dem Mädchen blickte.

»Nein — ach nein, Ellen! Nicht wahr, Sie machen nur ein Spässchen?«

»Leider nicht!« Und plötzlich brach ihre Verzweiflung aufrichtig durch. »Oh, Robin, warum sind Sie nicht gestern gekommen!!«

Da erstarb sein Lächeln, er sprang auf.

»Um Gottes willen! Was ist denn da passirt?« Sie erzählte. Er vergass sich so weit, dass er im Zimmer auf und ab rannte, er murmelte vor sich hin, es klang bald wie »verfluchter Club« und »verrückteWeiber«; als sie aber geendet und er vor ihr stand, da lachte er wieder fröhlich.

»Nu, was ist denn da weiter dabei! Da bezahlen Sie einfach die 10 000 Pfund und bleiben hübsch zu Hause.«

»Das kann ich nicht, nur das nicht,« wehrte aber Ellen, ihre Energie zusammennehmend, ab. »Ja, wenn es nicht gerade die Lady Barrilon wäre.«

Er sah sie aufmerksam an.

»Ah, Sie beabsichtigen, diese Dame zu ruiniren, Miss Howard, das ist — nicht schön von Ihnen.«

Jetzt stand auch sie auf, ihre Augen begannen zu blitzen.

»Sie werden mich nicht lehren, was recht ist und was nicht,« rief sie unmuthig. »Allerdings, ich möchte sie büssen lassen, und nimmermehr werde ich ihr 10 000 Pfund in den Schooss werfen.«

»Nimmermehr? Nun, Sie werden ihr die 10 000 Pfund ja doch geben müssen.«

»Wieso denn?«

»Miss Howard,« sagte er staunend, »glauben Sie denn wirklich ernstlich daran, diese Wette gewinnen zu können, diese sinnlose Fahrt überhaupt anzutreten ......«

»Wie meinen Sie das? Sinnlos?« unterbrach ihn Ellen entrüstet. »Ich werde es der Welt beweisen, was eine Engländerin zu leisten vermag.«

»Sie können es nicht, was meinen Sie denn wohl! 32 Meilen jeden Tag fahren! Schon innerhalb der ersten acht Tage brechen Sie verzweifelt zusammen.«

Ach, hätte er dies doch nicht gesagt! In anderer Weise wäre es ihm wahrscheinlich möglich gewesen, sie von ihrem Vorhaben abzuhalten.

»Ich könnte es nicht? Sie werden es sehen. Ich fahre übermorgen von Liverpool ab.«

Die Gefährlichkeit der Reise kam ihm erst jetzt richtig zum Bewusstsein, und er jammerte darüber.

»Sie wissen ja gar nicht, was Sie thun wollen! Und nun allein, mein Gott, allein!! Denken Sie doch nur an die Indianer, an die Thuys in Indien, an die Araber in Kleinasien, denken Sie an die Löwen, Tiger und Schlangen ......«

»Löwen giebt es auf meiner Tour nicht, und durch jenes prachtvolle Bild können Sie mich nicht bange machen. Ich werde beweisen, wie auch ein Weib mit etwas Courage und einem Revolver überall durchkommt.«

»Jawohl, aber Ueberschwemmungen, Tropenregen, Sonnengluth, Durst, Hunger, Fieber und Pestilenz, die sind nicht mit auf dem Bilde angegeben! Mein Gott, mein Gott! 8500 Meilen! Wissen Sie denn, eigentlich, wie viel das ist? Sehen Sie diesen langen Tisch, setzen Sie diesen acht und eine halbe Million mal zusammen, dann haben Sie 8500 Meilen.«

»Ich will keine Tische zusammensetzen, sondern ich will um die Erde in 300 Tagen radeln. Oder gut, setzen Sie die acht Millionen Tische aneinander, dann kann ich darauf fahren.«

Plötzlich verstummte der jammernde Baronet, steif blickte er sie an.

»Ellen, mir kommt ein Gedanke! Wenn Sie nun einmal darauf bestehen, so werde ich Sie wenigstens begleiten.«

Freudig schrak Ellen auf.

»Robin! Das wäre vortreff — — doch nein; ich darf ja Niemand zu meiner Begleitung auffordern — brauche ihn freilich auch nicht zurückzuweisen — nein, mein Herr, ich reflectire nicht auf Ihre Begleitung.«

Sie sagte es glücklächelnd — und da verdarb er wieder Alles.

»Ah, Sie meinen, ich werde noch in aller Schnelligkeit Radfahren lernen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten? Nein, Miss Ellen, da irren Sie sich. Allerdings werde ich mich immer in Ihrer Nähe aufhalten, aber nur, um sofort zur Stelle zu sein, wenn Sie selbst aus Verdruss über Ihren Eigensinn Ihr Rad in Stücke schlagen, und dann werde ich Sie abermals fragen, ob Sie nun meine nicht mehr radelnde Frau werden wollen. Empfehle mich.«

Hinaus war er, und diesmal stand Ellen zur Statue erstarrt da.

»Das werden Sie nicht thun, Sir Munro!!« erklang es in etwas kreischendem Tone.

Es kam keine Antwort. Er war fort, war so von ihr gegangen! Die Statue wurde wieder lebendig, die schlanken Hände ballten sich zu kleinen Fäusten.

»Wenn er es thäte,« kam es keuchend über ihre Lippen, wenn er mich verlieren lassen will — und darauf kommt es ihm nur an — und er wird es thun — er will mich demüthigen — und eigensinnig hat er mich genannt — — das — das — kann ich ihm niemals verzeihen!«

Vielleicht bildete sie sich jetzt ein, ihn zu hassen; aber plötzlich warf sie sich laut anfschluchzend auf das Sopha, sie weinte bittere Thränen, und die Worte, welche sie schluchzte, zeugten eigentlich von keinem Hasse gegen ihn:

»Nun habe ich auch ihn verloren! Und das hat sie ja nur gewollt! Ach, mein Eigensinn, mein unglücklicher Eigensinn!«

Doch nicht lange währte ihre Verzweiflung. Es war eben ihr Trotz, welcher wieder siegte, jener herrliche, stolze, götterbezwingende Trotz — ohne den wir bekanntlich heutzutage noch keine Streichhölzchen hätten.

Als sie sich erhob, seufzte sie etwas, strich das Haar aus den Schläfen und kehrte zurück zu der Landkarte.



3. Capitel.



Ein Weltenbummler.

Vor der Villa hielt Sir Munro's Equipage; auf dem Bocke sass der Rosselenker, ein Diener hielt den geöffneten Schlag.

»Hôtel Alexander,« sagte der Einsteigende, und auch der Diener stieg auf den Bock.

Wenn ein Diener auf den Bock klettert, so ist das von keiner grossen Bedeutung; aber dieser kleine, schmächtige Mahn in Livree kletterte nicht, sondern er stieg hinauf, und wie er es that, das war wenigstens merkwürdig. Er benutzte nämlich nicht die beiden Tritte, sondern er hob den einen Fuss, immer höher, bis in Kopfeshöhe, so setzte er ihn oben auf den Bock hinauf, und dann sass er selbst oben. Wer dies beobachtet hatte, und er wollte es zu Hause nachzumachen versuchen, der hätte gefunden, dass er es nicht fertig brachte.

Munro war so in Gedanken versunken, dass er nicht merkte, wie der Wagen schon das Hôtel erreicht hatte und wie es vor dem Portal von Menschen wimmelte, welche alle oben nach den Fenstern starrten. Erst als der Wagen hielt und der Diener den Schlag aufriss, erwachte er und sprang heraus.

Neben der Portierloge stand ein Garçon in der beliebten Kellnerstellung von unnachahmlicher Grazie: die Beine so breit als möglich, den Bauch herausgereckt, vor den Beinen die mit beiden Händen auseinander gespannte Serviette: — »Ich bin Ich, und was kann aus mir noch Alles werden!«

»Nicht wahr, in diesem Hôtel wohnt Mr. Stout, der Erdumradler?«

»Mr. Starke ist sein Name, Curt Starke, er will nicht anders genannt sein,« beeilte sich der Garçon zu sagen, nachdem er die Beine zusammengeklappt hatte. »Jawohl, er logirt hier, ich bin sein Zimmerkellner.«

»Anwesend? Ich möchte den Herrn sprechen.«

»Bedauere. Mr. Starke empfängt keinen Besuch. Es waren schon sehr viele da — äh — besonders auch — äh — sehr viele Damen. Mr. Starke empfängt Niemanden.«

»Na, probiren wir's mal. Sir Munro lässt um eine Unterredung bitten. Melden Sie es.«

Der Titel und die vor dem Portale haltende Equipage verfehlten ihre Wirkung nicht, der Kellner eilte, Munro folgte ihm langsam nach. Auf der Hälfte der ersten Treppe trafen sie wieder zusammen.

»Bedauere, äh,« der Ganymed tastete an seiner Halsbinde herum, »Eure Herrlichkeit — äh — sollten sich verkehrt aufhängen lassen, mit den Beinen nach oben. Verzeihung, aber das hat Mr. Starke wirklich gesagt.«

Es war trotzdem ein starkes Stück, dass der Kellner dies wiederholte. Dabei sah das Kerlchen gar nicht so dreist aus, vielmehr recht bescheiden. Doch dieser Baronet fühlte sich nicht erhaben über den anderen Pöbel; er lachte belustigt.

»Versuchen wir es auf eine andere Weise, bei dem gestrengen Herrn eine Audienz zu erhalten. Hier,« er entnahm der Brieftasche eine Visitenkarte, schrieb unter seinen Namen eine Zeile und gab dem Kellner die Karte, »bringen Sie ihm dies, und wirkt das nicht, dann brauche ich ihn auch nicht mehr zu sprechen.«

Wieder fühlte der Garçon an seiner Halsbinde herum.

»Bedauere. — Aeh, wenn ich noch einmal käme, dann wollte er — ich — mir meinen zarten Hals umdrehen. Das ist nicht etwa ein Witz von mir, das hat er wirklich gesagt.«

Immer mehr belustigt, drückte Munro dem Aengstlichen eine halbe Krone in die Hand, und daraufhin riskirte dieser seinen Hals.

»Wenn ich ihn auch nicht gebrauchen kann...es muss doch schon interessant sein, diesen stolzen Grobian kennen zu lernen,« dachte der Baronet, und da kam der Abgesandte mit der frohen Botschaft schon zurück.

»Euere Herrlichkeit sind angenehm.«

Die Thür des comfortablen Hôtelzimmers im ersten Stock wurde von dem Kellner geöffnet, und:

»Sie wollen mich zu einer Radtour um die Erde engagiren? Well, was zahlen Sie mir?« klang es ihm sofort entgegen.

Munro's erster Blick war auf einen grossen, gelben, langhaarigen Windhund gefallen, welcher auf dem Plüschsopha lag, den Eintretenden nicht beachtend. Sein zweiter Blick traf den Mann, der in der Nähe des Fensters an einem Tische sass und, wie Munro erkannte, getrocknete Pflanzen in ein Herbarium klebte. Er hatte jene Worte gesprochen, ohne nach der Thür zu sehen. Erst jetzt stand er langsam auf.

Da er sich durch seinen selbstständigen Charakter von den Durchschnittsmenschen unterschied, verdient auch sein Aeusseres eine nähere Beschreibung.

Es war — um ein gewöhnliches Maass für Körpergrösse beizubehalten — eine etwas über sechs Fuss hohe Gestalt, schlank, aber mit sehr breiten Schultern, während auf dem starken muskulösen Halse ein kleiner Kopf sass. Die ungewöhnliche Körperkraft erkannte man aus den grossen und dennoch schlanken Händen, an denen Alles von Muskeln, Sehnen und Adern starrte, obschon sie jetzt wohl keine schwere Arbeit mehr verrichteten, denn die Fingernägel waren gut gepflegt. Tief braun wie diese Hände war das Gesicht mit der grossen, kräftigen Nase, und eine Stulpnase hätte auch nicht zu dieser Figur gepasst; blau das Auge, das dünne Bärtchen noch etwas heller als das lichtblonde, schlichtgescheitelte Haar. Bei einem Manne soll man nicht von »schön« und »hübsch« sprechen, ein pomadisirter Adonis mit Wachspuppengesicht mag »hübsch« sein — dies hier war ein charaktervoller Männerkopf.

Wie er so dastand, hochaufgerichtet, lag etwas Bewegungsloses in ihm, nicht nur darum, weil er sich jetzt nicht bewegte — er glich einer ehernen Statue, und auch nicht nur wegen seiner broncenen Hautfarbe. Das Gesicht wohl tiefernst, doch nicht unfreundlich — ein unbewegliches Gesicht; die blauen Augen kalt wie Eis und dennoch blitzend wie scharf geschliffener Stahl; Alles aus einem Erzguss. Er bewegte sich, er sprach, aber das Bild von der ehernen, unbeweglichen Statue wollte nicht weichen, denn auch die Stimme schien von hartem, wohlklingendem Metall erzeugt zu werden. Ruhe, eine eiserne, durch nichts zu erschütternde, über jeden Wechsel erhabene Ruhe - das war in seinem Aeusseren ausgedrückt, und diese Ruhe schien auch sein innerstes Wesen zu sein. Er sprach, wie er sich bewegte, langsam und bedächtig, und ehe er eine Antwort gab, liess er für gewöhnlich eine lange Pause eintreten, auch wenn gar keine Ueberlegung nöthig war. »Well, Sir, was zahlen Sie mir?«

Noch immer staunte Munro das broncene Standbild an. Es konnte ja sprechen? Ob denn dieses Gesicht wohl auch lachen und weinen könnte? Dann raffte er sich auf.

»Das Bezahlen ist für mich ganz Nebensache .....«

»Für mich die Hauptsache. Sie müssen erst eine Idee von meinen Forderungen bekommen. Ich verlangte und erhielt von den Globe-Fahrradwerken pro Tag ein Pfund Sterling Reisespesen und pro Tag 10 Schilling Gehalt, und dies für zwei Jahre, während welcher ich um die Erde zu kommen versuchen sollte. Verstehen Sie? Auf ein Risico, auf eine Wette und dergleichen lasse ich mich meinerseits nicht ein. Dagegen erhielt ich für jeden Tag, den ich an den 780 Tagen ersparte, eine Prämie von 5 Pfund. Das war mein Verdienst. Die Reisespesen für zwei Jahre mussten mir im Voraus bezahlt werden, damit ich sie auf die einzelnen Stationen vertheilen konnte; das Gehalt für zwei Jahre, also 365 Pfund, wurde deponirt. Dies ist Alles. Keine Lebensversicherung. Ich mache keinen schriftlichen Contract. Wem ich nicht auf sein einfaches Wort hin traue, mit dem lasse ich mich nicht ein. Das Deponiren des Geldes ist nur der geschäftlichen Wechselfälle wegen. Nun kennen Sie ungefähr meine Bedingungen, unter welchen ich solch eine Reise mache.«

»Ich finde sie sehr bescheiden,« entgegnete Munro. »Glauben Sie, ganz genau dieselbe Tour, zu welcher Sie 512 Tage gebraucht haben, in 300 Tagen machen zu können?«

Diesmal war die lange Pause begreiflich.

»Ja,« sagte dann die metallische Stimme kurz. »In diesem Falle aber beanspruche ich pro Tag 30 Schillinge Spesen und ein Pfund Gehalt, ferner für jeden Tag, den ich erspare, 20 Pfund Prämie. Doch dies letztere nur, wenn es Ihnen hierauf ankommt, sonst werde ich die 300 Tage einhalten.«

»Gestatten Sie erst noch eine Frage. Halten Sie es für möglich, dass eine junge Dame, gesund und kräftig für ihr Geschlecht, diese Tour in 300 Tagen machen kann?«

»Nein.«

»Warum nicht?''

»In Nebraska wird sie scalpirt, in Beludschistan schneidet man ihr den Kopf ab. Menschenfresser giebt es auf meiner Tour nicht, desto mehr Seelenverkäufer und Mädchenhändler. Nein, ich halte es nicht für möglich.«

»Auch nicht, wenn Sie die Dame begleiten?«

»Das haben Sie noch nicht gesagt. Wenn nur die Radfahrt als solche in Betracht kommt, dann glaube ich, dass ein gesundes, kräftiges und etwas energisches Mädchen, welches will, wirklich will, diese Strecke in 300 Tagen machen kann, denn vor den Gefahren und was sonst noch in Betracht kommt, kann ich die Dame schützen, so weit ein sterblicher Mensch versprechen darf. In diesem Falle aber verlange ich 30 Schilling pro Tag Gehalt, die Spesen bleiben dieselben, vorausgesetzt, dass die Dame ihre Kosten selbst bestreitet.«

»Also Sie halten es für möglich!« meinte Munro sinnend. »Ja, energisch ist Miss Howard zweifellos. Aber glauben Sie denn nun nicht, Mr. Starke, dass ein Mädchen, und sei es auch noch so energisch, endlich verzweifelt zusammenbrechen wird. Es ist doch eine fürchterliche Leistung; es muss ja nervenzerreibend sein.''

»Ich verstehe, was Sie meinen. Dass sie sich nicht übernimmt, nicht zusammenbricht, nicht verzweifelt; dafür bin ich eben da; ich treibe und zügele, ich kenne Mittel, um immer wieder neue Spannkraft zu verleihen, das beste ist mein Beispiel, und das ist es, was ich mir besonders honoriren lasse.«

So vernahm Munro, wie hier aus ruhigem Munde das Unternehmen, welches er für ganz sinnlos gehalten, als eine Möglichkeit besprochen wurde. Er hatte es nicht zu hören geglaubt, sich den Weltreisenden auch ganz anders vorgestellt; sein Herkommen hatte überhaupt etwas ganz anderes bezweckt.

»Nun lassen Sie noch ein Wort mit sich sprechen, Mr. Starke. Die Dame, welche ihre Tour in 300 Tagen machen will, ist Miss Ellen Howard, und ich — ich darf sie als meine Braut betrachten. Es handelt sich um eine Wette, an welcher ich jedoch nicht betheiligt bin. Miss Howard ist — etwas eigensinnig. Ob sie gewinnt oder nicht, ist mir ganz gleichgiltig; die 10 000 Pfund Einsatz bedeuten für sie auch gar keinen Verlust, ich trüge ihn gern selbst, mir liegt nur daran, sie von ihrem Eigensinn zu heilen. Sie verstehen wohl, Mr. Starke. Sie sollen Sie begleiten, beschützen, dass ihr kein Haar auf dem Haupt gekrümmt wird, es ist ja mein Theuerstes auf Erden, ich selbst werde sie begleiten, wenn auch nicht per Rad, aber — ich möchte eben gerade, dass sie unterwegs verzweifelt zusammenbricht, das Marterrad mit Abscheu von sich wirft, und dies sollen Sie herbeiführen.«

Die gewöhnliche Pause entstand; die blauen Stahlaugen blitzten den Baronet an.

»Ist denn Miss Howard hiermit einverstanden?«

Ob solch einer thörichten Frage verlor Munro beinahe die Fassung. Dieser Mann sah doch eigentlich gar nicht so dumm aus.

»Natürlich nicht!« rief jener erregt. »Sie will doch die Wette gewinnen!«

In die eherne Statue kam zum ersten Male wieder Leben, sie machte eine abwehrende Handbewegung.

»Dann suchen Sie sich einen anderen,« erklang es ruhig und kühl. »Das, was Sie von mir verlangen, ist für mich unehrliches Spiel.«

Wie niedergedonnert stand Munro einige Augenblicke da. Diese Worte, so hervorgebracht, hatten ihn wie wuchtige Schläge auf den Kopf getroffen.

»Aber ich meine es doch nur gut mit ihr!« rief er dann aus. »Was kümmern uns denn die 10 000 Pfund! Und ich bezahle Ihnen Alles, was Sie ...«

»Genug. Jedes Wort in diesem Sinne gesprochen, ist vergebens. Vor allen Dingen, verschonen Sie mich mit Geldversprechungen. Für so etwas bin ich nicht zu haben. Lieben Sie die Dame, und sind Sie ein Mann, so bitten Sie sie, dass sie die Fahrt nicht unternimmt, verbieten Sie es ihr, wenn Sie ein Recht dazu zu haben glauben, aber nicht, dass Sie sie hinterrücks zu Falle bringen wollen.«

Ei, konnte der Mann die Wahrheit sagen! Und Munro war ihm gegenüber ganz ohnmächtig, konnte sich nicht vertheidigen, nur entschuldigen, er wurde immer verlegener, purpurroth, stammelte immer mehr davon, wie er es ja nur gut meine.

Bewegungslos dastehend, liess ihn Starke ruhig reden, bis er in einer Pause einmal zu Worte kommen konnte. »Sie haben da viele Worte verschwendet. Gut, engagiren Sie mich doch, ich will die Dame begleiten, natürlich werde ich mein Möglichstes thun, dass sie die Wette gewinnt; aber ich glaube Ihnen auch die Versicherung geben zu können, dass die Dame nach Beendigung der Fahrt nicht so leicht wieder ein »Marterrad« besteigt, denn darauf, scheint mir, kommt es Ihnen doch nur an.«

Wieder erstarrte Munro, während jetzt aber ein Lächeln sein Gesicht zu verklären begann. Wahrhaftig, der Mann hatte Recht. Denn Ellen zu demüthigen, daran hätte er ja nie gedacht, und auch jetzt glaubte er noch nicht daran, dass sie die furchtbare Tour aushalten würde. Aber dieser Mann imponirte ihm immer mehr, den musste er als ihren Begleiter haben.

»Famos! Das hätten Sie mir übrigens auch eher sagen können! Sie wollen also Miss Howard begleiten?«

»Gewiss. Wird die Dame aber auch mit meiner Begleitung einverstanden sein?«

Oh, da kam schon wieder etwas dazwischen. Ellen hatte ihm die Bedingungen ganz genau geschildert, er that es jetzt Starke gegenüber. Also allein, doch wenn ihr Munro für sein Geld diesen Mann beigesellte, ohne ihre Einwilligung, so konnte ihre Gegnerin, Lady Barrilon, nichts dagegen einwenden. Aber würde sich dieser Mann, der offenbar eine gute Portion Stolz besass, auf so etwas einlassen? Er sollte sich zum Begleiter einer gebildeten Dame aufdrängen. Und da kam es auch schon.

»Wenn ich nach dem, was ich nun über die Dame gehört habe, Miss Howard beurtheile, so scheint es mir, als könne ich ihr als Begleiter nicht angenehm sein, gerade ich, Curt Starke. Die jedenfalls etwas stolze Engländerin will beweisen, dass sie, ein Mädchen, das in 300 Tagen fertig bringt, wozu ein professioneller Wanderfahrer, ein starker Mann, 512 Tage gebraucht hat. Sollte es nicht so sein?«

Munro gab es ehrlich zu, und zaghaft blickte er den Hünen an.

»Die Landstrasse ist frei wie die Prärie und die Wüste,« lautete aber dessen Antwort, welche Munro von allen Sorgen befreite, »sie kann mich nicht hindern, neben ihr zu fahren und zu halten, wenn sie hält, und ausserdem ist es ja mein Weg, den sie benutzt. Ja, ich begleite sie, empfindlich bin ich nicht, und mit der Zeit werden wir schon gute Freundschaft schliessen.«

Starke wandte sich gegen den Tisch, stopfte eine Holzpfeife aus einem Lederbeutel und zündete sie in seiner bedächtigen Weise an.

Es war noch kein Gontract gemacht. Und da fiel es dem englischen Baronet zum ersten Male ein, was dieser Contract für eine Bedeutung haben würde.

Konnte denn jener Mann Gedanken lesen? Schliesslich lag die Frage sehr nahe, er hatte sie durch seine letzten Worte selbst angeregt. Er hielt sich von Munro halb abgewendet, rauchte und betrachtete ein Oelbild, welches das alte Thema von dem Liebespaare auf der Gartenbank mit den beiden sich schnäbelnden Turteltauben behandelte.

»Wir haben noch nichts abgemacht,« sagte seine tiefe, ruhige Stimme. »Ja, Sir Munro, wissen Sie denn, wer ich bin? Ich soll also eine junge Dame, welche Ihre Braut ist, um die Erde begleiten. Ich werde für 300 Tage ihr ständiger Gesellschafter sein, von übermorgen an. An Bord werden wir noch nicht in nähere Berührung kommen. Dann aber werden wir im Hôtel unter einem Dache schlafen, jedenfalls stets Zimmer an Zimmer, dafür muss ich sorgen. Ich soll sie ja beschützen. Wir werden auch in mancher Hütte mit nur einem Raum übernachten. Oftmals werden wir am einsamen Lagerfeuer campiren. Haben Sie sich dies Alles auch recht überlegt, Sir Munro?«

Mit ausgestreckter Hand ging der junge Mann auf ihn zu.

»Eben durch diese offenen Worte haben Sie jedes Misstrauen beseitigt. Hier meine Hand.«

»Nein, ich nehme sie nicht. Sie wissen ja gar nicht, ob Sie Ihre Hand nicht einem Schurken geben. Ich nehme Ihre Hand nicht.«

Munro musste sie zurückziehen. Er stand einem Räthsel gegenüber.

»So erzählen Sie mir doch, wer Sie sind.«

»Das können Sie haben.«

Er ging an das Fenster und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, kreuzte die Arme über der breiten Brust.

»Was ist das?« fragte Munro, als er auf der Strasse ein Stimmengewirr vernahm.

»Ich lasse etwas meinen Rücken bewundern, Tag und Nacht stehen die kleinen und die grossen Kinder unten. Nun also: Harry Curt Starke. Geboren im Dorfe Nowawes bei Potsdam. Der Geburtstag interessirt Sie doch nicht. Jetzt bin ich 34 Jahre alt. Meine Mutter war Waschfrau, mein Vater vertrank ihren Verdienst. Ich war von je ein Taugenichts und ein Vagabund. So sagte man. Thatsächlich, wenn ich nur konnte, so lief ich hinter die Schule, um im Grunewald zu wilddieben. Mit Grashüpfern und Eidechsen fing ich an, mit Wildschweinen und Sechszehnendern hörte ich auf. Aber ich war damals noch ein Kind, dachte mir nichts dabei. Eines Tages, in meinem zwölften Jahre, wurde ich dabei erwischt, lief immer geradeaus, kam nach Hamburg, kroch in ein Schiff, auf hoher See tauchte ich wieder auf. Da war ich Schiffsjunge auf einem amerikanischen Schooner. Sie sehen, ich habe etwas früh angefangen. Der Capitain war eigentlich Walfischjäger, ging in New-York zum alten Beruf, nahm mich mit. Ich lernte etwas. Hatte schon damals Knochen und Schultern. Mit fünfzehn Jahren, in einem Alter, wenn sich andere Jungen erst nach einem Berufe umsehen, war ich schon erster Harpunier, liess in New-York auf meine Kunst bieten, harpunirte nicht unter 50 Dollar Fangprämie. Kurz, Geld verdiente ich wie Heu. Ich erwähne dies nur, damit Sie nicht glauben, ich bummelte in der Welt herum, weil ich nichts gelernt hätte. Ausserdem bin ich ein vermögender Mann. Nun, ich wollte noch mehr sehen als nur Eismeere und Schneefelder. So trieb ich mich in der ganzen Welt herum, bin ziemlich Alles gewesen, habe Kriege mitgemacht, mich auch sonst in allen Erdtheilen herumgeprügelt ....«

Der Erzähler brannte die ausgegangene Pfeife wieder an und fuhr in demselben ruhigen Tone fort:

»Einmal erinnerte ich mich, dass ich noch eine Heimath hatte, der ich Pflichten schuldig war. Ich ging nach Deutschland, stellte mich der Militärbehörde. Nein, man kannte mich nicht mehr. Heimathlos. — Heimathlos. — Ein schlimmes Wort. Ich hatte den Fluch selbst beschworen. Denn ein Fluch lastet auf mir. Rastlos wie der ewige Jude muss ich wandern, wandern, immer wandern. Ich muss, ich muss. Warum? Fragen Sie den Zigeuner, fragen Sie den Wandervogel nach dem Warum. Wenn mir die Kleider in Fetzen vom Leibe fallen, fühle ich mich am allerwohlsten. Keine Heimath, keine Hütte, keine Höhle, kein Nest. Kaum kann ich es noch unter einem Dache aushalten, in keinem Bette, dort auf der nackten Diele schlaf ich jede Nacht ..... —«

Forschend blickte Munro den Sprecher an. Vergebens. Keine Bewegung, keine Wehmuth, kein Zittern der Stimme, sie war unerschütterlich wie das broncene Gesicht.

Es war nur eine Pause im Zuhören, nicht im Erzählen gewesen.

».... und ich habe mich daran gewöhnt, habe den Fluch in Segen zu verwandeln gewusst, bin zufrieden. So wandere ich umher und suche das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, bin Führer von Jagd- und Forschungsexpeditionen, jetzt habe ich Reclame für eine Fahrradfabrik gemacht. Das heisst, sie macht Reclame mit mir, ich nicht für sie. — Das war in kurzen Worten ein langes Leben. — Vorbestraft bin ich, habe schon oft hinter Kerkermauern gesessen, bin aber immer wieder ausgebrochen. Sie verstehen wohl, da kommt es oft vor, dass Einen ein Pascha in's Loch wirft. Sonst, abgesehen von meiner frühesten Jugend, da ich wilddiebte, wie der Jugend gemauste Aepfel ja überhaupt am besten schmecken, habe ich noch nie betrogen oder gestohlen. Nun entscheiden Sie sich kurz, ob Sie mich engagiren wollen oder nicht.«

Gern hätte Munro noch mehr über diesen seltsamen Mann erfahren, zunächst aber musste er antworten.

»So engagire ich Sie hiermit zu Ihren mir gegebenen Bedingungen.«

»Gut. Ihr Wort genügt mir. Lassen Sie uns das Weitere besprechen.«

Starke stopfte sich eine neue Pfeife. Hinter Munro gähnte es, und wie er sich schnell umdrehte, sah er eben noch das furchtbare Gebiss in dem kleinen, aber sehr langen Kopfe des persischen Windhundes.

»Ein prachtvolles Exemplar.«

»Es ist Hassan el Seba, Sohn des Jussuf ben Nadir und der Fatime.«

Munro blickte sich um, ob auf dem Tische vielleicht das Bild eines Arabers lag, von welchem jener sprechen könnte.

»Ich meine diesen persischen Windhund.«

»Ich auch. Es ist aber kein persischer Windhund, auch kein russischer, wie man hier immer sagt, sondern es ist ein arabischer Antilopenjäger aus der lybischen Wüste.«

»So, so,« brummte Munro. »Ein herrliches Thier. Wieviel haben Sie dafür bezahlt? Oder wie sind Sie sonst dazu gekommen?«

Starke war zu ihm an das Sopha getreten.

»Diesen Hund kann man nicht kaufen, er lässt sich auch gar nicht verkaufen, nicht verschenken. Der Scheich der Beni-Surfs hat ihn mir zur Erziehung gegeben.«

Wieder durfte Munro von dieser Antwort denken, was er wollte. Er blickte den Hund an, und dieser ihn.

»Seit drei Jahren begleitet er mich,« fuhr Starke fort, »hat schon manche Meile zurückgelegt, auch jetzt wird er meinem Rade wieder folgen. Neulich, als ich Rad fuhr, hielt mich ein Schutzmann an, ob dies mein Hund sei, und ich musste wegen Thierquälerei eine ganz gehörige Strafe zahlen. Wer dieses englische Gesetz, dass ein Radfahrer keinen Hund mit sich nehmen darf, gemacht hat, das muss aber ein Hundekenner gewesen sein!«

»Kann ich ihn streicheln?«

»Beissen würde er nicht. Aber thun Sie es nicht, ich liebe es auch nicht, wenn mir ein Fremder am Körper herumgreift, Sie doch auch nicht.«

»Na, Mr. Starke,« lachte jetzt Munro, »bitte, nun erklären Sie mir endlich, was es mit diesem Wesen für eine Bewandtniss hat. Ist das auch wirklich ein Hund oder etwas Höherentwickeltes.«

»Wie ich Ihnen sagte, es ist ein arabischer Windhund. Ich sehe, Sie kennen die Verhältnisse nicht, Sir Munro, Sie sind Baronet. Es giebt keinen englischen Lord und Peer, keinen Fürsten in Europa, dessen Stammbaum so alt und so rein ist wie der von diesem Thiere; überhaupt wie alle dieser Wüstenhunde. Bekannter ist nur der Adel der arabischen Pferde geworden. Sie wissen, der Prophet Muhamed hatte fünf Stuten — Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf — von diesen gingen die ersten Stammbäume ab; die dieser Hunde sind noch um viele Jahrhunderte älter, und sie haben wirkliche Stammbäume, auf Pergament gezeichnet, und wie Ihnen jeder Araber, wenn ihm Pferde seiner Heimath vorgeführt werden, sagen kann: das ist eine Koheye, das dort ist eineDjulf - so wird er sofort, wenn er diesen Hund hier sieht, sagen: das ist ein Enkel von Nadir el Seba - und er wird sich vor ihm bis an die Erde verneigen.«

Dies that Munro zwar nicht, aber er betrachtete den Hund, gegen dessen Adel der seine ein ganz frischbackener war, jetzt doch mit etwas mehr Ehrfurcht. Hassan der Löwe seufzte tief auf, warf ihm einen verächtlichen Blick zu, drehte sich herum und steckte die Schnauze zwischen die Hinterbeine — und das brachte der englische Baronet auch nicht fertig.

Ehe die Reise selbst besprochen wurde, fiel Munro noch etwas Anderes ein. Auch er wollte sich ja anschliessen, wollte immer von Station zu Station mit der Eisenbahn oder mit sonstigen Gelegenheiten vorausreisen, immer für Räder sorgen u. s. w., kurz, er wollte den Beiden die Wege ebenen, so viel er konnte, und hierbei würde Ellen auch seine ergebene Treue erkennen. Aber er wünschte nicht, dass Ellen sofort erführe, wie er diesen Begleiter für sie engagirt habe. Denn er kannte die selbstständige Ellen, konnte sich recht lebhaft vorstellen, wie sie — anfangs wenigstens — die Sache auffassen würde. Was, einen Vormund? Einen Beschützer? Den brauchte sie nicht. — Starke sollte also seinen Auftraggeber verleugnen. Später machte sich ja das Alles von selbst.

Geduldig wie immer hatte ihn Starke ausreden lassen.

»Das kann ich nicht,« entgegnete er aber dann. »Wenn sie mich fragt: hat Sie Sir Munro als meinen Schatten angestellt? so werde ich mit einem Ja antworten. Denn ich lüge nicht. Allerdings täusche ich meinen Feind, und dem Räuber zeige ich einen falschen Weg, um meinen Freund zu retten. So weit treibe ich den kategorischen Imperativ nicht. Aber sonst lüge ich nicht. Warum ich wandre, warum ich auf der nackten Erde schlafe? Nein, fragen Sie nicht den Zigeuner, ich selbst kann Ihnen eine bessere Antwort geben. Weil ich frei sein will, damit ich nicht zu lügen brauche. Das ist die Antwort. Es mag Menschen geben, welche stets die Wahrheit sagen — doch ich bin noch keinem begegnet, und ich glaube, heutzutage darf man nicht mehr das Fass des Diogenes zur Wohnung haben, um schadlos die Wahrheit sprechen zu können. Ich darf es — denn ich habe nichts mehr zu verlieren, nachdem ich die Heimath verlor. Sir Munro, vernehmen Sie von mir ein grosses Wort, welches sonst vermessen klingt, aber nicht von mir, denn ich spreche es aus mit kühler Ueberlegung: Sie sehen vor sich einen zufriedenen Mann, dessen Glück durch nichts, durch gar nichts zu erschüttern ist. Ich habe der Welt entsagt, und deshalb gehört mir die ganze Welt. Ich lüge nicht, ich brauche nicht zu lügen, denn ich habe mir das Recht, die Wahrheit sagen zu dürfen, durch schweren Kampf errungen. — Ich lüge nicht.«

Diesmal war es wirklich ehrerbietiges Staunen, mit welchem Munro zu dem hünenhaften Sprecher emporblickte. Ich lüge nicht! Aus meinem Munde kommt kein unwahres Wort! Wo ist der Mensch, der so sprechen darf. Er wäre gesellschaftlich eine Unmöglichkeit. Er müsste als Einsiedler in die Wüste gehen oder ungefähr so leben, wie dieser Mann lebte.

Schon längst war Munro einem geheimnissvollen Zauber unterlegen. Er fühlte förmlich den kühlen Hauch von Ruhe, Kraft und Wahrheit, der von diesem Manne ausging. Solch' einen Mann zu seinem Freunde zu haben! Und dieser Hauch wirkte nervenstärkend.

Ja, richtig — seltsamerweise dachte Munro in diesem Augenblick daran — der kleine Zimmerkellner, der war auch von diesem Hauche getroffen, angesteckt worden, dass er so unverfroren wiederholen konnte: Eure Herrlichkeit sollen sich verkehrt aufhängen lassen — das hat er gesagt.

»Kein Wort weiter, Mr. Starke, ich bin mit Allem einverstanden.«

»Dann wollen wir die Reise, die Stationen besprechen, wie wir uns immer verständigen können, und bedenken Sie, dass, wenn ich morgen Abend schon nach Liverpool reisen soll, wir kaum noch 30 Stunden Zeit haben, und ich muss auch noch einige Vorbereitungen treffen, mein Rad nachsehen.«

»Sie werden wieder ein Globe-Rad fahren?«

»Ich werde mich hüten! Die Werkzeuge sammelten sich nach and nach zu einem halben Centner an, den ich mitschleppen musste, jeden Tag hatte ich fünf Stunden an der Jammermaschine zu doctorn. Doch was geht's mich an, wenn sie mit mir Reclame machen, ich halte mich nicht verpflichtet, dagegen zu eifern, und Thatsache ist es, dass ich nur die eine Maschine benutzt habe. Nein, ich habe in London noch ein Rad stehen, welches ich mir vor zwei Jahren selbst gebaut habe, das werde ich für's Erste gebrauchen.«

Er sprach durchaus nicht immer so ernst, wie er aussah; manchmal recht humoristisch, nur dass sich sein Aeusseres nie dabei veränderte, dass er nie lachte.

Munro öffnete das Fenster. Unten hielt ja noch seine Equipage.

»Dick,« rief er hinab, »fahr nach Hause und packe die beiden Seekoffer reisefertig.«

Dann wurden auch hier Landkarten ausgebreitet. 8500 Meilen sollten in kurze Strecken von Station zu Station eingetheilt werden. Es wurde Nacht, sie assen und arbeiteten bei Lampenlicht weiter. Sie waren erst im Lande der Mormonen am grossen Salzsee, und Starke wollte wenigstens noch bis nach San Francisco kommen, Munro erklärte, nicht mehr zu können; die Augen fielen ihm zu. Er legte sich gleich hier in's Bett, in diesem Zimmer, und als er am anderen Morgen ziemlich spät erwachte, sass Starke noch immer am Tisch neben dem offenen Fenster, im Coursbuche blätternd, schreibend und rauchend, und schon nach seiner geleisteten Arbeit konnte Munro beurtheilen, dass er nicht geschlafen hatte. Er schien keines Schlafes zu bedürfen.



4. Capitel.

Der achte September.

»Haben Sie etwas Verzollbares bei sich? Spitzen, Pretiosen, Spirituosen?«

Unter dem scharfen Blicke des amerikanischen Zollbeamten erröthete Ellen bis in die Schläfen, sie wurde immer verlegener, konnte nur noch flüstern — gerade jetzt, da sie sich vorgenommen hatte, offen aufzutreten, und sie hatte ja auch gar nichts bei sich. Und nun erröthete sie.

Erstens machte sie der Gedanke verlegen, dass jetzt die Augen aller Passagiere mit spöttischem Staunen auf sie gerichtet seien, denn Angesichts der Freiheitsstatue im New-Yorker Hafen präsentirte sie sich zum ersten Male in ihrem Weltreisecostüm, und zu diesem gehörten Hosen; denn sie benutzte ein Herrenrad, und Hosen hatte Ellen noch nie gegen den eleganten Radlerrock vertauscht gehabt.

Der Spiegel in der Cabine, in welcher jetzt ihr Reisekleid dem zur Verfügung stand, der es zuerst fand, hatte ihr zwar gesagt, dass sie recht fesch in dem abenteuerlichen Herrencostüm aussah, in dem dunkelbraunen Lodenanzug, mit den hohen, gelben Schnürstiefeln, wie unter dem schottischen Mützchen die blonden Locken hervorquollen, ein frisches, edles Gesicht einrahmend; auch der Revolver im Futteral am Gürtel gab ihr etwas von ritterlicher Verwegenheit, der Tornister auf dem Rücken entstellte das ganze Bild auch nicht — ja, sie sah recht gut aus, aber sie hätte schon kaum gewagt, aus der Cabine herauszutreten, und als sie dann ihr Rad über Deck fuhr, und als sie einen Mann vor Staunen förmlich zurückprallen sah, da wünschte sie, schon in der einsamen Mongolensteppe zu sein. Ach, diese Hosen! Es war ein grässlicher Gedanke.

Zweitens kam nun der Zollbeamte mit seinem durchdringenden Blick.

Sie hatte schon genug davon gehört, sie fühlte sich bereits von fremden Händen ausgeschält. Jacke, Weste, Hose, Stiefel, Strümpfe aus, Alles aus bis auf's Hemd, ob sie nicht eine Leibbinde von Brüsseler Spitzen trüge, und wenn es auch Frauenhände waren, in einer abgeschlossenen Kammer, es war doch furchtbar — und es musste so kommen, denn sie erröthete ja immer mehr, obgleich sie doch gar nichts Verzollbares hatte.

Aber Ellen irrte sich. Einmal hatten die Passagiere soviel mit ihren Koffern und mit sich selbst zu thun, dass sie das Mädchen im Männercostüm gar nicht beachteten, und dann wissen die Zollbeamten, dass gerade jene Damen und Jünglinge, welche gleich so erröthen und zittern, die allerunschuldigsten sind, die geben sich nicht mit Pascherei ab. Aber die, welche ein keckes Nein sagen und dreist den Blick erwidern, die haben sie schärfer im Auge, und überhaupt, diese Zollbeamten sehen, riechen und fühlen mehr als andere irdische Menschen, manchmal scheinen sie wirklich hellsehend zu sein.

»Nein, ich habe wirklich nichts,« stammelte Ellen.

»Ringe? Es ist nur ein Diamantring frei.«

Gehorsam streckte Ellen die Hände aus. Die linke trug nur einen oxydirten Kupferring, der nicht einmal einen Australneger gereizt hätte, und für Ellen vertrat er die Visitenkarte. »Ellen Howard, London« war darauf eingravirt, falls man einmal eine Leiche, nach Jahren ein Skelett finden sollte. »Dieses neue Rad muss verzollt werden.«

»Ich will — ich möchte — um die Erde fahren,« stotterte Ellen mit bittendem Blick und knöpfte das Jäckchen, auf, um den englischen Pass hervorzuholen.

»Schon gut,« wehrte der Beamte ab, der nicht einmal das leiseste Staunen bei dieser Erklärung zeigte. »Schläuche auf — Schläuche auf, Schläuche auf!« drängte er, als seiner Aufforderung nicht gleich nachgekommen wurde.

Ellen stützte sich auf das Rad, es zischte; sie sank etwas zusammen. Eine fremde Hand war es gewesen, welche die Ventile geöffnet hatte, eine braune, muskulöse Hand, die sich aus einem gelben Lederärmel hervorreckte. Nur wie im Nebel sah Ellen neben sich einen gelben Riesen stehen, der auch ein Rad bei sich hatte.

Der Beamte hob die Maschine etwas, wirbelte die Räder herum und brachte das Ohr in die Nähe der schlaffen Gummireifen. Denn was kann der intelligente Mensch nicht Alles in diese hineinpfropfen! Im Anfange, als die Pneumatics aufkamen, waren die vom Continent nach England gehenden regelmässig mit Tabak gepolstert, aber auch Schnaps wurde hineingepumpt, und das wurde im Grossen betrieben, bis die Zöllner eben dahinter kamen.

Der Zollbeamte ging. Plötzlich stand neben dem Schnelldampfer ein grosses Haus. Wie es hierher kam, wusste Ellen nicht, da aber alle Passagiere hineingingen, wollte sie es auch thun. Halt, erst musste sie ja die Schläuche wieder aufpumpen. Ach, nun fing die Aufschnallerei mit der Rahmentasche an, und sie brachte die Schnalle immer nicht auf und nicht wieder zu, und die schreckliche Pumperei ....

»Lassen Sie nur, Miss,« sagte der gelbe Mann neben ihr. Ellen sah ihn niederknieen, ein kleines, blankes Ding zog sich in seinen Händen meterlang aus, eins — zwei — voll waren die Reifen und die Ventilstöpsel wieder darauf.

Ehe Ellen noch danken konnte, wurde sie fortgeschoben. Gott mochte wissen, wo sie sich eigentlich befand, sie nicht. Es war ein grosses Bureau.

Fragen wurden gestellt, woher, wohin, ob sie verheirathet oder sonst schon einmal krank gewesen sei, ob sie auch lesen und schreiben könne.

»Haben Sie denn einen Waffenpass?«

»Nein, aber ich will eine Radfahrt um die Erde machen, und wenn ich ....«

»Allright, allright, go on! Next one.«

»Curt Starke, geboren zu Potsdam,« hörte die weitergeschobene Ellen hinter sich eine tiefe Stimme sagen.

»Was, sind Sie schon wieder hier? Machen Sie, dass Sie fortkommen.«

Mehr hörte Ellen nicht, und dann stand sie plötzlich mit ihrem Rade auf einer breiten, von Menschen und Fuhrwerken wimmelnden Strasse. Zunächst wäre sie bald überfahren worden, dann drohte ihr ein getragener Balken den Kopf einzustossen.

»Bitte, wo ist hier der Weg nach Trenton?« redete sie einen Mann an.

Dieser blieb gar nicht stehen, und sie hätte noch lange fragen können. Wer wusste hier etwas von einem Wege nach Trenton.

Da tauchte wieder der grosse, gelbe Mann auf mit dem gelben Hunde, den sie schon immer an Bord gesehen hatte.

»Folgen Sie mir immer, ich zeige Ihnen die Landstrasse nach San Francisco.«

Ellen hörte nicht den Witz heraus, sie empfand nur die Erleichterung, hier einen Wegekundigen zu haben; er mochte vorhin ihre Frage nach Trenton gehört haben, dort fuhr er schon; schnell schwang sie sich auf ihr Rad und fuhr ihm nach.

Sie wusste, dass dies jener Stout oder richtiger Starke war, der Weltumradler. Auch sie hatte oftmals vom ersten Promenadendeck aus den hünenhaften Mann bewundert, dessen enganliegender Lodenanzug den athletischen Gliederbau zeigte, und diese Ruhe, die er beim Gange, bei jeder Bewegung offenbarte, war wahrhaft majestätisch zu nennen. Gepanzert musste dieser Mann sein, sitzend auf gepanzertem Schlachtross, in der gepanzerten Faust das Schwert, welches unsere heutige Generation nicht mehr zu regieren vermag — es war die eherne Statue eines ausgestorbenen Geschlechtes.

Wollte er schon wieder eine abenteuerliche Fahrt antreten? Doch was ging es Ellen an. Ja, sie stand mit ihm allerdings in inniger Beziehung, sie wollte ja seinen Weg machen, wollte beweisen, dass sie, ein Weib, dasselbe in wenig mehr als die Hälfte der Zeit leisten könne, was jener kraftvolle Mann geleistet, aber sie kam gar nicht dazu, mit ihm auch nur ein Wort zu wechseln, nicht darum, weil er zweiter Cajüte fuhr, sondern weil sich ihre Bewunderung bald in Abneigung gegen diesen Mann verwandelt hatte.

Einmal hatte sie beobachtet, wie eine Dame den an Deck Promenirenden lächelnd und fächerwedelnd ansprach. Und was that dieser Mensch? Er liess sie einfach lächelnd und fächerwedelnd stehen, gab einfach gar keine Antwort. Ellen konnte ja auch stolz und reservirt sein, aber diese amerikanische Sitte, einen freundlich fragenden Menschen als Luft zu behandeln, weil es Einem eben gerade nicht passt, mit ihm zu sprechen, fand sie empörend.

Ein andermal wollte eine Dame dem schönen Hunde Zucker geben, und als er diesen nicht nahm, streichelte sie ihm wenigstens den Kopf.

»Lassen Sie doch meinen Hund in Ruhe!« rief der Kerl in barschestem Tone.

Da war es aus. Sie hasste den Grobian förmlich. Na, was sollte man auch von solch' einem Weltenbummler viel verlangen, ein ungebildeter, ungehobelter Geselle war's. Nein, sie hasste ihn nicht, jetzt war er Luft für sie.

In diesem Augenblicke, wie sie hinter ihm her fuhr, allerdings nicht. Da sorgte sie, dass sie ihn nicht aus den Augen verlor. Er schien doch wieder eine lange Radreise antreten zu wollen.

Auch er trug einen Tornister auf dem Rücken, nur viel umfangreicher als der ihre, hinten auf der sehr starken Maschine war noch ein grosses Pack angeschnürt; vorhin hatte sie gesehen, dass er am Gürtel zwei gewaltige Revolver in Futteralen hängen hatte. Die Landstrasse nach San Francisco wollte er ihr zeigen? Gut, sie benutzte ihn als Führer, bis sie aus der Stadt heraus war, dann, wenn sie den Weg allein wusste, blieb sie zurück oder sie jagte mit einem Worte des Dankes auf ihrem leichten Rade an ihm vorbei.

Dann drängte sich ihr mit Macht ein Gedanke auf: nun geht es los! Und mit einem Male hätte sie, schon hier zwischen Häusermauern im Strassengewühl, laut aufjubeln mögen. Nun geht es los! Geradeaus, immer geradeaus in die schöne Welt hinein! Es giebt keine Rückfahrt, keine Heimkehr mit der schmutzigen Eisenbahn! Immer geradeaus auf geflügeltem Stahlross!

Der zehn Schritt vorausfahrende Starke blickte sich einmal nach ihr um. Er wusste sehr geschickt stets den freiesten Weg zu nehmen. Und merkwürdig, der grosse, gelbe Hund hielt sich nie neben seinem Herrn, sondern immer dicht neben ihrem Rad.

Wagen und Menschen wurden spärlicher, Starke bog in eine breite, einsame Strasse ein und schlug auf dem Asphalt ein sehr flottes Tempo an. Die folgende Ellen bemerkte jetzt, dass er für seine grosse Maschine eine recht kleine Uebersetzung hatte, kleiner als die ihre, und dann wunderte sie sich, wie der Hund neben ihr bei dieser raschen Fahrt lief. Er jagte nicht in Sprüngen, sondern er trabte immer noch, warf die Vorderbeine einzeln hoch, es erinnerte ganz an den Lauf des mächtig ausgreifenden, englischen Wagentrabers. Diese Ruhe, wie der Hund gleich wie auf elastischen Sprungfedern vorwärts flog, ohne Hast, ohne Keuchen; das fiel ihr wirklich auf, es imponirte ihr.

Es kamen Gärten mit Villen, die Häuser wurden kleiner, dann wieder das rege Treiben einer Fabrikvorstadt mit dampfenden Schloten; hier roch es nach verbranntem Horn, dort nach parfümirterSeife, dann war der Duft kein Geruch mehr zu nennen, wieder eine ruhige Strasse, wieder Villengärten, die Häuser wurden immer ländlicher — und da eine Chaussee, eine richtige Landstrasse mit Aepfelbäumen, und da grünte in der lachenden Morgensonne das erste Feld!

Ellen hatte bedauert; dass der Antritt der Reise nicht in das Frühjahr fiel. Und nun war sie im September, dennoch plötzlich im Frühling! Dort sprang ja eben erst die Saat mit frischem Grün aus der Erde.

Es war die zweite Aussaat, welche noch in dem Nordamerika eigenthümlichen Nachsommer, dem sogenannten indianischen, zur Reife kommt; und jetzt war der Frühling dieses indianischen Sommers. Die Uhr der letzten Dorfkirche zeigte die neunte Morgenstunde. Jubilirend stieg eine Feldlerche auf.

Jetzt musste sich der gelbe Mann dort vorn verabschieden, damit sie ungestört mitjubiliren konnte.

Zuerst versuchte sie ihn zu überholen. Es gelang nicht. Er schien es zu merken, fuhr noch schneller. Nun, so fuhr sie einmal fünf Minuten langsam, dann war er verschwunden. Sie that es. Der Hund schoss an ihr vorüber, war mit drei Sätzen an seines Herrn Seite; und plötzlich fuhr dieser auch langsamer. Sie noch langsamer, er blickte sich um und that desgleichen.

Was sollte das? Nun vorwärts, vorbei an ihm! Und sie flog vorüber.

»Besten Dank, Mr. Starke.«

»Immer gerade aus, bis nach Newark sind es sieben englische Meilen.«

So, nun hatte sie ihn hinter sich. Richtig, nach Newark hätte sie fragen sollen, nicht nach Trenton. Rüstig trat sie in die Pedale, immer schneller, sie wollte ihn weit hinter sich bekommen. Er hatte sich ja jetzt recht freundlich gezeigt, aber sonst war sein Wesen so roh wie sein Gesicht roth.

Die Aepfel reiften. Im schnellen Vorbeifahren haschte sie einen rothwangigen, und wie sie ihn in der Hand hielt und schon zum Munde führen wollte, fiel ihr der Diebstahl ein. Vor ihr war ja Niemand, neben der Landstrasse lief der hohe Eisenbahndamm, aber hinter ihr? Sie wendete sich etwas im Sattel.

»Immer pflücken Sie ab, das ist hier erlaubt, wenn man nicht gerade mit dem Wagen einsammelt.«

Da war dieser Mensch schon wieder dicht hinter ihr! Er musste ihr überhaupt immer so nahe gefolgt sein. Sie fuhr langsamer — er kam nicht an ihr vorüber. Sie fuhr ganz, ganz langsam, blickte sich um — er fuhr auch ganz, ganz langsam. Sie fuhr schneller — er auch. Sie sprang ab — er kippte mit dem Rade um und pflückte einen Apfel ab. Jetzt war aber Ellen nicht mehr befangen.

»Was wünschen Sie eigentlich von mir, mein Herr?«

»Nichts.«

»Ja, was haben Sie eigentlich vor, mein Herr?«

»Ich beabsichtige jetzt diesen Apfel zu essen.«

»Sie wollen mir folgen.«

»Jawohl,« kam es mit unerschütterlichem Gleichmut aus kauendem Munde.

»Wissen Sie nicht, dass dies unanständig ist?«

»Nein.«

»Ich verbitte es mir aber!«

»Sie können es sich wohl verbitten, es mir aber nicht verbieten.«

Was sollte Ellen thun? Sie konnte nur die Stirn runzeln und dem Unverschämten drohende Blicke zuschleudern.

»Wie weit habe ich denn noch Ihre lästige Begleitung zu ertragen? Doch nicht bis nach Newark?« »Vorläufig bis nach San Francisco.«

Eine Art von Erstarrung überkam Ellen.

»Bis — nach — San — Fran ....«

».... cisco. Allein kämen Sie überhaupt gar nicht hin.«

»Sie wollen mich begleiten?« fuhr sie auf. »Herr, das verbiete ich Ihnen!«

»Sie können es nicht. Diese Landstrasse steht mir so zur Verfügung, wie Ihnen. Halten Sie sich doch nicht auf, es nützt nichts, ich bleibe bei Ihnen.«

Von New-York her kam ein Schnellzug gebraust. Ein Mann stand am Coupéfenster, schien sich schnell zurückziehen zu wollen, blieb aber doch stehen, wedelte mit einem Taschentuche. Dann war der Zug wie ein Phantom vorüber.

Sir — Robin — Munro! Und plötzlich ging ihr eine fürchterliche Ahnung auf, als sie sich mit wahrhaft entgeisterten Augen an den sich gleichmüthig auf sein Rad stützenden Mann wendete.

»Hat Sie vielleicht ein Sir Robin Munro engagirt, mich zu begleiten?«

»Jawohl.«

Ellen wollte ihr Rad gegen den Apfelbaum lehnen, aber damit war das Rad nicht einverstanden, eigensinnig lief es in den Graben; sie liess es liegen, machte mit geballten Fäusten einen Gang über die Landstrasse. Als sie zurückkam, hatte er es aufgehoben und fest gegen den Stamm gelehnt.

»Das werden Sie nicht thun! Ich brauche Ihre Begleitung nicht!«

»Ich werde es doch thun.«

Ellen sah ein, dass mit Schreien gegen solchen kalten Gleichmuth nichts auszurichten war, sie bezwang sich, schlug einen ruhigeren Ton an.

»Mr. Starke, lassen Sie vernünftig mit sich reden. Ich halte Sie für einen Ehrenmann, und wenn ich Ihnen deshalb sage, dass ich diesen Baronet hasse ....«

»Ich denke, Sie sind seine Braut.«

Da war es schon wieder vorbei mit ihrer Ruhe.

»Was, das hat er gesagt?« rief sie ausser sich.

»Na, dann liebt er Sie wenigstens. Geben Sie sich keine Mühe, mich werden Sie nicht los.«

»Sie — Sie — sind mir ein Ekel,« ging jetzt Ellen zu Beleidigungen über.

»Mir ganz gleichgültig.«

»Sie sind ein Schurke!«

»Oh, oh, Miss! Erst nennen Sie mich einen Ehrenmann und nun einen Schurken. Sie werden inconsequent. Wer mich kennt, glaubt Ihnen das auch gar nicht. Und warum halten Sie mich denn für einen Schurken?«

»Sie sind von Sir Munro engagirt worden, mir Schwierigkeiten in den Weg zu legen; ich soll meine Wette verlieren, er will mich demüthigen!«

»Ganz im Gegentheil, werthe Miss. Ich werde mein Möglichstes thun, dass Sie gewinnen, und dafür bezahlt mich Sir Munro. Bitte, überlegen Sie sich die Sache doch ruhig. Dass Sie die Kraft und die Ausdauer haben, meine Strecke in 300 Tagen zurückzulegen, daran, zweifele ich nicht. Aber Sie haben vergessen, dass ich mir diesen Weg erst gesucht habe, Sie vergessen, dass es schon hier in dem doch ziemlich cultivirten Nordamerika keine Landstrasse mit Wegweisern nach San Francisco giebt, und nun kommen Sie erst nach Asien. Sie werden wochenlang geradeaus fahren, plötzlich gebietet Ihnen eine Schlucht Halt, Sie müssen wochenlang zurückfahren, um auf den richtigen Weg zu kommen, und es ist vielleicht doch noch nicht der richtige. Jetzt aber weiss ich den Weg, ich werde Ihnen als Führer dienen, und Sie werden glänzend gewinnen, dennoch durch eigene Kraft, und gegen die Bedingungen geht meine Begleitung ja nicht, Sie wünschen mich nicht, das haben Sie mir deutlich genug gezeigt, ich aber lasse mich nicht abweisen, ich stehe in den bezahlten Diensten eines Anderen.«

Es waren ruhige, vernünftige Worte gewesen. Er hatte auch nicht, nun ihren Charakter kennend, von Beschützung und dergleichen gesprochen. Nur am Schlusse hatte er den guten Eindruck in etwas wieder verdorben.

Aber Ellen hatte ihn überhaupt gar nicht gehört, wollte nichts hören. Sie wurde ganz von dem Gedanken beherrscht, dieser ihr so unsympathische Mann solle ihr ständiger Gesellschafter werden. Und dann blitzte ihr ein rettender Gedanke auf; sie riss ein Checkbuch aus der Tasche.

»Wieviel zahlt Ihnen Sir Munro für Ihre Dienste?«

»Pro Tag drei Pfund Sterling inclusive Spesen. Doch schreiben Sie keinen Check aus, ich nehme ihn nicht an, ich bin unbestechlich.«

Diese Ruhe, die allein schon seine Stellung ausdrückte, sagte mehr als viele Worte. Hier war Alles vergeblich. Wüthend schob Ellen das Buch in die Tasche zurück und machte noch einen Gang über die Landstrasse. Dann blieb sie vor ihm stehen, die Hand am Revolverkolben.

»Ich möchte Sie niederschiessen!«

»Erstens dürfte Ihnen dies nicht gelingen. Zweitens, wenn es Ihnen gelänge, wären Sie eine Mörderin und würden jedenfalls gehenkt. Drittens aber würden Sie nicht gehenkt, denn in demselben Augenblick, wo Sie die Waffe gegen mich erheben, würde Ihnen dieser Hund die Kehle durchbeissen. Nun probiren Sie es — oder fahren Sie lieber weiter.«

Ellen fuhr herum, nahm das Rad vom Baume und sprang darauf.

»Bleiben Sie mir wenigstens aus den Augen, Sie — Sclavenseele.«

»Ueber meine Aufdringlichkeit werden Sie sich nie zu beklagen haben.«

Die Morgensonne lachte noch, die frische Saat grünte und die Lerche jubilirte noch ebenso — aber Alles nicht mehr für Ellen. Für sie war plötzlich Alles finster und todt geworden, die schöne Reise, auf welche sie sich während der letzten Tage wirklich gefreut hatte, sollte ihr also eine widerliche Fahrt werden, denn immer war ja dieser Kerl um sie und an alledem war Sir Munro schuld.

Wie sie, Thränen der Wehmuth in den Augen, zornig in die Pedale trat, das hatte wenigstens das Gute, dass sie schnell vorwärts kam, die ständige Steigung der Strasse merkte sie gar nicht.

Eine grosse Heerde Ochsen mit riesigen Hörnern wandelte des Weges einher. Vielleicht mochten sie noch keinen Radfahrer gesehen haben, vielleicht doch schon — jedenfalls fesselte diese Weltenradlerin ihr Interesse. Sie blieben stehen, brüllten, senkten die furchtbaren Hörner und blähten die Nüstern. Ellen's Herz stockte, sie trat langsamer. Ochsen sind immer Ochsen, sie können unangenehm werden, zumal, wenn sie solche Schraubenzieher am Kopfe haben.

»Frisch mittendurch, die Stiere thun uns nichts, sie weichen aus; folgen Sie dem Hunde!« rief es hinter ihr. Vor ihr trabte der gelbe Hund, und wirklich, achtungsvoll traten die intelligenten Ochsen zurück.

Als sie die vermeintliche Gefahr hinter sich hatte und der Hund wieder verschwunden war, überkam Ellen etwas wie Scham, die sie jedoch schnell in Aerger über sich selbst zu verwandeln wusste. Ochsen sollten sie nicht wieder bange machen.

Sie erreichte Newark, fuhr die Hauptstrasse immer geradeaus, bis sie an das leicht erkennbare Postgebäude kam. Hier wollte sie an den Champion-Club ein Telegramm absenden. Nun konnte sie dem Begleiter auch gleich beweisen, wie überflüssig er war. Auch Starke war abgestiegen, und anstatt ihr Rad unter seiner Aufsicht zu lassen, hing sie es sich über die Schulter, erklomm mit der Last die Steintreppe, trug es immer weiter, bis sie es in dem Telegraphenbureau an die Wand lehnte. Sie schrieb die Depesche, warf noch einen Blick nach der Maschine, trat an den von ziemlich viel Menschen umstandenen Schalter. Sie kam in's Gedränge, kam wieder heraus — weg war das Rad.

Noch einen erschrockenen Blick durch das Zimmer, dann wusste sie nicht, wie sie die Treppe hinabgekommen war. Unten stand Starke, ihr Rad haltend.

»Ich nahm es dem Burschen ab. Arretiren habe ich ihn nicht lassen, gab ihm ein Paar hinter die Ohren. Der verliebt sich sobald nicht wieder in ein fremdes Rad.«

Nur um ihre Schamröthe nicht merken zu lassen, schwang sich Ellen schnell anf ihre Maschine und jagte davon.

Ich hätte mir einfach eine andere gekauft, beruhigte sie sich wieder.

»Sie fahren ja zurück, Miss Howard,« erklang es da abermals.

Ach, was kann einem Culturmenschen, der den Instinct des Wilden verloren hat, doch nicht Alles passiren!

»Ich weiss es,« sagte sie trotzig, lenkte langsam um, fuhr einem Gentleman in den Rücken, ohne die Balance zu verlieren, und radelte nun erst recht mit fieberhafter Eile vorwärts. Die Hauptstrasse spaltete sich, sie fuhr geradeaus.

»Zurück und links ab, dort geht es direct nach dem Nordpol,« ertönte eine Stimme hinter ihr.

Was sollte sie thun? Nach dem Nordpol wollte sie nicht, sie müsste wohl oder übel umkehren, und sie beugte ihr schamgeröthetes Gesicht nur noch tiefer über die Lenkstange. Ueber ihre Empfindungen vergass sie auch ganz, dass sie irgendwo etwas hatte trinken wollen, und erst, als sie die Stadt schon weit hinter sich hatte und sie einen hübschen Ornamentbrunnen erblickte, der den Eingang eines Villenparkes schmückte, erinnerte sie sich des quälenden Durstes.

Sie stieg ab, zog den Gummibecher aus der Jackentasche, drückte den Knopf, spülte in dem Strahle der Wasserleitung den Becher aus und leerte ihn mehrere Male. Dann beschäftigte sie sich mit der Maschine, untersuchte die Kette, welche etwas zu knacken begann, und beobachtete dabei Starke. Dieser nahm den breitkrempigen Hut, ebenfalls von Leder, vom Kopf, wischte den Schweiss etwas mit dem Ellenbogen aus, liess ihn voll laufen und trank.

Das sah solche einem Bummler so recht ähnlich! Hätte er den schweissigen, staubigen Hut nicht wenigstens erst ausspülen können? Hierauf liess er den Hund aus dem Hute saufen und — wahrhaftig, er trank nochmals von demselben Wasser, in welches schon das Thier seine Nase gesteckt hatte!

Die prüde Engländerin schüttelte sich vor Grauen. Was wollte er nun wieder von ihr? Er trat auf sie zu, hielt etwas in der Hand, was ihr so bekannt vorkam; wortlos überreichte er es ihr ........

Auch das noch! Sie hatte ihre Brieftasche, Checkbuch und alles Papiergeld enthaltend, verloren gehabt!

Nur ein gemurmeltes »Danke«, dann weiter, immer weiter!

Schliesslich beruhigte sie sich. Es will eben Alles in der Welt gelernt sein, selbst eine Brieftasche einstecken. Der be- und erfahrene Radler, wenn er die Ausrüstung zur langtägigen Tour zusammenstellt, wird sich vielleicht lächelnd erinnern, wie unpraktisch er doch war, als er seine erste Landparthie antrat. Er hat sich seine Erfahrung wirklich erfahren. —

Obwohl die Gegend hin und wieder schon hier, wo es Ellen noch gar nicht vermuthet hätte, im cultivirtesten Theile dieses Erdtheils, recht an Prairie erinnerte, gute, chaussirte Wege führten doch immer durch. Solche meilenweite Prairiestrecken findet man aber auch noch in England genug, in der dichtesten Nähe von London. Nicht etwa Wiese, keine Weiden, sondern noch völlig jungfräuliches Land, noch von keinem Spaten berührt. Das hängt mit der ausgebreiteten Schafzucht zusammen.

Es war Mittag geworden. Sonnendurchbrannt machte Ellen in einem Städtchen mit nur einer Strasse Halt vor einem Gasthause, dessen reizendes Gärtchen mit seinen Weinlauben zur Rast einlud. Schon diese Weinlauben verriethen den deutschen Wirth.

Sie verwahrte das Rad, wusch sich und liess sich in einer Laube nieder. Starke that desgleichen in einer anderen. Sie verlangte Mittagsessen, oder richtiger ihren »Lunch«. »Beefsteak mit irgend welchem Gemüse,« bestellte sie, nichts weiter. Sie hattet vorhin geglaubt, Hunger zu haben, aber die Nähe dieses Menschen verbitterte ihr selbst das Essen.

Unterdessen studirte Ellen die Karte des Staates New-York. 23 Meilen war sie schon von der Küste entfernt, und wenn sie jetzt zur Zeit der Sonnengluth bis um 4 Uhr ruhte, konnte sie heute noch 20 bis 30 Meilen machen. Von morgen an begann das Tagewerk immer noch vor Sonnenaufgang.

Hier dürfte ein Sachverständiger kopfschüttelnd fragen, wie es möglich ist, dass Jemand, der ein Vierteljahr lang auf keinem Radsattel mehr gesessen hat, am ersten Tage 12 deutsche Meilen machen kann und am nächsten Tage noch vor Sonnenaufgang weiter will.

Ellen hatte die letzten Stunden ihres Aufenthalts in England auszunützen verstanden. Am 1. September früh um 9 Uhr musste sie in Liverpool an Bord sein. Kurz vorher traf dort der Londoner Schnellzug ein. Am Abend zuvor schickte sie ihr weniges Gepäck, von dem das schnell gefertigte Herrenkostüm die Hauptsache bildete, nach Liverpool, nahm Abschied vom Champion-Club, nur eine Freundin, eine enragirte Radlerin, begleitete sie. Sie benutzten den Personenzug; in Stote verliessen sie ihn Nachts um 3 Uhr, etwa 12 deutsche Meilen noch von Liverpool entfernt; es war schön und windstill, und nun stellte sich Ellen die Aufgabe, bis um 8 Uhr per Rad dort zu sein. Die Freundin diente als Schrittmacherin. Hielt sie nicht aus, so musste sie nur eine Hauptstation erreichen, um den Morgenschnellzug benutzen zu können. Aber es gelang, noch vor 8 Uhr war sie am Quai von Liverpool, freilich in welcher Verfassung! Sie fiel vom Rad, sie kroch über die Landungstreppe; drei Tage lang konnte sie weder gehen noch stehen, an Sitzen gar nicht zu denken, beim Liegen hatte sie die wenigsten Schmerzen; so machte sie auch die Seekrankheit durch, dann erholte sie sich — und nun war sie wieder sattelfest.

Das Essen kam. Zunächst erschrak Ellen vor dem ungeheuren Beefsteak, dann Kartoffeln, Cabbage, Blumenkohl und Spargel, dazu zweierlei Compots und Salate; zum Schluss, aber gleich mit auf den Tisch gestellt, verschiedenes Obst und einen appetitlichen Pudding. Ja, essen thut man in Nordamerika nicht schlecht.

Es ist zwar in Amerika Sitte, das Getränk gleich beim Empfang zu bezahlen, doch nicht das Essen. Der biedere Wirth musste wohl schon zechprellende Radler kennen gelernt haben, dass er gleich die Rechnung beglichen haben wollte. Ellen glaubte nicht recht gehört zu haben. Das sind 2 Mark, aber in Amerika bedeuten sie doch nur 50 Pfennige.

Und dennoch war dieser deutsche Wirth gar nicht so billig. Um die Lebenspreise richtig kennen zu lernen, orientirt man sich am besten unter kleinen Verhältnissen mit dem grössten Consum. In einem Boardinghouse, d. i. eine Arbeiterherberge im Centrum New-Yorks gelegen, kostet die volle Pension pro Tag einen Dollar, und dafür erhält man zum Frühstück Kaffee, Thee, frisch gebratenes Beefsteak, Eier, Schinken, Brot, Butter und verschiedenen Kuchen, Alles, so viel man mag; zum Mittag drei bis vier Gänge, darunter Fisch und Geflügel, alle Gemüse der Saison, Spargel und Artischocken, Früchte, Käse, mehrere süsse Speisen, und nicht etwa zur Auswahl, Alles steht auf dem Tische, immer frische Schüsseln kommen; am Abend noch einmal dasselbe, aber frisch, andere Sachen; wer Nachmittags Zeit hat, erhält Thee oder Kaffee mit Kuchen. Nur das Schlafen ist elend, kasernenähnlich.

Solch eine Mittagsmahlzeit nennt man table d'hôte und sie kostet in einer Restauration Deutschlands 4 – 5 Mark. Ein amerikanischer Arbeiter im schmutzigen Kittel stochert mit verdriesslichen Gesicht darin herum, und wenn einmal die Butter nicht rechtzeitig auf Eis gesetzt worden ist, so heisst es: kommt, wir gehen anderswohin.

Fleisch, Frucht, Gemüse kostet in Nordamerika ja fast gar nichts. Aber der Ochsentreiber will wie der Kirschenpflücker für sein Talent bezahlt sein, dann der Fleischer, der Kellner und nun erst der Koch! Wenn die Wandertauben kommen, kostet ein zartes Paar auf dem New-Yorker Markte einen Cent — vier Pfennige — und auf der Speisekarte im Hôtel am Broadway stehen sie mit einem Dollar, denn der Koch lässt sich sein Genie mit Geld bezahlen, der Wirth will auch etwas verdienen.

Je weiter man sich nun von der Stadt entfernt, desto billiger wird es, bis zuletzt Alles gar nichts mehr kostet, weil man sich freut, einen Gast bewirthen zu können.

Das mit der Essenverbitterung war von Ellen doch nur Einbildung gewesen, sie ass, was sie früher nie für möglich gehalten hätte, dieses ungeheure Beefsteak auf und dann — sie begann sich vor sich selbst zu fürchten —noch ein zweites, wofür sie natürlich noch einen halben Dollar zu bezahlen hatte. Dass freilich das Fläschchen Limonade auch einen halben Dollar kostete, das war eigentlich unverschämt. Starke arbeitete sein viergängiges table d'hôte ab, trank eine Flasche Wein dazu, und für alles dies zusammen wurde auch nur ein halber Dollar verlangt.

Sie hatte erst ihr Rad nachsehen wollen, fühlte sich aber doch recht müde. Ja, die Hängematte dort zwischen den Bäumen dürfe sie gern benutzen. Bald schwebte Ellen unter Baumesschatten in einem tiefen Schlafe.

Ein Schuss weckte sie. Starke hatte mit dem Revolver nach irgend einem Ziele geschossen. Merkwürdig, gerade um 4 Uhr, da sie fortfahren wollte, und ohne diesen Schuss hätte sie es verschlafen, wahrscheinlich bis morgen früh.

»Bitte, Miss, 50 Cents für die Hängematte,« sagte der Wirth, als sie von ihm das Rad forderte.

Der lernbegierige Deutsche war schon ganz ein braver Yankee geworden.

Das Rad stand im Schuppen, blitzblank geputzt, geölt.

»Wer hat mein Rad geputzt?«

»Ich. 50 Cents, für das Räderputzen, bitte.«

»Geben Sie es ihm nicht,« liess sich Starke vernehmen. »Ich habe es ja gethan.«

»Ah so. I beg your pardon. Richtig, dieser Gentleman war es.«

»Was kostet denn mein Revolverschuss vorhin?« spottete Starke, wenn auch in seiner gleichmüthigen Weise, dass man es für eine ernste Frage nehmen konnte.

Der Wirth blinzelte ihm nur pfiffig mit einem Auge zu, dann fuhr Ellen ab, ihr nach Starke.

Noch einige Städtchen und Ansiedlungen, manchmal schon recht hinterwäldlerisch aussehend, dazwischen Felder, Wiesen und jene prairienähnlichen Weiden mit viel Vieh, ein grosser Wald, für ein Londoner Kind schon ein undurchdringlicher Urwald, aber immer guter Weg; auf der Landstrasse Viehheerden, Wagen, Reiter und Fussgänger, ab und zu auch ein Radfahrer, einmal gleich fünf Automobile hintereinander; einmal eine Rast in einem idyllischen Farmhause, in welchem man Milch, Maiskuchen und die köstlichen Aepfel durchaus nicht bezahlt haben wollte, und mit der untergehenden Sonne sah sich Ellen nach einem Nachtquartier um.

Sie hatte wirklich fast noch 30 Meilen gemacht, heute im Ganzen 50, und das in aller Bequemlichkeit. Allerdings unter den günstigsten Bedingungen, am Nachmittage hatte sich der Weg immer gesenkt. Aber dafür war es auch der erste Tag, ihre Leistungsfähigkeit würde sicher zunehmen. So sagte sie sich.

An einem Kreuzwege stand ein Gasthaus, etwas armselig aussehend, nur eine Schänke für Viehtreiber. Ach was, Hôtels gab es in England genug, sie brauchte nur ein Bett, nur ein Brett; sie musste sich doch daran gewöhnen.

»Bis nach Shrywell, einer ansehnlichen Stadt, sind nur noch 2 Meilen.«

Nun natürlich erst recht hinein!

Der grosse, von einer Hängelampe erleuchtete Raum diente gleichzeitig als Wohnstube, als Schankzimmer und als Küche, vielleicht auch noch zum Schlafen für die Familie. Hinter der mit Flaschen und Gläsern besetzten Bar hantirte der Wirth; die unsauber aussehende Frau schälte Kartoffeln und schimpfte über die um sie herumspielenden Kinder; vor dem offenen Heerdfeuer, über dem einige Kessel hingen, sassen vier Männer, die Füsse auf dem Ofensims, und spuckten abwechselnd unter die Töpfe in's Feuer. Es mochten Ochsen- oder Schweinetreiber sein, verwitterte Gestalten, auch ihre Kleider mehr verwittert als zerlumpt. Mit einem Grusse trat Ellen, ihr Rad durch die Thüre zwängend, ein, ihr nach Starke. Einen Augenblick aufmerksamer Musterung, die vier Männer hörten auf, zu spucken, wendeten die Köpfe; dann wurde tactmässig weiter gespuckt. Es waren Amerikaner, deshalb mokirten sie sich nicht, selbst wenn sie noch keine Dame im Herrenkostüm gesehen hätten, besonders darum nicht, weil es eben eine Lady war.

Ellen fragte den Wirth, ob sie ein gutes Zimmer und Abendbrot bekommen könne.

»Sind Sie englisch, Missis?« meinte Jener, in ihrer Sprache die NasalIaute der Yankees vermissend. »Ich bin's auch, halte mir noch den Londoner Morning Leader. Ja, ein Zimmer können Sie bekommen, haben schon einmal so ein paar drin geschlafen, die auf solchen Dingern gefahren kamen.«

»Natürlich für mich allein, ich kenne diesen Mann gar nicht!«

»So, so. Können Sie auch haben, ein feines Zimmer. Gekochtes Hammel- und Rindfleisch giebt es. Alte, bediene die Lady.«

Auf ihren Wunsch, sich zu waschen, wurde ihr in dieser Stube ein Pferdeeimer mit Wasser auf eine Bank gesetzt — draussen war es ja schon dunkel —, ein Stück Seife und ein wenigstens sauberes Handtuch daneben gelegt, auf welchem mit grossen Buchstaben gedruckt stand: gestohlen aus Jefferkins Boardinghouse.

Es ging wirklich schon recht hinterwäldlerisch zu, mitten im Staate New-York, und Ellen erfasste diese Romantik; lächelnd half sie sich, wie sie konnte. Gestern und heute, welch ein Unterschied! Denn sie übersprang im Geiste die ganze Seereise, sie durfte es thun, und von welchem Luxus und von welchen Bequemlichkeiten war sie da noch umgeben gewesen. Miss Howard wusch sich im Pferdeeimer, trocknete sich mit einem gestohlenen Handtuch ab, in solcher Gesellschaft — sie musste ein lautes Auflachen unterdrücken. Ja, es war wirklich herrlich. Einer der spuckenden Männer hob die Beine noch höher, um die Frau nach den Töpfen durchkriechen zu lassen, bald standen vor Ellen auf dem Holztisch zwei Teller, auf jedem ein Berg dampfendes Fleisch — so, Vogel, nun friss oder stirb. Alles sah so unappetitlich aus wie die Teller schmutzig waren, wie Messer und Gabel, wie der Tisch, wie die Frau.

Aber Ellen wollte nun einmal mitmachen, sie wollte sich auf Künftiges vorbereiten; wer wusste, was sie noch vorgesetzt bekam, und der Wille bezwingt Alles. Mit diesem Entschlusse langte sie zu, und dann wunderte sie sich doch selbst, wie ihr das so gut schmecken konnte, und zugleich freute sie sich. Als Starke, welcher sich einige Zeit entfernt hatte, wieder eintrat, hielt er ein frisch geschlachtetes, aber schon gerupftes Huhn in der Hand. Zuerst blickte er aufmerksam nach ihrem Tische, und wenn er auch nicht den Kopf schüttelte, Ellen glaubte es doch zu sehen. Dann traf er Vorbereitungen zu seiner Abendmahlzeit, er schien selbst kochen zu wollen, wusch auch noch ein rohes Stück Fleisch ab, scheuerte eine Pfanne aus, roch an der Butter.

»Macht Platz, Gentlemen, ich will mein Fleisch braten.«

Der Eine nahm die Stiefel vom Sims und rückte zur Seite, dass er an's Feuer konnte. Die Butter begann zu prasseln.

»Nun hört gefälligst auf zu spucken, wenn ich koche.«

Ein Murmeln entstand; sie meinten, das thäte doch dem Essen nichts schaden, wenn sie in's Feuer spuckten, in die Töpfe spuckten sie doch nicht.

»Ich liebe es aber nicht, wenn man mir unter die Töpfe spuckt!«

War bei dieser Beschreibung der Bissen in Ellen's Munde gequollen, so sah sie jetzt angstvoll nach den wilden, vom Feuer gerötheten Gestalten, welche ebenfalls das Revolverfutteral am Gürtel hatten. Hoch aufgerichtet stand Starke vor ihnen, mit dem Haupte fast die Decke berührend, und wenn er jetzt auch noch statt des Revolvers die prosaische Bratpfanne in der Hand hielt — Ellen ahnte, was kommen musste, sie hatte schon genug solche wilde Scenen gelesen, sie hörte schon die Revolverschüsse krachen.

Ellen hatte falsch geahnt. Die vier Männer standen einfach auf und setzten sich anderswo hin. Jetzt griff Starke in die Tasche und warf einen Silberdollar auf den Tisch.

»Einen drink für die Gentlemen.«

Wie ein Alp fiel es von Ellen's Brust. Sie beobachtete scharf und dachte gern über ihre Beobachtungen nach. Wenn er dies gleich gethan, hätte er klüger gehandelt; dass er aber erst nachträglich für die Männer ein Getränk bestellte, als er sein Ziel schon erreicht, das war entschieden männlicher.

Der Wirth bekam eine complicirte Aufgabe zu lösen. Der Eine verlangte Whisky mit wenig Wasser und viel Zucker, der Andere Brandy mit gar kein Wasser und wenig Zucker, der Dritte Gin und Pfeffermünz, der Vierte bestellte einen cock-tail und rührte die vielerlei Ingredienzien mit einem Eifer zusammen, wie der Alchimist die Substanzen zum Steine des Weisen. Starke trank Rum.

»Auf Ihre Gesundheit, Miss,« sagte er.

Mit einem Ruck fuhr Alles herum und hob ehrerbietig das Glas.

»Good luck, Miss.«

Ellen wäre kein Weib gewesen, wenn sie nicht erröthend und freundlich lächelnd gedankt hätte, und kein gebildetes, wenn sie nicht die ihr widerfahrene Ehre, oder den eigentlichen Kern der Huldigung, verstanden hätte. In diesem Augenblicke, als sie mit einem Glückwunsch das Glas gegen die fremde Dame erhoben, waren diese zerlumpten, rohen, wüsten Gesellen wirkliche Gentlemen, vornehm, stolz, und doch ehrerbietig. Es imponirte, das war amerikanisch, so etwas findet man bei keinem anderen Volke.

Starke wusch einen Teller ab und ass statt des ausgekochten und dennoch harten Fleisches Hammelcotelettes, Lendensteaks und ein junges Huhn. Ja, er verstand auf seinen Wanderungen

doch zu leben, Ellen konnte noch viel von ihm lernen. Merkwürdig war nur, dass er jetzt so eigen mit der Sauberkeit war, während er heute Morgen nicht einmal den schweissigen Hut ausgespült, überhaupt gethan hatte, als sei jeder Wassertropfen Gold.

Der Wirth brannte ein dickes Wachslicht an und führte die danach Begehrende hinauf, ihr Rad tragend. Das »feine« Zimmer war eine elende Kammer, nichts weiter als ein mit Wolldecken belegtes Bett und einen alten Holztisch enthaltend, nicht einmal einen Stuhl. Aber ein Schlüssel war vorhanden.

Das Licht wurde auf den Tisch geklebt, und der Wirth schickte sich zum Gehen an.

»Sonst noch etwas? Wasser ist unten im Hofe. Wenn Sie frühzeitig abfahren wollen, wie die damals auch thaten — das Haus ist immer offen, die Hunde wachen, lassen Jeden hinaus, aber keinen herein. In einer halben Stunde bringt Jim den Morning Leader, wenn Sie ihn lesen wollen.«

Ellen bat darum und sie war allein. Erst putzte und ölte sie die Maschine, dann setzte sie sich auf das Bett, sann eine Weile vor sich hin und plötzlich begann sie zu weinen. Es war Heimweh. Nicht die nackte Kammer, nicht das erbärmliche Bett, es war eben Heimweh, sie sehnte sich nach ihrem Club, nach ihrer Zofe, nach Londons erleuchteten Strassen, sie kam sich so allein vor.

Lange währte dieser Gefühlsausbruch freilich nicht. Aergerlich über sich selbst lachend, wischte sie die Thränen aus den Augen. Vorwärts, um die Erde, morgen schien die Sonne wieder, und wenn es regnete, wurde einfach im Regen geradelt, und um am Tage Kraft zu haben, muss man des Nachts schlafen, was brauchte sie die englische Zeitung!

Sie schloss die Thüre ab und begann sich zu entkleiden. Da kam Starke, sie erkannte ihn schon, am Schritt. Jetzt setzte er das Rad nieder. Ah, er schlief hier in der Kammer neben ihr. Halbangekleidet blieb Ellen auf dem Bette sitzen und lauschte, während ihr die Gedanken durch den Kopf jagten.

Er rumorte drüben, als habe er viele Möbel zum Umräumen. Dann wurde es still. Flötentöne. Ein Läufer, ein Triller, eine Fuge, sehr fingergewandt und rein, ein Volkslied, dann ging es in ein Stück über, welches Ellen doch — — richtig, am Beethoven-Abend in der Exceterhalle hatte sie es gehört. Wie kam denn dieser ungebildete Mensch dazu, dieses klagende Adagio von Beethoven auf der Flöte zu spielen, noch dazu in solch' schmelzenden Tönen?

Dann wurde es wieder still. Dafür ein neuer Schritt; der auf seine englische Zeitung an der Landstrasse ungemein stolze Wirth fragte, ob sie den Morning Leader haben wolle, und nun nahm ihn Ellen doch, liess sich das Papier durch die Thürspalte zustecken.

Die dicke Wachskerze brannte hell und sehr langsam.

Der »Morning Leader« ist ein Sensationsblatt ersten Ranges. Am liebsten ist es der Redaction, wenn jeden Tag ein Raubmord passirt und eine Pulverfabrik explodirt, und in jeder Feuilleton-Nummer wird Jemand lebendig begraben, wenn man ihn nicht zu Tode martert.

Es war die Nummer vom 1. September. Ein Raubmord fehlte, aber dafür fett gedruckt »Eine sensationelle Wette.«

Ellen las über ihre eigene Angelegenheit, im blüthenreichen Reporterstil abgefasst, und der Berichterstatter wusste Alles, als ob er selbst damals im Champion-Club zugegen gewesen sei, und dabei war nichts Wunderbares: die Züngelchen der Champion-Damen würden schon dafür gesorgt haben, dass die neueste Neuigkeit schnell unter das Publicum kam. Auch sonst wusste der Schreiber Alles — solch ein englischer Reporter ist ja überhaupt allwissend — sogar, in welchem Frisirsalon sie sich das Haar hatte kürzen lassen, um wieviel Decimeter und Millimeter — und da, richtig, da war natürlich auch ihr Bild. Sie sah schrecklich verwegen aus, sogar eine Elephantenbüchse hatte sie über der Schulter.

Die Leserin lächelte. Recht so, nach 300 Tagen sollte man sich noch viel mehr mit ihr beschäftigen. Dann aber erweiterten sich ihre Augen.

»Gleichzeitig hat Sir Robin Munro mit Lord Wood, dem bekannten Sportsman, eine andere Wette abgeschlossen, welche eng mit jener zusammenhängt. Sir Munro, obgleich ein grundsätzlicher Gegner alles Radfahrens, ist verlobt mit Miss Howard. Als es ihm nicht durch fussfällige Bitten und Thränen gelang, das zarte Mädchen von dem gefährlichen Wagestück abzuhalten, erhob er sich mit stolzer Manneswürde und erklärte seiner Braut, so werde er selbst sie begleiten, natürlich zu Pferd, denn noch nie hat Sir Munro ein Rad bestiegen, er wolle sie schützen gegen jegliche Gefahr, sie durch Feuer und Wasser tragen, und wenn sie ohnmächtig von der Maschine stürze, so wolle er sie auffangen und fragen, ob sie nun seine gehorsame, ihn liebende Gattin werden möge. Darauf eilte er hinweg, der Bitten seiner Braut, dies doch nicht zu thun, nicht achtend. Er traf seinen Freund Lord Wood, und diesem theilte er seine feste Absicht mit, zugleich hinzufügend, dass es Miss Howard, ein schwaches Mädchen, doch nicht einmal bis nach San Francisco aushielte. Lord Wood denkt anders über das schwache Geschlecht, insbesondere über Miss Howard. Hieraus entsprang die Wette, welche um nicht weniger als 60 000 Pfund Sterling geht. Lord Wood sagt: Miss Howard erfüllt ihre Bedingungen; und Sir Munro behauptet: sie kommt nicht einmal bis nach San Francisco, sie wird nie mehr radfahren, und ausserdem soll sie innerhalb von 100 Tagen, von heute an gerechnet, meine Frau sein ............«.

Mit einem unterdrückten Schrei schleuderte Ellen das zusammengeballte Blatt an den Boden.

»Das mir, das mir!« keuchte sie, aufspringend. »Oh, dieser Elende! So will er mich demüthigen!«

Sofort wusste sie, was sie zu thun hatte; hastig kleidete sie sich wieder an, hob die Zeitung auf und öffnete die Thür. Sie musste etwas Schweres zurückschieben, das aber gleich von selbst wich. Es war der Hund gewesen, der vor ihrer Thür gelegen hatte. Sie klopfte an der benachbarten Kammer an.

»Mr. Starke, sind Sie noch wach?«

»Come in.«

Die Thür war nicht verschlossen. Er hatte alle Betten aus dem Holzgestelle geworfen, lag auf der Pritsche, statt des Kopfkissens seinen Tornister, war vollständig angezogen, Stiefel an, selbst den Hut noch auf dem Kopfe, rauchte und las in einem dünnen, abgegriffenen Büchelchen im Schein seiner Wachskerze.

»Was wünschen Sie?« fragte er, ohne aufzustehen, ohne seine Lage zu verändern.

»Hier, lesen Sie das!«

Er legte das Buch auf den Tisch und nahm die Zeitung.

Für fünf Minuten war Ellen beschäftigungslos. Sie sah auf dem Tische eine kleine, hölzerne, ganz einfache Holzpfeife liegen, und obgleich ihre aufgeregten Gedanken mit etwas ganz Anderem beschäftigt waren, wunderte sie sich doch in diesem Augenblicke, wie er diesem simplen Instrumente solche weiche Töne entlocken, mit ihm solche künstliche Melodien spielen könne. Und was las er? Das Titelblatt lag aufgeschlagen. Ellen traute ihren Augen nicht. Es war eine französische Ausgabe von Larochefoucauld's Reflexionen und Maximen!

So berühmt dieses Buch des philosophischen Herzogs auch ist, Ellen hatte es doch nur einmal zufällig in die Hände bekommen. Und die bitteren Betrachtungen über das Leben unter Ludwig XIII. und XIV. bildeten die Abendlectüre dieses Menschen? Sie sah auf der Innenseite des Einbandes etwas Geschriebenes stehen; sie beugte sich herab, es zu lesen: Seinem Freunde Gurt Starke zur Erinnerung, Paris, im Februar 1889 — Alexandre, Vicomte de Larochefoucauld.

»Mumpitz,« sagte Starke, und sie dachte nicht mehr an diese Widmung.

»Wie meinen Sie?«

»Das heisst auf englisch: nonsense. Das riecht nach englischem Zeitungsklatsch.«

»Sie glauben nicht daran? Aber ich! Ich halte Sir Munro für fähig, mich so im Schmutze herum zu ziehen. Solch eine Gemeinheit!«

»Nicht so schnell. Man soll keinen Menschen verurtheilen, ohne ihn erst gehört zu haben, Jeder muss sich vertheidigen können. In Indianopolis treffen wir uns wieder, und ich werde ihn fragen, ob dies auf Wahrheit beruht oder nicht. Wenn es der Fall ist, stehe ich nicht mehr in seinen Diensten.«

Ellen stutzte. Deshalb war sie ja eben gekommen. Doch konnte sie ihn auch nicht recht verstanden haben.

»Dann würden Sie mich nicht mehr begleiten?« fragte sie mit leisem Staunen.

»Dann stände ich nicht mehr in seinen Diensten. Ich glaubte mich von einem Ehrenmanne engagirt, und wenn er wirklich diese Wette hinter meinem Rücken abgeschlossen hat, so ist er ein Lump, und einem Lumpen diene ich nicht.«

Ellen bekam doch etwas Hochachtung vor diesem Mann und seinen Kraftausdrücken. Ausserdem aber sah sie sich schon von dem ihr so unliebsamen Begleiter befreit, und wenn selbst nur unliebsam deshalb, weil er ihren Ruhm schmälerte.

»Ich zweifle nicht im geringsten, dass er es gethan hat, er liess mir gegenüber thatsächlich ganz dieselben Worte fallen. Wann werden wir in Indianopolis sein?«

»In 12 — 13 Tagen, wenn Sie so weiterfahren. Ich will 15 bis 16 rechnen.«

»Wir können telegraphisch anfragen ....«

»Nicht telegraphisch, nicht brieflich. Ich muss ihm in's Auge sehen, wenn ich ihn frage, dann weiss ich, ob er die Wahrheit spricht oder nicht.«

»Also nochmals: wenn dieser Bericht den Thatsachen entspricht, so werden Sie mich verlassen?«

,,Ja, wenn Sie es fordern.«

»Ich danke Ihnen, Mr. Starke.« Sie nahm die Zeitung wieder mit.

Drüben las sie den Bericht noch einmal; erst jetzt brach die bittere Empfindung bei ihr durch, und diesmal waren es keine Thränen des Heimwehs, sondern solche des Jammers. Sie liebte ihn — oder sie hatte ihn doch geliebt, und unter Thränen schlief sie endlich ein.

Mitten in der Nacht erwachte sie. Der Mondschein hatte durch das unverhüllte Fenster ihr Gesicht getroffen, und dieser weckte sie immer. Ihre Uhr zeigte einhalb Drei. Einen Blick zum Fenster hinaus — klarer Himmel, Vollmond, anscheinend windstill. Schnell hatte das thatkräftige Mädchen seinen Entschluss gefasst. Jener Mann dort drüben sollte merken, dass sie ihn nicht brauchte, dass er ihr überhaupt gar nicht folgen konnte, wenn sie nicht wollte. Seine gelassene Ruhe, wie er gestern Morgen behauptete, er würde sie begleiten, ob sie nun wolle oder nicht, steckte ihr doch noch recht in den Gliedern, und diese Glieder waren auch recht steif; aber es würde gehen, es musste gehen, er sollte sie nicht einholen! Nur heimlich entfernen musste sie sich.

Also leise, ganz leise angekleidet, nicht einmal Licht gemacht, der Mond leuchtete hell genug, sie zog auch noch nicht die Stiefel an; nun zunächst die Thür geöffnet — aber oh weh, seinen Hund hatte sie ganz vergessen, den sie jetzt zurückschob.

Doch dieser schien sich nicht um die nächtliche Ausreisserin zu kümmern, lag wohl nur zufällig gerade vor der Thür. Er stand auf und rollte sich neben der Thür seines Herrn gleich wieder zusammen.

Jetzt das Rad über die Schulter genommen, auf dem Gange ein Streichholz angebrannt, geräuschlos schlich sie die Treppe hinab, geräuschlos öffnete sie die Hausthür, sie stand im Freien. Nun noch schnell die Stiefel angeschnürt und dann hinauf auf's Rad und losgetreten! Die Petroleumlampe brauchte sie nicht, es war tageshell; verfahren konnte sie sich nicht, hier gab es nur noch directe Hauptstrassen.

So, wenn dann die Sonne aufging, konnte sie ihr ungestört entgegenjubeln, und nun sollte er sie wieder einzuholen versuchen! Sie jubelte schon jetzt, weit genug entfernt war sie bereits.

Sie jauchzte nochmals auf, sie fühlte sich so leicht, so frei, gar nicht mehr so beengt ....

»Good morning, Miss!« sagte es da dicht hinter ihr. »Sie haben Ihren Gürtel mit dem Revolver und der Patronentasche liegen lassen.«

Beinahe wäre Ellen vor Schreck vom Rade gefallen.


— — — — — — — —

Im Lady-Champion-Club war »kleiner Abend«. Die Erste, welche ihre Garderobe abgab, war Judith; dann kam als Zweite die tolle Lady Oliva Hobwell.

Judith konnte sonst dieses verrückte Weib mit ihrem verrückten Benehmen und haarsträubenden Redensarten um den Tod nicht leiden, heute eilte sie ihr gleich entgegen,

»Wissen Sie schon? Es ist Thatsache, Sir Munro hat jenen Curt Starke engagirt, Miss Howard zu begleiten. Hiergegen lege ich ...!«

»Sie legen gar nichts, weder Eier noch Proteste,« unterbrach sie die tolle Lady, während sie die Handschuhe von den diamantengepanzerten Fingern streifte. »Sonst mache ich Sie herunter, dass kein Hund ein Stückchen Brot mehr von Ihnen nimmt.«

»Waas?« hauchte Judith erbleichend. Das war toller als toll.

»Lassen Sie mich ausreden. Mir ist es ganz gleichgültig, ob Ellen diese alberne Wette gewinnt oder verliert, aber wenn Sie etwas dagegen einzuwenden haben, dass dieser Curt Starke die Ellen begleitet, so werde ich etwas von Ihnen erzählen. Ich war nämlich heute Morgen auf der Redaction der »Chronicle Post«. Dieses Schundblatt hatte ohne meine Erlaubniss mein Bild gebracht. Da hörte ich im Nebenzimmer eine Unterhaltung .... Sehen Sie? Trotz Ihrer dunkelen Couleur werden Sie weisser als ein Schneeball. Gut, Sie wissen also, was ich meine. So lassen Sie sich nur noch Eines sagen und Sie werden mir kein Wort erwidern: Sie sind ein ganz miserabeles Frauenzimmer. Pfui Deibel!!«

Und die tolle Lady warf die knisternde Seidenschleppe über den Arm, dass man ihre spitzenbesetzten Beinkleider trotz deren Kürze sah, und liess Judith stehen.

Es kamen hier manchmal wuchtige Scenen vor, besonders wenn sich die Champion-Damen in die Haare geriethen, aber solche starke Worte waren doch noch nicht gefallen.

Es war noch nicht Alles: Zwei andere Damen traten ein, freudestrahlend hüpfte die tolle Lady auf sie zu.

»Wissen Sie schon? Zu übermorgen hat Lady Judith uns alle zum Souper in ihre Wohnung, eingeladen. Und extra für mich will sie selber die Schlagsahne peitschen, das könnte sie grossartig. Nicht wahr, liebste Judith?«

»Wenn es den Damen angenehm ist,« lächelte Judith höflich.

Da war die Lady Oliva schon wieder bei ihr, klopfte ihr hinten auf die Schulter und blickte ihr ebenfalls lächelnd in's Gesicht.

»Aber recht steif schlagen, liebste Judith, nicht wahr? Sonst frisst mein Mops sie nicht.«



5. Capitel.

Wieder verdorben.

Neben einem klaren Bache im Schatten einer Sykomore lag Ellen da, wo vor Kurzem die Morgensonne noch den Thau getrocknet hatte, und verzehrte zum Frühstück das aus dem Papiere gewickelte Brathuhn. Erst 8 Uhr und schon fast 30 Meilen zurückgelegt. Erst der fünfte Tag und schon über 250 Meilen hinter sich. Dort im Westen erhoben sich schon die Gipfel des Alleghani-Gebirges. Es war ja ein Kinderspiel! Freilich immer bei gutem Wetter und Wind, ein Regentag hatte erst spät begonnen, die Strasse war noch nicht aufgeweicht gewesen, und am anderen Morgen Alles wieder hart und glatt. Aber das war es ja eben, bei diesen 5 Tagen mit gutem Wetter und Weg hatte sie 2, sogar 3 Tage erspart, diese konnte sie schon wieder zusetzen, und dies geschah noch nicht bei schlechtem Wetter und schlechtem Weg, da wollte sie ihre 32 Meilen noch immer machen, sie brauchte ja nur täglich 8 Stunden langsam zu treten. Nein, ihre Rechnung stimmte.

Ausserdem war es überhaupt herrlich. Dieser köstliche Appetit! Hunger hatte sie überhaupt fortwährend, wie — wie ein Wolf. Und solch' ein Trunk aus einem frischen Quellbache! Sie hatte ja lange Touren auch schon in England gemacht, aber dort war es doch etwas ganz anderes gewesen, dort war sie — ja, worin lag denn nur eigentlich der Unterschied? Zunächst wohl darin, dass sie hier nicht an die Umkehr denken musste. Hier war sie frei, frei! Hier legte sie sich mit dem Gesicht ins Gras und streckte sich behaglich aus, und wenn Carossen vorüberfuhren, sie blickte nicht auf. Hätte ihr der Wind die Mütze entführt, ein Dorn ihr die Kleidung von oben bis unten aufgeschlitzt, sie wäre seelenvergnügt barhäuptig und zerrissen durch die vornehmste Strasse der nächsten Stadt gefahren. Und dann immer wieder dieser köstliche Hunger und Durst! Ein gebratenes Huhn könnte sie in England auch essen, aber nicht so wie hier. Den dumpfig riechenden Gummibecher hatte sie schon längst weggeworfen — aus den hohlen Händen geschlürft, gleich den Mund zur kühlen Quelle hinabgebeugt, sie genirte sich nicht mehr, mitten in der belebten Strasse die Pumpenschwengel in Bewegung zu setzen und aus der Mütze zu trinken — und nun sollte sie sich so in England vorstellen! Eine Unmöglichkeit.

Das Geheimniss des Unterschiedes, welches Ellen mit den Worten Freiheit, Ungebundensein und Selbstständigkeit zu lösen suchte, lag vielleicht allein in den Worten »Weltenbummler«.

Dort lag er, der Radbummler par excellence, in der immer von ihm eingehaltenen Entfernung von sechs Metern und schlug mit dem Nickfänger in einen grossen Schinken ein.

Ja, was hatte sie eigentlich gegen diesen Mann? Wenn sie sich nicht beim Fahren nach ihm umsah und bei der Rast nicht nach ihm blickte, so wusste sie überhaupt gar nichts von seiner Existenz. Seit damals, als er trotz ihrer heimlichen Entfernung sofort wieder hinter ihr her war, ihr den liegengelassenen Gürtel mit Revolver bringend, hatte er noch nicht ein einziges Wort wieder zu ihr gesprochen, und das war nun schon vier Tage her. Denn Ellen hütete sich, wieder solch' einen Fehler zu begehen, deshalb lernte sie schnell die Praxis.

Er war sogar bescheidener als ihr Schatten. Dieser lagerte sich neben ihren Tisch, jener lebendige setzte sich beim Essen an einen anderen, suchte beim Lagern im Freien einen vor ihren Augen möglichst versteckten Platz. Konnte man mehr verlangen? Dieser sich selbstständig bewegende Schatten war auch sehr aufmerksam. Hatte Ellen ihr Rad noch nicht geputzt und nicht in eigenem Verschlusse, so wusste sie bestimmt, dass sie es tadellos rein, geölt und mit aufgepumpten Schläuchen wiederfand, und hatte die Kette vorhin geknackt, so war dies jetzt nicht mehr der Fall, war der Handgriff locker gewesen, jetzt war er fest, die Bremse war richtiger eingestellt worden — aber das Heinzelmännchen arbeitete nur, wenn man es nicht beobachtete.

Wirklich, sie that ihm Unrecht, wenn sie ihn einen unverschämten, aufdringlichen Gesellschafter nannte, schon hatte sie es ihm im Stillen abgebeten.

Auch dieser schöne, grosse Hund war still und bescheiden wie sein Herr. Ueberhaupt ein ganz merkwürdiger Hund. Ein vornehmer, reservirter Hund. Ein Gentleman von einem Hund. Noch nie war er schwanzwedelnd zu ihr gekommen, hatte ihr nie die geringste Vertraulichkeit gezeigt. Und das ist bei einem Hunde, in dessen Nähe man sich fünf Tage befindet, seltsam. Ja, er lag jede Nacht vor ihrer Thür, aber öffnete sie diese, so liess er sie passiren, ohne sich mit einem Blicke um sie zu kümmern. Er bellte auch niemals. Nie liess er sich mit einem anderen Hunde ein, nicht mit der schönsten Vertreterin des anderen Hundegeschlechts, und als sich ihm einmal eine prachtvolle Bulldogge mit schwellenden Muskeln dreist genähert, hatte der schmächtige Windhund sie abgeschüttelt, dass ihr Hören und Sehen vergangen war. —

Ellen hatte ja genug Zeit zu solchen Beobachtungen, und so beobachtete sie ferner, wie gentlemanlike dieser Hund von seinem Herrn behandelt wurde. Anstatt ihm einfach seinen Teller mit den Resten der Mahlzeit auf den Boden zu setzen — oft jedoch bekam der Hund sein eigenes Gericht, Milch spielte immer die Hauptrolle — forderte Starke für ihn stets einen reinen Teller, wischte ihn womöglich noch mit der Serviette ab, und in einem grossen Hôtel, als der Oberkellner eine höfliche Bemerkung machte, hatte er dann diesen Teller zertreten und bezahlt.

So ganz schweigsam war Starke auch nicht, er sprach nur nicht zu ihr, desto mehr zu seinem Hunde, den er Hassan el Saba oder nur Hassan anredete, oft hörte sie ihn hinter sich lange Reden halten, in einer Sprache, welche sie für arabisch hielt, und der Hund mit seinen klugen Augen musste ihn wohl verstehen.

Weiter studirte Ellen, wie dieser Mann lebte. Eigentlich ganz anders, wie sie bei solch' einem professionellen Bummler vermuthet hatte. Dass er sehr, sehr stark ass, war bei der ständigen Bewegung im Freien begreiflich. Ellen merkte es ja an sich selbst, und er musste den Oxydationsprocess eines ganz anderen Körpers als den ihren unterhalten. Dass er immer das Beste ass, was nur zu haben war, ist schliesslich auch einem Bummler entsprechend, wenn er Geld hat. Aber auffallend war doch, wie sorgsam er seine Auswahl traf, wie er sein Menu zusammenstellte, kein Pariser Gourmand konnte penibler sein; lange studirte er erst die Weinkarte, wenn eine solche vorhanden, prüfend kostete er den ersten Schluck lange auf der Zunge, und schmeckte er ihm nicht, bestellte er gleich eine andere Flasche, die erstere stehen lassend. Dabei war es ganz gleich, ob er sich im grossen Hôtel oder in der elendesten Spelunke befand. Dort ass er die theuersten Austern und trank französischen Champagner, durch den Kellner liess er den Koch bitten, den Kapaun nicht mit Aepfeln, wie auf der Speisekarte stand, sondern mit Oliven zu füllen. Hier suchte er sich mit Kennerblick das beste Stück Fleisch aus und briet es selbst mit Umständlichkeit, plünderte alle Gewürzdüten, roch an jeder Flasche. Und dieselbe Sorgfalt gab er auch auf sein Aeusseres, war immer rasirt, er polirte sogar seine Fingernägel.

Nun sollte man sich diesen peniblen, pedantischen Herrn in der Wüste, im Urwalde vorstellen, vielleicht monatelang am Lagerfeuer campiren müssend!

Aber Ellen erkannte das Richtige heraus. Er würde, Angesichts des Hungertodes, seine Stiefelsohle mit derselben Umständlichkeit in Stücke schneiden und die Stücke mit demselben Behagen zum Munde führen, wie er im Speisesaale sich mit dem mit Oliven gefüllten Kapaun beschäftigte, wie er jetzt von dem mächtigen Schinken lange Schnitte absäbelte.

Die finstere Schweigsamkeit dieses Mannes hatte sich vor Ellen's Augen nach und nach in ein ruhiges Behagen verwandelt. Ja, das war es! Alles an ihm war ruhige, behagliche Zufriedenheit, die durch nichts zu erschüttern war. Ihr brauchte er es nicht zu sagen, denn sie fühlte selbst, wie sie von ihm aus auf sie überströmte.

Und dann, noch Eins erkannte sie. Wo der sich hinlegte, irgendwo auf der Erde, so sagte er stets, wenn auch ohne Worte: so, hier liege ich, nun mag's regnen, schneien oder blitzen; hier ist meine Heimath, hier bin ich zu Hause.

Es ist ein liederliches, aber classisches Lied:

Ich hab' mein Sach auf Nichts gestellt, juchheh!
Und mir gehört die ganze Welt, juchheh!

Goethe muss wohl manchmal ähnlich gefühlt haben.

Ellen fühlte es jetzt, und das Herz wurde ihr an diesem schönen Morgen weiter.

»Schmeckt es Ihnen, Mr. Starke?« rief sie hinüber.

Kein verwundertes Aufblicken bei dieser ersten, so freundlichen Anrede. Er kannte so etwas nicht.

»Danke, Miss. Mir schmeckt es, Gott sei Dank, immer. Wenn man das Leben von der einfachsten und dennoch hauptsächlichsten Seite betrachtet, so sind Hunger, Durst und ein tiefer Schlaf die schönsten Geschenke einer gütigen Natur, und jeder freie Mensch kann sie sich verdienen, muss sie sich durch eigene Anstrengung verschaffen, denn zu kaufen sind sie nicht für alles Geld der Welt.«

Ellen war es, welche erstaunt aufblickte. Er sprach ganz aus ihrer Seele.

»Schon allein, wenn man Ihnen beim Essen zusieht, muss man ja Appetit bekommen.«

»HabenSie noch welchen? Wollen Sie ein Stück von meinem Schinken? Mein Hund isst keinen geräucherten Schinken.«

Zunächst musste Ellen hell auflachen. Erst kam also sein Hund, dann sie, und durch den trockenen Ton wirkte es urkomisch.

»Oh ja, bitte, gehen Sie mir ein Stück. Es ist doch fabelhaft, was man beim Radfahren für einen unerschöpflichen Hunger bekommt.«

»Wenn man sich nicht überanstrengt. Sonst schlägt es in das Gegentheil um.«

Er schnitt das Zweipfundstück durch, aber anstatt nun ihr die Hälfte zu bringen, blieb er gemütlich liegen, pflückte ein grosses Blatt ab, wickelte das Stück hinein und warf es ihr zu, allerdings so, dass es ihr direct in den Schooss fiel.

Doch gerade diese collegiale Gemüthlichkeit gefiel ihr wiederum. Sollte er etwa aufstehen und eine Verbeugung machen? Das konnte sie im Hôtel genug haben, hier hätte es nicht gepasst.

»Mr. Starke,« begann sie nach einer Weile wieder, »glauben Sie, dass ich die Tour in 300 Tagen machen kann?«

»Wenn Sie so fortfahren wie bisher, glaube ich es. Lassen Sie sich noch etwas Anderes sagen. Mir ist während des letzten Tages in London Einiges zu Ohren gekommen. Sie haben gesagt: wenn ich täglich nur acht Stunden fahre, so werde ich auch beim schlechtesten Wege, wenn ich nur im Sattel sitzen kann, meine 32 Meilen machen und kann mich 16 Stunden wieder ausruhen. — Bleiben Sie bei diesem Princip, und ich weiss es ganz bestimmt, dass Sie Ihre Wette gewinnen werden.«

Mit freudiger Ueberraschung sah Ellen zu ihm hinüber.

»Wirklich? Das ist Ihre ehrliche Ueberzeugung?«

»Ich spreche immer, wie ich denke. Machen Sie sich ein bestimmtes Programm, einen Stundenplan. Sie stehen halb 4 Uhr auf, Punkt 4 fahren Sie ab, Punkt 8 machen Sie den ersten Halt, zur Frühstückspause. Dann wieder von 9 bis 11. Dann grosse Pause mit Hauptmahlzeit und zwei Stunden Schlaf. Dann nochmals von 4 bis 7 im Sattel, und damit ist es aus. Halten Sie diese Zeiten mit der pedantischsten Pünktlichkeit bis zur Secunde inne. Machen Sie sich ganz unabhängig von Weg, Wetter und Wind. Gesetzt den Fall, Sie haben Nachmittags von 4 bis 7 schlechten Weg und Gegenwind, mit einem Male springt der Wind um, der Weg wird ausgezeichnet, sie wollen und können an diesem Abend noch 20 Meilen machen — nein, thun Sie es nicht, steigen Sie Punkt 7 vom Rade. Bald werden Sie merken, was für ein physiologisches, vielleicht auch psychologisches Geheimniss in diesem starren Einhalten des Princips steckt. Etwas Anderes ist es natürlich, wenn Klima, Regenzeit in Betracht kommen. Dann wird eben ein anderer Stundenplan gemacht und dieser ebenso pedantisch eingehalten. Folgen Sie meinem Rathe und soweit es ein Mensch kann und darf, garantire ich Ihnen dafür, dass Sie nicht einmal 300 Tage brauchen; Sie werden in der nächsten Stunde nach Ihrer Rückkehr mit fröhlichem Muthe Lawn-Tennis spielen können, und in Ihrer Erinnerung wird die ungeheuere Radtour eine schöne Spazierfahrt gewesen sein.«

Wie eine dankbare Erleichterung überkam es Ellen. Die felsenfeste Gewissheit lag besonders in dem einfachen Tone, mit dem er diese Worte sprach.

»Dann noch eins,« fuhr er fort. »Quälen Sie sich doch nicht unnöthig mit Entbehrungen. Diese kommen ganz von selbst, dann wird ihr Ertragen auch noch gelernt. Nehmen Sie das Beste, was Ihnen die Erde bietet, so lange Sie es noch haben können. Suchen Sie sich das weichste Bett aus, so lange Sie noch darin zu schlafen vermögen! Denn es dürfte noch die Zeit kommen, wo Sie sich wohl nach einem Bette sehnen, aber wenn Sie es haben, können Sie nicht mehr darin schlafen; stundenlang wälzen Sie sich in den Kissen, bis Sie endlich aufstehen und sich daneben auf den Boden legen und gleich sind Sie sanft, entschlafen. Provociren Sie diesen Zustand nicht, er ist manchmal nicht schön. Nehmen Sie Alles mit, auch, wenn es die Zeit Ihres Stundenplans erlaubt, Theater, Concerte und Kunstgalerien.«

Konnte es vernünftigere Worte geben?

»Ich werde Ihren Rath befolgen und ich danke Ihnen, Mr. Starke.''

Der neben seinem Herrn liegende Hund stand auf, ging zu Ellen und blieb dicht vor ihr stehen. Sie wunderte sich, dass er plötzlich zu ihr kam.

»Ach so, der arme Kerl hat ja heute kein Frühstück bekommen, weil er keinen Schinken frisst und sein egoistischer Herr nur an sich selbst gedacht hat!« bedauerte sie scherzhaft.

»Er erhält nur einmal, des Abends, satt zu essen, er weiss es, und was vom Frühstück und Mittag abfällt, ist für ihn nur ein Gelegenheitsbissen, beanspruchen thut er es nicht.«

Jetzt speculirte Hassan offenbar auf die im Papier liegenden Hühnerknochen. Ellen nahm einen. Eine besondere Hundefreundin war sie nicht, sie hatte das furchtbare Gebiss des Thieres schon gesehen; sie fürchtete sich etwas, deshalb warf sie ihm den Knochen mit einem »Fang!« zu.

Aber der Hund fing nicht, kümmerte sich auch nicht um den im Grase liegenden Knochen, sondern warf Ellen einen seiner verächtlichen Blicke zu und wandte ihr den Rücken, blieb aber noch stehen.

Dieses Benehmen war so menschlich gewesen, dass Ellen förmlich erschrak.

»Oh, jetzt haben Sie ihn beleidigt,« sagte Starke. »Ich hätte Ihnen freilich sagen sollen, dass er höchstens etwas aus der Hand nimmt. Auf der Erde darf nichts gelegen haben. Nun kommt er nicht so leicht wieder zu Ihnen.«

»Was für ein merkwürdiger Hund!« rief Ellen. »Ist er denn so heikel?«

»Er trinkt aus jeder Pfütze, wenn er Durst hat, isst Cadaver, wenn er hungrig ist, aber das frische Wasser, welches ihm vorgesetzt wird, wird er nicht berühren, wenn Jemand seine Hand hineingetaucht hat, und ich glaube, er fühlt es — nicht, dass er es riecht, sondern er fühlt es heraus. Ich muss es annehmen.«

»Was ist denn das nur für ein Hund?«

»Ein Beduinenhund. Kein bevorzugtes Exemplar, sondern die ganze Race ist so. Hier haben Sie ein Beispiel, was der Mensch aus einem Thiere durch Erziehung machen kann. Aus dem Wolfe gewannen wir den treuen Hund. Aus dem Hunde hat der von der Jagd lebende Beduine der lybischen Wüste im Laufe vieler, vieler Jahrhunderte ein Thier geschaffen, welches — für welches ich keinen Namen habe. Kein Anlernen, keine Dressur, allein die Behandlung von Generation zu Generation ist es. Der Hund gehört zur Familie unter das Zelt. Denken Sie: wenn sich eine Hündin mit einem unebenbürtigen Hunde eingelassen hat, oder wenn man sonst den Vater nicht kennt, so werden ihr die Jungen im Leibe todt gedrückt, was gewöhnlich auch ihren Tod bedeutet. Ich habe viele Jahre unter den Beduinen gelebt, aber nur ein einziges Mal ist dieser Fall vorgekommen, und da habe ich gesehen, wie die gefallene Hündin stillschweigend ihre Leiden ertrug und stillschweigend starb. Nie kann ich es vergessen, nicht etwa, wie sie litt, sondern wie sie ihre Ehrlosigkeit wusste, und wie sie dann, durch ihre Sühne von der Schuld erlöst, als gerechter Beduinenhund verschied. Das war kein Hund mehr. Ja, die Ehre ist es! Wir ziehen den Hund auf Muskeln und Dressur, die Beduinen erziehen ihn zum Ehrgefühl. Wenn dagegen eine Hündin in aller Ehre entbunden wird, so ist der Jubel im Zeltlager unermesslich — doch nicht laut, die junge Mutter braucht Stille. Zuerst, wenn es ihr Zustand erlaubt, kommt der Scheich, gratulirt ihr — nicht dem Besitzer — hängt ihr etwa ein Perlenhalsband um. Dann kommen die anderen Honoratioren mit Glückwünschen und Geschenken. Schliesslich alle Beduinenfrauen, sie haben das schönste Geschenk hervorgesucht, sie bringen Kraftsüppchen, sie schmeicheln und bewundern die Jungen, und nun sollten Sie sehen, wie gravitätisch und stolz sich solch eine glückliche Hundemutter im Kindbett benimmt. So werden dann auch die Jungen erzogen.«

»Aber das ist ja Thieranbeterei!« rief Ellen.

»Nicht doch. Sie müssen bedenken, dass ein Paar solcher Hunde dort für den Ernährer einer grossen Familie gilt. Die Wüstenantilopen lassen sich nicht schiessen, das schnellste Pferd holt sie nicht ein, nur der Windhund, und zwei sind nöthig, das hakenschlagende Thier abzufangen. Jene Beduinen leben fast nur von der Antilopenjagd, daher wird der die Nahrung bringende Hund so verehrt. Wer ihn beleidigt, der beleidigt seinen Herrn; wer ihn schlägt, der verliert die rechte Hand; wer ihn tödtet, dessen Leben wird wieder gefordert. So ist das Gesetz der Wüste. Durch diese Hochachtung, welche man ihm entgegenbringt, ist dieser Hund entstanden. Wollen Sie meine besondere Ansicht darüber hören?«

»Ich bitte, ich interessire mich sehr dafür.«

»Sehen Sie Hassan an. Viele Jahre habe ich mich mit Beduinenhunden beschäftigt, vier Jahre speciell mit diesem Hunde, habe ihn beobachtet und studirt, und noch immer ist er mir ein Räthsel. Ich werde immer sagen müssen: ich weiss es nicht, ich glaube es nur, ich nehme es an. Ich weiss nicht, ob Hassan jedes meiner Worte versteht. Manchmal muss ich es fast annehmen, aber dann sträube ich mich wieder gegen den Glauben, diesem Hunde fehle nichts weiter als die Sprache und die menschliche Form, um ein Mensch zu sein. Nein, ein Thier ist es. Ich glaube das Geheimniss in etwas Anderem gefunden zu haben. Verliere ich etwas unterwegs, Hassan wird es mir nachbringen. Lese ich in einer Zeitung, der Wind entführt mir das Blatt, Hassan wird es mir ohne Aufforderung zurückbringen. Sage ich zu ihm: hole mir dies und jenes — und er kennt den Namen des Gegenstandes — er wird ihn mir sofort bringen. Das thut jeder gut dressirte Hund. Dieser Hund ist aber gar nicht dressirt! Hebe ich einen Stein vor ihm auf, werfe ihn fort — Hassan, hole ihn! — er wird mich erstaunt ansehen, warum ich denn den Stein erst fortwerfe, und wenn ich mein Verlangen mehrmals wiederhole, mehrmals Steine fortwerfe, würde er mich verlassen und irgendwo kläglich verenden. Ich weiss es, deshalb wage ich solch' ein Experiment gar nicht, ich habe es früher bei anderen Hunden probirt. Sehen Sie, als ich dies erkannte, da bin ich erschrocken gewesen. Was soll man davon denken? Ist dies nicht menschlicher Verstand, der Zweck von Zwecklosigkeit zu unterscheiden weiss? Ich habe so lange darüber nachgegrübelt, bis ich die Erklärung gefunden zu haben glaube. Wir sagen: der Mensch, und auch das höher entwickelte Thier, hat fünf Sinne. Solch' eine Eintheilung dürfte aber doch recht illusorisch sein. Wir haben offenbar noch mehr Sinne, wir sind uns dessen nur nicht bewusst, deshalb haben wir keine Bezeichnung dafür. Ich bin fest überzeugt, dass der Mensch mit seiner Entwickelung in der Cultur Sinne verloren hat. Ich will Sie in ein finsteres Zimmer stellen, Sie einige Male im Kreise herumdrehen, und Sie können mir nicht sagen, wo Ost und wo West ist. Thun Sie dasselbe mit einem Wilden, mit einem von der Jagd lebenden Indianer, und er wird Ihnen immer ganz genau angeben können, wo Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist. Das ist der uns Culturmenschen verloren gegangene Orientirungssinn. Dann habe ich auch noch einen anderen Sinn erkannt, den ich den des Gleichgewichts nennen möchte. Ich kannte einen Mann, einen Ingenieur, ein grosser Turner und Radfahrer und vor allen Dingen ein sehr gewandter Salonmensch. Er wurde einmal zwischen einer Maschinerie am Kopfe gequetscht und musste hinter beiden Ohren operirt werden. Es hatte gar nichts zu sagen, er genas, sein Gehirn und Denkvermögen hatte nicht im mindesten gelitten, er war noch ganz derselbe Ingenieur. Auffallend war nur, dass er das Gehen erst wieder wie ein kleines Kind von Neuem lernen musste; auf einem Beine stehen konnte er nicht mehr; er besass noch dieselben Muskeln, dieselbe Beweglichkeit, aber mit dem Turnen war es für immer vorbei; nie wieder kam er auf ein Rad hinauf, er fiel immer herunter; und mit einem Male war er ein schüchterner, zaghafter Mensch geworden, der in der Gesellschaft den Mund nicht aufzuthun wagte, vor lauter Verlegenheit fortwährend Dummheiten beging. Aber dabei war er immer noch derselbe geistvolle Ingenieur. Er hatte den Sinn des Gleichgewichts verloren. Nun wieder zu dem Hunde. Durch jahrhundertlange Erziehung und Behandlung hat sich bei seiner Race ein besonderer Sinn entwickelt, welchen ich den der Sympathie nennen will. Das ist also eine Art von Ahnung, oder richtiger sehen ohne Auge, riechen ohne Nase, fühlen ohne Tastsinn: Meinetwegen mag man es auch Instinct nennen, obgleich dies gar nichts bedeutet. Ich nenne es Sympathie. Wenn man Hassan mit Zucker und Peitsche behandeln wollte, so würde man mit der Zeit sicher einen vorzüglich dressirten Hund aus ihm machen, aber ich bin überzeugt, dass er, wenn er über den Stock springen und Pfötchen geben kann, auch diesen besonderen Sinn der Sympathie wieder verloren haben würde. Ich sagte Ihnen schon,dass Hassan kein Wasser anrührt, in welches Jemand seine Hand getaucht hat, er braucht es gar nicht gesehen zu haben. Nun, das könnte er ja riechen. Dasselbe ist aber natürlich auch bei der Milch der Fall. Bei der Milch ist eine Berührung mit der Hand kaum zu vermeiden, sie wird gemolken. Das genirt den Hund nicht. Es trägt ihm Jemand Wasser oder Milch zu, die Schüssel kippt, seine Hand kommt mit der Flüssigkeit wiederholt in Berührung — der Hund trinkt sie ruhig. Sobald aber Jemand, oder auch ich selbst, hinter seinem Rücken, in einer anderen Stube, mit Absicht die Hand hineintauche, rührt er sie nicht mehr an. Woher er es weiss? Mir ist es unfassbar. Er ahnt es, er fühlt es, eben durch einen besonderen Sinn.«

»Das ist allerdings wunderbar,« sagte Ellen. »Da kann ich Ihnen eine Ergänzung geben. Einige englische Gelehrte haben jüngst ihre Beobachtungen über Vögel veröffentlicht; sie behaupten, dass die Vögel frisches Wasser nicht nur durch Gesicht und Geruch wahrnehmen.«

»Und da haben sie Recht. Ich selbst habe mich davon überzeugt bei durstigen Hühnern. Sie finden das frische Wasser immer, man mag den Saufnapf noch so gut verstecken, auch wenn man ihnen Nasenlöcher und Augen mit Wachs verklebt. Sie wittern es auf eine andere Weise. Nun aber etwas Anderes, was beweist, dass dieser Sinn, den ich meine, wirkliche Sympathie ist. Um wen ich mich nicht kümmere, um den kümmert sich auch Hassan nicht. Einmal hatte ich gegen einen Menschen einen Widerwillen, liess es mir aber nicht merken, durch kein Wort, durch keinen Blick. Plötzlich fing Hassan, was er sonst nie thut, zu knurren an, sobald sich dieser Mensch ihm näherte, und wehe ihm, hätte er ihn anzufassen gewagt. Ein anderes Mal hatte ich gegen eine Person eine herzliche Zuneigung gefasst. Sie ahnte es nicht, Niemand ahnte es, ich wusste meine Gedanken zu zähmen. Plötzlich war der Hund um diese Person herum, liebkoste sie, rieb sich an ihr — ich staunte selbst — Hassan hätte mich bald verlassen, um ihr zu folgen. Das ist Sympathie, er fühlt wie ich.«.

Ellen gab keine Entgegnung mehr, sie blickte zur Seite, die Lippen fest geschlossen.

Ja, dieser Mensch hatte durch die unnatürliche Ruhe, die er sich angeeignet, auch einen Sinn verloren, den man sonst von jeder gebildeten Person verlangt.

Wusste denn Starke gar nicht, wie beleidigend er einem jungen, feinempfindenden Mädchen gegenüber sprach?

Das hiess ja mit anderen Worten, auf gut deutsch gesagt: Du bist mir völlig schnuppe, das erkennst du aus dem Benehmen meines Hundes.

Nun, bei solch' einem originellen Charakter musste man eben ein Loch zurückstecken.

Ellen wandte das Gesicht wieder ihm zu.

»Bei derartigen Eigenschaften ist die Liebe des Beduinen zu seinem Hunde begreiflich.«

»Liebe? Es ist mehr Hochachtung. Freilich ist auch Liebe dabei, Freundschaftsliebe. Das ist es eben. Sie werden auch nicht von Ihrem Freunde verlangen, dass er zehnmal hintereinander den Stein apportirt oder aus Gefälligkeit eine ähnliche, den Menschen entsprechendere Handlung ausführt. Sonst ist er am längsten Ihr Freund gewesen. Das nennt man cujoniren. Allerdings, nach langer Trennung, da kann man auch bei dem ernsten, schweigsamen Beduinen und seinem stolzen Hunde die Liebe hervorbrechen sehen. Kommt er nach tagelangem Wüstenritt heim, so fliegt ihm der Hund entgegen, springt ihm in den Sattel und küsst seinen menschlichen Freund, und dieser drückt ihn ans Herz, überhäuft ihn mit Kosenamen — »du Sonne meines Lebens, du Weide meiner Augen, meine Braut, mein Glück, meine Seligkeit«. Dann eilt der Beduine zu seinen Pferden; auch diese wiehern ihm freudig entgegen, und dann erst kommen Kinder und Frau daran. Und sie haben Recht:

»Ein guter Hund, ein schnelles Pferd
Sind mehr als zwanzig Frauen werth.«

Plötzlich stand Ellen schnell auf, sprang auf ihr Rad und fuhr davon.

Starke zeigte keine Verwunderung, blickte ihr nicht nach; er erhob sich gemächlich, klopfte die Pfeife aus und schnallte den Gürtel ein Loch enger.

»Hassan,« sagte er dabei zu seinem Hunde, ebenfalls auf gut deutsch, »bei der sind wir Beide wieder mal in's Fettnäpfchen getreten.«



6. Capitel.

Ach, wenn er doch käme.

Ja, Ellen fühlte sich äusserst beleidigt in ihrem ganzen Geschlecht.

Sie dachte recht vernünftig über die Frauenfrage, sie gehörte nicht zu denen, welche das Weib am Ruder der Menschheit sehen und das Vaterland vertheidigen lassen wollen, welche den Mann an den Waschtrog gestellt wissen möchten. Die Frau soll im Erwerbs- und Geistesleben jede Stellung einnehmen, zu welcher sie befähigt ist, an welcher ihr Geschlecht sie nicht hindert, in welcher sie sich kraft ihrer Geschicklichkeit und Kenntnisse behaupten kann. Dazu vielleicht noch Stimmberechtigung, besonders in gewissen Sachen. Und das kommt ja Alles von ganz allein, das ist der Lauf der Entwickelung, Niemand kann es hindern, und die Querköpfe, die von ihren Isolirschemeln dagegen eifern, werden auch noch einmal einsehen, dass sie sich lächerlich gemacht haben. Allerdings giebt es Berufe, Stellungen, Aemter, zu denen sich die Frau nicht eignet, oder wenn sie sich dazu eignet, passen sie nicht für sie, eben weil es eine Frau ist, hierzu ist ein Mann fähiger, und indem Ellen diese Ueberlegenheit des Mannes in vieler Hinsicht offen anerkannte, durfte sie mit Recht eines von ihm fordern: Achtung vor der Frau.

Und nun sah sie sich einem Manne gegenüber, der hierüber dieselben Ansichten hatte wie ungefähr ein Hottentotte, wie ein Indianer! Der die Frauen wie ein Türke in den Harem sperren wollte!

Nein, das konnte sie ihm nicht verzeihen. Oder konnte sie es, so war das doch keine Gesellschaft für sie. Gebildet war er, aber Bildung und Gemüth ist zweierlei. Er war gemüthsroh. Eigentlich schade. Aber nun mochte sie eben auch nicht mehr in seiner Gesellschaft bleiben, hoffentlich wurde sie in Indianopolis von seiner Begleitung erlöst.

Es ging bergan, es wurde immer steiler, Ellen brachte ihre Maschine nicht mehr vorwärts, sie kippte um. Starke fuhr immer noch, dazu, wie sie jetzt bemerkte, nur mit einem Fusse; er sprang neben ihr ab und zeigte das abgebrochene Pedal.

»Ich habe mir die Maschine selbst gebaut, hatte aber vor zwei Jahren noch nicht die Erfahrung wie jetzt, und auch meine Muskelkraft ist gewachsen; ich glaube, jetzt trete ich Alles durch. In einer Stunde ist der Schaden reparirt.«

Sie hatten den Gipfel des Hügels erreicht, unten lag ein hübsches Dörfchen, jenseits erhoben sich jäh die Alleghany-Berge.

»Sehen Sie, gleich am Wege das Häuschen mit dem rauchenden Schornsteine, es ist eine Schmiede, hat auch eine gute Drehbank. In einer Stunde ist der Bolzen fertig, selbst wenn ich ihn erst schmieden muss.«

»So werde ich einstweilen vorausfahren, kommen Sie nach.«

»Nein, Miss, warten Sie diese Stunde auf mich. Sie müssen nach Ludgate, kaum 12 Meilen von hier entfernt; das dort ist der Bärenpass, ganz leicht zu befahren, aber allein würden Sie den Weg sicher verfehlen.«

»Ich werde ihn zu finden wissen, und im Uebrigen befolge ich Ihre Vorschrift: immer pedantisch den Stundenplan einhalten. Jetzt wird gefahren.«

Sie rollte den Hügel hinab. Starke war wieder an ihrer Seite.

»Hören Sie auf mich, Miss. Ausnahmen kommen immer einmal vor. Es treiben sich arbeitslose Goldwäscher und Bergleute hier herum. Fortwährend durchkreuzen Schluchten und Thäler den Pass; die siebente grössere Schlucht müssen Sie links einschlagen, aber das ist eine ganz ungenaue Angabe, es kommen unzählige andere dazwischen. Finden Sie nicht die richtige Schlucht, so kommen Sie auf ganz unfahrbare Wege, verirren sich in ein Labyrinth, oder Sie erreichen die offene Prairie, und heute giebt es noch Regen.«

Aber Ellen that, als höre sie nicht. Das Thal hatte sie erreicht, sauste eben in voller Fahrt an der Schmiede vorbei, als plötzlich Starke, schon zu Fuss, eine Hand an der Lenkstange, die andere am Sattel, ihr Rad mit einem Ruck zum Stehen brachte.

Wie er dies fertig gebracht, wusste sie nicht, wunderte sich jetzt auch nicht darüber.

»Lassen Sie mich los!« rief sie, hochroth vor Entrüstung.

»Nur eine Stunde. Ich sorge mich wirklich um Sie, Sie werden sich verirren.«

»Wollen Sie mich jetzt freigeben, Sie unverschämter Mensch?!«

Statt dessen zwang er sie durch Umlegen des Rades zum Absteigen.

»Wenn Ihnen mein Hund folgte, würde ich Ihnen den zum Schutze mitgeben.«

»Ich würde ihn erschiessen! Ich brauche keinen Schutz!«

»Ich hätte Lust, einen Schlauch zu zerschneiden, dass Sie nicht weiterkönnen.«

»Ja, das sähe Ihrer Rohheit ganz ähnlich!« stiess Ellen hervor, jetzt vor Entrüstung bleich werdend.

Starke bat nicht, drohte nicht; seine ruhige Stimme war keiner Wandlung fähig.

»Gut, folgen Sie Ihrem Willen. Prägen Sie sich meine Worte dem Gedächtniss ein. Von hier bis zum Anfange des Passes, den Sie schon merken werden, sind es fünf Meilen. Die fahren Sie in einer halben Stunde. Dann sehen Sie nach der Uhr, fahren Sie schnell 25 Minuten lang, Sie werden drei Meilen machen können, beachten Sie nicht die Querthäler, sondern spähen Sie nach diesen 25 Minuten immer rechts nach einem metergrossen Steine an der Felswand, der gerade wie ein Menschenkopf aussieht. Zu verkennen und zu übersehen ist er nicht, wenn Sie nur nach rechts sehen. Hinter diesem die erste Schlucht links ab, das ist der richtige Weg; und wenn er auch anfangs etwas holperig ist, er wird bald besser, und dann immer gerade aus, Sie kommen direct nach Ludgate. Mögen Sie Ihren Eigensinn nicht bereuen.«

Er trat zurück, Ellen stieg auf und jagte davon. Hatte er sie nicht auch eigensinnig genannt? Solch' ein Unhold.

Immer noch zürnend, passirte sie den Eingang des Passes in die Felsen, was allerdings nicht zu verkennen war, denn diese Felsen hüben und drüben, himmelhoch ansteigend, erhoben sich jäh aus ebenem Boden, und bei diesem Gegensatze von Berg und Ebene blieb es, das war ein richtiger Engpass, und man kommt auf die Vermuthung, dass dieser Bärenpass einst das Bett eines Stromes gewesen ist, der sich durch die Felsen gebrochen hat, obgleich hiermit nicht die vielen Querthäler übereinstimmen wollen.

Das ganze Alleghany-Gebirge setzt sich aus solchen parallelen Gebirgsstreifen zusammen; hier treten sie in Form von Felswänden am dichtesten zusammen, nur zwei deutsche Meilen breit. Es war einst die Hauptstrasse, die jetzt, seitdem die Eisenbahn hinüberfährt, kaum noch benutzt wird.

Der Weg war von Natur ausgezeichnet, der Felsboden glatt wie ein Tisch, nur wenig ansteigend, dazu Rückenwind, Ellen flog spielend hinauf. Links und rechts aber, in den Schluchten, da sah es fürchterlich aus, da hätte man wohl, das Rad über die Schulter, von Stein zu Stein balanciren müssen.

So flog sie immer weiter, bewunderte die schauerliche Romantik der Zwischenthäler und freute sich über diesen glatten Weg im Gegensatz zu jenen, bis sie an das Linksabbiegen dachte. Einen menschenkopfähnlichen Stein hatte sie noch nicht gesehen, leider auch nicht nach der Uhr; jetzt war es bald elf, sie fuhr und fuhr, und der Stein wollte immer noch nicht kommen. War sie schon daran vorüber? Wie in aller Welt sollte man denn aber auch in solch' einer Schlucht fahren können? Die bezeichnete musste doch wohl noch kommen.

Aber weder der auffallende Stein noch ein links liegendes Thal mit passablem Weg war zu erblicken. Dafür erreichte sie jetzt die Höhe. Nun war sie sicher vorbei geradelt. Gut, dann ging es einmal in die offene Prairie, so hatte er ja wohl gesagt. Diese herrliche Thalfahrt konnte sie sich nicht entgehenlassen. Sie brauchte sich ja dann nur links zu halten, so musste sie wieder auf den richtigen Weg kommen. Also die Füsse auf die Stützen gestemmt, die Bremse vorsichtig in die Hand, und hinab ging es in sausendem Fluge. Der Luftzug milderte die Hitze, dabei vergass sie auch die Trockenheit des Gaumens.

Dort vorn wurde der Weg anders. Er war mit Steinen bedeckt, ein herabgestürzter Felsblock mochte zersplittert sein. Ehe Ellen abbremsen konnte, war sie mitten drin, über einige kleine Steine hinweg, grössere konnte sie umfahren, sie hatte das Rad wieder in der Gewalt, es wurde ihr etwas ängstlich um's Herz, weil die Steine gar so spitz waren ...........

Pfffhhh — sagte es, und durch Ellen's Körper ging ein unangenehmes Rütteln.

Erschrocken sprang sie ab. Sie hatte einmal gehört, dass man nicht auf leeren Schläuchen fahren könne, die Felgen würden sich gleich verbiegen.

Der Hinterreifen war schlaff. Das Loch war leicht zu finden, der spitze Stein steckte noch drin. Nun, für solche Fälle war sie ja mit Allem versehen. Die Werkzeugtasche aufgeschnallt, das Reparaturkästchen herausgenommen, auch das Instrument, um den Laufmantel abzuheben.

Eigentlich ist es gar nicht so einfach, einen Laufmantel abzunehmen, als es sich zusieht, wenn es ein anderer macht. In ihrem ganzen Leben hatte es Ellen noch nie gethan, noch weniger einen Luftschlauch geflickt. Wenn ihr in England einmal so etwas passirte, ging sie in die nächste Reparaturwerkstätte, oder war ihr das zu weit, in's nächste Wirthshaus, gegen Bezahlen der Kosten und ein gutes Trinkgeld wurde ihr die kranke Maschine nach Hause geschickt, sie selbst fuhr mit der Eisenbahn voraus.

Aber sie brachte den Schlauchmantel herab, wenn auch nicht ohne Schwierigkeit. Dem Kästchen lag eine Gebrauchsanweisung bei, sie wurde aufmerksam studirt; nun konnte sie es. Alles war vorhanden, sie kratzte, pinselte und klebte so, nun die Luftpumpe heraus, wozu erst der Widerstand der infamen Schnalle überwunden werden musste. Sie pumpte. War das fürchterlich heiss unter der Mittagshitze in diesem Engpass. Und dieser Durst! Sie pumpte und pumpte — wurde er denn noch immer nicht fest? Keine Spur. Die Zähne zusammengepresst, pumpte sie weiter, bis sie endlich merkte, dass die Luft ebenso schnell aus der Wunde wieder entwich, wie sie durch das Ventil hineinkam. Also nochmals die Anweisung gelesen, nochmals gekratzt, gepinselt und geklebt, nochmals gepumpt. Und das war heiss! Und dieser Durst! Aber nun hielt es auch, der Schlauch schwoll. Nicht allzufest, bei dieser Gluth könnte er leicht platzen. Ellen wäre sehr fröhlich gewesen, wenn nicht wieder die elende Schnalle an der Rahmentasche zu überwinden gewesen wäre.

Diesen spitzen Steinen traute sie nicht mehr. Die schienen bald aufzuhören. Ellen nahm das Rad über die Schulter, und wenn es auch wie Feuer brannte, sie trug es wie ihr geliebtes, krankes Kind, wohl eine viertel Stunde lang.

Wirklich, jetzt war der Weg wieder frei von den bösen Steinen.

Ihre Liebe wurde belohnt. Nun aufgestiegen und frisch drauf ......

Pfffhhhtsch — sagte das Hinterrad.

Ellen hätte die ganze Maschine am liebsten gegen die Wand werfen mögen. Hatte sie das etwa verdient? Nein. Das war eine Niederträchtigkeit, besonders von dem Hinterrade.

Aber Energie besass Ellen doch. Sie fing noch einmal an. Zunächst die verfl..... Schnalle, Ellen fluchte wirklich, und da gab die Schnalle klein bei. Also nochmals gekratzt, gepinselt, geklebt und gepumpt, wenn auch unter Thränen. Nein, dieser Durst, dieser Durst! Und der Pumpencylinder brannte wie glühendes Eisen in ihren Händen. Sie hatte es noch nicht für nöthig befunden, sich eine Korbflasche zuzulegen, unnützer Ballast hier mitten in der Cultur. Starke hatte immer eine grosse Lederflasche in der linken Jackentasche, und wenn der jetzt hier wäre, sie wollte trinken, trinken, trinken ..... Herr Gott, der Schlauch wollte schon wieder keine Luft annehmen!

»Nein, das ist doch zu schändlich!« weinte Ellen. »Ach, lieber Gott, mach mir doch meinen Schlauch voll.«

Das Gebet wurde nicht erhört, und ihre Seele dem Teufel zu verschreiben, daran dachte sie im Augenblicke nicht, sonst würde sie es vielleicht gethan haben.

Gebrochen sank Ellen auf einen Stein. Sie trug sich mit Todesahnungen herum. Was sollte denn auch aus ihr werden? Den Weg von 8 Meilen zurück zu Fuss? Es graute ihr schrecklich davor. Bei dieser furchtbaren Hitze! Schliesslich aber blieb ihr wohl nichts anderes übrig. Zunächst wollte sie warten, ob Starke nicht käme. Es war zwar eine kühne Annahme, dass Starke ebenfalls diesen offenbar falschen Weg einschlagen würde, doch Ellen baute fest darauf, mindestens musste sein Hund ihrer Spur folgen können, wozu hatte er denn sonst einen Hund, wozu hatte denn dieser Hund sonst eine Nase, und Ellen hatte wohl Recht, wenn sie sich diesen Mann vorstellte, wie er sofort erkennen würde, aus irgend einem Anzeichen, dass sie nicht den richtigen Weg eingeschlagen habe; er war ja so ein halber Trapper, dann musste er auch Indianersinne besitzen, und es war wohl auch richtig, wenn sie sich vorstellte, wie der kluge Hund, die Nase am Boden, der Fährte des Gummireifen folgen würde.

Zunächst glaubte Ellen, die ersten Qualen des Verschmachtungstodes durchzukosten. Schon sah sie in der öden Felsenwildniss grüne Oasen mit springenden Quellen, der glitzernde Spiegel eines See's winkt ihr — das heisst, sie bildete sich nur ein, schon solche Visionen zu haben, weil sie davon gelesen hatte; so weit war es doch noch nicht mit ihr. Was sie aber plötzlich veranlasste, mit einem Schmerzensschrei aufzuspringen, diese Empfindung war echt: der Stein, auf dem sie sass, war heiss wie eine glühende Ofenplatte, es ging nach und nach durch das Lodentuch.

»Starke, so kommen Sie doch nur endlich!« jammerte sie.

Das Echo verspottete sie.

»Ach, mein lieber Starke, kommen Sie doch, ich will ja auch immer zu Ihnen gut sein!«

»Gut sein — gut sein,« lachte das Echo, und Ellen empfand den Spott; Scham überkam sie.

Lächerlich, es war ja nichts weiter als ein kleines Löchelchen in dem Gummischlauche, sollte denn das nicht zuzustopfen sein? Andere konnten es ja auch, und es war so einfach, wenn man zusah. Ellen kratzte und pinselte und brachte ihren ganzen Vorrath von Gummi darauf. Nun wieder gepumpt. Es hielt, es hielt! Sie legte sich schwer auf den Sattel — es hielt, er liess keine Luft mehr! Vorwärts, aufgesprungen, sie musste heraus aus diesem schrecklichen Felsenpass, sie musste doch hier, in einer bevölkerten Gegend, bald auf Menschen stossen, wenn sie nur fuhr, und wenn sie erst ihren Durst gelöscht hatte, dann wollte sie auch wieder den richtigen Weg finden.

Sie hatte erst einige Radumdrehungen gemacht, als die Strasse abermals sehr steinig wurde, sie wollte den defecten Reifen lieber schonen .... Bhhh — sagte da dieser schon, diesmal ganz bescheiden.

Nun freilich war es mit Ellen vorbei. Sie liess die Maschine fallen, wie sie fiel, und fiel selbst daneben, jetzt nicht mehr den heissem Boden achtend, der ihr auf die Haut wirkliche Blasen zog.

Das ist mein Tod, dachte sie, hier wird man eine Leiche finden. Und das hat Judith nur gewollt. Fluch ihr, Fluch der ganzen Radlerei. Starke, Starke, du bist gerächt! — Und dann dachte sie trotzdem: ach, wenn er doch käme!

Aber Starke kam nicht.



7. Capitel.

In der Prairie.

Wie sie so langgestreckt auf dem glühenden Boden lag, das Gesicht in den Armen vergraben, alles Feuer, Lippen und Gaumen brennend, glaubte sie ein Geräusch wie von rieselndem Wasser zu vernehmen. Sie glaubte es nur, redete sich ein, es sei nur eine Hallucination.

Es ist überhaupt manchmal nicht vortheilhaft, ein gebildeter, belesener Culturmensch zu sein, besonders wenn man noch einige Phantasie besitzt.

Bei Ellen musste dieses Geräusch partout eine Gehörs-Hallucination sein. Merkwürdig nur, wie deutlich es klang, gerade als ob — Ellen hob den Kopf — gerade als ob es Wirklichkeit sei. Natürlich, das war auch wirkliches Wasserplätschern, dicht in der Nähe, und Ellen sprang auf.

Zwischen der Strasse und der rechten Felswand befand sich ein tiefer Riss im Gestein, mit der Strasse parallel fortlaufend, und etwa 2 Meter unter Ellen's Füssen entsprang der Wand eine Quelle, in der noch etwas tieferen Spalte abwärts fliessend.

Beim Anblick des Wassers kehrte Ellen's Lebensmuth und ruhige Ueberlegung zurück. Obgleich sie nicht hinabgelangen konnte, sah sie sich doch vom Verschmachtungstode gerettet; ihre ganze Verzweiflung fand sie mit einem Male komisch. Den Gummibecher besass sie nicht mehr, sie hatte nicht einmal einen Bindfaden bei sich. Nun, so zerschnitt sie einfach ihre Jacke oder auch ihr Hemd in Streifen und ließ ihre Mütze oder auch die Rahmentasche an dem so hergestellten Stricke hinab, zog sie mit Wasser gefüllt wieder herauf, und dann musste sie eben die acht Meilen rückwärts zu Fuss gehen, drei Stunden kräftigen Marschirens, wenn sie auf der Karte nicht mit Sicherheit feststellen konnte, einer anderen Ansiedlung näher zu sein.

Im Nu hatte Ellen diesen Plan klar gefasst. Was war eigentlich mit ihr vorgegangen? Lächerlich. Wie kleinmüthig! Sie, welche die ganze Erde allein umradeln wollte, hatte gleich beim ersten bischen Durst die Flinte in's Korn geworfen! Weil sie den Pneumatic nicht dichtmachen konnte! In der nächsten Reparaturwerkstätte wollte sie es lernen, und dann immer mit Bindfaden versehen sein! Wieder um eine Erfahrung bereichert.

Ehe sie ihre Bekleidung in Stücke schnitt, wollte sie doch nachsehen, ob das Wasser nicht an einer anderen Stelle erreichbar sei. Sie blickte nach der Uhr. Eine Viertelstunde wollte sie die Spalte verfolgen. So lange musste sie schlimmstenfalls ihren Durst noch ertragen, sie musste!

Es steckte doch Energie in dem Mädchen. Ellen liess nicht einmal das Rad liegen, nahm die gewichtige Maschine über die Schulter, obgleich der Weg über die grossen Steine eine Klettertour war und der heisse Rahmen ihr förmlich in's Fleisch brannte. Sie wollte!

Die Viertelstunde war noch nicht vergangen, als die immer tiefer werdende Spalte in der Felswand verschwand, mit ihr das Wasser, ohne dass Ellen einen Abstieg gefunden hatte. So musste sie eben zurück, musste die Jacke zerschneiden.

Da — Pferdewiehern, Menschenstimmen!

Ellen hatte gar nicht des Weges geachtet. Dort hörte die Strasse plötzlich auf, dort sah es wenigstens ganz anders aus, die Felsberge, schienen zurück zu treten; sie hatte einen weiten Blick über ein hügeliges Terrain. Das war das Ende des Passes, die Grenzen des ganzen, sich jäh aus der Ebene erhebenden Gebirges, das war die offene Prairie, von der Starke gesprochen — und dort mussten Menschen sein, sie hatte Stimmen gehört.

Nur zehn Minuten brauchte sie zu marschiren, als sich vor ihr plötzlich die wellige Prairie ausbreitete, mit niederliegendem, grauem Gras bedeckt, wie Heu aussehend, nur dass dieses noch im Boden wurzelte.

»Halloh, was ist denn das für ein blutiger Fremder?«

Ellen, jetzt ihr Rad schiebend, sah in einiger Entfernung zwei Reiter, welche sofort auf sie zu galoppirten. Es waren abenteuerliche, wilde Gestalten, die Anzüge so zerfetzt wie die schwarzbraunen Gesichter, an den Füssen drei Zoll lange Sporen, ausser dem Revolver am Gürtel das Bowiemesser in der Scheide, um den Hüften den Lasso — Cowboys. Der eine ritt ein mageres Thier, der andere, ein alter Kerl mit einem pockennarbigen, wüsten Gesicht, ein sehr schönes Pferd, mit dem er in beständigem Kampfe lag. Es sprang, tanzte und bockte, versuchte den Reiter in die Beine zu beissen, aber jedes Mal traf dafür ein Fausthieb die Schnauze, und dies Alles hinderte den Cowboy nicht, seine Aufmerksamkeit der Erscheinung des fremden Menschen zu widmen und sich mit dem Kameraden zu unterhalten. Jeder Huf des unbändigen Thieres trug eine lederne Schlinge, welche Alle in der Hand des Reiters zusammenliefen.

»Das ist ja ein blutiges Mädel!«

»Habt Ihr nicht einen Trunk Wasser?« fragte Ellen.

»Einen blutigen Schuss weit ist blutiges Wasser genug,« lautete die Antwort, und dies genüge, um die Ausdrucksweise der Cowboys zu charakterisiren. Sie konnten kein Hauptwort sagen, ohne ein »blutig« vorzusetzen. Ellen fiel dies nicht besonders auf; auch dem englischen Arbeiter ist dies recht geläufig.

»Sie kommt aus dem Bärenpass. Wo will die hin?«

»Guck, Sam, das ist eine verdammte Mähmaschine. Ne, 's ist wahrhaftig, ein Mädel! Was will die hier mit der Mähmaschine?«

»Habt Ihr nicht Wasser?« wiederholte Ellen. »Ich verschmachte fast vor Durst.«

»Wasser? Ne, hier nicht. Wo kommt Ihr denn her? Seid Ihr allein?«

Zwei andere Cowboys kamen angesprengt. Das gleiche Staunen, dieselben Fragen. Woher? Wohin? Was ist das für ein curioses Ding da?

Ellen hatte einige Geschichten gelesen, welche unter Cowboys spielten. Ein rohes Gesindel, unwissend, aber doch mit schönen Zügen, romantisch, ritterlich, gastfreundlich. Man musste sich ihnen nur verständlich machen.

»Hört doch, Ihr guten Leute, ich habe furchtbaren Durst,« wiederholte Ellen zum dritten Male. Sie übersah ganz, was für Blicke gewechselt wurden.

»Durst? Wir haben auch welchen,« grinste der Alte. »Wer seid Ihr denn eigentlich? Seid Ihr wahrhaftig ein Mädel?«

»'S ist eine Dirne,« kam ihr ein Cowboy zuvor.

»Seid Ihr denn allein?« forschte der Alte weiter.

»Ich bin allein. Ich mache auf dem Bicycle eine Reise um die Erde. Wo ist der Brunnen oder die Quelle, von der Ihr vorhin sprachet?«

Wieder schnelle Blicke, ein verständnissvolles Grinsen. Drei Cowboys sprangen gleichzeitig aus den Sätteln, die Pferde frei stehen lassend. Der vierte, der Alte, brachte mit einem Ruck der Schlingen sein Thier zum Sturz, stand aber selbst auf den Beinen schlug einen Knoten und kümmerte sich nicht mehr um das sich wälzende Ross. Nun steckten sie auch noch die Köpfe zusammen und zischelten, die mit Blut gewürzten Worte wurden lauter.

»Eine feine Dirne — sie ist allein — sie ist aus der Stadt — hat sich verirrt ....«

Da plötzlich, ging Ellen eine fürchterliche Ahnung auf über das, was ihr bevorstehen konnte, vergessen war ihr Durst. Aber die Besinnung, behielt sie doch, vor allen Dingen wollte sie Gleichgiltigkeit zeigen.

»Also Ihr habt kein Wasser? Nun, bis nach Ludgate halte ich es auch noch aus. Nicht wahr, dort ist der Weg nach Ludgate?«

Sie deutete nach Süden, und sie sah den Alten auf sich zukommen, ein vertrauliches Lächeln in dem pockennarbigen Gesicht, und eben so sacht schlichen auch die Anderen herbei.

»Kommt nur mit, wir haben schon Wasser,« grinste er, »in Billy's Hütte — und Whisky ist auch dort. Was, Sam?«

»Plenty Whisky,« feixte Sam.

»Was wollt Ihr von mir?« stiess Ellen mit farblosen Lippen hervor, und ihre zitternde Hand suchte den Revolverkolben.

»Komm nur, wir thun Dir nichts.«

»Zurück, oder ....«

Lachend umdrängten sie die Cowboys. Eine starke Faust, der gezogene Revolver war ihr aus der Hand gerungen, ein Arm umschlang sie. Ellen sah sich verloren.

»Barmherzigkeit! Nehmt mir alles Geld ....«

»Ach was, ziere Dich nicht, Püppchen.«

»Starke, zu Hülfe, Starke!«

»Gieb ihr eins aufs Maul, wenn sie schreien will.«

»Hoch die Hände!!«

Die donnernde Stimme, welche diesen Befehl gab, klang in Ellen's Ohren wie Engelsmusik. Sie wurde freigelassen, acht Hände fuhren in die Höhe.

Sie hatte ihn nicht kommen sehen, als sie seinen Namen gerufen.

Dort lief sein Rad noch, und da stand er, in jeder Hand einen Revolver, auf die Cowboys angeschlagen, und neben ihm kauerte, zum Sprunge geduckt, sein Hund. Er musste in voller Fahrt abgesprungen sein, seine Füsse gruben sich förmlich im Boden ein.

»Miss Howard, nehmen Sie ihnen die Waffen ab — schnell!«

Aber Ellen, obgleich sie die Situation erkannte, war nicht fähig dazu, sie lag auf den Knieen. Es wäre auch zu spät gewesen. Eine Hand zuckte herab, eine andere, alle — — zwei Feuerstrahle mit nur einem Knall; zwei Cowboys stürzten mit durchbohrter Stirn nieder, schon hatte Starke den dritten gefasst, schmetterte ihn zu Boden; ein gelber Streifen sauste durch die Luft, auf der Brust des vierten lag der Hund; ein gellendes Geheul, Hassans furchtbares Gebiss hatte die nach der Waffe greifende Hand zermalmt, und da erhob sich Starke schon wieder; er hatte seinem Manne Füsse und Hände mit dem Lasso gebunden, nahm dem vierten den Revolver ab und fesselte ihm die Füsse.

Alles dies hatte sich in wenigen Augenblicken abgespielt, und Ellen glaubte, eine Vision zu haben. Da lagen zwei Menschen, jeder ein hässliches Loch mitten in der Stirn, das Blut sickerte heraus, die Augen starr, gebrochen, als wenn sie — — nein, es war nicht möglich! Das war wirklich nur eine Hallucination!

»So, nun wollen wir nach Ihrem Maschinchen sehen. Mir scheint, der Hinterreifen ist undicht. Ich bemerkte es gleich, als ich angefahren kam. Entschuldigen Sie nur, dass ich so lange ausblieb. Auch der Bolzen vom anderen Pedal war schon angebrochen, es ging nicht Alles so glatt; auf der Drehbank war auch gerade etwas aufgespannt, da wurden zwei Stunden aus der einen. Richtig, an der abzweigenden Schlucht sagte mir Hassan, dass Sie geradeaus gefahren wären. Na, ich bin ja gerade noch zur rechten Zeit gekommen.«

Er sagte es nicht anders, als wenn er sonst etwas erzählte. Nicht die geringste Bewegung, Alles Ruhe, Gleichgültigkeit.

Ellen aber kam es jetzt zum Bewusstsein, dass sie nicht nur träumte.

»Zum Mörder geworden! Meinetwegen,« brachte Sie ächzend hervor.

Starke holte sein Rad, öffnete die Werkzeugtasche.

»Mörder? Ich? Nein, das bin ich nicht. Hier heisst es einfach: wer ist schneller? ich oder du — — — oho, Sie haben ja ein ganzes Gummilager draufgeklebt, das muss wieder herunter. Nein, Miss Howard, machen Sie sich keine Gewissensbisse, die überlassen Sie mir, und ich habe keine. Habe ich unrecht Blut vergossen, so komme es auf mein Haupt. Hier stehen wir unter den Gesetzen der Prairie. Die Männer wussten,was das Wort »Hände hoch!« bedeutet. Sie haben es riskirt, nach der Waffe zu greifen, und sie haben sich dabei verspekulirt. Hätte ich sie nicht tödtlich getroffen, ich würde mich in ihren Augen unsterblich blamirt haben. Die Ueberlebenden erstatten keine Anzeige, wissen gar nichts von so etwas; für sie habe ich auch nur recht und billig gehandelt, für sie bin ich ein tüchtiger Kerl, höchstens dass sie den Tod ihrer Kameraden zu rächen suchen. Da geht man ihnen einfach aus dem Wege. Also weg mit allen Kopfschmerzen. — So, der wäre geflickt, dieses Pflaster hält ewig.«

Aufmerksam blickte Starke die noch immer Knieende an. Er mochte aus ihren glänzenden Augen und trockenen Lippen erkennen, was ihr vor allen Dingen fehlte, er zog die grosse Lederflasche aus der Tasche und schraubte den Stöpsel ab.

»Haben Sie Durst? Trinken Sie. Es ist Thee mit Citronensäure.«

Die Natur siegte über das Entsetzen. Ellen erhob sich, mit zitternden Händen griff sie nach der Flasche, setzte sie an und trank — und trank — und glaubte, noch nie solch ein Entzücken empfunden zu haben. Neues Leben durchrieselte ihren Körper.

Starke hatte die Instrumente wieder geborgen. Jetzt durchschnitt er die Riemen des gefesselten Pferdes, sprang zurück, um von den Hufen des aufschnellenden Tieres nicht getroffen zu werden, es jagte davon, während die anderen drei ruhig dastanden. Er hetzte sie mit dem Lasso fort.

Die Lederflasche fasste einen ganzen Liter, sie war voll gewesen. Mit einem Zuge konnte Ellen sie nicht leeren, tief aufathmend setzte sie ab, wollte sie zurückgeben.

»Trinken Sie, trinken Sie«, ermunterte Starke, »es wird bald mehr Wasser geben, als wir wünschen. Wir müssen uns beeilen, eine möglichst grosse Strecke zwischen uns und diese Cowboys zu bringen. Tödten darf ich die Wehrlosen natürlich nicht, das ginge gegen mein Gewissen, gegen das Gesetz der Prairie. Die Beiden werden sich schliesslich doch zu befreien wissen, werden ihre Pferde oder andere wiedererlangen, vielleicht auch von Kameraden Hülfe bekommen, und dann werden sie uns verfolgen, und wenn der Regen den Boden aufweicht, sind uns die Berittenen überlegen. Machen Sie sich zur Abfahrt bereit.«

Ellen hob ihr Rad auf, und als er zurückkam, reichte sie ihm die geleerte Flasche. Eines Wortes war sie noch immer nicht mächtig, nicht einmal eines Dankes. Sie wurde noch immer von dem schrecklichen Gedanken beherrscht, was ihr bevorgestanden hätte, wäre Starke nicht gekommen.

Sie hatte die drohenden Anzeichen in der Atmosphäre noch gar nicht beachtet: Ein starker Wind blies aus Süden, wurde aber beständig durch noch stärkere Stösse aus Westen unterbrochen; zwei Windströmungen rangen um die Herrschaft, und im Westen stieg eine schwarze Wand mit schwefelgelbem Saume auf.

»Sie müssen Vorspann nehmen, das geht doch nicht gegen die Bedingungen,« sagte Starke, als er die Lederjacke aufknöpfte, unter welcher auch er einen Lasso um die Hüften trug. Er wickelte ihn ausserhalb der Jacke um den Leib, nahm Maass, dass die Enden gleich lang wurden, und befestigte diese an den Lenkstangen ihres Rades, sie zum Aufsteigen auffordernd.

Noch einen Blick in die starren Augen der Todten, auf die Gefesselten, welche ebenso unbeweglich dalagen, und die Fahrt auf dem zum Tandem zusammengekoppelten Räderpaar begann. Gleich im Anfange merkte Ellen, dass sie allein keinen Schritt vorwärts, gar nicht in den Sattel gekommen wäre. Der Boden war uneben, voll Buckel und Löcher; das sich um die Speichen wickelnde Gras hinderte ungemein; ein Windstoss von vorn bremste die Fahrt ganz ab, der von der Seite drohte sie umzublasen.

Aber dort vorn der Mann, der mit dem Gesicht auf der Lenkstange lag, zog wie eine Dampfmaschine. Er mochte sich nicht zum Flieger eignen, dazu war er zu gross, zu schwer, sein Gang so langsam und wuchtig wie sein ganzes Wesen, aber für seine Durchtrittskraft schien es kein Hinderniss zu geben.

So verging eine Stunde, und der lederne Lasso blieb straff wie Stahl gespannt. Ellen that ihr Möglichstes, ihm das Ziehen zu erleichtern. Der Westwind siegte, er wurde zum Sturm, es ging ihm direct entgegen, Ellen konnte nicht mehr athmen, noch viel weniger treten, und dennoch machten sie wohl noch 4 Meilen in der Stunde.

Höher und höher stieg die schwarze Wand, sie überzog den ganzen Himmel, es wurde Nacht.

Plötzlich trat eine völlige Windstille ein. Dieser Wechsel war zu unheimlich, als dass sich Ellen darüber hätte freuen können, und da ging auch schon ein Heulen und Pfeifen durch die Luft, ein furchtbarer Blitz erhellte die Nacht mit gleichzeitigem Donnerschlag.

Mit einem Ruck wurde Ellen aus dem Sattel geschleudert, der schon abgesprungene Starke fing sie auf, etwas Weiches, Haariges wurde der halb Besinnungslosen in die Hand gedrückt.

»Der Hurican!« schrie er ihr in's Ohr. »Mir nach! Laufen Sie um Ihr Leben! Halten Sie Hassans Schwanz fest!«

Alle Elemente der Hölle schienen entfesselt zu sein, es heulte in allen Tonarten, ein einziges Feuermeer, ein ununterbrochenes Krachen und Schmettern. — Ellen verging Hören und Sehen, sie sah nur Starke mit weiten Sätzen rennen, über jeder Schulter ein Rad; sie rannte schon mit, ohne es zu wissen, den Hundeschweif krampfhaft gepackt, Hassan riss sie mit fort.

Nur einige Minuten ging es so vorwärts, den Sturm von der Seite. Ein neues Flammenmeer zeigte ihr in der Ferne Bäume, und Starke stand.

»Der Wald, der Wald!« schrie sie. »Dort sind, wir geborgen!«

»Um Gottes Willen! Vorwärts, mir nach, jetzt fliegen wir mit dem Winde!«

Er stürmte weiter, in einer anderen Richtung, und Ellen flog wirklich, ihre Füsse berührten kaum den Boden. Ein Hinderniss stellte sich ihr entgegen, es war eine Böschung, sie stürzte, wurde aufgerissen, einige Schritte getragen, wieder hingelegt, oder richtiger hingeworfen, sie fühlte Eisentheile, Speichen, sie lag neben den Maschinen.

»Fürchten Sie nichts, die Gummidecke isolirt!«

Es war das Letzte, was sie von seiner Stimme vernahm, Dunkelheit umgab sie, eine Decke legte sich über sie, dafür aber war das bisherige Krachen und Heulen der Elemente eine Kleinigkeit gewesen gegen das, was jetzt losbrach, unbeschreiblich, gleichzeitig stürzte eine schwere Last auf sie hernieder, es rauschte wie ein Wasserfall.

»Der Weltuntergang!« Das war Ellen's letzter Gedanke, dann verliess sie, vor körperlicher und seelischer Erschöpfung und vor Entsetzen, das Bewusstsein. Doch es war keine krankhafte Ohnmacht, sie fiel in einen tiefen Schlaf.


— — — — — — — —

Als sie wieder zu sich kam, fühlte sie sich auf weichem Heu gebettet, sie tastete abermals an Eisentheilen, und dass es so dunkel war, daran musste eine Decke schuld sein — oder es war Nacht. Das kräftige Mädchen brauchte nicht lange Zeit, um völlig bei Besinnung zu sein. Gleich erinnerte sie sich an Alles. Die Elemente wütheten nicht mehr, und sie befand sich noch am Leben. Zuerst gab sie sich allerdings einer behaglichen Empfindung hin. Sie fühlte sich wirklich so behaglich; sie lag so weich gebettet, es war so hübsch warm hier — und sie war dem Verderben entgangen.

Ja, was war denn nun aber aus Starke geworden, aus seinem treuen Hunde, der sie zuletzt kraftvoll gezogen hatte? Sich jetzt dieser Behaglichkeit hinzugeben, das war ja der reine Egoismus.

Sie lüftete die Decke, ein heller Lichtschein — sie schlug die Decke ganz zurück, eine tiefstehende, blendende Sonne — und da — Ellen traute ihren Augen nicht ....

»Guten Morgen, Miss Howard. Haben Sie gut geschlafen? Ungefähr 14 Stunden sind's gewesen.«

Dort im nassen Grase sass breitbeinig Starke, schnitt Stücke von einem kalten Rinderbraten ab, streute Salz darauf und schob die Bissen abwechselnd sich und dem neben ihm kauernden Hunde in den Mund, dies Alles auf einer kleinen Insel. Die Prairie hatte sich in einen unübersehbaren See verwandelt; nur hier und da tauchte der Gipfel eines höheren Hügels als Eiland aus dem Wasser.

»Ja, was ist denn das?«

»Es war ein kleiner Wolkenbruch, nichts weiter, es giebt noch ganz andere. Aber der Hurrican war gut, der liess nichts zu wünschen übrig. Blicken Sie dorthin. Sehen Sie das Gestrüpp? Manchmal einen Baumstamm, Wurzeln und Aeste aus dem Wasser streckend. Das ist der Wald, in dem Sie gestern Zuflucht suchen wollten. Das dürfen Sie nie thun, wenn Gewitter und Sturm im Anzuge sind. Da bringt man selten ein Bein und einen Arm gesund wieder heraus.«

Ellen erkannte das Werk der Zerstörung — ja, Alles zerschmettert, und sie selbst wäre es jetzt ebenfalls — und sie schauderte zusammen. Dann wanderten ihre Blicke zurück zu Starke. Sein lederner Anzug hielt das Wasser nicht, aber feucht war er doch, der Hund noch ganz nass, so nass wie das heuähnliche Gras.

»Und Sie? Sie haben mich mit Ihrer Decke geschützt, während Sie die ganze Nacht im Regen und Sturm zugebracht haben! Sie beschämen mich.«

»Oh, das macht uns nichts, über solche Kleinigkeiten sind wir erhaben,« erklang es gleichgültig zurück. »Erst habe ich beobachtet, wie die Blitze in das Wasser einschlugen, dann bin ich sanft neben Hassan eingeschlafen. Solch eine Gummidecke schaffen Sie sich in der nächsten Stadt auch an, man fühlt ihr Gewicht nicht und sie ist oft unentbehrlich; man sichert sich mit ihr ein trockenes Plätzchen, ehe es zu regnen anfängt, in der Kälte wärmt sie; gegen die Gefahr, vom Blitz getroffen zu werden, giebt es keinen besseren Schutz, und das hat besonders beim Radfahrer etwas zu sagen. Hier in der Prairie, wo meilenweit kein Eisen den Blitz ablenkt, hätten ihn unsere Räder unfehlbar angezogen. Nun frühstücken Sie erst, Proviant haben Sie nicht bei sich, nehmen Sie mit meinem Rinderbraten fürlieb. Als Getränk giebt es Regenwasser, aber auch mit Citronensäure gewürzt. Ich sehe inzwischen nach den Maschinen.«

Er hatte sich erhoben und deckte ihr den Tisch, das zusammengelegte Gummituch, stellte die geöffnete Ledertasche daneben. Unverwandt schaute ihn Ellen an. Heiss stieg ihr das Blut aus dem Herzen in den Kopf, die Gedanken schneller jagen machend. Was hatte sie ihm nicht für Namen gegeben? Am ersten Tage war wohl »Sclavenseele« das letzte Wort gewesen. »Sie sind mir ein Ekel — unverschämter Mensch — aufdringlicher Gesellschafter.«

»Mr. Starke, geben Sie mir Ihre Hand — schlagen Sie mir die Bitte nicht ab.«

»Weshalb?«

»Was wäre aus mir geworden, hätte ich Sie nicht gehabt. Verzeihen Sie, ach, verzeihen Sie meine Undankbarkeit.«

Diesmal nahm er die ihm gebotene Hand, er drückte sie sogar.

»Wenn Sie glauben, einer Verzeihung zu bedürfen, so gebe ich meine Hand gern. Zu danken brauchen Sie mir nicht, ich werde für meine Dienste bezahlt.«

Schliesslich war er doch wieder derselbe. Immer kalt, immer zurückhaltend, ohne Herz. Aber sein Händedruck war dennoch herzlich gewesen. Er konnte eben nicht anders sprechen, und da dies Ellen erkannte, fühlte sie sich nicht gekränkt durch seine kühle Abweisung.

Während sie es sich schmecken liess, ölte er die Maschinen und spannte die Ketten.

»Das Wasser wird sich bald verlaufen haben, und sobald wir nur waten können, muss es sofort weiter gehen,« meinte er dabei. »Erst strömte es mächtig nach dem tieferen Norden, jetzt steht es so ziemlich; die festgebrannte Bodenschicht weicht auf, dann wird die durstige Erde schon schlucken, das Uebrige besorgt die Sonne. In einer Stunde wird Alles wieder trocken sein.«

»Und so lange wollen wir nicht warten, bis es wieder trocken ist?« fragte Ellen, mit einigem Schaudern an eine Watparthie über den sumpfigen Boden denkend.

»Erinnern Sie sich der beiden noch lebenden Cowboys, von denen wir nur 6 - 8 Meilen entfernt sein mögen. Vielleicht sind sie ertrunken — das belastete mein Gewissen sehr wenig, dann sind es eben Tölpel gewesen, die sich nicht zu helfen gewusst haben. Wahrscheinlich aber wussten sie sich eben zu helfen, Einer löste mit den Zähnen die Knoten des Anderen, auch ein Knebel hätte sie nicht lange daran gehindert, und ich möchte meinen Kopf darauf setzen, dass wir sie bald hinter uns haben werden. Verstehen Sie nun? Jetzt sitzen die auch auf einer Insel, und sobald sie die Möglichkeit haben, die ihrige zu verlassen, um ihre Kameraden aufzusuchen, müssen wir von der unsrigen herunter. Da ist jeder gethane Schritt unschätzbar. Von 100 Schritten kann unser Leben abhängen, ob wir z. B. dann die Räder auf einen guten Weg setzen können oder nicht, ehe wir in Schussweite ihrer Revolver sind.«

»Oh mein Gott,« hauchte Ellen mit bleichen Lippen, »so sind wir also noch gar nicht ausser Gefahr.«

»Machen Sie sich keine Sorge, so lange es nicht nöthig ist. Wir werden uns schon durchschlagen. Und wenn sie uns auch kriegen, zum Schiessen lasse ich es dann nicht kommen, und ausserdem habe ich immer noch allerlei Mittelchen in der Tasche. Denken Sie doch, es ist nicht das erste Mal, dass ich ein derartiges Abenteuer erlebe. Nun essen Sie, essen Sie; mit leerem Magen ist der Mensch nichts werth.«

Wirklich, Ellen konnte noch immer mit Appetit essen. Solche Worte, so einfach und sorglos gesprochen, wirkten geradezu herzstärkend. Plötzlich schwand vor ihren Augen jede Gefahr. Was sollte sie denn auch fürchten, wenn sie diesen Mann an ihrer Seite hatte.

Starke hatte sich wieder gesetzt, er band die breiten Lederstreifen ab, welche er als Gamaschen von den Fussgelenken an bis an die Kniee trug, und wickelte sie fester. Dass seine Stiefeln hackenlos waren, hatte Ellen schon bemerkt, und nun sah sie, dass er nur dünne Halbschuhe trug, richtige indianische Mokassins. Wahrhaftig, dann war dies ja ein ......

»Mr. Starke, kennen Sie Cooper's Lederstrumpf?«

»Natürlich kenne ich den, wenn auch nicht persönlich. Als Kind habe ich ihn mehrmals verschlungen. So,« er hatte jeden Mokassin noch besonders mit zwei kurzen Riemen am Fusse befestigt, »nun gestatten Sie, dass ich Ihnen die Beine auszureissen versuche. Halten Sie sich am Grase fest.«

Fassungslos blickte Ellen den auf sie Zukommenden an. Dass er eine gute Portion Humor besass, Witze machen konnte, hatte sie schon mehrmals bemerkt, nur dass er nichts davon durch sein Äusseres verrieth. Gerade dadurch vielleicht wirkten seine trockenen Worte um so komischer. Was wollte er aber jetzt von ihr?

»Halten Sie sich fest,« sagte er nochmals, und ehe sich Ellen versah, hatte er ihren Fuss in der Hand und riss aus Leibeskräften daran, nun hielt sich Ellen von ganz allein fest, und ebenso probirte er dann den anderen Fuss.

»Fest sitzen die Schnürstiefel, Sie werden keinen im Sumpf stecken lassen. Ich rathe Ihnen aber doch, sich Gamaschen und dünne, hackenlose Schuhe anzuschaffen, wie ich sie benutze. Oder ich werde Ihnen nächstens ein Paar anfertigen. Diese starken Stiefel haben beim Radfahren gar keinen Vortheil, und Sie können in ihnen keine 80 Meilen marschieren, ohne sich wunde Füsse zu holen. Werden sie nass, bekommen Sie sie nicht aus und nicht wieder an. Gewöhnen Sie sich an meine Fussbekleidung; sie verbindet alle Vortheile. Lernen Sie wieder so laufen, wie eine weise Natur es uns vorgeschrieben hat, ohne Hacken. Die kleinen Menschlein wollen nur immer grösser erscheinen, als sie sind — besonders die Damen. Wenn Sie nun bereit sind, wollen wir den Wasserspaziergang antreten.«

Ellen war bereit dazu. Er hing sich beide Räder, an denen er vorher seine und Ellen's Schusswaffen und Munition befestigte, über die Schultern, sie folgte ihm; das Wasser ging ihr fast immer bis an die Kniee, manchmal bis an den halben Leib, Hassan schwamm beständig.

»Es ist immer noch besser als es in einer viertel Stunde sein wird,« sagte er mit schlechtem Trost, »jetzt ist der Boden wenigstens noch weich, dann aber, wenn kein Wasser mehr darüber steht, wird er uns wie mit Klammern festhalten. Doch das wird auch vorüber gehen. Können Sie schwimmen? Ja? So bitte ich Sie, als Pfadfinder vorauszugehen. Es ist doch wohl besser, wenn die Räder nicht unter Wasser kommen.«

Das sah Ellen ein. Sie war sogar mit Vergnügen dazu bereit, wenn nur ein Loch käme, in dem sie ...... Da war sie auch schon verschwunden und als sie wieder auftauchte, festen Boden suchend, blies sie lustig und lachend das Wasser von sich.

Das war es ja, was sie sich immer gewünscht, solche urwüchsige Romantik zu erleben, das könnte sie in England nicht haben. Schade nur; dass der Gedanke an die Cowboys die Harmlosigkeit des Abenteuers etwas trübte.

Starke hatte Recht. Das Wasser schwand zusehends, der Boden mochte auch steigen; aus dem Waten im Wasser wurde ein solches im Schlamm, und jetzt kam erst die Anstrengung; nach einer halben Stunde drohte Ellen die Kraft in den Knieen zu versagen, sie fühlte schon jetzt die spätere Gliedersteifheit.

»Jeder gewonnene Schritt ist unschätzbar,« wiederholte sie aber für sich Starke's Worte, und sie kämpfte sich tapfer vorwärts.

Auch dies wurde überstanden. Der Boden der Prairie, hier nur mit spärlichen Grasbüscheln bedeckt, nahm jene schlüpfrige Beschaffenheit an, welche Jeder von der schlechten, aufgeweichten Landstrasse her kennt.

»Hier wird es per Rad schneller gehen als zu Fuss,« meinte Starke, die Maschine niedersetzend, »probiren Sie, wie es sich fährt«

Zwei Mal versuchte Ellen vergeblich, in den Sattel zu kommen, das dritte Mal brachte sie auch nur einige Umdrehungen fertig, sie kippte wieder um. Die schmalen Räder drangen doch noch sehr tief in den Schlamm ein.

»Da werden wir wohl wieder Vorspann nehmen müssen,« sagte Starke gutmüthig, den Lasso von den Hüften lösend.

Während er die Lederriemen an die Lenkstange knüpfte und Ellen ihren Revolver an sich nahm, stiess Hassan ein leises Knurren aus. Starke folgte seinem Blicke, Ellen gewahrte nichts, er zog ein kleines Fernrohr aus der Tasche, richtete es rückwärts und stellte es ein. Der Hund knurrte drohender.

»Da sind sie. Vielleicht zwanzig. Hören Sie Hassan erzählen? Er sagt mir, dass es Feinde sind. Sonst könnte ich das nicht wissen. Es könnten ja auch andere Reiter sein. Aber Hassan irrt sich nicht, er wittert es. Jetzt unterscheide ich sie deutlicher. Sie jagen in voller Carriere, haben uns gesehen. Nun auf das Rad und in die Pedale getreten, was das Zeug hält. Wohl beugen Sie den Kopf herab, um die Luft zu durchschneiden, aber in Gedanken halten Sie den Kopf hoch — sie sollen uns nicht bekommen.«

Er hatte sein Rad sofort in der Gewalt, und da er das andere hochzog, kam Ellen leicht auf das ihre.

»Vorwärts! Nicht umgesehen! Lassen Sie den Revolver stecken, Instructionen gebe ich Ihnen später, wenn es nöthig sein sollte.«

Die Locomotive zog an, in den Lederriemen krachte es, schneller und schneller drehten sich die Kurbeln. Der zähe Schlamm konnte diesen Mann nicht hindern. Ellen wurde nur von einem Gedanken beherrscht: wenn jetzt etwas bricht, etwas reisst, sind wir verloren. Sie setzte ihre ganze Kraft ein, um sich möglichst wenig ziehen zu lassen, sie keuchte vor Anstrengung.

Immer fester wurde der sterile Boden, die Strömung des Wassers hatte mit dem Schlamme die Unebenheiten ausgeglichen, immer schneller und schneller ging es. Ellen's Füsse wirbelten nur noch herum, ihre Kraft war erschöpft.

Ein Blockhaus tauchte auf, ein weisser Streifen zog sich durch die braune Prairie — und hinter ihnen ertönte ein gellendes Geheul. Ellen erblasste.

»Das ist die alte Poststrasse, dort am Blockhaus ist die Grenze!« schrie Starke.

Ellen hörte die Aufforderung heraus, noch einmal raffte sie alle Kraft zusammen.

Ein tiefer Graben längs der Strasse, Starke sprang ab, fing sie auf, war mit beiden Rädern hinüber, er schnitt den Riemen ab, Ellen sah hinter sich, dort raste die brüllende Reiterschaar, noch etwa 300 Meter entfernt, sie schwangen die Lassos — da war sie schon wieder mit einem Griff auf ihr Rad gehoben, es wurde fortgestossen, Starke war an ihrer Seite.

Die Strasse war eben und hart wie Stein, es herrschte Windstille, den Sturm erzeugten die Fahrer selbst. Aber ein klapperdürrer, schonungslos angetriebener Prairiegaul, dem das Blut aus den Flanken spritzt, greift anders aus als ein wohlgenährtes Gendarmeriepferd.

Das Blockhaus sauste vorbei, vor Ellen's Augen und Ohren sauste Alles. Nur schattenhaft sah sie grosse Rinderheerden, auch vor ihr jagten Reiter wie Schemen über die Prairie, verschwanden hinter einer Waldecke.

Starke blickte sich um.

»Sie sind über der Grenze,« sagte er ganz ruhig. »Wir haben sie schon nicht mehr hinter uns. Jetzt kommt eine andere Nummer des Programms; dort sammeln sich schon die Ohiojungen. Bremsen Sie, springen Sie ab, Sie sollen etwas zu sehen bekommen, was in Ihrer Erinnerung nicht fehlen darf.«

Er fuhr langsamer und sprang ab, Ellen that desgleichen, stemmte sich auf das Rad, um nicht zusammenzubrechen. Alles war ihr unfassbar.

Nein, verfolgt wurden sie nicht mehr. Warum ritt denn die Reiterschaar jetzt drüben auf der anderen Seite der Landstrasse?

Da brach es hinter jener Waldecke wie ein donnernder Wirbelwind hervor; zwei Dutzend Cowboys, die geschwungenen Revolver blitzten in der Sonne.

»Hip hip hurrah für Ohio!« brüllte es jauchzend auf der einen Seite.

»Hip hip hurrah für Virginia!« antwortete es auf der anderen.

In rasender Flucht jagten die beiden Reitertrupps auf einander zu, jetzt knatterten die Revolver, schon gab es herrenlose Pferde, jetzt prallten sie zusammen; Schüsse fielen nicht mehr, dafür blitzten die breiten Bowiemesser, sie hielten sich zum Ringkampf umschlungen, immer mehr ledige Pferde, die Reiter stürzten, rissen sich aus den Sätteln, kämpften am Boden mit dem Messer weiter ......

»Was — träume ich denn? Ist das nicht eine richtige Schlacht.« flüsterte Ellen.

»Nein, das ist nur ein unschuldiges Sonntagsnachmittagsvergnügen in der Prairie. Bilden Sie sich einmal fest ein, Sie befänden sich im Theater. Denn für diese dort ist das nichts weiter als eine lustige Comödie, die sie spielen. Bei uns gehen die jungen Leute am Sonntagnachmittage zum Kegelschieben, hier wird, seitdem die Cowboys keine Indianer mehr zum Scalpiren haben, ein fideler Grenzkrieg arrangirt. Es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Es geht dabei auch ganz chevaleresk zu. In einer Entfernung von 20 Galoppsprüngen darf nicht mehr geschossen werden, dann fängt das Bowiemesser an zu arbeiten, wer am Boden liegt, den darf man nicht mehr stechen. Freiwillig legen sie sich natürlich nicht hin, so kitzlich sind die nicht. Dann, wenn das Spielchen aus ist, begraben sie die Todten, nachdem sie ihnen die Silbersporen und Waffen abgenommen haben; lachend schneiden sie sich einander die Kugeln heraus, nähen die Messerschlitze mit Schusterzwirn zu; wer einen caputgeschossenen Finger hat, der hackt ihn sich selber ab und macht einen guten Witz dabei — dann ziehen die beiden feindlichen Parteien brüderlich vereint zum nächsten Storekeeper, setzen die Hinterlassenschaft der Todten in Whisky um, und beim Becherklang machen Sie das Rendez-vous zum fröhlichen Spiel für den kommenden Sonntag aus. O ja, es lässt sich gemüthlich leben in der Prairie. — Doch kommen Sie, der Vorhang wird bald fallen, wir wollen mit der liederlichen Schauspielerbande nicht noch einmal in Berührung kommen, die pumpt einen nur an.«



8. Capitel.

Das Verhältniss ändert sich nicht.

Ellen konnte sich nicht helfen, sie musste lachen, obgleich sie vor Schreck über diese blutige Scene noch eben erstarrt gewesen war. Im Weiterfahren erzählte ihr Starke noch mehr über das Leben in der Prairie, über die Cowboys; hier musste das Wort »blutig« allerdings sehr häufig angewandt werden, und trotzdem, Ellen fühlte den Bann des Entsetzens immer mehr von sich weichen; sie lachte über den trockenen Humor; die Sonne schien ihr wieder heiter, und das schien Starke mit seinen haarsträubenden Geschichten auch nur erreichen zu wollen. So muss dem zukünftigen Arzte die Leichenscheu benommen werden. Es war ja auch ganz einfach: diese Cowboys betrachten das Leben als nur dazu vorhanden, um es aufs Spiel zu setzen, und wie sie wegen jeder Kleinigkeit nach einem anderen Menschen schiessen — geschossen muss überhaupt immer werden, wozu ist denn sonst das Pulver erfunden worden — so nehmen sie es auch nicht übel, wenn man ihnen nach dem Leben trachtet. Bei solchen Ansichten können sich die ästhetischen Gefühle natürlich nicht gut entwickeln; aber sonst haben sie auch ihre ritterlichen Seiten, auch ist ihnen die Gastfreundschaft heilig, ebenso wie die Blutrache. Eine radelnde Dame passt freilich nicht unter sie. Was hat denn auch eine Dame in der Prairie zu suchen!

Nach und nach lenkte Starke auf ein anderes Thema über. Von den Reitern kam er auf ihre Pferde zu sprechen, auf die wilden Mustangs und deren Abkömmlinge, auf das ganze Thierreich der Prairie.

»Sehen Sie den kleinen Vogel dort, der sich unter den Grasbusch duckt? Betrachten Sie ihn sich genau, er ist selten sichtbar, und es ist ein gar berühmter Vogel.«

»Ein berühmter Vogel?«

»Es ist eine amerikanische Nachtigall, uns literarisch gebildeten Europäern bekannt unter dem indianischen Namen Whip-por-wil.«

Hiermit hatte das harmlosere Gespräch begonnen. Er erzählte immer weiter; von jedem Thierchen, das da kroch oder flog, von jedem Baume, jeder Blume wusste er etwas Interessantes mitzutheilen, dabei war er immer einfach, er wollte nicht belehren, er erzählte nur im leichten Plauderton.

Wie im Fluge vergingen die Stunden. So hätte Ellen ihm immer zuhören mögen. Nach und nach aber kam es ihr zum Bewusstsein, wie tief ihre Bildung in dieser Hinsicht doch unter der jenes Mannes stand. Für sie war all das grüne Zeug, das da auf der Prairie wuchs, einfach »Gras«. Dazwischen, ein paar Blumen, ein Busch, dort stand ein Baum und da flog ein grosser Vogel und da ein kleiner. Die Londonerin konnte keine Buche von einer Linde unterscheiden, und da sie zufällig keine Vogelliebhaberin war, auch keinen Finken von einer Drossel. Ein des Weges daherkommendes Maulthier hielt sie für einen Maulesel. Ja, erst seit der Zeit, als sie auf dem Rade fast täglich in's Freie gekommen war, die Saat nach und nach keimen, grünen und Aehren tragen sehend, hatte sie wenigstens so viel Interesse bekommen, um sich einmal von einem Bauern erklären zu lassen, wie man denn Roggen von Weizen unterscheide.

Sie war sich bewusst, wie schlimm es mit solchen Kenntnissen bei den Stadtleuten aussieht. Das möchte man fast auch einen verloren gegangenen Sinn nennen. Denn sie scheinen wirklich blind geworden zu sein. Dass die ganze Menschheit nicht von Adam und Eva abstammt, das kann einem heutzutage jeder zehnjährige Schuljunge an den Fingern vorrechnen; es ist ja überhaupt nur ein Märchen, so dumm wie das mit dem Klapperstorche —aber kaum noch wissen sie am nächtlichen Himmel den Polarstem zu finden, von Sternbildern keine Spur, gar keine Ahnung.

Jetzt fühlte Ellen einmal wirkliche Scham. Immer nur zuhören, höchstens fragen, keine Gegenbemerkung machen zu können! Es war dem Mädchen verzeihbar, wenn es nachsann, ob es diesem Manne nicht durch etwas Anderes zu imponiren vermöchte. Musik? Er spielte classische Weisen. In der Literatur war er jedenfalls bewandert. Nur eins blieb ihr noch. Starke machte sie auf einen verkrüppelten Cactus aufmerksam, dessen nördlichste Grenze sonst die Riviera sei, er müsse sich hier acclimatisirt haben. Dies gab die Veranlassung zum grossen Sprunge.

An der Riviera war sie auch gewesen, war von Genua nach Nizza geradelt. Er hatte dieselbe Tour einmal gemacht. Genua, diese herrlichen Paläste mit ihren Kunstschätzen! Ob er im Palazzo Bianco gewesen sei. Gewiss.

»Können Sie sich der herrlichen Madonna zwischen den beiden Heiligen erinnern, rechts neben dem grossen Spiegel mit dem Rococco-Rahmen?«

Ellen konnte sich vor einem Bilde erwärmen, begeistern, doch eigentliches Kunstverständniss besass sie nicht. Kritische Fragen lagen ihr ganz fern. Als sie damals im Palazzo Bianco gewesen, hatten sich gerade vor dem erwähnten Madonnenbilde zwei englische Kunstmäcene heftig gestritten; der eine behauptete, es sei von Floris, wie es im Kataloge stand, der andere, es sei von Gerard David.

»Verzeihung, es ist ein sogenannter Barock-Rahmen, von Filippo Parodi geschnitzt. Sie meinen die Madonna zwischen dem heiligen Hieronymus und Nicolaus von Tolentino? Dieses Bild ist nicht von Floris, wie es immer heisst und wie es auch zu meiner Zeit im Kataloge stand, es ist von Gerard David. Aber waren Sie auch im Musée Municipal zu Nizza? Dort hängt, gleich im ersten Saale, eine Madonna zwischen Johannes dem Täufer und Johannes dem Evangelist. Im Katalog wird es als unbekannter Meister aus der Sienesischen Schule angeführt. Unsinn! Das eben ist das vermeintlich verschollene Bild von Floris.«

Ellen war wie niedergeschmettert. Ach, hätte sie doch nicht davon begonnen! Er sprach weiter und nun konnte sie gar nichts mehr sagen. Er hatte ja wohl alle Gallerien auf der ganzen Welt besucht, stand mit allen Madonnen auf Du und Du, mit und ohne Kindern, allein oder zwischen Heiligen!

Ein klagender, melodischer Ton erscholl über ihnen in der Luft. Aufblickend, gewahrten sie einen grossen Schwarm Vögel dem Süden zuziehend.

»Das sind die, deren Loos das meine gleicht,« sagte Starke.

»Kraniche?«

»Nein, aber Wildgänse. Sie kommen von den canadischen Seen. Kraniche trompeten grässlich. Sehen Sie dort hinten den einzelnen Nachzügler? Sie ist zu schwer, zu fett, sie wird bald stürzen und fällt einem Schakal zur Beute. Das ist der Fluch der Völlerei.«

Starke zog den Revolver und schoss, ohne zu zielen, ohne mit der raschen Fahrt einzuhalten, und dennoch wunderte sich Ellen nicht, das Thier wirbelnd herabkommen zu sehen.

Wenn der schnell dahin fliegende Radler eine Pause macht, und er blickt wieder auf, so sieht er ein anderes Bild, und das Rückwärtsblicken ist beschwerlich. Hier kam ein kleines Wäldchen.

»Es ist gerade 11 Uhr,« sagte Starke, »ich schlage vor, nach dem Stundenplane abzusteigen und in diesem Gehölz Rast zu machen. Eine klare Quelle entspringt darin, daneben steht ein Pfirsichbaum mit Früchten zum Dessert.«

Sie machten Halt und drangen durch das mit Bäumen versetzte Buschholz, bis sie eine Blösse erreichten, und wirklich: aus einem moosigen Steinhügel sprang eine Quelle, zwischen den Felsen wurzelte ein Pfirsichbaum mit reifen Früchten.

»Woher wussten Sie denn das?« rief Ellen staunend.

»Nun, ich mache doch meinen alten Weg wieder. Hier habe ich schon einmal gelagert. Passen Sie auf, wenn Hassan kommt, wird er sofort, wenn er kann, sein linkes Hinterbein lecken.«

Eben wollte Ellen erst anfangen, über diesen ihr ganz unverständlichen Sinn nachzugrübeln, wollte fragen, wo denn eigentlich der Hund geblieben sei, als die Zweige knackten und Hassan erschien, die geschossene Wildgans im Maule. Er legte sie seinem Herrn vor die Füsse, krümmte den Leib und leckte sich das linke Hinterbein.

»Nein, sind Sie denn allwissend? Oder warum thut er das?«

»Weil er sich dieses Platzes in seinem Hundegedächtniss ebenso gut erinnert wie ich. Sehen Sie dort das Loch im Boden? Hassan interessirt sich schon sehr dafür. Das vorige Mal hauste ein Fuchs darin. Hassan zu Liebe räucherte ich ihn aus, der Fuchs fuhr aus dem Bau und biss ihn in's Bein — konnte freilich nur einmal beissen — und nun erinnert sich Hassan mit Vergnügen dieses Abenteuers; das Lecken der alten Wunde ist eine Reflexbewegung. Nun, Miss Howard, ich glaube, es macht Ihnen Spass, ein regelrechtes Lagerfeuer anzuzünden und Vorbereitungen zum Gänsebraten zu treffen, während ich mich der prosaischeren Beschäftigung des Rädernachsehens hingebe.«

Und ob so etwas Ellen Spass gewährte! Mit Eifer wollte sie sich daran machen — ach, da fehlten ihr ja schon die Streichhölzer! Sie, die Weltenfahrerin, die an Bord des Dampfers schon immer von nächtlichen Urwaldslagerfeuern geträumt hatte, ohne Streichhölzer! Sollte sie Starke danach fragen? Zum Anzünden seiner Pfeife gebrauchte er immer Stahl, Feuerstein und Zunder, die er in einem Beutelchen am Gürtel trug, das war praktischer. Nein, ein besserer Gedanke fiel ihr ein, sie wollte es wenigstens versuchen, hoffentlich gelang es ihr.

Sie nahm eine Revolverpatrone, die Kugel war mit dem Messer leicht zu entfernen, einen öligen Putzlappen hatte sie seit einigen Tagen immer in der Tasche — früher hätte sie einen solchen nicht einmal angefasst — das Pulver tüchtig eingerieben, die Patrone in den Revolver geschoben, das Knallquecksilber genügte noch, um einen Feuerstrahl zu erzeugen — wirklich, der Lappen glimmte und zischte, nun schnell trockenes Laub darauf und geblasen, immer geblasen, was die Lunge hielt, die Blätter brannten, kleine Aestchen darauf, dann grössere, und das Feuer war gesichert.

»Bravo«, erklang es vom unteren Theile der Quelle, »Sie wissen sich zu helfen, Sie eignen sich zum Hinterwäldlerleben.«

Stolz schwellte Ellens Herz, zugleich die reinste Freude. Nun wollte sie auch mit der Gans fertig werden. Wie man sie rupft und ausnimmt, hatte Ellen kaum je gesehen, aber was that's, sie riss und rupfte und stach und schnitt und tauchte die blutigen Hände in's Innere und zog heraus, was sie darin fand. Dabei lachte sie immer seelenvergnügt vor sich hin, Miss Ellen Howard nahm eine Gans aus! Der auf das »Curée«, das Anrecht des Jagdhundes an das Wild, wartende Hassan mochte innerlich ebenfalls seelenvergnügt schmunzeln; Nieren, Leber, Magen, Herz, das gab ihm sein Herr niemals von der Jagdbeute. Sie schnitt auch Gabelzweige zurecht, nur noch die Frage wegen des Bratspiesses war zu lösen.

»Nehmen Sie einen starken, grünen Ast, lassen Sie ihn etwas ankohlen«, sagte der die Gedanken errathende Starke, näher kommend, »und erst auswaschen und dann inwendig mit Salz einreiben.«

Er hob den Vogel an den Beinen empor und betrachtete ihn von allen Seiten mit kritischen Blicken. Ellen wiederum sah ihm ängstlich in's Gesicht, wie der Schuljunge, der vom Lehrer die Censur erwartet. Aber aus seinen tiefernsten Zügen war nichts zu lesen.

»Hm, das scheint eine herzlose Gans gewesen zu sein, ohne Seele, ohne Gemüth, sogar ohne Leber, aber auch ohne Galle. Haben Sie das noch nie gemacht? Dann ist's für das erste Mal sehr gut. Ich habe einmal eine junge Dame gesehen, die häutete eine Gans wie einen Ochsen ab, und als ihr das nicht gelingen wollte, schälte sie das Thier wie eine Kartoffel. — Sorgen Sie für ein tüchtiges Feuer, dass wir nachher Gluth haben, ich will sie inzwischen waschen, dann braucht sie nur noch gesengt zu werden und sie ist zum Braten reif.«

Das Feuer flackerte hell auf, und Ellen schlürfte erst noch einmal köstliches Quellwasser. Weiter unten plätscherte Starke tüchtig.

,,Sie gehen nicht immer so verschwenderisch mit Wasser um, Mr. Starke.«

»Ich weiss, was Sie meinen. Sie müssen einem Manne, der durch sein Herumschweifen zum Sonderling geworden ist, Manches nachsehen. Ich bringe es nicht mehr über's Herz, einen Wasserstrahl fliessen zu lassen, wenn ich ihn nicht zum Löschen meines Durstes gebrauche. An einem frei fliessenden Wasser ist das etwas anderes. Sie haben wohl auch schon gemerkt, was das Wasser bedeutet. Es dürften noch andere Gelegenheiten kommen. Das Wasser, die frische Quelle! Wenn ich ein geborener Dichter wäre, nicht mühsam nach Reimen suchen müsste, ich würde nicht Liebe und Wein, sondern Durst und Wasser besingen. Die arabische Poesie ist reich an solchen Liedern.«

Die Gans röstete über dem Feuer, Ellen drehte den Spiess, zerlegte sie, sie assen. Es war zu gemüthlich an solch einem Lagerfeuer!

»Nun erzählen Sie noch ein zum Lagerfeuer passendes Abenteuer aus Ihrem Leben,« bat sie.

Starke erzählte, mit trockener Stimme, mit schlichten Worten, aber dennoch poetisch: eine Verschmachtungsgeschichte in der persischen Salzwüste; es wurde ein Kampf mit Kurden daraus, und zum Schlusse furchtbar tragisch dadurch, dass der treue Kurde, der ihn gerettet, den Verschmachtenden an den Strom gebracht hatte, in diesem Strome ertrank.

»Ist das wirklich wahr?« fragte Ellen mit zuckenden Lippen.

»Ich kann gar nicht erfinden.«

»Sie sollten das in eine Novelle bringen.«

»Ich treibe keine Schriftstellerei.«

»Verbinden Sie denn mit Ihrem Umherschweifen — wie Sie sagen — gar keinen Zweck?«

»Oh doch. Wenn ich mit ein und demselben Rade um die Erde fahre, damit eine Firma für ihr Fabrikat Reclame machen kann, dass sie ihr Geschäft, den Absatz vergrössert, wodurch sie mehr Arbeiter, mehr Schreiber, mehr Reisende anstellen muss — so glaube ich doch der menschlichen Gesellschaft einen Nutzen erwiesen zu haben. Einen Zweck verbinde ich stets mit meinen Wanderungen. Ich verdinge mich als Führer an Expeditionen, lieber an wissenschaftliche Forschungs- als an abenteuerliche Jagdexpeditionen, diene ihnen mit meiner Erfahrung. Ausserdem sammele ich selbst, schon manches Naturalien- und Alterthumscabinet verdankt mir werthvolle Bereicherungen.«

Zu spät erkannte Ellen, was für eine thörichte Frage gerade sie gestellt hatte. Nur durch Offenheit konnte sie dies wieder gut machen.

»Nicht wahr, aber meine Weltreise finden Sie recht zwecklos?« fragte sie deshalb.

»Ja, das finde ich,« lautete die ebenso offene Antwort des Mannes der rücksichtslosen Wahrheit. »Allerdings, wenn man in Betracht zieht, dass Sie durch die Fahrt um die Erde Erfahrungen sammeln, die Sie ohne Ihre Wette nicht bekommen hätten, so hat die Wette für Sie persönlich doch einen Zweck gehabt, und wenn Sie die Fahrt in der vorgeschriebenen Zeit vollenden, so beweisen Sie, was ein Weib leisten kann, gleichwie ich den Beruf eines Mannes durchaus nicht zwecklos finde, welcher sich im Gewichteheben producirt, denn er zeigt, wie ein Mensch seine angeborene Kraft durch Uebung und Selbstzucht — denn ohne dieses giebt es keine wahrhaften Athleten — zur übermenschlichen Stärke ausbilden kann. Doch ich wollte Sie immer schon etwas fragen. Warum verknüpfen Sie nicht mit Ihrer Reise einen nützlichen Zweck? Warum setzen Sie sich nicht mit einer grossen, englischen Zeitung in Verbindung? Die Wette und der Antritt Ihrer Reise ist in England bekannt geworden, jede Zeitung wird Ihre Berichte mit Kusshänden annehmen ...........

»Wahrhaftig!« rief Ellen, ganz erstaunt, dass sie noch nicht selbst auf diesen Gedanken gekommen war.

»Die Berichte in erzählende Form zu kleiden, das werden Sie doch können. Geben Sie interessante Schilderungen, lassen Sie ab und zu etwas Lehrreiches einfliessen, und Ihre Berichte haben noch mehr Werth als nur einen belletristischen. Dann haben Sie später auch ein bleibendes Andenken, denn bisher führten Sie doch nicht einmal Tagebuch, und wenn Sie jetzt einmal in eine schlimme Lage kommen, Durst und Hitze ertragen müssen, von Gefahren umringt sind, so ist es immer ein aufmunternder Gedanke, wenn Sie sich dabei sagen: ›das; was ich jetzt durchmache, werden in vier Wochen Hunderttausende lesen‹ ...........«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« unterbrach ihn Ellen abermals, dabei aufspringend. »Sie begeistern mich ja ganz und gar. Sie beschämen mich, dass ich nicht selbst diesen Gedanken gefasst habe! Jawohl, Sie haben Recht, das wird gemacht; gleich heute Abend schreibe ich an einige Zeitungen, von morgen an gehe ich unter die Berichterstatterinnen.«

»Ja, lassen Sie mich Ihnen noch mehr rathen,« fuhr Starke fort, als sich Ellen mit leuchtenden Augen und gerötheten Wangen wieder neben ihm niedergelassen hatte. »Warum sammeln Sie nicht während Ihrer Radtour, soviel Sie Zeit dazu haben? Ich meine jetzt keine Steine, Pflanzen, Insecten u. s. w., dazu gehören gründliche Kenntnisse, es giebt aber auch noch etwas ganz Anderes zu sammeln. Lassen Sie mich nur ein Beispiel herausgreifen. Unsere Fahrt wird uns durch ganz uncivilisirte Gegenden führen. Oft mögen dort schon Reisende und Forscher durchgekommen sein — kühne brauchen es gar nicht gewesen zu sein — sie haben Land und Leute beschrieben, Alles, was sie gesehen, gehört und gedacht haben, aber da fehlt noch Vielerlei, was nämlich nur eine Frau zu hören und zu sehen bekäme, und gebildete Damen, welche so reisen, dass sie dazu überhaupt Gelegenheit haben, sind doch sehr selten. Für einen Mann ist es ja schon ganz unmöglich, in einen muhammedanischen Harem zu kommen. Aber das ist nur der allergewöhnlichste Fall, bei welchem die studirende Frau einen Vortheil hat. Sammeln, immer sammeln; das giebt die Grundlage für jede reale Wissenschaft. So erkundigen Sie sich überall, wo Sie nur Gelegenheit dazu haben, im Filzzelt des Kurden und im Wigwam des Indianers wie in der Blockhütte des weissen Hinterwäldlers — denn dies Alles ist ja der Hauptsache nach noch ganz und gar unbekannt — wie sich die Frau kleidet und schmückt und putzt und frisirt, was sie für Seife oder statt der Seife benutzt, wie sich die Frau von dem Mädchen unterscheidet, wie sie die kleinen Kinder behandelt, erzieht, in Krankheit pflegt, wie sie sie entwöhnt, was sie thut, wenn sie das Kind nicht selbst nähren kann. — Sie verstehen, was hier für Fragen gestellt werden können, die für einen Mann unmöglich sind — — so sammeln Sie, und es wird ein Werk, wie es noch keines giebt, ein Werk von höchster wissenschaftlicher Bedeutung.«

Ellen sagte gar nichts mehr. Sie hatte den Sprecher nur immer mit grossen, glänzenden Augen angesehen und that es auch jetzt noch, als er schwieg. Dieser Mann gab ihr plötzlich eine wunderbare Erleuchtung, zeigte ihr die Zukunft mit einem Male in einem ganz anderen, hellstrahlenden Lichte.

»Es giebt noch viel mehr zu erforschen,« nahm Starke abermals das Wort, »und man braucht dazu gar nicht aus Europa, nicht einmal aus den engen Grenzen eines Landes heraus zu gehen. Ja, ich bin zu der Ansicht gekommen, dass das Fahrrad eine ganz neue Wissenschaft in's Leben rufen wird. Da sie noch nicht begründet ist, hat sie auch noch keinen Namen, und so will ich ihr einstweilen den complicirten Namen »Vergleichende gleichzeitige Culturgeschichte der Längen- und Breitengrade« geben. Es reist Jemand von Hamburg nach Konstantinopel. Welche zahllosen Verwandlungen bemerkt er da unter den Menschen, wie sich die Racen, die Typen ändern mit Charakteren und Sitten, mit Glauben und Aberglauben, ganz abgesehen von Pflanzen- und Thierwelt. Aber niemals ist das eine plötzliche Verwandlung, es giebt keine Grenzen, Eines fliesst immer in's Andere über, gerade so wie Flora und Fauna. Scheinbar ist das ja ganz selbstverständlich, das hängt einfach mit der Verschiedenheit des Landes, der Lebensbedingungen u. s. w. zusammen. Aber nein, das ist gar nicht so einfach! Das sind Fragen, welche nur ein scharfsinniger Culturhistoriker lösen kann, der sich diesem Studium widmet. Einfach ist es freilich heutzutage für uns, zu wissen, woher es kommt, dass ein grosser Strom an seiner Mündung einmal frisches, einmal salziges Wasser enthält. Was für Studien grosser Geister aber waren erst nöthig, um uns erklären zu können, woher Fluth und Ebbe denn überhaupt kommt! Und welch ein Unterschied besteht z. B. zwischen dem freien Bulgaren und einem unter türkischer Herrschaft befindlichen! Das sind scheinbar ganz genau dieselben Leute, von gleichem Aussehen, von gleichem Charakter — und doch, es sind zweierlei Menschen, und hierin liegt ein grosses Geheimniss, welches aber nur der Wanderer als solches erkennt. Die Eisenbahn hat die Lösung dieser Räthsel in die Ferne gerückt. Man steigt unter nordischen Tannen und schwerfälligen Marschbauern in den Wagen, schläft ein; und wenn man wieder aufwacht, befindet man sich unter Palmen und heissblütigen Italienern. Uebergänge sind da doch wenigstens nicht zu beobachten. Aehnlich war es schon mit der Postkutsche. Mit dem Pferde wird sich Niemand herumplagen. Fusswandern thut heutzutage kaum noch der Handwerksbursche. Erst neuerdings, durch das Fahrrad, ist es auch dem Gebildeten ein Vergnügen geworden, von Grenze zu Grenze zu wandern, in der Dorfschänke und im Bauernhaus einzukehren und sich mit dem Schäfer zu unterhalten, zu beobachten, zu denken und zu berichten, und so wird nach und nach das von mir angedeutete Studium entstehen. Und wer da glaubt, dieses Studium sei unnütz, es bringt ja kein Geld ein — nun, der mag es glauben, für den hat Kopernikus umsonst gelebt, für den mag der Mond auch noch eine am Himmel hängende Nachtlaterne sein.«

Wieder war Ellen hastig aufgestanden. »Ich fange an zu sammeln!«

Starke, welcher nach der Uhr gesehen hatte, deutete auf ihr Rad.

»Da können Sie sofort damit anfangen, an der Lenkstange befinden sich noch die losgeschnittenen Lasso-Enden. Heben Sie sich dieselben auf, und wenn Sie dereinst als alte Grossmutter Ihren Enkeln, welche natürlich schon Flugmaschinen besitzen, von Ihrer Weltreise erzählen, können Sie sagen: Seht, Kinder, als ich damals in jungen Jahren eine Fahrt um die Erde auf solch einem Radgestelle machte, wie noch jetzt eins im Alterthumsmuseum steht, da hat mich Mr. Starke an diesem Bändchen durch den Prairieschmutz gezogen, damit uns die Cowboys nicht kriegten— — d. h., wenn dies nicht Ihre Ehre beeinträchtigt, sonst können Sie auch erzählen, Sie hätten mich an diesem Bändchen gezogen.«

Diese Worte waren so trocken wie immer gewesen. Aber auch Ellen lachte nicht, sie ging an ihr Rad, knüpfte die Lederschlinge ab und steckte sie in die Tasche.

»Wenn Sie wünschen,« fuhr er fort, eine Brieftasche hervorziehend, als sie nach ihm zurückkam, »trete ich Ihnen auch die Hälfte der Scalplocken ab. Es sind doch interessante Andenken, und man braucht sie ja später nicht gerade als Siegestrophäen zu betrachten. Haben Sie nicht gesehen, wie ich jedem der Cowboys etwas Kopfhaar abschnitt? Dies sind die Scalplocken der beiden hoffentlich noch Lebenden, dies der beiden anderen. Wollen Sie die Hälfte haben?«

Vier Haarstreifen waren aus dem Taschenbuche zum Vorschein gekommen. Nur einen Augenblick schauderte Ellen vor den grässlichen Andenken zurück, dann nahm sie die ihr angebotenen Hälften — nicht als Trophäen, sondern eben als heiliges Andenken zur Errettung aus Todesnoth.

»Es giebt Knaben und Mädchen,« setzte Starke noch erklärend hinzu, »welche allerhand Kleinigkeiten aufheben, ein Stammbuchblümchen, ein Bildchen, ein getrocknetes Blatt, einen Schlüssel, einen Knopf u. s. w., und in einer unbeobachteten Stunde wühlen sie dann gern zwischen ihren heimlichen Schätzen. Finden Sie das auch lächerlich? Ich habe solche Kinder immer im Verdacht, dass es nicht nur sinnige, sondern auch geistreiche Menschen sind oder dereinst werden. Es ist nicht nöthig, dass ein eifriger Sammler von alten Münzen immer ein gelehrter Numismatiker ist. Was für wunderbare Geschichten kann nicht solch eine alte, vor Jahrtausenden abgegriffene Münze dem phantasievollen Menschen erzählen!«

Ellen hatte ihn schon vorhin verstanden.

»Wollen wir jetzt aufbrechen?« fragte sie dann nach einer Pause.

»Es ist ja erst ein halb drei Uhr, wir haben noch anderthalb Stunden Zeit.«

»Ich bin nicht müde, und übrigens habe ich mir überlegt, den Stundenplan nicht so ganz strikte einzuhalten. — Sie verzeihen wohl, ich werde Ihnen später eine ausführliche Erklärung geben,« entgegnete Ellen, sichtbar mit Verlegenheit ringend, was ganz ihrem früheren Wesen entgegengesetzt war.

»Wie Sie wünschen,« sagte Starke, sofort aufstehend. »Ich hatte diesmal auch einen recht egoistischen Zweck dabei, Sie hier so lange festzuhalten.«

»Welchen?«

»Ungefähr 20 Meilen von hier befindet sich das Jordansthal, so genannt von Herrnhutern, welche sich dort angesiedelt haben — eine reizende Colonie und liebe Menschen. Wir hätten es so einrichten können, dass wir um 7 Uhr dort gewesen wären, um über Nacht zu bleiben..«

»20 Meilen?« wiederholte Ellen sinnend, während sie zusah, wie Starke sorgfältig die Holzgluth mit den Füssen austrat.

»Ist denn der Weg so schlecht?«

»Vielmehr ausgezeichnet und fast immer sanft bergab. Sie meinen, weil 20 Meilen in 3 Stunden sehr wenig ist? Ja, Miss Howard, Sie müssen doch überhaupt eine Inconsequenz erkannt haben, als ich Ihnen rieth, einen einmal gemachten Stundenplan mit pedantischer Pünktlichkeit einzuhalten. Oder nicht? Das früh um halb vier aufstehen, die Frühstücks- und Mittagspause, das lässt sich ja fast immer mit minutiöser Pünktlichkeit befolgen. Aber ich sagte Ihnen doch auch, Sie sollten Abends Punkt 7 vom Rad steigen, und wenn Sie auch noch so guten Weg vor sich hätten, und rieth Ihnen dennoch, sich stets das beste Schlafquartier auszusuchen.«

»In der That! Wie soll ich mir dies zusammenreimen?«

»Nun, ganz einfach. Ich habe doch diesen Weg schon einmal gemacht, kenne ihn genau, jede Station, und da hätte ich es immer durch etwas schnelleres oder langsameres Fahren des Tages über so eingerichtet, dass Sie gerade zu den Pausen die schönsten Lagerstellen und Punkt 7 Uhr des Abends das beste Nachtquartier erreicht hätten.«

Sie standen schon mit ihren Rädern auf der Strasse.

»Aha, das ist ja die allermodernste Schrittmacherei auf der Landstrasse,« lachte Ellen, »schon mehr so eine Art von allweiser Vorsehung.«

Plötzlich zog sie den Fuss vom Pedal zurück und sah ihren Begleiter mit grossen Augen an.

»Ja, wie ist mir denn? War das nicht — vorgestern? — vor dem Bärenpass? — als Sie mir riethen, den Stundenplan einzuhalten?«

»Gestern war es. Ja, Sie haben seit gestern viel erlebt, deshalb dünkt Ihnen die Zeit so auseinander gezogen.«

»Und gestern,« fuhr Ellen mit immer grösserem Staunen fort, »als ich Sie dann so beleid ........ Da haben Sie schon den Plan gefasst, auf diese Weise mein Schrittmacher zu werden, mich zu langsamerem und schnellerem Fahren zu bewegen, meine Lager im Freien und meine Nachtquartiere zu bestimmen?«

»Das war mein Plan von allem Anfang an, als mich Sir Munro zu Ihrer Begleitung engagirte,« war seine ruhige Entgegnung. »Warum wundern Sie sich darüber? Es musste ja so kommen, wie es jetzt gekommen ist, nämlich dass wir Freundschaft schlossen. Fast Jeder mag mich zuerst kalt und abstossend finden, doch wenn er mich näher kennen lernt, wird er sein Urtheil ändern.«

Ellen sass auf dem Rad und jagte davon, doch diesmal nicht, um den abscheulichen Menschen hinter sich zu lassen, sondern nur um ihre Verwirrung zu verbergen.

Vor einer Woche, gestern noch hätte sie solche Worte unverzeihlich, unerhört gefunden. Das war ja eine Anmaassung, wie es keine zweite giebt. Abscheulich, wenn sich ein Mann unwiderstehlich nennt! Und er that es!

Jetzt aber hörte Ellen etwas ganz Anderes heraus, das war nur bescheidene Wahrheit, und es war ja auch Thatsache, er hatte sie besiegt — und bei dieser Erkenntniss fühlte sie sich nicht einmal beschämt. Jetzt fuhr sie langsamer, wartete, bis er an ihrer Seite war und wandte ihm ihr lächelndes Antlitz zu.

»Ja, Mr. Starke, ich habe mein erst so schroffes Urtheil über Sie als Unrecht erkannt, und Sie haben mir ja schon verziehen. Seien Sie mein Führer, ich will gehorsam folgen, und wenn ich einmal eine besondere Bitte betreffs der Route oder Zeit habe, so werden Sie derselben wohl willfahren.«

»Geht das nicht gegen die Bedingungen, dass Sie mich direct als Ihren Führer anerkennen?« fragte er, unberührt durch solchen Gesinnungswechsel.

»Mag es,« war ihre kurze Antwort. »Was sind das eigentlich für Leute: Die Herrnhuter? Ich habe nur einmal ihren Namen gehört.«

Starke erzählte ihr vom Grafen Zinzendoff und seiner Brüdergemeinde, von ihren Bestrebungen und ihrem Leben im Hauptsitz Herrnhut, von ihren Missionsanstalten und Colonien, verbreitet über die ganze Erde.

Allerdings würde Ellen hier nicht die puritanische Strenge wie in Herrnhut finden, die Colonisten passen sich immer dem Lande an, in dem sie sich niederlassen, und hier hat sich der amerikanische Geist der Freiheit bei ihnen in Frohsinn verwandelt, obgleich sie überall das Gebot befolgen: bete und arbeite. Ausserdem bleiben sie auch im Auslande gute Deutsche, welche ihre Muttersprache nicht vergessen.

»Ick sprecke auch deitsch,« schaltete Ellen ein.

Sie hatte es in der Schule gelernt und konnte ungefähr so viel davon, wie ein deutscher Realschüler vom Englischen, wenn er sich fünf Jahre niemals mehr darum bekümmert, nie mit einem Engländer gesprochen hat. Dann spricht auch der Engländer das Deutsche, Französische, Lateinische, überhaupt jede Sprache, flott nach seinen Regeln aus, es wird ihn in der Schule sogar so gelehrt, es kommt nur auf das Lesen und Schreiben an; statt »die« hört man also gewöhnlich »dei«. Ellen kannte ihre mangelhafte Kenntniss selbst. Immerhin, eine feste Basis war vorhanden, Vocabeln wusste sie noch genug, wovon sich Starke überzeugte.

»Wollen Sie richtig deutsch sprechen lernen? Sie erreichen es spielend durch Unterhaltung während der 300 Tage, und dann haben Sie sich mit der Fahrt um die Erde ein neues Leben errungen, denn so viel Sprachen man kann, so viel ist man Mensch.«

»Jawohl, lernen Sie mir deitsch.«

»Lehren Sie mich deutsch, heisst es,« verbesserte Starke, und hiermit hatte der Unterricht begonnen.



9. Capitel.

Die Reise wird gefährlich.

Der immer mehr abfallende Weg, schon seit längerer Zeit chaussirt und mit Abzugsgräben versehen, senkte sich in das Thal hinab, durch welches sich ein silberglänzender Fluss schlängelte. Ueberall wogende Felder, zur zweiten Ernte bereit, grüne Triften mit zahlreichen Heerden, von schmalen Canälen künstlich bewässert; auf den Höhen Wälder, an den Abhängen Weinberge, und im Grunde eine Ansiedlung, mehr ausgebreitet als aus vielen Häusern bestehend, denn jedes der netten Bauernhäuschen wurde vom andern durch einen grossen Garten getrennt.

»Das ist das Jordansthal. Ein gesegnetes Fleckchen Erde. Doch wäre es eine Wüste gewesen, der Fleiss der Herrnhuter hätte schliesslich doch ein Paradies daraus gemacht, ein wirkliches Paradies; denn hier giebt es keine Armuth und keinen Reichthum; Alles ist Gemeingut, das unter Alle gleich vertheilt wird, hier herrschen Liebe und Frieden.«

Die in der Nähe des Weges beschäftigten Feldarbeiter wünschten den beiden flinken Wanderern einen freundlichen guten Nachmittag, und was Ellen schon jetzt zu bemerken glaubte, wurde ihr zur Gewissheit, als sie die lange Häuserreihe entlang fuhren. Hier zeigten sich fast nur Frauen und Kinder, und an diesen allen nahm Ellen ganz bestimmt ein herzliches, aber auch bedeutsames Lächeln wahr, wie sie die Fremden grüssten. Noch hatte sie keine Ahnung, woher das kommen könnte.

»Wir sind am Ziele,« sagte Starke, den Lauf mässigend und abspringend.

Es war ein so freundliches Häuschen wie alle anderen, zu beiden Seiten mit Weinlaub übersponnen, und hinten grosse Gärten mit Blumenbeeten, Obstbäumen und Gemüsezucht. In dem rechten Seitengarten befand sich auch der Eingang, unter Bäumen standen Tische und Bänke.

»Ist dies das Gasthaus?«

»Eigentlich unterhalten die Herrnhuter Fremdenherbergen, aber nicht hier in Amerika; hier freut sich jedes Haus, einen Gastfreund bewirthen zu können.«

Sie hatten die Räder an die Bänke gelehnt, Ellen war, als niemand erschien, an eines der offenen Fenster getreten und blickte in das Zimmer.

»Ach, was ist denn das?!« rief sie erstaunt.

»Nichts weiter als eine deutsche Wohnungseinrichtung,« erklärte Starke.

Ein Sopha mit drei Lehnen, eine mit Blumen buntbemalte Truhe, ein Glasschrank mit Porzellansachen, ein Kachelofen — in ihrem ganzen Leben hatte Ellen so etwas nicht gesehen, und trotzdem die Holzdielen mit weissem Sand bestreut waren — eine Sonderbarkeit, die sie nie begriff — es machte doch Alles einen überaus sauberen, behaglichen Eindruck; als nun aber gar eine Kuckucksuhr die sechste Stunde verkündete, wobei sogar ein Vogel aus dem Gehäuse kam, da war die vornehme Londonerin vor Staunen selbst ganz aus dem Häuschen. Das musste ja ein unbezahlbares Kunstwerk sein!

Ein junges Weib, welches aus der Hausthür trat, machte ihrem Staunen ein Ende. Ellen hatte eben nur gesehen, dass jene, Frau oder Mädchen, die blossen Arme bis an die Ellenbogen in Mehl getaucht haben musste, als die Erscheinung schon wieder mit einem Schreckensrufe verschwunden war.

»Mutter, Mutter, der Curt Starke ist schon wieder da!« schallte es durch das ganze Haus, das »schon wieder« möglichst betont.

»Sind Sie denn bekannt hier?« fragte Ellen verwundert.

»Es ist doch mein alter Weg, den wir nehmen, und zu meinen Sammlungen gehört auch die von Freundschaften.«

Nach wenigen Minuten tauchte aus derselben Thür eine ältliche Frau in Herrnhuter Tracht auf.

»Was, der Curt Starke? Du bist schon wieder da?!« rief auch sie, die Hände noch an der Schürze abwischend, um ihm eine davon zu geben, und dabei strahlte ihr runzliges Pfirsichgesicht vor Seligkeit. »Du fährst doch nicht schon wieder um die Erde?«

»Ganz genau denselben Weg wieder herum,« entgegnete Starke, mit demselben Gleichmuth wie immer, wenn er auch die Hand etwas schüttelte.

»Schon wieder so herum?« liess sich die junge, hübsche Frau vernehmen, welche jetzt mit reinen Armen, und auf diesen ein kleines Kind, hinter der Mutter stand. »So wieder links herum? Herrje, wirst Du denn da gar nicht drehend im Kopfe?«

»Das nächste Mal fahre ich anders herum, dann gleicht es sich wieder aus.«

Ellen hätte sich bei dieser ländlichen Scene köstlich amüsirt, wenn sie nicht eine für sie unangenehme Wendung genommen. Die Alte hatte erst jetzt die Radfahrerin bemerkt.

»Und der Junge .... nanu, das ist ja ein Frauenzimmer mit Hosen!«

»Das ist eine Dame,« sagte Starke, und die Alte, welche vielleicht auch von hinten einen Puff bekommen mochte, floh schamroth in's Haus zurück.

Starke aber trat auf das junge Weib zu und griff dem Kinde unter das Kinn.

»Also hatte ich doch Recht,« meinte er dabei, »ein hübscher Junge — ganz wie der Vater, ganz wie Johannes.«

»Was — wie — Woher weisst Du denn — wer hat es Dir schon gesagt?« stotterte die vor Glück und Verwunderung purpurroth werdende Mutter.

»Niemand. Ich habe Euch doch schon vor zwei Jahren bewiesen, dass ich Alles weiss, und ich habe gar scharfe Augen. Du konntest mir sagen, was Du wolltest, ich wusste es doch, dass Ihr Euch heirathen würdet. Wie heisst er denn?«

»Du bist ein schrecklicher Mensch!« schmollte sie. »Johannes Curt — aber Curt ist sein Hauptname — natürlich nach Dir,« beeilte sie sich hinzuzusetzen.

»Und ich habe ihm gleich sein Pathengeschenk mitgebracht. Nun zeige der Dame, wo sie sich waschen kann, und ich will auf der Post nachsehen, ob das Packet für den kleinen Curt angekommen ist. — Nur einige Minuten, Miss Howard, der Hund bleibt hier.«

Zurückgesetzt hätte sich die seitwärts stehende Ellen nicht fühlen können, die Unterhaltung hatte ja kaum eine Minute gedauert, und doch stiegen recht unangenehme Empfindungen in ihr auf, undefinirbar, als sie der jungen Frau in ein freundliches Schlafzimmer folgte, wo schon alles zum Waschen Nöthige bereit lag.

Als sie den Garten wieder betrat, kam auch Starke von der Strasse herein, ein grosses, flaches Packet unter dem Arm. Auf seinen Ruf versammelten sich die beiden Frauen mit dem Kinde an den Tisch mit dem geheimnissvollen Packet.

»Nun, wie heisst das?«

»Mister Johannes Curt Decker — das Curt unterstrichen — Colonie Jordansthal, Ohio, U. S. — abgeschickt von Curt Starke, Jerusalem«, lasen die beiden Frauen gewissenhaft vor, und Ellen sah auch noch die türkische Briefmarke mit dem Stempel von Jerusalem.

Nur die Spannung liess das Staunen nicht zu — und selbst Ellen ahnte hier ein Räthsel — weil Starke jetzt in seiner bedächtigen Weise die vielen Bindfäden zu lösen und das Packpapier abzuschälen begann.

Ein Oelgemälde kam zum Vorschein, eine Hügellandschaft darstellend, von Pilgern, Beduinen und Kameelen belebt, von einem polirten Rahmen eingefasst.

»Das ist der heilige Oelberg,« erklärte Starke, »von mir selbst gemalt in Jerusalem, und dieser Rahmen ist Cedernholz vom Libanon, von mir selbst geschnitzt und polirt, und meinem Pathen direct von Jerusalem zugeschickt. Da ist die Briefmarke mit dem Stempel.«

Die beiden Herrnhuter Frauen waren — man kann es gar nicht besser ausdrücken — einfach weg. Die Alte fing an zu beten, die Junge zu weinen, das Kind zu schreien, und Ellen blickte abwechselnd das Bild und das bewegungslose Gesicht von Starke an. Ein Räthsel lag hier unbedingt vor.

»Na, gefällt's Euch?«

»Ach lieber Gott, dass Du mich auf meine alten Tage noch einmal den heiligen Oelberg sehen lässt,« betete die Grossmutter, »und Curt hat ihn selber gemacht!«

»Nein, ach nein, das können wir ja gar nicht annehmen,« meinte die junge Mutter.

»Nehmt es in die gute Stube, wascht es nicht mit Seife, Sand und Soda ab und gebt uns etwas zu essen dafür. Was habt Ihr da?«

»Sau — Sau — Sau ....« schluchzte die junge Frau.

»Sauerfleisch? Da mache ich mir nicht viel draus.«

»Nein — Schweins — Schweins ....«

»Schweinsknochen?«

»Ja,« weinte und schluchzte die vor Glück Gerührte, »Schweinsknochen mit Sau — Sauerkraut und Klö — hössen.«

»Schweinsknochen mit Sauerkraut und Klö — hössen,« wiederholte Starke. »O heiliger Oelberg! Da könnte man wirklich vor Seligkeit an zu weinen fangen. Jetzt nehmt Euer Bild unter'n Arm und macht, dass Ihr fortkommt.«

Als dies geschehen war, da konnte sich Ellen nicht mehr halten, sie lachte, dass auch ihr die Thränen über die Wangen rannen.

»Das war ja gottvoll!« wandte sie sich an Starke, die Augen wischend. »An Ihnen ist ja ein Komiker verloren gegangen! Und zur Komik, wenn sie wirken soll, gehört auch der Ernst. Nun sagen Sie mir aber in aller Welt, wie haben Sie das mit dem Bilde eigentlich angefangen? Hier ist ein dunkler Punkt dabei, und ich weiss noch nicht einmal, was das für ein dunkler Punkt ist. Wie alt ist denn das Kind, dem Sie als Pathengeschenk das von Ihnen selbst gemalte Bild aus Jerusalem geschickt haben?«

»Noch keine vier Monate,« erwiderte Starke, sich setzend. »Ich will Ihnen die Erklärung geben, Sie werden den guten Leutchen ihre Freude nicht verderben. Dieses Bild habe ich vor fünf Jahren wirklich am Oelberg gemalt ....«

»Wahrhaftig?! Dann sind Sie ja ein gottbegnadeter Künstler!«

»Nicht doch. Ich habe einiges Talent, habe Fleiss darauf verwandt, aber einem Kennerblick hält es nicht Stand. Das Beste daran ist der Rahmen, wirklich von Cedern des Libanon. Ich schickte es also damals nach London, wo ich meine Raritäten-Niederlage habe, und wie ich nun von Sir Munro engagirt wurde, dachte ich gleich an die Herrnhuter Familie hier, bei welcher ich das letzte Mal zwei eingeregnete Tage verbrachte. Der Oelberg. Am Oelberg gemalt! Und Cedern vom Libanon! Und nun, dachte ich, sollte es eigentlich noch direct von Jerusalem kommen! Diesen Anschein zu geben war ja nicht schwer. Einige Marken aus Jerusalem hatte ich, ich machte das Packet fertig, die Marken darauf, präparirte sonst Alles — nur die Adresse liess ich offen, falls sich hier etwas geändert hätte. Dieses Packet papierte ich noch einmal ein und schickte es an meinen Namen postlagernd hierher, schrieb zugleich an den mich kennenden Postbeamten einen freundlichen Brief, theilte ihm Alles mit, er möchte reinen Mund halten. Vorher habe ich das Packet abgeholt, das inwendige herausgenommen, und da ich hörte, dass der kleine Junge meinen Namen mir zu Ehren erhalten habe, einfach dessen Namen daraufgesetzt. Das ist die ganze Erklärung, und was ich mit der harmlosen Täuschung für eine Freude angerichtet habe, das sahen Sie vorhin, und dass die Marken einen ganz alten Stempel tragen, merken die niemals, habe sie auch etwas unkenntlich gemacht.«

Ellen musste nur immer den Kopf schütteln.

»Da weiss man nicht, ob man mehr über diese Schalkhaftigkeit oder über dieses Raffinement staunen soll, und dies Alles bei solch einem tiefernsten Gesicht! Ich glaube, das ist bei Ihnen nur Verstellung.«

»Es ist bei mir nur äusserliche Natur. Sonst habe ich einen recht heiteren Charakter,« lautete seine Antwort.

Schon war ihr eine andere Frage eingefallen, welche eng zusammenhing mit jenen unangenehmen Empfindungen, die noch immer nicht von ihrer Brust weichen wollten.

»Sie scheinen hier recht familiär zu sein,« sagte sie lächelnd, aber es war erkünstelt. »Haben Sie sich denn in den zwei Regentagen gar so gut amüsirt?«

»Mich amüsirt? Ich habe sie amüsirt. Ich konnte mich doch nicht lesend oder schreibend in eine Ecke setzen, wenn sie mich gastlich aufnehmen, da habe ich ihnen Räthsel zu lösen gegeben, ein unschuldiges Gesellschaftsspielchen arrangirt, habe Kreiseziehen mit ihnen gemacht, ein deutsches Spiel, wobei man durch Fragen auf Ja oder Nein Alles erräth, habe die junge Frau, damals ein Mädchen, mit ihrem Schatze etwas geneckt — na, das war ja so etwas für diese Leute, so etwas hatten sie noch gar nicht erlebt, ich war in ihren Augen allwissend und ein furchtbarer Löwe, war ja sogar in Jerusalem gewesen. Zwei Tage hält man es schon unter ihnen aus, man muss die Menschen nur nehmen, wie sie sind, und nicht, wie man sie haben möchte. Etwas zu pietistisch, etwas beschränkt, aber ihre Beschränktheit entspringt einem kindlich reinen Herzen, und im Uebrigen sind es, wenn ich auch nicht dauernd unter ihnen leben möchte, in meinen Augen hochehrenwerthe Leute. — Entschuldigen Sie einen Augenblick.«

Er ging in das Haus, und plötzlich fiel von Ellen's Herz die Last, von deren Beschaffenheit sie sich noch immer keine Rechenschaft geben konnte — oder wollte.

»Jetzt erst ist der Dank erfolgt,« sagte Starke, als er nach einigen Minuten mit gewaschenem Gesicht wiederkam, »jetzt weint die Alte, lacht die Mutter und das Kind schreit immer noch. Ich habe sie zur Eile mit dem Essen angetrieben, denn ich wollte, Sie .... ja, essen Sie denn auch Schweinsknochen und Sauerkraut? Sie dürften dieses berühmte Gericht noch nicht einmal dem Namen nach kennen.«

»Ich liebe deutsches Sauerkraut, ich schwärme für deutsches Sauerkraut — besonders, weil ich es noch nie gegessen habe,« lachte Ellen.

»Ah, ich sehe, Sie haben den buckligen Taquinet von Paul de Kock gelesen. Da werde ich Ihnen dann bei den Klössen ein Geschichtchen erzählen, ich habe einst einen ähnlichen klassischen Ausspruch gethan.«

Die junge Frau deckte zwei der kleinen Tische, Ellen beobachtete es, und wie Teller, Besteck und alles Dazugehörige geordnet war, konnte sie nicht mehr im Zweifel sein, dass hier nur für zwei Personen und an zwei verschiedenen Tischen gedeckt worden war. Sie wartete, bis sich jene wieder entfernt hatte.

»Was ist das?« wandte sie sich an Starke. »Weiss die Frau nicht, dass wir zusammengehören?«

Bei derartigen Fragen gebrauchte Starke nie viel Worte, thuend, als ob er nicht gleich richtig verstände, was viele Leute so lieben.

»Ich gab ihr die Weisung, an zwei Tischen zu serviren, so wie es bisher gewesen ist.«

Mit Ellen ging eine Veränderung vor sich; ihre Lippen zuckten, als sie flüsterte:

»Oh, Mr. Starke, Sie können aber auch kränkend werden! Das hätte ich nicht von Ihnen erwartet!«

»Von einer absichtlichen Kränkung kann bei mir nicht die Rede sein. Ich betrachte mich als Ihren Diener.«

»Nein, Sie sind mein Diener nicht!!« rief Ellen, jetzt schon wieder mit geröthetem Antlitz und mit zornblitzenden Augen, als sie das eine Service auf den anderen Tisch deckte. »Und wenn Sie mir verziehen haben, werden Sie Derartiges nie wieder thun oder sprechen.«

Dann, als das Essen kam, welches im Auslande vielfach als das tägliche Nationalgericht des Deutschen gilt — und wer z. B. einmal eine Leipziger Zeitung in die Hände bekommt, muss es auch glauben — hatte Ellen den kleinen Zwischenfall wieder vergessen, die rothen, salzigen Fleischknollen, das komische Kraut und besonders die Kanonenkugeln aus Mehl und Kartoffeln machten ihr grossen »Spass«; Starke gab Erklärungen, er versorgte seinen Hund besonders aus der Küche, und dann fragte Ellen, was er ihr bei den Klössen für eine Geschichte habe erzählen wollen.

»Der bucklige Taquinet schwärmt immer für Sauerkraut, besonders weil er noch keins gegessen hat, und in der beständigen Wiederholung dieser Phrase liegt grosser Witz, der an Mark Twain erinnert. Wenn wir Paul de Kock jetzt läppisch finden, so kommt das nur daher, dass wir nicht mehr Kinder seiner Zeit sind. Ueber die jetzt albernen Wortverdrehungen eines Fischart mag man sich im 16. Jahrhundert auch todt gelacht haben. — Meine Geschichte ist ohne Bedeutung. Ich war ein zehnjähriger Junge, als eines Tages der gestrenge Herr Pastor, übrigens ein sehr jovialer Mann, in eigener Person unserem Schulunterricht beiwohnte. Zum Schlusse fragte er jeden von uns Jungen — daraus ersehen Sie schon, dass es kein gewöhnlicher Kirchentyrann war — was er denn später einmal werden wolle. Der eine wollte Schuster, der zweite Schneider, der dritte Todtengräber werden, der vierte sah die Befriedigung seines Ehrgeizes im Anzünden der Strassenlaternen, u. s. w. Wie ich nun daran kam, was ich dereinst werden wolle, antwortete ich prompt und einfach: reich. Warum ich reich werden wolle? Damit ich immer Klösse essen könne. Nun, Seine Hochwürden holte mich weiter aus und erfuhr, dass ich zwar noch keine Klösse gegessen, wohl aber, durch das Fenster auf seinem, des Pastors Tische, eine grosse Schüssel mit dampfenden Kartoffelklössen gesehen hatte, und das hatte mir so imponirt, dass ich beschloss, Millionär zu werden, um dereinst meine Millionen in Kartoffelklösse umzusetzen. Wirklich, dieser Mann war kein gewöhnlicher Sterblicher — am anderen Tage machte Frau Pastor Kartoffelklösse, und ich, der ich nicht einmal ein Paar Stiefel mein eigen nannte, war zu Tisch eingeladen. Von dieser Zeit an wagte mich der Schulmeister nicht einmal mehr zu hauen. Wissen Sie, wieviel ich gegessen habe? Vierzehn Stück, von diesem Kaliber. Ich hätte noch mehr gegessen, aber es waren keine mehr da. Die Geschichte ist noch nicht alle. Jetzt, gleich nach dem Essen, soll ich mit den Pastorskindern etwas im Garten spielen. Im Garten steht ein Reck, die Kinder wussten ja, was ich konnte, sie fordern mich auf, rufen den Vater an's Fenster, und dieser sieht, wie ich sechs Dutzend Mal die sogenannte Bauchwelle mache, mit den vierzehn Klössen im Magen. Wie ich damit fertig bin, steht der Pastor vor mir, sieht mich lange an, dann legt er mir die Hand aufs Haupt und sagt kopfschüttelnd und feierlich: Curt, Curt, aus dir wird noch einmal ein grosser Mann! — Und er hat Recht gehabt: lang genug bin ich ja geworden.«

Ellen schüttete sich vor Lachen aus, während der ernste Mann das Glas mit dem rothen Landwein gegen die noch immer hochstehende Sonne hob und es langsam austrank.

»Dieser alte Dorfpastor ist der einzige helle Lichtstrahl in der Erinnerung an meine Jugend«, sagte er dann nach einer Pause, »und er ist auch der Einzige gewesen, welcher mich richtig verstanden hat.«

»Sie waren ein sehr kluges Kind?«

»Ganz im Gegentheil, ich war immer der Allerdümmste in der Schule. Das heisst, aufgeweckt mag ich wohl gewesen sein, aber ich war furchtbar faul. Was bedeutet auch ein sogenanntes Wunderkind? In meiner Klasse war solch ein Junge, was er las, konnte er auswendig, schon damals wirklich ein Wunder von Gelehrsamkeit. Er fand seinen Protector, kam auf bessere Schule, Gymnasium, Universität, jetzt ist er schon Professor — — wie es hunderte giebt. Lassen Sie mich schweigen, es würde zu weit führen. Wenn es auf das Gedächtniss ankäme, müsste jeder spanischer Creole ein Genie sein. Nein, nein, es kommt im Leben auf etwas ganz Anderes an, am allerwenigsten auf die Schulcensur, und wenn Jemand wirklich etwas Bedeutendes in sich hat, so findet ihn sein Genius auch auf der Schusterbank.«

»Was meinten Sie denn damit, als Sie sagten, allein jener Pastor hätte Sie verstanden?«

»Weil ich für alle Anderen ein kleines Scheusal war. Es lässt sich schwer ausdrücken. Denn ich war es ja auch: unbändig, störrisch, faul und — stolz. Ja, das war es vielleicht. Von den aristokratischen Jagden im Grunewalde haben Sie wohl schon gehört. Das Dorf Nowawes stellt die sogenannten Parforceläufer, das sind Jungen, welche, mit allen Wegen und Schlichen des Waldes vertraut, der wilden Jagd zur Seite bleiben und im Augenblicke zur Stelle sein müssen, um den abspringenden Rothfräcken beim Halali die Pferde zu halten. Die barfüssigen Jungen tragen auch rothe Uniformen, und ich, der schnellste Läufer und den ganzen Grunewald wie meine zerrissene Hosentasche kennend, war nicht in diese rothe Uniform zu bekommen, liess mir die schönen Trinkgelder entgehen. Das musste ja für jene Leutchen unbegreiflich sein. Auch nicht etwa, dass ich zu stolz gewesen wäre, den aristokratischen Herren die Pferde zu halten, nein, ich diene noch jetzt — nein, ich hielt mir die Ohren zu, um die Jagdhörner und das Hundegeläute nicht zu hören, und ich hörte es doch — jetzt hat die Meute den Schwarzkittel gestellt, jetzt wird er abgefangen — und ich knirschte mit den Zähnen und weinte vor Zorn und Schmerz — und dann später wurde ich zum unsichtbaren, bösen Dämon der Jagd, oft genug habe ich die Hunde verbellt und manch' edles Wild gerettet. Das war meine Lust.«

»O ja, ich verstehe Sie.«

»Sie sind aber auch nicht aus Nowawes. Einmal passirte so etwas in der Schule. Fünfzig Jungen und Mädchen in einer Klasse, noch dazu in Nowawes — wir bildeten natürlich eine schöne Bande. Eines Tages flog dem Lehrer der nasse Schwamm an den Kopf. Wer hat's gethan? Dumme Frage. Der Pastor kam, redete uns mildreich in's Gewissen, der Betreffende sollte nicht einmal Strafe haben, zuletzt griff er uns donnernd an der Ehre an — ebenso dumm; der Betreffende, den wir alle kannten, meldete sich nicht, und verrathen gab's bei uns natürlich auch nicht. »Pfui, Jungens wollt ihr sein? Feige Wichte seid ihr!« Da hielt ich's nicht mehr aus, zugleich kam mir ein grandioser Gedanke, ich stand auf; ich bin's gewesen. Ob nun des Pastors Versprechen nicht mehr galt oder der Lehrer auf eigene Faust prügelte, jedenfalls prügelte er mich mörderlich, und das acht Tage lang jeden Morgen und Mittag öffentlich vor der ganzen Klasse ........«

»Und alle fünfzig haben ruhig zugesehen?« unterbrach ihn Ellen staunend.

»Diese Frage beweist mir, dass Sie nicht aus der Gegend von Nowawes sind. Jemand anders hätte vielleicht gefragt: und Sie haben das ruhig ertragen, nichts gethan, dass sich der Betreffende noch anzeigt? — Nein, er sah wie die Anderen ruhig zu, und wenn ich mich nun in eine Ecke verkroch und heulte, so weinte ich nur über die Jämmerlichkeit dieses Menschen. Und ich habe ihn bezwungen! Endlich kam er doch! Na, Sie können sich wohl ungefähr vorstellen, für was ich gehalten wurde — oder Sie können es vielmehr nicht, weil Sie nicht aus Nowawes sind. Für meine Kameraden war ich schon während der acht Prügeltage ein unfassbares Etwas gewesen; der Herr Magister zog die Brauen hoch, wodurch er ein schrecklich dummes Aussehen bekam, nannte mich einen Esel und einen Mucker; auch der Pastor liess mich vor sich kommen, fragte aber nicht, sagte nichts, sah mich nur lange an, und dann gab er mir so heimlich zu verstehen, ich hätte einen Ablassbrief, falls etwas passiren sollte. Das führte ich denn auch gründlich aus. Das heisst, nicht etwa Rache trieb mich dazu. »Seht,« sagte ich ungefähr, nur damals mit etwas anderen Worten, »das war brav von Euch, dass Ihr den Gustav nicht verrathen habt; aber was dem Einen recht ist, ist dem Anderen billig, ich will keinen Vorzug vor Euch haben, nun sollt Ihr die Süssigkeit des Märtyrerthums auch kosten.« Sprach's und gab Einem nach dem Anderen das in den acht Tagen angehäufte Kapital mit Zinsen zurück und die Mädels band ich wie weiland der Pfaffe Ilse alle mit den Zöpfen zusammen. Nur den Schuldigen liess ich in Ruhe. Von da an war ich der erklärte Liebling des Pastors, und dass damals nicht der ununterdrückbare Keim zum Menschenhass in mein Herz gelegt wurde, habe ich nur ihm zu verdanken. Leider starb er, mich erwischte ein Förster beim edlen Waidwerk, und da zog ich vor, vom schönen Nowawes auszuwandern.«

Starke erzählte noch mehr aus seiner Jugend, von seiner Wanderschaft als zwölfjähriger Junge nach Hamburg, wie er sich im Schiff versteckte und dann zum Vorschein kam, Alles in solch' einer humoristisch-trockenen Weise, dass sich Ellen den vor Lachen schmerzenden Kopf hielt.

Die junge Frau Decker kam, um abzuräumen. Wie sie das Letzte forttragen wollte, beugte sie sich zu Starke hinab und flüsterte ihm ungenirt längere Zeit in's Ohr, dabei auch noch nach der erröthenden Ellen blickend.

»Nein — — nein,« hatte Starke mehrmals gesagt, und dann, als das Flüstern fertig war, setzte er ebenso laut hinzu: »Nein, Mariechen, Miss Howard ist nicht meine Frau, und verlobt sind wir auch nicht.«

»Du bist ein schrecklicher Mensch!« zürnte Frau Mariechen, als sie in's Haus floh.

»Nehmen Sie es nicht für ungut, und eine kleine Lection habe ich ihr ja gegeben,« entschuldigte sie Starke. »Wenn diese Leute nicht fühlen, dass es unschicklich ist, in Gegenwart eines Anderen Jemandem in's Ohr zu flüstern, so sagen sie doch auch Niemandem etwas Schlechtes nach.«

Schnell hatte Ellen ihre Verwirrung überwunden. Jetzt war eine schon längst erwartete Gelegenheit vorhanden. Nun war sie es, welche zunächst das Weinglas gegen das Licht hob.

»Das hat eine Frage angeregt,« begann sie dann, das Glas, ohne getrunken zu haben, wieder hinsetzend, »verzeihen auch Sie mir, als einem neugierigen Weibe, und Ihre Offenheit wirkt ansteckend. Haben Sie schon einmal geliebt?«

Fest sah sie dabei Starke an, und dessen Antwort kam sofort.

»Gewiss.«

»Ach!««

Diese beiden Worte sind nur dramatisch wiederzugeben. Beim Lesen eines Theaterstückes liest Jemand vielleicht über das Wörtchen »Ach« so ganz gleichgültig hinweg. Und wenn dieses selbe »Ach« eine Sarah Bernhard auf der Bühne wiederholt, so liegt eine ganze Welt von Schmerz darin — und dann wälzt sie sich in Zuckungen am Boden.

Ellen wälzte sich nicht in Zuckungen am Boden, legte auch keine ganze Welt des Schmerzes hinein — es klang nur etwas enttäuscht.

»Ich war verheirathet.«

»Ach!«

Wieder ein anderer Tonfall, wieder eine Pause.

»Mit einer Italienerin. Aber hier in Nordamerika.«

»Ach! Nicht möglich!!«

Starke blickte nur ruhig auf.

»Aber warum soll das nicht möglich sein?«

»Weil — weil — oh pardon,« stotterte Ellen, purpurroth werdend.

»Sie haben ganz Recht. Wer mich jetzt kennt, kann sich mich schlecht als Ehemann vorstellen.«

Nun war Ellen einmal im Fahrwasser, sie wollte mehr erfahren.

»Eine unglückliche Ehe?«

»Eine sehr, sehr glückliche. Doch nur wenige Wochen währte das Glück.«

»Dann ist Ihre Frau gestorben?« fragte Ellen theilnahmsvoll.

»Ich — habe sie aus Versehen erschossen.«

Er stand auf und ging, in das Haus.

Und wie vom Donner gerührt, sass Ellen da. Wie ein Donnerschlag hatte es sie getroffen. Nach der erst so humoristischen Unterhaltung dieses Geständnis, so plötzlich hervorgebracht, mit solch' eiserner Ruhe wie sonst, aber wie er plötzlich aufstand und davonging — es war von einer furchtbaren Wirkung.

Und plötzlich wusste sie auch, woher dieser eherne Ernst stammte. Er hatte sie sehr, sehr geliebt — und hatte sie aus Versehen erschossen — und damals hatte er sich ausgeweint, nun hatte er keine Thränen, aber auch kein Lächeln mehr.

Doch da kam er schon wieder zurück. Er hatte — ach wie nüchtern — nur noch eine Flasche Wein geholt.

»Das Gewehr ging mir los,« sagte er, als er die Flasche entkorkte, »es war nicht einmal meine Schuld, dass es geladen war; ich wurde auch freigesprochen. Bitte, sprechen Sie nicht mehr davon. Ich habe damals — der Kork sitzt bald selbst für mich zu fest darin — viel durchgemacht. Es sind schon dreizehn Jahre her.«

Er sagte es so gleichmüthig wie immer, dazu die profane Beschäftigung, er riss am Korkzieher, drehte daran — und dennoch, Ellen wurde nicht irre gemacht, hier hatte sie den Schlüssel zu dem räthselhaften Charakter dieses Mannes bekommen.

Die Flasche war auf, er schenkte ein und setzte sich.

»Ich habe überhaupt Unglück mit der Liebe,« fuhr er fort. »Einmal jenes. Dann hatte ich einen guten Freund, er heirathete, und da kannte er mich nicht mehr, verleugnete mich. Ich fand einen anderen Freund, in dessenTreue ich mich nicht irrte, und am nächsten Tage, da wir uns gefunden, starb er in meinen Armen. Einmal liebte ich ein Mädchen, wie meine Schwester oder wie meine Tochter, es ist noch gar nicht so lange her; ich sorgte für ihre Erziehung, und sie täuschte mein Vertrauen, entfloh mit einem Abenteurer und sank zurück in den Sumpf, aus dem ich sie gehoben. Nein, ich habe kein Glück mit der Liebe. — Oh, Miss Howard, warum weinen Sie denn!«

Ob es diese Worte waren, oder ob erst jetzt die nachträgliche Reaction von jener Offenbarung kam — Ellen brach plötzlich in Thränen aus.

»Ach, Sie Aermster!« schluchzte sie. »So stehen Sie ganz allein in der Welt? Ohne Liebe, sogar ohne Freunde!«

»Bitte, hören Sie doch auf zu weinen, ich kann es bei einer Frau nicht sehen. Erstens ginge es mir dann nur wie Tausenden — nein, ich will gleich sagen: wie Millionen von anderen Menschen. Sie mögen glauben, Freunde zu haben, aber in Wirklichkeit sind es doch keine, oder man soll sie nur fragen, ob sie mit der Hand auf dem Herzen versichern können, einen treuen Freund zu haben, der sie mehr liebt als sich selbst. Das ist die Freundschaft, das ist die wahre Liebe, welche auch in der Ehe bestehen müsste. Man findet sie heutzutage sehr selten. Das Wort Liebe ist heutzutage zu einem ganz anderen Begriffe verzerrt worden. Zweitens bin ich nicht zu bedauern, denn ich bin glücklich. Ich liebe die ganze Welt, mein ist die Erde, mein ist die Sonne, und wenn Schnee die Erde bedeckt, der Frühling kommt wieder, und auch die Sonne bricht hinter dem Gewölk hervor und küsst mich wieder warm, und wenn ich .... ah, und Dich habe ich ja ganz vergessen!«

Der Hund hatte den Kopf auf seines Herrn Knie gelegt, und zum ersten Male sah Ellen, dass die muskulöse und doch so schlanke Hand ihn streichelte.

»Nicht wahr, Hassan, wir Beide sind Freunde, Du verlässt mich nicht, nur der Tod kann uns trennen, und der Tod ist unvermeidlich. Miss Howard, wollen Sie hier nicht Ihre Wäsche zum Reinigen geben?«

Blitzähnlich schoss es Ellen durch den Kopf, was dieser Mann doch für eine seltsame Macht auf das Herz ausüben konnte, trotz seines trockenen Tones. Oder lag der geheimnissvolle Zauber gerade hierin? Auch Ellen war eine sehr kühle, kritisirende Natur, sie war nicht leicht zu Thränen zu rühren, noch weniger lachte sie etwa bei den heutigen dummen Theaterpossen. Und dieser Mann hatte sie innerhalb fünf Minuten zum Lachen und Weinen gebracht, dazwischen noch einmal zum Schaudern des Entsetzens, und nun wusste er es einzurichten, dass sie gleich wieder mit klaren Augen aufblicken konnte. Hätte er zu seinem Hunde mit gerührter Stimme gesprochen und dann die Frage wegen der Wäsche gestellt, es wäre eine schauderhafte Disharmonie gewesen; so aber war dies gar nicht zu empfinden.

Doch, wie gesagt, nur blitzähnlich fühlte Ellen dies heraus, dagegen waren ihre Gedanken fest auf ein anderes entferntes Ziel gerichtet.

»Ja, ich werde die Güte dieser Herrnhuter-Familie dann in Anspruch nehmen, es ist wohl noch Zeit dazu. Es fällt mir eben etwas Anderes ein, was deshalb gleich zur Sprache kommen soll, denn wenn wir erst in der Unterhaltung sind, habe ich keine Zeit an so etwas zu denken. Also in etwa acht Tagen werden wir in Indianopolis sein und Munro zur Rechenschaft ziehen. Wissen Sie noch, was Sie mir damals am ersten Abend gesagt haben?«

»Natürlich, so vergesslich bin ich nicht. Wenn Sir Munro wirklich jene Wette eingegangen ist oder nur sonst Etwas gethan hat, was gegen den Charakter, den ich bei einem Edelmann erwarte, verstösst, so betrachte ich mich nicht mehr als in seinen Diensten stehend, und ich werde Sie verlassen, wie Sie es von mir verlangten, und wie ich Ihnen versprach.«

Ellen drehte den Kopf, um nicht sehen zu lassen, wie sie sich unwillkürlich auf die Lippe biss. Das Letztere hatte sie nicht von ihm hören wollen. Doch recht so, dass es so kam. Sie wandte ihm wieder das Gesicht zu.

»Ich denke doch, damals war ein ganz anderes Verhältniss zwischen uns. Würden Sie mich dann trotzdem noch begleiten?«

»Dadurch hätten Sie ja Ihre Wette verloren.«

»Macht nichts.«

»Was haben Sie dann vor? Diese Frage müssen Sie mir gestatten.«

»Nun, ich würde die Reise um die Erde dennoch fortsetzen, nur mit mehr Genuss, mit mehr Musse — mit jenen Zwecken, welche Sie mir suggerirt haben.«

Starke antwortete nicht. Seine stahlblitzenden und stahlkalten Augen bohrten sich fest in die des Mädchens.

»Würden Sie mich dann also doch noch begleiten?« wiederholte Ellen. »Ich sage Ihnen gleich, dass ich mit Sir Munro nicht im Guten auseinander kommen werde; denn er hat sich mir gegenüber überhaupt äusserst beleidigend benommen. Nun?«

»Vielleicht, und ich beanspruche pro Tag drei Pfund Sterling,« klang es kalt zurück.

Ellen lächelte, und sie wusste, wie erkünstelt dies aussah; es ging ihr siedend heiss durch den Körper, und doch griff es wie eine kalte Faust an ihr Herz.

»Dieses Honorar ist zugestanden. Abgemacht?«

»Ich muss es mir erst überlegen.«

Sie lächelte noch immer, aber es wurde ein ganz anderes Lächeln daraus, mehr schwermüthig, sie liess den Kopf etwas zur Seite sinken.

»Ach! Warum nicht gleich die Entscheidung! Wenn ich Sie nun recht herzlich bitte ....«

»So etwas will überlegt sein. In Indianopolis werde ich Ihnen meine defini—ti—ve Ant ....«

Der Hund war an der Störung schuld. Hassan dachte, er hätte den Kopf nun lange genug auf seines Herrn Knie liegen gehabt, ging zu Ellen hinüber und legte ihn dieser in den Schooss, sie mit seinen treuen, klugen Augen von unten auf anblickend.

War es nur der Wiederschein des in den letzten Strahlen der Abendsonne erglühenden Horizontes? Oder stieg nicht wirklich ein leises Roth in dem broncefarbenen Gesicht auf? Und die tiefe, wie volles Erz klingende Stimme hatte gestockt!

Langsam erhob er sich. »In Indianopolis werde ich Ihnen meine definitive Antwort geben,« sagte er ruhig und ging nach dem Stacket des Gemüsegartens.

Tief beugte Ellen das Antlitz, roth wie eine Purpurnelke, über den Kopf des Hundes, der sich noch mehr an sie schmiegte und für das Krauen der feinen Finger mit einem leichten Schwanzwedeln dankte.

»Hassan!« erklang es vom Stacket her. Aber Hassan wendete nur den Kopf, um ihn gleich wieder in Ellen's Schooss zu legen.

»Hassan, ein Karnickel!« rief es noch einmal.

»Geh', verlasse Deinen Freund nicht,«, flüsterte Ellen, ihn sanft von sich schiebend; gleichzeitig fiel ein Schuss ans Curt's Revolver, und da allerdings war Hassan el Seba schon mit einem ungeheuren Satze über das hohe Stacket und apportirte aus dem Kohlbeet das geschossene Kaninchen.


— — — — — — — —

Auch die Freude des Wiedersehens der vom Felde heimkehrenden Männer und Kinder war vorüber, die Nacht war angebrochen; Ellen sass in ihrem freundlichen Schlafzimmerchen und schrieb im Scheine der Petroleumlampe zwei Briefe, nur nüchterne Anfragen an Zeitungen, ob Berichte angenehm wären.

Dann legte sie ein gebundenes Heftchen, welches sie sich aus dem Schulhause hatte besorgen lassen, zum vorläufigen Tagebuche an.

Sie holte das Versäumte mit skizzenhaften Angaben nach. Die Wette mit Lady Barrilon, Vorbereitungen, Abreise und sie lächelte glücklich dabei. Die letzte Unterredung mit Sir Munro hatte sie ganz vergessen.

Der erste Tag: dieser unverschämte, aufdringliche Kerl, roh und ungebildet, ein Ekel, ein Schuft — und Ellen lächelte glücklich, als sie dies schrieb.

So ging es weiter. Es schwächte sich etwas ab, aber manchmal stieg der alte Widerwille doch noch auf. Auch der Hund wurde bedacht. »Hassan ist kalt, finster und störrisch, wie sein Herr. Er soll Sympathie besitzen. Gegen wen Starke gleichgültig ist, um den kümmert sich auch Hassan nicht; wen jener hasst, den hasst auch dieser; wen Starke liebt, den liebt auch der Hund, und er muss es ausdrücken, auch wenn sein Herr seine Gefühle verheimlicht. Gott sei Dank, mich liebt der Grobian nicht, meine Wenigkeit ist dem edlen Beduinenhunde völlig Wurscht.«

Sie hatte wirklich »Wurscht« geschrieben, sie hatte diesen deutschen Ausdruck einmal gehört.

Nein, eine gewöhnliche Tagebuchmacherin war Ellen nicht. Es lag etwas von einer Künstlernatur in ihr, sie verstand nachzuempfinden, oder doch so zu schildern. — Aber sie lächelte dabei glücklich.

Nun kam der Bärenpass mit dem infamen Hinterrad, die Feder wurde humoristisch — und Ellen lächelte trotzdem nicht mehr. Nun die entsetzliche Scene mit den Cowboys, der Hurrican, der Wolkenbruch. Dann die Nacht unter der Gummidecke .... »und Starke sass einstweilen unbeschützt in Sturm und Regen«.

Bis hierher hatte sie ohne Unterbrechung mit flüchtiger Feder geschrieben; jetzt blickte sie auf, ein feierlicher Ernst lagerte auf ihrem Antlitz, und dann, nach einer langen Pause, griff sie wieder zur Feder und schrieb:

»13. September. Jordansthal, im Hause einer Herrnhuter-Familie. Er ist erröthet, er hat gestockt — er ist ein Mensch mit einem Herzen — und Sein Hund hat mich geliebkost ....«

Mehr konnte Ellen nicht schreiben. Wirr jagten ihr plötzlich die Gedanken durch den Kopf; vor den Augen entstanden flimmernde Bilder, es sauste und brauste ihr in den Ohren, in den blauen Aederchen an den Schläfen jagte wild der Puls.

»Hier fehlt etwas — hier fehlt etwas,« schallte laut eine Stimme.

Die Wanduhr tickte, aber sie hörte eine Stimme.

Ja, hier fehlte etwas, sie wusste es selbst, aber nicht, was es war.

Konnte es ihr nicht ganz gleichgültig sein, ob sich der Hund an sie schmiegt oder nicht? Sie war keine Hundefreundin. Immer deutlicher summte es in ihren Ohren, es wurde eine Melodie daraus, sie musste dieselbe einmal irgendwo gehört haben — es kamen deutsche Worte hinzu — ja, es war ein deutsches Lied — und plötzlich wusste sie, was fehlte, ein Uebergang, eine Rechtfertigung — und plötzlich schob sie das Buch herum, und schrieb quer an den Rand bei dem gestrigen Tag, wo sie den Hurican und den Wolkenbruch geschildert hatte, nur zwei Zeilen hin:

»Er ist gekommen in Sturm und in Regen
Und hat genommen mein Herz verwegen.«

Da fiel die Feder auf den Boden, und sie schlug die Hände vor das schamglühende Antlitz und weinte vor Schmerz und vor Seligkeit. —

Zur selben Zeit sass Starke in seinem Stübchen und kämmte dem Beduinenhunde das lange Haar aus. Unverwandt schauten dabei die klugen Augen des Thieres in das Gesicht seines Herrn.

»Warum blickst Du mich so fragend an?« hatte Starke einmal gefragt.

Hassan gab kein Zeichen von sich, er sah ihm in die Augen. Plötzlich schrak der eiserne Mann furchtbar zusammen — und es war doch nichts weiter gewesen, als dass ihm ein heisser Tropfen auf die Hand gefallen war.

Langsam fuhr sich Starke über die Augen, dann nahm er den Oberkörper des Hundes auf seinen Schooss und schlang einen Arm um den Nacken.

»Nun weiss ich, was Du mich fragen möchtest,« sagte er mit leiser, klagender Stimme, wie sie wohl selten ein Mensch von ihm zu hören bekam, und Thräne nach Thräne tropfte auf das gelbe Fell. »Ach, Hassan, was hast Du mir angethan! Du hast Deinen Freund verrathen. Ach, warum musste das Schicksal diesen Baronet zu mir führen! Nun habe ich auch Dich verloren, nun habe ich gar Niemanden mehr! Doch nein, Du treues Thier kannst nichts dafür, denn Du bist wahr, die Schuld trage nur ich allein. — Ich will sie überzeugen, dass sie sich irrt, ich will sie heilen, so lange werde ich sie begleiten, ich werde stark sein, und dann, mein guter Hassan — dann wirst Du mich verlassen, um ihr zu folgen, weil sie mein Herz mitnimmt, und was kann man Jemand, den man liebt, Herrlicheres schenken als seinen treuesten Freund, und in diesem Gedanken werde ich glücklich sein.«

Nach diesen zum Theil sehr dunklen Worten nahm er seine Beschäftigung wieder auf.



10. Capitel.

Die Ankunft.

Sir Robin Munro hatte in Begleitung seines Dieners den englischen Boden fast zu gleicher Zeit mit Ellen verlassen, aber von Southampton aus, einen dort anlegenden deutschen Schnelldampfer benutzend, von welcher Fahrgelegenheit jene nichts gewusst, und war noch einige Stunden vor ihr in New-York eingetroffen.

Hier hatte er nichts zu thun. Er fuhr mit der Bahn direct nach Indianopolis, gemäss der Abmachung mit Starke die erste grosse Station, wo er die Ankunft der Radfahrer erwarten und die Anweisungen ausführen sollte, welche ihm von Starke brieflich oder telegraphisch zugehen würden.

Gerade, wie er die letzte Vorstadt New-Yorks hinter sich hatte, stand er aufrecht am Fenster und sah die Beiden auf der Landstrasse halten. Es war zu spät, Ellen musste ihn erkannt haben, er winkte ihr zu. Es war ihm fatal gewesen, aber was half's? Und einmal bekam sie es doch zu wissen; als unsichtbarer Schutzgeist konnte er doch nicht um sie schweben.

Nun befand er sich in Indianopolis. Diese Stadt mit dem wild-romantischen Namen ist der Kreuzungspunkt von acht oder neun Eisenbahnen und hat 105 000 Einwohner, also sind auch genügend Hôtels vorhanden, und das dem Vorausreisenden von Starke empfohlene, in welchem möglicher Weise auch Ellen logiren würde, war eines der grössten und besten.

Die Wartezeit schätzte er auf mindestens 18 Tage, da mussten sie aber wie die Pferde rennen.

In Nordamerika war der Baronet noch nicht gewesen, somit lernte er hiermit zum ersten Male das Leben in einem amerikanischen Hôtel kennen. Der Engländer ist auf Reisen nicht sehr verwöhnt, wenigstens was die Behandlung anbetrifft; das sieht man ja auf den englischen Passagierdampfern, wo der Steward der unbedingte Tyrann ist, der manchmal nicht nur andeuten, sondern wirklich sagen kann: »Du hast einfach zu essen, was ich Dir vorsetze, und wenn's Dir nicht passt, so spring über Bord« — und wenn deshalb auch viele Engländer die deutschen und holländischen Linien vorziehen, eingehen werden die englischen noch nicht, die Engländer sind es eben gewöhnt; auch im englischen Hôtel herrscht sehr strenge Hausordnung, und die Engländer müssen so behandelt werden, sonst hauen sie sofort über den Strang — ein längerer Aufenthalt in einem amerikanischen Hôtel aber ist selbst für den phlegmatischsten Engländer eine Qual.

Es giebt nur einen Satz für volle Pension pro Tag, ob mit Zimmer in der Beletage oder im zehnten Stock hinten heraus, ganz gleichgültig, es geht nur nummerweise, hier ist der Mensch überhaupt nur ein Sträfling mit einer Nummer.

»Haben Sie Werthsachen bei sich? Hier abliefern! Jetzt wird gespeist! Marsch, nun in den Smokingroom! Marsch, nun hier hinein! Marsch, nun da hinein! Umziehen zum Concert! Anzug: schwarzer Frack, geblümte Weste, weisse Beinkleider, Lackschuhe, Chapeau-claque.«

Es ist dies kein Scherz. In New-York und anderen Städten mit internationalem Gepräge giebt es natürlich auch Hotels nach französischem oder deutschem Muster, aber so geht es auch im vornehmsten Yankee-Hotel New-Yorks noch zu. Beim Glockenzeichen hat man in den Speisesaal zu gehen, während der Fütterung werden die Thüren des Käfigs wieder geschlossen; wer zehn Minuten zu spät kommt, erhält nichts mehr; auf dem Zimmer oder anderswo wird nicht servirt — aber auf die Rechnung kommt es selbstverständlich. Ja, man kann nichts dagegen machen — und es kommt häufig genug vor — dass man mitten in der Nacht einen wildfremden Menschen als Schlafcollegen in sein Bett gesteckt bekommt — und der Amerikaner, wenn auch ein feingebildeter, verwöhnter Mann, findet gar nichts dabei. Das sind eben Auswüchse einer von Holzhackern gegründeten freien Bürgerrepublik. Frankreich, weil es keinen König hat, ist ja gar keine Republik.

Zum Glücke für Sir Munro war sein Hôtel wenig besetzt, so hatte er nur massig unter der Tyrannei der allgewaltigen Kellner zu leiden.

Es kam kein Brief, kein Telegramm. Munro wurde immer besorgter. Hatte die Geliebte ihren Wahnwitz schon mit dem Leben gebüsst? Endlich ein Brief aus Wheeling. Was, wie war das möglich? Die Beiden rannten ja toller als die Pferde. Da mussten sie ja den Tag 50 bis 60 Meilen gemacht haben — und das hält wirklich kein Pferd aus. Sir Munro schüttelte den Kopf und kratzte sich hinter den Ohren.

Der Brief enthielt kein Wort davon, wie es ihnen, wie es Miss Howard ginge, was Ellen sagte, dachte. Ja, hatte denn Starke seine Begleiterin überhaupt noch an der Seite? Wheeling, eine ansehnliche Stadt in Ohio, hängt mit »Rad« zusammen, und Starke bestellte auch nichts weiter als ein neues Rad, eine gewisse Marke, mit einigen Abänderungen daran, mit zwei auswechselbaren Kettenrädern; seine Angaben waren ganz genau, der Brief wimmelte von Zwölftelzollen, aber sonst sparte er die Tinte auf's äusserste. Nicht einmal »hochachtungsvoll« oder etwas Aehnliches schrieb er vor seiner Unterschrift. Noch viel weniger hielt er es für nöthig, von den Gefahren zu schreiben, in denen seine Schutzbefohlene schon geschwebt hatte; keine Andeutung davon.

Was aber sollte Sir Munro nun mit diesem Briefe anfangen? Laufmantel, Felgen, Kettenspanner, sogar Lenkstange — waren ihm ganz unbekannte Begriffe.

»Dick!«

Der kleine magere Dick erschien. Wie der Engländer es fertig gebracht hat, die Namen so zu verdrehen, dass z. B. aus Robert Bob und aus Richard Dick geworden, ist dem Schreiber dieses nicht bekannt.

Ueber Dick's Geburt lagerte ein geheimnissvolles, undurchdringliches Dunkel. Er wusste nicht, wer seine Eltern waren, noch wo er geboren war, nicht einmal den Erdtheil kannte er. Doch ein ausgesetzter Prinzensohn war er nicht; er gehörte einfach zur weitverbreiteten Sippschaft des fahrenden Volkes; als zartes Kind hatte er lallend die internationale Gaunersprache gelernt.

Aber wer kann für seine Geburt! Einmal hatte Sir Munro auf der Strasse sein Portemonnaie verloren, und ein kleiner, schäbig gekleideter Mann, dem der Hunger aus den Augen sah, brachte es ihm in sein Haus. Die Visitenkarte sei darin gewesen — und auf die Belohnung wartend blieb der kleine Mann stehen. Der englische Baronet brauchte lange, lange Zeit, um zu erfassen, was der Mann denn eigentlich wolle, und als kein Zweifel mehr bestand, dass jener das gefundene Portemonnaie dem ermittelten Besitzer zurückbrächte und eine Belohnung erhoffte, und als sich Munro auch noch vergewissert hatte, dass jener bei gesundem, normalem Verstande war, da rannte er, die Hände in den Hosentaschen, aufgeregt im Zimmer hin und her.

»Was sind Sie denn für ein Landsmann?«

»Ich bin ein Engländer.«

»Sie — Sie wollen ein Engländer sein? Ach, gehen Sie doch!!! Sie fordern eine Belohnung, weil Sie mein Portemonnaie mit zehn Pfund gefunden haben? Und Sie wollen ein Engländer sein? Ach, machen Sie mir doch nichts weiss!«

So ging es noch längere Zeit weiter, Munro konnte sich gar nicht wieder beruhigen, und der kleine arme Mann, der sich in diesem Prunkzimmer nicht wohl fühlte, beschloss schon, anstatt die verdiente Belohnung zu fordern, wozu er doch gewiss berechtigt war, die Flucht zu ergreifen, als sich zum Glück noch rechtzeitig der Irrthum aufklärte.

Natürlich zürnte ihm Sir Munro nicht, dass er wage, einen Finderlohn zu verlangen, sondern er konnte nicht begreifen, wie ein Engländer ein gefülltes Portemonnaie, welches er aufhebt, dem bekannten, ihm aber fremden Besitzer zurückerstatten kann, und nun gar noch in London!

Damit soll allerdings durchaus nicht gesagt sein, dass jeder Engländer ein Spitzbube sei. Das Abliefern ist in England eben nicht Mode. Was verloren ist, ist verloren; wer es findet, dem gehört's, und wer es nicht nöthig hat, der bückt sich überhaupt niemals.

Aber schön war das doch. Sir Munro begann vor Rührung beinahe zu weinen, vor Stolz über seine ganze Nation. Dick gab nähere Auskunft über sich: von Profession Artist, Akrobat, speciell Schlangenmensch, jetzt ginge es ihm herzlich schlecht, schon lange kein Engagement — und als er vernahm, dass er hier Diener werden könne, gestand er, dass er zwar vielleicht in England geboren sein könne, vielleicht aber auch anderswo.

»Sie sind Engländer. Verstanden? Sie sind ein Engländer! Ich engagire Sie hiermit — halt, noch nicht. Fahren Sie Rad?«

»Wie Euer Gnaden wünschen.«

»Fahren Sie Rad? frage ich. Antwort. Ich nehme keinen Diener, dulde keine Person um mich, welche Rad fährt.«

»Ich glaubte, Euer Gnaden meinten, ich müsste Rad fahren können, und ich hätte es schnell gelernt ......«

»Um Gottes Willen! Also Sie können gar nicht Rad fahren? Dann sind Sie engagirt. Sie werden es gut bei mir haben, Ihr monatlicher Gehalt beträgt zwei Pfund, davon aber werde ich das erste Jahr, immer ein Pfund abziehen, bis ich also zwölf Pfund Sterling als Depositum in Händen habe, und sobald ich einmal bemerke, dass Sie auf einem Rade sitzen oder sich auf ein Rad setzen wollen, oder eine Radfahrer-Zeitung lesen, oder mit einem radfahrenden Subject verkehren, oder vor einem Schaufenster mit Fahrrädern stehen, oder sonst etwas thun, sprechen, denken, was mir Ihr Interesse an ein-, zwei-, drei- oder vierrädrigen Fahrrädern verräth — alsobald sind Sie entlassen und Ihr Depositum ist mir verfallen. Haben Sie mich verstanden?«

Der Schlangenmensch klappte zusammen, dass sein Haar den Boden berührte.

So war Dick in Sir Munro's Dienst gekommen, schon vor vielen Jahren, und hatte sich nach und nach zum Leibdiener aufgeschwungen, der seinen Herrn auch immer auf Reisen begleitete. Er war ein anstelliger Bursche, konnte Manches, was andere Menschen nicht können, nicht erlernen, und wenn sie sich auch noch so grosse Mühe geben. Ausser seiner Muttersprache beherrschte er vollständig Englisch und Zigeunerisch, sprach auch recht gut Deutsch, Französisch und mit dem Bauche. Er konnte sich wie ein Regenwurm zusammenkrümmen, sich mit dem Fusse die Nase putzen, konnte seine Zunge eine Elle weit aus dem Munde ziehen und Anderes mehr, und im Uebrigen war er ein geschickter, gewandter, treuer, zuverlässiger Diener, wenn es sich auch mit der Zeit herausstellte, dass es Dick faustdick hinter den Ohren hatte. Gar so schlimm hatte es sein Herr auch nicht gemeint, in's Dampfbad brauchte er nicht gleich zu gehen, wenn er aus Versehen einmal ein radelndes Individuum gestreift hatte, aber Dick's Hass gegen Alles, was mit dem Radfahren zusammenhing, wurde womöglich hoch grösser als der seines Herrn, z. B. rührte er das appetitlichste belegte Butterbrod nicht mehr an, wenn es zufällig in eine Radfahrer-Zeitung eingewickelt war, lieber wäre er verhungert.

Und nun machte sein Herr solche Geschichten! Ja, die Liebe, die Liebe! Aber, der scharfsinnige Dick ahnte schon, welch ganz besonderer Zweck hier noch vorläge.

Der Gerufene war also erschienen.

»Weisst Du, was ein Laufmantel ist?«

»Wahrscheinlich ein Mantel, welcher läuft, Euer Gnaden.«

»Hm. Und eine Lenkstange ist eine Stange, welche lenkt. Das ist wahrscheinlich vorn das Ding, mit dem sie es immer gerade so einrichten, dass sie Jeden in's Kreuz rennen, der über die Strasse will. Ich soll nämlich ein Rad kaufen und einige Abänderungen daran treffen lassen. Ja, nun werde aber Jemand klug daraus! Hier lies diesen Brief.«

Dick nahm und las ihn, schon hierbei eine Grimasse des Abscheus nach der anderen ziehend, und wie er den Brief auf den Tisch legte, wischte er sich sorgfältig die Hände am hinteren Theile der Hose ab.

»Weisst Du, was das Alles bedeutet?«

»Nein, Euer Gnaden. Ich habe von so etwas gar keine Ahnung.«

»Ja, wie soll ich nun dem Fahrradhändler oder dem Mechaniker begreiflich machen, was da dieser Starke Alles verlangt?«

»Geben Euer Gnaden doch dem Manne selbst den Brief, der wird es schon verstehen.«

»Richtig, auf diesen Gedanken hätte ich selbst kommen können. Weisst Du was, Dick, nimm Du mit Deiner Geschicklichkeit die Sache in die Hand, erkundige Dich, wo so ein Ding, wie gewünscht wird, zu haben ist, sprich mit dem Schlosser, zeig' ihm den Brief, und so weiter. — Ich verlasse mich auf Dich.«

Dick nahm den Brief zwischen seine äusserstenFingerspitzen, entfernte sich und meldete nach einer Stunde, er hätte die betreffende Marke gefunden, jenes Geschäft sei mit einer Reparatur-Werkstatt verbunden, der Brief sei verstanden worden und die gewünschten Abänderungen würden schnellstens ausgeführt werden.

Schon am anderen Tage erhielt Sir Munro einen zweiten Brief. Starke wünschte einen Anzug aus hellgrauem oder hellgelbem Lodentuch gemacht zu haben, gab ebenso kurz und ebenso genau das Maass dazu an, oben und unten, hinten und vorn.

»Hm,« brummte Munro, »den muss er aber eigentlich selbst bezahlen, das gehört mit zu seinen Spesen.«

Diesmal rief er nicht nach Dick, sondern begab sich selbst nach dem nächsten grossen Schneidergeschäft, wünschte einen Anzug nach Maass, zeigte den Brief mit den ungeheuer vielen Zahlen vor.

»Soll das ein Badecostüm werden?« fragte der Zuschneider. »Da würde ich statt des Loden ....«

»Nein, nein, kein Badecostüm, wo denken Sie hin! Ein Reiseanzug, so ein Anzug für so einen Radfahrermenschen.«

»Für einen Knaben?«

»I wo, der Mann ist einen Kopf grösser als ich, mit solchen Schultern. Ist denn das Maass nicht genau angegeben?«

»Das Maass ist wohl sehr genau genommen worden, aber sollte der Anzug nicht vielleicht für eine Dame bestimmt sein?«

Munro sank etwas zusammen, neigte den Kopf und legte die Hand an das Kinn.

»Ach ja,« sagte er kleinlaut, »es dürfte auch eine Dame sein.«

So kam es, dass der Lodenanzug doch noch glücklich für Ellen und nicht für Starke gefertigt wurde, und der Baronet dachte seufzend: »Also er hat ihr das Maass sehr genau genommen! Hm, eine dumme Geschichte, so eine Radreise.«

Von nun an regnete und regnete es Tag für Tag, und Munro konnte mit Recht annehmen, dass dieses schnelle Fliegen jetzt aufhören würde. Eine Nachricht erhielt er nicht mehr. Einmal musste Starke doch noch depeschiren, nämlich wenn er den nächsten Ort mit einer Telegraphenstation passirte, damit Munro seine Braut mit gebührender Aufmerksamkeit empfangen konnte. Alles war genau ausgemacht, dann würden die Radfahrer in drei bis vier Stunden hier sein, aber bis dahin war noch lange Zeit. Munro erwartete noch nicht dieses Schlusstelegramm. Während dieser Regenzeit hatte er zufällig Engländer kennen gelernt, welche in Indianopolis wohnten, ohne sich amerikanisirt zu haben, war in altenglische Familienkreise eingeführt worden, man kam dem Baronet mit Hochachtung entgegen, hier fühlte er sich heimischer. Im Hôtel schlief er fast nur noch, und wenn ein Brief oder Telegramm ankam, Dick wusste ihn immer zu finden.

Endlich brach wieder ein schöner Tag an, welcher Alles in's Freie lockte. In dem grossen Villengarten, noch etwas vor der eigentlichen Stadt an der Landstrasse gelegen, hatte die Mittagssonne den Rasenplatz getrocknet, eine Gesellschaft von jungen Herren und Damen tummelte sich darauf zum lustigen Spiel. Es war eine Art Haschens, nur dass immer je ein Herr und eine Dame Hand in Hand zusammen laufen mussten, auf dass die Kräfte gleichmässiger vertheilt würden.

Sie lachten und scherzten und jubelten, und Niemand gewahrte die beiden schmutzbedeckten Radfahrer, welche an dem Gartengitter entlang mühsam auf der durchweichten Landstrasse fuhren, gefolgt von einem gelben Hunde mit schwarzen Beinen.

»Das gilt nicht, das gilt nicht, Sir Munro! Sie haben Ihre Dame losgelassen.«

»Aber mich nicht von ihr getrennt,« rief Munro lachend zurück, »denn ich bin mit Miss Hildyard durch Ihnen nur unsichtbare Bande verknüpft.«

»Es ist Sir Munro,« sagte Starke, »ich rufe ihn.«

»Nein, auf keinen Fall!« befahl Ellen herrisch. »Wir wollen ihn nicht in seinem Vergnügen stören. Was geht er mich überhaupt an?«

Und Starke hielt sich nicht auf. Ein Telegramm für Sir Munro, die Ankunft gegen 2 Uhr meldend, musste schon vor vier Stunden in seinem Hotel angekommen sein, und wenn er keine Maassregeln traf, dass ihm dies sofort nachgesandt wurde, falls er das Hotel verliess, so schadete ihm seine kleine Lection nicht, auf dass er das nächste Mal sich besser auf den Empfang vorbereite.

Noch zwei Kilometer Fahrt, dann sprang Ellen vor dem Western-Hôtel ab, um sofort in die Kniee zusammenzubrechen; Starke kam zu spät, um sie zu halten, und wenn sie auch gleich wieder auf den Füssen stand, es war doch ein Zeichen von grosser Schwäche gewesen.

Im Portale stand Dick und riss die Augen weit auf.

»Was, ist das nicht — ist das nicht ....?«

Dann rannte er spornstreichs davon nach der ihm bezeichneten Villa, und da sah er auch schon durch das Gartenthor seinen Herrn sich mit jungen Damen herumjagen.

»Sie sind da, sie sind schon im Hôtel!«, schrie Dick athemlos durch das Gitter.

Munro glaubte seinen Augen und Ohren nicht zu trauen, als er Dick sah, ihm diese Meldung bringend. Aber er musste es wohl glauben, Starke hatte ihm kein Telegramm geschickt, und zwei Minuten später rannte der englische Baronet, alles Andere vergessend, wie ein Wettläufer neben seinem Diener der Stadt zu.

Als er an der Portierloge vorübereilte, hielt ihm der Pförtner ein zusammengefaltetes Papier entgegen.

»Heute Morgen ist eine Depesche für Sie angekommen, Sir Munro.«

»Was?! Und Du hast nichts davon gewusst?« schrie dieser Dick an.

»Ich bin immer im Hôtel gewesen, mir ist keine gegeben worden,« versicherte Dick.

»Warum haben Sie meinem Diener die Depesche nicht gegeben?« fuhr der Baronet den Portier an.

»Sie haben mir nichts davon gesagt, dass ich Ihrem Diener Briefe oder Telegramme aushändigen soll,« war die kühle Antwort.

»Was, ich hätte Ihnen nicht drei Mal — nein, ein Dutzend Mal gesagt, Sie sollten alle Postsachen sofort diesem Manne aushändigen, wenn ich nicht im Hôtel bin?« schrie Munro mit weinerlicher Stimme.

Der Portier wollte sich auf nichts entsinnen können, und es half auch nichts mehr, dass Munro jetzt ausser sich war — er wünschte dem pflichtvergessenen Manne noch eine schreckliche Krankheit, dann stürmte er die Treppe hinauf nach Ellens Zimmer, welches er von einem Kellner erfragte.



11. Capitel.

Auseinandersetzungen und Entdeckungen.

Ellen war während der letzten vier Regentage »abgefallen.« Dieser Ausdruck bezeichnet am besten ihren Zustand. In finsterer Nacht aufstehen, ohne ausgeschlafen zu haben, fröstelnd, in einem plätschernden oder rieselnden Regen treten, vier Stunden lang sich mühsam durch einen zähen Schlamm arbeiten, von einem Wege oft gar keine Spur, die Frühstückspause unter einem triefenden Baume, oder auch den nicht einmal, dann wieder zwei Stunden vorwärts, am Mittage irgendwo, einige Stunden eines todähnlichen Schlafes, noch todtmüder wieder aufgerüttelt, wieder drei Stunden durch Regen und Schlamm, fast immer Gegenwind — es war eine furchtbareTortur!

Mit dem Vergnügen der Weltreise war es also vorbei, Ellen konnte nicht einmal mehr essen, sie musste sich zu jedem Bissen zwingen, sie war eben übermüdet, und sie glaubte schon, von dem ewig nassen Anzuge sich einen Gelenkrheumatismus geholt zu haben. Nun hielt sie aber trotzdem aus! Sie brach nicht zusammen, sie fiel eben nur ab, es machte ihr kein Vergnügen mehr, apathisch und mechanisch trat sie ihre Meilen ab.

Hätte sie allerdings nicht diesen eisernen Schrittmacher bei sich gehabt, sie würde die Reise wahrscheinlich schon verzweiflungsvoll aufgegeben haben. So gestand sie sich selbst.

Starke blieb, der er immer gewesen. Er war über Regen, Schlamm und Gegenwind erhaben; er machte sie wie im schönsten Sonnenschein auf dies und jenes aufmerksam, wusste ein hübsches Geschichtchen zu erzählen, hatte immer einen trockenen Witz bei der Hand, und wo er zur Pause abstieg, da setzte er sich bequem im dicksten Schmutze nieder, ass mit Andacht seine zwei Pfund Fleisch, und im nächsten Bache oder Teiche spülte er den Schlamm von seiner Lederkleidung und sass wieder gleichmüthig, die dampfende Pfeife im Munde, auf seinem Rade.

»Halten Sie aus, halten Sie aus,'' sagte er ein über's andere Mal. »Der Stundenplan wird abgefahren, und wenn vor uns auch ein feuerspeiendes Gebirge entstehen sollte, und von solch' einem bischen Regen werden wir uns doch nicht irritiren lassen. Was gilt die Wette, Miss Howard, dass es wieder zu regnen aufhört und die Sonne wieder scheinen wird?«

Bei solchen humoristischen Worten konnte die zerschlagene Ellen in ihrer Apathie sogar noch lachen.

»Sie haben keinen Gelenkrheumatismus,« fuhr er dann tröstend fort, »das sind nur Muskelschmerzen. Die stellen sich bei jeder ungewohnten, langandauernden Bewegung ein, habe sie auch einmal gehabt. Halten Sie bis nach Indianapolis aus, dann haben Sie fünf Tage gespart, opfern Sie davon zwei, bleiben Sie im Hôtel, bleiben Sie im Bett liegen, pflegen Sie sich, und dann werden Sie staunend erleben, mit welch' ungeheurer Gewalt Ihr Appetit zurückkehrt, wie Sie sich mit einem Male kräftig und energisch fühlen, dass Ihnen jede weitere Strapaze nur noch als ein Kinderspiel erscheint. Nur ein einziges Mal aushalten! Das hier ist die Feuer- oder richtiger die Wasserprobe.«

Und Ellen hielt aus. Immer mehr überkam sie eine eigentümliche Empfindung. Es war ihr zu Muthe wie etwa dem Schiffer auf dem sinkenden Wrack, der nach dem ihm wohlbekannten Stern blickt, und dieser Stern spricht: richte dich nach mir, verzweifle nicht, unter mir ist die rettende Küste — so blickte Ellen auf ihren Begleiter, und er führte sie an das sichere Land.«

Wie Ellen das luxuriöse Hôtelzimmer betrat, wie sie das Bett sah, wie sie sich sagte: vorbei ist die Noth, hier werde ich zwei Tage der behaglichsten Ruhe pflegen — da erwachte sie zum ersten Male wieder aus ihrer Lethargie, und sie dachte an die Zukunft.

»Bitte, Mr. Starke, bleiben Sie noch einen Augenblick, treten Sie ein, ich möchte Sie sprechen, bitte,« wandte sie sich sofort nach dem Betreten des Zimmers an Starke, der sie bis an die Thür begleitet hatte, und er folgte der Aufforderung, schloss die Thür hinter sich, stand vor ihr wie immer regungslos in seiner ganzen Grösse aufgerichtet, wodurch er immer an seine dienende Stellung zu erinnern wusste, was er mit Vorliebe zu thun schien.

»Was befehlen Sie, Miss Howard?«

Ellen hatte ihre Müdigkeit plötzlich ganz vergessen, auch sie blieb stehen, die energische, selbstbewusste Engländerin rang nach Fassung.

»Wo haben Sie die Räder?«

Sie hatte sich während der letzten Zeit nie darum gekümmert.

»Das Meine unten dem Hausknecht übergeben. Das Ihre wollen wir ausrangiren, es würde nicht mehr bis nach Omaha halten. Ich habe durch Sir Munro hier eine neue Maschine bestellt, auch für zwei auswechselbare Kettenräder sorgen lassen.«

»Durch Sir Munro — Sie sind sehr aufmerksam,« brachte Ellen mit immer grösserer Verlegenheit hervor, ihre Gedanken weilten ja ganz wo anders. »Ich werde auch einen neuen Anzug haben müssen. Sie würden ...«.

»Ist gleichfalls schon durch Sir Munro besorgt, wenigstens hoffe ich zuversichtlich, dass er meinen Anordnungen entsprochen hat. Einen Lederanzug gleich dem meinen habe ich nicht für gut befunden, es dauert lange Zeit, ehe man sich daran gewöhnt hat. Es ist wieder ein Lodenanzug, aber ein heller, und wir kommen jetzt auch in eine vom Regen wenig heimgesuchte Gegend.«

Immer wieder Sir Munro, von dem sie nichts wissen mochte. Oder doch, sie hatte ja gerade über ihn sprechen wollen.

»In Indianopolis hatten Sie mir Ihre Entscheidung geben wollen, ob Sie mich weiterbegleiten würden oder nicht — wir sind in Indianopolis.«

Nun war es heraus, und mit angstvoller Spannung hingen ihre Augen an seinen unbeweglichen Zügen. Wie würde die Antwort ausfallen?

»Vorläufig stehe ich noch in Sir Munro's Diensten, und Sie wissen doch, was ich ihn erst zu fragen habe.«

»Ja, Sie wollen nur in den Diensten eines Ehrenmannes stehen. Wenn Sie aber nun davon überzeugt werden, dass dies nicht der Fall ist, wenn Sie sich von ihm verabschieden, werden Sie mich weiterbegleiten?«

»Ich möchte doch noch um einige Bedenkzeit ....«

»Nein nein — wir sind in Indianopolis — ich nehme Sie beim Wort,« unterbrach ihn Ellen hastig. »Was werden Sie dann thun?«

Die Pause, welche Starke bis zu seiner Antwort machte, hielt er fast immer ein.

»Da muss ich zunächst Ihren eigenen Entschluss wissen,« entgegnete er dann. »Ich habe mich von Sir Munro engagiren lassen, um mein Möglichstes zu thun, dass Sie Ihre Wette gewinnen; einen schriftlichen Contract haben wir nicht gemacht, ich halte mein einfaches Wort unverbrüchlich und verlange dies auch von dem, dem ich Vertrauen schenke. Nun aber haben Sie dereinst schon Andeutungen gemacht, dass Sie gar nicht beabsichtigen, die Reise so fortzusetzen, dass Sie Ihre Wette gewinnen. Sie wollen die Fahrt mehr zur Bereicherung Ihrer Kenntnisse benutzen, Ihre Erfahrungen literarisch verwerthen. In diesem Falle, wenn Sie nicht mehr gesinnt sind, alle Ihre Kraft einzusetzen, in 300 Tagen die Fahrt um die Erde zu vollenden, trete ich überhaupt aus Sir Munro's Diensten, denn dann hat sich das ganze Motiv geändert.«

»Was aber werden Sie dann thun? Das haben Sie mir noch immer nicht gesagt. Werden Sie mich dennoch weiter begleiten, auch wenn Sie aus Sir Munro's Diensten treten? Ich — ich — bezahle Sie gut.«

»Und ich muss erst wissen, was Sie vorhaben, ob Sie Ihre Fahrt als Wette durchsetzen oder sie als reine Art von wissenschaftlicher Reise betrachten wollen, dass Sie frei sind, nicht mehr an jene Bedingungen gebunden sind, dass Sie die Wette eben als verloren aufgeben.«

Eine innere Angst schnürte Ellen das Herz zu. Erst war sie erröthet, immer tiefer, und jetzt erbleichte sie. Sie wusste, dass von ihrer Antwort Alles abhing. Welche sollte sie geben? Dieser Mann verachtete eine derartige, zwecklose Wette, er hatte es ihr ja gesagt, wie sie die Fahrt nützlicher gestalten könne; hinwiederum war dieses Mannes Name »Beständigkeit«.

»Ich habe die feste Absicht, meine Wette durchzusetzen.«

»In diesem Falle werde ich Sie als Ihr Diener begleiten, gegen einen Gehalt von täglich 3 Pfund Sterling, wie schon einmal ausgemacht. Allerdings hätten Sie die Wette dann auch verloren, da Sie ja keinen Begleiter haben dürfen, aber für mich ist diese Bedingung ganz bedeutungslos, es ist ja gleichgültig, ob ich Sie für Munro's oder für Ihr Geld begleite, das sind hur Wortdeuteleien. Es handelt sich nur darum, ob Sie die Kraft und die Energie besitzen, meinen Weg um die Erde in 300 Tagen zu machen. Mögen Sie auch das eingesetzte Geld verlieren, worauf es Ihnen ja nicht ankommt, die Ehre bleibt Ihnen doch. — — Das ist Sir Munro's eiliger Schritt auf dem Corridor, ich möchte ihn zuerst allein sprechen.«

Nun mochte er gehen. Als sich die Thüre hinter ihm geschlossen hatte, schlug Ellen die Hände vor das schamerglühende Antlitz und sank in einen Stuhl, himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübt: Zum ersten Male erkannte Ellen mit klarer Besinnung, wie es eigentlich mit ihr stand.

So hatte es kommen müssen! Erst fand sie den aufdringlichen Kerl widerwärtig, und jetzt, nach kaum einer Woche mochte sie sich nicht mehr von ihm trennen. Aber wie stand es mit ihm? —

Er war ein freundlicher, aufmerksamer Reisebegleiter, er war eben ein gebildeter Schrittmacher, nichts weiter, dafür wurde er bezahlt, und dies gab er ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen, offenbar immer mit Absicht.

Liebte er sie? Ellen wusste es nicht. Dass sein Hund, der mit Sympathie begabte Hassan, sich immer mehr an sie schmiegte, dafür hatte er eine Entschuldigung.

»Sehen Sie, er gewöhnt sich nach und nach doch auch an einen Fremden, das hätte ich gar nicht gedacht,« sagte er häufig.

Aber einmal hatte sie ihn doch schwach gesehen, damals, in dem Herrnhuter Hause, und wenn seine Röthe nur der Widerschein des erglühenden Himmels gewesen, gestockt hatte seine Stimme, als Hassan plötzlich vertraulich zu ihr gekommen war, und etwa nur vor Staunen, dass der Hund einem Fremden gegenüber sich plötzlich so zeigte, wäre er sicher nicht so verlegen geworden.

Denn er war verlegen gewesen. Und deshalb liebte er sie! Er liebte sie!!

Nun hatte er sich wieder kalt wie Eis gezeigt, eigentlich doch geradezu ungezogen. Wie es mit Ellen stand, musste er wissen. Sie hatte sich schon zu oft verrathen, eben jetzt wieder. Und hätte Ellen nicht die richtige Antwort auf seine Frage errrathen, und hätte er sich nicht mit Sir Munro geeinigt — er war der Mann, sie einfach und sofort zu verlassen.

Das war es eben. Es war ein ganz besonderer Mann. Vor allen Dingen hielt er sie mit Sir Munro für verlobt, oder wenn nicht gerade das, so musste er doch an ein Verhältniss zwischen Beiden glauben; und als Nebenbuhler aufzutreten, einen Anderen zu verdrängen, jetzt, da er den Vortheil auf seiner Seite hatte, das sah diesem Manne ganz unähnlich. So weit konnte Ellen seinen Charakter schon beurtheilen, und solch ein Charakter war nur zu bewundern.

Nun, es würde mit der Zeit anders werden, Ellen war keine raffinirte Coquette, aber des Weibes Macht kannte sie doch, und sie war ein Weib.

Bis nach Indianapolis hatte sie aushalten wollen, und wenn ihr die Kraft versagte, hatte sie sich an der ehernen Gestalt ihres Begleiters immer wieder aufgerichtet. Dann hatte sie ihm sagen wollen, dass sie ihre thörichte Wette nun aufgäbe, sie hatte doch schon bewiesen, was ein Weib leisten könne — und dann hatte sie sich ein herrliches Leben ausgemalt, an seiner Seite frei in der Welt herumradeln zu können, immer dahin, wo der Himmel am blausten ist, unter dem grünsten Baum legt man sich zum Träumen hin, und wenn es regnet, stellt man sich natürlich unter. Der Weltenbummelei wurde noch ein nützlicher, am Ende gar ein wissenschaftlicher Anstrich gegeben, die Liebe kam von ganz allein, und nun so durch das ganze Leben zu radeln und nebenbei berühmt zu werden — ach, es war doch zu herrlich!

Freilich stellte sich, bei solchen Träumereien auch immer eine bedrückende Frage ein. Wie würde Starke, dieser beständige Charakter, solch eine plötzliche Willensänderung auffassen? Vorhin hatte es sich gezeigt, wie Recht sie gehabt, und wenn es auch mehr Zufall als Ueberlegung gewesen, dass sie die richtige Antwort gab — sie hatte gewonnen, und Ellen war glücklich. Fast noch 280 Tage hatte sie Zeit. Sie war ein Weib und er ein Mann, und wie er sie, so wollte sie nun ihn besiegen. Auch er sollte sie noch kennen lernen. Vor allen Dingen musste ihm der Glaube genommen werden, sie sei an Sir Munro gebunden.

Mit diesem Entschlusse erhob sie sich. Nur wenige Minuten hatte sie zu den erwägenden Gedanken gebraucht, ihr deuchte es eine sehr lange Zeit, sie war schon so an seine ständige Gesellschaft gewöhnt. Wo blieb er so lange? Sie trat auf den Corridor, hörte von einem Kellner, dass sich der eben angekommene Gast in Sir Munro's Zimmer befände, da hörte sie die Beiden schon sprechen, wenn auch nicht verständlich; ohne anzuklopfen trat sie ein.


— — — — — — — —

Der eilige Schritt hatte wirklich von Sir Munro hergerührt, obgleich Starke den doch kaum kennen konnte.

»Ich bitte Sie, eine Minute zuerst mit Ihnen allein in Ihrem Zimmer zu sprechen,« trat Starke dem ob des versäumten Telegramms noch Erregten entgegen.

»Was ist geschehen? Es ist doch nichts passirt?« stiess Munro erschrocken hervor.

»Es ist nichts passirt, ich muss nur von Ihnen eine Erklärung fordern.«

Während sie den Corridor entlang gingen, stellte Munro, nicht wissend, was jener von ihm Anderes als Geld zu fordern habe, noch schnell hundert andere Fragen, Ellen und die Reise betreffend, wie es ihr ginge, ob sie gesund sei, fragte auch schon, ob ihr das Radeln noch Spass mache. Bei dem Regen!

Starke, welcher an seinem Zimmer vorbeigeschritten war, wohl nicht passend findend, dass der Diener den Herrn empfange, antwortete nichts, und in Munro's Zimmer zog er vor den Augen des noch immer Fragenden mit seiner gelassenen Schweigsamkeit ein altes Zeitungsblatt aus der Tasche.

»Wie stellen Sie sich hierzu, Sir Munro?«

Lange Zeit konnte Ellen also nicht zum Nachsinnen gehabt haben. Starke war kein Freund von langer Einleitung, das Lesen des bezeichneten Artikels dauerte bei der Unterredung am längsten.

Kaum konnte Munro mit Ruhe ihn zu Ende lesen, und Starke erkannte dabei schon in seinem Gesicht, was in ihm vorging.

»Das ist ja die gemeinste Infamie, die mir je vorgekommen ist!« rief er dann in hellem Zorn, das Blatt vor Starke's Füsse schleudernd, als hätte dieser den Brief verfasst. »Wer hat dieses Bubenstück angezettelt? Ueberhaupt ist es ja lächerlich, ich kenne gar keinen Lord Wood; in ganz Grossbritannien giebt es gar keinen Lord Wood.«

»Ihre Erklärung genügt mir,« sagte Starke ruhig, die Zeitung wieder aufhebend.

Anstatt noch weiter von seiner Erregung beherrscht zu werden, stutzte Munro plötzlich und sah den sich Aufrichtenden scharf an.

»Schickt denn Ellen — Miss Howard Sie, deswegen eine Erklärung von mir zu fordern?«

»Nein.«

»Und Sie genügt Ihnen? Bitte, darf ich nun Sie um eine Erklärung bitten?«

»Wenn Sie wirklich eine derartige Wette eingegangen wären, würde ich aus Ihren Diensten treten, dann wären Sie in meinen Augen kein Gentleman?«

»Ah so. Dieser Zug gefällt mir wieder sehr an Ihnen. Also dann würden Sie Miss Howard nicht mehr begleiten?« fragte Munro interessirt.

»Doch.«

»Doch? Ich verstehe nicht.«

»Miss Howard hat mich gebeten, dass ich sie, falls ich aus Ihren Diensten treten müsste, dennoch weiter begleite, und ich habe zugesagt.«

Sir Munro war ein viel zu offener Charakter, um grosse Selbstbeherrschung zu besitzen, während es ihm nicht an scharfer Combinationsgabe fehlte. So drehte er sich jetzt mit einem Male schnell um und ging sich räuspernd nach dem Fenster. Die Unterhaltung hatte in der Nähe der Thür stattgefunden, und dort blieb auch Starke in seiner regungslosen Weise stehen.

»Was hat denn Miss Howard zu dem Berichte da gesagt,« fragte er nach, einer Weile vom Fenster her. »Hat sie mich etwa zu so etwas fähig gehalten?«

»Ja.«

Mit einem Rucke fuhr Munro bei diesem trockenen Ja herum.

»Ja? — — — Hm. — — — Wie haben Sie sich denn mit der Dame unterwegs vertragen? War ihr Ihre Begleitung erwünscht?«

»Nein, wenigstens erst nicht.«

»Und dann? Und jetzt?«

»Wir haben bald gute Freundschaft geschlossen — so darf ich es wohl nennen.«

Munro lächelte, aber es war ein recht gezwungenes, unsicheres Lächeln, seine Stimme nahm auch einen ganz eigenthümlichen Klang an, während er nach einem auf dem Tische liegenden Packete blickte, welches Ellen's bestellten Anzug enthielt.

»Gute Freundschaft?« lächelte er also. »Natürlich, da würden Sie Miss Howard auch noch Schutz und Hülfe angedeihen lassen müssen, wenn ich Sie nicht mehr dafür bezahlte. Ei ei, Mister Starke, Sie stolzer, kalter Mann, haben doch nicht etwa gar unterwegs Ihr Herz verloren ........«

Das Lächeln des Baronets erstarb plötzlich. Mit wuchtigem Schritte, den auch der weiche Teppich nicht dämpfen konnte, ging Starke auf ihn zu und blieb in seiner ganzen Grösse dicht vor dem Erschrockenen stehen.

»Herr, solche Worte verbitte ich mir!« sagte er ganz leise, aber mit schneidender Stimme, und schneidend blitzten die Stahlaugen des Hünen auf den Zwerg hernieder. »Für wen halten Sie mich? Sie haben mir gesagt, dass Miss Howard Ihre Braut ist. Ich stehe in Ihren Diensten, also sind Sie mein Herr, und die erste Pflicht eines Dieners gegen seinen Herrn ist die Treue, und was Sie mir zutrauen .......«

Auch Starke wurde unterbrochen, und es musste etwas Besonderes sein, dass der niedergeschmetterte Munro die Kraft hierzu fand.

»Still,« flüsterte er hastig. »Bitte, verzeihen Sie mir.«

Starke sah seinen veränderten Ausdruck in Gesicht und Auge, wandte sich um — Ellen stand im Thürrahmen.

»Es ist doch erlaubt, einzutreten?« sagte sie, war schon im Zimmer und machte die Thür zu.

Verwirrt eilte Munro ihr entgegen.

»Endlich, Miss Howard ...,« begann er noch im Gehen, und da erfolgte schon wieder eine Unterbrechung.

»Mit welchem Rechte haben Sie mich Ihre Braut genannt, wenn ich fragen darf?«

Dieser Empfang war danach angethan, dass Sir Munro abermals wie niedergeschmettert stehen blieb. Hier gab es nur eines: offen zu sein — und Munro that es. Aber Starkes Gegenwart war ihm dabei unangenehm.«

»Mr. Starke, wollen Sie uns allein lassen.«

»Mr. Starke, Sie bleiben!«

»Ich gehe,« sagte aber Starke und schritt der Thür zu.

»Mr. Starke, bleiben Sie hier!« wiederholte Ellen mit flammenden Augen.

»So bleiben Sie,« sagte auch Munro, und der gehorsame Diener blieb.

»Nun, also, mit welchem Rechte nannten Sie mich diesem Herrn gegenüber Ihre Braut!«

Munro raffte sich auf. Jetzt wusste er Alles. Dieser Mann war treu und redlich wie Gold, an dem war nicht zu zweifeln, er log ja nie; aber Ellen hatte zu diesem Heiden der Landstrasse und Wildniss Neigung gefasst, hatte sich einfach in ihn verliebt. Wohl ging es ihm bei dieser Erkenntnis schmerzend durch's Herz, doch er war ein Mann, wollte sich auch als Mann zeigen.

»Weil ich dazu ein Recht zu haben glaubte, und wenn ich mich irrte, so bitte ich hiermit um Entschuldigung, es wird nie wieder vorkommen.«

Ellen hatte eine ganz andere Antwort erwartet, und sie war im Augenblicke davon so überrascht, dass Sir Munro nach einer kleinen Pause fortfahren konnte.

»Ferner bitte ich um Entschuldigung, dass ich nicht bei Ihrer Ankunft zugegen war. Meine Schuld war es nicht. Ich hatte den Portier beauftragt, jeden ankommenden Brief oder Telegramm mir durch meinen immer im Hôtel anwesenden Diener sofort zuzuschicken ....«

»Während Sie mit Miss Hildyard durch ein unsichtbares Band verbunden waren,« fiel ihm Ellen sarkastisch in's Wort.

»..... und der Portier will jetzt nicht wissen, dass ich ihm dies wenigstens zehn Mal gesagt habe,« fuhr Munro unbeirrt fort. »Hier,« er trat an den Tisch und löste die Schnüre des Packets, während Stark schon das an der Wand lehnende Rad einer Prüfung unterwarf, »ist der bestellte Loden-Anzug, zu welchem Ihnen Mr. Starke Maass genommen hat.«

Jetzt trat auch Ellen interessirt näher, die Umhüllung fiel, der Anzug kam zum Vorschein.

»Nanu!« rief Munro.

»Das ist ja unerhört!« liess sich gleichzeitig Ellen vernehmen.

Ein Sport-Reitanzug zeigte sich, aus gelben Beinkleidern, weisser Weste und rothem Fracke bestehend.

»Sagen Sie mal, Sir Munro, wollen Sie sich eigentlich über mich lustig machen?!« rief Ellen mit vor Entrüstung funkelnden Augen.

»Aber — aber — ich habe ihn doch ganz richtig bestellt,« stotterte der jetzt fassungslos gewordene Baronet, »und — und — Starke hat Ihnen doch ganz genau das Maass genommen?«

»Was ist das nur immer mit dem Maassnehmen?« fragte Ellen stutzig dagegen. »Mr. Starke hat mir nie Maass zu einem Anzuge genommen, ich wusste gar nicht, dass er einen bestellt hätte.«

»Doch,« sagte Starke, »ich taxirte Ihr Maass mit den Augen, das genügt für mich. Haben Sie, Sir Munro, solch einen Reitanzug extra bestellt?«

»I Gott bewahre! Ein Radfahrer-Anzug sollte es sein, aus hellgrauem Lodenstoff, so stand es doch auch auf dem Zettel.«

Munro zeigte in seinem ganzen Wesen eine solche Verblüffung, dass Ellen nicht an seine Schuld glauben konnte, sie fühlte sogar etwas wie Mitleid für ihn.

»Es wird einfach ein Irrthum des Geschäfts sein, mein Anzug ist an eine andere Adresse gekommen.«

Das Packpapier trug einen Zettel mit der Firma, aber nicht Sir Munro's Adresse, und dieser erklärte, das Packet sei vorgestern von einem Jungen hier abgegeben worden. Es war einfach eine Verwechselung. Dick wurde gerufen und mit dem Packete nach jenem Geschäft geschickt.

Während dessen hatte sich Starke wieder mit der Maschine beschäftigt, hob sie, drehte die Kurbeln mit der Hand, lauschte, begann die Kugellager auseinanderzuschrauben, besichtigte die Kugeln, roch daran, wischte mit dem Finger, leckte sogar am Finger, und dies war natürlich so auffällig, dass die beiden Anderen ihm erstaunt zusahen.

»Wa ist denn mit der Maschine, Mr. Starke?«

»Dachte ich's doch, mir fiel gleich der eigentümliche Ton auf. In welchem Geschäft haben Sie die Maschine gekauft und die Verbesserungen ausführen lassen?«

Wieder mit einiger Verwirrung gestand Munro, dies gar nicht zu wissen. Dick hatte Alles besorgt und bezahlt.

»Ist Ihr Diener zuverlässig?«

»Mein Dick? Selbstverständlich. Was ist denn nur aber mit dem Rade los?!«

»Haben Sie einen Feind, Sir Munro, oder kennen Sie sonst einen Menschen, der Ihnen übel will?« forschte Starke unbeirrt weiter.

»Ich habe in meinem ganzen Leben keinen Feind gehabt.«

»Oder Sie, Miss Howard, halten Sie die Dame, mit der Sie die Wette abgeschlossen haben — Lady Barrilon heisst sie wohl — für fähig, Ihnen Hindernisse in den Weg zu legen, dass Sie die Wette verlieren? In sämmtliche Kurbellager ist eine scharfe Säure gegossen worden, ich halte es für Schwefelsäure.«

»Mein Gott!« stiess Ellen hervor, Munro konnte nur ein fassungsloses Gesicht machen, und dann sahen sich die Beiden an, und wenn sie auch nichts sagten, sie verstanden sich doch.

»Dass jenes Fahrradgeschäft, Sir Munro oder sein Diener statt Oel Schwefelsäure verwendet hat, halte ich für ausgeschlossen,« fuhr Starke, sich aufrichtend, in seiner Weise fort. »Ich calculire, hier treibt ein unsichtbares Wesen sein Spiel, das uns übel will. Sir Munro hat den Portier beauftragt, ihm meine Depesche sofort nachzuschicken, und der Portier will nichts davon wissen. Hier dürfte jenes unsichtbare Wesen ebenfalls seine Hand im Spiele haben, mit Geld ist im Lande des Königs Dollar Alles zu erreichen. Und ich calculire auch, das Schneidergeschäft hat den richtigen Anzug geschickt, derselbe Geist hat ihn heimlich mit einem anderen für eine Dame ganz unmöglichen Costüm vertauscht.«

Ehe Fragen gestellt werden konnten, was denn dies Alles für einen Zweck haben könnte, das sei doch ganz sinnlos, kam Dick zurück, mit demselben rothen Reitanzug; dieser sei gar nicht in jenem Schneidergeschäft gefertigt, dagegen sei das bestellte Radfahrercostüm hier im Hotel an Sir Munro richtig abgeliefert worden. Selbst Erklärungen zu fordern, das hielt das amerikanische Geschäft nicht für nöthig, interessirte sich nicht für den Fall, sonst hätte es doch wenigstens einen vom Personal mitgeschickt; sein Geld hatte es ja auch schon bekommen.

Dick, obgleich in noch gar nichts eingeweiht, witterte schon das hier vorliegende Geheimniss; er sah seinen Herrn und die Dame sich mit scheuen Augen anblicken; man hatte einen unsichtbaren Feind gegen sich; man musste ihn entlarven, die genauesten Erkundigungen einziehen, jetzt durfte also nur noch geflüstert werden; doch bevor das Flüstern begann, nahm schon wieder Starke das Wort, mit nur wenig gedämpfter Stimme:

»Es hätte gar keinen Zweck, uns den Kopf zu zerbrechen, wie das Alles geschehen konnte, wer es gethan hat. Offenbar hat sich eine Person Zutritt zu Sir Munro's Zimmer zu verschaffen gewusst, um die dummen Streiche und Vertauschungen auszuführen. Fragen wir jetzt den Portier aus, ziehen wir Erkundigungen in dem Fahrradgeschäft ein, dürften wir die Person wohl herausfinden, dann aber werden wir sie wohl nicht zu fassen bekommen. Nein, wir wollen thun, als betrachteten wir Alles als einen Zufall, Miss Howard benutzt auch dieses Rad, ich werde die Kugellager gut reinigen, die Person soll gar nicht wissen, dass wir es bemerkt haben, und dann sollte ich mich sehr wundern, wenn der Mann, dem es daran gelegen ist, die Fahrt zu verzögern, nicht bald wieder unseren Weg kreuzt — und dann werde ich ihn packen. Uebrigens muss das ja ein erzdummer Mensch sein. Hätte er allein die Maschine zu ruiniren versucht, überhaupt nur eine List probirt, so wären wir vielleicht hineingefallen — aber gleich drei Streiche auf einmal, das ist mehr als menschlicher Verstand vertragen kann. Nein, den haben wir nicht zu fürchten.«

Mit Munro ging eine Verwandlung vor sich; er gab seine einem Geheimniss nachgrübelnde Stellung auf.

»Ihre Rathschläge sind sehr gut, Mr. Starke,« entgegnete er, »und ich meinerseits werde sie befolgen, aber trotz Ihres Scharfsinns sind Sie im Irrthum. Hier handelt es sich nicht darum, Miss Howard's Reise aufzuhalten, sondern um etwas ganz Anderes, und der Betreffende hat wohl gewusst, was er that, als er in so plumper Weise gleich dreierlei Unannehmlichkeiten herbeiführte. Um mich handelt es sich dabei, Miss Howard,« wandte er sich an diese, »gestatten Sie mir ein offenes Wort: man will uns beide auseinanderbringen. Darauf ist es abgesehen. Zuerst wurde meinem Diener die Depesche vorenthalten, damit ich nicht bei Ihrer Ankunft zugegen sein konnte. Daraufhin sollte ich Ihnen statt des Radfahrcostüms einen rothen Parforceanzug überreichen, das machte mich lächerlich, Sie erzürnt gegen mich. Und nach einigen Tagen oder schon Stunden wäre die von mir besorgte Maschine unbrauchbar gewesen. Jetzt geht mir eine Ahnung auf ...«

»Bitte verschonen Sie mich mit Ahnungen,« unterbrach ihn Ellen heftig, »bleiben wir lieber bei der Wirklichkeit. Antworten Sie auf meine Fragen. Sind Sie, mein vorausreisender Beschützer, bei meiner Ankunft zugegen gewesen oder haben Sie mit Damen Haschens gespielt?«

»Ich glaubte ...«

»Haben Sie das Packet selbst in Empfang genommen, haben Sie sich überzeugt, dass mein Anzug wirklich darin ist, haben Sie ihn in Ihrem Zimmer unter sicherem Verschluss verwahrt und gut aufgehangen, dass er nicht geknittert wird?«

»Ich meinte ...«

»Haben Sie die bestellte Maschine selbst besorgt? Haben Sie sich um Alles persönlich bekümmert? Oder haben Sie Alles Ihrem Diener überlassen?«

»Ich vermuthete, dass Dick ...«

»Wenn ich wünschte,« fuhr Ellen unbarmherzig fort, »dass mir Jemand vorausreiste, um auf jeder grösseren Station für meine Bequemlichkeit und schnelles Weiterkommen zu sorgen, so wäre ich viel besser daran, wenn ich einen Beamten von dem Reisebureau Cook und Sohn engagirte. Solch ein Mann ahnt, glaubt, meint und vermuthet nichts, sondern er kann etwas, er hat etwas gelernt, er handelt mit Entschlossenheit und Aufmerksamkeit, er spielt nicht Haschens, schlingt keine unsichtbaren Bänder um Miss Hildyard, sondern er wartet Tag und Nacht, mit offenen Augen auf mich, und wenn ich ankomme, so liegt für mich Alles tadellos bereit, und nicht, dass er das Rad von seinem Diener besorgen lässt und dass Jemand sich in sein Zimmer schleicht und Schwefelsäure hineingiesst. Sir Munro, ich bitte Sie, mir nicht mehr vorauszureisen, es ist mir nicht erwünscht, und Ihre Begleitung bringt mir überhaupt nur Schaden, wie doch jetzt bewiesen worden ist. — — Mr. Starke, bitte, kommen Sie in einer viertel Stunde doch noch einmal auf mein Zimmer.«

Nach dem erst so kalten, schneidenden, höhnischen Tone waren die letzten Worte überaus freundlich gesprochen worden, und damit war Ellen hinaus.



12. Capitel.

Ruhetage.

Sir Munro war weniger getroffen worden, als man annehmen sollte. Ruhig hatte er sich mit Vorwürfen überhäufen, sich unterbrechen und sich den Laufpass geben lassen. Was in ihm vorging, verrieth sich nur dadurch, dass er auch jetzt noch lange Zeit so regungslos dastand.

Als Ellen das Zimmer verlassen, hatte Starke sofort nach der Uhr gesehen und sich dann weiter mit der Maschine beschäftigt; er wischte die Lager und Kugeln ab und setzte Alles wieder vorläufig leicht zusammen.

»In vielen Beziehungen hat sie Recht,« sagte er nach einigen Minuten.

Da erst kam Leben in den Baronet, mit einer wilden Bewegung wandte er sich um und blickte finster auf den am Boden Knieenden.

»Was sagen Sie, Mann?« stiess er rauh hervor.

»Sie haben sich tüchtig übertölpeln lassen! Freilich konnten Sie so etwas nicht vermuthen, und schliesslich will Alles gelernt sein. Wenn Sie aber — hier fühlt sich's auch noch klebrig an — wenn Sie aber die Gunst der Dame erringen wollen, müssen Sie anders aufpassen, müssen für nichts weiter mehr Sinn haben, als nur für den Gedanken: was kann ich für sie thun, was fehlt noch hier, was fehlt noch da, womit kann ich ihr eine Freude bereiten? Na, Sie werden auch noch mehr Chancen haben, lassen Sie uns erst durch das wilde Amerika kommen, von Omaha aus brauchen Sie nicht mehr die wenig dankbare Rolle eines Quartiermachers zu spielen, da werden Sie auch schon wieder Anerkennung finden.«

Starke richtete sich auf, statt des finsteren Gesichtes sah er jetzt ein solches, auf dem sich offenes Staunen ausprägte.

»Wie? Sie selbst reden mir mit solchen Worten noch zu, meine unerwünschte Begleitung jetzt, nach dieser Begegnung, noch fortzusetzen?«

»Sie «wollen es nicht thun?« war die kalte Gegenfrage. »Dann eben nicht. Ich dachte, Sie lieben die Dame. Nun, wie ich schon sagte, ich begleite die Dame dennoch weiter. Die drei Pfund Sterling sind mir gesichert.«

»Nein, oh nein,« rief Munro. »Sie geben meinen Worten eine ganz falsche Deutung. Nun erst recht wäre ich bei Miss Howard geblieben, um mit ...... Mr. Starke, jetzt aber müssen Sie mir Ihre Hand geben, ich habe Sie vorhin beleidigt. Verzeihen Sie mir, auch der Herr muss seinen Diener um Verzeihung bitten, wenn er dem Diener Unrecht zugefügt hat — ich möchte, dass Sie mein ganzes Leben lang bei mir bleiben, als mein Freund.«

Wohl gab ihm Starke die Hand, doch ohne Zeichen von Herzlichkeit.

»Daraus wird wohl nichts werden, ich kann mich nicht mehr häuslich niederlassen, dazu ist es bei mir zu spät, ich muss wandern. Ueber das Weitere sprechen wir später, Miss Howard bleibt zwei Tage hier — vorausgesetzt, dass sie es so lange aushält.«

Starke nahm die Maschine mit hinaus. Trotz des eben gezeigten Wohlwollens und Vertrauens blieb Munro mit der grössten Bitterkeit gegen diesen Mann zurück, und das war begreiflich.

Mochte er auch keine Neigung für sie haben, oder war auch seine Diensttreue eine so grosse, dass er der sich nicht nähern zu dürfen glaubte, auf welche sein Herr einen gewissen Anspruch hatte — Ellen hatte sich jedenfalls in ihn verliebt, den ehemaligen Bevorzugten ihres Herzens einfach bei Seite gestellt.

Gott Amor gefällt sich eben in Launen, die Liebe spottet aller Berechnung. Nun brauchen bloss noch aussergewöhnliche Verhältnisse dazuzukommen, und das Unglück ist fertig. Denn ein Unglück giebt's gewöhnlich dabei. Oben in idealer Höhe, zwischen den Wolken, kann sich die nüchternste, sittsamste Frau plötzlich in den hässlichsten Luftschiffer verlieben, dem sie auf der Erde mit Abscheu ausgewichen wäre, ebenso sind Gebirgsführer, Wildschützen und Banditen weiblichen Herzen manchmal recht gefährlich, die Gelegenheit muss nur kommen, und besonders solch ein roher, tabakskauender Matrose kann Geschichten erzählen, die ihm auf Passagierschiffen passirt sind; Alles stürzt und fällt übereinander in dem vom Sturm hin und her geschleuderten Schiffe, der sonst so elegante, ritterliche Salonlöwe windet sich in seiner Angst, ungewaschen, ungekämmt, unrasirt — nur der Matrose steht in lächelnder Erhabenheit und blickt verächtlich auf die jammernden Landherrchen, und da wird eben er zum bezaubernden Helden.

So ist es hier gekommen, sagte sich Munro. Nein, so schnell wollte er nicht weichen, und wenn Starke geglaubt hatte, er, Munro, wolle sich nun verabschieden, so konnte sich auch Starke täuschen. »Ich bleibe, um mit Ihnen zu ringen,« hatte er vorhin sagen wollen, den Satz aber nicht vollendet.

Im Uebrigen war das hier einmal ein ganz, ganz eigentümlicher Fall. Munro empfand es, und er wusste nicht, ob er lachen oder sich ärgern oder sich schämen sollte. Gewöhnlich halten doch solche Leute, welche einige Ähnlichkeit mit Glücksrittern haben, ihre zufällig gemachte Beute fest, und dieser Mann munterte den verschmähten Liebhaber auf, nicht gleich die Flinte in's Korn zu werfen, ja, deutete ihm an, er wolle ihm behülflich sein, dass er das Mädchen doch noch bekäme. Hiess das nicht geradezu: nimm Du sie, ich mag sie nicht?

Munro fühlte sich äusserst unangenehm berührt und nur der Gedanke tröstete ihn etwas, dass er auch dann, wenn Starke wirklich auf die Liebschaft eingegangen wäre, nicht von Ellen gelassen hätte, dann erst recht nicht, eben weil er sie aufrichtig liebte. Denn ein gutes Ende kann so etwas nie nehmen; der Wahn ist kurz, die Reu ist lang.

Und Munro hätte einen Rath gewusst, schon vorhin war ihm undeutlich ein Geschichtchen durch den Kopf gegangen.

Da hatte sich vor einiger Zeit die einzige Tochter eines englischen Lords in den bildhübschen Reitknecht und in seinen schneidigen Schnurrbart sterblich verliebt. Es half Alles nichts, keine Vorstellungen, keine Reisen, Niemand konnte den Reitknecht aus dem schwärmerischen Herzen verdrängen. »Papa, ich will den Johann heirathen, ich muss den Johann heirathen, oder ich ....« Was sollte der arme Papa thun? Das einzige Kind, und der Lord war kein solcher Tyrann, wie er immer im Buche steht. Aber der Papa sass auch im Parlament und hatte schon manchen guten Rath gegeben, wie man eine ganze Nation über's Ohr haut. Ein eigentlicher Zwang zur Wiederherstellung der Ehre lag nicht vor, das wurde herausgebracht. »Gut, Du sollst den Johann haben, mein Kind.« Verwandte und Bekannte werden eingeladen und instruirt, Johann bekommt Frack und Brillantknöpfe, nun sitzt der bildschöne Reitknecht mit seinem steifgewichsten Schnurrbarte zwischen Herzögen, Lords und Baronets und deren Damen, weiss nicht, wohin er blicken soll, wohin er seine grossen rothen Hände stecken soll, er tappst und stottert, schüttet seiner Braut und der anderen Nachbarin eine Schüssel nach der anderen in den Schooss, er schwitzt Todesangst, nun soll er gar noch auf den Toast antworten, er giesst ein Glas nach dem anderen hinter — und während Johann noch seinen Bombenrausch ausschläft, folgt schon der zweite Act: »Papa, schicke den Kerl weg, ich kann den ordinären Menschen nicht mehr sehen!«

Starke der Landstreicher war auch ein Held in seiner Art, sonst aber doch der deutsche Bauernsohn, und wenn es Munro nun geschickt ........ Munro's Gedankengang wurde durch ein Anklopfen unterbrochen, und auf seine Aufforderung trat Starke ein, zwei Minuten später, nachdem er ihn verlassen.

»Ich habe eine Frage vergessen. Nehmen Sie heute Abend am Dinner Theil?«

»Ich weiss noch nicht. Warum?«

»Weil ich mir die Gesichter der Hotelgäste ansehen möchte, und bei der Abendtafel hat man die einzige Hoffnung, sie alle zusammen zu sehen.«

»Ja, aber, warum soll ich dabei sein oder nicht dabei sein?«

»Wenn Sie an der Tafel sitzen, schickt es sich nicht für mich ....«

»Ach, machen Sie doch keine solchen Geschichten. Es soll mich freuen, wenn wir heute Abend das Dinner zusammen einnehmen.«

Starke begab sich in sein Zimmer zurück, welches er nicht zu verschliessen brauchte, denn auf dem Sopha lag Hassan; nur dass wegen der schmutzigen Füsse der Gummimantel unter ihm ausgebreitet war. Er wusch sich, reinigte seinen Anzug oberflächlich, blickte dabei wiederholt nach der Uhr, und mit einem Male ging er stracks hinaus und öffnete, ohne anzuklopfen, die nächste Thür.

Ein jungfräuliches Kreischen — Ellen befand sich im aller-, allertiefsten Negligé und hatte die Thür nicht zugeriegelt. Starke machte sie wieder zu, ging hinüber und setzte das Abwaschen seines Lederanzugs fort.

Nach zehn Minuten erscholl irgendwo dreimal eine elektrische Klingel. Starke blickte nach dem Placate neben der Thür: das Zimmermädchen. Bald kam ein leichter Schritt, Starke lauschte. Die Gerufene betrat Ellen's Zimmer; Starke schien nicht viel auf allgemeine Anstandsregeln zu geben, er trat näher an die andere Thür, welche verschlossen und mit Möbeln verrammelt war, und legte sein Ohr daran.

Das Stubenmädchen ging wieder, und Starke vollendete sein Reinigungswerk.

»Dann kommst du daran,« sagte er zu Hassan und klopfte gegen die Verbindungsthür.

»Wer klopft?« erklang es ziemlich deutlich.

»Curt Starke. Kann ich zu Ihnen hinüberkommen? Auch ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

»Kommen Sie,« sagte Ellen nach einer kleinen Pause

Als Starke auf dem Corridor die Hand an die Klinke legte, wurde innen der Riegel zurückgeschoben, obgleich das Bett, in welchem Ellen bis an die Nase vergraben lag, weit entfernt davon stand.

»Ich bin ausser mir ....«

»Ich nicht, Sie haben mir 6 Minuten nach 8 Uhr gesagt, ich soll in einer Viertelstunde zu Ihnen kommen, und ich war pünktlich, sonst hätte ich angeklopft, oder Sie hätten zuriegeln können. Ausserdem befinden wir uns auf einer Reise um die Erde — wenn Ihnen nun einmal etwas passirt, würden Sie sich mir nicht wie einem Arzte anvertrauen? — Sie wünschen nur eine Portion Thee?«

Er wusste doch immer den richtigen Ton zu treffen; Ellen's Nasenspitze kam kühn zum Vorschein.

»Sie sind wirklich allwissend ....«

»Nein, nur feinhörig, ich habe es drüben durch die Thür gehört. Das Frauenzimmer hat Sie niederträchtig behandelt, und es wird auch nichts auf dem Zimmer servirt, nur an der Krippe wird vorgesteckt. Den amerikanischen Dienstboten mit ihrer Achtstundenarbeit geht es zu gut, aber man muss sie nur zu nehmen wissen; schon etwas Freundlichkeit, die sie gar nicht kennen, thut viel, und ich bin hier auch bekannt. Wollen Sie also auch nur Thee? Sonst nichts, nichts essen?«

»Nein, nur Thee, und dann schlafen, schlafen. Ach, Mr. Starke, Sie sind so gut.«

»Sie werden den Thee bekommen, und dann wollte ich Ihnen noch sagen, dass ich für einen anderen Anzug sorgen werde; das Maass habe ich noch im Kopfe; diesen Stiefel nehme ich mit, um danach leichte Mocassins fertigen zu lassen, und auch das Andere, wie z. B. einen Gummimantel, werde ich kaufen.«

Ohne Antwort abzuwarten, ohne Gruss entfernte er sich, den Stiefel mitnehmend, und bald darauf erschien das Zimmermädchen wieder, nicht nur fertigen Thee, sondern auch eine Spiritusmaschine zum Nachbereiten bringend. Starke musste sehr, sehr freundlich mit dem Mädchen gewesen sein; die pompös gekleidete Bettmacherin, wenigstens drei Diamantringe an den Fingern — und welches Dienstmädchen in Amerika trägt bei der Arbeit nicht wenigstens einen Diamantring! — welche die Dame vorhin als eine unverschämte Null behandelt hatte, war plötzlich gegen Ellen wie umgewandelt, fragte sogar, ob sie sonst noch etwas wünsche, nicht etwas zu speisen. Dabei ist bei solchen Geistern nicht einmal mit Silberdollars etwas auszurichten.

Dann war Ellen allein. Sie schob den Mechanismus des Riegels vor, trank einen Schluck Thee, wollte sich zurechtlegen und war mit einem Rucke eingeschlafen.

Plötzlich war es ihr, obgleich sie noch fest schlief, als ob sie von einer Hand aufgezogen würde.

»Ach Mr. Starke, ich bin noch so müde,« murmelte sie.

»Es ist nun vier, wir müssen den Stundenplan einhalten,« sagte aber Starke und zog und rüttelte weiter.

Schlaftrunken richtete sich Ellen empor, rieb sich seufzend die Augen und — sah sich in dem Hotelzimmer und im Bette. Von Starke keine Spur, und dort stand die Theemaschine.

Gott sei Dank, es war nur ein Traum gewesen! Ein Blick nach der Uhr zeigte ihr, dass es Punkt vier war. Merkwürdig, was die Gewohnheit thut, sie glaubte ganz deutlich Starke's Stimme gehört und seine Hand verspürt zu haben.

Vorhin hatte sie gar nicht einschlafen, sondern den Thee trinken wollen, aber dieser war nun kalt geworden, sie fühlte sich so müde, und dann dieses mollige Bewusstsein, anstatt im strömenden Regen durch den Morast radeln zu müssen, jetzt im weichen Bett liegen zu können, sie hatte Ferien, und so wickelte sie sich behaglich wieder in die Decken, mit dem Vorsatze, einmal bis morgen früh durchzuschlafen. Aber diesmal wollte es mit dem Einschlafen gar nichts werden. Vergebens änderte Ellen die Lage und wälzte sich hin und her.

Mit einen Male sass Ellen auf dem Rade und fuhr auf durchweichtem Wege, sie trat mit aller Anstrengung in die Pedale, sie mühte sich ab und mühte sich ab und kam doch nicht vorwärts in dem zähen Schlamm und gegen den starken Wind, es war eine fürchterliche Tortur — bis sie in Schweiss gebadet erwachte.

Wieder ein Gottseidank! Sie hatte nur geträumt. Aber was war das? Eine halbe Stunde glaubte sie vorhin schlaflos dagelegen zu haben, im Traume hatte sie wenigstens drei Stunden geradelt, und ihre Uhr zeigte doch erst 10 Minuten nach vier, und die schlichte Nickeluhr ging ausgezeichnet.

Ellen rollte sich auf die andere Seite, schlief wieder ein, um abermals über Berg und Thal zu radeln, aber im Traume mit grösserer Anstrengung als in der Wirklichkeit, sie trat und trat und kam doch nicht vorwärts — und als sie vor Erschöpfung aufwachte, d. h. vor Todesangst, so wie jemand im Traume unter Wasser zu ersticken meint, da war der Zeiger der Uhr wieder nur 5 Minuten vorwärts gerückt, und dabei hatte sie nicht nur im Traume mit den Füssen die Kurbeln gedreht, sondern sie hatte die ganze Decke herunter getreten.

Das ist ja seltsam, dachte Ellen, ich fahre doch sonst nie im Traume Rad.

Doch, einmal hatte sie es schon erlebt, als sie das Radfahren gelernt und die erste, strapaziöse Wandertour gemacht hatte, da hatte sie auch eine sehr unruhige Nacht gehabt. Aber dessen entsann sie sich nicht mehr.

Und das wiederholte sich wohl noch ein Dutzend Mal innerhalb einer Stunde. Sie schlief ein vor Müdigkeit, aber nur, um sich auf dem Rade abzumühen, und wenn sie unter Todesangstschweiss erwachte, so hatte sie stets die Decke heruntergetreten.

»Das ist grässlich!« ächzte Ellen; sie stöhnte noch weiter, bis sie endlich ihre Schlafversuche aufgab. Sie zündete die Spiritusmaschine an, bereitete sich Thee, trank, wickelte sich wieder in die Decken, und dann wurde es ihr in dem durch dichte Vorhänge verdunkelten Zimmer recht behaglich zu Muthe. Sie hatte genug Gedanken nachzuhängen, heiteren und trüben, doch die erfreulicheren wogen vor. Nur den Schlaf musste sie fernhalten, sonst fing gleich wieder die martervolle Traumtour auf dem Rade an.

Jetzt, da sie sich so behaglich fühlte, that ihr Sir Munro doch leid. Sie bereute, ihn so hart angelassen und so schnöde abgewiesen zu haben. Eigentlich war Robin doch ein so guter, harmloser Mensch, mit dem es sich zusammen wohl glücklich leben lassen musste. Aber was half's? Sie hatten sich schon damals, als er zum zweiten Male um sie anhielt, in Unfrieden von einander getrennt. Und ausserdem liebte sie einen Anderen. Was sollte nun aus dem armen Robin werden? Jetzt im Bette beschloss Ellen, ihm in aller Freundlichkeit zu sagen, dass sie niemals die Seine werden könne, er solle sich trösten, seine Liebe einer Anderen, einer Würdigeren schenken.

In zwei Stunden gehen durch ein menschliches Gehirn zu viel Gedanken, als dass man ihnen folgen könnte, und nun gar noch, wenn es das Gehirn eines im Bett liegenden, schwärmerischen und romantisch angehauchten Mädchens ist. Da würde ja schon die Niederschreibung des Gedankenganges einer einzigen Stunde eine ganze Reihe von Foliobänden ausfüllen. Also sei dies nicht versucht. Natürlich spielte Curt Starke die Hauptrolle in den wachen Träumen, dann kam wieder Robin Munro daran, dann wieder Er, dann Lady Judith, dann wieder Er, dann wieder Munro, dann wieder Er, dann das Stubenmädchen, dann wieder Er, dann zu Hause der Kanarienvogel, dann wieder Er — — und so fort und fort, in infinitium, nein, bis um 7 Uhr die Hôtelglocke zur Fütterung an die Dinnertafel rief und unter diesen lieblichen Glockentönen entschlummerte Ellen sanft, jetzt von keinem Traume mehr gestört, denn jetzt gestattete ja ihr Stundenplan die Ruhe.

Bei diesem Klingelsignal verliess Sir Munro sein Zimmer, und im Augenblick bewunderte er den Riesen, welcher dort zwischen hungrigen Pygmäen den vom Abendsonnenschein erfüllten Corridor heraufgewandelt kam. Es musste ein neuer Gast sein, Munro hatte ihn noch nicht im Hotel gesehen. Welch eine colossale Gestalt, welche Eleganz aber auch dabei; der wusste seinen schwarzen Gesellschaftsanzug zu tragen, wie verschwanden die anderen nebenhertrippelnden Herrlein vor diesem Gange und vor dieser Würde, und die amerikanischen Dämlein fingen schon jetzt an zu seufzen. Auffallend war die tief braune, durch die schneeweisse Wäsche noch mehr hervorgehobene Farbe seines Gesichtes, aber auch wieder passend zum Ganzen. Jedenfalls dachte Munro, solch ein amerikanischer Landwirth, gegen dessen Grundbesitz manch souveränes Fürstenthum im Verhältniss nur ein paar Quadratmeterchen bedeuten, freier und mächtiger herrschend als mancher Despot.

Nur für zehn Schritte hatte Munro Zeit zu diesen Gedanken gehabt, denn dann stand der imposante Gentleman vor ihm.

»Nicht auffallend beobachten, überlassen Sie mir Alles,« sagte er leise.

»Mis—ter— Star—ke,« staunte Munro und behielt den Mund offen.

Dann sagte er gar nichts mehr, wusste später nichts mehr, was er eigentlich zum Dinner gegessen hatte, er wurde ganz von dem Gedanken beherrscht, dass dies kein Johann sei, und dass er sich daher nicht an jenes Beispiel des klugen Papas lehnen konnte. Hier war Johann Herr der Tafel.

Erst als der Tisch abgeräumt, der Teller, von dem man noch ass, einfach fortgenommen und Demjenigen, der nicht gleich aufstand, womöglich der Stuhl unter dem Leibe fortgezogen wurde, kam Munro draussen wieder zum Bewusstsein.

»Haben Sie eine Beobachtung gemacht?«

»Ich glaube, ja. Aber gewiss kann ich das jetzt noch nicht sagen. Ich habe mir alle Gesichter gemerkt und wenn mir eines davon einmal aufdringlich in den Weg kommt, dann gehört es dem Betreffenden.«

Sie begaben sich nach Munro's Zimmer, dort sollte die Unterredung stattfinden.

»Was wird Miss Howard jetzt thun?« fragte Munro auf dem Corridor. «Sollte sie nicht speisen wollen?«

»Nein, sie wird jetzt bis morgen früh ein halb vier Uhr schlafen.«

»Woher wissen Sie denn das so genau?« lächelte der Baronet.

»Weil es so in ihrem Stundenplane steht.«

Und so war es. Nach einem tiefen, traumlosen Schlafe erwachte Ellen, oder vielmehr wurde sie geweckt, wieder zog sie eine unsichtbare Gewalt empor, wieder glaubte sie ganz deutlich Starke's Stimme zu vernehmen.

»Stehen Sie auf, Miss Howard, es ist ein halb vier Uhr.«

»Ach, ich bin noch so müde,« klagte Ellen, »nur noch eine halbe Stunde.«

»Nein, der Stundenplan muss eingehalten werden, das hilft Alles nichts.«

»Ach — ach — ach! und ich bin noch so müde — und so hungrig.«

Schlaftrunken erhob sich Ellen, nun hatte Starke ja das Zimmer verlassen, sie stiess an den Tisch, fand gleich die auf der bestimmten Ecke liegenden Streichhölzer, zündete Licht an, sah die Theemaschine, noch anderes, was nicht zu ihrer Ansicht passte — und sie war bei Besinnung.

»Wieder nur geträumt! Das ist doch seltsam!«

Obgleich sie einen nagenden Hunger verspürte — hatte sie doch gestern keinen Bissen gegessen, weil der sie dazu nöthigende Starke gefehlt hatte — so wurde dieses Hungergefühl doch auch jetzt von dem glücklichen Bewusstsein überwogen, nun einmal richtig ausschlafen zu können, und so legte sie sich wieder hin — um sich sofort im Traume auf dem Rade abzuarbeiten.

Mehrmals erwachte sie, mehrmals schlief sie wieder ein, im Laufe von nur einer viertel Stunde, immer wieder der qualvolle Traum, bis sie einsah, dass sie diesem Verhängniss nicht entgehen konnte. Der Stundenplan verlangte eben, dass sie ein halb vier Uhr aufstehen und das Rad besteigen sollte, sie hatte sich schon daran gewöhnt, und that sie es nicht in Wirklichkeit, so musste sie es im Traume thun, und zwar strampelte sie dabei wirklich mit den Füssen, bis sie die Decke herunter hatte und durch die Kälte erwachte.

Sie stand auf und zog das vor Schmutz starrende Lodencostüm an. Dafür hätte Starke eigentlich auch sorgen können, dass sie etwas Anderes anzuziehen hatte, gleich ein richtiges Kleid. Ellen besass überhaupt wirklich Sehnsucht nach einem richtigen Frauenkleide. Wie sie den einen Stiefel angeschnürt hatte, merkte sie erst, dass ja nur dieser eine vorhanden war! Und dieser Hunger und nichts zu essen! Aber Ellen lachte nur fröhlich Das elektrische Licht war abgestellt, so musste sie sich mit dem Stearinlicht behelfen. Sie setzte sich auf das Sopha vor dem Tisch, Schreibgeräth war vorhanden, und das Mädchen in dem schmutzbedeckten Radfahrer-Anzug, nur an einem Fusse einen Stiefel, begann mitten in der Nacht den Entwurf zu einem Aufsatze über psychologische Physiologie zuschreiben, dann trug sie ihr während der Regentage versäumtes Tagebuch nach, dann erinnerte sie sich der Spiritusmaschine, und wie das Theewasser summte, da überkam sie wieder ein unbeschreibliches, urwüchsiges Behagen, sie war ganz Seligkeit, warum wusste sie selbst nicht; sie betrachtete sich im Spiegel, ihren Anzug, ihren einen Stiefel und am anderen Fusse den Strumpf, sie entdeckte auch in der Ferse ein grosses Loch — das war Miss Howard, die vielfache Millionärin, in einem vornehmen Hôtel, mit nur einem Stiefel und zerrissenen Strümpfen, und so weiter — und da brach sie in ein Gelächter aus, dass das ganze Hôtel davon schallen musste.

»Sind Sie auf, Miss Howard?« fragte es drüben.

»Sie haben mich ja geweckt. Kommen Sie herüber, Mr. Starke, ich will Ihnen etwas erzählen und zeigen.«

Starke kam, ausser einer Tabaksatmosphäre auch ein recht elegantes Strassenkleid, Damenwäsche und ein Paar niedliche Schuhe mitbringend.

»Wo haben Sie denn das her?!« staunte Ellen.

»Hat mir Ihr Zimmermädchen zur Verfügung gestellt, unaufgefordert, falls die um die Erde fahrende Engländerin heute Damenkleider zum Ausgehen wünsche. Ihre Wette und Aufenthalt hier ist bekannt geworden, man wird Sie heute mit Bewunderung und neugierigen Fragen überschütten. Gestern habe ich einen Ihnen passenden Anzug fertig gekauft, desgleichen alles Andere, worüber wir sprachen, die Mocassins und Gamaschen sind ebenfalls schon fertig, Alles liegt drüben bei mir. Sie schulden mir im Ganzen 27 Dollars und 75 Cents, welche ich ausgelegt habe, hier ist die Rechnung. Wollen Sie dieselbe nicht gleich begleichen? Wegen des neuen Rades müssen Sie sich mit Sir Munro auseinandersetzen.«

Er präsentirte die Rechnung, auf die Bezahlung wartend. Das war ein seltsamer Morgengruss, noch in finsterer Nacht. Aber Ellen war schon an solche Seltsamkeiten gewöhnt. Was machte der sich auch daraus, ob es Mittag oder Mitternacht war. Ellen bezahlte und erzählte lachend von ihren Traumabenteuern, zeigte ihren zerrissenen Strumpf und klagte zuletzt über ihren furchtbaren Hunger.

»Sehen Sie, da kommt es schon,« sagte Starke. »Warten Sie noch 100 Tage, dann werden Sie auch nicht mehr in einem Bett schlafen können, so wenig wie ich, und haben später Ihre Last, sich wieder daran zu gewöhnen. Nein, das thut mir leid, nicht einmal einen Schiffszwieback kann ich Ihnen anbieten. Bis um acht müssen Sie die erste Hungerperiode durchmachen, dann öffnet sich der Coffee-Room, da giebt es Gebäck, um zehn Uhr wird der Grillroom aufgemacht, da können Sie Alles am Feuer rösten lassen, was auf dem Büffet steht, und wenn Sie aus dem Grillroom geworfen werden, können Sie in den Lunchroom stürzen, und so geht es den ganzen Tag weiter, immer wird man aus einem Speiseraum in den anderen geworfen; man muss sich nur geduldig werfen lassen, Alles für drei Dollars den Tag, und Trinkgelder giebt's hier nicht.«

Er hatte Kleider und Wäsche, woran nichts fehlte, über Stühle gehangen und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

»Ja, was in aller Welt soll ich denn nun die ganzen drei Stunden anfangen — und mit dem Hunger?« sagte Ellen kleinlaut, und Starke blieb an der Thür stehen.

»Das müssen Sie wissen. Sie haben geschrieben, wie ich sehe. Schreiben Sie weiter. Oder wollen Sie spazieren gehen? Der Tag bricht bald an, Sie werden auch schon ein Restaurant offen finden, wenn auch nicht gerade der feinsten Art. Ich begleite Sie, wenn Sie wünschen, ich stehe überhaupt jeden Augenblick zu Ihrer Verfügung, wenn Sie mich nicht für eine gewisse Zeit beurlauben.«

»Zunächst will ich das Kleid anprobiren,« seufzte Ellen, und Starke ging.

Es fehlte ihr etwas, sie wusste nicht recht was, wenn sie von dem Hunger absah. Ehe sie sich wieder anschickte, Toilette zu machen, zog sie die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster. Schon in der Dämmerung erkannte sie, dass es ein herrlicher Tag zu werden versprach, so frisch, so klar, so windstill; am wolkenlosen Himmel erblassten die Sterne, der östliche Horizont färbte sich mit einem leichten Roth, plötzlich überall ein Zwitschern und Jubiliren, und plötzlich auch wusste Ellen, was ihr fehlte. Mit stürmischen Schritten rannte sie hinüber.

»Starke, wollen wir losfahren?« rief sie in den Tabaksnebel hinein.

»Wenn Sie befehlen,« erklang es aus dem undurchsichtigen Rauch zurück.

»Jawohl, ich befehle,« lachte Ellen. »Ich fühle mich so stark, so kräftig, ich fühle eine ganze Armee in meiner Faust — in meinen Beinen wollte ich sagen — pardon — ich halte es nicht mehr aus, ich muss fort — die Glieder sind mir zwar noch ein bischen steif, aber das wird gleich vorbei sein — hinaus muss ich, jawohl, aufs Rad — geben Sie mir den Anzug her!«

Immer lachend hatte sie es gerufen, und wie sich der Tabaksnebel lichtete, den Starke wahrscheinlich der Hôtelluft vorzog, stand jener vor ihr, ihr die Sachen in die Arme drückend.

»Sir Munro hat Ihnen heute Indianopolis zeigen wollen.«

»Was kümmert mich Indianopolis. Wo sind die Stiefel?«

»Er hoffte, heute Abend mit Ihnen in's Theater gehen zu können.«

»Er mag allein gehen, ich mache selber Theater. Wollen Sie oder wollen Sie nicht.«

»Ich bin jeden Augenblick bereit. Machen Sie, dass Sie bis um 6 Uhr fertig werden, sonst haben wir eine volle ungenossene Tagespension mehr zu zahlen.«

»Bis um 6? In einer Stande soll ich fertig sein? In fünf Minuten!«

Damit eilte sie zurück, hielt sich gar nicht mit Waschen und Kämmen auf, schlüpfte im Scheine des letzten Stearinstümpfchens in den neuen Anzug, und Starke hätte als Schneider kein Metermaass gebraucht, er sass wie angegossen, sie behielt auch die zerrissenen Strümpfe an, fuhr in die Mocassins, wickelte die Gamaschen um.

»Fertig!« schrie sie schon nach drei Minuten. »Kommen Sie herüber, helfen Sie mir das andere Zeug einpacken, dass wir fortkommen.«

Dies that denn auch Starke, welcher die beiden Räder und den Hund herüber brachte.

»Schreiben Sie ein freundliches Danke für das Zimmermädchen,« sagte er, »das hängt sie sich unter Glas und Rahmen, und wenn es Ihnen nicht darauf ankommt, so legen Sie noch einen Goldadler darauf. Ich habe in meinem Zimmer ebenfalls einiges hinterlassen, auch eine Zeile an Sir Munro.«

Sie schritten die Treppe hinab, Starke die Räder tragend. In der Portierloge befand sich in der Nacht stets eine wachende Person; durch Abgabe der mit Nummern versehenen Zimmerschlüssel legitimirten sich die Gäste; gegen Bezahlung von je drei Dollars öffnete sich ihnen das Thor. Sie traten im Zwielicht des neuen Tages auf die einsame Strasse.

Zwei Tage hatte Ellen der Ruhe pflegen wollen, den gestrigen gar nicht mitgerechnet, sie hatte geglaubt, es nöthig zu haben — und jetzt fuhr sie, ihrem rebellisch knurrenden Magen zum Trotz, jubelnd in den lachenden Morgen hinein. Fort, fort von diesem Hôtel, in dem man bei allem Ueberflusse verhungern kann wie in der Wüste!

Ihre kräftige Natur, verbunden mit geistiger Energie, hatte die Krisis leichter überstanden, als Starke erwartet.



13. Capitel.

Mister Schade.

Drei Tage später, fünfzehn englische Meilen vor Springfield.

Links ein Wald, rechts Kartoffeläcker, und dazwischen die sich über das hügelige Terrain ziehende Landstrasse, an welcher im Waldesschatten auf einem Baumstumpf ein kleiner, dicker Mann sass, mit carrirten Pumphosen, carrirter Weste und Jacke, carrirten Strümpfen und carrirter Mütze, uncarrirt nur die zu diesem schottischen Costüm unvermeidlichen Schnürstiefel; vorn am Riemen ein mit Leder überzogener Kasten, in der Hand ein abgeschnittenes Stöckchen, an dem er ein weisses Taschentuch befestigt hatte.

Im Gegensatz zu dem rot, grün und blau carrirten Anzuge war das Gesicht des kleinen Dicken ein so gewöhnliches, dass es nicht beschrieben zu werden braucht. Höchstens die abnorm runden Eulenaugen und die grossen, weitabstehenden Ohren verdienen noch eine Erwähnung.

Er malte mit dem Stöckchen im Sand, verscheuchte mit dem Taschentuche die aufdringlichen Fliegen, welche es auf die schönen, grossen Ohren abgesehen hatten, spähte manchmal die Strasse hinauf, und wenn er auch keine Aehnlichkeit mit einem Tyrannenbefreier hatte, so schien sein ganzes Verhalten doch zu sagen: durch diese hohle Gasse muss er kommen.

Ein Ochsenwagen kam, und Tell liess ihn passiren, ohne nach dem Ochsen oder nach seinem Lenker den Bolzen entsendet zu haben. Ein Radfahrer sauste vorüber und wurde auch nicht erschossen. Ein Fussgänger blieb unbeachtet. Da aber ........

Dort drüben auf dem Kartoffelfelde hackte ein junges Mädchen, ein Mann kam zu ihr, zeigte unter heftiger Gesticulation eine Flasche vor und gab dem Mädchen eins hinter die Ohren. Vielleicht hatte sie die Whiskyflasche während der Abwesenheit des Vaters ausgetrunken, jedenfalls musste sie die Maulschelle verdient haben, denn sie hackte ruhig weiter, und damit war die Sache erledigt.

Aber der Mann hatte das Mädchen geschlagen, das schien dem kleinen Carrirten ein empörendes Verbrechen zu sein, blitzschnell, doch ohne aufzustehen, griff er in die Brusttasche und — riss einen Bleistift und ein dickes Notizbuch heraus. Erst kratzte er sich mit dem Bleistift etwas die Nase und dann schrieb er:

»Springfield, den 23. September. Eine grässliche Blutthat hat die Gemüther der ganzen Stadt nebst sämmtlicher Umgegend erschüttert. Starke Männer weinen, zarte Frauenherzen verbluten sich langsam. Alice Butterfly, eine holde Jungfrau von achtzehn Lenzen, in ganz Illinois bekannt und beliebt durch ihren sittsamen Fleiss, hackte auf dem Felde Kartoffeln. Wie sie einmal, erschöpft durch die ungewohnte Arbeit, für einen Augenblick kraftlos die zarten Arme sinken liess, stürzte sich sofort ihr eigener Vater, ein notorischer Trunkenbold, auf sie, schlug sie mit der Hacke zu Boden, trat auf sie, spuckte auf sie und ruhte so nicht eher, als bis Alice Butterfly unter seinen Füssen ihre unschuldige Seele ausgehaucht hatte. Hierauf schleifte Harry Butterfly — dies der Name des grausamen Wütherichs — sein Opfer an den Haaren nach dem Kaskaskia, dessen trübes Wasser seine Blutthat mit einem undurchdringlichen Schleier für immer verhüllen sollte. Allein der scheussliche Vorgang war beobachtet worden, der unmenschliche Vater wurde in das Gefängniss geliefert, nachdem ihn vorher die empörte Bevölkerung zu Tode gelyncht hatte. Nach vier Stunden konnte die Leiche des unglücklichen Mädchens vom Grunde des Kaskaskias aufgefischt werden. Leider blieben alle Wiederbelebungsversuche erfolglos.«

Der Schreiber kratzte sich wieder mit demBleistift überlegend die Nase und fuhr dann fort:

»24. September. Zu unserem Bericht über die Mordthat bei Springfield bemerken wir, dass es nicht Springfield im Staate Illinois., U. S. war, sondern die Ansiedelung Wurrenup in Westaustralien. Das unglückliche Mädchen hiess nicht Alice Butterfly, sondern Moritz Schmidt, ein unbescholtener Bäckerjunge deutscher Abstammung, welcher sich nach redlich gethaner Arbeit gebadet hat. Ob sein Vater noch lebt, konnten wir nicht in Erfahrung bringen. In Springfield selbst haben sich die Gemüther wieder beruhigt, weil dort gar nichts von jener abscheulichen That bekannt ist. Dagegen soll in Springfield gestern Nacht von Bubenhänden eine Fensterscheibe aus Versehen eingeschlagen worden sein. Sonst haben wir nichts mehr hinzuzufügen.«

Der kleine Dicke steckte das Notizbuch bedachtsam wieder ein, dann aber schnellte er lebhaft auf — dort, von Osten, kamen des Weges zwei Radfahrer daher, zur Seite ein grosser gelber Hund. In der Mitte der Strasse stehend, liess der Carrirte sie bis auf dreissig Schritt herankommen, dann schwenkte er den Stock mit der weissen Flagge.

»Halt, absteigen, hier wird geschossen!« schrie er ihnen entgegen.

Den Weltfahrern blieb nichts anderes übrig, als schnell zu bremsen und abzuspringen. Wenn die Beschaffenheit des Terrains auch nicht das Vorhandensein eines Steinbruchs vermuthen liess, so konnte doch in anderer Weise geschossen werden. In Amerika benutzt man auch Schiessbaumwolle, um Bäume zum Sturz zu bringen.

Sie standen, die Räder haltend, dicht vor dem kleinen Carrirten.

»Wo, was und womit wird denn hier geschossen?« fragte Starke.

»Hiermit,« entgegnete jener, an den Lederkasten klopfend, trat auf Ellen zu und hielt ihr den Kasten dicht vor das Gesicht.

»Bitte machen Sie ein etwas intelligentes Gesicht ....«

Knacks, ging es, Ellen war photographirt, der Kasten fiel an dem Riemen herab, der Kleine legte einen Finger an die Mütze und schnellte ihn nach vorn.

»Danke, never mind

»Das ist aber doch stark!« konnte Ellen nur hervorbringen. Starke lehnte in aller Gemüthsruhe auf seiner Maschine.

»Adam Noah Abraham Isaac Jacob,« fuhr der Carrirte fort, zum leicht begreiflichen Staunen Ellen's, dabei eine Brieftasche ziehend, »Berichterstatter vom »New-Yorker Spion,« hier meine Karte.«

Ellen nahm die dargereichte Karte.

»Starke!« Der Gerufene trat heran, Ellen zeigte ihm die Karte.

»Adam Noah Abraham Isaac Jacob, Berichterstatter des New-Yorker Spion« — es stimmte.

»Dessen Eltern haben sich auch keinen schlechten Witz erlaubt,« meinte Starke trocken. »Mr. Jacob?«

»Ist meine Name. Mr. Curt Starke aus Nowawes? Never mind. Miss Ellen Howard aus London? Never mind. Gestatten Sie, dass ich Sie interviewe.«

Notizbuch und Bleistift kamen zum Vorschein. Ellen blickte nach Starke.

»Lassen Sie sich interviewen, einmal müssen Sie doch daran glauben«, sagte dieser.

Das Ausfragen begann. Name, wo geboren, wann; der Bleistift notirte.

»Haben Sie noch andere Vornamen als Ellen?«

»Isabel Harriet.«

»Isabel Harriet Ellen. Sonst keine mehr?«

»Nein.«

»Schade. Verheirathet?«

»Nein.«

»Schade. Lebt Ihr Mann noch?«

»Ich bin unverheirathet, sagte ich Ihnen doch.«

»Unverheirathet? Schade. Haben Sie Kinder?«

»Herr Gott!« rief Ellen entrüstet. »Sagen Sie 'mal, Mr. Jacob, sind Sie ....«

»Lassen Sie ihn nur,« fiel ihr Starke gleichmüthig in's Wort, »das ist ein degenerirter Reporter, bringen Sie ihn doch nicht um seine Centzeilen.«

Der degenerirte Reporter war für nichts empfänglich, er schrieb und Ellen lachte.

»Wieviel Kinder?«

»Ich habe gar keine Kinder, Sir!«

»Also keine. Schade. So, das wäre das eine. Sind Sie einmal krank gewesen?«

»Nein.«

»Schade,« sagte der Schreibende. »Wirklich niemals krank? Masern, Pocken, Ruhr, Dyphteritis, Rhachitis, Cholera, Trichinose — gar nichts?«

»Nein doch, nein,« lachte jetzt Ellen aus vollem Halse, »gar nichts!«

»Schade. Nun Ihre äussere Erscheinung. Haare? Roth.«

»Ich bitte sehr! Aschblond ist mein Haar.«

»Aschblond? Nicht roth? Schade. Also aschblond. Augen?«

Er trat noch näher an sie heran und blickte ihr in die Augen.

»Grün.«

»Grau wollen wir sagen.«

»Nicht grün? Schade. Teint? Braun. Gebiss? Fehlen Ihnen Zähne? Haben Sie hohle Zähne, plombirte Zähne, falsche Zähne? Machen Sie mal den Mund auf, dass ich hineingucken kann.«

»Nun hören Sie aber auf. Ich habe alle meine gesunden Zähne noch.«

»Alle gesunden Zähne noch? Schade.«

Ellen wusste nicht, was sie davon denken sollte.Sie war entrüstet und musste doch lachen, und daneben sass Starke gleichmüthig mit untergeschlagenen Armen auf dem Sattel der schief stehenden Maschine.

»Was war denn Ihr Vater, Mr. Schade?« fragte er jetzt. Mit sichtbarem Staunen liess der Berichterstatter das Notizbuch sinken und wandte sich dem Frager zu.

»Wie nennen Sie mich? Woher wissen Sie denn, dass meine Collegen mich immer Mr. Schade nennen?«

»Nun, weil Sie dieses Wort doch beständig im Munde führen,« lachte Ellen.

»Ich? Fällt mir ja gar nicht ein! Was mein Vater war? Der war Reporter.«

»Und Ihre Mutter?«

»Die war auch Reporter.«

»Und Ihr Grossvater?«

»Der war ein berühmter Circusclown, damals gab's noch keine Zeitungen, und eine Schwester von dem bekannten Barnum war meine Grossmutter.«

»Sehen Sie, Miss Howard, ich hatte Recht, das ist ein degenerirter Reporter,« sagte Starke unverfroren wie zuvor, »bei dem ist das angeerbte Genie in Wahnsinn umgeschlagen.« Und zu Mr. Schade setzte er hinzu: »Was ist denn das für eine Zeitung, für welche Sie schreiben? Habe noch nie etwas vom »New-Yorker Spion« gehört.«

»Nicht? Schade! Hier.« Der Reporter zog aus der Seitentasche eine umfangreiche Zeitung und gab sie Starke. »Später will ich Ihnen erklären, was der »Spion« bedeutet. Gestatten Sie, dass ich mein Interview fortsetze. Allgemeine Erscheinung? Gewöhnlich. Nase? Gewöhnlich. Mund? Gewöhnlich. Ohren? Gewöhnlich. Alles in Allem: menschenähnlich. Haben Sie besondere Kennzeichen?«

Obgleich die menschenähnliche und ganz gewöhnliche Ellen noch nicht recht wusste, was sie von alledem denken sollte, ob sie hier einen Irrsinnigen vor sich hatte, oder ob dies die Art und Weise ist, wie ein amerikanischer, etwas überspannter Reporter interviewt, so sah sie doch schon aus Starke's Verhalten, welcher ruhig in der Zeitung studirte, dass hier keine Gefahr drohte, und so fasste sie dieses seltsame Interview als humoristischen Zwischenfall auf, liess sich die stärksten Fragen gefallen, antwortete und amüsirte sich über das curiose Kerlchen.

»Ich habe keine.«

»Sie haben keine? Schade. Keine Narbe, Muttermal oder dergleichen?«

»Nein, nicht einmal faules oder wildes Fleisch.«

»Schade. Nun wollen wir zu den Körpermaassen übergehen,« sagte Mr. Schade und entrollte ein Metermaass.

Körpergrösse, Gewicht und Taillenweite konnte Ellen selbst angeben, doch das genügte nicht, der gewissenhafte Reporter wollte Alles ganz genau wissen.

»Bitte, heben Sie einmal Ihren rechten Hinterfuss,« sagte er, hinter sie tretend, und auch diesem Wunsche willfahrte Ellen, um sich die Sohle messen zu lassen, und so ging es noch eine Weile fort.

Dann kam der Anzug daran, bis zum letzten Knopfe wurde er beschrieben, und dann wollte Mr. Schade auch noch Intimeres wissen.

»Nein, oh nein, mein Herr, Sie werden zu gründlich, und nun könnten Sie überhaupt bald aufhören.«

»Aufhören? Schade. Erst wollen wir noch zu Ihren täglichen Gewohnheiten übergehen. Was geniessen Sie des Morgens ....«

»Nun wollen wir uns auf's Rad setzen und weiterfahren,« sagte Starke, steckte die Zeitung ein und schickte sich an, sein Rad zu besteigen.

Mr. Schade machte seine grossen Augen noch grösser. »Ich bin aber noch nicht fertig.«

»Das glaube ich Ihnen. Sie werden überhaupt nie fertig. Kommen Sie, Miss.«

»Halt!« rief aber Mr. Schade eifrig, ehe noch Starke oben war. »Dann nur noch eine Frage an Sie. Ihre Personalien sind mir bekannt bis auf Einiges. Wann sind Sie geboren, Mr. Starke?«

»Am 31. Februar 1993. Sonst noch etwas? Machen Sie schnell.«

»Geboren am 31. Februar 1993,« wiederholte der Reporter beim Notiren, und jetzt machte Ellen grosse Augen, als sie, ihm in's Buch blickend, sah, dass er dies wirklich aufschrieb. Hätte sie das gewusst, dann hätte sie ihm etwas ganz Anderes erzählt.

»Zu Nowawes. Wo liegt Nowawes?«

»An der Wolga und ist die Hauptstadt von Sachsen. Vorwärts, Miss Howard.«

»Nowawes, Hauptstadt von Sachsen, liegt an der Wolga,« erklang es hinter ihnen.

Ellen war vor Lachen kaum auf das Rad gekommen und konnte sich nur mit Mühe im Gleichgewicht halten.

»Nun sagen Sie in aller Welt, Starke,« rief sie dann, »ist dieser Mann so erzdumm oder wirklich verrückt, oder ist dies der Typus eines amerikanischen Reporters?«

»Ich will Ihnen meine Meinung in der Mittagspause sagen,« entgegnete Starke, »denn ich muss Ihnen dazu diese Zeitung zeigen. Beim oberflächlichen Lesen derselben ist mir nämlich eine eigentümliche Vermuthung aufgefallen, welche richtig sein dürfte. Ein echt amerikanisches Yankee-Stückchen. Etwas dumm sieht dieser Mr. Schade mit seinen abstehenden Elephantenohren ja aus, aber es kann auch ein ganz geriebener Kopf sein, in seinem Fache ein Genie, wenn ich auch bei der Behauptung bleibe, hier handelt es sich um eine Art von Degeneration. Der Grossvater Possenreisser, die Grossmutter Barnums Schwester, Vater und Mutter Zeitungsreporter, der Sohn auch — das lässt die Natur nicht ungestraft, und Genie und Wahnsinn grenzen nahe aneinander. — Hollah, der Kerl hat ja auch ein Rad!«

Die leichte Rennmaschine, auf welcher Mr. Schade wie ein dicker, carrirter Affe kauerte, musste im Walde versteckt gestanden haben. Flugs hatte er sie eingeholt und sich zwischen die Beiden gedrängt.

»Der New-Yorker Spion,« begann er sofort, »ist das weitverbreitetste Zukunftsblatt der Erde. Der Spion hat in jeder Hauptstadt und in jedem Dorfe der Welt seinen Correspondenten. Der Spion hält seine Leser immer auf dem laufenden Fusse. Wenn der Kaiser von China Zahnschmerzen hat — es steht im New-Yorker Spion, ehe ein anderes Blatt eine Ahnung davon hat. Wenn eine Dynamitfabrik in die Luft fliegt — Sie können im Spion alle Einzelheiten lesen, noch ehe die Explosion erfolgt ist. Lachen Sie gern? Im Spion ist eine Ecke zum Todtlachen. In einer anderen Ecke können Sie sich den Kopf zerbrechen. Wir bringen Räthsel, die wir selber nicht lösen können. Wir haben extra ein grosses Irrenhaus bauen lassen für die, welche unseren Feuilleton-Roman lesen. Die Redaction wagt ihn selber nicht zu lesen. Zehntausend Setzer haben darüber schon den Verstand verloren. Der Corrector sitzt in der Tobzelle. Der Spion besitzt auch noch andere Eigenschaften. Mit keiner Zeitung der Erde kann man so gut Feuer anmachen als mit dem New-Yorker Spion. Aus dem Spion lassen sich Papierhüte und Schiffe fertigen. Hat man einmal sein Taschentuch vergessen — man nimmt einfach den New-Yorker Spion. Der New-Yorker Spion besitzt gerade das richtige Format, um ein Butterbrot einzuwickeln. Ja, auch das muss ich erwähnen: Der New-Yorker Spion wird auf dem denkbar weichsten und doch dabei sehr zähen Papier gedruckt, und sollten Sie nun einmal in die Verlegenheit kommen .... halt, halt, ich komme nicht mit, steigen Sie ab!«

Es ging einen sehr steilen Hügel hinauf, die Rennmaschine konnte die Steigung nicht nehmen, Mr. Schade kippte um. Aber die Beiden hielten nicht an.

»Na da warten Sie doch! Sie wissen ja noch gar nicht, wieviel die ganze Geschichte kostet!«

Vergebens, die Beiden erklommen den Hügel weiter. »Mr. Starke, Sie haben ihren rechten Stiefel verloren!« schrie Schade.

Die kluge List glückte nicht.

»Miss Howard, Sie haben kein Hinterrad mehr an der Maschine!«

Vergebens, nur Ellen's helles Lachen antwortete.

»Der New-Yorker Spion ist die beste und billigste Zeitung in der Welt!« brüllte der Reporter noch einmal mit Aufgebot all' seiner Lungenkraft, und die Beiden waren hinter dem Hügelkamm verschwunden.

»Schade,« brummte Mr. Schade, als er seine Maschine hinaufzuschieben begann. »Aber wartet, ich hole Euch schon wieder ein, entgehen sollt Ihr mir nicht.«


— — — — — — — —

Wieder war es ein idyllisches Plätzchen, welches Starke Punkt elf Uhr zur Mittagsrast erreichte, und hier faltete er vor Ellen die grosse, 8 Seiten enthaltende Zeitung auseinander.

Der »Spion«, täglich einmal erscheinend, Preis der einzelnen Nummer 5 Cents — Abonnement giebt es in Amerika nicht. Das war ganz ausserordentlich theuer, das war doch eine ganz gewöhnliche politische Zeitung, die Hälfte davon bestand aus Annoncen und Reclamen, und solche Holzschnitte bringt jedes andere Blatt auch! Wo steckt da der Werth?

Zwar war es eine schon spätere Nummer des Jahrganges, doch die Einleitung, was der »Spion« Alles brachte und seinen Lesern bot, wurde nochmals wiederholt, und zwar in einer noch viel übertriebeneren Weise.

Ellen las den Leitartikel, ihr Gesicht wurde immer erstaunter.

»Was ist denn das?« murmelte sie. »Bin ich so schwach von Begriffen oder hat das ein Irrsinniger geschrieben?

Sie blätterte weiter, sie las die Annoncen Alles strotzte von Albernheiten, von Blödsinn. Dasselbe galt von den Bildern.

Da waren neben einander vier bartlose Lockenköpfe gesetzt, ganz genau dieselben, also ein und derselbe Holzschnitt. Unter dem Ersten stand der Name eines sehr bekannten Staatsmannes, der aber im Leben ein alter Mann mit Vollbart war. Unter dem zweiten stand: Miss Alice R. Yocker, welche täglich eine Schachtel Beecham-Pillen einnimmt; unter dem dritten: Mr. Noel Z., Schornsteinfeger; unter dem vierten: Diese Person, kennen wir selbst nicht.

Dann war in einfachen Umrissen eine Bohne hingemalt, daneben zwei Bohnen, daneben drei Bohnen übereinander, und darunter stand: das ist eine Bohne; das sind zwei Bohnen; das sind drei Bohnen.

In einem spaltenlangen Aufsatze schlug ein Philosoph vor, die Frage, wie sich das Menschengeschlecht entwickelt habe, auf folgende ganz einfache Weise zu lösen: man solle innerhalb von zehn Jahren dafür Propaganda machen, dass sich am 1. Januar 1911 sämmtliche auf der Erde lebende Menschen die Gurgel durchschnitten, alte und junge, Europäer wie Hottentotten, nur zwei Ehepaare nicht, welche das Geschlecht erhielten, und diese würden nun das Tagebuch anfangen, wie sich die Menschenrace wieder entwickelt. Man konnte es dem unterzeichneten Philosophen — Jonathan Killer, Fleischermeister — gar nicht verdenken, dass er als das eine überlebende Ehepaar sich selbst und seine Frau vorschlug, als das zweite die Familie seines Freundes, eines Messerschmiedes, welcher gleichzeitig auf die Billigkeit seiner Rasirmesser aufmerksam machte.

Der Annoncen- und Reclametheil war natürlich erst recht aus dem haarsträubendsten Blödsinn zusammengesetzt.

»Wissen Sie nun, was das ist?'' fragte Starke, als Ellen ihn noch immer ganz fassungslos anblickte. »Nicht eigentlich ein Witzblatt, mehr eine Parodie, eine Persiflage auf das amerikanische Zeitungswesen, richtiger Zeitungsunwesen. Sie haben doch schon Gelegenheit gehabt zu beobachten, wie dieses hier beschaffen ist, wie jeder Kleinigkeit eine übertriebene Wichtigkeit beigemessen wird, diese krampfhaften Bemühungen, das Publicum zu unterhalten, diese schauderhaften Holzschnitte, der Unfug, welche mit der Statistik getrieben wird, wie man berechnet, wie viele Meilen es geben würde, wenn man die Haare sämmtlicher Menschen aneinanderknüpfte, dann der Auswuchs des Reclamewesens u. s. w. u. s. w. Das ist hier in amerikanischer Weise parodirt, und es ist gar nicht nöthig, dass gerade ein Verleger mit diesem Blatte ein Geschäft machen will — da braucht sich nur einmal so ein amerikanischer Crösus über den sinnlosen Inhalt einer Zeitung geärgert zu haben, eine Idee kommt ihm, er setzt ein paar tausend oder zehntausend Dollars daran, flugs ist solch ein Carnevalsblatt gegründet; verdient er etwas dabei, dann ist's gut, setzt er das Geld dabei zu, dann hat er sich einen kleinen Spass geleistet. Aber es wird schon gehen, das ist so nach amerikanischem Geschmack, Alles nur möglichst verrückt, dann ist's witzig, Hauptsache ist, dass das Blatt zum Ausfüllen geeignete Mitarbeiter hat, und an solchen fehlt es hier in Amerika auch nicht; dieser Mr. Schade ist solch' ein Kopf, in dem sich Genie mit Wahnsinn paart.«

Nun wusste es Ellen, da aber kam ihr auch ein furchtbarer Gedanke.

»Mein Gott!« sagte sie erschrocken. »Jetzt fällt es mir ein — dieses verrückte Interview — wie er sogar meinen Fuss mass — ich sollte rothe Haare und grüne Augen haben — jetzt werde ich auch so in dieser Zeitung parodirt!«

»Seien Sie ohne Sorge,« entgegnete Starke tröstend, »wenn es sich nicht um politische Wahlen handelt, beleidigen die amerikanischen Zeitungen nicht so leicht; ich habe in den Spalten keine Beleidigung entdecken können, und jener bekannte Staatsmann wird vergnügt lächeln, wenn er das Bild sieht, das ihn vorstellen soll, man erweist ihm nur einen Dienst. Und sollte man sich mit der Person der Weltenradlerin beschäftigen, dann wird man es schon so thun, dass Sie sich selbst nicht wiedererkennen.«

Ellen war beruhigt. Aber auch Starke ahnte nicht, wie sich dieser degenerirte Reporter noch mit ihnen beschäftigen würde.



14. Capitel.

Die Fahrradprobe und eine Schwimmlection.

Man schmiert nicht ungestraft mit Schwefelsäure anstatt mit Oel. In Ellen's Maschine rasselte und schnurrte es wie in einer Sägemühle. Einmal war Starke's Reinigung nur eine erste und oberflächliche gewesen, er hatte am anderen Tage sie sorgfältiger wiederholen wollen, aber Ellen war ja nicht geblieben, und dann musste die Vergiftung eine Kennerhand vorgenommen haben, überall und gerade in die empfindlichsten Theile war die Säure eingespritzt worden, immer neue Knurrtöne machten sich bemerkbar.

Nun, in Springfield ist Alles zu haben, was der Radler braucht, auch Maschinen jeder Fabrik aus aller Welt.

Um 4 Uhr brachen sie auf, in zwei Stunden erschienen die ersten Häuser, die schon zu Springfield gehörten, jedenfalls würde Ellen durch ihres Mentors Zauberei Punkt 7 Uhr vor einem Hôtel absteigen können.

Zuerst aber erwartete sie eine Ueberraschung, welche grosse Aehnlichkeit mit der eben gehabten hatte.

Da stand an der Strasse ein Gasthaus, und aus diesem sprang jetzt ein gleichfalls carrirter Mann, nur dass das Muster kleiner und gelb und schwarz war und sich auf den Reisemantel bezog, welcher die lange Gestalt bis an die Füsse einhüllte. Dieser lange Mantel, dazu diese Mütze, dieses impertinente Gesicht mit den Bartcoteletten — ein reisender Engländer, wie er im Buche steht, es konnte gar nicht anders sein.

»Hip, hip, hip, hurrah für Oldengland!« schrie er und schwang in der Rechten einen grossen Zinnkrug, in dem das Bier überschäumte.

»Hip, hip, hip, hurrah für die Champion-Lady von England, hip, hip, hip, hurrah für den Stolz von England!«

Und so hippte er noch einige Male, immer den Zinntopf schwenkend, dass das Bier herumspritzte. Was sollte Ellen machen— das galt doch offenbar ihr — sie stieg vor ihm ab.

»Ich bin es, ich, Victor Jenkin, welcher der berühmtesten Lady der Welt den ersten Willkommtrunk reichen darf. Heil der Weltenfahrerin, Heil den englischen Damen, Heil Oldengland! Trinken Sie!

Ellen dankte und nahm den Zinnkrug, beim Trinken hätte sie sich vor Lachen bald verschluckt, der reisende Engländer fing nämlich an, Rule Britannia zu singen, aber mit einer grässlichen Stimme, und schlug dabei den Tact mit beiden Armen, dass er gerade wie eine flatternde Vogelscheuche aussah.

»Das ist kein amerikanisches Bier, das ist echt englischer Porter, nur solchen darf eine Ellen Howard trinken — verzeihen Sie, berühmte Personen nennt man einfach mit Namen,« so sagte er nach dem ersten Verse, Ellen den Krug wieder abnehmend. »Oh happy England, oh glückliches England!«

Ein Mr. Schade in anderer Ausgabe, dachte Ellen, als sie sich noch den Mund abwischte

»Wie komme ich denn zu dieser Ehre? Woher kennen Sie mich?«

»Woher ich Sie kenne?« rief jener wieder mit Pathos. »Oh, wer in der Welt kennte nicht Ellen Howard! Wer spräche nicht von der kühnen Engländerin! Und auch ich bin ein Engländer! Oh, welche Lust, welcher Stolz, solch' eine Lady als Landsmännin zu haben! Oh du stolzes England, du hast ein Recht, stolz zu sein. Oh du mein happy England! Nun lassen Sie uns den zweiten Vers singen. Erst aber trinken auch Sie, Curt Starke, Sie Ritter ohne Furcht und Tadel, Sie Ritter dieser Dame.«

Er bot Starke den Becher. Dieser aber, welcher den Mann von oben bis unten betrachtet hatte, wurde wieder einmal grob; er schüttelte den Kopf und blickte zur Seite, nach dem Wagen, welcher neben dem Gasthause stand. Mr. Jenkin beachtete das abweisende Verhalten nicht, schien sich auch gar nicht beleidigt zu fühlen, er fing gleich wieder an, weiter zu schwärmen, und unter zahllosen Phrasen, unter denen das »happy England« die Hauptrolle spielte, hatte er herausgebracht, dass er von Miss Howard's Welttour in London gelesen habe, und sofort sei er entschlossen gewesen, die kühne Dame zu begleiten, um Augenzeuge solch' englischen Heldenmuths zu werden. Der ganzen Welt dürfe nicht das Geringste verloren gehen. Hier nun habe er sie endlich eingeholt. »Oh mein happy England!«

Es war ein wunderliches Zeug, was er da schwatzte. Ellen aber machte ein etwas langes Gesicht.

»Sie wollen uns begleiten, mein Herr?«

»Gewiss, gewiss. Millionen von Menschen, die ganze Welt, Australien, Indien und besonders mein happy England muss von mir lesen, was die Engländerin Ellen Howard geleistet hat. Deshalb werde ich Sie begleiten, nicht zu Rad, dazu bin ich zu alt, aber zu Wagen, zu Pferd, und ich werde Ihr Diener sein, Ihr Sclave; setzen Sie Ihren Fuss auf meinen Nacken und zertreten Sie mich. Oh du happy England!«

»Sie sind doch nicht etwa — Schriftsteller?« fragte Ellen plötzlich stutzig.

»Gewiss, was denn sonst! Ich will Ihre Reise verherrlichen, die ganze Menschheit soll anbetend vor Ihnen auf den Knieen liegen.«

Also wieder solch' ein verrückter Scribifax, nur in englischer Ausgabe! Jacob und Jenkin, beide fingen sogar mit dem J an. Es lag übrigens auf der Hand, dass sich Literaten mit dieser Radtour beschäftigen würden, besonders im sensationslüsternen Amerika, und wenn Ellen sich überall länger aufgehalten hätte, wäre sie gewiss in jedem Städtchen interviewt und photographirt worden, sie hätte wenigstens von Stadt zu Stadt immer ein grosses Gefolge von Zeitungsschreibern um sich gehabt.

»Da habe ich doch nicht etwa gar die Ehre, den berühmten Verfasser von »Happy England« vor mir zu sehen,« fuhr sie jetzt mit immer grösser werdenden Augen fort.

Mr. Jenkin versuchte, seinen scharf markirten Zügen einen verlegenen Ausdruck zu geben, was ihm freilich schlecht gelang; diesem Antlitz hatte die Unverschämtheit ihren Stempel schon zu tief eingegraben.

»Ihnen gegenüber, Miss Howard, will ich mich zu erkennen geben — ja, mein Schriftstellerpseudonym ist Nunquam.«

Das »Happy England« von Nunquam ist ein Büchelchen, welches vor einigen Jahren den englischen Büchermarkt beherrschte, welches noch heute, schlicht gebunden, in keiner Hütte fehlt, in Goldschnitt auf jedem Salontisch liegt, in der Schule als Lesebuch dient und nach den Colonien schiffsladungsweise geht. Ein junges Ehepaar macht die Hochzeitsreise per Tandem durch England und Wales. Aber keine Abenteuer, nur Land und Leute werden beschrieben. Das ist der ganze Inhalt, eine Beschreibung Englands. Nun ist allerdings England reich an landschaftlichen Reizen, und diese werden auch noch durch die Brille eines Flitterwöchlers betrachtet, dazu ein eleganter Styl, eine colossale Lobhudelei, strotzend von den Briten schmeichelnden Phrasen — kurz, wenn das Leiblied des Engländers das »Rule Britannia« ist, weil er darin zum Beherrscher aller Meere erklärt wird, so ist er in »Happy England« an seiner allerschwächsten Seite gepackt worden. Leider hat sich der Verfasser Nunquam — das Pseudonym liegt schon in diesem Worte ausgedrückt— bisher nicht zu erkennen gegeben, er scheint Nationalsubscriptionen und Denkmäler nicht zu lieben oder nicht nöthig zu haben.

Ellen aber war vor Freude ganz verwirrt, sie fühlte sich wirklich äusserst geehrt, sie verschwendete viele Worte der Anerkennung und auch Mr. Jenkin complimentirte mit vielen Schmeicheleien und bot ihr immer den Zinntopf an, Starke gar nicht mehr beachtend, bis man doch einmal an das Weiterfahren denken musste. Die Miethskutsche wurde herbeigewinkt, Mr. Nunquam stieg ein, Ellen fuhr neben ihm, und noch viel wurde über das glückliche England gesprochen.

»Was ist das mit Ihrer Maschine?« unterbrach er seine Schwärmerei.

Ellen erklärte ihm mit kurzen Worten, was für ein Streich ihr in Indianopolis gespielt worden sei, wie bisher keine Gelegenheit gewesen sei, sich eine neue anzuschaffen, und nun pfiff die Maschine auf dem letzten Loche. Mr. Jenkin war höchlichst entrüstet, wenn er es auch nur für den Streich eines dummen Jungen hielt.

»Steigen Sie ab, steigen Sie ab und benutzen Sie meinen Wagen, der Kutscher nimmt das Rad auf den Bock,« bat er, »ich sehe es Ihnen an, mit welcher Anstrengung Sie die Maschine vorwärts bringen.«

»Nein, dann hätte ich ja meine Wette bereits verloren,« lachte Ellen, als er schon dem Kutscher auf den Rücken klopfte und den Schlag öffnen wollte, »ich darf doch kein anderes Fahrzeug benutzen, als nur ein Rad.«

»Ah richtig, das hatte ich ganz vergessen. Aber dann gestatten Sie wenigstens, dass ich Ihnen ein neues Rad zur Verfügung stelle, bitte, nehmen Sie es von mir an, lassen Sie mir die stolze Freude, dass Ellen Howard die Weiterfahrt auf einem Rade unternimmt, welches ich ihr zur Verfügung gestellt habe.«

Damit war Ellen einverstanden, sie dankte freundlich.

»In welchem Hotel werden Sie absteigen? Das Union-Hôtel schlage ich vor, es ist das beste in Springfield, in herrlicher Lage, auch ich wohne darin. Darf ich nach dort die Räder zur Auswahl bestellen? Das Hotel liegt frei, Sie haben die beste Gelegenheit, sie auf der Strasse zu prüfen.«

»Mr. Starke, sind Sie damit einverstanden, dass wir im Union-Hôtel logiren?« fragte Ellen zurück.

»Meinetwegen, es ist ein gutes Hôtel, ich kenne es, es liegt neben einem Teich,« entgegnete Starke, welcher sich bisher hinter dem Wagen gehalten hatte, jetzt aber vorfuhr und Rathschläge ertheilte, welche Marken der Herr nach dem Hotel zur Auswahl bestellen möchte.

Nach Verabredung bog der Wagen in eine andere Strasse ein, Mr. Jenkin, welcher sich schon einen Tag in Springfield aufhielt und daher die Geschäfte schon etwas kannte, wollte sofort die Räder beordern, die beiden Anderen fuhren noch eine Strecke geradeaus, bis sie vor dem Union-Hôtel abstiegen, schön an einer Allee und an einem grossen Schwanteich gelegen.

»Kennen Sie das berühmte Buch ›Happy England‹?« hatte Ellen schon zuvor gefragt, ehe sie das Hotel erreichten.

»Ich kenne es.«

»Denken Sie, das ist nun der unbekannte Verfasser!«

»Warum nicht, ein Mensch muss es doch geschrieben haben.«

»Was sagen Sie nun dazu: er will mich begleiten und meine Reise literarisch verwerthen. Soll ich es gestatten?«

»Das dürfen Sie gar nicht, das geht gegen die Wettbedingungen.«

»Oh, darüber haben wir uns doch schon einmal ausgesprochen. Für mich handelt es sich um Vollbringen der Leistung, nicht um Gewinn oder Verlust des Geldes. Wenn dieser bekannte Schriftsteller meine Reise beschreibt, so ist es doch etwas ganz anderes, als wenn ich selbst Artikelchen liefere. Wenn ich es auch nicht für möglich halte, dass er mich immer zu Wagen oder zu Pferde begleiten kann, so kann er doch von Station zu Station vorausreisen, er wird für meine Bequemlichkeiten und alles Nöthige besser zu sorgen wissen, er scheint ein praktischer Mann zu sein und ein angenehmer Gesellschafter dazu. Nur möchte ich erst Ihre Meinung wissen, ob es Ihnen angenehm ist.«

»Wenn Sie damit einverstanden sind, so kommt meine Meinung gar nicht in Betracht. Thun Sie, was Sie wollen.«

Obwohl in Starke's ruhiger Stimme nicht eine Spur von Gereiztheit lag, so hörte Ellen dennoch das Herbe heraus; und es that ihr stets weh, ihn so sprechen zu hören; er wollte immer nur ihr Diener sein. Zugleich aber wurde sie auch von etwas wie von Freude erfüllt. War das nicht Eifersucht? Natürlich, sie sollte keinen anderen Begleiter haben als nur ihn. Gut; nun wollte sie Mr. Jenkin gerade auffordern, sie zu begleiten, und dann, wenn die Gelegenheit dazu war, wollte sie Starke als den Bevorzugten bezeichnen, ihn mit Liebenswürdigkeiten überhäufen und jenen vernachlässigen.

Wie gewöhnlich wurden sie im Hôtel für die erste halbe Stunde getrennt, dann meldete Ellen ein Kellner, Mr. Jenkin wünsche sie zu sprechen, er sei unten vor dem Hôtel mit einigen Fahrrädern.

Ellen bestellte nach der Karte ein Abendessen und begab sich hinab. Auf der Allee vor dem Schwanteich hatte der »Pferdemarkt« begonnen; drei junge Leute führten sechs verschiedene Fahrräder vor, der Inhaber oder Vertreter der Handlung pries als Pferdejude ihre Vorzüge; der lange Reise-Engländer spielte den Sachverständigen, hob die Hufe, griff in's Kreuz und guckte den Rädern ins Maul, nach den Zähnen. Starke, mit übereinander geschlagenen Armen dastehend, war der kalte Kritiker, der sich nicht beschwatzen lässt, und auch das Marktpublicum fehlte nicht, darunter sogar ein Constabler mit dem Hikoryknüppel.

Nun kam noch Ellen als die Hauptperson hinzu.

»Wie finden Sie die Räder, Mr. Starke?«

»Das hängt von einer Prüfung ab. Gestatten Sie, dass ich die Maschinen besteige und fahre?« wandte er sich an Mr. Jenkin.

»Selbstverständlich, dazu habe ich Sie ja eben herkommen lassen; und Sie sind doch der beste Kenner. Bitte, besteigen Sie.«

Starke nahm das erste Rad her, setzte den linken Fuss auf die Trittstange, ein kleiner Stoss, er liess sich in den Sattel und — stand breitbeinig auf einem Trümmerhaufen.

»Hat die Probe nicht bestanden,« sagte er trocken, nahm das zweite Rad her, setzte sich darauf und — brach wiederum mit dem Rade zusammen.

Und ehe nur einer der Zuschauer zur Besinnung kam, lagen schon fünf solche Trümmerhaufen, und Starke nahm dem mit offenen Munde dastehenden Geschäftsjüngling die sechste Maschine ab.

»Halt, um Gotteswillen halt!« schrie da Mr. Jenkin, endlich wieder Leben bekommend. »Ich muss ja die Räder bezahlen!«

Er stürzte auf den Rädermörder wie ein Rasender zu — zu spät, eben knackte Starke auch mit der sechsten Maschine zusammen, obgleich durchaus nicht zu bemerken war, dass er sich mit Wucht auf den Sattel fallen liess.

»Ich kann Ihnen die Räder nicht empfehlen, Miss Howard.«

»Sie haben die Bäder mit Absicht zerbrochen!« schrie Mr. Jenkin.

»Sie haben die Räder bestellt, mein Herr,« sagte der Geschäftsvertreter mit kühler Ruhe zu dem Carrirten.

»Wie kommen Sie dazu, die Räder zu zerbrechen!« heulte Mr. Jenkin nochmals. »Ich bezahle Sie nicht.«

»Sie sind ein Schwindler.«

Nach diesem letzten Worte von Starke war Mr. Jenkin plötzlich ganz ruhig geworden, er starrte den Hünen an, der auch noch dicht vor ihn getreten war.

»Was — was — wie nennen Sie mich?« stotterte er.

»Einen Schwindler.«

»Mein Herr ....!«

»Ruhe. Sie sind ein Schwindler, Mr. Jenkin, und wenn Sie jetzt noch ein einziges Wort zu mir sagen, liegen Sie dort im Teich, und haben Sie nicht schwimmen gelernt, so thut es mir sehr leid.«

»Ich ......«

Ein langer Mantel mit zwei Stiefeln wirbelten durch die Luft, das Wasser spritzte auf, und als der von der Erde verschwundene Mr. Jenkin wieder erschien, machte er im Teiche Schwimmbewegungen.

Ellen glaubte eine Geistererscheinting zu haben. In 18 Secunden hatte Starke die sechs Räder zerknackt, 10 Secunden hatten die Wechselreden in Anspruch genommen, so dass von der Frage, ob Starke die Räder probiren dürfe, bis zu Jenkin's Kopfsturz noch keine halbe Minute vergangen war.

Das war so etwas für das amerikanische Publicum! Nicht nur die Strassenjungen klatschten und jubelten Bravo, auch der Constabler, der Vertreter des Gesetzes, lachte aus vollem Halse mit.

Was ging es ihn an? Es fiel ihm gar nicht ein, sich hineinzumischen. Einmal befand man sich in Amerika; Mensch, hilf dir selbst! Dann ist das »In den Teich werfen« recht üblich in Amerika, nicht minder in England, und hat sich etwa ein Volksredner missliebig gemacht — wie z. B. wenn jetzt ein Pro-Buer öffentlich spricht, so holt man ihn von der Rednerbühne herunter; und wenn auch der nächste Teich meilenweit entfernt ist, man trägt ihn hin, um ihn dort hineinzuwerfen. Und dann zum Letzten und nochmals: man befand sich in Amerika, im Lande der Selbsthilfe, der Sensation, wo jedes Bravourstückchen begeisterten Jubel erweckt. Zudem verrieth der Mann durch seine Sprache, besonders, weil ihm die Nasallaute fehlten, den Engländer, und der Engländer ist in Amerika gründlich verhasst.

Ja, wäre der Mann in Todesgefahr gekommen, da wäre der Constabler schon eingeschritten. Aber er konnte ja schwimmen. Nun mochte er sehen, wie er mit dem Gegner fertig wurde, und erst wenn Waffen gezogen wurden, dann war wieder der handfeste Schutzmann mit dem Hickoryknüppel da.

Starke erwartete am Ufer den Schwimmenden.

»God damned you bloody bastard!«

»Wenn Sie noch einmal den Mund aufthun, liegen Sie wieder im Teich!«

Das wirkte. Wie ein nasser Pudel stand Mr. Jenkin regungslos da, die Fäuste geballt, zitternd vor Wuth, aber Lippen wie Zähne fest aufeinandergepresst, er wagte kein Wort mehr zu sagen.

»Von jetzt ab bin ich Ihnen gegenüber ein Desperado,« fuhr Starke fort. »Wissen Sie, was das ist, ein Desperado? Wenn Sie in meiner Gegenwart einmal die Hand in die Tasche stecken oder hinter meinen Rücken zu kommen suchen, oder nur irgend eine Bewegung machen, welche mir verdächtig erscheint, so schiesse ich Sie auf der Stelle nieder. Sie sind gewarnt. Nun gehen Sie, Sie Schwindler!«

Und Mr. Jenkin ging, verschwand im Hôtel und ward nicht mehr gesehen.

Nur der Radhändler war ihm gefolgt, und der würde schon zu seinem Gelde kommen, hierbei stand das Gesetz auch ganz auf seiner Seite.

Ellen wusste gar nicht, wie sie in das Hôtel zurückgekommen war, ein wahrhaftes Entsetzen hatte sie befallen, und so blickte sie Starke an.

»Was hat Ihnen der arme Mann gethan, dass Sie ihn so behandelten?«

»Er hat Sie belogen, und da ich zugegen war, auch mich. Dieser arme Mann ist ein Schwindler. Mir gefiel er sofort nicht, er hat ein böses Auge, und Schriftsteller ist er so wenig wie ich. Den Verfasser jenes albernen Buches kenne ich, es ist H. M. Bredford, der Herausgeber und Redacteur des socialdemokratischen Blattes »Justice«. Er hat sich gehütet, seinen Namen zu nennen, dann wäre die schöne Goldquelle niemals geflossen, welche er zur Propaganda seiner Partei verwendet, hauptsächlich mit dem Gelde seiner Feinde. Und dieser Mr. Jenkin ist ist es auch, welcher die Säure in Ihr Rad gegossen hat, nun will er hier als Ritter auftreten, sich beliebt machen, alles Uebrige können Sie sich wohl denken, und die Falle haben Sie wohl auch bemerkt, wie er Ihnen seinen Wagen anbot. Wenn er in dieser Weise uns befehden will, haben wir ihn nicht zu fürchten, und im Uebrigen weiss er nun, mit wem er es zu thun hat. Ein Rad werde ich Ihnen nachher besorgen.«

Ellen war sehr zerknirscht, sie fand kein Wort der Erwiderung. Dass Starke Recht hatte, daran konnte sie nicht zweifeln, und sie bat ihm im Geheimen ab. Gern hätte sie noch einmal Mr. Jenkin gesprochen, aber dieser war eben nicht mehr zu sprechen.



15. Capitel.

Die unglückliche Hose.

Von Springfield ab ging es fast im rechten Winkel zur bisherigen Richtung über hundert englische Meilen nordwärts, denn nicht der kürzeste, sondern der beste, der fahrbarste Weg musste gewählt werden. Bei Burlington begrüsste Ellen den Vater der Gewässer, den Mississippi; in dieser Stadt schwang sich eine gewaltige Brücke hinüber; und dann durchquerten sie auf der alten Auswandererstrasse, bei trockenem Wetter recht gut, bei nassem grundlos, den Staat Iowa, ein welliges Präirieland, überall mit kleinen Wäldchen durchsetzt, wo die Haselnuss wild wuchert und von Niemand geerntet wird, mit einem Boden, welcher nur darauf wartet, in einen Garten mit dem feinsten Obst- und Gemüsebau verwandelt zu werden. In der Nähe der Eisenbahnstationen — d. h. in einem Umkreise von zehn deutschen Meilen und längs dieser grossen Heerstrasse gab es denn auch ziemlich viel Ansiedelungen und dazwischen immer ein Städtchen, aber links und rechts davon war noch Alles wüst und leer. Es ist noch sehr, sehr viel Platz in Nordamerika. Selbst im bevölkertsten Theile, im Staate New-York, kostet der Acre nach dem Novemberbericht von 1901 noch immer bloss 2½ Dollars, also vier Quadratmeter einen Pfennig. Auch für dort sucht die Regierung immer noch fleissige Ansiedler, und es ist nur ein kleines Capitälchen nöthig, für den Acre etwa zehn Dollars. Aber grosser Kindersegen, starke Söhne und häusliche Mädchen, die machen hier den wahren Reichthum aus.

Wieder neigte sich ein Septembertag mit brennender Sonnengluth, der aber schon immer recht kalte Nächte folgten, seinem Ende zu. Sie fuhren auf jener Auswandererstrasse, welche auf Landkarten noch angegeben wird, es gehört aber entweder Phantasie dazu oder der Spürsinn eines Indianers, um überhaupt noch eine Strasse zu erkennen. Hier steht verbranntes Gras und dort steht verbranntes Gras, von einem Graben oder dergleichen keine Spur. Es ist aber doch ein gewaltiger Unterschied mit dem Boden, besonders der Radfahrer fühlt ihn im federnden Sattel, er braucht nur vom Wege etwas abzukommen, gleich schwenkt er wieder ein. Nicht umsonst sind hier einst Hunderttausende von Menschenfüssen und Thierhufen entlang gewandert.

Dann giebt es doch auch einige Anzeichen für das suchende Auge: ab und zu gebleichte Knochen, verstreute Balken, die Reste einer Blockhütte, manchmal auch ein Brunnen.

Ein solcher stand jetzt am Wege, noch mit Bruchsteinen eingefasst. Ellen hatte schon mehrmals die Brauchbarkeit dieser alten Brunnen kennen gelernt, und so bat sie jetzt Starke, einen Augenblick zu warten, und stieg ab, um ihre Mütze, die sie zu diesem Zwecke schon an beiden Seiten einfach durchlöchert hatte, an einem Lederriemen hinabzulassen und mit Wasser gefüllt wieder heraufzuziehen. Auch Starke war abgestiegen und that dasselbe mit seiner Lederflasche.

»Das Wasser ist gut, trinken Sie,« sagte er, nachdem er gekostet hatte.

Dieser Brunnen mitten in der wilden Prairie war nicht staatlich oder dereinst von milden Händen für durstige Wanderer angelegt worden. Hier hatte die Prairie schon einmal ein ganz anderes Aussehen gehabt, hier hatte schon einmal ein Pionier die Felder bestellt. Aber dort unten, in weiter Ferne, sah man einen schwachen Rauch aufsteigen, dort befand sich eine grössere Ansiedlung, vielleicht auch ein Städtchen, und wie der einsame Pionier, zwar Landbauer, aber mehr noch Jäger, merkte, dass er innerhalb von sechs Meilen einen Nachbar bekam, da hatte er die Ochsen vor die Wagen gespannt, Hausgeräth und Frau und Kinder darauf geladen und Felder und Alles in Stich gelassen, war weiter gewandert, noch tiefer in die Einsamkeit hinein. Das sind die amerikanischen Pioniere, die alten — und meistentheils waren es Deutsche und deren Nachkommen. Und das urbargemachte Feld und der Gemüsegarten hatte sich wieder in Prairie verwandelt, nur der Brunnen war stehen geblieben, und einige roh zugehauene Baumstämme lagen herum.

Schon beim Trinken bemerkte Ellen, wie Starke, welcher mit übereinander geschlagenen Armen auf der Brunnenmauer sass, sie mit recht eigentümlichen Blicken von der Seite beobachtete, was er sonst doch niemals that.

»Wünschen Sie etwas?« fragte sie, als sie die Mütze ausspritzte.

»Ja, Miss Howard; ich möchte Sie bitten, einmal Ihre Hose auszuziehen.«

Sie sprachen nur noch deutsch, und Ellen kam nicht in die geringste Verlegenheit; sie glaubte, falsch verstanden zu haben, nur dass sie etwas erröthete, mehr über ihre eigenen Gedanken, und sie klopfte die Mütze ruhig weiter aus.

»Was soll ich thun?«

»Einmal Ihre Hose ausziehen.«

Jetzt kam es Ellen zum Bewusstsein, dass sie nicht falsch gehört haben konnte, und mit wahrhaft entsetzten Augen blickte sie den Frager an.

»Wa — wa — was verlangen Sie von mir?«

»Ich rathe Ihnen nur,« entgegnete Starke mit unerschütterlichem Gleichmuth, »einmal die Radfahrerhose mit einem Damencostüm zu vertauschen. In einer Stunde werden wir Hamstead erreichen, ein Städtchen, welches vorwiegend von einer Shakersecte bevölkert ist. Vorher kommen wir durch eine kleine Colonie, in welcher schon ein Krämer seinen Laden aufgeschlagen hat, auch Frauenröcke und solche Garderobe hat er, ich weiss es, und Sie thäten vielleicht gut, um Unannehmlichkeiten zu vermeiden, wenn Sie heute Abend einmal ein Damencostüm anlegten. Sie brauchen in ihm gar nicht zu fahren, Sie kaufen einen einfachen Rock und kurz vor den ersten Häusern Hamsteads werfen Sie ihn über, dann schieben wir die Räder durch die Strassen des einzigen Nestes bis zum Hôtel, und dann zeige ich Ihnen solch eine Shakerversammlung.«

Erst jetzt nachträglich wurde Ellen von einer furchtbaren Verlegenheit befallen. Ein Glück nur, dass er so kaltblütig dabei blieb, obgleich er unmöglich hatte übersehen können, welch' ungeheurer Verdacht in ihr aufgestiegen war.

»Wenn Sie es wünschen .....« stammelte sie, noch nach Fassung ringend.

»Ich wünsche es durchaus nicht. Ganz wie Sie wollen. Halten Sie es nicht für verletzend, sondern seien Sie davon überzeugt, dass eine Dame das Recht hat, Männerkleider zu tragen, wenn es die Verhältnisse erfordern, so ist es sogar ihre Pflicht, dieselben nicht abzulegen, weil einmal ein paar kleine Geister daran Anstoss nehmen könnten.«

Er hatte immer eine ganz eigentümliche Weise, einen Eindruck oder einen unangenehmen Gedanken schnell zu verwischen.

Ellen hatte sich schon wieder gefasst.

»Sie sprechen von Unannehmlichkeiten, die mir durch meine Herrentracht widerfahren könnten.«

»Ja, um Sie darauf vorzubereiten, damit Sie mir nicht vorwerfen, das hätten Sie mir auch sagen können, dann hätte ich Frauentracht angelegt.«

»Was droht mir denn?«

»Oh, gerade keine Gefahr. Dazu bin ich da. Diese Shaker sind auch nicht Besitzer der Stadt, das Hôtel z. B. gehört einem Anderen; aber sie bilden doch das überwiegende Element, und es sind Mucker, und wenn sie eine Dame auf dem Rade fahren sehen, noch dazu in Hosen — das wird sie colossal aufregen, man wird Ihnen allerlei Bibelsprüche und Teufelsnamen nachrufen. Als ich hier das vorige Mal im Garten des Gasthauses eine zweite Flasche Wein bestellte, verbreitete sich diese unerhörte Thatsache wie ein Lauffeuer durch die ganze Stadt, Männlein wie Weiblein kamen angerückt, ich gottloser Trunkenbold sollte niederknieen und Busse thun.«

»Thaten Sie es?« konnte Ellen schon wieder lachen.

»Nein, ich trank in aller Gemüthsruhe meine Flasche Wein aus und liess mir den Teufel par distance austreiben.«

»Aber die Herrentracht wird mich wohl hindern, einer der interessanten Shakerversammlungen beizuwohnen?«

»Auch das nicht. Der Zutritt ist jedem Sünder gestattet, ausserdem werden die Versammlungen bei solch schönem Wetter wohl im Freien abgehalten werden. Aber dann freilich werden Sie etwas zu hören bekommen.«

»Nun, wenn uns keine ernstliche Gefahr droht, wenn es sich nur um Prüderie von Muckern handelt, dann trotze ich derselben. Ich behalte das Herrencostüm an.«

»Das ist consequent von Ihnen gedacht,« entgegnete Starke.

Sie bestiegen die Räder, und bald darauf ergriff wieder Starke das Wort zu einer kleinen Belehrung, aber auch wie in der Absicht, als ob er Ellen's voriger Verlegenheit einen anderen Grund geben wolle.

»Mir scheint, Sie stossen sich an das Wort »Hose«. In Deutschland werden Sie es allerdings in gebildeten Kreisen selten zu hören bekommen, da gebraucht man dafür die Worte Beinkleider, Pantalons und andere. Thun Sie das nicht, Hose ist ein gutes deutsches Wort. Wir sagen auch nicht Armkleider, sondern Aermel, die Pantalons wollen wir den Franzosen überlassen, wir haben dafür das deutsche Wort Hose. Es heisst auch nicht: Windbeinkleid, Wasserpantalons, sondern Wind- und Wasserhose. Ja, es kommt mir immer vor, als ob der Deutsche, welcher das Wort Hose nicht auszusprechen wagt, hinter seinen gewählten Ausdrücken einen gemeinen Charakter verberge. Ebenso sollten wir Deutschen auch nicht Papa und Mama sagen. Es giebt kein Papa-Unser, Niemand spricht von seinem Papaland, von seiner Mamasprache, sondern es heisst Vaterland und Muttersprache, und gerade in diesen Zusammensetzungen liegt schon ausgedrückt, wie der Deutsche die schönen Worte Vater und Mutter in Ehren halten soll — Papa und Mama mag man lallenden Kindern überlassen.«

Dann begann Starke von den Shakern zu erzählen. Das heisst auf deutsch »Zitterer«. Gegründet ist diese Secte von einer gewissen Anna Lee, geboren 1786 zu Manchester in England; sie war an einen Grobschmied verheirathet, der sie misshandelte; sie verlor durch den Tod alle ihre acht Kinder und wurde tiefsinnig. Durch Zufall kam sie nach Amerika, und in diesem Lande und nach ihrem vorherigen Lebenslauf ist es erklärlich, wie sich die tiefsinnige Frau plötzlich zur Prophetin berufen fühlte und gegen die Ehe predigte, ihrer Religionsansicht jene Worte des Apostels Paulus zu Grunde legend, dass es besser sei, der wahre Gläubige enthalte sich der Ehe.

Sie fand schnell Anhänger, in Amerika mögen es jetzt gegen 20 000 sein, zerstreut in kleinen Colonien lebend; auch in Frankreich, England und in anderen Ländern haben sie Fuss gefasst. Hauptsache ist also: keine Ehe. Ein in die Secte eintretendes Ehepaar braucht sich aber nicht scheiden zu lassen, es darf nur nicht mehr zusammen leben. Männer und Frauen arbeiten getrennt, meist in eigenen Werkstätten und Manufacturen, seltener auf dem Felde. Nur bei den religiösen Uebungen kommen sie zusammen, und es sind rechtschaffene, fleissige Leute, denen man nichts Uebles nachsagen kann. Nur intolerant sind sie gegen Andersgläubige. Da keine Kinder hinzukommen, vermehrt sich die Secte nur durch Proselyten.

Ihr Religionscultus ist ganz dem der Methodisten ähnlich, gegründet 1739 von dem Engländer John Wesley. Auch in Deutschland giebt es viele Shaker, welche aber zu den Methodisten gerechnet werden. Bei den Methodisten äussert sich der über die schweigende Versammlung kommende heilige Geist durch »Reden in fremden Zungen«, es werden plötzlich seltsame Stimmen laut, man wimmert, man heult, zuletzt grunzt die ganze Gemeinde, bis mit einem Male Einer vorspringt und, vom heiligen Geiste gepackt, in höchster Ekstase das Wort Gottes zu predigen beginnt. Bei den Shakern fährt der heilige Geist in die Glieder. Zu predigen verstehen diese Shakerpriester; erst malen sie alle Schrecken der Hölle aus, dann schildern sie mit glühenden Farben die Glückseligkeiten des Paradieses. Die Gemeinde erhitzt sich immer mehr, aus dem Wimmern wird ein Lachen, man fängt an zu tanzen, daraus wird ein Hüpfen, sie springen meterhoch, drehen sich mit ausgestreckten Armen wirbelnd im Kreise, bis sich zuletzt Alles in convulsivischen Zuckungen am Boden windet. Dabei »sollen« sich auch noch ganz eigentümliche, unaufgeklärte Erscheinungen zeigen, so z. B. dass die längsten Kopfhaare aufrecht stehen oder wie Schlangen peitschen und knisternde Funken sprühen.

Es mag ungefähr im Jahre 1840 gewesen sein, als dieses »Zittern« einmal in ganz Amerika epidemisch auftrat. Die Shaker hatten damals gerade sehr viel Missionare ausgeschickt, überall, wo sie am freien Felde predigten, fing das Hüpfen, Drehen und Krampfwälzen an, ganze Städte wurden davon ergriffen, Jeder musste mitmachen, wenn er auch gar nicht wollte, und das Zittern stellte sich später immer wieder ein. Die Shaker hielten dies für einen Beweis ihrer göttlichen Mission; die Aufgeklärten spotteten darüber und sprachen von Einbildung, Nachäffung und Hysterie — und wenn sie einmal hingingen, mussten sie selbst mitmachen; die Regierung aber fasste die Sache sehr ernst auf, ganze Districte, in welchen der Veitstanz — denn nichts weiter ist es — epidemisch ausgebrochen, wurden abgesperrt, bis die Gesundheit der Nerven wieder hergestellt war.

Ich selbst habe wiederholt Shakerversammlungen beigewohnt und wenn das Hüpfen und Drehen richtig begann, musste ich stets die Flucht ergreifen, wollte ich nicht mitspringen. Das Peitschen und Funkensprühen der Haare habe ich nie beobachtet, aber es ist mir so viel davon erzählt worden, dass ich daran glaube. Durch den Muskelkrampf mag sich galvanische Elektricität entwickeln. Ganz genau ebenso hat man den hypnotischen Zustand verspottet, bis zuletzt die Wissenschaft ihn doch als eine Thatsache anerkennen musste.

So erzählte Starke seiner Begleiterin.

»Darum meinen Sie also, der Krampf sei ansteckend?«

»Ganz gewiss, Krampf wirkt ansteckend, nicht durch Bazillen, sondern durch Suggestion, etwa wie bei der Hypnose. Haben Sie vielleicht einmal erlebt, dass im Theater Jemand vom Krampf befallen wurde?«

»Ja, und Sie haben Recht. Dann fallen stets noch andere Personen, welche durch ihr krampfhaftes Nervensystem dazu veranlagt sind, in Krämpfe. Aber bei mir brauchen Sie keine Sorge zu haben, ich habe Nerven von Stahldraht.«

»Müssen Sie gähnen, wenn Sie einen Anderen gähnen sehen?«

»Ja, das muss ich allerdings,« gab Ellen etwas ängstlich zu.

»Dann sind Sie dennoch für Krampfansteckung empfänglich. Auch das Gähnen, ist nur ein Krampf. Aber Sie können eine Versammlung getrost besuchen, so schlimm ist es nicht, ich werde Sie schon, wenn es nöthig sein sollte, rechtzeitig entfernen; und ich selbst bin gegen diese Ansteckung gefeit. Als damals der Veitstanz epidemisch auftrat, that die Regierung das Klügste, was sie thun konnte: sie schickte in jene verseuchten Distrikte nervenstarke Männer, welche die Feuerprobe schon ausgehalten hatten; diese umstanden enggedrängt die Versammlungen, und wenn der Unfug losbrechen wollte, mischten sie sich mit Hohn und Spott unter die Tanzenden — sie sollten sich doch nicht lächerlich machen, es wäre ja alles Schwindel — und wahrhaftig; ihre starken Nerven paralysirten den schädlichen Einfluss auf die schwachen. Da sehen Sie wieder, das gehört auch zu jenen Dingen, von denen sich unsere Schulweisheit nichts träumen lässt.«

Als ob Starke immer die Uhr in der Hand hätte und nach dem Secundenzeiger die Pedale sich drehen liesse, so erreichten sie pünktlich um 7 Uhr Hamstead, ein freundliches, sauberes Städtchen, nur aus dem Marktplatz und acht sich hier kreuzenden Strassen bestehend.

Die Bevölkerung war aus zweierlei Menschen zusammengesetzt. Die einen glichen in ihrer Kleidung den anderen Europäern in diesem Himmelsstrich; die zweiten, die überwiegende Mehrzahl, trugen das bekannte Quäkercostüm, den fast am Boden nachschleifenden Bratenrock, Schnallenschuhe und den breitrandigen Filzhut; so altmodisch gingen auch die Frauen, und diese sahen alle wie alte Jungfern aus, auch die jungen Mädchen, trotz ihrer blühenden Wangen; auch sie hatten einen so seltsamen Ausdruck in den Zügen.

Sonst war Alles so freundlich, die Strassen so sauber, schöne Schaufenster, in Werkstätten fleissige Arbeiter — hier herrschte Ordnung, Ruhe, Frieden, Fleiss, Sparsamkeit, Wohlstand, alles das, was die menschliche Gesellschaft braucht, um zum grösstmöglichsten Glücke auf Erden zu gelangen — aber über Ellen kam ein niederschlagendes Gefühl.

Hochherzig ist es, wenn ein Mädchen aus Liebe zum Bruder nicht heirathet, vielleicht, um ihn in seinem Geschäft zu unterstützen oder um sich seiner mutterlosen Kinder anzunehmen, wie solch' edle Herzen ja nicht allzuselten sind; bewundernswerth ist es, wenn Jemand nicht heirathet, um sich völlig seinem Berufe, seinen Studien, der Erreichung eines hohen Zieles zu widmen; traurig ist es, wenn ein Mädchen keinen Mann findet; aber wenn heutzutage Jemand deshalb nicht heirathet, weil er glaubt, damit Gott ein wohlgefälliges Werk zu thun, das ist — — das wirkt auf jeden vernünftigen Menschen, der dabei das Herz auf dem richtigen Flecke bat, furchtbar niederschlagend. Denn über so etwas zu spotten, wäre nur ein Zeichen von Egoismus. So erging es Ellen. Dann bemerkte sie gleich auf der Fahrt durch die Strassen — wodurch wusste sie selbst nicht — dass alle die anderen Menschen, welche durch ihre moderne Kleidung sich nicht als Feinde der Ehe verriethen, zu jenen Schwarzröcken in einem Abhängigkeitsverhältnisse standen, und ferner, dass Radfahrer hier mit scheelen Augen angesehen wurden. Ja, da schlug solch' eine Nonnenkapuze gleich die Hände über dem Kopfe zusammen; die hatte erkannt, dass der eine Radstrampler ein Weib war und Hosen trug. Ellen hörte auch etwas rufen, wurde aber eben von Starke in Anspruch genommen.

»Ich wollte Maschinenöl kaufen. Vor zwei Jahren war dort an der Ecke eine Fahrradhandlung, nun ist sie nicht mehr da.«

»Man scheint den Radfahrsport hier wenig zu lieben, ich habe noch keinen einzigen Radler gesehen.«

»Ja, mir ist es auch schon aufgefallen. Damals gab es hier einige Schwarzröcke mit hochgesteckten Frackschössen, radelnde Frauen freilich nicht, d. h. keine von den Shakern. Was die Anderen thun, das geht Jene ja nichts an.«

Wenn Ellen eine Deutsche gewesen wäre, so hätte sie jedenfalls die Frage gestellt, ob hier vielleicht unterdessen das Radfahren verboten worden wäre. Aber als Engländerin kam sie gar nicht auf den Verdacht, dass der Bürgermeister einer Stadt am Ende des aufgeklärten neunzehnten Jahrhunderts gegen das Radfahren ein Verbot erlassen könnte — heutzutage glaubt man in civilisirten Ländern doch nicht mehr an Zauberei. Ja, unten bei den Türken — nein, noch weiter unten — da mag freilich solch' ein Zweirad, auf dem man sitzen kann, ohne umzufallen, eine Höllenmaschine sein, die verbrannt werden muss.

Denn dass das Radfahren in den Strassen deshalb verboten wird, weil die Passanten dadurch in Lebens- und Todesgefahr kommen könnten, das darf man einem Engländer nicht erzählen; erstens versteht er gar nicht, was man eigentlich meint, und wenn er es verstehen sollte, und er glaubt es, dann wird man zu sehr ausgelacht.

Der Wirth, welcher in dem sehr kleinen Hôtel am Marktplatz zugleich Portier und Kellner spielte, war sehr glücklich, wieder einmal zwei Gäste zu bekommen, und dazu war ihm Starke noch von früher als gut verzehrender Logirer bekannt. Auch seine Frau erschien aus den Wirthschaftsräumen, die neuen Ankömmlinge zu begrüssen.

»Hier wird es immer schlimmer,« klagten Beide auf Starke's Frage nach dem Verbleib jenes Fahrradgeschäftes, »die Shaker bekommen das Regiment immer mehr in die Hände. Die neue Mutter — Sie wissen, so heisst die erste Faxenmacherin, ihre Prophetin — hat der Secte das Radfahren verboten, und was sollen die Anderen machen, wir müssen alle nach ihrer Pfeife tanzen, sie können jeden Geschäftsmann ruiniren. Jetzt radelt hier Niemand mehr, und so ist das Radgeschäft eingegangen. Ich wäre auch schon längst fortgezogen, aber erst muss das Hôtel verkauft sein, und wer soll auf solch' eine Shakerstadt hereinfallen.«

Dass die »Mutter« den Sectenmitgliedern das Radfahren verbot, dazu hatte sie allerdings ein Recht, sobald sie die Macht dazu hatte. Das ist etwas ganz anderes. Wem so etwas nicht passt, der braucht ja nur aus dem Verein, wenn ihm solche einstimmig angenommenen Neuerungen in den Statuten nicht gefallen, auszutreten.

Ja, erklärte ferner der Wirth auf Befragen, die Versammlungen der Shaker fänden heute Abend wie immer bei schönem Wetter draussen auf den Wiesen statt, die Herrschaften könnten von ihren Zimmern aus den »Hocuspocus« im Abendsonnenschein beobachten und wo die Herrschaften ihr Gepäck hätten, dass es geholt würde, setzte der Hotelier hinzu.

»Hier,« sagte Starke, die Hand auf das hinten am Rad festgeschnallte Bündel legend.

»Und die Dame .....?«

»Desgleichen hier. Alles, was wir haben, tragen wir bei uns.«

Zwei besorgte Augenpaare wanderten an Ellen herab, zu deren heimlichen Belustigung.

»Ich möchte die Herrschaften doch darauf aufmerksam machen ......«

»Bringt es Sie oder Ihr Hôtel um das Renommée, wenn ein weiblicher Gast als Radfahrer einen Herrenanzug trägt?« fiel ihm Starke in's Wort.

»Oh nein, durchaus nicht, aber ........«

»Na, dann zeigen Sie uns die Zimmer, ich bitte um zwei nebeneinanderliegende, und werfen Sie Kohlen unter's Küchenfeuer, damit wir bald etwas zu essen bekommen. Meinen Geschmack kennen Sie doch vom vorigen Mal.«

Die erste Stunde verlief wie gewöhnlich, sie reinigten sich, Starke nahm sich der Räder und des Hundes an, sie speisten zusammen und dann wanderten Beide, Hassan zu Hause lassend, durch die sehr menschenleer gewordenen Strassen, den letzten Nachzüglern folgend, welche dem Versammlungsziele fast der gesammten Bürgerschaft zustrebten.

Diejenigen aber, denen sie begegneten oder welche sie überholten, machten beim Anblick der jungen, so unternehmend gekleideten und auch so unternehmend aussehenden Dame schon sehr erstaunte, erschrockene, entsetzte oder sogar schon sehr entrüstete Gesichter, denn jetzt war nicht mehr zu verkennen, was unter dem feschen Lodenanzuge steckte. Doch Ellen amüsirte sich nur, sie war ja an Starke's Seite, was konnte ihr da passiren.

Draussen vor den Thoren der Stadt war die Geschichte schon losgegangen. Auf der Wiese waren mehrere Plattformen aufgeschlagen, überall wurde gepredigt, gebetet und gesungen, am meisten führten Frauen das Wort. Die Andächtigen waren nicht nur Schwarzröcke und Nonnenkittel, auch viele modern Gekleidete standen oder lagen auf den Knieen dazwischen. Das waren die, welche sich nicht von ihrem Ehegespons, von Braut oder Bräutigam trennen mochten, es aber auch nicht mit den die Stadt beherrschenden Shakern verderben wollten. Sie machten aus kluger Geschäftsrücksicht eben mit, den Uebertritt zur allein seligmachenden Shakergemeinde immer wieder hinausschiebend.

Von einem Zittern und Wälzen bemerkte Ellen noch nichts. Sie waren von einer Plattform zur anderen gegangen, sie hörten, dort sollte die »Mutter« predigen, sie begaben sich hin, und als die Umstehenden merkten, dass zwei Fremde zuhören wollten, machte man ihnen bereitwilligst Platz, sie wurden immer weiter nach vorn geschoben. In diesem Gedränge merkte man nichts von Ellen's Costüm, dann kam auch die Andacht hinzu.

Die »Mutter« war eine ältliche, knochenhagere Frau — eigentlich eine Jungfrau — mit einer Brille, mit Haaren auf der Nase und mit Haaren auf den Zähnen, und sie donnerte gegen die Sünden dieser Welt los, wie nur je ein Prophet gedonnert haben mochte. Jetzt war sie gerade beim Ausmalen der Hölle und ihrer Qualen; und es war wirklich interessant, ihr zuzuhören, denn sprechen und malen konnte sie. Sie wusste ganz genau, wie es in der Hölle aussieht, kannte jeden Teufel bei seinem Namen, und die einzelnen Strafen der Verdammten wusste sie schauerlich schön zu beschreiben. Da war doch neulich der Apotheker Joseph Jobs gestorben, sonst ein ganz guter, gottgläubiger Mann — aber er hatte nicht zu den Shakern gehört, und nun hatte er's — nun sass er im Schwefelhöllenpfuhl Nummer 2416, wenn man hereinkommt gleich linker Hand, an einen Stuhl geschmiedet, und jeden Morgen frisst sich zum Frühstück eine hungrige Ratte durch seinen Leib, bis zum anderen Tag heilt das Loch wieder zu, und so wird sich die Ratte Morgen für Morgen bis in alle Ewigkeit durch den Leib des sich in tausend Schmerzen windenden Mannes fressen. Und so ging es fort, sie wusste Alles, Alles ganz genau, wie es in der Hölle aussieht.

»Die ist selbst schon einmal drin gewesen,« raunte Ellen ihrem Begleiter zu.

Aber es war ihr gar nicht so scherzhaft zu Muthe. Beim Anblick von etwas Ekelhaftem kann auch dem nervenstärksten Menschen einmal übel werden.

Immer mehr waren sie vorgedrängt worden, jetzt standen sie im äussersten Ringe, der sich in einiger Entfernung um die kleine Plattform schloss.

Da fiel der Mutter Blick auf die beiden Fremden, deren Köpfe sie bisher nur gesehen hatte, sie erstarrte, und dann wechselte sie das Thema plötzlich.

»Auf die Kniee — auf die Kniee nieder!« begann sie mit emporgereckten Armen zu heulen, schon auf den Knieen liegend. »Der Teufel! Oh du heillose Welt! Der Teufel! Oh du lieber, kleiner, blutiger Heiland, hilf uns im Kampfe gegen den Teufel. Lasse nicht Schwefel und Feuer auf uns herabregnen, denn wenn erst Frauen Männerhosen tragen, dann ist Sodoms Ende gekommen. Herr, Herr, im Namen Deines Sohnes, treibe ihr denTeufel aus .....«

»Jetzt wird es ungemüthlich, schnell fort von hier!« sagte Starke, ziemlich laut, fasste kräftig Ellen's Hand und brach sich, mit einiger Rücksichtslosigkeit Bahn durch die Reihen der Knieenden. Hinter ihnen wurde weiter der in den Hosen steckende Teufel beschworen, Alles fing an zu schreien.

»Nein, so etwas darf man nicht geduldig mit anhören,« sagte Starke, als sie in Sicherheit waren, »ich störe die Leutchen nicht, ich achte die Shaker sogar als eine fleissige, im Leben praktische Gemeinde, ich spotte niemals über irgend eine Religion — und deshalb verlange ich, dass man auch mich in Ruhe lässt. Wir wollen dorthin gehen, dort scheint's lustiger zu sein.«

Zuerst sah Ellen gar nicht, was dort um jene Plattform eigentlich vor sich ging, es wurde etwas Staub aufgewirbelt und sie musste gerade in die Sonne blicken; sie hörte nur ab und zu einen gellenden Ruf und Händeklatschen — bis sie näher kam. Hier hatte der heilige Geist schon die Andächtigen erfasst. Wie die Begeisterung nach und nach erweckt worden, das war Ellen entgangen. Auf der Plattform drehte sich eine Frau — vielleicht auch ein Mann — mit ausgestreckten Armen wie ein Kreisel herum, und zwar so blitzschnell, dass dies entweder als eine Kunst eingeübt oder dass es die Aeusserung eines krankhaften Zustandes sein musste, wie so etwas ja auch beim Wahnsinn oder beim Veitstanz vorkommt. Es ist Paroxismus!

Von demselben Paroxismus waren auch die meisten Zuschauer ergriffen, und wer es noch nicht war, der wurde es mit der Zeit, Schwarzröcke wie Andere. Zunächst klatschten sie taktmässig in die Hände und schrieen immer dazu: Jesus — Jesus — Jesus! Dann begannen sie, sich dabei hin und her zu wiegen, daraus wurde ein Tanzen, ein Hüpfen, ein Hochspringen, die Einen fingen auch an, sich im Kreise zu drehen, an einem Orte stehenbleibend oder um die Plattform herum — überhaupt machte es Jeder anders — andere warfen sich gleich hin und wanden sich in fürchterlichen Zuckungen am Boden, aber ganz sonderbar, sie konnten sich dabei aufschnellen wie etwa verwundete Schlangen, dass sie manchmal völlig in der Luft schwebten. Dabei hatten sie Schaum vor dem Munde und schrieen noch immer »Jesus«. Manchmal standen sie plötzlich wieder auf den Beinen und fingen an sich zu drehen oder zu springen, Andere sprangen nicht mehr auf, sie führten am Boden liegend einen förmlichen Tanz aus, der Eine klatscht sich immer auf die Schenkel, ein Zweiter schlug sich mit den Fäusten vor die Augen, ein Dritter lachte brüllend — Alle anders.

Einige Minuten standen die Beiden schon da, das seltsame, grässliche Schauspiel betrachtend.

»Ich bin kein Realist,« begann Starke nach einer Weile, »ganz im Gegentheil, meine Religion ist eine sehr mysteriöse, über welche selbst die sogenannten Gläubigen und Frommen gewöhnlich spotten. Ich bin kein Gottesleugner, und im Wald, in der einsamen Prairie, in der Wüste kann auch mein Herz überströmen von Gebeten. Aber hier, dieses Schauspiel zu Ehren Gottes am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, des Jahrhunderts der Aufklärung, das erfüllt mich mit Abscheu — und mit Schmerz und mit Wehmuth zugleich ....«

Ein Stöhnen entwand sich Ellen's tiefinnerster Brust. Aufmerksam sah sie Starke an. Trotz ihrer sonstigen gesunden, gebräunten Gesichtsfarbe war sie plötzlich weiss wie eine Leiche geworden, ihre Hände zuckten nervös, unruhig bewegte sie sich hin und her, starr hingen ihre Augen, welche ganz gläsern geworden, an den Springenden und Sichwälzenden.

Obgleich Starke erkennen musste, wie es mit ihr stand, nahm er sich nicht ihrer an, sondern fuhr ruhig fort:

»Und dennoch ist es sehr interessant und lehrreich, und ein wissenschaftlich gebildeter, dabei auch vorurteilsfreier Physiolog und Psycholog sollte hier einmal studiren und seine Erklärung abgeben. Was ist das dort? Ein Muskelkrampf, Nervosität, Ansteckung, Einbildung, Hysterie. So heisst es immer — und damit geht man achselzuckend wieder weg. Nein, so einfach ist das nicht. Hier steckt ein tiefes Geheimniss dahinter. Beobachten Sie doch nur; fällt Ihnen nicht etwas ganz Merkwürdiges auf? Sie tanzen und springen und drehen sich in dichter Menge, Alles geht durcheinander und übereinander, aber merken Sie einmal, dass zwei zusammenstossen? Sobald zwei Herumwirbelnde sich nähern, prallen sie auseinander, wie sich die zwei entgegengesetzten Magnetpole gegenseitig abstossen. Hier muss offenbar eine uns noch unbekannte Art von Elektricität mit im Spiele sein, durch die Nerven erzeugt. Das Knistern und Funkengeben der Haare habe ich zwar noch nicht beobachtet ....«

»Starke — Starke — ich — kann nicht mehr!« flüsterte Ellen mit kreideweissen Lippen, und jetzt griffen ihre zuckenden Finger schon in die Luft, sie hob abwechselnd die Füsse.

Anstatt sie fortzuführen, ergriff Starke nur ihre Hand. »Sie müssen!!« sagte er mit herrischer Stimme, dicht an ihrem Ohre. »Sie müssen hier bleiben!! Halten Sie aus, seien Sie stark, Sie dürfen nicht tanzen! Ich will es nicht! Ich will es nicht!!! Sagen Sie: ich will nicht!«

»Ich will nicht,« hauchte Ellen. Noch einige Minuten setzte Starke das seltsame Experiment fort, zu welchem Zwecke er sie jedenfalls nur hierhergeführt hatte, eine Suggestion, und wirklich, es gelang. Während dort der Tanz immer rasender wurde, wiederholte Ellen das »ich will nicht!« immer kräftiger, sie bekam die zuckenden Glieder wieder in ihre Gewalt. Dafür aber schien sie eine grosse Schwäche zu befallen, sie knickte zusammen. Starke musste sie stützen, auch die Farbe wollte nicht wiederkehren, und zuletzt führte er sie fort. Ellen taumelte an seinem Arme wie ein dem Tode naher Mensch. Erst nach und nach, als das Schreien hinter ihnen verklang, wurde ihr Gang fester.

»Es wird gleich vorüber sein,« tröstete Starke. »Schaden thut es Ihnen nicht. Ich habe schon zwei Personen auf diese Weise gegen nervöse Ansteckung gefeit, sie sind mir später sehr dankbar gewesen. Trinken Sie eine Limonade und zwingen sie sich, ein Biscuit zu essen, und es wird vorüber sein.«

Sie hatten die nahe Stadt erreicht, eines der ersten Häuser enthielt eine Confectionary, ein England und Amerika eigenthümliches Geschäft, keine Conditorei — eine Erfrischungshalle mit Limonaden und anderen unschuldigen Getränken, Eis und Backwerk, nach Londoner Muster Alles in grossen Fabriken hergestellt.

Ellen war wieder fähig, das Geschäft und das Hinterzimmer allein zu betreten, Starke bestellte Limonade und Biscuits, und sie fühlte sich auch wirklich äusserst durstig, sie schmachtete nach einem Trunk.

Eine Dame nahm die Bestellung in Empfang, es verging ziemlich viel Zeit, sie kam nicht wieder; in der Thür erschien einmal ein Mann, der Geschäftsinhaber, er verschwand, kam nicht wieder, draussen wurde geflüstert, Starke rief, jener Herr erschien, aber ohne das Bestellte.

»Es thut mir leid, ich darf Ihnen nicht serviren.«

»Warum nicht?«

»Weil — es würde meinem Geschäft schaden.«

»Sind wir nicht anständige Gäste?«

»Die Dame trägt eine hier ungewöhnliche Kleidung.«

»Sie meinen also: Sie wollen uns nicht serviren. Kommen Sie, Miss Howard.«

Sie betraten noch einen Milchladen.

»Bitte, verlassen Sie dieses Local!« rief die Wirthschafterin sofort aufgeregt, als sie kaum einen Blick auf Ellen geworfen hatte.

Die Beiden waren bereits boycottirt, über die unglückliche Hose war die Bannbulle verhängt worden. Wie dieses so schnell fertig gebracht werden konnte, darüber brauchten sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, es war ja nur ein ganz kleines Städtchen. Starke fasste diese Beleidigung mit gewöhnlichem Gleichmuth auf, Ellen dagegen machte ihrem Aerger über solches Muckerthum mit einigen lauten Worten Luft, dass es Vorübergehende hören konnten, denn schon kamen auch viele Shaker wieder zurück, und eben dieser Aerger trug dazu bei, dass sie sich rasch wieder erholte.

Nur ihr Durst wurde dadurch nicht gelöscht. Nun, bis zum Hôtel hatten sie jetzt nur noch einige Schritte, dort konnte man ihnen das bestellte Getränk nicht verwehren. In dem Hausflur kam ihnen gleich der Wirth entgegen, sich vor Verlegenheit die Hände reibend.

»Meine Herrschaften, ich muss Ihnen etwas sehr Unangenehmes mittheilen — mir ist es selbst noch viel unangenehmer — aber ich habe Sie gleich darauf aufmerksam gemacht — das Horrencostüm der Dame hat Anstoss erregt ....«

»Wollen Sie uns etwa mittheilen, dass wir das Hôtel verlassen sollen?« kam Starke dem Stockenden direct zu Hülfe.

»Nicht das — aber es wäre mir wirklich sehr angenehm, wenn Sie sich ein anderes Logis suchten....«

»Nein, mein lieber Mann, daraus wird nichts. Sind Sie der Gastwirth? Ja? Dann suchen Sie im Gesetzbuch den Paragraphen, nach welchem Sie uns als Gäste bis morgen Mittag um 12 Uhr beherbergen und beköstigen müssen — müssen! denn wir sind heute Nachmittag nach 6 Uhr hier angekommen, und unanständig haben wir uns nicht betragen, und Geld — sehen Sie hier, eine ganze Hand voll Silber und Gold. Also bringen Sie uns, bitte, eine Flasche Limonade und einige Biscuits.«

Der Wirth fügte sich, es blieb ihm gar nichts Anderes übrig, bei Weigerung konnte er verklagt werden und verlor die Schank-Concession; bei Anwendung von Gewalt konnte der Angegriffene ungestraft Gebrauch von seinem Revolver machen, und übrigens war es nur ein schwacher Versuch gewesen, sich eine Unannehmlichkeit vom Halse zu schaffen.

Ellen aber fühlte sich neugestärkt, nicht, nur durch die Erfrischungen, welche sie in dem in der ersten Etage gelegenen Speisezimmer in Gesellschaft Starke's zu sich genommen hatte — mit spöttischem Lächeln und kampfeslustigen Augen blickte sie von ihrem erhöhten Sitze am Fenster herab auf die Strasse, denn dort unten in der Abenddämmerung bereitete sich etwas vor. Die Versammlungen auf der Wiese schienen beendet zu sein, an allen Plattformen war der Paroxismus jedenfalls nicht ausgebrochen; immer neue Schaaren erschienen, vor dem Hôtel drängte es sich Kopf an Kopf, am meisten waren es Frauen.

»Das gleicht ja fast einer Belagerung,« konnte Ellen scherzen.

»Man wird fordern, dass Sie in dieser heiligen Stadt ein Damencostüm anlegen,« entgegnete Starke. »Aha, jetzt bildet sich schon ein Comité. Geben Sie nicht nach, Miss Howard, die haben kein Recht dazu, solch eine Forderung zu stellen, die Stadt ist nicht Privatbesitz der Shakergemeinde.«

»Fällt mir auch gar nicht ein!«

»Nur wenn sie Thorheiten begehen wollen, dann geben wir als die Klügsten nach. Dann werde ich ihnen aber erst einige Ueberraschungen bereiten.«

Der Wirth trat ein, zwei brennende Petroleumlampen mitbringend, und meldete ängstlich, dass drei Shakerfrauen die Dame zu sprechen wünschten.

»Führen Sie sie hier herein,« entschied Starke. »Miss Howard, übernehmen Sie das Gespräch, ich halte mich hier im Hintergrund.«

Es erschienen drei Frauen, die »Mutter« war nicht darunter, aber alle Drei ähnelten dieser sehr. Auch der Wirth blieb im Zimmer, in der Spalte einer geöffneten Seitenthür tauchte die Nasenspitze seiner Frau auf, darunter noch ein anderes Mädchengesicht. Starke war zurückgetreten, Ellen stand in der Mitte des Zimmers an dem Tisch mit einer Lampe.

»Sie wünschen mich zu sprechen? Womit kann ich dienen?«

Die Sprecherin, eine alte Dame mit den meisten Haaren auf den Zähnen, stellte sich als Abgesandte der Shakergemeinde vor und verlangte im Namen der Prophetin kurz und bündig, dass Ellen sofort die Hose ausliefern und dafür ein »christliches« Gewand anlege.

»Ich fahre ein Herrenrad und kann darauf in einem Damenkleid nicht sitzen,« sagte Ellen ruhig.

»Warum fahren Sie ein Herrenrad? Das ist — das ist — eine Sünde. Das ganze Radfahren ist eine Sünde. Die Prophetin hat es verboten. Jetzt haben Sie hier überhaupt gar nichts zu fahren, wir verlangen, dass Sie in dieser frommen Stadt wie eine anständige Frau gehen, Ihr Kleid beleidigt die ganze Männerwelt.«

»Pfui - pfui,« hatten hinter der Sprechenden zwei Damen mit Fistelstimme gesagt, schon gleich, als nur das Herrenrad erwähnt worden war.

»Ich habe kein Damenkleid.«

»Verschaffen Sie sich eins, borgen Sie sich eins — vor allen Dingen aber wollen wir Ihre Hose haben.«

»Was, meine Hose wollen Sie auch noch haben? Wozu denn?«

»Wir sind beauftragt, von Ihnen die Hose zu fordern.« »Wenn Sie auch gern solche Hosen tragen möchten, so kaufen sie sich doch welche,« ging jetzt Ellen zum Spott über, und die Entrüstung der alten Jungfern war begreiflich.

»Ihre Hose wollen wir haben, Ihre Hose müssen wir haben!« erklang es kreischend.

»Wozu denn nur in aller Welt,« fragte Ellen noch mit grösster Gemüthsruhe.

»Wir wollen den Teufel verbrennen!« erklang es unisono im höchsten Diskant.

»Den Teufel? Welchen Teufel?«

»Der in der Hose steckt — die Prophetin will es — wir sollen die Hose verbrennen!«

»Geben Sie Ihnen die Hose doch, Madame,« begann jetzt auch der Wirth zu flehen.

»Gut, Sie sollen die Hose haben,« liess sich da plötzlich Starke vernehmen, aus seiner dunklen Ecke hervortretend.

Draussen auf der Stesse war es auch laut geworden. »Die Hose her, die Hose wollen wir haben!« erklang es dort unten ebenfalls stürmisch aus Frauenkehlen, und man blieb nicht allein bei dieser Forderung; allem Anschein nach traf man schon Vorbereitungen, die Fenster des Hotels einzuwerfen; man sammelte Steine, eine Shakerin hatte schon eine ganze Schürze voll. Dies mochte Starke zum Nachgeben bewegen.

»Sie wollen wirklich darauf eingehen?« fragte Ellen finster.

»Sie wollen uns die Fensterscheiben einwerfen ........«

»Um Gottes Willen, sie sind nicht versichert!« schrie der Wirth entsetzt.

»Ruhe. Ich sagte schon, dass Ihnen diese Dame das teuflische Bekleidungsstück ausliefern wird,« wandte er sich an die drei Abgesandten. »Aber Sie können nicht verlangen, dass Ihnen die Dame die Hose auf der Stelle in die Hand drückt. In fünf Minuten werden Sie sie erhalten, bitte, beruhigen Sie einstweilen Ihre Genossinnen, ehe Sie die Fenster einwerfen.«

»In fünf Minuten also, oder wir stürmen das Haus,« erklang es noch einmal drohend, und anstatt zum Fenster hinauszurufen, verliessen die Drei das Zimmer, um den unten Wartenden ihren Triumph mitzutheilen.

»Schnell,« sagte Starke hastig, ehe ein Anderer das Wort ergreifen konnte, sich an den Wirth wendend, »besorgen Sie der Damel ein Kleid — von Ihrer Frau, sie haben eine Figur — oder von sonst wem, wenn es nur ein Kleid ist.Wir haben keine Secunde zu verlieren, meine fünf Minuten waren etwas voreilig — bringen Sie das Kleid sofort auf das Zimmer der Dame.«

Und als der Wirth hinausgeeilt war, die lauschenden Köpfe verschwunden, wandte sich Starke mit ebenso schnellem Munde an Ellen, ohne dabei seine Ruhe zu verlieren:

»Hier heisst es: der Klügste giebt nach. Mag Gott wissen, wie es in den ihren Köpfen aussieht, ich weiss es nicht. Nur soviel ist mir bewusst, dass den bigotten Frauenzimmern mehr darum zu thun ist, Ihre Hose als eine Höllenausgeburt zu verbrennen, als um Sie in einem Damenkleid zu sehen. Schnell, auf Ihr Zimmer! Werfen Sie die Hose auf den Corridor, schnell, sofort, ich brauche sie!«

War es Ellen noch immer nicht recht begreiflich, was die Frauen eigentlich wollten, so war ihr Starke's Verlangen jetzt erst recht ein Räthsel. Aber sie gehorchte, und noch waren keine fünf Minuten verstrichen, als Ellen schon wieder in dem Speisezimmer stand, zum ersten Male während ihrer Radreise in einem Damenkleid.

Unten tobten die fanatischen Weiber, die fünf Minuten wurden ihnen zu lang.

»Die Hose her — wir wollen den Teufel austreiben!«

»Treten Sie doch auf den Balcon; sie werfen mir wirklich noch die Fenster ein!« flehte der Wirth.

Vor den Fenstern befand sich ein Balcon, und Ellen willfahrte dem Wunsche, sie zeigte sich dem versammelten Volke als Weib.

»Die Frömmigkeit hat gesiegt,« sagte sie ärgerlich lachend, und dann blickte sie doch etwas ängstlich hinab. Es war dunkel geworden, die Strassenlaternen brannten und Kopf an Kopf drängte sich die Menge, fast nur noch aus älteren und jüngeren Frauen bestehend, unter ihnen auch die »Mutter.« Ein betäubendes Triumphgeschrei empfing die Erscheinende, bald aber war man hiermit nicht zufrieden, die Hauptsache fehlte noch.

»Die Hose — wo ist die gottlose Hose — die Teufelshose!«

Immer stürmischer wurde die Forderung, die fünf Minuten verstrichen, und Starke wollte nicht kommen, knochige Fäuste zeigten die Pflastersteine, jetzt war die Prophetin mit einer langen Stange bewaffnet, welche entweder als Rammwidder oder zum Fenstereinschlagen dienen sollte. Ellen dachte schon an den Rückzug, als plötzlich Starke neben ihr stand, das begehrte Kleidungsstück zusammengerollt in den Händen.

»Was wollt ihr?« rief seine dröhnende Stimme.

»Die Hose — die Hose!«

»Da habt ihr sie!«

Es war wohl kein Zufall, dass die Hose der Prophetin gerade in's Gesicht flog und zwar mit einer Wucht, dass die alte Dame gestürzt wäre, hätte die drängende Menge dies nicht unmöglich gemacht. Aber es wurde nicht beachtet, ein neues Freudengeheul, und im nächsten Augenblick sah Ellen, ihre Hose oben an der langen Stange flattern und die Sieger rückten ab, die Prophetin mit der erbeuteten Trophäe an der Spitze.

»O sancta simplicitas, Herr, verzeihe Ihnen,« sagte Ellen, in das Zimmer zurücktretend. »Was sagen Sie nun zu alledem, Mr. Starke?«

»Dass mit Fetischanbetern, Shakern, Antiradfahrern und Consorten nicht gut Kirschenessen ist, wenn sie zur Ehre ihrer Sache in Wuth kommen. Die guten Leutchen werden sich, während wir den Tanzenden zusahen, noch viel über Ihre Hose erzählt haben; sie haben sich in den Kopf gesetzt, dass Sie vom Teufel besessen sind, weil Sie eine Herrenhose tragen; nach ihrer Ansicht muss der Teufel in der Hose stecken und deshalb muss die Hose sammt dem Teufel auf dem Scheiterhaufen enden. So wenigstens denke ich es mir mit meinem normalen Gehirn. Sonst aber können Sie ebenso gut einen Laubfrosch fragen, was er denkt, wenn er tiefsinnig den Mond betrachtet. — Wollen Sie nicht wenigstens dem Feuertode Ihrer unglücklichen Hose beiwohnen?«

»Nein, danke, ich habe wirklich keine Lust, nochmals mit diesen Menschen in nähere Berührung zu kommen. Nun muss ich aber eine andere Hose haben.«

»Wir werden schon eine bekommen«, und wenn — was ich nämlich sehr stark glaube — sich alle Schneider des heiligen Hamsteads weigern, uns eine Hose zu geben, und der Wirth ebenfalls, so werde ich Ihnen bis morgen früh eine machen.«

Sie wurden gerufen, auf der Wiese wurde von den Shakern etwas vorgenommen, wahrscheinlich mit der Hose; von einem Hinterzimmer aus konnten sie Alles sehen; sie begaben sich dahin und blickten durch das geöffnete Fenster.

Es war dunkle Nacht geworden, man hörte ein vielstimmiges Gemurmel, in einiger Entfernung huschten Lichter hin und her, bis eine auflodernde Flamme die ganze um den angezündeten Holzstoss versammelte Shakergemeinde erkennen liess. Erst schien gepredigt und gebetet zu werden, jetzt wurde wahrscheinlich die gottlose Hose sammt dem Teufel feierlich dem verzehrenden Feuer übergeben, jetzt erscholl ein Choral. In finsterer Nacht der brennende Scheiterhaufen, mit rothem Feuerschein die Umstehenden übergiessend, der feierliche Gesang — es war eine schöne, erhabene Scene, wenn ihr nur nicht ein solch' lächerliches Motiv zu Grunde gelegen hätte.

Ein donnernder Kanonenschuss, die nächsten der Umstehenden stoben auseinander.

»Was war denn das?« fragte Ellen erstaunt.

»Das war Nummer eins,« entgegnete Starke trocken.

»Da — da — der Teufel — das ist der Teufel!« erklang es gellend, entsetzt und jauchzend — und langsam und majestätisch stieg aus dem Scheiterhaufen zum dunklen Himmel eine Rakete empor, hochoben sich in einen Feuerregen zertheilend und dann folgte aus dem brennenden Holzstoss noch ein brillantes Leuchtkugelspiel nach.

»Das ist der Teufel — wir haben den Teufel ausgetrieben!!« frohlockte die Menge, wenn auch Einige tiefer schauen mochten.

»Ich habe für alle Fälle immer einiges Feuerwerk in meinem Reisegepäck,« erklärte Starke dem vor Staunen ganz starren Mädchen, »das habe ich in der Hose befestigt, ehe ich sie hinunterwarf, ein paar Donnerschläge — einer ist nur losgegangen, eine Rakete, einige Frösche und Leuchtkugelpatronen. Man muss den guten Leuten doch eine Freude bereiten.«

Mehr sah und hörte Ellen nicht, sie trat zurück, stiess an Etwas, stolperte, fiel auf ein Sopha, und da blieb sie liegen und lachte — lachte, dass sie zu ersticken meinte.

Noch spät in der Nacht sass Ellen auf ihrem Zimmer und schrieb mit fliegender Feder an einem Reisebericht. An Stoff fehlte es ihr ja nicht, und sie selbst musste noch immer über ihre Humoreske lachen. Von den Shakern waren sie nicht wieder belästigt worden.

Manchmal lauschte die Schreiberin. Es kam ihr immer vor, als wenn Starke in diesem Hôtel einen Gesellschafter gefunden habe, vielleicht einen noch spät angekommenen Gast. Denn in seinem Zimmer war er nicht, wie sonst gewöhnlich um diese Zeit, einmal ging er über den Corridor und sprach mit einem Manne, dessen Stimme erst Ellen zu kennen glaubte, welchen Gedanken sie aber schnell wieder verwarf.

Einen Grund, ihn noch einmal zu sprechen, hatte sie nicht, Ellen hätte auch wieder Toilette machen müssen. Sie hatte ihm gute Nacht gesagt und dabei erfahren, dass thatsächlich kein Schneider und kein Geschäft für heute und vielleicht auch für die nächste Zeit eine Herrenhose lieferte, natürlich auf Befehl der Shaker. So vorsichtig waren diese Leute, sie wollten durchaus, dass die fremde Dame zu ihrem Seelenheile »christlich« wenigstens diese fromme Stadt verliesse. Dann würde wohl auch der Wirth nicht zu bestechen sein, vorausgesetzt, dass des dünnbeinigen Yankees Garderobe dem jungen Mädchen gepasst hätte. Nun, Starke würde schon dafür sorgen, dass Ellen morgen früh auf ihrem Herrenrad nicht in Verlegenheit kam, er hatte ja schon davon gesprochen.

Das Feuilleton in vier Fortsetzungen war beendet; Ellen ging zu Bett und schlief mit einem letzten Lachen ein. Als sie mitten im festesten Schlafe von einer Hand emporgezogen wurde, wusste sie bereits, dass dies nur eine eingebildete Hand war, die Macht der Gewohnheit; denn Starke klopfte, wie stets, nur draussen an der verschlossenen Thür, sie zum Aufstehen auffordernd, es sei halb vier Uhr.

»Hier,« setzte er diesmal noch hinzu. »Haben Sie mich verstanden? Sind Sie wach?«

»Ja,« sagte Ellen laut und deutlich. Sie war auch schon aufgestanden, sie holte dann auch die auf dem Corridor liegende Hose herein, zog sie an — aber dabei schlief sie ruhig weiter. Es war ja kein richtiger Schlaf, doch wach war sie auch noch nicht — es war eben Alles die Macht der Gewohnheit. So ging es jetzt schon seit langer Zeit jeden Morgen.

Zum eigentlichen Bewusstsein kam sie erst, als sie, das Rad mit der brennenden Laterne führend, in die kalte Nacht hinaustrat und fröstelnd zusammenschauerte. Nun in den Sattel gestiegen und aus Leibeskräften drauf los getreten, immer zitternd und zähneklappernd. Es ist eine unangenehme Empfindung, die erste Stunde am noch finsteren, kalten Morgen; in dieser ersten Stunde wurde nie ein Wort gewechselt, und umsonst fuhr Starke auch nicht als Schrittmacher so schnell voraus.

Vor ihnen war noch Alles dunkel und grau, aber sie wurden von hinten von einem rosigen Scheine überholt, der immer weiter huschte, mit einem Male jubilirende Vogelstimmen, und da erwachte auch Ellen wieder zum Leben.

»Haben Sie gestern in dem Hôtel Unterhaltung gefunden, Mr. Starke?« fragte sie, und augenblicklich war Jener an ihrer Seite. »Ich hörte Sie mit einem Herrn sprechen.«

»Ja, und diesen Herrn kennen Sie auch.«

»Ich? Wer sollte das sein?«

»Mr. Schade. Mir kam sein Hiersein gleich verdächtig vor, ich trank einige Flaschen Wein mit ihm und zog dem jungen Manne — mit Verlaub zu sagen — die Würmer aus der Nase. Meine Ansicht war richtig über den »New-Yorker Spion,« und Mr. Schade passt ganz als Berichterstatter dazu, und dass er Sie nicht compromittiren darf, habe ich ihm begreiflich gemacht. Er denkt auch gar nicht daran. Dagegen denkt er an etwas Anderes, er will nämlich zwei Fliegen mit einem Schlage klappen, er schreibt auch für die »Morning-Chronicle«, und dieser Zeitung will er Berichte über unsere Radreise zuschicken. Mit anderen Worten: Mr. Schade hat die Absicht, uns auf dem Rade um die Erde zu begleiten.«

»Um Gottes Willen!« rief Ellen erschrocken.

»Haben Sie keine Furcht. Dieselbe Absicht hat er schon neulich gehabt, und er konnte uns nicht einmal den kleinen Hügel hinauf folgen. So wird er noch mehrmals uns mit der Eisenbahn nacheilen müssen, und wenn wir uns dann einmal wiedersehen — nun, das macht stets Freude. Vorläufig ist er schon wieder unschädlich. Gestern Abend bat er mich, ich sollte ihn heute früh wecken; den Gefallen, ihm dies zu versprechen, that ich ihm nicht, und ehe er einem vom Hôtelpersonal den Auftrag geben konnte, dachte er nicht mehr daran, da lag er schon voll des süssen Weines unter'm Tisch. Der schläft erst bis heute Mittag seinen Rausch aus.«

Es wurde heller, und immer aufmerksamer blickte Ellen während des Fahrens auf ihre Hose.

»Wo haben Sie denn eigentlich diese Hose her! — — diese schottisch-carrirte Hose — — wie ist mir denn — die kommt mir so bekannt vor.''

»Als ich gestern Abend den schwer geladenen Reporter zu Bett brachte, fiel mir ein, wie gut wir seine Höschen gebrauchen könnten,« erklärte Starke mit Gleichmuth, »und da habe ich sie mir angeeignet, habe ihm dafür einen entschuldigenden Zettel auf's Bett gelegt und daneben einen zweiten Frauenrock, den ich der Wirthin schon abgekauft hatte, um Ihnen daraus eine Hose zu schneidern. Ferner habe ich die Wirthsleute instruirt, dem Manne keine Hose zu leihen; er weiss es übrigens selbst, dass in der hosenfeindlichen Stadt jetzt keine zu haben ist. Ehe der wieder auf der Strasse erscheinen darf, sind wir in San Francisco.«

Ellen in des dicken Reporters Hose! Das Frösteln war vorüber, ein schallendes Gelächter begrüsste die aufgehende Sonne.


— — — — — — — —

Lang Zeit brauchte Mr. Schade, ehe er sich völlig bewusst war, dass er überhaupt noch lebe, und noch länger dauerte es, bis er sich besann, wo er sich eigentlich befinde, was mit ihm geschehen.

Starke, wecken, californischer Rothwein, Portwein, Champagner, Brandy — so war sein Gedankengang, und dann war es aus, und jetzt stand die Sonne schon hoch am Himmel. Halb vier war es keinen Falls mehr — nein, aber halb elf.

»Himmeldonnerwetter!« Aber Mr. Schade war ein Yankee; und deshalb schrie er: »Jesus Christus und General Jackson!«, als er mit einem Satze aus dem Bette sprang. Das war tollkühn gewesen, denn zuerst glaubte er, in seinem Kopfe crepire eine Dynamitpatrone, dann taumelte er einige Male durch's Zimmer, bis er das Gesuchte sah, das gefüllte Waschbecken, in dessen Wasser er seinen glühenden Schädel auszischen liess.

Verschlafen! Da war nun nichts mehr zu machen, nur nachher wollte er den Wirth ausschimpfen. Zunächst kleidete er sich mit Schmerzen an, d. h. er zog seine Strümpfe an, wonach schon ein Stillstand eintrat. Er sah sich um, ah, da lag sie — nein, das war sie nicht. Kopfschüttelnd betrachtete er den Frauenrock. Wie kam denn ein Frauenrock in sein Zimmer? Angehabt hatte er ihn doch nicht. Er sah sich weiter um, in die Schränke, auf die Schränke, in's Bett, unter's Bett, allein das für einen Mann unentbehrlichste Kleidungsstück war nicht zu finden.

Er klingelte, der Wirth erschien.

»Habe ich Ihnen nicht gesagt, dass Sie mich heute früh einhalb vier wecken sollten?'' fuhr er diesen zunächst an.

Der Wirth versicherte, keinen solchen Auftrag von dem Gast bekommen zu haben und Mr. Jakob glaubte es ihm.

»Habe ich gestern, als ich hier ankam, eine Hose angehabt?«

»Natürlich haben Sie eine Hose angehabt,« lächelte der Wirth unsicher.

»Wirklich? Schade. Dann ist sie mir gestohlen worden.«

Dem sah aber auch nicht so aus, dass ein Dieb im Zimmer gewesen, denn Photographen-Apparat, Uhr, andere Sachen und loses Geld, welches in der Hose gesteckt, lagen unversehrt auf dem Nachttisch.

Der Wirth half mitsuchen und fand wenigstens einen Zettel unter dem Bett, las ihn und gab ihn verständnissvoll lächelnd dem Gaste.

»Nach dem, was ich Ihnen gestern Abend erzählt habe, in welche Verlegenheit Miss Howard gekommen ist, haben Sie wohl die Güte, Ihre Hose der Dame zu leihen. Bedienen Sie sich dafür des schon bezahlten Rockes. Curt Starke.«

Lange sass Mr. Schade in Gedanken versunken da, betrachtete seine roth und weiss gestreiften Unterhosen, kratzte sich am Kopfe, und da kehrte ihm nach und nach die Erinnerung zurück.

»Ist gestern die Zeche bezahlt worden?« war dann die Frucht seines Nachdenkens.

»Jawohl, Mr. Starke hat Alles bezahlt.«

»Scha ....... das ist gut, wollte ich sagen. Hm, jetzt entsinne ich mich auf Alles. Bringen Sie mir den Thee und gleich mein zweites Frühstück.«

Damit war der Wirth entlassen.

Um zwölf Uhr strömten Männer und noch mehr Frauen aus den Werkstätten und Manufacturen, um sich nach den gemeinschaftlichen, aber nach den Geschlechtern getrennten Speiseanstalten zu begeben. Wer die Person sah, welche aus dem Hotel auf die Strasse trat, ein Rad schiebend, blieb verwundert stehen. Gestern war ihr keusches Gemüth von einer Frau im Männeranzug mit einem Herrenrad geärgert worden, heute war es eine Frau im Damencostüm mit einem Herrenrad, und dazu hatte diese Dame auch noch ein polizeiwidriges Mopsgesicht. Und wie in aller Welt wollte die denn auf so ein Herrenrad hinaufkommen?

Das war sehr einfach, die Dame zeigte es den Versammelten sofort, sie hob einfach den Rock hoch, sass im Sattel und radelte davon, die kreischende Gemeinde hinter sich lassend.



16. Capitel.

Die letzte Stadt.

Ellen gab am Schalter ein Telegramm ab: »Lady-Champion-Club, London W. Allright. Ellen Howard.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen, das schrieb ja der Telegraphenbeamte mit Blaustift auf das Formular: Omaha-City, 1. October, 9 Uhr Vormittags.

Sie bezahlte und dann seufzte sie leise, als sie durch den geräumigen Saal schritt.

Es war Markttag, die Hauptstrasse sehr belebt, neben der Treppe des Postgebäudes an der Häuserwand stand Starke mit den beiden Rädern, als zweiter Wächter lag Hassan davor.

»Vor 30 Jahren stand der Name Omaha noch nicht auf der genauesten Landkarte, kein Conversations-Lexikon wusste etwas davon, und nun — kommen Sie, ich will Ihnen etwas zeigen, ich bin schon drüben gewesen.«

Mit diesen Worten empfing er die Zurückkehrende, sagte zu Hassan etwas auf Arabisch, der Hund blieb bei den Rädern und Ellen folgte Starke über die Strasse. Es gab sehr schöne Schaufenster; eines war besonders stark von Strassenpassanten, meist Damen, belagert, Starke drängte sich durch, machte für Ellen Platz und sofort stiess diese einen Ruf der Ueberraschung aus.

Es war ein Juwelierladen, doch das Auge wurde nur von einem prachtvollen im Etui liegenden Diamantenhalsbande gefesselt, mehr sah es nicht.

,,Nur 20 000 Dollars, unter Selbstkostenpreis.«

»Herrlich! Prachtvoll! Unvergleichlich! Wie schön! Ach!« So seufzte Ellen und so seufzten alle Anderen von Evas Geschlecht, ob sie nun einen Hut für 25 Dollar oder eine Kappe für 25 Cents auf dem Kopfe hatten.

»Aber wer soll das hier nur kaufen?« flüsterte dann Ellen.

»Omaha ist zwar nur ein Städtchen, aber kein englisches oder deutsches, hier sind wir in Amerika. Ich kann mir die Sache recht gut erklären. Das ist doch offenbar auf Bestellung gearbeitet. Reiche Leute giebt es in Amerika überall, auch in Omaha-City, und da hat solch ein Millionär einmal mit einer Speculation, die er schon für verloren erachtet, noch ein recht gutes Geschäft gemacht, er denkt: ich will meiner Frau auch eine Freude bereiten — geht zum Juwelier, bestellt ein Diamantenhalsband und zahlt die Hälfte an. Ueber Nacht ist der gute Mann bankerott — das geht hier noch schneller als das Reichwerden — und er ist froh, wenn er nur einen Theil der Anzahlung als Reugeld lassen muss. Nun stellt es der Goldschmied einige Tage hier aus, vielleicht findet sich doch ein Käufer, wenn nicht, geht er nach New-York, dort wird er es sofort los. Es scheint den Preis wirklich werth zu sein; eine geschmackvolle Anordnung der verschiedenen Schliffe, eine gediegene Fassung, soweit es sich von hier aus beurtheilen lässt.«

»Ich könnte es kaufen,« flüsterte Ellen wieder traumverloren.«

Alle Hutfedern begannen aufgeregt zu nicken, ein Rucken und Zucken ging durch die ganze weibliche Versammlung — denn ein Arm tauchte hinter den Stellagen auf, eine weisse Hand fasste das Etui und verschwand mit dem funkelnden Schmuck. Die Sonne war untergegangen.

»Jetzt wird es verkauft,« ging es stöhnend von Mund zu Mund.

»Frau General Hendrik ist es.«

»Ach, die kann ja keine 20 000 Kartoffeln kaufen.«

»Und die Frau Major Meyer ist auch drin, wissen Sie, die in der Maquartstreet links.«

»Die soll erst ihren Fleischer bezahlen.«

»Mir schuldet sie auch noch die Semmeln.«

»Frau General Hendrik, ist das die, die am Flusse die Schifferwirthschaft hat?«

»Freilich, und ihre Tochter hat ein kurzes Bein. Aber das kann ich sagen, wenn die das Halsband kauft, dann erzähle ich etwas von ihr, dass— — —!«

Die weisse Hand mit Etui und Halsband tauchte wieder auf, Alles seufzte erleichtert auf. Auch Ellen hatte wie hypnotisirt auf die leere, finstere Stelle gestiert.

»Ich könnte es kaufen,« flüsterte sie nochmals.

»Ich weiss es. Kommen Sie doch einmal herein, betrachten Sie es sich in der Nähe.«

Wie gebannt folgte Ellen, sie betraten den Laden; auf Starke's Wunsch holte der Geschäftsinhaber nach einem prüfenden Blick auf die Beiden das Halsband wieder aus dem Schaufenster heraus. Mochten es auch recht staubige Kunden sein, dieser Juwelier konnte schon echt von unecht unterscheiden, und wenn die Dame im schmutzigen Radfahrercostüm auch nur einen oxydirten Kupferring trug, das hatte für ihn nichts zu sagen, das war besser als ein falscher Diamant.

Zuerst nahm Starke die Kette, liess sie im Sonnenlicht wie flüssiges Feuer durch die Hände rollen, betrachtete sorgfältig jeden einzelnen Diamanten, abwechselnd in Treppen-, Rosetten- und Brillantschnitt gruppirt, was ganz besonders ein wunderbares Farbenspiel hervorbrachte, er öffnete seinen Rock, nahm aus der Westentasche ein Vergrösserungsglas und klemmte es sich in das Auge, und der Juwelier lächelte nicht, denn er bemerkte, dass dieser sonnverbrannte Mann im ledernen Anzuge nicht nach der Stempelmarke suchte — dann hätte er sehr wenig von Diamanten verstanden, wenn er etwa glaubte, das könnte kein echtes Gold sein — nein, er prüfte unter dem Mikroskop die Fassung, und überhaupt, schon wie er die Kette angriff, das verrieth dem Goldschmied den Sachverständigen.

»Er ist es werth, nehmen Sie ihn,« sagte Starke, das Glas aus dem Auge in die Hand fallen lassend und den Schmuck Ellen gebend.

Ellen's Augen leuchteten, ihre Hände zitterten, als sie die Kette empfing. Warum? So zittert der Kunstliebhaber, wenn er von einem alten Kupferstich den épreuve d'artiste, den ersten Abzug von der Platte, vielleicht auch der Sammler, wenn er eine alte Sachsenmarke in die Hand nimmt.

»Ich muss den Herrschaften bemerken,« sagte der Juwelier, welcher sehr unruhig aussah, und er blickte nach der Uhr, »dass ich sofortige Baarzahlnng verlange. Ich bin durch den Schmuck in grosse Verlegenheit gekommen — es steckt mehr als mein Vermögen darin — und heute ist der Erste, auch ich habe Zahlungen zu leisten.«

»Sofortige Baarzahlung?« murmelte Ellen, anscheinend ganz sinnestrunken. »Ach nein, das geht doch nicht, so viel habe ich doch nicht bei mir. Aber gut bin ich Ihnen wie die Bank von England, telegraphiren Sie ....«

»Es thut mir leid. Ich habe schon sicherere Angebote bekommen, aber — ich kann nicht. Vor einer halben Stunde war ein Gentleman hier, er ist sicher wie Gold, aber ich gehe nicht ab von meinem Princip. Um zehn Uhr will er wieder hier sein mit den 20 000 Dollars.«

Ellen machte ein todestrauriges Gesicht und seufzte, als ob es ihr letzter Athemzug sei. Ihre Vorbereitungen vor der Reise waren sehr überstürzt gewesen, sie hatte mit ihrem Bankier nur das Nothwendigste besprechen können. Ihre Creditbriefe lauteten auf Bankhäuser in allen grösseren Städten, sogar in solchen, die weit ab von ihrer Tour lagen; nach St. Louis z. B. kam sie ja gar nicht, aber Omaha-City und andere fehlten. Ja, Starke hatte ihr schon wiederholt mit Geld aushelfen müssen, denn grössere Summen wollte sie nicht bei sich tragen. Freilich hätte sie bei Vorweis ihrer Creditbriefe auch hier von einem Bankhause einige tausend Dollars erhalten, aber nicht mehr heute, da wurden auch erst telegraphische Erkundigungen in London eingezogen. Und vollends 20 000 Dollars, daran war gar nicht zu denken. Und eine Depesche an den Londoner Bankier: weisen Sie mir sofort telegraphisch eine halbe Million an — das geht wohl in Jugendschriften, aber nicht in der Geschäftspraxis. So weist der Bankier nicht einmal fünf Groschen an, er will, die Unterschrift haben. Vielleicht kann es anders werden, wenn erst die graphische Telegraphie im Gange ist.

Kurz, Ellen sah keine Möglichkeit, vor Ablauf einer Woche sich solch eine Summe zu verschaffen.

»Sie haben jenem Gentleman den Schmuck schon versprochen?« fragte Starke.

»Nun, dann könnte ich ihn Ihnen doch nicht mehr anbieten.«

»Aber um zehn Uhr will er doch wieder hier sein ....«

»Vielleicht, vielleicht, auch nicht. Ich habe ihm nichts versprochen. Es ist ein New-Yorker Gentleman, es scheint ihm gerade so wie Ihnen zu gehen. Er will sehen, die 20 000 Dollars zu bekommen, und hat gesagt, er wollte um zehn wieder hier sein. Aber das geht mich gar nichts an. Wer den Schmuck bezahlt, hat ihn.«

»All right, er gehört mir.«

Starke legte das Halsband in das Etui, schloss es und übergab es Ellen.

»Sie erlauben doch wenigstens, dass ich zum Bezahlen in die Tasche greife?«

Ellen staunte, und der Juwelier war etwas verblüfft.

»Natürlich, natürlich — Sie kaufen den Schmuck?«

»Wie ich gesagt, und ich bezahle sofort baar. Also Sie erlauben wenigstens, dass ich erst mein Portemonnaie ziehe? Nun, ich habe mein Portemonnaie hier auf einer Bank. Mann, machen Sie doch nicht solche Umstände! Ich sage Ihnen, ich kaufe den Schmuck und bezahle ihn baar innerhalb einer viertel, einer halben Stunde. Es wäre doch lächerlich, wollte innerhalb der halben Stunde ein Anderer kommen, der nun mehr Recht hätte als ich. Ist der Schmuck mein?«

Der Juwelier sah ein, dass dies ein glattes Geschäft war.

»Wenn es so ist — einverstanden.«

»Miss Howard — sind die beiden Gentlemen dort Ihre Commis? — sie sind Zeugen: ich habe das Diamantenhalsband für 20 000 Dollars gekauft. Es könnte sein, dass das Bankhaus mir innerhalb einer halben Stunde solch eine Summe nicht baar auszahlen kann. Auf welches Bankhaus in Omaha City wollen Sie eine Anweisung haben?«

»Auf die New-Yorker Hypothekenbank, die ist gut wie Gold. Gleich hier oben an der Ecke.«

»All right, ich eile sofort hin. Miss Howard, nur noch ein Wort zu Ihnen, damit Sie sich des Schmuckes inzwischen erfreuen können, denn vorläufig gehört er mir. Soll ich Ihnen die 20 000 Dollars leihen?«

»Sie?« brachte die vor Staunen starre Ellen endlich hervor.

»Antworten Sie doch kurz. Aber ich nehme 5 Procent, für den Tag ausgerechnet. Denn ich habe mein Geld zu 5 Procent angelegt, und da ich das herausziehe, müssen Sie mir diese geben. Pro Tag 12 Mark Zinsen, das ist eine ganze Kleinigkeit mehr als 5 Procent, was ich für die Spesen berechne. Einverstanden?«

»Ich bin damit einverstanden.«

»All right, das Halsband gehört Ihnen. Schriftlich machen wir es dann ab. Ich denke, schon in zehn Minuten zurück sein zu können.«

Er war hinaus. Nun hätte sich Ellen des glänzenden Schmuckes freuen können; sie liess die blitzenden Steine auch durch die Finger gleiten, doch die rechte Freude war es nicht mehr, eine bittere Empfindung mischte sich dazwischen, und sie war überhaupt schon seit einiger Zeit manchmal sehr melancholisch, besonders wenn sie Abends in dem einsamen Hotelzimmer allein war.

Was war mit ihr? Wer war dieser Mann? Wie sollte das enden?

Nein, es war kein Mensch mit einem Herzen. Ein Automat mit einem wunderbaren Mechanismus, einem Gehirn vergleichbar: es befahl, und die Glieder gehorchten. Nur lachen und Weinen konnte dieser Automat nicht, eben weil der Künstler das Herz nicht nachzuahmen vermocht hatte.

Und sie liebte diesen menschlichen Automaten! Nur noch 280 Tage, dann würde er ihr nicht mehr gehören, laut Contract, dann würde sie ihn einer anderen Person abtreten müssen, vielleicht auch wieder einer Dame, und er würde ihr gegenüber auch wieder der gefällige, aufmerksame, höfliche und kalte Automat sein, und die Andere würde ihn wahrscheinlich auch wieder so lieben.

Was sollte daraus werden? Sollte sie ihm etwa um den Hals fallen? Sie glaubte nicht mehr daran, ihn erwärmen zu können, denn er besass ja kein Herz.

Aber wenn es gelänge!! Wenn ihm eine Seele einzuhauchen wäre! Es blieb Ellen's schöner Traum — und der schöne Traum machte sie immer unglücklicher. Die ganze Weltreise war ihr schon längst verleidet. Sie sah das Ende kommen, wie er die Rechnung präsentirte, ein höflicher Abschied, und er ging. Sie hatte schon mehrmals vorgehabt, die Reise aufzugeben, nur darum, weil sie sich doch einmal von ihm trennen musste — aber das war es eben, vor diesem Ende zitterte sie; sie wünschte, dass die Fahrt ewig dauern, dass sie nie aus diesem schönen Traume erwachen möge.

Liebte er sie denn? Sie glaubte es und hatte doch keinen anderen Grund dafür als einmal eine leichte Verlegenheit von ihm — und dann noch das Verhalten seines Hundes zu ihr. Aber was war das? Und wenn er sie liebte, dann beherrschte er sich eben, weil er sich nicht binden wollte.

Gab es denn gar nichts, um den kalten Mann zu fesseln? Ihr Reichthum? Sie hatte ihm einmal ihre Vermögensverhältnisse klargelegt, so im vertraulichen Gespräch, wie es einem Weibe so schwer sei, ein solches Vermögen allein zu verwalten. Was kümmerte der sich darum! Nun zeigte er ihr auch noch, dass er selbst über grosse Capitalien verfügte.

Hoffnungslos, schmerzlich, und dabei dennoch glücklich — durch seine Gegenwart im Traume. So mag sich der, welcher einen Gewinn in der Lotterie gemacht hat, einmal eine kurze Zeit für einen reichen Mann halten; ist das Geld vergeudet, kehrt er wieder zu seiner alten Beschäftigung zurück —

Stürmisch trat ein geckenhaft gekleideter junger Herr in den Laden, ein New-Yorker Dandy; wenn er sprach, sah man die zwischen den Zähnen eingesetzten Diamanten blitzen, an der Uhrkette hatte er eine kleine in federnde Goldspiralen gefasste Schildkröte hängen, eine lebendige, eine schändliche Thierquälerei.

»Ich habe sie, 20 000 Dollars,« rief er, eine Brieftasche auf die Ladentafel werfend.

Der Juwelier bedeutete, das Halsband sei soeben verkauft worden. Mit bösen Augen, musterte der Dandy die Dame im Radfahrercostüm. 1000 Dollars mehr, er bat, sprach von einer Braut, ging bis zu 5000 Dollars höher, doch Ellen bedauerte, und dann sagte der Yankee ein »Goddamned«, biss mit den Diamantenzähnen ein Stück Kautabak ab und ging. Aufgeregt wird der Yankee nur in den Wahltagen, sonst nie.

Erst jetzt konnte sich Ellen wieder des kostbaren Schmuckes erfreuen, die Dazwischenkunft des Dandys und sein Mehrbieten hatten ihr den Werth in die Erinnerung zurückgebracht. Wer von ihren Freundinnen besass wohl solch ein Halsband? Keine. Theuerer vielleicht, aber nicht so schön, so geschmackvoll, so edel.

Die zehn Minuten konnten noch nicht vergangen sein, als Starke schon wiederkam und dem Juwelier ein Papier gab.

»Acceptiren Sie dies?«

Der Geschäftsinhaber las die Anweisung, hielt sie gegen das Licht und machte dann — ganz gegen amerikanische Sitte — eine tiefe Verbeugung.

»Nun haben Sie wohl noch die Güte, Quittung und Garantieschein auszustellen und dann als Zeuge zu dienen für die Schuldverschreibung, welche mir diese Dame ausstellen wird. — Das Etui stecke ich der Sicherheit halber einstweilen zu mir, Miss Howard, es könnte Ihnen auf der Strasse etwas passiren.«

Wieder fügte er solch einen bitteren Tropfen hinzu; gleich hier in einem Hinterzimmer musste sie bestätigen, von Curt Starke 20 000 Dollars geliehen zu haben, gegen 5 Procent Zinsen, diese für jeden Tag berechnet. War dies alles nöthig? War dies nicht recht kleinlich? Oder — hatte er einen bestimmten Zweck; war er absichtlich so geschäftsmässig ihr gegenüber, um sein Innerstes zu verbergen?

Und wiederum war es Starke ganz ähnlich, dass er dann gleich den schlechten Eindruck verwischte.

»Es ist nur der Ordnung wegen; verzeihen Sie, ein Wucherer bin ich nicht,« sagte er, als er das Papier von ihr in Empfang nahm. »Wie schon erwähnt, mein Geld ist zu 5 Procent angelegt, und da kann ich wohl fordern, wenn ich es ausleihe, das bin ich sogar meinen Erben schuldig. Wer in kleinen Dingen ordentlich und pünktlich ist, verdient auch in grossen Sachen Vertrauen.«

»Sie haben Erben?« fragte Ellen aufmerksam.

»Man muss doch über seine eventuelle Hinterlassenschaft verfügen,« war seine ausweichende Antwort.

Sie gingen. Neben der Treppe zum Postgebäude standen wohlbehalten die beiden Räder, Hassan lag davor, ein zahlreiches Publicum bewunderte dieses Sicherheitsschloss, wie es kein besseres geben konnte.

»Nun erklären Sie mir aber, Mr. Starke,« machte Ellen, zur Offenheit nun schon erzogen, ihrem Staunen noch nachträglich Luft, als sie die Räder durch die belebte Strasse schoben, »wie kommen Sie zu dieser Summe?«

»Ich habe einen ganz eigenthümlichen Creditbrief in Verbindung mit einem ebenso merkwürdigen Passepartout, welches mich überall legitimirt; und wenn es im entferntesten Winkel der Erde ist, jeder Kaufmann — vorausgesetzt natürlich, dass er überhaupt die Bankverhältnisse kennt — wird mir, wenn er kann, seine Geldbörse öffnen. Diese Combination ist meine eigene Erfindung, d. h. indirect, die Legitimation hat mir ohne meinen Willen ein grauer Geselle ausgestellt. Ich bin einmal, es ist sogar gar nicht weit von hier, mit einem Grizlybären in Collision gerathen, der hat mir ein Andenken hinterlassen, eine Narbe, und so bin ich auf dem Kreditbriefe meines Bankiers photographirt, das ist eine Legitimation, die so leicht niemand nachmachen oder missbrauchen kann. Einer Dame freilich kann ich die Photographie nicht gut zeigen.«

»Das ist allerdings originell,« lachte Ellen etwas verlegen, und besorgt setzte sie hinzu: »Es war eine schlimme Verwundung, die Ihnen der Bär beibrachte?«

»Wenigstens eine ganz anständige Narbe,« sagte Starke, mit der Hand leicht über die linke Schulter und Brust fahrend.

»Ich dachte gar nicht, dass Sie verwundet werden könnten.«

»Warum denn nicht?« fragte ihr Begleiter, sie dabei anblickend, allerdings ohne ein Zeichen des Staunens, dessen er gar nicht fähig war.

»Weil .... ich machte nur Scherz. Ja, Mr. Starke, verzeihen Sie, aber ich bin wirklich zu sehr überrascht — Sie sind ja ein reicher Mann! Wenn Sie ohne Weiteres auf Ihren Creditbrief 20 000 Dollars bekommen können, in zehn Minuten, dann müssen Sie auch noch bedeutend mehr haben, mindestens Millionär, vielfacher Millionär sein! Verzeihen Sie meine Neugierde, aber ...«

»Ja, ich habe mir Vermögen erworben. Wenn man, wie ich, fortwährend in der Welt umherreist, und man hält die Augen offen, und — mit die Hauptsache — man hat immer baares Geld in der Hand, ist dies nicht schwer. Mir ist es noch in Südafrika passirt, dass ich für eine Hand voll grosser Diamanten eine Hand voll Tabak gegeben habe. Das war freilich der stärkste Fall. Mit Raritäten, mit Alterthümern, bei Ausgrabungen, da ist etwas zu verdienen. Oben in Sibirien sah ich in der Hütte eines Pelzjägers einen grossen Mammuthzahn, sehr hübsch zu einer Tabakspfeife geschnitzt, also ein ganz riesiges Ding; ein russischer Kaufmann war auch dabei, er bot dem Tschuktschen hundert, tausend, dreitausend Rubel — ich hatte einen amerikanischen Doppeladler bei mir, und ich bekam den Zahn, der Russe konnte ihm so viel Goldrubel zeigen als er wollte, mein Doppeladler war am grössten und sah am schönsten aus. Dann habe ich die Tabakspfeife aus vorsündfluthlichem Elfenbein an einen Engländer für 600 Pfund Sterling verkauft.«

»Ei ei, Sie sind ja ein Kaufmann! Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

»Nicht so, wie Sie meinen. Der Juwelier ist offenbar in grosser Geldverlegenheit; ich bin fest überzeugt, ich hätte ihm wenigstens 1000 Dollars abhandeln können. Aber das thue ich nicht, auch nicht aus Gefälligkeit für einen Anderen; die Kette ist noch mehr werth. Mehr als verlangt wird, gebe ich allerdings auch nicht. Eben so wenig habe ich den Tschuktschen übervortheilt, für ihn hatte der blanke Doppeladler positiv mehr Werth als tausend Rubel Papiergeld.«

Ellen erzählte ihm, wie der Dandy ihr 5000 Dollars mehr geboten hatte.

»Sehen Sie, da hätten Sie in fünf Minuten ebenso viele tausend Dollars verdienen können, das ist der Vortheil, wenn man stets über Geld verfügt. Und ich sage Ihnen, in New-York, in London, auch in San Francisco können Sie das Collier sofort für 30 000 Dollars wieder verkaufen. Es sind aussergewöhnlich edle Diamanten mit wunderschöner Fassung. Ich habe eine Beschreibung des berühmten Halsbandes der Königin gelesen — Sie wissen, die bekannte Schwindelei, welche die Joanne de Lamothe mit der Marie Antoinette trieb, es sollte wohl zwei Millionen Livres kosten — die Steine mögen grösser, doch schöner kann es nicht gewesen sein. Suchen Sie nur einen Liebhaber.«

»Ich werde es für mich behalten.«

Starke bezeichnete ihr das Hotel, in welchem sie auch heute den ganzen Tag der Ruhe pflegen würden, nur er selbst müsste noch einige Sachen besorgen. Denn nur noch einige wenige Meilen durch civilisirte Gegend, dann betraten sie den Kriegspfad, nämlich die durch das fast völlig menschenleere Nebraska den Plattefluss entlang führende Heeresstrasse, welche in Amerika »Path of war« heisst, und zwar mit vollem Rechte.

— — — — — — — — —

Sir Munro befand sich nicht mehr in Omaha. Nach Starke's Instructionen, besonders auch mit Adressen versehen, hatte er inzwischen eine Expedition gebildet, bestehend aus zwei Führern und einem halben Dutzend anderer Begleiter, verwegener, aber zuverlässiger Burschen, vertraut mit dem Prairieleben Nebraskas, einer Art von Cowboys. Gestern Nachmittag hatte er Starke's letztes Telegramm empfangen, heute Morgen mit Sonnenaufgang hatte er mit der Expedition Omaha verlassen, ausgerüstet mit zwei Rädern, noch mehr Ersatztheilen und anderen Gegenständen, darunter z. B. ein zusammenlegbares Boot aus Leder.

Denn jetzt hörte das gemüthliche Fahren von Station zu Station auf, die Table d'hôte, das weiche Bett, auch das »Aus dem Brunnen trinken«. Wurde jetzt die Maschine unheilbar defect, konnte man sie drei bis vier Wochen lang zu Fuss schieben, oder man musste zurück, einen Verlust von vielen Tagen bedeutete es also immer. Indianern würde man wohl genug begegnen, aber die jagen den Büffel noch nicht per Rad. Die Expedition sollte womöglich immer einen Tag vorausreiten, es gab für sie vielerlei zu thun; der Mestize Somaja, einPrairiejäger, den Starke aus weiter Ferne nach Omaha zu Sir Munro zu citiren gewusst hatte, leitete Alles, und seine erste Aufgabe war, über den Dacotah, einen Nebenfluss des Plattestromes, aber selbst ein grosser Strom und in dieser Jahreszeit auch noch sehr angeschwollen, die beste Ueberfahrt zu finden und dort das aufgeschlagene Boot bereit zu halten. Der kräftige, erfahrene Mann konnte wohl seine Maschine hinüberschaffen, konnte sich erst ein Floss aus gefällten Baumstämmen zimmern. Ellen aber sah immer mehr ein, mit welcher todsicherer Gewissheit sie ihre Wette verloren hätte, ohne solch einen Begleiter.

Schon viel hatte ihr Starke erzählt, durch was für ein Land sie kommen würden. Der Staat Nebraska ist fast noch einmal so gross wie Deutschland und der am schwächsten bevölkerte in Nordamerika, kaum eine halbe Million Einwohner, und die drängen sich in Omaha, Lincoln und in einigen anderen Städtchen und Ortschaften zusammen. Der Prairieboden ist wenig fruchtbar, es herrscht Wassermangel, und wenn es nun auch in solch einem ungeheuren Gebiete reizende Oasen mit üppigem, gutbewässertem Boden giebt, meilenweite Districte, warum soll man sie besiedeln, so lange man für dasselbe Geld anderswo noch genug des besten Regierungslandes bekommt, wo man für die Erzeugnisse directen Absatz hat oder wo es doch gute Verkehrswege giebt. Denn das Land in ganz Nordamerika ist von der Regierung zu zwei Preisen festgesetzt: entweder kostet der Acre, 4000 Quadratmeter, anderthalb Dollar, oder zweiundeinhalb Dollar, je nach Beschaffenheit und Wasserverhältnissen. Auf der Karte sieht man wohl durch Nebraska einige Eisenbahnen gehen, darunter auch die erste Pacific, aber was ist das bei einem Lande von 18 000 deutschen Quadratmeilen! Und da die Colonisten fehlen, giebt es auch gar keine Stationen.

So ist Nebraska und das benachbarte Süd-Dacotah das fast unbeschränkte Jagdgebiet der Sioux — ein französischer Name; die Anglo-Amerikaner nennen sie Nadowessiers, sie sich selbst Dacotahs.

Es wird den Kindern von ihren Erziehern eingeprägt, die Zeiten der Trapper und Waldläufer, eines Lederstrumpfs und eines letzten Mohikaners seien schon längst und unwiderruflich dahin. Das ist recht gut gemeint und vorsichtig; der abenteuerlustige Junge soll nicht durchbrennen, um Indianerhäuptling werden zu wollen. Aber wahr ist es nicht, und wenn es die Lehrer selbst glauben, so möchte man ihnen sagen: jawohl kommt nur hin.

Zunächst eine Frage. In London werden alljährlich ungefähr 10 000 nordamerikanische Bärenfelle verauctionirt. (Der Verfasser ist in dieser Branche gewesen.) Wo kommen diese Bären denn her? In zoologischen Gärten werden sie nicht gezüchtet. Die werden von Trappers und mehr noch von Indianern geschossen, und manches schöne Exemplar ist durch Messerstiche oder Tomahawkhiebe minderwerthig geworden — da hat Onkel Jonathan den Jäger zwischen seinen Klauen gehabt.

Im Jahre 1825 beschloss der Congress zu Washington, alle unsesshaften Rothhäute nach einem gewissen Districte zu verpflanzen. Es geschah; einige Stämme fügten sich freiwillig, andere mussten dazu gezwungen werden, zuletzt, 1842, die Seminolen nach blutigem Widerstande. Dies ist das heutige, den Blassgesichtern verschlossene Indianer-Territorium, umgrenzt von Kansas, Arkansas, Missouri und Texas. Es beherbergt jetzt ungefähr noch 120 000 Rothhäute, und diese können sich auf dem beschränkten Gebiete allerdings nicht mehr allein von der Jagd ernähren, sie werden von der Regierung mit Nahrungsmitteln unterstützt.

An die Sioux war der Antrag nicht ergangen. Ihr Land war es nicht werth, um mit diesem streitbaren, zahlreichen Volke deswegen einen Kampf zu beginnen. So wurde am 23. Sept. 1851 zu Fort Lamarie zwischen Vertretern der Union und vierzig Siouxhäuptlingen der sogenannte »ewige Friedens- und Freundschaftsvertrag« beschworen. Als aber einige Jahre darauf die Union ihre »ewige Freundschaft« kündigte — man hatte nämlich in Nebraska reiche Kohlenlager endeckt — da bekamen die amerikanischen Miliztruppen von den sich einmal vereinigenden Siouxstämmen die schmählichsten Hiebe.

Seitdem hat man sie in Ruhe gelassen, und mehr verlangen die Sioux auch gar nicht. Es sind überhaupt ganz vernünftige Leute. Sie zerstören keine Schienenstränge, durchschneiden nicht den Telegraphendraht, überfallen nicht einmal Ansiedler — sie wollen nur der Jagd obliegen können und sich selbst gegenseitig in aller Gemüthlichkeit die Kopfhaut abziehen dürfen.

Bis dahin, bis der letzte Sioux dem vorletzten den Scalp genommen hat, wartet man geduldig. Denn leider ist gerade der Sioux kein grosser Freund des Feuerwassers, sonst würde es bedeutend schneller gehen.

Jetzt mögen es noch etwa 5000 sein, also kommen auf jeden Mann, jede Frau und jedes Kind mehr als drei deutsche Quadratmeilen, und da sage man nicht, ein Familienvater könne sein Wigwam nicht mit Wildpret versorgen. Die 10 000 Bären, welche alljährlich getödtet werden, fressen auch kein Heu; im Herbste wandert alles Wild aus Canada bis hinab nach Nebraska, und überhaupt genügte schon das zahllose Geflügel des sumpfigen Platterivers, um die Indianer zu ernähren; Ebenso ist es gar nicht wahr, wie man so häufig hört und liest, dass der Büffel, der echte Bison, im Aussterben begriffen oder womöglich gar schon ausgestorben sei. Mit den früheren Mengen lassen sich die jetzigen freilich nicht mehr vergleichen. Aber noch heute erblickt der auf der Pacific Reisende unübersehbare Bisonheerden, oder man braucht sich ja auch nur die Verzeichnisse der grossen Pelz- undLederauctionen kommen zu lassen, und noch heute nimmt der Sioux dem erlegten Tiere nur Buckel, Zunge und Fell ab, das Andere bleibt liegen, und zwar benutzt er auf der Büffeljagd, obgleich mit Hinterlader versehen, noch immer nur Pfeil und Bogen — es mag ihm ritterlicher dünken, es soll auch mit einem religiösen Cultus zusammenhängen. —

Nordamerika ist früher von einer anderen Race, schon auf ziemlich hoher Gultur stehend, bevölkert gewesen. Die Indianer, wie sie die ersten Europäer kennen lernten und wie sie noch jetzt existiren, sind erobernd von Norden her eingedrungen, und haben diese Urbevölkerung mit der Zeit ausgerottet, und zwar müssen die letzten Vernichtungskämpfe eben zu der Zeit stattgefunden haben, als die ersten Europäer an der Ostküste festen Fuss fassten. Man hat zahlreiche Ruinen von Festungen und anderen Bauwerken gefunden, von Canada an bis nach Florida immer den ganz gleichen Geist verrathend; Einzelnes ist an Grossartigkeit mit den ägyptischen Pyramiden und Sphynxen zu vergleichen, aber wieder grundverschieden von den Bauten der südamerikanischen und mexikanischen Urbevölkerung. So liegt im Staate Mississippi bei Brush-Creek eine aus Backsteinen gemauerte Schlange, 300 Meter lang und 2 Meter im Durchmesser, elegante Windungen beschreibend, und im geöffneten Rachen hält sie ein grosses Ei. Doch hierüber kann man im Conversations-Lexicon unter »Amerikanische Alterthümer« nachlesen.

Uns interessirt nur die uralte Heeresstrasse, welche unsere beiden Radfahrer nehmen. Europa besitzt kein solch colossales Werk der Chaussee-Baukunst. Sie folgt dem Platteriver, von den Indianern Nebraska genannt, von dem Felsengebirge an bis nach Omaha, also bis an den Missouri, ist mit glatten, gebrannten, unverwüstlichen Thonziegeln gepflastert, noch vollkommen gut erhalten, jetzt natürlich mit einer Grasnarbe bedeckt. Das ist der echte berühmte Kriegspfad, von dem die Ausdrücke alle herstammen, welche in Jugendschriften eine so grosse Rolle spielen. Es mag auch eine Armeestrasse jenes unbekannten Volkes gewesen sein, um sie mögen mit den eindringenden Indianern die blutigsten Kämpfe stattgefunden haben; eine dunkle Erinnerung daran lebt heute noch in sämmtlichen Indianerstämmen Nordamerikas, und jetzt ist der »Path of war« noch ganz besonders die Scheide zwischen den nördlichen und südlichen Siouxstämmen, an bestimmten Stellen der Strasse legen die Abgesandten ihre Zeichen nieder, und wenn der Kriegspfad überschritten wird, dann geht es los.

Dieser Strasse ist einst der Auswandererstrom nach Westen gefolgt. Die Pacificbahn hat sie nicht benutzt; die Flussübergänge sind nicht günstig. Nur der Indianer-Agent, d. h. ein Hausirer, zugleich stets von der Regierung besoldeter Spion, treibt seinen Planwagen auf der vereinsamten Strasse und der moderne Globetrotter benutzt sie zu Fuss und zu Rad und kommt unangefochten zwischen den wilden Indianerstämmen hindurch, eben weil er sich auf dem Kriegspfade befindet, welcher von den Rothhäuten respectvoll gemieden wird und betreten diese ihn selbst, dann erfährt er dies schon an der Grenze; wagt er freilich dann noch, durch Nebraska zu reisen, so kann er sich seinen Scalp nur gleich selber abziehen. ......

So wusste Starke gar viel zu erzählen, immer Neues, von dem Ellen noch nie gehört. An Stoff zur Unterhaltung während der Reise fehlte es nicht.

Zunächst kam wieder das Hôtel daran, und dann liess Ellen in Starke's Gegenwart wieder die blitzende Kette durch die Finger laufen.

»Sie werden sie doch nach London schicken wollen. An wen? Ueberlassen Sie mir das Einpacken und Adressiren.«

»An meinen Bankier,« entgegnete Ellen, nachdenklich mit dem Geschmeide spielend. »Ich glaube, Sie verstehen mehr von solch' einem Kunstwerke des Goldschmiedes als ich.«

»Mehr verstehen vielleicht, doch solche Freude wie Sie habe ich nicht daran.«

»Freude? Ja ja, ich weiss schon, was Sie meinen — die künstlerische Arbeit hätte für Sie grossen Werth.«

»Nicht so sehr. Derartigen modernen Schmuck sammle ich nicht.«

Wusste er, was sie beabsichtigte? Fast schien es so, Sie wollte ihm die Kette schenken, sie ihm in die Hand drücken, schon kämpfte sie mit sich — und schon parirte er. Noch einen Versuch machte sie, ob sie es wagen dürfe; eine Abweisung hätte sie nicht verschmerzt.

»Wem würden Sie das Halsband schenken, wenn es Ihnen gehörte?« Und sie erglühte. Deutlicher hatte sie nicht sein können.

»Ich wüsste Niemanden, ich würde es wieder verkaufen und ein gutes Geschäft dabei machen.«

»Packen Sie es ein, Hands und Compagnie, Strand 16,« sagte sie mit müder Stimme, ihm das Halsband gebend.

»Hands und Compagnie,« wiederholte der gefühllose Barbar, »kenne ich, ein sehr solides Haus. — Sind Sie hungrig, Miss Howard?«

»Nicht sehr.«

»Ich rathe Ihnen, nichts zu geniessen, legen Sie sich gleich hin, schlafen Sie einmal bis morgen früh durch und ....«

»Ach um Gottes Willen!« rief Ellen erschrocken. »Müde bin ich wohl, schlafen möchte ich wohl, aber — einmal und nicht wieder, ich mag nicht mehr im Traume radeln, das ist eine grössere Strafe als Tretmühle.«

»Wenn ich Ihnen den Rath gebe, gebe ich Ihnen auch das Mittel dazu, sich einen tiefen, traumlosen Schlaf zu verschaffen. Kein Opium oder dergleichen, es ist ganz unschuldig. Verlassen Sie sich auf mich alten Praktiker. Bitte, wollen Sie sich noch zehn Minuten gedulden.«

Die zehn Minuten waren doch nicht verstrichen, als er schon wieder ihr Zimmer betrat, in der Hand ein halb mit Wasser gefülltes Glas, in welchem er mit einem Löffelchen ein Pulver zerrührte.«

Ellen's Augen waren geröthet, sie machte mit dem Taschentuche noch eine hastige Bewegung. Er merkte natürlich nichts. »Trinken Sie das.«

»Ein Schlafpulver? Ich liebe so etwas wirklich nicht.«

»O nein, das würde ich Ihnen auch nicht geben. Es ist Guru, auch Kola genannt, eine im Innern Afrikas wachsende Nuss. Die Beduinen wiegen sie mit Gold auf, um Hunger und Durst mit beispielloser Ausdauer zu ertragen, um nach nervenzerreibenden Wüstenritten fieberlos schlafen zu können. Wenn aber die Kola schädlich wäre, würden die Beduinen sie nicht auch ihren Pferden eingeben. Trinken Sie, Miss Howard.«

Bald hätte Ellen, die Augen noch voll Thränen, ihm in's Gesicht gelacht. Er wusste selbst nicht, wie humoristisch er sein konnte, immer mit seiner unverwüstlichen Ernsthaftigkeit.

Sie trank die noch einmal aufgerührte Mischung, das im Wasser feinvertheilte Pulver schmeckte angenehm bitter, gewürzhaft und aromatisch. Starke ging, er wolle den Schmuck einpacken und zur Post bringen. Ellen entkleidete sich und legte sich hin, in der festen Ueberzeugung, trotz der Kola nach dem Einschlafen sofort eine qualvolle Radtour anzutreten, denn nach dem Stundenplane gehörte sie jetzt eben auf's Rad und nicht in's Bett — aber sie war entschlafen, ehe sie es wusste, sie träumte nicht, sie wachte nicht eher auf, als bis Starke's Stimme sie am anderen Tage früh halb vier Uhr weckte, und da fühlte sie sich wie neugeboren.


— — — — — — — —

Am Abende desselben Tages, am 1. October, hatte der Lady-Champion-Club seine General-Versammlung, und da die Pfirsiche reiften, gab es Pfirsichbowle, und Lady Oliva Hobwell hatte sich wieder einmal gründlich bezecht. Was sie schwatzte, wusste sie selber nicht, aber schwatzen that sie fürchterlich.

Das Telegramm ans Omaha war angekommen, gleichzeitig hatte Lady Oliva aus Springfield den Brief erhalten, in welchem Ellen das Abenteuer mit Mr. Jenkin erzählte, wie er im Teiche geschwommen und wie Starke die sechs Räder zerknackt hatte. Die tolle Lady hatte, als sie noch nüchtern gewesen, den Brief vorgelesen, sie freute sich königlich, war ganz aus dem Häuschen, und sie hatte auch Grund, sich so zu freuen; sie hatte thatsächlich ein förmliches Wettbureau aufgemacht, doch nur Wetten gegen Ellen Howard annehmend, ein sachverständiges Publicum hatte sofort darauf gesetzt, dass die Radfahrerin die Rundreise nicht in 300 Tagen vollenden könne, und wenn sie jetzt zu zahlen gehabt hätte, so wäre ihre Kasse tüchtig geschröpft worden. Nun aber war gerade das Gegentheil der Fall. Doch was machte sich die Erbin des siebenten Theiles von London aus Gewinn oder Verlust von einigen lumpigen Millionen.

Der Profane, der einmal wirklich reiche Leute sehen will, Engländer, Yankees und Russen, welche nicht wissen, was sie mit ihrem Gelde machen sollen, der muss nach Monte Carlo gehen. Diese Dampfyachten; diese Kraftfahrzeuge; Fahrräder aus goldplattirtem Elfenbein, die Achsen thatsächlich zwischen rundgeschliffenen Diamanten laufend; Photographenapparate aus Platin; ein Ohrring verloren, 50 000 Francs Belohnung, am nächsten Tage sind es schon 25 000 mehr ....

Ueberhaupt hatte Lady Oliva ja gesagt, die armen Leute, welche immer auf die Pferde verlieren, sollten auch einmal gewinnen.

Sie schwatzte also, dass Niemand anders zu Worte kommen konnte. Soeben wurde ihr gesagt, dass ihre Equipage vorgefahren sei.

»Wer hat denn die bestellt! Na, Miss Le—Le—Le—Leanor, Sie denken wohl, ich bin bezecht?- 1200 Meilen in 23 Tagen! Meine Herrschaften, ich sterbe vor Seligkeit. Erst aber schenken Sie mir noch ein Glas Bo—Bo—Bowle ein. Ich habe erst neun Gläser, ich muss noch 1191 Gläser trinken. Auf jede Meile ein Glas. Ach, Lady Judith, schenken Sie mir doch ein, Sie sind mir die Allerliebste von der ganzen Bande, und Sie thun es doch auch am allerliebsten. Danke, danke, die Pfipfipfipfipfi — hol's der Geier — die Pfipfipfipfi — na aber so was! — die Pfipfipfirsiche können Sie selber essen, Gott sei Dank, endlich war's raus. Da unten steht ja meine Equiquiquipapage? Wie kommt denn die hierher? Pst, halloh, Jim, fahr herauf, ich will lieber hier oben einsteigen. Herr Gott, jeder Schimmel hat ja acht Beine! Und Sie, Lady Judith, Sie haben ja mit einem Male zwei Gesichter! Das eine ist ganz gelb, das andere ist ganz grün. Apropopopopos, theuerste Judith, was kosten sechs der billigsten Schschundräder? Ich will keine kaufen, ich meine nur so. Halloh, Judith, mein Papa sagt, gestern wären an der Börse indische Gwalioractien angeboten worden. Sie paddeln doch auch da unten in dem Bleidreck herum. Kaufen Sie, kaufen Sie die Actien! Oder es sind doch nicht etwa gar Ihre? Nanu, was ist denn das, jetzt wird ja Ihr linkes Gesicht mit einem Male ganz blau! — Jawohl, Miss Leleleanor, ich gehe schon von ganz alleine. — Gute Nacht, gute Nacht, ihr alten Mädchen. Gute Nacht, meine einzige Freundin, meine theuerste Judith, träumen Sie recht hübsch von mir. Machen Sie nicht bald wieder einmal Schlllagsahne? — Na, passt auf, dass ich nicht die Treppe hinunterfalle. Herr Gott, wenn jetzt mein Papa zu Hause ist — aber da werde ich morgen früh hübsch gesund aussehen, mit rothen dicken Bäckchen.«

Glücklich wurde sie hinuntergebracht und in den Wagen gepackt. Aber man wusste überhaupt nicht, ob sie wirklich solch einen unverschämten Spitz weghatte oder ob sie sich nur so stellte. Die Zurückgebliebenen lachten. Trotz ihrer schnellen, spitzen Zunge hatte sie keine Feindin. Doch, eine — Lady Judith stöhnte vor Wuth, und da die Oliva nicht noch in derselben Nacht starb, so kann an der ganzen schwarzen Magie kein wahres Wort sein.



17. Capitel.

In der Prairie.

Sie fuhren in einer Entfernung von zehn Metern im schnellsten Tempo nebeneinander; Ellen, weit vornübergeneigt, hatte Mühe, mitzukommen. Starke trug ein Kistchen unter dem Arm.

»Jetzt ist es genug, ich kann nicht mehr,« keuchte Ellen.

Starke liess das an dem sehr langen Lasso befestigte Kistchen fallen, es polterte in grossen Sprüngen hinter seinem Rade her, und Ellen, sich aufrichtend, aber noch fest in die Pedale tretend, zog den Revolver.

»Von oben nach unten, das Handgelenk drehen, wie sonst!«

Ohne zu zielen, mit einer Bewegung, als wolle sie jedes Mal die Kugel herausschleudern und ihr zugleich eine Drehung geben, feuerte Ellen die sechs Schüsse nach der hüpfenden Kiste ab. Starke zog das Lasso ein, um die Scheibe zu untersuchen, und Ellen, obgleich noch in voller Fahrt, brachte es fertig, den Revolver zu entladen, die leeren Hülsen in den Patronengürtel zu stecken und die Kammer wieder frisch zu füllen.

»Fünf Treffer, bravo, bravissimo! Das hätte ich nicht zu prophezeien gewagt, bei solch einer Hetzjagd. Sie nehmen es bald mit jedem Cowboy auf.«

Es war nicht die erste Schiessübung gewesen, Ellen hatte schon gelernt, nicht mehr mit dem Revolver zu visiren und zu zielen, sondern mit dem Revolver zu schiessen, ihn von oben nach unten zu schleudern und dabei von rechts nach links zu drehen — und zu treffen. Warum? Weil es Alle so machen, welche mit dem Revolver schiessen können, die Steigung wird aufgehoben, das Treffen wird förmlich zum Instinct, oder das ist gerade so, als wenn ein tabakkauender Matrose tiefsinnig einen Nagel auf der anderen Bordseite betrachtet, und spuckt er über das ganze Schiff hinweg, so trifft er genau diesen Nagel auf den Kopf, und er hat auch nicht gezielt.

Seit finsterer Nacht ging es durch die ebene Prairie, 80 Meilen schon von der Grenze der Civilisation entfernt, ein Frühstücks- und ein Mittagsfeuer, an letzterem eine Wildgans gebraten, hatten sie bereits hinter sich.

Es sah hier ganz genau so aus wie in der Mitte des cultivirtesten Staates, wenn sie einmal durch unbebautes Land mit wildem Graswuchs kamen — alles im Boden wurzelndes Heu. Von einer Heerstrasse bemerkte Ellen nichts, ausser wenn sie einmal davon abgewichen waren. Auch von dem Platteriver, dem die Strasse folgen sollte, war nichts zu sehen. Dieses Folgen ist ja auch nicht wörtlich zu nehmen, oft ist man Tagemärsche weit von dem Strome entfernt. Noch keinen einzigen Menschen hatten sie gesehen. Es wurde langweilig; das Bewusstsein, sich in einer nur von Indianern bevölkerten Prairie zu befinden, genügte nicht mehr.

»Können Sie hier Fährten von Pferdehufen oder Menschenfüssen erkennen?«

»Nein. Auch die scharfsichtigste Rothhaut könnte es nicht. Das ist ganz anders, wie man immer in Indianergeschichten liest.«

Starke fand eine leere Biscuitkiste, sie wurde als Zielobject benutzt, das brachte Abwechselung, und Ellen war ob seines Lobes sehr stolz.

In der Ferne tauchte ein Punkt auf, es wurde ein Gegenstand daraus — ein Wagen, sich ebenfalls nach Westen bewegend, nebenher schritt ein Mann.

Starke fuhr etwas langsamer.

»Miss Howard, Sie wissen, ich lüge nicht, ich habe es nicht nöthig. Aber meinem Feinde stelle ich Fallen, auch mit falschen Worten. Das dort vorn ist ein Pedlar, ein Hausirer zwischen Indianern. Wenn es sich bestätigt, was ich vermuthe, so will ich den Mann hineinsenken, denn er hat es verdient. Also: unsere Namen behalten wir bei; Sie bleiben auch Londonerin; ich bin ein Landagent; Sie wollen einem Indianerstamme einige Quadratmeilen Land abkaufen, um — sagen wir — um ein Gestüt anzulegen, eine Pferdezucht, verstanden? Vorwärts.«

»Verstanden? Nicht das Geringste.«

»Halloh!«

Sie hatten den Planwagen erreicht. Gehorsam stieg Ellen neben Starke vom Rade; der klapperdürre Gaul hielt, der Mann wendete sich den Beiden zu. Es war ein alter, schrecklich wüst aussehender Kerl, sogar der dauerhafte Lederanzug nur noch Lumpen, Alles starrend von Schmutz, trotz der Hitze hatte er eine Pelzkappe bis über die Ohren gezogen; unter dem Arme eine Peitsche, zwischen den gelben Zähnen den Stummel einer Holzpfeife.

»Wo lagert der weisse Fuchs von den Wahkpakotanen?« fragte ihn Starke.

Es war das Einzige, was Ellen richtig verstehen konnte. Der Alte gab die Antwort in einem Kauderwelsch von Englisch und einer anderen Sprache, Starke fing auch an zu kauderwelschen. Offenbar wurde über Ellen gesprochen; der Alte beschielte sie von der Seite, Starke kauderwelschte weiter; Jener kroch unter die Plane, brachte Decken, Waffen, Perlenschnüre und anderes Zeug hervor; in Starke's Kauderwelsch kamen jetzt die Worte Rum, Gin und Whisky vor; der Alte schien nicht zu wissen, was das sei; Ellen wurde noch misstrauischer beschielt, er wehrte energisch ab, Starke griff unter die Jacke und brachte eine Hand voll Gold zum Vorschein; des Alten Augen funkelten habgierig auf; noch ein kurzer Kampf, er kroch nochmals unter die Plane und brachte im Laufe von zehn Minuten vier Fässchen und eine Decimalwaage hervor, alles in das Gras legend.

»Sonst nichts, Ben Radding?«

»No, Sir, no,« sagte der Mann, das erste Fässchen auf die Waage hebend.

»Also, Miss Howard,« wandte sich Starke an diese, »Sie sind Zeuge: dieser Mann, Benjamin Radding, concessionirter Indiantratter, liefert an den weissen Fuchs, Häuptling der Wahkpakotanen, 24 Gallonen Rum, 12 Gallonen Gin und 12 Gallonen Whisky und erhält den ausgemachten Preis von 120 Dollars von mir im Lager der Wahkpakotanen bei Ablieferung des Branntweins dortselbst. Stimmt das?«

»Yes, allright, M'am,« grinste der Alte vergnügt, »hier, das Fass ist gestempelt, ohne sein Gewicht. 24 Gallonen, und nun kostet den Rum.«

»Lasst nur gut sein, Ben Radding, und nun seht, was ich thue.«

Vorn im Wagen lag ein grosser Hammer, Starke hielt ihn in der Hand, vier wuchtige Schläge, und die vier Fässer waren zertrümmert, Rum, Gin und Whisky tränkten den durstigen Prairieboden.

»Mann, was macht Ihr!!« schrie der Händler entsetzt. Diese Plötzlichkeit und zauberhafte Schnelligkeit war es, welche besonders erschreckend wirkte.

»Dieser Branntwein gehört nicht mehr Euch,« war die gelassene Antwort. »Wollt Ihr Geld dafür haben? Keinen rothen Cent bekommt Ihr. Ihr dürft an Indianer keinen Branntwein liefern. — Hoch die Hände!!« donnerte es aber jetzt. »Eins — zwei ....«

Der Alte war kein Dütenkrämer, sondern ein Indianerhändler; selbstverständlich war seine Hand sofort, als er begriff, nach dem Revolver gefahren; da aber stand der hünenhafte Mann schon vor ihm, den Hammer erhoben, und der Alte kannte auch die Gesetze der Prairie, wenn bei »drei« seine Hände nicht hoch waren, dann war sein Schädel eingeschlagen, und eilends streckte er sie empor, reckte sich auch noch auf den Zehenspitzen hoch.

Starke stellte ihm ein Bein, legte ihn auf den Rücken, und auf ihm stand zähnefletschend Hassan.

»Ein Griff nach der Waffe, nur eine Bewegung, und der Hund hat Euch die Kehle durchgebissen, und ich kann nichts dafür. Sonst zeigt mich an, meinen Namen habe ich Euch gesagt. Kommen Sie, Miss Howard.« Das musste für den Mann wohl genügen. Starke stieg auf sein Rad und fuhr davon, von Ellen gefolgt, ohne sich noch einmal umzusehen.

Es war kaum nöthig, eine Erklärung zu geben. Aber seiner Verachtung für diese Sorte von Menschen gab Starke Ausdruck, über die verwerfliche Art, wie sie noch dazu von der Regierung unterstützt werden. Zunächst also sind diese Indianerhändler sämmtlich zugleich von der Regierung besoldete Spione, welche immer beobachten und berichten müssen, was unter den Rothhäuten vorgeht. Der Beruf des Spions, der sich erst unter ehrlicher Maske das Vertrauen der Auszuhorchenden gewinnen muss, ist überhaupt kein ehrenwerther. Das Schändlichste ist aber der Branntweinhandel. Es ist ihnen verboten, an die Indianer Feuerwasser zu verkaufen, die Regierung sorgt aber nicht für die geringste Controlle, und so ist es ein offenes Geheimniss, dass sie diesen heimlichen Schmuggel direct begünstigt, eben um die rothen Landeigentümer durch das flüssige Gift schneller auszurotten. Das ist eine nichtswürdige Handlungsweise.

Hier hatte Starke einmal solch einen Spion und concessionirten Schmuggler empfindlich bestraft, und er mochte es schon öfters gethan haben. Der weisse Fuchs, mit seinem Stamme am nächsten den Grenzen der Cultur lebend, war von dieser schon mehr beleckt worden als die anderen Sioux, hatte schon grossen Gefallen am berauschenden Feuerwasser gefunden, und es war Starke auf die bereits zur Genüge angedeutete Weise gelungen, den Händler zu einem Contracte zu überreden, jenem Häuptlinge seinen ganzen Branntweinvorrath zu liefern. Es war eine doppelte Gemeinheit, die fremde Dame wollte also die Indianer betrunken machen, um dann für eine Kleinigkeit ihnen Land abzukaufen, der Pedlar war darauf eingegangen, und nun hatte Starke ihn so bestrafen können. Er mochte ihn nur anzeigen, hier fand er natürlich keinen Richter, da gab die Regierung freilich keinen Schadenersatz, so weit ging das Spiel denn doch nicht. Der Schaden des Pedlars betrug etwa 60 Dollars.

»Wenn der Mann Ihnen aber nun wieder begegnet?« fragte Ellen besorgt.

»Dann wird er sich vor mir hüten. Er wird wohl bereits eingesehen haben, dass er sich in mir getäuscht hat, als er mich für einen Landagenten hielt.«

»Ja, was wird denn aber nun aus ihm — und aus Hassan?!«

Starke blickte sich um und bat Ellen, zu halten und abzusteigen. Sie hatten sich schon sehr weit entfernt. Dort stand der Wagen, daneben Hassan, von dem Manne war wegen des Grases nichts zu sehen.

»Jetzt hält ihn noch Hassan's furchtbares Gebiss in Schach. Aber ich rechne damit, dass der mit der Prairie und auch mit Indianerkämpfen vertraute Mann auf Rache sinnt; sobald er merkt, dass der Hund ihn freigiebt, wird er aufspringen. Und das ist kein gewöhnlicher Händler, er weiss mit dem Revolver umzugehen wie ich; zuerst wird er den Hund niederschiessen wollen, und würde ich dann zurückkehren, würde es zu einem regelrechten Kampfe kommen; er wäre hinter seinem Wagen im Vortheil und wüsste mein Anschleichen wohl zu vereiteln. Hinwiederum durfte ich ihn nicht entwaffnen, ihn nicht binden, ich musste Alles vermeiden, woraufhin, wenn der Fall doch vor Gericht käme, er mich verklagen könnte. — Nun passen Sie auf.«

Ein gellender Pfiff von Starke's Lippen, und — zum ersten Male sah Ellen den arabischen Windhund in voller Flucht rennen, eigentlich sah sie nur einen gelben Streifen über die Prairie jagen. Wohl war der Mann blitzschnell aufgesprungen, aber da war Hassan sogar schon ausser Schussweite eines weittragenden Gewehres.

Die Fahrt wurde fortgesetzt, und schon wollte sie für Ellen wieder recht langweilig werden, als ein neues Abenteuer Abwechselung schuf.

Hinter einem entfernten Hügel tauchte ein Reiter auf; er hielt, schien nach den beiden Radfahrern zu spähen, ritt hin und her, schien zu zögern, setzte sich in Galopp und hielt auf die Landstrasse zu. Es war ein Indianer, man sah die lange Lanze; auch die Scalplocke war schon zu erkennen.

Neben der Heeresstrasse zügelte er sein schönes Thier, sprang ab, überliess es sich allein, stiess die Lanze in den Boden, trat auf den Weg, hob erst die Hand und legte sie dann auf das Herz.

Dicht vor ihm stiegen die Radfahrer ab. Ein Indianer, wie er nur im Buche stehen kann: ein junger Krieger, schön und herkulisch gebaut, nur mit ledernen Leggins und Mocassins bekleidet, diese mit Franzen und bunten Stickereien verziert, der broncefarbene Oberkörper nackt, aber stark tätowirt, desgleichen das wirklich edle Gesicht; im Gürtel ausser der Tabakspfeife auch langes Messer und Tomahawk, die Scalplocke aber ohne Kriegsfeder. Besonders die muskulösen Oberarme zeigten tiefe, zum Theile schreckliche Narben, welche jedoch nicht von im Kampfe empfangenen Wunden herzurühren brauchten. Noch heute werden die Jünglinge der nordamerikanischen, von der Jagd lebenden Indianerstämme, wenn sie den Ritterschlag erhalten, d. h. als waffentragende Krieger am Berathungsfeuer aufgenommen werden, furchtbaren Torturen ausgesetzt. Bei den Sioux schiebt man dem Knaben Lederstricke durch die Oberarmmuskeln, sie werden also durchstochen; so wird der Junge aufgehangen und so lange schnell im Kreise herumgedreht, bis er bewusstlos ist, dann aber bringt man ihn wieder zu Bewusstsein, an den durch das zerrissene Fleisch gehenden Riemen wird er im Galopp fortgeschleift — das genüge, die Torturen sind noch viel raffinirter — und nur der ist der Waffen würdig, wer die Prüfung ohne das leiseste Zeichen des Schmerzes ertragen hat. Ja, die jungen Krieger melden sich noch, häufig bei den alljährlichen Männeraufnahmen, sie machen die Torturen noch mehrmals freiwillig durch, und da darf man wohl glauben, dass der am Marterpfahl stehende Indianer seine Feinde bittet, ihn nicht zu schonen. Und so ist es noch heute!

»Auch ein Wahkpakotane,« sagte Starke, und dann unterhielt er sich mit diesem längere Zeit in dessen Sprache. Unbeweglich dastehend, waren dabei die grossen, ruhigen, scharfen Augen des jungen Kriegers auf das Mädchen geheftet, ohne dass jedoch sein Blick Neugier oder etwa gar Dreistigkeit gezeigt hätte. Trotzdem wurde Ellen verlegen, es lag in Haltung und Sprachweise dieses Indianers wirklich etwas von königlichem Anstand.

»Büffelhuf, ein Enkel des weissen Fuchses; er zertritt seine Feinde unter seinen Füssen wie der Büffel den Panther,« stellte Starke ihn vor, und plötzlich ging Büffelhuf, trotz seines Namens mit leichtem, elastischem Schritt, mit ausgestreckter Hand auf Ellen zu und sagte im reinsten Englisch:

»How do you do, Miss? Es freut mich Sie zu sehen.«

Und nachdem er der erröthenden Ellen die Hand geschüttelt, folgte für diese eine noch grössere Ueberraschung. Büffelhuf hatte mit Starke wieder einige Worte gewechselt, Starke verneigte sich zustimmend, der Indianer nahm seine Maschine, hob den Fuss und — sass im Sattel und radelte davon.

»Wir sind noch zu nahe der Grenze der Civilisation, als dass sich nach diesem Stamme der Sioux noch nicht ein Fahrradhändler verirrt hätte,« erklärte Starke der Staunenden. »Hat mir eben erzählt, dass er in seinem Wigwam ein Rad stehen hat, kostete ihm zwei Pferde und einige Bisonhäute, und er mag nicht der einzige Radler seines Stammes sein. Eine radelnde Squaw habe er allerdings noch nicht gesehen. Natürlich lud er uns ein, ihm in sein Lager zu folgen; die Erklärung, dass wir eine Wette abführen, genügte zur Entschuldigung. Wir kommen noch genug mit Indianern zusammen.«

Ein eleganter Bogen, und Büffelhuf kam zurück, sprang ab.

»Wieviel hat mein starker Bruder dafür bezahlt?«

»Achtzig Dollars.«

»Etwas schwer für Büffelhuf, mein weisser Bruder ist sehr stark.«

Freundschaftsversicherungen, gute Reise, noch ein Händeschütteln — und sie verliessen den radelnden Scalpträger, der aber zum Durchschweifen der Prairie doch noch seinen Mustang vorzog.

Das Tagewerk war bald abgetreten, als sich die einförmige Landschaft änderte. Zuerst kamen einzelne Fichten und andere Nadelholzbäume, sie mehrten sich, bis zuletzt die immer noch gut fahrbare Strasse durch einen richtigen Urwald führte, von wilden Brombeersträuchern undurchdringlich gemacht.

Breit war er allerdings nicht. Bald, erklärte Starke, würden sie an einen in tiefer Schlucht fliessenden Bach gelangen, und wie immer schloss der erfahrene Mentor weitere Belehrungen daran, wie allein die von diesem Gewässer ausgehende feuchtere Atmosphäre genüge, um hier eine üppigere Vegetation zu erzeugen.

Man hörte das Wasser rauschen, eine hölzerne Brücke tauchte auf, als Hassan, welcher hier im Walde immer eine bedeutende Strecke voraus trabte und schon auf der Brücke gewesen war, ein kurzes Bellen ausstiess und schnellen Laufes zurückkam. Sofort sprang Starke ab und sprach zu dem Hunde, wie immer auf arabisch. Hassan winselte und zeigte durch Bewegungen Unruhe. Sein Herr beobachtete ihn aufmerksam.

»Was hat der Hund?« fragte Ellen besorgt. »Wittert er eine Gefahr?«

»Auch ich verstehe ihn nicht, er benimmt sich ganz seltsam, und daraus schliesse ich, dass er die Gefahr selbst nicht kennt, oder vielmehr: er sieht sie wohl, aber sie ist ihm so neu, dass er sie nicht auszudrücken vermag. Sonst verstehe ich ja jeden Blick von ihm. Aber eine directe Gefahr von Menschen oder Thieren droht uns nicht, dann würde er sich ganz anders benehmen. Gehen wir.«

Sie schoben die Räder bis an die Brücke. Diese überspannte die etwa zwanzig Meter breite Schlucht mit zwei grob zugehauenen Fichtenstämmen, auf welche der Quere nach Knüppel genagelt waren, also eine Knüppelbrücke allerprimitivster Art und dennoch fahrbar für die Wagen des Indiantratters, der oft genug noch ganz andere Wege machen muss. Unten in der Tiefe toste ein wilder Sturzbach. Die Erbauer dieser ausgezeichneten Strasse mochten eine andere, jedenfalls steinerne Brücke hinübergeschlagen haben, aber im Kriege zerstört der sich zurückziehende Feind stets die Brücken, und jetzt war auch keine Ruine mehr zu erkennen.

Hassan weigerte sich, die Brücke zu betreten, obgleich er vorhin schon darauf gewesen war.

»Von der Brücke droht uns eine Gefahr. Ich kann nichts entdecken; es herrscht hier auch zu sehr Dämmerung, um sie bis an den anderen Rand mit den Augen zu mustern. Hassans Warnung genügt mir auch.«

In seiner ruhigen, besonnenen Weise, welche gegen sein schnelles Handeln manchmal so seltsam contrastirte, schnallte Starke die Rahmentasche auf, entnahm ihr eine kleine Axt, ging etwas seitwärts in den Wald, blickte prüfend an den Baumriesen empor, und ehe noch Ellen eine Frage stellen konnte, was es mit der Brücke für eine Bewandtniss haben möchte, flogen ihm schon unter wuchtigen Schlägen die Spähne um den Kopf, und wieder kaum eine Minute später krachte die Fichte nieder, sich über die Schlucht legend.

Und zu derselben zauberhaft wirkenden Schnelligkeit gehörte es, wie Starke, nachdem er mit einigen Handgriffen die Axt wieder verpackt hatte, ohne ein Wort zu verlieren, die beiden Räder über die Schultern hing und ohne Weiteres den Baumstamm betrat, ohne auch nur erst einen vorsichtigen Versuchsschritt gemacht zu haben.

»Curt!!« schrie das Mädchen entsetzt auf.

Der Stamm hatte noch gar nicht fest gelegen. Als Starke bis in die Mitte gelangt war, drehte er sich. Starke aber, schnell beide Räder nach den Seiten ausstreckend, stand, noch einen Augenblick, und sicher setzte er seinen Weg fort, den andern Rand der Schlucht erreichend.

»Wenn er die doppelte Last getragen hat, liegen die Aeste gut. Können Sie herüber balanciren?«

Nein, wenn Ellen auch schwindelfrei war, das wagte sie nicht. Angstvoll blickte sie in den Abgrund, in dem es brauste und kochte.

Starke legte die beiden Räder nieder, balancirte zurück, und ehe noch Ellen wusste, wie ihr geschah, sass sie auf seinem einen Arme, fühlte seinen anderen Arm um sich geschlungen, und dann sah sie direct in die Tiefe.

Wenn sich jetzt der schwankende Baumstamm drehte, wenn jetzt sein Fuss ausglitt ....

Was war das? Tauchte da in dem weissen Wassergischt nicht ein von Wuth und Hohn verzerrtes Gesicht auf? Sie kannte es wohl, es war das von Judith. Wie sie lachte; es gellte ihr in den Ohren ....

Ellen erzitterte, schaudernd schloss sie die Augen. Da fühlte sie, wie sein Arm sie fester an sich presste, und ein wonniges Empfinden der Sicherheit überkam sie plötzlich.

Nein, nein! Sie ruhte ja in seinen Armen. Und was konnte dem passiren, den die Arme dieses Mannes schützend umschlungen hielten! Und wie konnte denn der Fuss dieses Mannes ausgleiten! Mochte das Wasser dort unten toben, mochte Judith dort unten drohen — sie wurde ja von seinen Armen gehalten!

Und wie ruhig sein Herz schlug, so beständig wie .... Ja, plötzlich wusste sie es, dieses Mannes Name war Beständigkeit. Beständigkeit, welch herrliches Wort! Ohne Wankelmuth, erhaben über Raum und Zeit! O selig, von solchen starken Armen durch's Leben getragen zu werden und an solch einem Herzen ruhen zu können ....

So träumte Ellen mit geschlossenen Augen, den Herzschlägen lauschend, der Gegenwart entrückt, und es war ein süsser Traum. Ein lautes, grollendes Bellen, und dennoch sehr entfernt klingend, liess sie emporschrecken, sie glitt aus Starke's Armen an den Boden, sie sahen sich an, die Abendsonne beleuchtete die kleine Waldblösse, und da — überzog sich sein dunkles Antlitz nicht abermals mit einem Roth der Verlegenheit?

»Verzeihung, ich war in Gedanken versunken. Schnell zurück, Hassan zeigt eine andere Gefahr an, das ist ein Raubthier!«

Sie eilten zurück.

Zurück? Er hatte sie doch nur auf dem schwankenden Steg über die Schlucht getragen.

Ellen dachte jetzt nicht an die sie erwartende Gefahr, sie erglühte.

Himmel, wie weit hatte er sie denn getragen! Wenigstens zehn Minuten mussten sie schnellen Schrittes durch den Wald gehen, ehe sie die Räder wieder erreichten, welche Starke am Rande der Schlucht niedergelegt hatte.

Daneben stand Hassan, er hatte Wache gehalten; noch ein wüthendes Kläffen, und er zog sich, rückwärts gehend, auf den Baumstamm zurück.

»Ein Grizlybär!« rief Starke, und plötzlich drückte er dem Mädchen ein Gewehr in die Hand, welches Ellen noch nie bei ihm gesehen hatte. »Hinter mich! Sie sollen die Ehre haben. Den Lauf auf meine Schulter! Nichts fürchten! Ruhe! Kernschuss in's Auge! Nur wenn er sich aufrichtet, in den Rachen!«

Da tauchte zwischen den Bäumen schon der riesige graue Bursche auf, von dem der Yankee in seiner sarkastischen Weise sagt, er habe nur eine Tugend: er kann nicht klettern. Ohne Zweifel ist der Grizlybär das gefährlichste Raubthier der Erde. Löwe, Tiger und jede andere Katze schleicht sich an die erspähte Beute und springt ohne Warnung; ist ihr aber der Sprung missglückt, so zieht sie sich wie beschämt zurück. Der Grizlybär dagegen verfolgt sein Opfer Tag und Nacht, brummend mit unermüdlicher Ausdauer; auf diese Weise soll ihm in der weiten Prairie endlich nicht das schnellste Pferd entgehen, und klettert der Reiter zuletzt auf einen Baum, so legt sich der Bär darunter, er kann es mit seinem Fettwanst aushalten, bis jener vor Hunger herabfällt. Dabei scheint er gegen Kugeln ganz unempfindlich zu sein, unempfindlicher als ein Elephant; man hat Grizlybären gefunden, denen die Kugel mitten durch's Herz gegangen war, und sie haben an dem Jäger vor ihrem Tode doch noch fürchterliche Rache genommen. Nur ein Schuss in's Gehirn wirft ihn sofort zu Boden.

Brummend, den Kopf mit weit geöffnetem Rachen hin und her werfend, trabte der mächtige Bär trotz seines plumpen Ganges mit ausserordentlicher Schnelligkeit direct auf die Beiden zu.

Starke war niedergekniet, selbst den grosscalibrigenRevolver zum Schuss erhoben, und Ellen, hinter ihm stehend, legte ihm den kurzen Lauf der Büchse auf seine Schulter. Sie folgte seiner Anweisung ganz mechanisch. Sie hatte schon genug vom Grizlybären gehört, sie sah das furchtbare Raubthier kommen, und dennoch wurde sie nur von einem einzigen Gedanken beherrscht, der ihr ein süsses Schauern durch die Glieder rieseln liess: sie hatte eine viertel Stunde lang an seiner Brust gelegen, er hatte sie eine viertel Stunde lang getragen, er war erröthet — er liebte sie trotz alledem und alledem!

»Nehmen Sie gestrichenes Korn und zielen Sie ruhig — Sie haben sechs Schuss.«

Er liebt mich, er liebt mich, er ist der Meine, ich bin die Seine! So sang es jubelnd in Ellen, als sie feuerte. Ob sie eigentlich gezielt habe, wusste sie später selbst nicht mehr.

Ein donnerndes Brüllen, der Bär warf sich zurück, stand auf den Hinterfüssen, fuchtelte mit den Tatzen in der Luft, überschlug sich, rollte zweimal von einer Seite auf die andere, dabei ein schon ganz ansehnliches Fichtenstämmchen wie einen Strohhalm umknickend, und blieb still liegen.

»Bravo! Kernschuss in's linke Auge. Halt! Lassen, wir ihn liegen. Es ist October, wir haben vielleicht noch die Bärin zu erwarten.«

Ein erneutes donnerndes Brüllen: jenseits der Schlucht galoppirte ein zweiter Bär, das Weibchen. Wusste sie bereits, dass ihr Herzallerliebster den Tod gefunden? Die Bären wussten sich die Fortschritte der Cultur schon recht hübsch zu Nutze zu machen — dieser hier schlug den Weg zur Brücke ein, um über die Schlucht zu gelangen.

»Also noch einmal,« sagte Starke phlegmatisch, »aber ich calculire, er kommt gar nicht über die Brücke.«

In grossen Sprüngen setzte der Bär über die Knüppelbrücke. Er war bis in die Mitte gekommen, als die Katastrophe eintrat, welche Starke schon geahnt hatte. Kein Krachen, kein Bersten — der doch ganz ansehnliche Holzbau klappte auf der einen Seite herab, so etwa, wie auf der Theaterbühne eine Brücke einbricht. Dann freilich folgte ein gewaltiges Prasseln, die gesammte Brücke war in die Schlucht gestürzt, und mit ihr der Bär.

»Was war das?« stammelte das erstarrte Mädchen.

Starke hatte sich am Rande der Schlucht hingelegt und betrachtete und befühlte die kurzen, noch über den Grund ragenden Stumpfe der beiden abgebrochenen Balken, welche die Brücke getragen hatten.

»Das war etwas sehr Einfaches: die Brücke ist angesägt worden, auf dass wir beide hinabsegeln sollten.«

»Angesägt? Um Gottes Willen, Starke!« stiess Ellen hervor, entsetzt in den Abgrund blickend. Gelassen stand Starke auf und zog aus der Tasche Pfeife und Feuerzeug.

»So ist es,« sagte er, schon paffend. »Sir Munro und Somaja haben sie heute früh passirt, ich erkenne es an einem ausgemachten Zeichen, also ist sie erst hinter unseren Vorreitern angesägt worden, wahrscheinlich vor noch gar nicht so langer Zeit, extra für uns, gerade tief genug, um einen Radfahrer durchbrechen zu lassen. Ich will mich nicht erst mit weiteren Untersuchungen abgeben, sie könnten höchstens irreführen, und wir wissen doch schon, dass wir unsere guten Freunde haben.«

»Lady Barrilon, jener Jenkins ... oh mein Gott!«

»Ach, lassen Sie doch. Ich werde diesen Freund schon noch fassen. Was sagen Sie aber nun zu Hassan el Seba? Er hat wahrscheinlich die Einschnitte der Säge bemerkt und sofort die Gefahr erkannt. Das ist wieder solch ein Fall, der auch über meine Hundekenntniss geht. Schade nur um den Grizlybären, der ist fortgewaschen worden; mir wäre lieber, der Indiantratter wäre es gewesen, der zuerst die Brücke betreten hätte. Nun aber, Miss Howard«, Starke nahm die Pfeife aus dem Munde, »ich gratulire. Wissen Sie, was Sie jetzt sind? Was Sie jetzt für eine Rolle in ganz Nordamerika spielen? Während Sie die delicaten Bärentatzen braten, werde ich Ihnen ein Halsband von den Klauen machen, und jede Rothhaut wird vor Ihnen den Hut ziehen.«

Noch einmal blickte Ellen schaudernd in den kochenden Abgrund, noch einmal glaubte sie Judith's wuthverzerrtes Gesicht zu sehen, dann aber überkam sie plötzlich ein ganz anderes Gefühl, so frei, so sicher, mit strahlenden Augen blickte sie ihren Begleiter an — er war ja bei ihr, er gehörte ja ihr, was konnte ihr denn da noch für eine Gefahr drohen — und dann lachte sie herzlich über seine Worte, die er mit so trockenem Humor wie immer hervorgebracht hatte. Sie wollte sein wie er, nur sein Ernst war schwer nachzumachen.

»Jawohl, essen wir Bärentatzen! Wenn eine Kugel einen Zoll am Kopfe vorbeigeht, ist es so gut, als hätte der Feind nach der anderen Richtung geschossen. Jawohl, wir werden sie schon noch kriegen! — Halt, erst noch eine Frage: wo haben Sie Hexenmeister plötzlich das Gewehr herbekommen?«

»Das habe ich mir so gemacht«, entgegnete Starke, schraubte den Lauf von dem Revolver ab und liess ihn wieder in seiner Kleidung verschwinden.

Dann wurde ein Feuer angezündet, Starke zeigte ihr, wie man einen Grizlybären zerwirkt, wenn man nur die Tatzen und ein Stück Keule haben will, und während Ellen das Fleisch röstete, als Nachtmahl und als Proviant für einige Tage, fertigte er aus den losgelösten Klauen mit Hülfe einer Lederschnur sehr kunstvoll eine Kette.

»Diese ist mehr werth als Ihr Diamantenhalsband,« sagte er, als er ihr die Trophäe umhing. »Wirklich?«

»Haben Sie schon einmal eine Garnitur Grizlyklauen zum Verkauf ausgestellt oder in den Händen eines Mannes gesehen, der den Bären nicht selbst erlegt hat? Fragen Sie den zerlumptesten Trapper, er wird Ihnen seine Ehre nicht für alles Geld der Welt abtreten. Es ist unbezahlbar, und Sie werden schon noch Gelegenheit haben, die Macht Ihres Talismans zu erproben.«

Die Mahlzeit war vorüber, hier wurde auch für die Nacht gelagert.

Zum ersten Male schlief Ellen im Freien am Lagerfeuer, und es war ein inhaltsvoller Tag gewesen, der erste in der wirklichen Wildniss; in zwei Gestalten hatte der sichere Tod gedroht, und sie fühlte sich doch behaglich in der warmen Gummidecke. Vergnügt blickte sie in die Holzgluth, und jedes Mal, wenn sie ihren Begleiter ansah, der jetzt schweigsam am Feuer sass und ernst seine Pfeife rauchte, ganz an einen Indianer erinnernd, wenn das aufflackernde Feuer sein charakteristisches, männliches Antlitz beleuchtete, da stieg es stets so heiss und so freudig in ihr auf, dass sie hätte laut aufjauchzen mögen, den Hund an ihrer Seite hätte sie vor Seligkeit küssen mögen, sie wusste selbst nicht warum, bis ihr endlich die Augen zufielen, und da träumte ihr, dass er sie auf seinen starken Armen über brechende Brücken und zwischen grimmige Bären hindurch trage, und wie es auch brach und wie sie auch drohten, er setzte seinen Weg fort, für ihn gab es kein Hinderniss, und sie kannte keine Furcht, sie hatte das Ohr an seine Brust gelegt und lauschte glücklich dem Klopfen seines Herzens, welches ja nur für sie schlug.



18. Capitel.

Das Kriegszeichen.

Am 4. October.

Als ob Starke jeden Meter seines Weges noch im Kopfe hätte und genau angeben könnte, in welcher Secunde er passirt würde, so wusste er es wiederum einzurichten, dass Punkt acht Uhr zur Frühstückspause ein kleiner Steppenfluss erreicht wurde, dessen mit Bäumen bestandenes Ufer zur Ruhe einlud.

Nach der Fahrt in einem fast eiskalt zu nennenden Morgen begann Ellen erst jetzt warm zu werden. Desto gesünder war ihr Appetit; mit Hassan wurde der letzte Rest des Bärenschinkens getheilt.

»Dort vorn, etwa in einer Stunde, werden Sie zum ersten Male den Platteriver sehen,« erklärte ihr Mentor, »dort stösst er an die Strasse. Aber sein sumpfiges Wasser ist kaum trinkbar, deshalb habe ich lieber diesen Bach zum Lager gewählt.«

»Eine Eisenbahn!« rief Ellen, die hinter sich geblickt hatte.

»Die Pacific! hier folgt sie immer dem Strome.«

Der Zug war deutlich erkennbar, die lange, seltsam gebaute Locomotive, die langen Wagen, hinten daran Pullmanns Schlafsalonwagen, zuletzt noch der Aussichtswagen, oben fast ganz aus Glas gebaut. Sie fährt nicht allzuschnell, die Pacificbahn, wenigstens nicht so schnell, wie man manchmal erzählen hört; das lassen schon die überaus leicht gelegten Schienen nicht zu. Ein Bummelzug ist es freilich nicht.

Jetzt strebte der Zug dem Süden zu, entfernte sich seitwärts von den Beobachtern, er folgte ja dem Strome.

»Was kostet eigentlich die Fahrt von New-York nach San Francisco?«

»Gegenwärtig zweiundsechzig Dollars, ein sehr hoher Preis, manchmal sinkt er bis auf fünfzig herab. Er richtet sich nämlich nach den Kohlenpreisen, nicht minder können Concurrenzkämpfe zwischen den Bahngesellschaften grosse Unterschiede hervorrufen.«

Nach 20 Minuten glich der Zug nur noch einem niedlichen Spielzeuge.

»Er hält,« sagte Ellen.

»Oh nein, Sie irren sich, Sie glauben nur bei solcher Entfernung, dass er sich nicht mehr bewege.« »Er hält, gewiss, der Zug steht!«

Starke blickte schärfer hin.

»Wahrhaftig, Sie haben Recht. Ja,« er hatte auch noch sein Taschenfernrohr an das Auge gelegt, »es ist ein Passagier ausgestiegen — jetzt fährt der Zug wieder — sehr weit reicht mein Glas auch nicht, ich kann nur einen dunkeln Punkt unterscheiden, welcher sich über die Prairie bewegt — es ist der ausgestiegene Passagier, vielleicht ein Jäger — richtig, dort ist gerade die Furth ....«

»Hält denn der Pacific-Zug, wenn ein Passagier aussteigen will?«

»Gewiss, wenn Sie bezahlen. Es giebt ja tagelang keine Station. Sie können ihm auch winken, wenn Sie einsteigen wollen, er hält und wartet auf Sie, wie ein Omnibus. Aber das kostet Geld, schweres Geld, es wird nach der Secunde berechnet.«

Sie unterhielten sich noch länger über derartige Verhältnisse, bis der Stundenplan die Weiterfahrt forderte.

Nach einer halben Stunde sah Ellen den Platteriver, breit, aber flach, sumpfig, man konnte durchwaten, zum Theil trockenen Fusses, es wimmelte von Schilf-Inselchen, belebt von zahllosen Wasservögeln.

Und da, mitten in der wilden Prairie, da sass eine Dame, eine moderne Dame, und hatte neben sich im Grase ein Fahrrad liegen.

»Starke — Starke — was ist denn das?!« rief Ellen förmlich bestürzt.

»Das ist — die Person, welche vorhin den Pacific-Zug verlassen hat, und sie muss den Strom durchquert haben, um uns hier zu erwarten.«

In Deutschland freilich steigt man nicht ab, wenn man unterwegs einer radelnden Dame begegnet. Hier aber war Staunen und Absteigen gerechtfertigt.

Die Dame war aufgestanden, sie nestelte an ihrem Kleide.

»Good morning, Miss. Hier,« plötzlich flog ihr Rock herunter, »hier haben Sie Ihren Rock wieder, ich bitte mir von Ihnen meine Hosen zurück.«

»Mister Schade!!« schrie Ellen mit mehr Entsetzen als Staunen.

Jetzt freilich erkannte sie ihn sofort wieder, es war noch ganz derselbe Carrirte, hatte sich auch wieder eine andere carrirte-Hose zugelegt, die er unter dem Rock getragen, auch sein Photographen-Apparat fehlte nicht. Starke schien ihn übrigens sofort wiedererkannt zu haben, er stützte sich gar zu gleichmüthig auf sein Rad.

»Pardon, Adam Noah Abraham Isaac Jacob ist mein Name,« verbesserte der Reporter, ihr immer den Rock hinhaltend. »Hier ist Ihr Kleid unverletzt zurück, nun ziehen Sie auch meine Hosen aus.« »Wie kommen Sie denn hier her?!«

»Ich bitte um meine Hosen,« wiederholte der Reporter mit unverwüstlichem Ernst, jetzt energischer, und Ellen wurde wirklich irre.

»Ich habe sie — habe sie — ich habe Ihre Hosen ja gar nicht mehr an,« stammelte sie verwirrt.

»Nein? Schade. Was haben Sie denn mit meinen Hosen angefangen?«

»Die habe ich—habe ich—fortgeworfen, als ich mir neue kaufte.«

»Lassen Sie die Dame zufrieden, werfen Sie den Rock weg und erklären Sie uns, wie Sie hierher kommen,« mischte sich jetzt Starke ein.

Der Reporter, dessen Kopf ganz voll Albernheiten zu stecken schien, ballte denn auch den Rock zu einem Knäuel zusammen, gab ihm wie einem Fussball einen Tritt, dass er in weitem Bogen davonflog, und erstattete kurzen Bericht.

In jeder Stadt, wo er über die beiden auffallenden Radfahrer mit dem langhaarigen Windhund Erkundigungen einzog, war er zu spät gekommen, obgleich er immer die Eisenbahn benutzte, zuletzt in Omaha City. Jetzt aber konnten sie ihm nicht entgehen, er kannte ja ihren Weg, so wollte er mit der Pacific bis nach Fort Lamarie fahren, dort mussten sie passiren, bis dahin musste er sie auch auf alle Fälle überholen. Vorhin hatte er die beiden Radfahrer in der Prairie fahren, sie sogar lagern gesehen. Schnell war sein Entschluss gefasst, Erkundigungen beim Conducteur eingezogen; der Strom war dazwischen, dort aber gleich an der Landstrasse eine Furth, also ausgestiegen, hinüber, und nun war er eben hier, die Weltreisenden wieder per Rad zu begleiten. Den Damenrock hatte er natürlich nicht immer getragen, wenn er es zuerst auch behauptete. Schliesslich musste er doch zugeben, dass er ihn nur mitgenommen habe, immer in der Erwartung, beim Wiedersehen mit der Dame eine seiner Albernheiten auszuführen, was jetzt geschehen war, und Ellen lachte denn auch herzlich. Das war die sehr einfache Erklärung.

»Wieviel haben Sie dafür bezahlt, dass sie den Zug halten liessen?«

»Nur fünfzig Dollars,« erwiderte der Reporter, sein Notizbuch ziehend. »Nun wollen Sie mir mittheilen, was Sie unterwegs Alles ...«

»Nun wollen wir weiterfahren,« sagte aber Starke, und flugs steckte Mr. Schade das Notizbuch wieder ein und sprang auf' seine Rennmaschine.

War seine Gesellschaft auch durchaus nicht angenehm, so nahm Ellen diesen Fall jetzt doch von einer ganz anderen Seite. Er wollte sie also wirklich um die ganze Erde begleiten? Schön. Einmal hatte man ihn zurückgelassen, weil seine Rennmaschine die Steigung nicht nehmen konnte. Das zweite Mal hatte sich Starke seiner zu entledigen gewusst. Nun wollte sie einmal diesem degenerirten Reporter einen Possen spielen, sie lachte innerlich, wie sie bereits ihren Kopf anstrengte, welche Falle sie ihm bauen könne, etwas ganz Schlaues, etwas ganz Ausgefallenes müsse es sein, dass auch Starke seine Freude daran hätte.

Heute stand ihr auch noch etwas Besonderes bevor. Heute Abend würden sie den Dacotah erreichen, wo die vorausgeschickten Männer das Boot bereit hielten, um noch heute über den Strom zu setzen. Dort würde sie also auch wieder mit Sir Munro zusammentreffen.

Die Reiter mussten ihre Pferde tüchtig ausgreifen lassen und durften sie wenig schonen, wenn sie bei einem Vorsprung von nur 24 Stunden den Radfahrern, welche täglich gegen 50 Meilen zurücklegten, bei drei Tagen noch zuvorkommen wollten. Aber Starke hatte seine Berechnung gemacht, es musste gehen, er kannte diese mageren Prairiegäule, welche für gewöhnlich nur dürren Grases bedürfen, dann aber, wenn sie einmal Hafer bekommen, auch Erstaunliches leisten; ausserdem waren sie nur leicht bepackt, und standen unter der Leitung eines bewährten Prairieführers.

Es war noch nicht Zeit zur Mittagsrast, als Hassan unsichtbare Menschen anmeldete, sie wurden sichtbar, ein Reitertrupp sprengte ihnen entgegen.

»Das sind ja die Unseren!« rief Ellen erstaunt, als sie darunter Sir Munro erkannte.

Starke war vom Rad gestiegen und verzog wie gewöhnlich keine Miene.

Die sechs gemietheten Männer waren sämmtlich Mestizen, auch ihrer Kleidung und ihrem ganzen Aussehen nach halb Indianer, halb civilisirte Europäer, freilich noch abenteuerlich genug erscheinend. Der eine näherte sich durch seine Gesichtstätowirung, dadurch, dass er das lange, straffe Haar unbedeckt trug und dass er ohne Sattel, nur auf einem Pantherfell ohne Steigbügel ritt, noch mehr einem Indianer, eine kleine, hagere Figur, scheinbar nur aus Knochen und Sehnen bestehend. Jeder Reiter hatte hinter sich den Hafersack, fünf führten noch je ein lediges Pferd, nur leicht bepackt, man erkannte Fahrrad- und Bootstheile.

Sir Munro war voraus gesprengt.

»Die Yanktoanons haben den Haknagohras den Krieg erklärt!« rief er, die doch nicht eben gebräuchlichen Namen mit geläufiger Zunge aussprechend, ein Zeichen, dass er sie in letzter Zeit häufig gehört und selbst im Munde geführt hatte.

Starke wandte sich einfach dem Mestizen zu. »Was ist, Somaja?«

Dieser schilderte in ziemlich gutem Englisch, auf welches Hinderniss sie gestossen waren, aus nichts weiter bestehend, als aus einem bemalten Fell, mit einem blutigen Pfeil mitten auf der Landstrasse in den Boden gesteckt, zwei Stunden Carriereritt von hier.

»Die Yanktoanons sagen zu den Haknagohras: euere Pferde haben das Gras von unseren Weiden gefressen; wir werden unsere Pferde mit eueren Scalpen füttern.''

»Und was sagen die Haknagohras?«

»Sie haben Ihr Totem noch nicht niedergelegt.« »Somaja, Du bist ein Schafskopf,« sagte da Starke in aller Gemüthsruhe. »Habe ich Dir gesagt, dass Du vor einem Kriegstotem umkehren sollst, um mir das zu erzählen? Das Boot sollst Du am Strome bereit halten, dafür wirst Du bezahlt.«

»Caramba!!« stiess der so zurecht gewiesene Mestize grimmig hervor. »Schmäht dann diesen Mann, aber mich nicht! Ihr habt mir gesagt, dass er mich bezahlt, nicht diese Dame; nicht Ihr, also habe ich ihm zu gehorchen, und als ich ihm erklären musste, was das Kriegszeichen bedeutete, hat er darauf bestanden, dass wir sofort umkehrten. Nun macht es mit ihm aus.«

»Es ist gar nicht möglich, mit heiler Haut durchzukommen,« nahm Sir Munro das Wort, »dieser erfahrene Präiriejäger hat mir erklärt ....«

Er wurde sofort unterbrochen; Ellen stampfte heftig mit dem Fusse auf. Zuerst aber wandte sie sich noch gelassen an Starke, wenn sich auch schon ihre Stirn drohend runzelte.

»Haben Sie mit Sir Munro ausgemacht, dass wir umkehren wollen, wenn uns der Weg zwischen im Kampfe liegende Indiänerstämme hindurchführt?«

»Keineswegs,« entgegnete der Mann, welcher immer die Wahrheit sprach.

»Sehen Sie eine besondere Gefahr darin, wenn wir unseren Weg fortsetzen? Ich meine: rathen auch Sie jetzt ab, da zwischen Siouxstämmen Feindseligkeiten ausgebrochen sind, Nebraska zu durchqueren.«

»Nein, abrathen davon thue ich nicht.«

»Ellen, um Gottes Willen, nehmen Sie Vernunft an!« riet Munro, welcher nun schon wusste, welchen Dank er ernten würde. »Es geht viele Tage lang durch ein Gebiet, in welchem sich wilde Indianer mit indianischer Grausamkeit auf Leben und Tod bekämpfen, dann ist die Mordlust erwacht, dann ist der friedliche Reisende nicht mehr geschützt, er wird als Feind behandelt, die Indianer stellen ja selbst ein Zeichen als Warnung aus, und wer es nicht lesen kann, der soll die Prairie eben nicht betreten, Somaja hat mir genauen Aufschluss gegeben ....«

»Verdammt, dass ich's that,« knurrte dieser.

».... Sie werden mindestens .....,« Munro beschrieb nur mit dem Zeigefinger einen Kreis um seinen Schädel, er hatte diese Bewegung schon gut heraus, musste sich darin geübt haben.

Jetzt hatte sich Ellen ihm zugewandt, jetzt brach es bei ihr heraus, wenn sie sich auch, an ihr eiskaltes Ideal denkend, zu beherrschen suchte.

»Herr, was haben Sie sich eigentlich um mich zu kümmern? Wollten Sie mir wirklich als Freund einen Gefallen erweisen, so ständen Sie am Dacotah mit dem Boote für mich bereit, wozu es nun zu spät ist. Statt dessen halten Sie mich hier auf, muss ich Ihretwegen unwiderruflich verlorene Zeit opfern. Sie sind ja mein directer Feind! Deshalb, mein Herr, nun zum letzten Male, verlassen Sie mich, Ihre Begleitung ist mir hinderlich, sie ist mir lästig!«

»Halt, in gewissem Sinne muss ich Sir Munro doch Recht geben,« kam Starke dem Niedergeschmetterten zu Hülfe. »Was Ihnen Sir Munro sagte, beruht auf Thatsachen. Reisen Sie durch ein Gebiet, in welchem Indianer auf dem Kriegsfusse sind, so setzen sie sich der grössten Lebensgefahr aus, und ich kann Sie nicht anders schützen als durch meinen Revolver, vielleicht noch durch List, sonst übe ich auf die Indianer keinen Einfluss aus, und es könnte Ihnen auch noch Schlimmeres passiren als nur Scalp und Leben zu verlieren. Hingegen mussten Sie, als Sie eine solche Wette annahmen, mit derartigen Verhältnissen rechnen. Wer eine Reise um die Erde machen will, auf dem Rade, der darf nicht vor einem indianischen Kriegszeichen zurückschrecken. Wie soll denn das werden, wenn uns der Weg erst durch Gegenden führt, in welcher nur vom Raube lebende Stämme hausen, wo schon die stählernen Radspeichen zum Morde reizen. Haben Sie sich das vorher reiflich überlegt, Miss Howard?«

»Aber natürlich! Da sehen Sie, Sir Munro, nicht nur wie überflüssig Sie sind, sondern auch wie direct hinderlich meiner Reise.«

O weh! In dem zweiten Theile seiner Rede hatte der Diener seinem Herrn einen gar schlechten Dienst erwiesen, während es erst schien, als wolle er ihm beistehen. Aber er hatte ganz sachgerecht gesprochen.

Plötzlich stiess Somaja einen Schrei aus und deutete nach Ellen.

»Da — da — da!!« rief er in sichtlicher Erregung, dass vor allen Dingen Ellen selbst erschrak und, an eine Schlange denkend, sich ängstlich umsah. »Wie kann man der weissen Dame sagen, sie solle nicht den Kriegspfad überschreiten, wenn sie die Krallen des grauen Bären trägt?!«

Auch unter den anderen Mestizen entstand eine Bewegung, staunend und ehrfürchtig blickte Alles auf das Mädchen, welches einen Grizlybären erlegt hatte; denn dass ihr die Trophäe geschenkt sein könnte, auf solch' einen Gedanken kamen diese Söhne der Prairie gar nicht, es wäre für sie Wahnsinn gewesen, und das ehrfürchtige Staunen mehrte sich, als Starke das Abenteuer erzählte, allerdings sich eines indianischen Dialectes bedienend. Ellen war nicht wenig stolz, und für Munro schwand nun die letzte Hoffnung, die Geliebte von dem gefährlichen Wege abhalten zu können.

»Vorwärts,« befahl dann Starke. »Bei dem Kriegszeichen werde ich entscheiden, ob wir den Weg zusammen fortsetzen oder ob Ihr wieder vorausreitet, und dann müsst Ihr in der Mittagspause den Vorsprung wieder einholen, dass wir am Strome das Boot dennoch vorfinden.«

Vereint ging es weiter, und die Pferde mussten immer galoppiren, was allerdings der gewöhnliche Gang dieser Prairiethiere ist. Unterwegs sprach Starke sehr viel mit Somaja.

»Er hat nichts bemerkt, dass zwischen uns Männer gewesen sind,« sagte Starke einmal zu Ellen. »Es muss ein mit der Prairie vertrauter Feind sein.«

»Wir werden ihn schon noch fassen,« war Ellen's selbstbewusste Antwort.

Sie radebrechte beständig mit einem und dem anderen Mestizen, lachte, schien sich zu amüsiren, während der arme Munro gar nicht für sie existirte.

So war die festgesetzte Mittagspause schon zwei Stunden im Sattel verbracht worden, als das Kriegszeichen erreicht wurde. Alles sprang ab, aber Starke hiess Alle zurücktreten, nur Ellen winkte er heran.

Ein Pfeil, der befiederte Schaft roth gefärbt, befestigte am Boden ein weissgegerbtes Hirschkalbfell, bedeckt mit rothgemalten Figuren, unter denen Pferde, Scalpe und Tomahawks die Hauptrolle spielten, roh gezeichnet, aber doch Alles deutlich erkennbar.

»Das ist der Fehdehandschuh der Yanktoanons, eines nach ihren Begriffen mächtigen Stammes der Sioux, mehr in Form eines Briefes niedergelegt,« begann Starke seine Erklärungen, immer mit scharfen Augen die Zeichen betrachtend. »Die Haknagohras, an welche der Brief gerichtet ist, haben ihn noch nicht aufgehoben, wissen noch nichts von seinem Vorhandensein. Es wäre doch nun sehr einfach: ich nehme jetzt diese Kriegserklärung weg, und wenn ich dadurch auch die Feindseligkeiten nicht verhindern könnte, so doch sie hinausschieben, dass wir in Sicherheit sind, ehe der Kampf beginnt. Das aber wäre eines der todeswürdigsten Verbrechen in der Prairie; nur vergleichbar mit der That, einen Wüstenbrunnen zu vergiften, und erfahren es die Yanktoanons — und natürlich würden sie es sehr bald erfahren — dann allerdings würden Sie kennen lernen, wie diese Indianer eine Spur zu verfolgen verstehen, und wir haben noch zwei Wochen durch Indianergebiet zu fahren, und wir würden trotz aller Anstrengung, und führen wir Tag und Nacht, ihren schnellen Rossen nicht entgehen, und dann wehe uns; sie würden uns ....«

Starke brach ab. Er beugte sich hinab, die Zeichen noch näher zu betrachten, er ging um das Fell herum, schien nach Spuren zu suchen, er hob das Fell, befühlte es, betastete den Pfeil, und als er sich wieder aufrichtete, sah er Ellen lange wie in Gedanken versunken an.

»Der Feind ist zwischen uns und er ist auch vor Somaja,« sagte er leise, »und der Feind calculirt: sollten wir dem Tode auf der Brücke durch einen Zufall entgehen, so hetzt er zur Vorsicht noch zwei Indianerstämme, deren Gebiet wir passiren müssen, gegen einander auf, und missachten wir das Zeichen, so kommt unser Scalp in Gefahr — er ist äusserst vorsichtig und klug, unser Feind — well.«

Und wie Ellen den Sprecher ob solcher dunklen Worte noch erstaunt ansah, bückte sich Starke plötzlich, riss den Pfeil aus dem Boden, wickelte das Fell zusammen, und hielt Beides dem Mädchen hin.

»Nehmen Sie es als Andenken mit, so können Sie dieTotemsprache der Sioux zu Hause studiren, ich will Ihnen den Schlüssel dazu geben.«

So that Starke selbst das, was er eben als das todeswürdigste Verbrechen bezeichnet hatte, welches eine Rache erheische, der man nicht entgehen könne.

Sogleich stiess denn auch Somaja einen gellenden Schrei aus, er sprang vor.

»Dieses Kriegszeichen ist gefälscht,« sagte Starke ruhig, selbst Ellen's Rahmentasche öffnend, um es zu verpacken.

Somaja schien es nicht glauben zu wollen; seine erschrockene Angst, seinem Charakter jedenfalls sonst ganz, fremd, war ersichtlich; er wollte Starke hindern, dieser schien keine genügende Erklärungen zu geben. Da sie einen indianischen Dialect sprachen, verstand Ellen nichts.

»Gefälscht?« rief sie.

»Ja. Von denen, welche es gewissermaassen unterschrieben haben, von den Yanktoanons, stammt es wenigstens nicht, dennoch würden es die Haknagohras als echt anerkennen, der Krieg würde dennoch beginnen. Das ist das allernichtswürdigste Vergehen, welches ein Mensch ersinnen kann. Doch sind in der europäischen Politik nicht ebensolche Fälschungen begangen worden, um zwei Nationen in Krieg zu verwickeln? Und vergebens würde ich diesen Prairiejäger, so erfahren er ist, zu überzeugen versuchen, dass das Totem gefälscht ist. Wohl kann er es lesen, könnte es selbst schreiben, aber ihm fehlt das Studium, welches ich durchgemacht habe. Zwischen Somaja und mir herrscht ein Unterschied wie zwischen einem Manne, welcher geläufig schreiben und lesen kann, eine grobe Fälschung sofort erkennt, und einem Schreibsachverständigen. — Dieser Fehdebrief' ist nicht von den Yanktoanons geschrieben, obwohl so täuschend nachgeahmt, dass sie selbst stutzen würden; ich aber erkenne die Fälschung an einigen kleinen Unterschieden, und indem ich das Schreiben mitnehme, verhindere ich einen Krieg. — In die Sättel! Wir, Miss Howard, lagern in einer halben Stunde am Platteriver, die Anderen müssen durchreiten.«



19. Capitel.

Fünf Tage Verlust.

Es war zwei Uhr geworden, als sie wieder in die Nähe des Stromes kamen. Hier, wo jeder Schuss ein Wildpret erbeutete, wollten die Radfahrer lagern, die Reiter durften nur schnell ihre Pferde füttern, dann mussten sie ohne Mittagspause weiter, zur Strafe, dass sie den Aufenthalt veranlasst hatten; sie konnten etwas von ihrem Proviant im Sattel essen.

Wie gewöhnlich sammelte Ellen Reisig, diesmal von Mr. Schade unterstützt. Starke entfernte sich, um das Mittagbrod herbeizuschaffen, und zwar bediente er sich bei der Jagd nur seines todsicheren Revolvers, mit dem er noch auf hundert Meter Entfernung dem schnellsten fliegenden Vogel den Kopf vom Rumpfe trennte. Dass er den Revolver auch in ein Gewehr verwandeln konnte, hatte Ellen erst gestern erfahren. Ellen war keine besonders leidenschaftliche Jägerin, wenigstens nicht auf Wildenten, Hasen und dergleichen; so überliess sie in letzter Zeit die Jagd immer ihrem Gefährten, sie spielte die sorgsame Hausfrau — vielleicht auch noch aus besonderem Grunde.

»Bleiben Sie nicht gar zu lange,« sagte sie, als sich Starke entfernte.

»Haben Sie solchen Hunger?«

»Ja — nein — ja, auch das,« war ihre zögernde Antwort.

Er verschwand in dem Schilf des Ufersaumes. Hassan nahm er nie mit, der blieb als Wächter zurück. Bald krachte ein Schuss, dann noch einer; Starke erschien wieder, in der Hand einen Prairiehasen, auf dem Nacken über der Schulter eine junge Gabelantilope tragend.

»Der Hase für jetzt, ein Viertel der Antilope bereiten wir für die nächsten Tage zu.«

»Oh, können wir nicht am Dacotah heute Abend für Proviant sorgen?«

»Warum erst heute Abend? Wir haben hier Zeit genug, das Fleisch zu braten.«

»Kaum zwei Stunden.«

»Ich denke doch, wir halten unsere Ruhepause von fünf Stunden ein, oder ruhen wenigstens vier Stunden; Sie schlafen, ich werde den Braten besorgen, um sechs brechen wir auf, sind um neun Uhr am Strome und setzen noch heute im Boote über.«

Es war ganz unbegründet, dass in Ellen gleich wieder ein misstrauisches, zugleich schmerzliches Gefühl aufstieg.

»Es ist Ihnen wohl sehr daran gelegen, dass Sir Munro noch Zeit genug gewinnt, das Boot aufzuschlagen?« fragte sie offen heraus.

Ruhig blickte Starke sie an, der erbitterte Ton musste ihm auffallen.

»Allerdings.«

»Nun, ich beabsichtige, den Stundenplan ganz pünktlich einzuhalten, ohne einen einmal gemachten Fehler durch Nachtfahren zu corrigiren: ich möchte, wie gewöhnlich um vier Uhr aufbrechen, dann sollen wir ja schon um sieben am Strome sein.«

»Miss Howard, überschätzen Sie nicht Ihre ....«

»Ich bitte darum.«

»Wie Sie wünschen. Dann muss ich mich mit dem Bereiten des Fleisches beeilen, ganz umsonst darf die Antilope das Löschen ihres Durstes nicht mit dem Tode gebüsst haben, ich kann es nicht leiden, ein Thier zu schiessen und es dann unbenutzt liegenzulassen.«

Ellen bereitete den Hasen zu, der schwatzende Reporter schürte das Feuer, Starke weidete die Antilope aus, zog die Haut nur etwas ab und schnitt aus Rücken und Schenkel lange, dünne Fleischstreifen, diese über der Gluth vorsichtig trocknend, nicht gleich röstend, dann erst, als das Fleisch möglichst trocken, es stark anbratend, wodurch es auch im heissesten Klima, ohne luftdicht verpackt werden zu müssen, eine tagelange Haltbarkeit bekommt.

»Wie lange haben Sie das vorige Mal gebraucht, um den Dacotah an jener Stelle zu durchschwimmen, Mr. Starke?« fragte Ellen einmal.

»Ich schätze den Fluss einen Kilometer breit — etwa zwanzig Minuten, ich bin ein guter Schwimmer, musste ja auch das Rad vor mir her schieben.«

»Auf einem Floss, welches Sie sich erst machten?«

»Der sterile Boden dort ist ganz baumlos. Für solche Flussübergänge habe ich einen Apparat construirt, um die Maschine trocken hinüber zu schaffen.«

»Einen Apparat?«

»Ein grosses Luftkissen aus Kautschuk, welches ich aufblase.«

»Sie haben es bei sich?«

»Ja.«

»Ach bitte, zeigen Sie es mir doch einmal.«

Gehorsam schnallte Starke seine Rahmentasche auf, entnahm ihr eine Art von langer Wurst und rollte sie auseinander; es waren zwei zusammengelegte Kautschukplatten, die eine barg er schnell wieder in der Tasche, die andere behielt er, legte sie noch einmal auseinander, blies in ein Mundstück, sie schwoll auf, und so entstand ein über ein Quadratmeter grosses Luftkissen, oben mit mehreren Riemen versehen, um das Rad, welches es wohl leicht auf dem Wasser tragen konnte, darauf fest zu schnallen.

»Sehr gut. Hatten Sie aber nicht noch ein anderes?«

»Ich habe für alle Fälle zwei mitgenommen, das andere ist für Sie bestimmt, falls wir einmal weder Boot noch Floss haben.«

»Ach, bitte, dann lassen Sie mich es auch unter meinem Gepäck aufnehmen.«

»Wie Sie wünschen.«

Ahnte Starke noch nicht, was Sie beabsichtigte? Sicherlich, er wusste es schon ganz bestimmt, aber er sprach nach seiner Weise nicht eher davon, als bis es Zeit dazu war. Dann, nach dem Essen, legte sich Ellen in den Schatten einer Weide, um die letzte Stunde zu schlafen. Starke fuhr fort, das trockene Fleisch zu bereiten, Mr. Schade half ihm dabei.

»Wollen Sie nicht ein Kolapulver zu sich nehmen?«

Das schmerzliche Misstrauen stieg von Neuem in Ellen auf, und sie gab ihm offenen Ausdruck.

»Damit ich um vier Uhr nicht erwache, sondern die Zeit verschlafe?«

Wieder blickte sie Starke ruhig und fest mit seinen wie kalter Stahl blitzenden Augen an.

»Nein. Damit Sie ruhig schlafen können, denn der Vorgang mit dem Kriegszeichen dürfte Sie auch noch im Traume beschäftigen.«

»Ich danke Ihnen. Ich hoffe nicht. Ich möchte mich nicht unnöthig an das Beruhigungsmittel gewöhnen.«

Starke behielt Recht, ausnahmsweise träumte sie; scalpirende Indianer, gefälschte Briefe vorzeigend, spielten die Hauptrolle, bis der bizarre Traumgott Starke's Stimme sagen liess: wachen Sie auf, es ist vier Uhr — und sie erwachte, ohne von Starke, welcher eben den letzten Streifen Fleisch in seinem Tornister verpackte, dazu aufgefordert zu sein.

Auch Ellen's Rad war von ihm gesäubert und geölt worden, sie stieg auf, nicht anders wie sonst, und — ein Krach, die obere Stange des Rahmens war mitten durchgebrochen.

Es gehört doch etwas dazu, um beim Aufsteigen mit dem Rahmen durchzubrechen, und es war ein starkes Rad, und während Starke, kaltblütig und schweigsam wie immer, den Bruch untersuchte, während der Reporter sich in Worten der Verwunderung und in seinen Meinungen erging, stand Ellen fassungslos da, und blitzähnlich ging ihr nochmals Alles durch den Kopf, was diesen schon seit einiger Zeit beschäftigt hatte: er liebt dich, aber er will dich nicht lieben; er will dich mit Sir Munro wieder zusammenführen; er will Sir Munro Gelegenheit geben, die versäumte Zeit wieder einzuholen; dazu will er mich hier aufhalten; er hat den Bruch herbeigeführt.

»Sehr seltsam,« meinte Starke, als er seine Untersuchung beendet, bei welcher er sein Vergrösserungsglas benutzt hatte. »Hier, liegt derselbe Fall vor, der oft bei Stahlgeschützen eintritt, dass sie schon nach einigen Schüssen springen, und es hat lange gedauert, ehe die Gelehrten eine Erklärung hierfür fanden: der amorphe Gussstahl ist durch die fortwährenden Erschütterungen, welchen das Rad ausgesetzt gewesen, krystallinisch geworden. Man soll bei Fahrrädern nur eiserne Röhren anwenden, am besten schmiedeeiserne.«

»Nun hören Sie auf!« stiess Ellen plötzlich heftig hervor. »Suchen Sie mich nicht zu täuschen! Sie haben dafür gesorgt, dass ich durchbrechen musste, damit Sir Munro noch Vorsprung gewinnt, mit dem Boot bereit zu stehen!«

»Wessen halten Sie mich fähig? Täuschen wollte ich Sie?«

Ganz ruhig hatte sich Starke ihr zugewandt, ganz ruhig hatte er es gesagt; aber schon ein Blick aus seinen Augen genügte; mehr tödtlich erschrocken als beschämt senkte Ellen die ihren zu Boden.

»Verzeihen Sie mir, oh, verzeihen Sie mir — — ach!!« murmelte sie, mit einem Seufzer endend, und es war ein qualvoller Seufzer aus tiefinnerster Brust gewesen.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begab sich Starke nach dem Stromufer, kam mit einem abgeschnittenen Weidenast zurück und verband mit Lederstreifen die Bruchstelle, brachte noch andere Unterstützungen an, dass die ganze Stange gefestigt wurde, offenbar kannte er die Gesetze der Mechanik und wusste sie anzuwenden, und vor allen Dingen konnte man hier einmal seine erstaunliche Handfertigkeit bewundern. In einer Viertelstunde war Alles geschehen.

»So. Auch wenn der Rahmen noch einmal bricht, würde er fest zusammengehalten werden, und eben deshalb wird er nicht mehr brechen. Nun wollen wir ein flottes Tempo anschlagen, um die Viertelstunde wieder einzuholen.«

»Mister, Starke, verzeihen Sie mir,« sagte Ellen nochmals, ehe sie das Rad bestieg, in einem wahrhaft kläglichen Tone, und hielt ihm die Hand hin.

Er entgegnete nicht: weshalb denn — oder etwas Aehnliches, sondern als er ihre Hand nahm, sagte er: »ich verzeihe Ihnen gern, Miss Howard« — und so kalt es auch geklungen hatte, es lag doch Etwas in dieser einfachen Offenheit, dass Ellen's Herz plötzlich wieder laut aufjubelte.

Ein starker Wind kam von hinten, das musste man benutzen, Mr. Schade wollte renommiren, er flog auf seiner leichten Rennmaschine, Ellen wollte es ihm gleich thun, jetzt war es Starke, welcher mit seinem schweren Rade zurückblieb; Hassan merkte etwas, der stolze Beduinenhund fiel aus seiner Würde, fing an zu bellen und machte lustige Sprünge, fing unversehens einen Hasen, schüttelte ihn ab und sprang wieder an Ellen empor. So war es noch nicht einmal sechs Uhr — um sieben wäre es schon dunkel gewesen — als sie die Wasserfläche des Dacotahs erblickten, welcher eine Meile südlicher seine trüben Fluthen in den Platteriver wälzt. Die Erbauer dieser Strasse haben ganz sicher hier auch eine Brücke gehabt, jetzt ist keine Spur mehr zu entdecken, und dass nicht wieder eine angelegt worden ist, das zeigt, wie werthlos diese noch so gut erhaltene Strasse jetzt ist.

Die Vorreiter waren zur Stelle; das Lederboot über hölzerne Rippen gespannt, vielleicht sechs Personen sicher tragend, lag bereit; wie sie aber hatten reiten müssen, um so schnell hier und fertig zu sein, das verriethen die noch immer dampfenden Pferde.

»Ellen, können Sie mir nun vergeben, sind Sie nun wieder zufrieden mit mir?« wandte sich Sir Munro mit leiser, bittender Stimme an das Mädchen.

Sie antwortete nicht, sondern machte sich an ihrer Rahmentasche zu schaffen.

»Ist alles Gepäck im Boot?« liess sich da schon Starke's Commandostimme vernehmen. »Sir Munro, kann Ihr Diener rudern? Ein Mann noch mit in's Boot. Die Reiter bleiben rechts vom Boot, die ledigen Pferde zwischen uns! Somaja, Du schwimmst zehn Meter voraus! Vorwärts!«

Auf die erhitzten Thiere wurde also keine Rücksicht genommen, es waren auch keine Luxuspferde, sie mussten noch anderes aushalten können.

»Miss Howard, was thun denn Sie?« setzte Starke hinzu.

Ellen hatte der Tasche das Luftkissen entnommen, sie blies es auf, dabei blickte sie auf den breiten, aber nur schwach fliessenden Strom; es wurde Abend, es wurde kühl, und ein Schauer ging durch ihren Körper. Jetzt raffte sie sich auf.

»Ich werde hinüber schwimmen. Wollen Sie nicht lieber das Rad an dem Kissen befestigen? Ich brauche wohl auch noch einige Instructionen. Wozu sind diese kleinen Riemchen da? Vielleicht, um Revolver und Munition daran zu schnallen?«

Sir Munro stand daneben, als wenn er glaubte, nicht recht gehört zu haben, während es auf Starke absolut keinen Eindruck machte, obwohl er sie warnte.

»Jawohl, hier werden Waffen und Patronen festgeschnallt. Der Strom ist sehr angeschwollen, ich würde mindestens eine halbe Stunde zu schwimmen haben. Können Sie gut schwimmen?«

»Ich habe zwei Stunden mit vollem Anzuge geschwommen.«

»Ist es Ihr fester Entschluss, das Boot nicht zu benutzen? Ich warne Sie sehr. Es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit. Ueberlegen Sie es sich. Sie sind ermüdet, Sie müssen noch einmal eine bedeutende Kraftanstrengung im kalten Wasser leisten, Sie können sich leicht ein langwieriges Fieber holen.«

Da kam Leben in den erstarrten Baronet.

»Ellen, um Gottes Willen, Ellen, was wollen Sie thun!!« schrie er entsetzt.

»Dasselbe, was ich gethan hätte, würde man mich nicht begleitet haben.«

»Lassen Sie wenigstens das Rad im Boot überfahren,« sagte Starke, ohne den Baronet zu beachten.

»Was hätte es dann für einen Zweck! Ich will kein Schwimmkunststück zum Besten geben, sondern mein Rad will ich selbst hinüberschaffen.«

»Wenn Sie jetzt das Luftkissen nicht hätten, wäre es Ihnen überhaupt unmöglich.«

»Wenn ....! Ich nehme jede Gelegenheit mit.«

»So nehmen Sie auch das Boot mit.«

»Nein, ich will schwimmen.«

»Ellen, Ellen, so nehmen Sie doch Vernunft an!« jammerte wieder Munro.

»Herr, ich verbitte mir, dass Sie mir immer die Vernunft abstreiten.«

»Starke, hindern Sie sie doch daran!«

»Das kann ich nicht, jeder Mensch hat seinen freien Willen. Aber, Miss Howard, nicht wahr, sofort, wenn Sie ermüdet sind, werden Sie in's Boot gehen? Sie werden sich nicht überanstrengen?«

Nicht nur in der Wortstellung, auch in seiner Stimme hatte etwas, von einer flehenden Bitte gelegen, was sie noch nie von diesem Manne gehört hatte.

»Ja, das verspreche ich Ihnen!«

Noch waren nicht zehn Minuten vergangen, seit sie den Strom erreicht, als sich Ellen schon im Wasser befand, schwimmend das Luftkissen vor sich herstossend, belastet mit Rad und sämmtlichem Gepäck, mit Waffen und Patronen. Starke, welcher noch zuletzt eine andere Reihenfolge angeordnet hatte, hielt das Boot immer seitwärts hinter ihr, so dass die stolze Engländerin glauben konnte, sie schwimme ohne jeden Schutz über den breiten Strom.

Ellen war eine ausgezeichnete Schwimmerin, das erkannte Jeder sofort, die Strömung war nicht hinderlich, das Wasser zwar kühl, doch nicht das Blut erstarrend machend, und dann war da ein mächtiger Sporn vorhanden: sie wusste zehn männliche Augenpaare auf sich gerichtet, darunter die von Starke, die von Sir Munro, ja selbst die des Reporters, sogar die der Prairiejäger übten eine heimliche, auffrischende Macht aus.

Rüstig schwamm sie und stiess das Rad vor sich her. Aber es war doch ein hartes Stück Arbeit. Nach zwanzig Minuten — und das war mit voller Kleidung schon eine ganz ansehnliche Schwimmleistung — fühlte sie sich schon ermüdet. Aber ihr Wort hielt sie, sie rief nicht nach dem Boote.

Nach weiteren zehn Minuten war ihre Erschöpfung ersichtlich, die Stösse wurden immer kürzer, die Arme streckten sich nicht mehr aus. Und sie hielt ihr Versprechen nicht. Denn dort war ja der Ufersaum.

Sir Munro stand auf, in seinen Zügen malte sich ein Entschluss aus.

»Sie kann nicht mehr, jetzt komme ich ihr zu Hülfe, ich übernehme wenigstens das Rad, ich springe ins ....«

Starke drückte ihn mit der flachen Hand ohne Weiteres in's Boot zurück.

»Nein, Sie springen nicht. Wollen Sie es denn mit ihr ganz und gar verderben?«

Und Munro sprang nicht, er sah ein, wie Recht Starke hatte. Ellen würde ihm solch' eine Hülfeleistung nur sehr übel vermerken. Aber eine recht fatale, demütigende Empfindung beschlich ihn: dieser Abenteurer protegirte seine Liebe — ich mag sie nicht; nimm du sie .....

»Aber die Kraft verlässt sie, wir müssen sie in's Boot nehmen.«

»Sie dazu auffordern? Wir können sie nur auffischen, wenn sie vor Erschöpfung untersinkt. Ich habe Miss Howard genau kennen gelernt.«

Wieder die fatale Empfindung — er hatte sie genau kennen gelernt.

Die Nähe des Ufers war eine Täuschung. Es wurde dunkel, die Bewegungen der Schwimmerin immer langsamer. Aber aus hielt sie, mit dem Trotze einer stolzen, energischen Engländerin. Noch eine Viertelstunde, der Mond war aufgetaucht, zuletzt noch einige starke Stösse, und sie gewann mit einigen watenden Schritten das hier etwas bewaldete Ufer.

Gleich darauf betraten es auch die ersten Pferde, welche auf Starke's Wink immer zurückgehalten worden waren.

»Für die Lady ein Hip — hip — hip — « brüllte ein brauner Bursche, und »Hurrah!!!'« heulte es im Ohre.

»Was war denn weiter dabei?« meinte Ellen phlegmatisch. Aber wie es ihr innerlich zu Muthe war, das sagte sie nicht.

Schnell wurde ein grosses Feuer angezündet, das kleine von Munro mit geführte Zelt aufgeschlagen.

»Bitte, schlagen Sie die Benutzung des Zeltes nicht ab, ziehen Sie trockenes Unterzeug an und hüllen Sie sich mit warmen Decken ein,« sagte Starke zu der am Feuer stehenden Ellen, ihr prüfend in's Auge blickend.

Erst weigerte sie sich, sie wolle sich hier am Feuer trocknen, so wäre es doch auch geschehen, wenn sie keine Begleitung gehabt, aber wie sie sich auch anstrengte, sie konnte das ruckweise Zähneklappern doch nicht unterdrücken, und dann begab sie sich in das Zelt, von Starke gefolgt, welcher ihr das Gepäck, eine brennende Fahrradlampe, Decken und Kissen nachbrachte und schnell ein Lager bereitete.

»Sie sind hier ganz ungestört. Ziehen Sie sich um und packen Sie sich warm ein. Nicht wahr, das thun Sie? Und sobald Sie liegen, rufen Sie, das Feuer ist jetzt noch zu frisch, dann bringe ich Ihnen Kohlengluth in's Zelt.«

»Wie geht es ihr?« fragte ihn Sir Munro draussen.

»Fieber,« war seine lakonische Antwort. Dann rief er den Mestizen einige Worte zu, sie zerstreuten sich in der Prairie, während Starke das Feuer schürte,und dann in seinem Tornister kramte.

Die Mestizen kamen bald zurück, in Decken schwarzbraune Knollen, wie Torf aussehend, mitbringend, und Starke hatte unterdessen ein Kolapulver in Wasser angerührt.

»Mr. Starke, wollen Sie jetzt kommen?« erscholl es im Zelt.

»Bringen Sie ihr das, es ist Kola, sie kennt es schon, ich komme dann mit dem Feuer nach,« wandte sich der Gerufene an Sir Munro.

Ein Zögern, ein finsterer Blick, und Munro drehte sich um.

»Bringen Sie es ihr selber,« sagte er kurz und mit rauher Stimme.

Starke besorgte durch verschiedene Gänge erst das Feuer in's Zelt, glühende Holzkohlen, auf welche er dann jene lockeren Knollen schichtete. Ellen lag bis an die Nase in Decken vergraben, ihr Zähneklappern war hörbar, die Decken zitterten.

»Wie fühlen Sie sich, Miss Howard?« fragte er, an ihr Lager tretend.

»Ich friere schauderhaft,« klapperten die Zähne, und die auf ihn gehefteten Augen strahlten in unnatürlichem Glanze.

»Haben Sie Appetit?«

»Nein— ich friere — ich habe mich doch etwas erkältet.«

»Trinken Sie diese Kolamischung und geben Sie mir Ihre Hand.«

Er war niedergekniet, sie trank aus dem dargereichten Glase und überliess ihm ihre Hand, deren Puls er prüfte. Sie fror, und ihre Hand glühte.

»Pfui — das schmeckt ganz anders — bitter — das ist Chinin. Habe ich wirklich Fieber? Es ist nur eine kleine Erkältung.«

»Haben Sie schon einmal Wechselfieber gehabt?«

»Nein.«

»Dann, hoffe ich, wird es nicht schlimm werden.«

Er machte sich wieder mit dem Feuer zu schaffen, Ellen beobachtete ihn. Die Knollen begannen rauchlos zu glühen, einen starken Geruch verbreitend.

»So ein Feuer sieht doch gemüthlich aus. Was sind denn das für Kohlen? Wo haben Sie die her? Das riecht so aromatisch.«

»Das ist getrockneter Pferdemist, in den Pampas das einzige Brennmaterial, brennt sehr gut, giebt intensive Hitze und hält lange an.«

Ellen begann mit aufeinander schlagenden Zähnen zu lachen, lachte immer mehr, hörte gar nicht wieder auf zu lachen, und wenn man so, von Frost geschüttelt, mit klappernden Zähnen lacht, man muss lachen, man weiss selbst nicht warum, dann hat man das echte Wechselfieber. — —

Die Feuer waren erloschen, der Mond beleuchtete die in ihre Decken gehüllten, schlafenden Männer, auch der vierfüssige Wächter schlief, aber mit offenem Ohr. Doch die tiefste Stille lagerte über der Prairie, nur das Wasser rauschte leise.

»Curt, Curt!« erklang es da wimmernd.

Hassan el Seba hob den Kopf, gleichzeitig stand ein Mann auf, liess die Gummidecke fallen und trat in das Zelt, drehte die Lampe herum, dass ihr Reflexschein auf das Mädchen fiel, welches, die Decken schon herabgetreten, sich unruhig auf dem Lager hin und her bewegte. Er deckte sie zu.

»Sei mir nicht böse, ich will nie wieder so eigensinnig sein — das Wasser ist so heiss — wie meinen Sie, Sir Munro? — Ach, warum sind Sie nicht eine Stunde früher gekommen! — Anderthalb Millionen Tische? Ich liebe Dich, da aber kam er. — Curt, Du liebst mich, Du hast es mir gesagt...«

Starke wendete den Kopf. Neben ihm stand Sir Munro. Und sie phantasirte weiter in bizarren Variationen über das Hauptthema: ich liebe ihn und ich liebe ihn und er liebt mich und ich liebe ihn und ich kann nicht ohne ihn leben.

Starke setzte ihr den grossen Becher mit chininhaltigem Wasser an die Lippen; mit gierigen Zügen trank sie, ohne zu erwachen, sank zurück und wurde etwas ruhiger, und nachdem Starke die Lampe wieder umgedreht hatte, winkte er dem Anderen, ihm zu folgen.

Draussen unter dem sternenbesäeten Himmelszelt streckte er die Hand empor wie zum Schwure, aber seine Worte enthielten keinen Schwur, und dennoch klang es feierlich wie ein Schwur.

»Sir Robin Munro! Sie irrt sich. Diese Sterne dort oben liebe ich.«

Es waren seltsame Worte gewesen. Eine lange, lange Pause entstand, und noch immer hielt er die Hand erhoben und blickte zu den Sternen empor.

»Warum verlassen Sie sie denn nicht?« kam es endlich leise aus Munro's Munde.

»Um sie von ihrem Irrthum zu heilen. Kommen Sie.«

Starke entfernte die Asche von dem Feuerplatz, darunter war nochGluth; er blies sie an, sie setzten sich, und während sie lauschten, ob die Fiebernde wieder zu phantasiren begänne, unterhielten sich die zwei Männer noch lange — sprachen wie zwei Männer zusammen. —

Am anderen Morgen glaubte Ellen, einen kräftigenden Schlaf gethan zu haben; sie fühlte sich wirklich so kräftig, so wohl, sie sah sich allein im Zelt, stand auf und — brach vor Schwäche gleich zusammen, konnte kaum wieder auf ihr Lager und unter die Decken kriechen.

Mit einem Gutenmorgengruss betrat Sir Munro das Zelt.

»Sie sind aufgestanden? Das dürfen Sie nicht, Sie haben Wechselfieber, Miss Howard. Wie befinden Sie sich?«

Sie hatte allerdings einen tiefen Schlaf gehabt, aber nur zuletzt einige wenige Stunden, die Folge vollständiger Krafterschöpfung.

»Wo ist Starke? Ich möchte ihn sprechen.«

»Er ist heute Morgens mit dem Reporter fortgeritten, will das Lager der Yanktoanons aufsuchen und glaubt, in drei Tagen zurück zu sein.«

»In drei Tagen?!« rief Ellen erschrocken.

»Ja, und vor fünf Tagen können Sie die Fahrt nicht fortsetzen, Mr. Starke scheint das Wechselfieber recht genau taxiren zu können.«

»Fünf Tage hier liegenbleiben?! Unmöglich! Es ist gar nicht so schlimm, ich muss fort. Und in drei Tagen kommt er erst wieder!!«

Das war ihr also die Hauptsache, sie wendete sich der Zeltwand zu, und es musste für den Baronet recht unangenehm sein, als er sie weinen hörte.

»Verlassen Sie mich.«

»Miss Howard, Sie brauchen doch eine Pflege ....«

»Verlassen Sie mich, verlassen Sie mich, ich durchschaue Alles — ach, bin ich unglücklich!!«

Da begannen schon wieder ihre Zähne zu klappern, Munro brachte Feuer herein, als er sich einmal verbrannte und mit den Fingern schlenkerte, fing das krampfartige Lachen an, bis nach einer Viertelstunde die Hitze kam, jedoch ohne Phantasien, denn sie schlief nicht ein. Sie war sehr gereizt, schickte den Baronet hinaus und wollte seinen Diener haben, Dick benahm sich ungeschickt, Somaja fluchte einmal, der andere Cowboy kaute Tabak, sie weinte, Sir Munro musste wiederkommen, sie wollte trinken ....

Die viertelstündige Kälte mit zweistündiger Hitze wechselten den ganzen Tag ab, in der Nacht phantasirte sie stark.

Als sie am anderen Morgen erwachte, ergriff Munro sofort ihren Puls.

»Mir ist, als wären Sie die ganze Nacht bei mir gewesen.«

»Ja ich war bei Ihnen.«

»Sie gaben mir einmal zu trinken, ich entsinne mich.«

»Einmal? Na, gegen zehn Liter Wasser haben Sie getrunken,« lächelte er.

»Habe ich phantasirt?«

»Ja, sehr.«

»Was sagte ich?«

»Oh, nichts Besonderes — Sie wollen immer Ihre Fahrt fortsetzen.«

»Ja, das will ich auch! Wo ist Curt — Starke?«

Sie konnte sich noch recht wohl entsinnen, dass Starke fortgeritten war, sie nannte auch mit Absicht seinen Vornamen, aber das Weinen, in das sie dann wieder ausbrach, das herzzerreissende Schluchzen war ungekünstelt.

Nach einem erneuten Fieberanfall verlangte sie zu essen, sie fühlte sich sehr hungrig.

»Das thut mir leid. Fieberkranke dürfen in den ersten Tagen absolut nichts essen.«

»Ja, ich weiss wohl, Sie wollen mich absichtlich durch Hunger schwächen, dass ich meine Wette verliere!« rief sie mit krankhafter Gereiztheit.

»Ganz im Gegentheil. Mr. Starke, welcher in derartigen Fällen grosse Erfahrung zu besitzen scheint, versichert, dass Ihre Fieberperiode für Sie nur einige Ruhetage bedeutet, nach denen sie kräftiger denn zuvor sein werden, vorausgesetzt, dass Sie die Fieberdiät genau befolgen.«

Ellen fühlte selbst, dass sie ernstlich erkrankt war, und sie war unglücklich über ihren Eigensinn, den Strom durchschwommen zu haben, wodurch sie den Gewinn der Wette in Frage gestellt, sie haderte mit sich und aller Welt. Und Starke hatte sie verlassen, war weit fort in die Prairie geritten, für drei Tage! Warum hatte er ihr dies angethan? Sie wusste es, sie weinte und weinte, bis sich wieder der Fieberanfall einstellte und sie vor Erschöpfung einschlief.

So verging auch der zweite Tag mit Selbstvorwürfen, leisem Jammern, Fieberanfällen und kurzen Schlafpausen. Dabei quälte sie ein nagender Hunger. Sir Munro war der aufmerksamste Krankenpfleger, aber sie hatte kein freundliches Wort für ihn, wollte nichts von ihm wissen, sie verlangte immer nach Dick, der jenen manchmal ablöste — und sonderbar, dann weinte sie wieder ob des namenlosen Unglücks, dass sie den armen, guten Baronet, der ein so freundliches Gesicht hatte, so schlecht behandelte.

Am dritten Tage, gegen Mittag, rief sie nach Dick. Selbstverständlich würde Sir Munro kommen, aber es erschien doch der Diener.

»Wo ist Sir Munro?«

»Der schneidet eben einem Cowboy den linken Mittelfinger ab,« sagte Dick vergnügt.

»Was thut er?«

»Der schneidet gerade einem Cowboy den linken Mittelfinger ab, er hat ihn sich, wie er seinen Revolver putzte, mit einer Kugel selbst zerschmettert, und denken Sie, der Kerl raucht dabei ruhig seine Pfeife weiter, wie mein Herr ihm jetzt den caputen Finger absägt.«

Munro trat in das Zelt, ohne Jacke, die aufgekrempelten Hemdärmel mit Blutflecken bedeckt.

»Sie haben gerufen, Miss Howard?«

Er musste erzählen, was passirt war. Die Operation war gelungen, der Cowboy hatte einen Finger weniger — nichts weiter.

»Sie sind wirklich Arzt, Sir Munro?«

»Ich habe wenigstens in Oxford zwei Jahre Medicin studirt.«

»Und Sie waren wirklich im Londoner Hospitale praktisch thätig?«

»Ein halbes Jahr.«

Ellen wusste ja Alles, ihr »wirklich« war ganz unbegründet. Ueber Sir Munro circulirte in London, nicht zum mindesten unter der Damenwelt, eine hübsche Anekdote, die manchmal, so am unbelauschten Theetische, mit heimlichem Kichern erzählt wurde. Der reiche Herr hatte seiner Zeit aus Nächstenliebe Arzt werden wollen, hatte seine Semester absolvirt, kam in ein Hospital zum praktischen Cursus; wie er aber zum ersten Mal seine chirurgische Kunst an einer weiblichen Leiche, einer jungen Selbstmörderin, beweisen sollte, da hatte er, damals noch ein ideal veranlagter Jüngling, als keuscher Joseph die Flucht ergriffen. Ob es wahr war, wusste man nicht. Die Geschichte wurde auch noch ganz anders erzählt.

Länge blickte ihn Ellen an.

»Ach, mein lieber Munro, ich habe solchen schrecklichen Hunger, geben Sie mir doch etwas zu essen, bitte, bitte,« begann sie plötzlich in kläglichstem Tone.

»Ich kann nicht, ich darf nicht,« entgegnete der Baronet fast in demselben Tone, nur noch verzweifelter, »Mr. Starke hat es mir auf das strengste verboten. Nach seiner Rückkehr wird er entscheiden, ob Sie etwas geniessen dürfen oder nicht.«

»Mr. Starke? Sie sind doch selbst Arzt.«

»Ich füge mich seiner Anordnung, er kennt dieses Fieber besser als ich.«

Sir Munro schien nicht zu wissen, dass er seinem Nebenbuhler nur selbst das Wort redete.

»Gehen Sie, gehen Sie!« rief die Kranke mit wieder hervorbrechender Heftigkeit. »Halt! Wann kommt Starke zurück?«

»Morgen, so hat er versprochen.«

»Wenn er aber nun nicht morgen kommt, nie wieder — so soll ich auch nie wieder essen?«

»Oh,« lachte der Baronet, froh, dass sie wenigstens wieder scherzen konnte, »so ist das nicht gemeint, sobald Sie fieberfrei sind, werde ich Sie schon füttern, bis Sie wieder kräftig sind.«

Mit Anstrengung richtete sie sich empor.

»Ich will aber nicht!« schrie sie in wahrhafter Wuth. »Wenn er nicht wieder kommt, will ich auch nie wieder etwas essen!«

Er floh hinaus, es war das Beste, was er thun konnte, und sie sank erschöpft zurück — und weinte — vor Hunger und vor Liebe.

Mit kurzen Worten ist ihr Zustand definirt: sie war sterblich in Curt Starke verliebt, und darüber war sie selbst unglücklich, weniger deshalb, dass sie scheinbar keine Gegenliebe fand, als dass sie überhaupt solch einen eiskalten, heimaths- und herzlosen Menschen so lieben konnte, und ausserdem war sie jetzt krank.

Eine Nacht verging, in welcher sie nicht von ihm, sondern nur von Beefsteaks und anderen Schüsseln träumte, und am nächsten Tage drang in das Krankenzelt ein freundlicher Sonnenstrahl in Gestalt von Curt Starke.

»Ach, Starke, ich habe solchen fürchterlichen Hunger!« jauchzte sie schmerzlich dem rücksichtslosen Barbar entgegen. Wenn sie vielleicht, auf dem Hungerlager sehnsüchtig an die heimathlichen Fleischtöpfe denkend, beschlossen hatte, jetzt die Reise um die Erde aufzugeben — bei Krankheit ist Alles zu verzeihen — so war dieser Entschluss bei Starke's Anblick sofort vergessen.

Er fühlte den Puls und liess sich die Zunge zeigen, blickte ihr besonders unter die Augenlider, und Ellen gestand, so schwach zu sein, dass sie sich nicht von hier bis dorthin schleppen konnte, und dabei drohte sie noch ohnmächtig zu werden.

»Das Blut ist bald wieder normal, übermorgen oder doch in drei Tagen werden wir die Fahrt fortsetzen können. In einer Stunde sollen Sie ein kräftiges Mittagsessen bekommen, jetzt können Sie es wieder vertragen.«

»Erst in einer Stunde!« wehklagte sie. »Ach, Starke, was habe ich für eine Dummheit gemacht! Ich glaube noch gar nicht, dass ich übermorgen schon wieder auf's Rad steigen kann, bei dieser Schwäche, und die fünf Tage sind nie wieder einzuholen.«

»Klagen Sie sich doch nicht selber an, Sie haben gar keinen Grund dazu. Besser freilich wäre es gewesen, Sie hätten das Boot benutzt, d. h. es war doch ganz unnöthig, dass Sie noch bei Nacht durch den Strom schwammen. Aber ein Fieber wäre bei Ihnen so wie so einmal ausgebrochen und hätte längeren Aufenthalt geboten, das fordert das veränderte Klima, verbunden mit veränderter Lebensweise unter ungewohnter Anstrengung. Die kalte, strapaziöse Schwimmtour hat die Veranlassung zum Ausbruch des Fiebers gegeben; nun haben Sie es hinter sich, was doch einmal gekommen wäre, zum zweiten Male werden Sie nicht so leicht wieder davon befallen; und es ist besser, Sie haben eine übermässige Anstrengung hier am Dacotah im Schutze von bewaffneten Männern abgebüsst, als wenn Sie etwa während der Flucht vor einer drohenden Gefahr vom entkräftigenden Fieber überfallen worden wären; und nun passen Sie auf, wie schnell Sie sich erholen, wenn Sie meine Kurvorschriften befolgen, wie Ihre Kraft und Ihr Lebensmuth in verdoppeltem Grade wiederkehren, wie bald Sie dann die paar Tage Verlust wieder eingeholt haben.«

Freudig erstaunt blickte Ellen den so Tröstenden an.

»Sie sprechen ja plötzlich wie ein Buch! Wie ein Engel! Da hätte ich ja also einen ganz famosen Streich gemacht!«

»Er ist wenigstens noch gut abgelaufen. Wissen Sie, wo ich gewesen bin?«

»Die drei Tage? Sie haben den Yanktoanons einen Besuch abgestattet. Starke, Sie konnten mich so ohne Weiteres auf drei Tage verlassen?!«

Vergebens, dieser gefühllose Mensch hörte weder aus Worten noch aus dem vorwurfsvollen Tone etwas heraus.

»Ja,« sagte er auch noch. »Ich hatte das Fell mitgenommen. Mr. Schade ist dort geblieben, will Berichte sammeln und Photographien machen, habe versprochen, ihn wieder abzuholen. Dann war ich in Omaha City.«

»Was? Wo? In den drei Tagen? In Omaha?!« staunte Ellen.

»Warum nicht? Ich benutzte natürlich hin und her die Pacific. Da habe ich dann durch Erkundigungen erfahren, was ich wissen wollte, einfacher und schneller, als wenn ich, wie Sie vielleicht wünschten, die Spürnase an den Boden gedrückt und aus Stiefelabsätzen scharfsinnige Schlüsse gezogen hätte. Unser Feind ist wirklich der Pseudo-Verfasser von »happy England«. Jenkins ist in Omaha mit einem berüchtigten Halbblut-Indianer gesehen worden, mehr Prairieräuber denn Jäger, ein Namensvetter von mir, er wird nämlich Stronghand genannt, Starkhand, ich kenne ihn sehr gut. Nun, er wird mit seiner starken Hand nicht mehr viel Brücken ansägen können, dafür werde ich sorgen.«

Schnell entfernte sich Starke, und Ellen war wieder glücklich, sie hatte ihn in seiner trockenen, kalten und doch von Humor durchwehten Weise wieder sprechen hören.

Er war inzwischen in Omaha gewesen! Immerhin, wenn er auch die Pacific benutzt hatte, Ellen mochte es kaum glauben, zumal ihr die drei Tage, immer in halber Betäubung liegend, ausserordentlich schnell vergangen waren. Auf diese Weise also operirt ein moderner Lederstrumpf! Sauste mit der Pacific nach der nächsten Grossstadt, wo es Auskunftsbureaus gab, und vergewisserte sich so über seinen unsichtbaren Gegner.

Starke selbst brachte das »kräftige Mittagsessen«, bestehend aus einem Becher Bouillon und einem einzigen Ei.

»Ist das Alles?« fragte Ellen betrübt, nachdem sie diese Mahlzeit verzehrt hatte, noch ehe sie von Starke richtig auf ihrem Lager servirt worden war.

»Vorläufig, ja. Heute Abend dasselbe, auch morgen Mittag, morgen Abend werden Sie eine richtige Mahlzeit einnehmen können, und dann sind Sie übermorgen wieder bei vollen Kräften, Sie werden sich über sich selbst wundern.«

»Wo haben Sie denn das weichgekochte Ei her?«

»Das habe ich dem Neste eines Wasserhuhns entnommen.«

»Gleich weichgekocht?«

Und Ellen lachte herzlich über ihren eigenen Witz. Aber ihre fröhliche Stimmung währte, nicht länger, als bis ihr Starke erklärte, jetzt müsse er wieder fort, müsse seinem Versprechen gemäss Mr. Schade aus dem Indianerlager abholen, habe überhaupt noch eine Streifparthie vor, morgen Abend käme er zurück. Da war sie wieder sehr unglücklich.

Die zwei Tage vergingen, und am Abend des letzten spazierte Ellen zum ersten Male im Freien, so taumelnd, dass sie unmöglich glaubte, morgen schon wieder im Sattel sitzen zu können. Sehnsüchtig und traurig blickte sie nach Norden, wohin Starke entschwunden war, doch fand ihre Sehnsucht bald eine andere Richtung.

Zwei Cowboys hatten einige Fische gefangen und brauten extra für sich in einem Kessel ein wunderliches Ragout zusammen von diesen Fischen, getrocknetem Hirschfleisch, in Stücke zerhacktem Geflügel, Mehl und Zwiebeln, einer in der Prairie wildwachsenden Tulpenart angehörend.

Die beiden Köche wurden von ihrem Führer abgerufen, Ellen hatte sie beobachtet; der Inhalt des Kessels kochte über, es that ihr leid, wenn das Essen anbrannte, sie trat heran, rührte mit dem Holzlöffel um, kostete einmal ....

Erst nach einer Viertelstunde konnten die Abgerufenen nach ihrem Feuer, welches sie hinter dem Zelt gemacht hatten, zurückkehren, der Kessel hing darüber — aber vollständig leer. Das Staunen und der Zorn waren nicht gering. Der zur Rechenschaft gezogene Hassan verschmähte verächtlich jede Antwort, und als man ihn nachdrücklicher befragen wollte, wurde er unangenehm. Die Dame, welche, die Hände auf dem Rücken, am Stromufer auf und ab ging, konnte auch keine Auskunft geben, und die Cowboys waren alle um den Führer versammelt gewesen, ebenso Sir Munro und sein Diener.

Das Räthsel, wohin das Tulpenragout gekommen, wurde nie gelöst. Ellen berichtete über diesen Vorfall auch gar nicht in ihrem Tagebuche — sie mochte sich ein bischen schämen.

»Wollen Sie jetzt speisen?« wurde sie kurze Zeit darauf von Sir Munro gefragt. »Ich habe für ein reichhaltiges Abendbrod gesorgt.«

»Ach ja, ich habe ausserordentlichen Hunger,« entgegnete sie freudig.

Während sie ass, wurde sie einmal heimlich von zwei Cowboys beobachtet.

»Sie kann es doch nicht gewesen sein, sie isst ja wie zwei verhungerte Männer,« lautete das Urtheil der Sachverständigen.

Nach dem Essen empfand Ellen plötzliche Lust, doch einmal ihr Rad zu besteigen. Das Ross hatte schon zu lange im Stalle gestanden.

»Wo ist denn die Rennmaschine des Reporters?«

»Er hat sie auf Starke's Zureden mit in's Lager der Yanktoanons genommen, wozu, weiss ich auch nicht, hat sie vor sich auf dem Pferde gehabt.«

Als Ellen sich anschickte, auf das reparirte Rad zu steigen, hatte sie, obgleich sie heimlich vor sich hin lächelte, Angst, sie würde trotz der sicheren Unterstützung gleich wieder durchbrechen, sie fühlte sich so ungemein schwer. Aber der Rahmen hielt, und es ging besser, als sie für möglich gehalten hätte, immer länger dehnte sie die Probefahrt aus, am allerliebsten hätte sie die Reise gleich noch in der Nacht fortgesetzt. Schon jetzt fühlte sie sich wie neugeboren.

Doch Starke war ja noch nicht zurück. Seufzend suchte sie spät in der Nacht ihr Lager unter dem Zeltdache auf, diesmal aber so wie sonst immer vollständig gekleidet und gestiefelt.

Welche Ueberraschung aber wartete ihrer beim Erwachen!

»Es ist schon sechs Uhr, der Thee ist fertig,« sagte eine wohlbekannte Stimme, und sie wurde leicht an der Schulter gerüttelt.

Schlaftrunken richtete sich Ellen auf, rieb sich die Augen, schaute um sich, rieb sich nochmals die Augen, wieder der verwirrte Blick .... War denn das Wirklichkeit? Nein, ganz gewiss, sie träumte noch.

Denn sie hatte sich doch unter einem Zelt niedergelegt gehabt, auf einem von vielen Decken ganz hübsch weich gemachten Bett. Und nun? Nun lag sie im Grase, in ihre Gummidecke eingehüllt, als Kopfkissen ihren Tornister, verschwunden Cowboys und Pferde — und dass neben ihr Starke über einem Feuerchen in einem kleinen Kessel Thee bereitete, wie damals am Morgen nach dem Bärenabenteuer, das gehörte nur zu ihrem Traume.

»Heute Nacht um zwei Uhr traf ich ein,« fuhr die Traumgestalt im gelben Lederanzuge fort, während sie die Theeblätter auf das kochende Wasser schüttete, alles mit wunderbarer Deutlichkeit, »habe die Reiter gleich fortgeschickt, dass sie wieder genügend Vorsprung gewinnen. Auch unser Mr. Schade schloss sich ihnen an, musste es, per Pferd, hatte keine Maschine mehr. Den hatte ich nämlich überredet, in das Indianerlager, welches er als Berichterstatter inspiciren wollte, seine Maschine mitzunehmen, und dort ist er sie denn auch glücklich losgeworden. Biberzahn, der Häuptling der Yanktoanons, fand Wohlgefallen an dem Zauberdinge, bot ihm als Gegengeschenk eines seiner besten Pferde an, und der Wunsch eines Prairiefürsten ist erst recht Befehl. Dass der Reporter nicht daran denken konnte, uns auf dem Pferde zu begleiten, wusste ich ihm auch begreiflich zu machen. So sind wir ihn los — und der Thee wartet auf Sie.«

Nein, so deutlich kann man denn doch nicht träumen!

»Ja — aber — Starke — wie komme ich denn — wo ist denn mein Bett?!«

»Sie schliefen sehr fest. Das Zelt wurde über Ihnen abgebrochen, ich zog unter Ihnen die Decken hervor, wickelte Sie in Ihren Gummimantel, bettete Sie wie sonst. Ich habe Sie heute zwei Stunden länger schlafen lassen.«

Ellen war aufgesprungen. Ihr Lachen wollte nicht enden.

Starke war nicht einmal eines Lächelns fähig.

»Ich calculire, Sie sind nicht mehr fieberkrank,« sagte er dagegen mit einer unnachahmlichen Trockenheit, begleitet von einem Blicke, dass Ellen's erneutes Gelächter die weite Prairie erfüllte.



20. Capitel.

Colonel Sidney Horst.

Einige Tage später, im Herzen von Nebraska. Gestern hatte Starke die Heerstrasse verlassen, mit der Begründung, einen kürzeren Weg nehmen zu wollen; auch die Vorreiter, von denen Ellen noch nichts wieder bemerkt, hätten diese Richtung eingeschlagen. Nun, ihr war es gleichgültig. Die Fahrt ging freilich über viel holperigeren Boden, aber Ellen befand sich wieder in bester Form, hatte auch schon wieder zwei ansehnliche Flüsse durchschwommen und die nassen Kleider am Leibe trocknen lassen, ohne einen Rückfall bekommen zu haben.

Seit vierundzwanzig Stunden fuhren sie durch eine äusserst dürre Gegend; das dürftige Gras gedieh wie in den australischen Steppen nur büschelweise. Es war eine ebene, trostlose Landschaft. Jetzt aber, wie Hügel kamen, wurde sie wirklich schön!

Sie fuhren, immer einem Flusse folgend, am Rande eines Urwaldes entlang — soweit man von eines Urwaldes Rande sprechen kann, doch bildete hier immerhin der Fluss eine ziemlich ausgeprägte Grenze zwischen Wald und Grasland — linker Hand immer höher werdende Hügel, zwischen denen zahlreiche klare Quellen hervorrieselten, es kamen Pflaumenbäume, Birnbäume, Apfelbäume, Pfirsichbäume, die beiden letzteren noch Früchte tragend, es wurden ganze Haine daraus, unter ihnen von Blumen Alles, was jetzt, im sogenannten indianischen Sommer, noch blühte — zuletzt einfach ein Paradies für den, welcher die traurige Einöde hinter sich hatte, eine Oase in der Wüste.

»Nicht wieder aufsteigen, hier wollen wir lagern,« sagte Starke, als sie wieder die Räder über einen silbernen Bach getragen hatten.

»Oh, hier ist es schön, hier eine Hütte bauen!« rief Ellen begeistert. »Starke, was meinen Sie dazu?«

Aber Starke schien die Frage nicht gehört zu haben, er untersuchte gerade eine der Maispflanzen, welche hier ein kleines Feld bildeten, mehr einen kleinen Wald, denn es waren colossale Exemplare, fast drei Meter hoch, wie sonst der Mais nur im heissesten Brasilien bei sorgfältigster Düngung gedeiht, und dabei erkannte das kundige Auge sofort, dass es sich hier um keine Anpflanzung von Menschenhand handelte, sie standen nicht in Reihen, viel zu dicht, es waren Wildlinge.

»Vier — fünf Kolben an einem Stengel, und sehen Sie diese von Körnern strotzenden Kolben, das sind eben so viel Pfund nahrhaftes Brod vom Quadratmeter Boden. Was sagen Sie zu solcher Fruchtbarkeit des Bodens? Dabei ist dies hier gar nicht mehr die eigentliche Region des türkischen Weizens. Der gegen die kalten Nordwinde schützende Wald ist die Hauptursache solches Gedeihens, zugleich versorgt er die Atmosphäre immer mit genügender Feuchtigkeit und des Nachts athmet er Kohlensäure aus. Nur zweitausend Quadratmeter, ein halber Acre genügten hier, um einen erwachsenen Menschen vollständig zu ernähren, ihn mit Fleisch, Milch, Eiern, Brot, Gemüsen und sogar mit Kleidung zm versehen.«

Ellen hatte schon wiederholt erfahren, wie der moderne Lederstrumpf gern Agriculturstudien trieb und wie er es besonders liebte, seine Berechnungen in den kleinsten Zahlen auszudrücken, was überhaupt ein viel deutlicheres Bild giebt, wie ja jetzt z. B. der Gelehrte auch nicht mehr nach Tonnen oder Lasten rechnet, sondern selbst die ungeheuerlichsten Gewichtsgrössen einfach in Kilogrammen angiebt. So schätzte Starke fast bei jeder Gegend mit neuer Bodenbeschaffenheit ab, was hier am besten gedeihen könne und wieviel Quadratmeter ein Mensch zu seiner Ernährung durch Ackerbau oder Viehzucht wohl gebrauche.

»Als ich vor zwei Jahren hier lagerte,« fuhr er fort, »fand ich zufällig ein Maiskorn in meiner Tasche, ich pflanzte es ein. Nun sehen Sie, was daraus geworden ist. Im ersten Jahre brachte die einzige Pflanze reife Körner hervor, Niemand erntete sie, viele mögen von Vögeln gefressen worden, verkommen sein; viele der ausfallenden Körner, vom Winde und anderen Einflüssen zerstreut, fanden doch ein sicheres Plätzchen in Mutter Erde — jetzt sind aus dem einzigen Korne ohne menschliches Zuthun mindestens hundert Pfund Brod geworden. — Kommen Sie, ich will Ihnen einen weiteren Blick geben.«

Sie liessen die Räder unter Hassan's Aufsicht zurück, Ellen folgte dem Vorausgehenden. Sie glaubte ihn doch nun schon zur Genüge zu kennen, aber immer und immer wieder wurde sie an diesem eisernen, rücksichtslosen, unbeweglichen Manne irre, der solch sinnigen Gedanken nachhing, sich so sinnig auszudrücken wusste.

Sie hatten einen hohen Hügel erklettert, der eine weite Rundschau gewährte. Auf der einen Seite Alles Wald, auf der anderen Alles Hügelland mit üppigstem Graswuchs, noch jetzt frisch, von unzähligen Bächen und Quellen bewässert, überall rieselte und sprudelte es, in der näheren Umgebung ein einziger Obstbaumgarten. Nach der Seite, von welcher sie gekommen, war noch die dürftige Prairie zu erkennen, nach der anderen nicht, die Oase in der Steppe war nicht zu überblicken und im fernen Westen erhoben sich die blauen Gipfel eines hohen Gebirges, das von Colorado.

»Die sterilen Prairien, durch welche wir gestern und noch heute gefahren sind,« erläuterte Starke, heissen die »mauvaises terres«, das schlechte Land. Der französische Name ist beibehalten worden. Dies hier ist eine Oase darin. Sie ist ungefähr 64 englische Quadratmeilen gross — oder ich kann es Ihnen auch ganz genau sagen: 206 Quadratkilometer, 40 000 Menschen könnte sie mit Leichtigkeit ernähren.«

»Und sie ist noch unbesiedelt?«

»Vollständig unbesiedelt. So gross ist die Erde! Es fehlen hier ja alle Communicationswege, also ist kein Absatz vorhanden für das, was der Mensch erntet, und mit pecuniärem Gewinn rechnet jeder Ansiedler.«

»Da könnte man hier ja Robinson spielen.«

»Sie haben Recht. Ja, es freut mich, dass Sie sofort auf diesen Gedanken kommen, denn er ist auch der meine. Warum immer an den Austausch der Frucht des Fleisses gegen Münze denken? Wenn nun das Geld schliesslich auch nur ein Tauschobject ist, ist es nicht besser, wenn man sich davon unabhängig macht, es sich ganz abgewöhnt, Alles nach Geldeswerth zu berechnen? Ist es nicht genug, wenn der Mensch satt zu essen hat, durch Obdach und Kleidung Schutz gegen die Unbilden der Witterung hat und in der Vorrathskammer noch so viel, um ein Missjahr auszuhalten? Oh, was könnte der Mensch aus dieser Oase machen! Nur hundert, nur zehn Familien brauchten sich zusammen zu thun, sie brauchen nur tausend Dollars zu besitzen, nur die Reise und die allerersten Kosten des Unterhalts zu bestreiten, für das Land giebt ihnen ja die Regierung bis zu 3O Jahren Credit, giebt ihnen baaren Vorschuss, dass sie sich Maschinen und Zugvieh anschaffen können; die Regierung will ja bei der Colonisation nichts verdienen, will ja nur das menschenleere Land mit fleissigen Ansiedlern bevölkern! — Nun malen Sie sich aus: Dort der Wald liefert ihnen das Holz zu den ersten Hütten, sie brauchen den Boden nur mit der Egge aufzulockern und die Saat auszustreuen, es wächst von selbst, im nächsten Jahre haben sie schon Ueberfluss an Brod und Gemüse. Kühe und Hühner liefern Milch und Eier, das genügt im Anfang. Die Heerden mehren sich, sie geben Fleisch und Wolle und Leder. Wenn die Baumwolle nicht gedeiht, so gedeiht der Flachs; auch die Fasern der Maispflanze können zu leichten Geweben versponnen werden. Während der Mann das Feld bestellt und die Heerden beaufsichtigt, besorgt die Frau das Haus, spinnt und webt. Sie können sich die Kleidung selbst fertigen vom Hemd bis auf die Stiefel. Ja, ich bin ein Freund der isolirten Handarbeit; Fabriken mit getheilter Arbeit sind kein Fortschritt in der Cultur. Unter ihnen ist ein Lehrer, ein echter Lehrer — dort erhebt sich die erste Schule. Die Kinder werden gross und bilden neue Familien. In der jungen Colonie werden Geister geboren werden, welche sich über die Anderen erheben. Dem Einen genügen die einfachen Wege nicht mehr, er legt bessere an; er wird der erste Strassenbauingenieur; ein Anderer beutet die Wasserkraft aus, legt Canäle an. Die Colonie wächst, man kann nicht mehr gleich zum entferntesten Nachbar laufen, ihm die neueste Neuigkeit mitzutheilen — die erste Zeitung wird gegründet. Ein phantasievoller Kopf, der hübsche Fabeln erzählen kann, benutzt sie, um seine Kameraden zu ergötzen, ohne dass sie sich um ihn versammeln müssen. Und so geht es fort und fort, auf Jahrhunderte hinaus ist die Existenz der rührigen Colonie gesichert, ohne dass eine Auswanderung nöthig wird; und sie haben keinen anderen Menschen nöthig, keine Eisenbahn soll sich hierher verirren, es ist ein Paradies des Fleisses, der Freundschaft und des Friedens, in dem das Wort, bisher ein Hohn, zur Wahrheit wird: Kinder sind ein Segen des Himmels. — Miss Howard, wissen Sie, was ich sagen will?«

Ellen blickte den Mann an, der so sprach, und sie blickte wieder um sich, und das Herz wurde ihr weit.

»Wieviel mögen diese 64 Quadratmeilen kosten?« sagte die Engländerin.

Wenn dem Engländer auch das Herz weit wird, zuerst denkt er doch immer an den Kostenpunkt, und darin hat er auch vollkommen Recht. Deshalb hat Alles, was der Engländer, nicht minder romantisch veranlagt als der Deutsche, einmal anfasst, auch Hand und Fuss.

»Wenn es Regierungsland wäre, der Acre zwei und ein halb Dollars — es würde nur wenig mehr kosten als Ihr Diamantenhalsband, für 20 000 Pfund Sterling könnten Sie die 64 Quadratmeilen kaufen. Aber die ganze Oase ist bereits Privateigenthum.«

»Ah!« sagte Ellen enttäuscht. »Wem gehört das Land?«

»Dem Colonel Sidney Horst, von dem Sie wohl schon gehört haben.«

»Was, dem Indianerhelden?!« stiess Ellen überrascht hervor.

»Demselben.«

»Existirt der denn wirklich?!«

Seit einem Jahrzehnt spielt Colonel Sidney Horst in der englischen Jugendliteratur dieselbe Rolle wie Buffalo Bill in der deutschen. Es ist behauptet worden, dass der bekannte Buffalo Bill nur der stereotype Held eines Indianerschmöker-Fabrikanten sei, und dass dann ein abenteuerlicher Hinterwäldler, wie es ja solche wirklich genug giebt, unter diesem Namen mit seinem »Wilden Westen« Europa bereist habe. Thatsache aber ist es, dass Sherlock Holmes, der berühmte Detectiv mit seinen wunderbaren Combinationen, nur die ständige Figur eines englischen Romanciers ist, was aber die meisten Engländer selbst nicht wissen; man glaubt an die Existenz von Sherlock Holmes; so ist es erst jüngst in London passirt, dass im Theater, als ein Stück »Sherlock Holmes« gegeben wurde, das Geflüster durch das Publicum ging, dort oben in der Loge sässe Sherlock Holmes selbst, und ein biederer Landjunker mochte dann nicht wenig erstaunt sein, so bewundert und sogar Sherlock Holmes angeredet zu werden.

»Colonel Sidney Horst existirt wirklich.«

»Sie kennen ihn?«

»Sehr gut«

Wieder schaute sich Ellen sinnend um.

»Ich weiss; woran Sie jetzt denken,« begann Starke von neuem. »Nein, geben Sie sich keinen Illusionen hin. Suchen Sie zehn Familien, welche dem Geiste und dem Charakter nach dazu geeignet sind, einen solchen communistischen Staat zu bilden, ich meine auf die Dauer. Sie werden sie nicht zusammenbekommen. Ich wenigstens habe allen Glauben daran verloren. Der ganze Communismus ist ein Wahn. Das lehrt die Geschichte all der kläglich gescheiterten Versuche, seitdem wir eine Weltgeschichte haben. Und auch auf andere Weise ist eine glückliche Bevölkerung dieses Paradieses unmöglich, denn dieses Paradies birgt in sich einen Fluch, welcher es unfruchtbar macht.«

»Einen Fluch?«

»Gold. Miss Howard, Sie brauchen es nicht weiter zu erzählen; es hätte auch keinen Zweck, Sidney Horst veräussert seinen Besitz nicht wieder, wenn er ihn auch nicht selbst benutzt: Sie stehen hier auf dem vielleicht goldreichsten Boden Amerikas, es ist ein zweites Californien, das Gold tritt an manchen Stellen sogar in Blöcken zu Tage.«

»Gold,« flüsterte Ellen, erst den Boden zu ihren Füssen betrachtend, dann mit ganz anderen Blicken um sich schauend.

Wenn es ihr auch nicht gehörte, das Wort »Gold« hat eben einen ganz besonderen Klang.

»Ich verstehe nicht ... ja, ich verstehe doch. Dieser Colonel Sidney Horst mag es nicht nöthig haben und er mag ein grosser Freund von wilder Naturschönheit sein. Gewiss, wenn er sein Land an Colonisten käuflich veräusserte, so würden die Obstbäume bald fallen, statt des mir vorgemalten Bildes von friedlichem Landleben würde wahrscheinlich erst ein Lager von wüsten Goldgräbern mit Mord und Todschlag entstehen, später wahrscheinlich grosse Hüttenwerke mit qualmenden Schornsteinen. Nun verstehe ich aber doch nicht. Warum macht denn Colonel Horst mit den Colonisten nicht einen Contract aus, dass sie den Boden nicht anders als durch die Pflugschar ausbeuten dürfen, oder warum legt er dann hier nicht selbst eine Colonie an, unter seiner Leitung stehend, also eine grosse Farm, die Colonisten sind seine in Lohn und Brod stehenden Arbeiter.«

»Erstens ist solch' ein Contract in dem freien Amerika ganz und gar unmöglich, und das ist wiederum schön. Hier giebt es nur selbstständige Farmer, die mit eigener Hand und mit Hülfe ihrer Kinder das Feld bestellen, auf zehn solcher Farmer kommt kaum ein bezahlter Knecht. Und das Zweite, Colonel Sidney Horst braucht ja nicht der Mann zu sein, um solch' ein Unternehmen leiten zu können, braucht ja keine Lust dazu zu haben. Ihm genügt es, ein solch' schönes Fleckchen Erde der zerstörenden Gewinnsucht und der Speculationswuth entzogen zu haben. Nein, wenn man an etwas seine Freude hat, so muss man es fest in der Tasche behalten, dann ist es sicher, besonders wenn es Gold ist, welches schon so viel Unheil angerichtet, schon so viele Contracte und Ehrenworte gebrochen hat ........«

Starke brach ab, seine Augen verschärften sich, Ellen folgte der Richtung, wohin er blickte, konnte aber nichts sehen.

»Das ist der Rauch eines Feuers. Da — — Axtschläge!

Diese vornahm Ellen jetzt auch.

»Es wäre schade, wenn sich ein friedlicher Ansiedler auf diesem Gebiete niedergelassen hätte; es ist verbotener Boden, er müsste ihn wieder verlassen. Für uns freilich wäre es jetzt recht gut, wenn er schon eine feste Hütte aufgeschlagen hätte, denn dort im Westen über dem Gebirge steigt es schwarz mit schwefelgelbem Bande auf, das giebt einen Sturm, wie Sie ihn schon einmal erlebt haben, und wir müssten ihm direct entgegen, das können wir nicht. Ich fühle auch schon die Veränderung, die in der Atmosphäre vor sich geht.«

Ellen wollte es kaum glauben. Von einer schwarzer Wolke mit schwefelgelbem Rande dort über dem Gebirgssaum bemerkte sie absolut nichts, und der Himmel war doch so blau, die Sonne lachte so freundlich und wenn auch Windstille herrschte, die Hitze des Octobertages war nicht drückend, nicht gewitterschwanger. Sie folgte ihm; sie passirten die Stelle, wo ihre Räder lagen, Starke richtete an Hassan einige Worte und drang tiefer in den Obsthain.

»Die Räder lassen wir einstweilen zurück, bis wir wissen, was für einem Axtschläger wir hier begegnen werden. Was ich Ihnen vorhin sagte, dass jeder Mensch nur immer daran dächte, wie er die Früchte seines Fleisses oder Talentes gegen Geld umsetzen könne, gilt doch nicht für Alle. Es giebt auch einige Ausnahmen, freilich sehr seltene. Zum Beispiel der Philosoph in der Dachkammer, ein Spinoza, dann der echte Hinterwäldler. Diesem genügt es, wenn der kleine Acker eben so viel trägt, um ihm und seiner Familie einiges Brod zu liefern, das andere liefert ihm seine Büchse; aus dem rohen Felle der erlegten Beute fertigt die Frau die rohe Kleidung, und der Mann ist glücklich. Aber nicht von solchen Leuten möchte ich dieses Paradies bevölkert sehen, welche zufrieden sind, wenn ihr Magen voll ist und sie Schutz vor Regen und Kälte finden. Solche Menschen unterscheiden sich doch nur wenig vom Thiere, so nützlich sie auch als Pioniere der Wildniss sein mögen. Ausserdem braucht solch' ein Hinterwäldler immer ein viele Meilen grosses Jagdgebiet, wie das Raubthier, und sobald er Nachbarschaft bekommt, wandert er weiter. — Wirklich, ein Ansiedler! Oh weh, hat schon fleissig gearbeitet, und er hat Familie!«

Zum ersten Male sah Ellen die Niederlassung eines echten Hinterwäldlers, aber nun gerade nicht mitten im Urwalde, sondern in einem lieblichen Obstgarten. Und es müsste auch ein sehr unerfahrener Backwoodsman sein, der sein Heim mitten im Walde aufschlagen wollte; er wäre bei jedem Sturm in Gefahr, von brechenden Bäumen zerschmettert zu werden. Hier gerade standen die Obstbäume sehr weit auseinander, über die Blösse schlängelte sich ein Bach, daran erhob sich eine grosse Blockhütte, zwar nur aus roh behauenen Baumstämmen, aber doch wie mit dem Lineal zusammengefügt, nett und freundlich; als Rauchabzug nicht nur ein Loch im Dache, sondern mit einem ausgehöhlten Baumstumpf als besser ziehendem Schornstein versehen. Daran noch ein Schuppen als Stall und Vorrathskammer. Etwa zwei Acres Land, mit starken und hohen Aesten dicht eingefenzt, waren mit Mais bestellt gewesen. Neben der Hütte ein kleiner, ebenfalls eingefenzter Gemüsegarten. Zwischen den Bäumen weideten in dem hohen Grase zwei Ochsen und eine Kuh mit ihrem sich fröhlich tummelnden Kalbe, auch einige Hühner gackerten. Ein vollgepackter Wagen schien das letzte Inventar des Hausstandes zu enthalten. Dass der Ansiedler auch die Jagd liebte, verriethen die zahlreichen, auf der Erde zum Trocknen ausgepflöckten Häute von Hirschen, Antilopen und anderen Thieren, darunter auch ein Büffelfell.

»Er ist eben so viel Ackerbauer als Jäger,« sagte Starke. »Er baut nicht nur Mais, um die Thiere des Waldes anzulocken, er zäunt sein Feld zum Schutze gegen sie ein. Dabei hat seine Axt dennoch die auf seinem Felde vereinzelt stehenden Obstbäume verschont. Dies Alles gefällt mir an dem Manne. Lassen Sie uns hingehen.«

»Und wenn Colonel Sidney Horst davon erfährt, und er liebt keinen Ansiedler auf seinem Besitz, muss der Mann fort?«

»Natürlich, sofort, mit Gewalt wird er fortgejagt, wenn er sich nicht fügen will, ohne jede Entschädigung.«

Schon viel hatte Starke ihr von diesen Hinterwäldlern erzählt. Der Kampf dieser unrechtmässigen Ansiedler gegen das Gesetz, gegen den rechtmässigen Besitzer, spielt in Jugendschriften eine grosse Rolle, und zum Theil ist dies auch wirklich so, zum Theil ist es auch ganz anders, wenigstens jetzt. Das Gesetz sagt: Wer herrenlosen Boden zuerst besiedelt, der hat auch das erste Recht zum Erwerb desselben. Und die Regierung der Vereinigten Staaten weiss solche Pioniere der Wildniss wohl zu würdigen; sie kommt ihnen in jeder Weise entgegen, und nach dem Gesetz von 1885, nach welchem Niemand mehr als 160 Acres Regierungsland erwerben darf, sind grössere Landspeculationen unmöglich gemacht, und das, was früher engros verkauft und verschenkt worden ist, kommt bei der ungeheuren Ausdehnung des Gebietes gar nicht in Betracht.

Wenn nun etwa ein Vermessungsbeamter solch' einen einsamen Hinterwäldler aufstöbert, so kommt man dem Manne in aller Güte entgegen. 150 Dollars freilich muss er bezahlen, um gesetzmässiger Besitzer von 60 bis 160 Acres, letzteres dürftiges Weideland, zu werden, da hilft ihm Alles nichts; doch er braucht nur 30 Jahre lang jährlich 20 Mark abzuzahlen, und das könnte er ja mit Leichtigkeit, wenn er nur wollte. Dann ist er ganz steuerfrei, und sind mindestens sechs solcher Ansiedler zusammen, so verpflichtet sich die Regierung, eine Post einzurichten, allwöchentlich kommt ein berittener Briefträger zu ihnen, wo es auch sei, die Regierung nimmt sich des neuen Staatsbürgers überhaupt in jeder Weise an. Ja, selbst die feste Forderung des Kaufpreises ist nur ein Schein, um das Recht des Gesetzes zu wahren. Bei der Wahl eines neuen Präsidenten und bei anderen ausserordentlichen Gelegenheiten wird den rückständigen Farmern in der Wildniss gewöhnlich ihre Schuld erlassen. Kann man denn mehr verlangen?

Aber der störrische Hinterwäldler will überhaupt nichts zahlen. Der herrenlose Boden, den ich mit Spaten oder Pflug bearbeite, gehört mir! Dieser Grundsatz ist aus dem dicken Kopfe dieses ganz eigenartigen Menschenschlages, der sich für sich selbst entwickelt hat, nicht so leicht wieder heraus zu bringen.

Wenn er sich freilich auf einem Grund niedergelassen hat, der schon auf einen Besitzer registrirt worden ist, dann kann keine Rücksicht mehr genommen werden. Dann muss er wieder herunter, nur seine bewegliche Habe mitnehmend, und dann kommt es allerdings häufig zum Kugelwechsel; der friedliche Mann wird schliesslich zum Desperado, der lieber Weib und Kind selbst tödtet, ehe er sein vermeintliches Recht aufgiebt. Er könnte sich, ehe er seine Hütte aufschlägt, orientiren, ob dieser Grund und Boden schon einem Anderen gehört oder noch freies Regierungsland ist. Denn der Pedlar weiss auch den einsamsten Hinterwäldler zu finden, ihm gegen Felle Pulver, Blei, Tabak, Salz und Branntwein bringend; alles Land der Vereinigten Staaten ist in Parzellen eingeteilt und nach Katasternummern geordnet, die Karten mit Registerbuch liegen in Washington, jeder Pedlar hat nur einige Parzellen unter sich, der Pedlar ist ein vereidigter Beamter, er muss Alles, wenn nicht auf eigenen Karten, so doch im Kopfe haben, und er kann bei jedem Acre Landes sagen: der ist noch frei und der hat schon seinen Eigenthümer. Aber der Mann der Wildniss will gar nichts davon wissen. Das Land, welches er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang umschreiten kann, gehört ihm, wenn er innerhalb dieses Gebietes, das er genau durchforscht, kein Zeichen findet, dass seit einem Jahre der Boden an irgend einer Stelle bearbeitet worden ist.

In dem Gärtchen arbeitete eine Frau, zwischen zwei Bäumen in einer Hängematte aus einem Fell lag ein kleines Kind. Ein Hund schlug an, die Frau blickte auf, sah die beiden näher kommenden Gestalten, plötzlich hatte sie statt des Spatens ein Gewehr in der Hand; sie stiess einen Schrei aus, doch ehe Ellen noch abwarten konnte, was die Frau mit dem Gewehr anfangen würde, kamen aus den dichter stehenden Bäumen ein Mann und ein halbwüchsiger Junge heraus, beide mit Gewehren bewaffnet, der Mann noch eine Axt tragend.

Nur ein Blick auf die Fremden, und der ganz in Leder gekleidete Hinterwäldler ging ihnen entgegen, ein blondhaariger Mann mittleren Alters mit offenen Zügen, sonst eben ein sonnverbrannter, verwitterter Hinterwäldler. Schon unterwegs streckte er die harte Hand zum herzlichen Grusse aus.

Aber Starke nahm sie nicht. Er war stehen geblieben.

»Mann, was thut Ihr auf meinem Lande? Das ist mein Grund und Boden.«

Ellen erschrak furchtbar. Diese Worte, bei der Begegnung zweier Männer hier mit rauher Stimme als Einleitung gesagt, wirkten wirklich erschreckend, auf eine wilde Katastrophe vorbereitend.

Des Mannes Gesicht verwandelte sich denn auch augenblicklich, der Gewehrkolben stiess dröhnend auf den Boden, finster und drohend blickte er den Anderen an.

»Was sagt Ihr, Fremder?«

»Ist das Euer Blockhaus? Ihr habt es auf meinem Lande gebaut.«

»Und Ihr seid ein blutiger Lügner. Macht, dass Ihr fortkommt, oder, bei Gottes Tod....«

»Um Gottes Willen, Starke!« flehte Ellen, als Jener mit einem Rucke die Büchse im Anschlag unter dem Arme hatte.

Aber Starke beachtete weder Ellen's Angst noch die drohende Waffe, er legte die Hand an den nächsten Apfelbaum, dorthin, wo der Stamm eine stark verdickte Stelle hatte, und plötzlich bemerkte Ellen, dass fast sämmtliche der hier stehenden Obstbäume solche Auswüchse zeigten.

»Was ist das? Seht alle die anderen Obstbäume an, und ich denke doch, Ihr seid nicht blind!«

»Was soll's?« stiess Jener nur noch drohender hervor. »Diese Obstbäume sind von mir gepflanzt und veredelt worden, hier seht Ihr die Ansätze, und überhaupt bin ich der Besitzer dieser ganzen Landschaft in den mauvaises terres im Jahre 1886 unter den Nebraskanummern 114 bis 172 auf meinen Namen registrirt zu Washington; ich habe hier eine Obstplantage angelegt.«

Hoch horchte Ellen auf. Erst jetzt kam es ihr zum Bewusstsein, dass Starke ja immer von »seinem« Besitzthume sprach.

Auf den Ansiedler schien das Wort »Obstplantage« den allergrössten Eindruck zu machen; er schrak dabei zusammen; sein Ausdruck veränderte sich, das Gewehr fiel herab, er blickte den Sprecher unsicher an, blickte hinter sich, nach der Blockhütte.

»So hatte Bessy doch Recht,« murmelte er gedrückt.

Es mochte nicht einer der schlimmsten, der halsstarrigsten Sorte sein, und die Zeiten haben sich auch unterdessen geändert.

»Lasst's gut sein, Mann,« fuhr Starke fort. »Wenn Ihr einseht, dass Ihr hier nicht im Rechte seid, weil Ihr kein Patent erworben habt, so bin ich zufrieden; Ihr gefallt mir, und wenn wir uns einigen können, sollt Ihr hier bleiben.«

Starke, ganz als Herr auftretend, ging auf das Blockhaus zu, machte erst einen Gang herum, blickte in den Schuppen und trat in den Raum. Eine gut gezimmerte Thür verschloss einen zweiten. Das Innere war ganz hübsch möblirt, ein richtiges Bett, ein richtiger Schrank, wenn auch Alles die Axt des Zimmermanns verrieth. Glasfenster und dergleichen Luxus fehlten natürlich. Auch die sehr beklommene Ellen war eingetreten, nach ihr der Mann, ihm folgte die noch jugendlich aussehende Frau, das Kind auf dem Arm, der Junge, dann gesellte sich noch ein fünfzehnjähriges rothwangiges Mädchen dazu. Schweigend und in sichtbarer Angst blickte Alles nach dem fremden Manne. Starke's Figur und ganzes Auftreten mochte bewirken, dass Alles ganz anders ablief, als es sonst wohl der Fall gewesen wäre.

»Was ist das?« fragte er sofort, von der aus dünnen Baumstämmchen zusammengefügten Tischplatte, nach Art der Gartentische, einige blitzende Steinchen nehmend.

»Wir finden's im Bache,« knurrte der Mann.

»Es ist Gold.«

»Die Kinder spielen damit.«

»Gut. Dann werden wir uns schnell einigen. Wie heisst Ihr?«

»Richard Peacook.«

Es war noch ein Junge von sechs Jahren da; schon vor zwei Jahren hatte er sich hier niedergelassen — das vorige Mal war die Ansiedelung dem Durchreisenden entgangen — er wusste, dass diese Oase in der mauvaises terres gegen 60 Quadratmeilen umfasse, wenn er auch nach ganz anderen Maassen rechnete, er kannte das ganze Land schon wie seine eigene Tasche, der Name »Peacook's Busch« war in der Familie schon gang und gäbe, kein anderer Mensch halte sich darin auf, und nun rückte Starke mit seinem Vorschlage heraus: Peacook erhielt dieses ganze Land als leasehold, d. h. als Pacht für 99 Jahre, er und seine Kinder und Kindeskinder durften darauf wirtschaften, wie sie wollten, soweit es Ackerbau und Viehzucht anbetraf, frei von Pachtzins, gegen die Bedingung, dass sie die Obstbäume pflegten, und vor allen Dingen fremden Ansiedlern das Niederlassen wehrten, wenn diese keine Erlaubniss von dem Besitzer selbst hatten. Also eine Art von Inspector.

Es dauerte ja einige Zeit, ehe der einfache Mann die Vortheile einer leasehold begriff — in England und Canada ein sehr gebräuchliches Verhältniss — aber Starke wusste es ihm klar zu machen, wie der Mensch, selbst der vorsichtige Familienvater gar nicht mit einer Zeitdauer von hundert Jahren rechnen könne — man sehe nur um sich und berechne selbst, nach der Statistik wechselt das Capital sogar alle 25 Jahre seinen Besitzer — dann leuchteten die Augen des Mannes und der ganzen Familie freudig auf, selbst das Kind hörte auf zu schreien, jetzt wurden die Hände geschüttelt und doch waren kaum zehn Minuten von da an vergangen, als sich die beiden Männer so feindlich gegenüber gestanden hatten.

Starke war nicht grob mit der Thür in's Haus gefallen, so musste solch' ein Hinterwäldler eben behandelt werden, um schnellstens mit ihm zum Ziele zu kommen.

»Von der nächsten Poststation aus werde ich die Sache in Washington auf der Registeroffice regeln lassen, und sonst ist sie schon unter uns abgemacht; hier meine Hand darauf, mein Name ist Sidney Horst, Colonel im Dienste der Vereinigten Staaten.«

»Ihr seid der bravste Mensch, den ich je gesehen habe.«

»Und ich habe Sie solch' einer Verstellung gar nicht für fähig gehalten,« sagte Ellen, bei der sich das Staunen endlich Luft machte. »Colonel Sidney Horst in eigener Person!! Auf den Indianerbüchern in den Schaufenstern sehen Sie aber ganz anders aus. Ich habe sogar welche gelesen.«

»Es ist mein Militärname, den ich annahm, als ich in die Grenztruppen eintrat,« war die gleichmütige Erklärung. »Sie haben wohl von dem Indianerkriege gehört, der vor 15 Jahren unten an den Grenzen des Indianergebietes ausbrach. Ich avanvirte schnell, war in ein paar Wochen Führer des Ganzen, wurde Colonel genannte. Der Krieg war beendet. Es haperte damals bei der Regierung sehr an Geld. Ich kannte hier schon diese Oase, hatte sie so ziemlich ausgemessen, erbat mir im dürren Nebraska die Kataster-Nummern 114 — 172 als Sold. Mit Freuden wurde es mir bewilligt. So kam ich in Besitz des fetten Landes, von dessen Vorhandensein damals noch kein Beamter eine Ahnung hatte. Ich wusste schon mehr davon. Gleich darauf kam die Landlaw heraus, dann wäre es zu spät gewesen. — Hören Sie den Wind in den Blättern rauschen ? Das ist der Vorbote des Sturmes. Da fallen schon schwere Tropfen. Ich hole die Räder.«

Er ging, auch der Mann entfernte sich, um das Vieh in Sicherheit zu bringen, die Frau entfachte das Feuer auf dem Heerd und hing den Kessel mit dem schon geschmorten Hirschrücken zum Wärmen darüber; schon jetzt erfuhr Ellen durch Fragen Alles, was bei solch einer Hinterwäldlerfamilie ihr neu und interessant sein konnte.

Eltern und vielleicht auch Grosseltern waren Farmer und Jäger in Wald und Prairie gewesen, Alles wieder in Stich lassend, sobald sie einen Nachbar bekamen, der ihnen zu nahe sass; oder auch aus einem anderen Grunde, der sich nicht definiren lässt. Der Zigeuner wechselt am liebsten jeden Tag sein Lager, der echte Hinterwäldler hält es eben nur einige Jahre auf demselben Boden aus. Sobald Alles fertig ist, ihm nichts mehr zur Bequemlichkeit fehlt, dann muss er wieder fort, muss von Neuem aus Nichts etwas entstehen lassen. Ja, es liegt dem doch ein tiefes Motiv zu Grunde.

Die Kinder der Nachbarn heirathen und zerstreuen sich. Wo die anderen Mitglieder der elterlichen Familie waren, wussten sie nicht. Was sie brauchten, fertigten sie sich selbst. Einen Hobel kannten sie nicht; nur Axt, Messer und Säge, die Bretter des Schrankes dort waren aus dünnen Baumstämmen mit dem Messer gespalten, und dennoch liess dieser Schrank nichts zu wünschen übrig, die Thür, an Lederbändern hängend, schloss ohne die geringste Fuge, es war ein Wunder von Handfertigkeit. Die Frau zeigte einen hölzernen Kamm, eine Flasche und andere hölzerne Gegenstände; Ellen mochte es kaum glauben, dass sie mit der groben Baumsäge und dem starken Messer hergestellt worden seien. So macht aber auch der Wilde in nur fünf Minuten einen Pfeil, von dem wir im Museum glauben, er arbeite daran wochenlang, und wie er den Stahl oder gar den Stein in dem Einschnitt mit einer Sehne befestigt, nur mit der Hand, dass man den Pfeil tief in festes Holz schiessen kann, ohne dass sich die Spitze im mindesten lockert, das macht ihm kein europäischer Handwerker mit all seinen Hülfsmitteln nach. In London hat der »Traveler-Club« hierüber sehr interessante Versuche angestellt.

Sie konnten schreiben, lesen und etwas rechnen und lehrten es den Kindern; das einzige Buch war die Bibel. Sonst war es mit ihren Kenntnissen natürlich sehr armselig bestellt. Im Himmel sass Gott und drehte die Sonne, und im fernen Osten war noch ein Land, welches England hiess und von dem Europa die grösste Stadt war. Von einem Meere, welches nicht zu überblicken sei, weil es doch eben sein müsse, konnten sie sich keine Vorstellung machen.

Starke, schon ganz durchnässt, brachte die Räder, und ihr Staunen war gross. Ein scalptragender Indianer konnte darauf schon fahren, diese Blassgesichter hatten noch nicht einmal davon gehört, und als Ellen einmal die paar Schritte durch die Stube fuhr, begannen sie sich sogar zu fürchten. — Die frugale Mahlzeit war vorüber. Die Familie beschäftigte sich mit Handarbeiten, den Gästen und Pachtherren den Ehrenplatz am Heerd überlassend. Ein helles Feuer war nöthig, es wurde Nacht, der Sturm tobte, den klatschenden Regen bis mitten in die Kammer wehend, bis die offenen Fenster mit Fellen verhangen wurden, und dann wurde es gemüthlich.

Ellen lauschte und träumte, den Blick auf den wie ein schweigsamer Indianer rauchenden Gefährten gerichtet.

»Es wird bald nachlassen, wir können heute doch noch weiter,« sagte er, endlich das halbstündige Schweigen brechend.

Ellen schrak aus ihren Träumen empor.

»Weiter? — Monsieur Starke,« fuhr sie auf französisch fort, weil es ihr gewesen war, als hätte sie von der Frau einige halbdeutsche Worte gehört; »Sie sind ein reicher Mann. Warum lassen Sie Ihre Macht unbenutzt liegen?«

»Sie meinen das Gold, welches dieses Land birgt und welches mir gehört. Ich habe über Gold meine eigenen Ansichten. Es hat, wenn es in Masse gefunden worden ist, einem Staate grössere Heere und mehr Kriegsschiffe gegeben, es hat, wenn es wirklich einmal in gute Hände gekommen ist, wohl auch Wittwen- und Waisenhäuser, Bibliotheken und Freischulen entstehen lassen, den Centner Brod hat es noch nie einen Cent billiger gemacht — — — — aber theuerer!! Nein. Das Gold als Tauschwerth aus der Erde zu graben halte ich für Sünde, Erze, Kohlen, selbst Diamanten als Schmuck, das ist etwas anderes. Ich will mich nicht weiter hierüber verbreiten. Kurz, ich bin nicht gewillt, dieses Gold hier zu heben. Als ich vor vierzehn Jahren mein Eigenthum besichtigte, steckte ich mehrere Scheffel Obstkerne aus, einige Jahre später veredelte ich die Bäumchen, und während dieser Arbeit träumte ich einen schönen Traum.«

Das kleine Kind schrie schon seit längerer Zeit, und die Eltern mochten das Erziehungsprinzip haben, es ausschreien zu lassen, das stärkt die Lunge und gewöhnt den Eigensinn ab, Starke stand auf und ging an die schwebende Wiege, welche auch hier von Wand zu Wand ausgespannt worden war, wechselte mit der Mutter einige freundliche Worte, er liebe Kinder, aber nur, wenn sie nicht schrieen; er nahm das mit einem groben Hemdchen bekleidete Mädchen aus der Hängematte, es wurde augenblicklich still auf seinem Arm, und er begab sich an den Feuerplatz zurück.

Der hünenhafte, eiserne, broncefarbene Mann, die Pfeife im Munde, auf seinen Knieen das zarte, lallende Kind, wie es mit den Händchen an seinen Knöpfen spielte, wie seine muskulöse Hand es liebkoste — es war ein seltsames Bild, vom rothen Feuerschein übergossen, besonders für den, welcher diesen Mann näher kannte. Aber Ellen fand dieses Bild gar nicht komisch, eine ganz eigentümliche Empfindung beschlich sie, es stieg ihr plötzlich so heiss zum Herzen, bis in die Augen.

»Was träumten Sie für einen schönen Traum?« fragte sie leise.

Wie sollte man die Zeit verkürzen? Starke erzählte. Es war fast ganz dasselbe, was er schon geschildert hatte, das Entstehen einer glücklichen Colonie, unabhängig von aller Welt, sich selbst genügend, nur der Anfang war ein anderer; er selbst begann als der erste Ansiedler, als eine Art von Robinson; mit Axt und Messer zimmerte er sich das erste Obdach; den Spaten, mit dem er das kleine Feld bestellte, schmiedete er sich selbst; er hatte hier auch Erz gefunden und wusste das Eisen daraus zu gewinnen; das Kommen von anderen Ansiedlern überliess er der Vorsehung, er konnte warten und sie würden schon kommen; er wies aber auch ab, er wählte sich seine Leute aus, denn er blieb der Besitzer des Grund und Bodens, ein souveräner Fürst der Colonie.

Und er malte weiter aus, und er verstand zu malen. Ganz besonders, mit wahrer Liebe, hielt er sich bei den ersten eigenen Anfängen auf, bei seiner Hütte und ihrer Einrichtung, und dabei schaukelte er das Kind auf seinen Knieen.

»Ich möchte fast glauben, Sie hätten diese Hütte hier schon einmal erbaut,« sagte Ellen.

»Gewiss. Habe ich mich so undeutlich ausgedrückt? Die Hütte war fertig, ein nettes Häuschen, auch der Spaten, ich grab schon den Garten um — und ich war ein glücklicher Mann. Von alledem ist jetzt nichteine Spur mehr zu sehen; der Blitz traf mein Glück, das Häuschen äscherte ein, Samen flog an; jetzt steht eine Trauerweide auf dem mit meinem Glück gedüngten Boden am Bachesrand. Es ist ja schon dreizehn Jahre her.«

Das Unwetter tobte. Der Mann hatte das Blockhaus verlassen, die Frau sich mit den anderen Kindern in den zweiten Raum begeben. Sie waren allein. Die tiefste Stille herrschte. Nur der Sturm rüttelte an den Balken.

Er hatte mit ruhiger, tiefer Stimme, gleichmüthig wie immer, von seinem vom Blitzstrahl eingeäscherten Glücke erzählt; keine Wimper zuckte an ihm; er war nicht schwermüthig, nicht heiter, er liebkoste das Kind. War es bildlich gemeint gewesen oder war es Wirklichkeit? Ellen hatte noch etwas Anderes gehört.

»Es ist ja schon dreizehn Jahre her,« wiederholte sie langsam seine letzten Worte. »Ich entsinne mich — damals waren Sie verheirathet gewesen.«

Er neigte bejahend das Haupt.

»Und sie war hier bei Ihnen?«

»Ja. Ich lernte sie in einer von Italienern nach commuinistischen Principien gegründeten Colonie kennen. Als ich kam, war Alles schon total zerrüttet. Ihr Bruder, ein Genueser Advokat, war der Gründer und Leiter, hatte sein Vermögen und sich selbst einem Hirngespinst geopfert ......«

»Erzählen Sie mir von ihr, nicht von der italienischen Colonie.«

»In mir entstanden die ersten Ideen, und sie verstand mich und verbesserte meine Ideen; sie war ein geistvolles Weib und sie liebte mich; sie folgte mir hierher, und sie war das Weib, an meiner Seite den gefassten Entschluss für's ganze Leben durchzuführen, wir arbeiteten nebeneinander und waren glücklich dabei. Ja, wir beide hatten das wahre Glück gefunden; im Religionsbuche der arbeitsscheuen Juden wird es der Fluch der Menschheit genannt, deshalb schachern sie lieber. Eines Abends reinigte ich das Gewehr, ich wusste nicht, dass es geladen war, sie selbst hatte es gethan, der Schuss ging los und traf sie tödtlich. Am nächsten Tage schlug der Blitz in das Blockhaus. Da bin ich in's Wandern gekommen.«

Die Zuhörerin konnte nicht mehr erschüttert werden, sie wusste es ja bereits, und er sprach zu theilnahmlos. Mochte ihm auch das tragische Ereigniss das Lächeln geraubt haben, einem Kummer hing er nicht mehr nach.

Sie waren allein in dem kleinen Raum, nur noch dämmernd erleuchtet von der rothen Gluth, und draussen tobte der Sturm.

»Curt, würdest Du Dir noch einmal hier eine Hütte bauen? Mit mir zusammen ?«

Die Liebeserklärung war ausgesprochen. Sie erschrak nicht, noch weniger verrieth er eine Bewegung, und er gab eine Antwort, ganz seinem bisher gezeigten Charakter entsprechend.

»Nein, Miss Howard. Es ist zu spät für mich. Ich kann nicht mehr. Rastlos muss ich wandern, wandern, immer wandern ........«

Er sprach weiter, fast dieselben Worte, welche er einst zu Sir Munro gesagt. Er hatte den Fluch des ewigen Juden in einen Segen zu verwandeln gewusst, er war glücklich dabei.

Ruhig hatte Ellen ihm zugehört, bis er schwieg.

»So lass' mich mit Dir wandern, Curt,« sagte sie einfach, und doch lag eine hehre Feierlichkeit darin.

»Miss Howard, täuschen Sie sich nicht,« entgegnete er unerschütterlich. »Sie haben mich einmal erröthen sehen, ich habe Sie einmal länger in den Armen getragen, als es nöthig war. Ja, ich liebe Sie. Aber täuschen Sie sich nicht. Ich liebe Sie wie die Sonne, wie meinen Hund, wie die ganze Welt, wenn sie mir nicht feindlich ist. Ich liebe Sie mehr als jeden anderen Menschen. Aber täuschen Sie sich nicht. Sie haben es mir angethan, schwer wird es mir werden, von Ihnen zu gehen; doch ich werde dereinst von Ihnen gehen, und Sie werden mir nichts anmerken. Ich habe entsagt, und ich bleibe stark. Nein, ich liebe Sie nicht — als Weib.«

»Lassen Sie mich mit Ihnen wandern,« wiederholte sie, im Deutschen nur die Anrede wechselnd.

»Warum?«

»Weil ich nicht mehr ohne Sie sein kann, weil ich Sie liebe — als Freundin. Ich will ja nur Ihr treuer, guter Kamerad sein.«

Blitzte es nicht in seinen Augen freudig auf? Ja, das war echte Herzlichkeit, mit der er ihr schnell die Hand entgegenstreckte.

»Ja, treue Kameradschaft, das ist etwas Anderes! Und ich glaube, ich weiss, dass Sie ein guter, starker Freund sein können, zuverlässig in Noth und Tod. Dann bin ich auch der Ihre.«

Ehe die Farmer wiederkamen, war der neue Pact geschlossen. Der Sturm hatte nachgelassen, auch in Ellen's Brust. Als Freunde setzten sie im Abendsonnenscheine ihre Fahrt fort.

Ist denn die Liebe es wirklich werth, dass sie so göttlich verehrt wird und dass Dichter ihr das beste Können opfern? Diese Liebe ist doch nur ein mehr oder weniger veredelter Naturtrieb, der Venus Vulgivaga geheiligt, ist stets egoistisch, und ihre Jungen liebt die Wölfin auch. Wahrhaft göttlich aber, ein herrlich strahlender Stern am dunklen Himmel des Lebens ist die treue Freundschaft.



21. Capitel.

Belagert.

»Eine Stadt!« rief Ellen, und nach einigen Augenblicken Betrachtung gerieth sie förmlich ausser sich. »Starke, Starke, erklären Sie mir das Räthsel — was ist das hier mitten in der Wüste für eine ungeheure Stadt?!«

Eine Wüste war die Gegend zu nennen gewesen, durch welche sie seit zwei Tagen gefahren, Ellen hatte darin noch einmal die Qualen des Durstes kennen gelernt; ohne ihren Führer, welcher Wasser zu finden verstand, würden ihre Gebeine bald in der Sonne gebleicht haben, wie sie solche menschliche Gebeine nebst denen von Pferden und Rindern hier oft genug gesehen hatte. Dann war die Wüste felsig geworden, es wurde ein ganzes Felsengebirge daraus, oft mussten die Räder geschoben und bei Klettertouren über Pässe auch getragen werden, jetzt stand Ellen am Rande eines sich jäh hinabsenkenden Thales, und unter ihr im Scheine der Morgensonne breitete sich eine riesige Stadt aus, unübersehbar, mit stattlichen Häusern, mit ungeheuren Palästen, Kirchen und himmelanstrebenden Domen, dazwischen auch mit zahlreichen kleinen, schlanken Pfeilern und anderen Denkmälern, Alles von hier oben deutlich erkennbar, so weit es sich nicht in der Ferne verlor.

Starke schien sich heimlich an Ellen's grenzenloser Ueberraschung zu weiden, wenigstens hatte er seinen Blick nur immer auf sie gerichtet, nicht auf die zu seinen Füssen liegende Stadt.

»Nun, was ist das?«

»Das ist — das ist — es erinnert an eine maurische Stadt — nein, an das classische Alterthum. Diese zahllosen Statuen! Aber das Leben fehlt. Es sind auch keine Ruinen, Alles steht ja noch. Starke, so sprechen Sie doch nur; was ist das in Nordamerika für eine ausgestorbene, ungeheure Stadt, von deren Vorhandensein ich noch gar nichts gehört habe?!«

»Auch nichts von Petracita?«

Nein, auch davon nichts, und eilends zog Ellen eine auf Leinewand geklebte Karte hervor, auf der sie sich nur allein zurecht finden konnte, weil sie Starke's Weg, den sie nehmen wollte, aus vielen Karten herausgeschnitten und zusammengestellt hatte, ohne ein endloses Band zu haben, sondern ein handliches Format. Auch diese Gegend war noch darauf, der Maassstab ein sehr grosser, aber dennoch nur ein leerer Raum hier angegeben — Desert, Wüste. Generalstabskarten von ganz Nordamerika giebt es freilich noch nicht, aber solch eine Stadt hätte doch darauf sein müssen, wenn sie auch verlassen war.

»Lassen Sie uns hinabsteigen. Vielleicht finden Sie die Erkenntniss selbst, ehe Sie noch die Strassen betreten.«

»Und Sie haben noch nie davon gesprochen?«

»Um Ihnen eine Ueberraschung zu bereiten. Deshalb verliess ich auch die besser fahrbare Landstrasse, um Ihnen dies hier zu zeigen.«

Sie hingen die Räder über die Schulter und begannen den schroffen Abstieg, der unter Starke's Führung keine besondere Gefahr bot. Etwa 60 Meter tief hatten sie hinab zu klettern, ehe sie die Thalsohle erreichten. Aber schon in der Hälfte dieses Weges hatte Ellen andere Entdeckungen gemacht, besonders weil sie nun einem Gebäude näher gekommen war, welches sie für eine höher gelegene Villa gehalten hatte, und sie blieb auf einem kleinen Plateau stehen.

»Hm,« murmelte sie nachdenkend, »alle diese Häuser da unten haben ja recht seltsame oder gar keine Fenster? Und mit den Thüren ist es auch recht mangelhaft bestellt. Nur dort die Kathedrale von Westminster scheint ein regelrechtes Thor zu besitzen, aber sonst — — — Starke, ist es möglich, dass die Natur so etwas schaffen kann? Oder haben da Menschenhände, nachgeholfen?«

»Es ist ein reines Naturgebilde. Dieses Thal, gegen 60 englische Meilen breit und 180 lang, nicht weit vom Fort Lamarie endend, ist fast ganz mit solchen bizarren und dennoch systematischen Felsmassen ausgefüllt. Der Franzose, der es zuerst entdeckte, nannte es Petracita, die Steinstadt. Wenn diese Gegend erst durch eine Eisenbahn aufgeschlossen ist, wird Petracita ein beliebtes Reiseziel von Cook und Sohns Kunden werden, jetzt ist noch nicht daran zu denken, und seitdem die Entstehung dieses Naturwunders endgültig erklärt worden ist, hat es auch für den Forschungs-Reisenden das Interesse verloren. So ist Petracita so ziemlich wieder vergessen worden. Hier floss einst ein mächtiger Strom, jedenfalls mit salzigem Wasser, vielleicht auch war es ein Meeresarm mit Brandung, Ebbe und Fluth. Wenn eine Felsmasse aus verschiedenen Gesteinsarten von verschiedener Löslichkeit schichtenweise zusammengesetzt ist, so nimmt das Wasser natürlich zuerst das am leichtesten Lösliche mit fort, zuletzt bleibt das ganz Unlösliche stehen. So sind diese Häuser, Kirchen, Statuen, Brücken und Bogengänge entstanden, allerdings noch wunderbar genug. Hier kann man die schaffende Natur anbeten.«

Ja auch Ellen's ehrfürchtiges Staunen wuchs nur durch diese Erklärung.

Sie befanden sich, zwischen den Häusern, in den wie asphaltirten Strassen hätten sie wieder das Rad besteigen können. Nun freilich wich die Illusion von richtigen Wohnhäusern, es waren viereckige, runde und sich in mancherlei Gestalten gefallende Felsmassen, aber eigentlich wurde die Ueberraschung nur noch grösser.

Ellen sah eine Thür, trat mit etwas Zagen ein, kam in eine Halle, fand abzweigende Kammern und Säle, mit einiger turnerischer Hebung konnte man eine Treppe erklimmen, sie gelangte in die zweite Etage und vielleicht gab es noch einen Weg in andere Etagen. So hatte das Wasser gearbeitet, wenn auch nicht direct für Menschen. Aber ein phantasievoller Baumeister war es, das wäre etwas für Kinder gewesen. Auf dem sehr schrägen Boden eines Salons konnte man von oben bis nach unten rutschen, dort die Wand hinaufkriechen und kam durch eine Oeffnung in ein finsteres Loch.

Wenn Starke nicht gesagt hätte, er kenne die seltsamsten Formationen und würde sie ihr immer zeigen, Ellen wäre am liebsten den ganzen Tag berumgekrochen. Da konnte man wirklich wieder zum Kinde werden.

Fehlte es nicht an Wasser und wäre der salzhaltige Boden nicht vollständig unfruchtbar, diese natürliche Stadt wäre schon längst bevölkert. Vielleicht kommt doch noch einmal die Zeit.

Der Boden war nicht nur salzhaltig, sondern bestand, wenigstens hier, ganz aus einer Steinsalzkruste, glatt wie ein Tisch, da liess es sich gut drauf fahren. Aber eine fürchterliche Hitze strahlte er aus, schon jetzt in der neunten Stunde, und nachdem Ellen noch einige Sehenswürdigkeiten von aussen und innen besichtigt hatte, wünschte sie, statt der steinernen Naturwunder ständen lieber einfache Bäume da, nur mit dichtem Laubwerk, unter dessen Schatten sie radeln könnte. Es war doch sehr öde hier. Kein Grashalm, kein Kaninchen, kein Vogel, sogar die Insecten schienen zu fehlen — hier wohnte der Tod.

Durch diese Leere fuhren sie nun schon seit drei Stunden.

»Sir Munro nimmt denselben Weg, um uns vom Fort Lamarie aus durch die grosse Salzwüste mit genügendem Wasservorrath zu begleiten?«

»Denselben Weg, ich folge seinen Spuren, welche hier deutlich zu erkennen sind.«

»Starke, ich muss Ihnen gestehen, dass mir Sir Munro mit einem vollen Wasserschlauche jetzt recht angenehm wäre. Unsere Flaschen sind schon seit heute Nacht leer; Sie Gourmand haben mit dem letzten Wasser leichtsinniger Weise noch Thee gemacht und mir klebt die Zunge am Gaumen.«

»Es ist auch sieben Minuten vor elf Uhr und als Ihr Führer bin ich verpflichtet, Ihnen also in sieben Minuten Wasser .....«

Plötzlich bremste Starke mit aller Gewalt und sprang ab, etwas am Boden schien seine Aufmerksamkeit gefesselt zu haben, er kniete sogar nieder. Endlich benahm er sich einmal wirklich wie ein Fährtensucher.

Ehe Ellen vom Rade herunter sein konnte, war sie schon einige Meter weitergefahren, sie kehrte zurück, Starke hatte sich wieder erhoben.

»Kein englisches Wort. Wir sprechen deutsch. Hier ist der Abdruck eines Fusses, ohne dass ein Reiter abgestiegen ist. Lassen Sie sich diese Erklärung genügen.« Und dann setzte er mit derselben lauten Stimme auf Englisch hinzu: »Ich habe mich doch geirrt, es ist keine fremde Fährte, sonst würde der Hund sich anders benehmen und er zeigt nichts an.«

Der Hund! Ellen wusste natürlich nicht, was sie von alledem denken sollte, aber das schoss ihr blitzartig durch den Kopf, dass diesmal Starke etwas eher erkannt hatte als Hassan; hinter ihrem Rücken musste noch etwas vor sich gegangen sein, Starke verstellte sich und forderte sie zur Verstellung auf und Hassan benahm sich so seltsam, er stand ganz theilnahmlos mit gesenktem Kopfe da, zitterte aber dabei leise an allen Gliedern.

Sonst konnte Ellen weder etwas von Menschen- noch Pferdespuren erkennen und sie wusste instinctiv, dass sie jetzt keine Erklärung fordern durfte, sie verstellte sich mit.

»Mein Gott, was haben Sie mir für einen Schreck eingejagt,« lachte sie, während sich ihr Herz dennoch in ängstlicher Beklemmung zusammenschnürte.

»Die ganz frische Fährte eines Indianers, wir könnten beobachtet werden,« flüsterte Starke, als er wieder sein Rad bestieg.

Die Fahrt wurde fortgesetzt, Hassan immer einige Schritte voraus, Ellen bemerkte an ihm immer noch das seltsame Zittern, so theilnahmlos er auch trabte, und, die Erregung unterdrückend, wurde auch sie davon befallen, glaubte sie doch überall feindliche Indianeraugen auf sich gerichtet, hinter jedem Felsblock eine Scalplocke auftauchen und wieder verschwinden zu sehen. Jetzt wurde die stille Todtenstadt noch unheimlicher.

Die sieben Minuten waren bald vergangen. Hier also wollte Starke Wasser verschaffen. Trotz ihrer Aufregung wurde Ellen's Blick von einer langgestreckten und sehr hohen Felsenmasse gefesselt, durch ihre vierkantigen Umrisse erst recht einem Hause gleichend, dazu einige grosse Thüren, freilich rund, sogar sehr viele Fenster.

»Ja ja,« seufzte da Starke, so dass ihn Ellen von allem Anfange an erstaunt ansah, seufzen hatte sie ihn noch nie hören, »ja ja, das ist die sogenannte Cisterne. Fahren Sie etwas langsamer, behalten Sie die Pedale in Ihrer Gewalt. Sehen Sie das zweite Thor, das kleinere zwischen den beiden grossen. Dort springen Sie schnell ab und ebenso schnell hinein mit dem Rade. Verstanden?«

Ellen's Erregung wuchs durch solch' dunkle Worte zur fieberhaften Spannung. Aber verstanden hatte sie, und sie befolgte die Weisung, that, als wollte sie an der bezeichneten Oeffnung vorbeifahren, sprang ab, hatte mit einem Schritte ihre Maschine in's Innere des Ganges gehoben, sofort war Starke ebenso neben ihr, sie nur noch etwas gegen die Wand drängend.

»Haben Sie keine Furcht, ich könnte mich auch sehr irren. Doch Vorsicht ist immer gut. Sie haben ja auch gar keine Furcht, sonst hätten Sie das jetzt nicht so gut gemacht. Was sagt Hassan? Alles ruhig, die Festung ist unbesetzt. Gehen Sie voran, halten Sie sich nur etwas an der Wand.«

Den Rath befolgend, passirte Ellen einige Seitenthüren und gelangte nach etwa dreissig Schritten an eine Treppe, welche, so ungleichmässig die Stufen auch waren, doch von Menschenhänden gemeisselt worden waren. So planmässig und plump zugleich arbeitet die Natur nicht.

Starke sprach zu Hassan, dieser blieb zurück, er übernahm die Führung. Die Treppe führte, nach Hausmaass gemessen, in mehreren Absätzen und Windungen mindestens drei Etagen hoch, bis auf eine kurze ganz dunkle Stelle, bei welcher Starke Ellen's Hand nahm, immer gut erleuchtet.

Dann sah sich Ellen in einem weiten, mit vielen Fenstern versehenen Saal, in der Mitte der Decke befand sich eine grosse Oeffnung, durch welche jetzt die Sonne hereinschien und gerade darunter im Boden des Saales gähnte ein finsteres Loch.

»Das ist die sogenannte Cisterne,« sagte Starke, schon die Lederflasche an das Lasso knüpfend, »überhaupt eine richtige Cisterne. Das Plateau dieses ausgehöhlten Felsens neigt sich überall nach der Mitte — wir werden dann hinaufsteigen — alles Regenwasser fliesst durch diese Oeffnung und strömt offen hier hinab, sammelt sich das ganze Jahr über, bleibt süss und ist vor jeder Verdunstung geschützt. Es fällt hier zwar nur ein halber Meter Regen im Jahre, aber die Fläche des Plateaus beträgt über 1000 Meter, das sind 500 Kubikmeter Wasser, und die könnten jahraus jahrein den Durst vieler grossen Karawanen löschen. Hier hat die Hand des Menschen offenbar nachgeholfen, aber wessen, das ist unbekannt. Trinken Sie, das Wasser ist gut.«

Er hatte erst etwas aus der Flasche in die hohle Hand gegossen und vorsichtig gekostet, ehe er ihr sie mit der letzten Aufforderung reichte.

Ellen leerte die grosse Flasche, nur mehrmals absetzen müssend, weil das Wasser äusserst kalt war.

»Dachten Sie vielleicht an Gift?« fragte sie erst nachträglich.

»Nur gewohnheitsmässig. Wenn man einen Prairieräuber Stronghand vor sich weiss, muss man auf der Hut sein. Doch war meine Vorsicht übertrieben. Die Cisterne ist voll und 500 Kubikmeter Wasser sind nicht so leicht zu vergiften, Blausäure und ähnliche energische Gifte sind hier auch ganz unbekannt, hier wird nur mit giftigen Pflanzen operirt.«

»Wenn aber nun das Wasser nicht verbraucht wird und der Regen fliesst immer nach, wo geht es dann hin?« war Ellen's nächste Frage.

»Hier erfolgt keine Ueberschwemmung, dann fliesst es durch einen Seitenschacht nach draussen ab.«

»Nun sagen Sie mir, Starke, was soll Ihr Verhalten bedeuten!«

»Ich bin nur vorsichtig gewesen, ohne selbst eine Gefahr erkannt zu haben. Ein Indianer hat die Spuren der uns drei Stunden voraus sein mögenden Reiter untersucht, das stimmt, und ich weiss nicht, was eine Rothhaut in diesem todten Thale zu thun hat. Wir aber müssen mit Mr. Jenkins und mit — offen herausgesagt: mit Lady Barrilon rechnen. Dieses Thal mit seinen zahllosen Verstecken ist zwar wie dazu geschaffen, Jemanden aus dem Hinterhalte niederzuknallen, aber gelingen würde das nicht, Hassan wittert jeden Menschen auf Büchsenschussweite, und das dürfte jenes Halbblut wissen. Wenn es jedoch zu einem Kampfe käme, müssten wir uns irgendwo verschanzen. Wo dies auch wäre, sobald es mehrere Gegner sind, würden sie uns regelrecht belagern; und nirgendswo ist Wasser, schon morgen müssten wir uns ergeben. Nur hier ist eine Cisterne, und zugleich ist dieser hohle Felsen eine uneinnehmbare Festung. Alle Gänge führen in einen einzigen; in diesem wacht Hassan, wollte man die Treppe stürmen, würden wir in aller Sicherheit mit jedem Schusse einen Mann wegschiessen, eben so sicher sind wir oben auf der Terrasse, einen höheren Felsen in der Nähe giebt es nicht, Kanonen zum Auffahren haben die Rothhäute noch nicht. Nichts könnte den Gegnern unliebsamer sein, als wenn wir uns gerade hier verschanzten, und gesetzt den Fall, wir werden wirklich bereits von Feinden beobachtet, und sie ahnten, dass wir schon etwas wüssten, so hätten sie uns sofort den Weg nach hier verlegt, und eben deswegen dürften wir sie nichts ahnen lassen.«

So complicirt diese Auseinandersetzung auch war, Ellen begriff sie. Sie trank noch einmal, auch Starke trank, dann erstiegen sie, Räder und die abgeschnallten Tornister zurücklassend, auf einer zweiten Treppe die Plattform des Felsens.

Sie war so beschaffen, wie Starke geschildert hatte, und ausserdem hatte die Natur noch eine Ballustrade darum gezogen, wenn auch in bizarrster Laune. Es war sehr wohl möglich, dass die unbekannten Ureinwohner diese natürliche Festung auch als solche benutzt hatten, innen hatten sie nachgeholfen, aber nicht aussen, um den Feind nicht auf das Fort aufmerksam zu machen.

Alles still, Alles todt. Aber gerade das wirkte so unheimlich, Ellen's Phantasie beschäftigte sich nun einmal mit einer drohenden Gefahr, überall glaubte sie ganz deutlich rothbemalte Gesichter auftauchen und blitzschnell wieder verschwinden zu sehen.

«Da — da — Starke — haben Sie ihn gesehen?« flüsterte sie. »Es war der Kopf eines Indianers.«

»Nein, sicher nicht, das spiegelt Ihnen jetzt nur Ihre Einbildung vor. Ich kenne das. Ein Indianer würde sich auch nicht solch' eine Blösse geben, dass Sie ihn sehen können. Ich glaube selbst nicht daran, dass ein directer Feind in der Nähe ist, möchte aber doch einmal recognosciren. Wollen Sie allein bleiben? In spätestens einer Viertelstunde bin ich zurück, Hassan hält Wache, schlägt er an, bin ich sofort zur Stelle, entfernen thue ich mich nicht, Sie haben nicht das Geringste zu fürchten.«

Mit mehr Courage, als ihr zu Muthe war, versicherte Ellen, dass sie sich auch nicht im geringsten fürchte, allein zu bleiben, und Starke ging, nachdem er ihr auch einige Instructionen gegeben hatte.

Mit klopfendem Herzen blickte Ellen um sich. Diese Todesstille wirkte erdrückend, und der weisse Stein reflectirte die Sonnenstrahlen mit furchtbarer Gluth. Sie brauchte nicht hier oben zu bleiben, konnte sich hinbegeben, wohin sie wollte, nur an Hassan möchte sie nicht vorbeigehen und dann doch lieber sich nicht zu nahe an der Balustrade aufhalten. So hatte Starke gesagt.

Ehe sie sich hinab in den grossen Saal begab, wo es kühler sein musste, that sie es doch, blickte einmal über die Balustrade, wohl vier Etagen tief, und in diesem Augenblick sah sie Starke, bei solch' einer Höhe natürlich sehr klein, wie eine gelbe Schlange auf dem Boden von Stein zu Stein kriechen und schliesslich hinter einem solchen verschwinden. Jetzt also zeigte er sich einmal als echter Lederstrumpf.

Aber sie sollte sich ja nicht an der Balustrade sehen lassen, so zog sie sich wieder zurück und ging die Treppe hinab. Hier war es kühl, doch Ruhe fand sie nicht, wenn sie auch unbeweglich in das schwarze Wasserloch starrte. Sie gewöhnte sich an die Dunkelheit und erkannte die Wasserfläche.

Die Cisterne war also noch durch einen anderen Schacht mit der Aussenwelt verbunden und wenn jetzt nun plötzlich aus dem Wasser ein Indianerkopf .......

Lange hielt sie es nicht aus, sie begab sich ganz hinab, wo Hassan unbeweglich am Fusse der Treppe lag und nach dem hellen Ausgange blickte. Als er ihr Kommen merkte, machte er mit dem Kopfe eine freudige Bewegung und wedelte mit dem Schweife, gab aber keinen Augenblick seine Aufmerksamkeit nach der Thür auf, auch nicht, als sie ihn streichelte.

Nein, sie brauchte nichts zu fürchten, solche Wächter liessen sich nicht täuschen, und der Mann, welcher sich jetzt vielleicht schleichend zwischen Feinden bewegte, war über jede Gefahr erhaben, denn sein Name war Curt Starke.

Beruhigt begab sie sich wieder in das Brunnenzimmer, ordnete den Proviant zum Mittagessen, die festen Schäfte der Gamaschen drückten sie; sie liess sich nieder, um die Lederriemen zu lockern.

Ein leichter Schritt kam, sie kannte ihn, blickte gar nicht auf.

»Leider hat sich meine Vermuthung handgreiflich bestätigt,« sagte Starke's tiefe, metallische Stimme, »man hat wenigstens einen Spion hier angestellt, der uns bei der Cisterne beobachten soll.«

»Handgreiflich? Wie meinen Sie das?« fragte Ellen, ganz mit ihren Schuhen beschäftigt.

»Nun, ich bekam ihn in die Hände. Der rothe Jüngling lag hinter einem Stein und wartete, bis wir wieder herauskämen; vielleicht hätte er seine Beobachtungen auch schon eher in das Hauptquartier des Feindes getragen.«

»Sie hatten ihn sogar in den Händen?« staunte Ellen, jetzt den Kopf zur Seite drehend.

Mit einem Schreckensschrei sprang sie empor. Das kam gar zu unerwartet. Fast dicht neben ihr lag ein Indianer, ein junger Krieger, in der Scalplocke die Kriegsfeder, im Gürtel noch Messer und Tomahawk, aber an Händen und Füssen mit Lederriemen gebunden und im Munde ein roth und weiss geblümtes Taschentuch.

»Starke — Starke! — um Gottes Willen, was ist denn das?!«

»Ein Indianer. Was für eine Sorte? Er gehört zum Stamm der Schwarzfüsse; stehen in sehr schlechtem Ruf.«

Er bückte sich, zog dem wie ein Todter mit geschlossenen Augen Daliegenden das Taschentuch aus dem Munde, liess es zwischen den Händen knallen, betrachtete es von beiden Seiten ernsthaft, putzte sich, da er eben dazu das Bedürfniss haben mochte, darin die Nase und steckte es in die Hosentasche.

Ellen empfand nicht die unbeabsichtigte Komik dieser Handlungsweise, sie war noch zu sehr starr vor Schreck und Staunen.

»Ja, wie kommt denn der plötzlich hierher?!«

»Wie gesagt, er lag hinter einem Steine, als ich über ihn kam. Ich glaube nicht, dass er noch Gefährten in nächster Nähe hat. Ihn zu fragen hat keinen Zweck, er würde nicht sprechen, und wenn wir ihm die Glieder einzeln abschnitten, zumal da er sich etwas schämen wird, sich auf dem Kriegspfade so übertölpeln lassen zu haben. Freilich ist es fast noch ein Knabe, aber desto lieber würde er jetzt den Martertod erleiden. Natürlich brachte ich ihn mit, vielleicht können wir ihn noch als Geisel ...«

»Das sind Schüsse!!« schrie Ellen und sprang Starke nach, welcher schon die nach der Plattform führende Treppe halb hinauf war.

In weiter Ferne knatterte es wie schwaches Peitschenknallen, gleich darauf aber setzte auch ein durchdringendes Geheul ein.

»Der Kriegsschrei der Schwarzfüsse,« erklärte Starke im pedantischen Lehrmeistertone, während Ellen vor Erregung zitterte, »ich calculire, sie sind mit unseren Reitern zusammengestossen. Gehen Sie nicht so nahe an die Umfassung, besser ist besser. Somaja ist ein tüchtiger Bursche, kann etwas, er wird Spuren von Indianern gesehen und aus anderen Anzeichen errathen haben, dass diese es auf uns abgesehen haben; er ist schnell umgekehrt, um sich mit uns zu vereinigen, das kann den Indianern nicht passen, nun ....,« plötzlich hatte Starke den Kolben des zu einem Gewehr verlängerten Revolvers mit einer blitzschnellen Bewegung an seiner Wange, ein Blitz, ein Knall, ».... verlegen sie ihm den Rückweg.«

»Wonach haben Sie geschossen?« flüsterte die erschrockene Ellen.

»Nach einer Scalplocke, welche diesmal wirklich dort hinter jenem runden Felsstück auftauchte nicht nur danach geschossen habe ich, sondern sie vom Kopfe getrennt, um eine kleine Warnung zu geben, was von uns zu erwarten ist. Machen Sie Ihren Revolver bereit. Haben Sie schon einmal auf einen Menschen geschossen? Ohne Gewissensbisse, es sind Feinde, welche auch unser Leben wollen!«

Noch einmal kam es dem Mädchen zum Bewusstsein, was für ein seltsamer, eherner Charakter dieser Mann war, wie er den gefangenen Indianer gebracht hatte, so, wie ein Anderer eine Fliege fängt und sie zerdrückt fortwirft, nicht werth, davon zu sprechen, wie er mitten im trockenen Erzählen die Waffe gebraucht hatte, ohne sich dadurch unterbrechen zu lassen, und plötzlich überkam sie eine wilde Kampfesfreudigkeit, während sie sich doch vornahm, solch eine unerschütterliche Ruhe zu zeigen wie dieser Mann, ihres Freundes würdig.

Neues Gewehr- und Revolvergeknatter, neues Geheul, schon bedeutend näher.

Unten schlug Hassan grimmig an.

»Da kommen sie,« rief Starke schon auf der Treppe, »Sie bleiben, behalten Sie die Treppe im Auge, schiessen Sie auf Jeden, nur auf mich nicht, wenn ich wiederkomme!«

Er war verschwunden. Es herrschte wieder Stille. Dann krachten unten zwei Schüsse aus Starke's Revolver, nur ein schwacher Schrei folgte, in einigen Minuten war er wieder oben, als wäre nichts geschehen.

»Zwei waren es, welche sich einzuschleichen versuchten, ich konnte sie nicht schonen, sie hoben die Waffen, ich kam ihnen zuvor. — Da kommen sie, eins — zwei — drei — nur fünf sind es, alle Gepäckpferde weg — oh weh, auch Sir Munro und sein Diener fehlen!«

Auch Ellen sah in weiter Entfernung die Reiter in voller Carriere zwischen Felsen abwechselnd auftauchen und wieder verschwinden, doch zählen konnte sie sie nicht, noch weniger eine Person unterscheiden, und Ellen hatte keine Zeit zum Grübeln oder Fragen, was aus den Fehlenden, aus Sir Munro geworden sein möge.

Wieder schlug Hassan an, diesmal in ganz anderer Weise, sein Bellen vermischte sich mit dem Kriegsgeheul von Indianern, es wären solche demnach in dichtester Nähe gewesen, jetzt wollten sie die Cisterne mit Gewalt stürmen, ehe diese den sich zurückziehenden Cowboys eine sichere Festung bot, sie wussten, dass sie jetzt nur von einem einzigen Manne vertheidigt wurde.

»Decken Sie die Reiter!« schrie Starke. Er hatte ihr mit einem Griff ihren Revolver aus dem Gürtel gerissen und ihr dafür sein eigenes Gewehr in die Hand gedrückt; dann stürmte er hinab.

Ellen hatte verstanden, was von ihr verlangt wurde: auf etwaige unten im Hinterhalte liegende Indianer schiessen, welche das Gewehr auf die heransprengenden Reiter angeschlagen hatten.

Der hohle Felsen hallte wider von jubelndem Kriegsgebrüll und schmerzlichem Todesschrei, erzeugt von Starke's krachendem Revolver; er hatte die leichtere Arbeit, er schoss die hinter einem scharfen Winkel hervorspringenden Feinde wie Wild weg, ohne sich eine Blösse geben zu brauchen, neben ihm lag Hassan zum Sprunge bereit, während sich Ellen, mit angeschlagenem Gewehr an der Balustrade stehend, feindlichen Kugeln aussetzte, um die Fliehenden zu schützen.

Sie kamen in voller Carriere angejagt. Ja, Sir Munro war nicht unter ihnen. Ellen war plötzlich kalt wie Eis geworden. Eine Kugel pfiff dicht an ihrem Kopfe vorbei, sie hatte es nicht einmal gemerkt. Da richtete sich hinter einem Felsblock ein Indianer auf, das Gewehr an der Backe, auf den Ersten, auf Somaja angeschlagen — Ellen's Revolverbüchse krachte, der Indianer liess das Gewehr fallen, warf beide Arme hoch und schlug rückwärts zu Boden.

Mehr sah Ellen nicht, den Eingang konnte sie von hier aus nicht erblicken und die Reiter müssten ihn erreicht haben, nachdem Starke ihn wieder von Indianern gesäubert hatte. Hufschläge dröhnten, die Cowboys leiteten die Pferde die Treppe herauf. Es wurde noch geschossen, Indianer flohen und verschwanden in den unzähligen Verstecken, ein Cowboy sprang vor, bemächtigte sich des Gewehrs des Indianers, welchen Ellen's Kugel erreicht hatte, sprang wieder zurück — Ellen hatte es kaum beobachtet, ihre starren Augen sahen nur dort unten ihr Opfer liegen — todt — sie hatte einen Menschen getödtet.

»Zurück von der Balustrade, jetzt sind sofort einige Dutzend Gewehre auf alles Lebendige gerichtet, was sich eine Blösse giebt,« sagte Starke's Stimme und sie wurde am Gürtel zurückgezogen.

Er hatte ihr Gewand blutig gemacht, wischte die blutigen Hände an der ledernen Hose ab; er hatte auch mit dem Messer gearbeitet.

»Ich habe ihn erschossen,« flüsterte Ellen mit weissen Lippen.

»Die im Hinterhalte lauernde Rothhaut — ich weiss es, und das war ein grosses Glück, dass Sie ihn so todtsicher trafen, Sie haben dadurch fünf Menschenleben gerettet. Der Bursche besitzt das modernste Repetirgewehr, im Magazin vierzehn Patronen, er hätte in fünf Secunden alle unsere Leute weggeknallt, und dann wäre es auch uns schlimm gegangen.«

Das waren tröstende Worte gewesen, Ellen schüttelte ihr Grauen ab.

»Wir hätten uns mit unserem bischen Proviant doch nur drei Tage halten können,« fuhr Starke fort, »jetzt versorgen uns die fünf Pferde für lange Zeit mit Fleisch, und ich brauche nur acht Tage, um von Fort Lamarie militärische Hülfe herbeizuholen. Es ist Alles genau so gewesen, wie ich gesagt habe, auch Stronghand ist gesehen worden, er hat die Schwarzfüsse gegen uns aufgehetzt, jedenfalls aber erst im Auftrage eines Anderen. Drei Stundenritte von hier gewahrte Somaja verdächtige Spuren von Schwarzfussindianern, und als er auch ein Zeichen von Stronghand's Gegenwart fand, drehte er sofort um. Ich hatte ihm auch entsprechende Instructionen gegeben. Die Rothhäute merkten es sofort, suchten ihnen den Rückweg abzuschneiden, eine Stunde von hier kam es zum Zusammenstoss. Doch der Rückzug gelang. Vier Mann hat er gekostet, alles Gepäck, Somaja hat nur noch ein Ohr und einen bösen Schuss durch den linken Unterarm; Mr. Schade ist der einzige, welcher ohne jede Verletzung davongekommen ist.«

»Und Robin?« hauchte Ellen.

Starke hob leicht die Schultern.

»Sir Munro und sein Diener zählen mit zu den Vermissten. Schicksal unbekannt. Das ist der Krieg. Ein Cowboy behauptet, er habe sich, im Sattel gerade zum Schiessen umwendend, Sir Munro's Pferd zusammenbrechen sehen, der Reiter sei in grossem Bogen abgeschleudert worden. Weiter ist nichts bekannt.«

Ellen, aschgrau geworden, presste stöhnend die Hände gegen die Schläfen.

»Sie wollen militärische Hülfe herbeiholen?« fragte sie dann.

»Ein Ausfall und Durchkommen ist unmöglich, dann sind die Belagerer in demselben Vortheil wie jetzt wir. Ich allein aber kann mich durchschleichen. Lamarie ist das nächste Fort in dieser Einsamkeit, 150 Meilen von hier entfernt, ich mache sie per Dauerlauf in höchstens vier Tagen.«

»Oh Gott! Und Robin?« wiederholte Ellen. »Starke,« fuhr sie hastig und flehend fort, »vielleicht ist er nicht todt — nein, er ist nicht todt! — Versuchen Sie ihn zu retten, ehe Sie an mich denken!«

Prüfend blickte Starke sie an.

»Gewiss, ich werde mich während, meines Marsches über sein Schicksal und das der Anderen vergewissern, und wer noch am Leben ist, den werde ich aus den Händen der Indianer zu befreien suchen. Bitte, helfen Sie mir jetzt die Verwundeten verbinden; es muss Charpie gezupft werden.«

Der grosse Saal hatte sich in einen Pferdestall und Lazareth verwandelt. Doch nur einer der Cowboys lag auf Decken gebettet, er hatte eine Fusswunde, die Anderen standen an den Wandlöchern und beobachteten die Umgegend, selbst Somaja, obgleich der Knochen des linken Unterarms zerschmettert war. Starke hob die Vertheidigungsposition auf; sie war nicht nöthig, und als Wächter genügte Hassan. Mr. Schade, welcher das meiste Glück gehabt hatte, zupfte schon aus seinem Leinenhemd Charpie, Ellen suchte ihre Wäsche hervor und half ihm, Starke schnitt mit seinem Nickfänger und wusch und verband Einen nach dem Anderen mit einer Geschicklicbkeit, als hätte er in seinem Leben nichts weiter gemacht.

Die gedrückte Stimmung, welche unter den sieben Menschen herrschte, war begreiflich. Nur flüsternd wurden Meinungen ausgetauscht. Als dann Mr. Schade nichts mehr zu thun hatte, wickelte sich zwar eine heitere Scene ab, deren Humoristik jetzt aber nicht zur Geltung gelangte.

Auch der gefangene Indianer war hier hereingetragen worden. Starke kam noch gerade zur rechten Zeit, um den Revolver eines Cowboys niederzuschlagen, welcher der verhassten Rothhaut den Garaus machen, ihr vielleicht auch den Scalp nehmen wollte, und in Mr. Schade erwachte der Reporter.

Den Photographenapparat hatte er noch umgehängt, er zog Notizbuch und Bleistift und trat auf den Gefesselten zu.

»Wie heissen Sie? Wann sind Sie geboren?«

Der junge Krieger öffnete nicht einmal die Augen.

»Na, wie Sie heissen!« schrie Mr. Schade erbost, und als Yankee eine Rothhaut wenig hochachtend, gab er dem Daliegenden einen Fusstritt.

Vergebens, der Indianer lag da wie ein Todter.

»Sie wollen nicht? Schade. Dann gestatten Sie, dass ich Sie photographire.«

Er richtete den Gebundenen etwas auf, lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Wand und machte seinen Apparat fertig.

»Bitte, ein recht freundliches Gesicht, lächeln Sie etwas. Danke. Never mind. — Nun, Miss Howard, gestatten Sie, dass ich Sie interviewe.«

Aber Ellen hatte noch weniger Lust, von ihren Abenteuern zu erzählen.

»Wann werden Sie uns verlassen?« wandte sie sich an Starke, als dieser mit dem Verbinden fertig war.

»Das Durchschleichen ist natürlich erst in der Nacht möglich; glücklicher Weise haben wir gerade Neumond, sonst müsste ich auch noch eine besonders finstere Nacht abwarten. — Aber, Miss Howard, wenn sich uns solche Hindernisse noch häufig entgegenstellen, dann verlieren Sie Ihre Wette.«

»Sie ist ja bereits verloren, indem ich mich mit Ihrer Begleitung einverstanden erklärte, Sie sogar darum bat. Doch meine Reise um die Erde setze ich fort.«

»So etwas, dass Indianer direct auf uns gehetzt werden, konnte ich nicht voraussehen, sonst hätte ich Sie ohne Aufenthalt sogar durch das Gebiet von sich gegenseitig bekämpfenden Indianern gebracht. Wer ist denn diese Lady Barrilon?«

»Meine gute Freundin, der Alles zuzutrauen ist, wenn sie mich nur vernichten kann. Wir werden uns wiedersehen.«

Ein Cowboy rief, ein rother Parlamentär nahte, statt des grünen Zweiges, seltsamer Weise das Friedenszeichen in der ganzen Welt, nur die Hand auf das Herz legend. Furchtlos näherte er sich dem Eingange, brauchte er doch nicht anerkannt zu werden, blieb noch zehn Meter davon entfernt stehen und blickte hinauf nach den Oeffnungen. Starke trat an eine solche, hinter ihm standen verborgen die sich im besseren Zustande befindlichen Cowboys, die Gegend vor ihnen beobachtend, die den unten getödteten Indianern abgenommenen Gewehre im Anschlage, so auch Ellen.

Was verhandelt wurde, konnte Ellen nicht verstehen. Zu einem günstigen Friedensschlusse kam es jedenfalls nicht, der Indianer ging wieder.

»Freier Abzug,« erklärte ihr dann Starke, »wenn die Gowboys Sie und mich ausliefern. Dies der kurze Inhalt einer blüthenreichen Rede.«

»Auch Sie?«

»Und ob! Obgleich der rothe Parlamentär nichts von einem carrirten Bleichgesicht wissen will, steckt doch ganz sicher der Verfasser von »happy England« dahinter; der Indianer wird es schon wissen, aber die Schwarzfüsse lügen alle wunderbar, ich glaube sogar, daher stammt ihr Name, und wie gern mich Jenkins am Marterpfahle sehen möchte, können Sie sich wohl denken, und nicht minder Stronghand. Den habe ich nämlich einmal bei Gelegenheit ausgepeitscht, oben in Dacotah war es; ich kam dazu, wie er sich an den Marterqualen eines alten Pferdes ergötzte. Er hat die Zeichen meiner Hetzpeitsche noch auf seinem Rücken.«

»Und was antworteten Sie?«

»Was ich antwortete? Die Schwarzfüsse sollten nicht solch possirliche Witze reissen. Nur etwas poetischer in der blumenreichen Siouxsprache ausgedrückt.«

»Und was sagte der Parlamentär zuletzt in so pathetischem Tone?«

»Er sagte, in drei Tagen würden fünf Scalpe an ihren Gürteln hängen; mich will man abhäuten, damit Stronghand eine Decke hat, und die Squaw mit dem goldschimmernden Haar würde dem schluckenden Geier, dem grossen Häuptling der Schwarzfüsse, in seinem Wigwam das Wildpret rösten und ihm das Lager bereiten. — Nein, ich glaube nicht an Prophezeiungen, so lange sie nicht eingetroffen sind, und wenn sie auch noch so feierlich ausgesprochen worden.«

Die Nacht war angebrochen, ohne dass ein Zwischenfall passirt war, ohne dass nur ein Indianer bemerkt worden. Dass aber solche in der Nähe lagen, erzählte auf Befragen Hassan el Saba seinem Herrn.

Draussen verbreiteten die Sterne am klaren Himmel einiges Licht, hier drinnen herrschte die schwärzeste Finsterniss. Dem heissen Octobertage war eine bitterkalte Nacht gefolgt. Die erschöpften Pferde schliefen. Nur ein Mensch schwatzte. Bei Somaja hatte sich schon heftiges Wundfieber eingestellt.

Starke schnallte den Gürtel enger und steckte den für ein Taschenmesser mächtigen Nickfänger aufgeklappt hinein. Der weisse Jäger in den Vereinigten Staaten und Canada kennt das Jagdmesser in Scheide gar nicht mehr, Alles hat den Nickfänger in der Tasche. Es muss wohl praktischer sein.

»Ich gehe,« flüsterte er, und Ellen erhob sich von Somaja's Lager, fand den Sprecher und tastete nach seiner Hand.

»Robin — Sir Munro ....«

»Ich thue, was ich kann. Hoffen Sie, mehr kann ich nicht sagen. Ich bin ein Mensch. Sonst wissen Sie Alles, wie Sie sich während meiner Abwesenheit zu verhalten haben. Die braunen Burschen sind gut und treu, ich habe sie ausgesucht, lassen Sie sich von ihnen berathen, doch Sie behalten das Obercommando. Leben Sie wohl, Miss Howard.«

»Gehen Sie mit Gott,« schluchzte sie leise.

Die Hand wurde ihr entzogen, sie hörte nichts mehr von ihm.

Seltsam, diesen Mann liebte sie, doch um ihn weinte sie nicht, bangte sie nicht. Was sollte denn ihm für eine Gefahr drohen? Den Kugeln, die ihn hätten treffen müssen, wich er aus, seine Waffen waren die schnellsten; wie ein Blitzstrahl brach er durch die Reihen der Feinde, und wer will den Blitz aufhalten?

Aber Sir Munro! Sie sah ihn schon am Marterpfahle stehen, nicht mit schmerzverzerrten, sondern mit todestraurigen Zügen. Und alles das nur ihretwegen! Ja, nur sie allein war Schuld an diesem seinem entsetzlichen Schicksal. Deshalb weinte sie verzweifelt und quälte sich mit Selbstvorwürfen.

So suchte sich Ellen wenigstens einzureden.



22. Capitel.

All Heil!

Die von Somaja gegebene kurze Erklärung genügt. Sir Munro hatte nicht einmal so viel erfahren, der Mestize war sehr wortkarg. Es war um die Mittagsstunde, als er plötzlich sein Pferd zügelte, aus dem Sattel sprang und aufmerksam den Boden untersuchte, auch die nähere Umgebung, ritt weiter, eine viertel Stunde später schien ihm wiederum etwas am Boden aufzufallen; eine eingehendere Untersuchung wurde abgehalten, er sprach mit einem alten Cowboy, Beide sprangen schnell wieder in die Sättel.

»Stronghand, zurück,« sagte er und weiter nichts, und rückwärts ging es, was die Pferde laufen konnten.

Sir Munro vermochte ihn schon deshalb nicht zu fragen, weil er nicht an des Führers Seite kommen konnte.

So verging eine Stunde in gestrecktem Galopp.

»Dort,« sagte ein Cowboy, mit dem Revolver zur Seite deutend.

Es war einmal eine von Felsmassen leere Gegend, und dort in der Ferne jagten in der gleichen Richtung einige Dutzend Reiter, Indianer, die Pferde wie die Hasen mit dem Bauche am Boden liegend.

Nun wusste Munro bestimmt, was er schon geahnt, hatte ihm doch Starke auch bereits von einem Stronghand erzählt.

Man bekam es mit Rothhäuten zu thun. Sie hatten es weniger darauf abgesehen, die Cavalcade zu überfallen, als sie von den beiden Radfahrern zu trennen, auf diese war es abgesehen, jetzt wollten sie den zurückkehrenden Vorreitern den Rückweg abschneiden, und es musste ihnen gelingen. Die Felsmassen kamen wieder, die Indianer verschwanden zwischen ihnen; gleich darauf riss der führende Somaja sein Thier herum, schlug einen scharfen Haken, die anderen Pferde folgten von selbst. Es war ein Kriegsmanöver gewesen. Somaja wollte dem Feind keine Zeit lassen, einen wohlgeplanten Hinterhalt zu legen, auch an anderer freierer Stelle durchbrechen, wo man ihn nach der bisherigen Richtung nicht erwartete.

»Durch!!«

Schüsse, Geheul, rothe Menschen und Pferdeleiber — Munro feuerte seinen Revolver auf Alles ab, was roth und nackt war. Da sah er das Pferd seines Dieners, welcher neben und etwas vor ihm ritt, zusammenbrechen. Aber Dick selbst stürzte nicht mit. Mit einer affenartigen Behendigkeit hatte er sich auf den Rückens des nächsten von einem Cowboy geleiteten Packpferdes geschwungen und schoss dort oben weiter. Denn reiten konnte Dick wie ein Gott, er stammte ja vom fahrenden Volke der Artisten.

In demselben Augenblicke — es dauerte ja überhaupt Alles nur einen Augenblick — hatte Munro das dunkele Bewusstsein, dass sein eigenes Pferd stürze, er fühlte keinen Sattel mehr unter sich, schwamm in der Luft, bekam einen harten Schlag auf den Kopf — und wusste nichts mehr. —

Wie er wieder zu sich kam, sah er Dick vor sich stehen, sich eben aufrichtend.

»Wie befinden sich Euer Gnaden? Haben Euer Gnaden

etwas gebrochen?«

»Wo bin ich?« murmelte Munro, an den schmerzenden Kopf greifend.

»In Nebraska, zu dienen, Euer Gnaden.«

»In Nebraska,« wiederholte der noch halbbetäubte Baronet.

»Jawohl, Euer Gnaden, Nebraska, Vereinigte Staaten von Nordamerika.«

Da fiel Munro's Blick auf eine rothe Gestalt mit rothem, nacktem Oberkörper und franzenbesetzten Leggins, andere Indianer packten Pferde ab und untersuchten den Inhalt der Säcke; dort wälzte sich ein Pferd, sein eigenes; dort lag langausgestreckt ein Cowboy — und nun war Sir Munro erwacht, nun konnte er sich auf Alles besinnen.

Er stand auf. Nein, gebrochen hatte er nichts, er war unverletzt. Die Indianer achteten gar nicht auf die Beiden, so wenig wie auf einen zweiten Cowboy, der sich eben einen blutigen Fetzen um sein entblösstes Bein wickelte.

»Ich bin mit dem Pferde gestürzt.«

»Euer Gnaden haben sogar drei Salto mortales geschlagen, was ich noch niemals gesehen habe,« bewunderte ihn Dick.

»Todt!« flüsterte Munro, mit starren Augen den Cowboy betrachtend, dessen Kopf nur noch eine blutige, formlose Masse war.

»Zuerst war er's nicht,« erklärte Dick, »er blutete nur aus dem Halse. Der Wilde dort schnitt ihm das Haar ab, gleich mit der ganzen Haut, hing sich die Geschichte an seinen Leibriemen und gab ihm dann noch eins mit der Axt auf den Kopf. Habe noch nie so eine Rohheit gesehen. Dann muss ich Euer Gnaden noch mittheilen, dass die Wilden Ihnen Revolver, Messer und Taschenuhr gestohlen haben — der dort ist's gewesen — mir auch.«

»Und Somaja ist mit den Anderen durchgekommen?«

»Ich glaube, so annehmen zu dürfen, bis auf Euer Gnaden, diese zwei Cowboys und meine Wenigkeit. Der dort ist todt, der dort aber ist nicht todt, er verbindet sich sein Bein, der hinkt nur.«

»Und Du bist nochmals gestürzt?«

»Nein, Euer Gnaden. Ich sah, wie Euer Gnaden sich dreimal in der Luft zu umschlagen beliebten, dachte mir gleich, dass das nicht gut abgehen könnte und sprang schnell ab. Ich dachte erst, Euer Gnaden hätten sich den Hals gebrochen, aber es war nicht an dem — es hätte mir auch sehr leid gethan.«

Munro war an die Ausdrucksweise seines Dieners ja schon einige Jahre gewöhnt. Er beobachtete die Indianer, zählte sieben, darunter einen durch mehr Federn und anderen Schmuck ausgezeichnet. Einige beschäftigten sich mit dem Gepäck, die anderen sahen zu. Sie sprachen zusammen in tiefen Kehllauten.

»Was sagen Sie?«

»Leider kann ich sie nicht verstehen, Euer Gnaden. Erst dachte ich, es wäre Jüdisch-Deutsch, sie bringen's so weit hinten aus dem Halse heraus, aber es ist kein Jüdisch-Deutsch, auch nicht Zigeunerisch, es wird Indianisch sein. Jetzt fressen sie unsere Biscuits. Da — wie sie die beiden Räder angucken — wie sie davon zurückgehen. Die wollen auch nichts mit solchen Dingen zu thun haben. Es scheinen doch ganz gebildete Leute zu sein. Jetzt essen sie unsere Biscuits, wollte ich sagen.«

»Dass sie uns nur so unbeachtet lassen, ganz frei lassen!«

»Sie haben uns ja schon die Taschenuhren abgenommen. Wollen Euer Gnaden nicht lieber gehen? Ich glaube nicht, dass sie uns Pferde geben.«

Wirklich, Munro war noch so perplex, dass er glauben konnte, sich einfach entfernen zu dürfen. Ein scheuer Blick, und er wollte davonschleichen.

Daraus wurde freilich nichts. Sofort trat ihm ein Indianer entgegen, der achte, der hinter einem Felspfeiler gestanden, hielt dem Baronet die Schneide des Tomahawks dicht vor die Nase und machte eine gebieterische Handbewegung, auf den alten Platz zurückzugehen, oder ............

»Was geschieht mit uns?«

Die Rothhaut schüttelte den Kopf, verstand kein Englisch.

Man liess die Gefangenen nur auf freiem Passe, die Indianer hielten es nicht für nöthig, sie erst zu binden. Da war ja auch noch der Cowboy.

»Bill, was meinst Du, was hat man mit uns vor?«

»Hängt Euch und geht zur Hölle,« war die liebenswürdige Antwort.

Die Sachen waren wieder zusammengepackt und auf ledige Pferde geschnürt worden, ein stummer Wink des Häuptlings, eine Handbewegung nach den Packpferden — der schwer hinkende Cowboy wollte der eilfertigste sein, aber das verwundete Bein hinderte ihn doch am Aufsteigen, musste er doch auch noch auf das hochgethürmte Gepäck klettern — da bekam er mit einem zusammengeflochtenen Lasso einen Schlag, dass er gleich niederstürzte, und dennoch sass er im nächsten Augenblicke oben — und das machte, dass Sir Munro mit einer Schnelligkeit hinaufkam, wie er sonst noch nie in den einfachen Sattel gestiegen war.

In einem kurzen Galopp ging es fort, dem Norden zu, die Gepäckreiter wie auf Kameelen geschüttelt werdend. Der todte Cowboy war zurückgelassen worden, aber drei Pferde trugen fünf todte oder schwerverwundete Indianer.

Wohin ging es?

»Hängt Euch und geht zur Hölle,« knurrte der Cowboy auf jede Frage.

Munro wusste noch nicht einmal, was es für Indianer waren.

»Es sind Vagabunden,« entschied Dick, »schlimmer als die Zigeuner, nicht einmal ein Hemd haben sie an. Sonst hielten sie's nicht aus vor Läusen.«

Einmal, als Munro mit unsicherer Stimme die Frage stellte, ob die Indianer heutzutage auch noch ihre Gefangenen warteten, fand der Mestize doch andere Worte. Zuerst lachte er rauh auf.

»Na, denkt Ihr etwa, sie werden uns sanft zu Tode füttern? Das sind Nadowessiers! Wenn morgen die Sonne wieder aufgeht, wird man Euch schinden und spicken und braten, und wenn Ihr ein Mann seid, lacht Ihr die rothen Hunde aus, bis Euch ein glühender Holzpflock in den aufgerissenen Rachen gestossen wird.«

Das war mit einer furchtbaren Ueberzeugungskraft gesprochen, worden. Der Baronet verlor alle Farbe.

»Na ich denke,« liess sich dagegen Dick trocken vernehmen, »ein richtig brennender Holzpflock wird einem in den Mund gestossen? Das aber nur so etwas noch erlaubt ist! Solche Sachen müssten den Indianern doch endlich verboten werden.«

Munro hatte das erste Entsetzen überstanden. Wild fuhr er auf.

»Dann lieber den Tod!« flüsterte er und die Indianer neben ihm beachteten ihn ja gar nicht. »Und nicht allein! Dem Nächsten hier das Messer aus dem Gürtel gerissen, ihm in die Brust gestossen und dann ........«

»Und dann seid Ihr ein Narr,« unterbrach ihn der Cowboy wieder lachend, »Das sind Nadowessiers, versteht Ihr? Der Schwarzfuss neben Euch wartet ja nur darauf, dass Ihr so etwas Aehnliches thut und der ist fixer als Ihr und das bringt ihm Ehre — mit einem Griff hat er Euch die Waffe wieder entwunden, steckt sie gleichgültig, als wäre nichts geschehen, wieder in seinen Gürtel zurück, und Ihr bekommt höchstens eins in die Visage. Ja, wenn es Deadley Dash wäre! Aber den kriegen sie nicht. Wäre Deadly Dash hier .....«

Der Sprecher bekam von dem neben ihm reitenden Indianer mit dem Handrücken einen Schlag in's Gesicht, dass ihm sofort das Blut aus der Nase schoss und der Cowboy schien das ganz in der Ordnung zu finden, sagte keinen Mucks, er wusste auch aus einer übelriechenden Blume wohlschmeckenden Honig zu ziehen, d. h. er streckte die Zunge weit heraus und liess sich während des Reitens das Blut in den Mund laufen.

Deadly Dash — der tödtliche Schlag; auch der Zuckblitz mit dem gleich nachfolgenden, schmetternden Donner, wenn es eingeschlagen haben soll, wird im Englischen so genannt. Schon oft hatte Munro dieses Wort als Personennamen gehört, seit er mit den Cowboys zusammen war, dagegen noch niemals Ellen's, obgleich doch der Mann sie begleitete, der diesen Namen in der Prairie führte.

Deadly Dash! Und da ging mit Sir Munro eine Umwandlung vor sich. Ja, sogar der Gleichmuth des blutleckenden Cowboys war etwas mit schuld daran. Was hatte es denn zu sagen, wenn er sein Leben liess? Einmal muss man doch sterben. Und wenn man einem schmerzlichen Tode entgehen will — nun, auch bei gebundenen Händen und Füssen giebt es immer noch einen Weg in's Jenseits, den man freiwillig betreten kann. Vielleicht aber, wenn der junge Engländer morgen bei Stimmung war, liess er sich doch schinden und spicken und braten, kostete es einmal durch und höhnte seine Feinde bis zum letzten Athemhauch. Es liegt schon etwas darin.

Aber die, welche er liebte, wusste er in Sicherheit, wenn nichts Anderes als Bewohner dieser Prairie sie bedrohte, denn Deadly Dash war schützend bei ihr. Die Worte des rohen Cowboys hatten mit mächtigerer Ueberzeugung zu ihm gesprochen, als es eine Stimme vom Himmel hätte thun können.

Ob ihn denn Ellen wirklich liebte? Oder noch liebte? Hatte ihn der eiserne Weltenbummler nicht schon ausgestochen? Ach, es war doch besser, wenn er stürbe, ja wohl, den Tod am Marterpfahl unter tausend Schmerzen wollte er erleiden, sie würde es doch erfahren, der arme, gute Robin, so jung und so unschuldig, und da würden sich ihre Augen nicht nur so mit Thränen füllen wie bereits des armen, guten Robin's Augen mit Thränen voll waren ........

Da ist es ja schon! Wirklich, man braucht nicht kopfschüttelnd zu fragen, wie es den indischen Fakiren ein wollüstiges Vergnügen machen kann, wenn sie sich über Feuer langsam rösten lassen; wir brauchen nicht über solche Thorheit zu lachen oder zu weinen. Wir, wir besseren Menschen mit der grösseren Aufklärung, wir kennen Qualen des Herzens, welche nicht mit Körperschmerzen zu vergleichen sind, und wir geben uns ihnen mit grausamer Wollust hin. Schon die Eifersucht. Man sucht auch noch ganz Anderes mit Eifer, was schmerzlich-süsse Leiden schafft. Nirgends ist dieses tief im menschlichen Herzen wurzelnde Streben mit solch rührender Einfachheit und dabei doch mit solch packender Wahrheit ausgedrückt als in dem kleinen Volksliedchen:

Man schafft so gern sich Sorg' und Müh',
Sucht Dornen auf und findet sie.

Weiter ging es, immer weiter ohne Rast zwischen den seltsamen Felsgebilden, welche kein Ende nehmen zu wollen schienen, und Munro glaubte vor Durst verschmachten zu müssen; aber er wagte nicht mehr, den Mund aufzuthun, so wenig wie die vor Erschöpfung manchmal strauchelnden Pferde ihren Schritt nicht zu verlangsamen wagten; denn sie kannten ihre rothen Herren, zwischen deren eisernen Schenkeln sie nur lautlos sterben, nicht lebend zusammenbrechen dürfen.

Die Sonne berührte schon den Horizont, als einige buntbemalte Wigwams zwischen den Felsen auftauchten. Der Boden war hier in kleinerem Umkreise von etwas besserer Beschaffenheit, er musste auch bewässert sein; es gedieh einiges Gras und Dornengestrüpp.

Bellende Hunde und nackte Kinder eilten den Reitern entgegen; schmutzige, hässliche Weiber verliessen die Feuer, an denen sie kochten.

Ob sie es schon wussten oder ob einer der Kommenden durch einige Zeichen mit der Hand Alles erzählt hatte — plötzlich, noch ehe sie die todten und verwundeten Indianer hätten unterscheiden können, erhob sich ein Höllenspektakel, dann, als man die Folgen des Ueberfalls erkannte, erfüllte das Wehklagen und Zetergeschrei die ganze Umgegend, dass die Felsen wiederhallten, und hätten die überlebenden Ehegatten nicht ihre Aufforderung, die Weiber sollten sich um ihre Feuer kümmern, mit Faust und Stockschlägen unterstützt, die Gefangenen, als sie von den Pferden herabkletterten, hätten unter den Händen der Megären auf der Stelle ihr Leben ausgehaucht.

Dann befanden sich die Drei in einer geräumigen Höhle, von der aus sie das Lager nicht sehen konnten. Man brachte ihnen gedörrtes Fleisch, überreichlich viel, setzte ein grosses Gefäss mit Wasser hinein, und sie waren allein. Aber quer vor dem Ausgange lag ein Indianer als Wächter.

»Warum bindet man uns nicht?« fragte Munro, als er seinen Durst an dem etwas salzigen Wasser gelöscht hatte.

»Damit wir uns nicht morgen, wenn wir uns am Marterpfahl nicht als Männer beweisen, damit entschuldigen können, wir hätten wegen der drückenden Fesseln schlecht geschlafen,« lautete Bill's wenig beruhigende Erklärung. »Deshalb giebt man uns auch zu trinken und gut zu essen.«

Und der Cowboy kaute schon mit vollen Backen.

Bald wurde es finster in der Höhle, auch draussen erlosch das Dämmerlicht.Munro wollte mit leiser Stimme davon beginnen, ob denn eine Flucht gar nicht möglich sei, es scheine doch dort nur der eine Wächter zu sein.

»Ihr seid ein Narr, wenn Ihr so sprecht, esst Euch noch einmal satt und schlaft,« wurde er von Bill unterbrochen, und gleich darauf fing er an zu schnarchen.

»Dick, weisst Du, was uns bevorsteht?«

Ja, Dick wusste es, und er fühlte sich zum Philosophiren gestimmt. Der Mensch sei ein Erdenkloss, gefüllt mit rother Tinte, und wenn er stirbt, dann ist er todt, und wenn man Hunger hat, soll man essen, zumal wenn man noch lebt und es doch noch passiren kann, auf irgend eine Weise lebendig zu bleiben, und so weiter, und Dick ass mit gesundem Appetit, und Munro sah die Richtigkeit dieser Philosophie ein und ass mit. Es war stockfinster geworden.

»Ob der Kerl noch draussen liegt?«

Dick stand auf und näherte sich dem Ausgange.

»Heh, Du, hast Du nicht ein bischen Primtabak?« hörte ihn Munro fragen.

Erschrocken sprang Dick zurück.

»Ja, er ist noch da, ich glaube, er hat mir den Schädel einschlagen wollen. Na, das ist nichts. Da wollen wir lieber ein bischen schlummern.«

Auch Munro schlief endlich ein, obgleich zitternd vor Frost; das Wasser war sogar mit einer Eiskruste bedeckt. Die Indianer schienen solchen Temperaturwechsel gewöhnt und gegen derartige Kälte unempfindlich zu sein, deshalb gab man auch den Gefangenen keine Decken.

Mitten in der Nacht erwachte Munro mit klappernden Zähnen. Vor dem Ausgange lag ein etwas heller Schein, die Sterne leuchteten. Munro schlich sich hin — da erhob sich vor ihm eine dunkle Gestalt, schweigend wurde ihm die Schneide eines Tomahawks dicht vor die Nase gehalten und er kroch zurück. Es war ja auch lächerlich, glauben zu wollen, man könnte sich so davonschleichen, die Indianer hielten es ja nicht einmal für nöthig, die Gefangenen zu binden.

Einige Stunden hing Munro trüben Gedanken nach, dann schlief er wieder ein.

Als er zum zweiten Male aufwachte, war es schon ganz hell in der Höhle; draussen pfiff der Wind, der davorstehende Wächter musste sich dagegen stemmen. Dick war schon auf, der Cowboy beschäftigte sich mit seiner Wunde.

»Es ist schon lange Tag,« sagte Dick, »und ich glaube, die Indianer haben ihr Lager abgebrochen, ich sah sie mit den Fellen und Pferden vorbeimarschiren. Wenn nur der dort auch wegginge.«

Ein bewaffneter Indianer trat ein, deutete auf Munro und Dick, ein gebieterischer Wink, sie sollten ihm folgen. Der Cowboy nicht. Den kurirten sie vielleicht erst aus, ehe sie ihn an den Marterpfahl stellten.

»Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben,« citirte Munro mit bleichen Lippen, als er hinaustrat. Zwei andere Krieger nahmen sie in die Mitte.

Das Lager war wirklich abgebrochen worden, vielleicht wegen des eisig zu nennenden Nordsturmes, dem die Wigwams an dieser Stelle offen ausgesetzt gewesen. Sie wurden um einen grossen Felsen herumgeführt, auf der Südseite trat die Wand in der Mitte weit zurück, bildete also einen vortrefflichen Schutz gegen den Nordwind und hier lagerten jetzt die Indianer. Aber die Wigwams hatten nicht in dem glatten Steinboden aufgeschlagen werden können, auch die Pferde waren nicht zu sehen. Dieses Steinplateau verlief sich in einen mit einer Salzkruste bedeckten Boden, der jenem an Härte und Ebenheit nichts nachgab. Munro sah vor seinen Augen schon ganz deutlich den Marterpfahl mit dem aufgehäuften Reisig, in Wirklichkeit aber sah er ihn nicht, er war gar nicht vorhanden. Doch dass ein rother Krieger soeben mit einem Fahrrad umfiel, die Beine in die Luft reckte, wieder aufstand und das Rad neben ein anderes legte, das war keine Täuschung. Es waren die beiden mitgeführten Reserveräder, um sie herum standen die Indianer, in weiterem Kreise Frauen und Kinder.

»Bist Du der Freund des Mannes, welcher den Blitz ohne Donner in seinen Händen hat?« empfing sie der Häuptling. Er hatte offenbar zu Dick gesprochen und dieser machte nur den Mund auf.

»Ja, Deadly Dash ist mein Freund,« beeilte sich Munro, mit grösserer Fassungskraft begabt, schnell zu sagen.

»Wer von den Bleichgesichtern ist der Herr, wer der Sclave?« lautete die zweite Frage.

»Ich bin der Herr.«

»Dann bin ich der Sclave,« musste Dick hinzusetzen.

»Wie nennen die Bleichgesichter dies?«

Der Häuptling hatte eine leichte Bewegung nach den Rädern gemacht.

»Bicycle,« entgegnete Munro, an den jetzt das Wort gerichtet wurde.

»Reite auf dem Stahlpferd.«

Also auch diese Indianer kannten das Stahlross schon, aber diesen Namen hatten sie selbst augenblicklich erfunden; sie hatten schon probirt; dieser Platz hier war ja zu einer Radfahrschule wie geschaffen, und es mochten sich schon komische Scenen ereignet haben.

Und durch des Baronets Kopf schoss wie ein Blitz ein schöner, aber hoffnungsloser Gedanke: dieses ebene Terrain, auch als Nichtfahrer wusste er diesen günstigen Wind zu taxiren, und erst weit, weit dort hinten sah er ein Pferd auf besserem Boden weiden — er hätte eine Hand dafür gegeben, wenn er jetzt radfahren könnte.

»Ich kann es nicht,« sagte er kleinlaut.

»Du kannst das Stahlpferd nicht reiten?«

»Nein.«

»Du lügst! Du willst nicht!« donnerte der Häuptling plötzlich den Erschrockenen an. Jedes Bleichgesicht kann auf dem Stahlpferd reiten!«

»Ja — aber — aber — das muss man erst lernen,« stotterte Munro immer kleinlauter, »und ich habe es nicht gelernt.«

Lange schaute der Häuptling den Baronet unverwandt an.

»Bei Deadly Dash,« nahm er dann wieder das Wort, »ist eine weisse Squaw mit goldenem Haar — kann sie das Stahlpferd reiten?«

»Ja, jawohl, die hat es gelernt,« versicherte Munro.

Wieder blickte der Häuptling ihn lange an. »Und Du nicht?«

Aus seiner Kehle kam ein unbeschreiblicher Laut, und dann war der Baronet wie geblendet, der Häuptling hatte ihm einen gewaltigen Klatsch in's Gesicht gespuckt.

Sir Munro war einmal im zoologischen Garten von einem Lama angespuckt worden, dass ihm die Augen übergingen — dieser Siouxhäuptling konnte noch viel besser spucken. Dem Lama hatte er eins mit dem Spazierstock gegeben; bei diesem Siouxhäuptling unterliess er lieber Derartiges, er wischte mit dem Rockärmel das Gesicht, bis er wieder sehen konnte.

»Kannst Du das Stahlpferd reiten?« wandte sich der Häuptling an Dick.

Dieser war von allem Anfang an, als das Examen begann, unruhig geworden. »Nein— ich kann's auch nicht — ich kann's mal probiren — aber —Euer Gnaden — pst, Sir Munro — ich will's mal probiren — aber Euer Gnaden dürfen mir meine Caution von zwölf Pfund Sterling nicht abziehen, wenn ich einmal auf so einem Ding zu fahren versuche.«

Sir Munro hatte noch zu viel mit seinen Augen zu thun, um eine Antwort geben zu können, und Dick war auch schon nach den Rädern gegangen; sie befanden sich, wenn sie auch bereits einige Kopfstürze gemacht haben mochten, noch in Ordnung; er richtete eines auf, da aber, schon den Fuss auf der Trittstange, stieg ihm doch wieder das alte Bedenken auf.

»Aber nicht wahr, Euer Gnaden, die zwölf Pfund ziehen Sie mir nicht ab, wenn ich's einmal probire?« sagte er mit einem unbeschreiblichen Seitenblick nach seinem Herrn.

Dann sass er oben, wieder der komisch flehende Seitenblick, und Dick fuhr nach allen Regeln der Kunst im Kreise herum. Die kleinen Kinder jubelten, die grösseren fürchteten sich, die Frauen kreischten, die Krieger und die, welche demnächst solche werden wollten, suchten ihre ruhige Würde zu wahren.

»I, das ist ja gar nicht so schwer als wie's aussieht!« sagte Dick in hellem Staunen, als er einige Runden gefahren war, und während er diese Worte sprach, hielt er auch noch mit schräg stehendem Vorderrad, liess sogar die Lenkstange los, um sich die Mütze fester auf den Kopf zu drücken.

Auch seines Herrn Staunen war nicht gering; denn er hätte jederzeit beschworen, dass sein Diener keine Ahnung vom Radfahren hatte; er glaubte noch jetzt fest daran, Dick habe nur ein so aussergewöhnliches Talent zu dieser Kunst, sich in der Balance zu halten. Und Dick hatte ja auch Schule im Circus gemacht, da war das schon begreiflich. Sir Robin hatte sich überhaupt noch gar nicht um diese Sache bekümmert, und derartige Exercitien, wie mit dem Rade still zu stehen, sieht man wohl selten einmal auf asphaltirter Strasse, und wenn im Varieté die Nummer eines Fahrradkünstlers kam, so ging Sir Munro stets einstweilen hinaus.

Also staunte er nur über die Schnelligkeit, mit welcher sich sein Diener mit dem Fluche der Menschheit vertraut machte.

»I da wollen wir's doch mal so probiren, das muss doch viel bequemer sein,« fuhr Dick mit Sprechen und Radeln fort, warf das eine Bein über den Sattel und sass seitwärts, nur mit einem Fusse tretend, »wahrhaftig, es geht! — nun einmal auf die andere Seite — so — und nun — hopps — brrr, Schimmel — nun zur Abwechslung ein bischen rückwärts — ob ich mich wohl im Sattel herumdrehen kann? — i warum denn nicht, das geht ja ganz famos — passen Sie auf, meine Herrschaften, jetzt krieche ich unten durch — da sitze ich wieder oben — das hier nennt man eine Fahne machen — und nun schiebt man einfach die Beine etwas höher ....«

Die Kinder und Frauen waren vor Staunen stumm geworden, dafür bellten jetzt die rothen Krieger wie die Hunde. Denn »hau« ist in der Siouxsprache das Zeichen der Bejahung und des Beifalls.

Dick machte die ganze hohe Schule des Kunstfahrens durch, zuletzt auf fahrendem und stehendem Rade den Handstand, er hätte sich auch vor dem verwöhntesten Publicum präsentiren können. Aber er hatte eben, wie so manches Genie, nichts aus sich zu machen verstanden, war der unbekannte Schmierenartist geblieben, welchem Berufe er die bescheidene Stellung eines Dieners vorzog. Und der Baronet wiederum blieb in dem Wahne befangen, sein Diener, ehemaliger Acrobat, könne nun seine früher gelernte Kunst gleich auf dem Fahrrad ausüben. So weit kann es kommen, wenn der Mensch einem Fortschritte seiner Zeit beharrlich Auge und Ohr verschliesst.

Dick hatte sich, ohne die Maschine aus der Hand zu lassen, überschlagen und stand vor dem Häuptling, ihm die Mütze hinhaltend, vielleicht aus alter Gewohnheit. Doch der Indianer kannte die Bedeutung dieser Gebärde noch nicht, er war viel zu sehr entzückt, hatte seine Würde ganz verloren, hatte schon das Bein über den Sattel gehoben. Dick sollte sein Lehrmeister sein.

»Nein, Euer Durchlaucht, so geht das nicht, ich werde aber Euer Durchlaucht gleich zeigen, wie es in fünf Minuten zu lernen ist,« wehrte Dick ab, und der Häuptling hob das Bein wieder herunter.

Zuerst unterzog Dick die Maschine einer sorgfältigen Prüfung, hob auch einmal die andere auf, ging wieder zu jener zurück; und hätte Munro auch nur eine Ahnung gehabt, er hätte sofort erkennen müssen, dass es kundige Hände und Augen waren, welche das Rad in allen Theilen prüften. Ganz besonders widmete er zuletzt seine Aufmerksamkeit den beiden Trittstangen, jede Seite enthielt eine; er trat wuchtig darauf und schraubte sie fester.

»So, das Stahlross ist tadellos in Ordnung. Nun werde ich Eurer Durchlaucht zeigen, wie man mit der Kunst beginnt, um erst die unvermeidliche Balance heraus zu bekommen. Es ist etwas gefährlich, man fällt dabei leicht auf die Nase —es ist doch besser — Mylord, wollen Sie zuerst das Risico übernehmen? — Es wäre doch schade um die schöne Nase Eurer Durchlaucht. Nicht wahr, Mylord, Sie zeigen es den Herrschaften, wie es gemacht wird. Ich steige auf und Sie halten mich von hinten fest, setzen den einen Fuss hier auf diese Trittstange, geben sich und zugleich mir mit dem anderen Beine einen kleinen Schubs, d. h. Sie stossen ab, ziehen den anderen Fuss schnell nach — gelingt es nicht gleich, wird es noch einmal probirt, bis es geht, und dann — — — haben Euere Durchlaucht nicht ein bischen Tabak für mich da in dem rothen Beutel? Tabak muss bei der Geschichte nämlich dabei sein, sonst geht's nicht.«

Der am Gürtel hängende Beutel öffnete sich, Dick griff tüchtig hinein und pfropfte sich beide Backentaschen voll mit dem losen Tabak, und in Munro's Kopfe begann es jetzt zu dämmern; er hatte schon oft genug zwei Menschen auf einem Rade durch Londons Strassen fliegen sehen, er musste ein Zittern der Erregung unterdrücken.

Dick schwatzte weiter mit »meine Herrschaften« und »Eure Durchlaucht,« als er bereits im Sattel sass, hinten von Munro gehalten, und es gelang gleich beim ersten Male; ein gewandter Turner war der Baronet, das Doppelgespann kam in Fahrt.

»Sehen Sie, meine Herrschaften, so wird's zuerst gemacht — halten sich Euer Gnaden mehr an meinen Hüften fest — so, so ist es recht — nun mehr vornüberlegen, ganz dicht mit dem Kopfe auf meinen Rücken — so ist es gut — passen Sie auf, dass Sie nicht abrutschen — nun wollen wir ein bischen fixer trampeln — good bye

Die Indianer sahen, wie die leichte, so durchsichtige Maschine gleich zwei Menschen trug, wie sie so geschwind dahinrollte, die Weiber und Kinder jubelten, die Männer bellten vor Vergnügen.

Dann aber wurde es mit einem Male ganz still hinter den Beiden, und dann wieder brach plötzlich ein furchtbares Gebrüll los.

»Jetzt haben sie Lunte gerochen,« sagte Dick, die Nase auf der Lenkstange. »Merken, Euer Gnaden etwas? Wir haben keinen Gegenwind mehr, der auch nur ein scheinbarer war. Das macht nämlich, wir sind aus dem Windfange heraus, jetzt treibt uns der Sturm, und nun soll uns einmal Jemand auf dieser Kegelbahn holen.«

An dem auf Dick's Rücken liegenden Munro huschten die Felsen wie Schatten vorbei. Dieser Sturm direct im Rücken, dieser steinharte, wie asphaltirte Boden, auch noch etwas geneigt, dazu zwei flinke, sehnige Beine und eine gesunde Lunge — die doppelt belastete Maschine fuhr fast mit Eilzugsgeschwindigkeit. Wie eine angeschlagene Saite ausklingt, so erstarb hinter ihnen das Geheul, nun mochten sie nach ihren weit entfernten Pferden laufen; wenn nichts brach, bekamen sie die Entschlüpften durch einfache Verfolgung nicht wieder. Ein grosses Glück freilich war es, dass die Indianerhunde nur das Lager bewachen, nicht aber auf Jagd oder Verfolgung abgerichtet sind.

Es brach nichts. So ging es in rasender Flucht zwei Stunden dem Süden zu, dann aber verlangsamte sich die Fahrt immer mehr.

»Weiss Gott, ich kann nicht mehr,« keuchte Dick; »ich bin's' nicht mehr ge ....... —; 's ist ja zum ersten Male, dass ich's probire, wollte ich sagen. Nehmen's Euer Gnaden nicht übel, wenn ich einen Augenblick verschnaufe. Passen Sie auf, nach links kippe ich um.«

Er kippte um und als seine Füsse den Boden berührten, liess er ein schmerzliches »Au!« hören. Aber das kleine, dürre, bloss aus Knochen, Sehnen und Haut bestehende Kerlchen brauchte wirklich nur einen Augenblick Ruhe.

»Jetzt steigen Sie auf — klettern Sie nur hinauf' — so — treten Sie los — Sie ziehen und ich schiebe — ich halte Sie schon fest — immer treten, Euer Gnaden, nur das Treten nicht vergessen, mir bringt das Laufen wieder das Blut in die Beine — und eine Lunge habe ich nicht — kann deshalb auch keine Schwindsucht bekommen.«

»Das geht ja ganz famos,« brummte Sir Munro bereits; und seitwärts hinter ihm trabteDick, der ihn nach dem ersten Schwunge nur noch am Gürtel zu halten brauchte; bei solchen Verhältnissen verlor auch der unschuldigste Neuling nicht so leicht die Balance.

Sie hätten jetzt von der Zukunft sprechen können. Wo befanden sie sich? Sie strebten dem Süden zu, mehr wussten sie nicht. Die Strecke, welche sie gestern Nachmittag fortwährend im Galopp durchritten hatten, konnten sie auf vierzig englische Meilen schätzen. Wohin nun in diesem Labyrinth ohne Wegweiser? Dabei ohne Wasser, ohne Proviant, ohne Waffen.

Aber gegenwärtig kam Sir Munro gar nicht auf solch' einen fragenden Gedanken. Dass er auf einem Rad fuhr, nur darauf sass, das bedeutete einen Abschnitt in seinem Leben, das machte überhaupt einen colossalen Eindruck auf ihn, dessen Ursache man gar nicht definiren kann, so wenig es leicht zu erklären ist, wie der Delinquent, ehe er das Schaffot besteigt, noch eine gute Mahlzeit verlangen kann und wenn er auch noch so lange gefastet hat.

»Das geht ja wirklich ganz famos,« wiederholte er schmunzelnd mit wahrhaft glücklichem Gesicht. »Hätte ich doch gar nicht gedacht, dass ...... halt, nicht so schnell, meine Füsse kommen nicht recht mit — — — Dick, nicht loslassen!« setzte er erschrocken hinzu, als er des Führers Hand nicht mehr am Gürtel fühlte und sofort kam er in's Wanken.

»Ich habe die Maschine fest am Sattel,« sagte aber Dick neben ihm und gleich hatte Munro die Balance wieder. »Also etwas langsamer — treten, Euer Gnaden, immer treten — und die Lenkstange nicht so fest anpacken — ganz leicht, ganz locker — treten, Euer Gnaden, das Treten nicht vergessen, sonst bleibt die Karre stehen — und vor allen Dingon die Lenkstange nicht so krampfhaft anpacken.«

»Warum denn nicht?«

»Weil — weil — weil sie doch sonst zerbrechen könnte. Das habe ich Alles vorhin herausgebracht. Treten, Euer Gnaden. Aber nicht wahr; das Depositum ziehen Sie mir nicht ab, weil ich ......«

»Du bist ein Narr, Dick. Nein, wahrhaftig, das ist ja herrlich!«

»Treten, Euer Gnaden, und die Hände ganz locker auf der Lenkstange.«

»Könntest Du mich nicht einmal ein bischen loslassen? Ich fühle mich schon ganz sicher.«

»Treten, Euer Gnaden,« erklang es weiter hinter ihm; ein furchtbarer Schreck durchzuckte den Baronet ob solcher Kühnheit, dass er schon einige Zeit allein fuhr — und da lag er natürlich sofort auf der Nase.

Lachend erhob er sich wieder, ehe der nachtrabende Dick ihm helfen konnte. Dass er jetzt eigentlich am Marterpfahl stehen musste, auf feurigem Boden und mit glühenden Pflöckchen gespickt, das schien er völlig vergessen zu haben; er dachte gar nicht mehr an die Rothhäute, die ihn verfolgen könnten, nicht an Wassersnoth und andere Gefahren, er war einfach der mit Seligkeit torkelnde Radlerlehrling.

Zuerst aber, ehe er wieder hinaufkletterte, musste der philosophisch angehauchte Baronet gründlich auseinandersetzen, wie er gefahren sei, ohne gehalten zu werden und wie er sofort das Gleichgewicht verlor, als ihm dies zum Bewusstsein kam — und er that, als sei er der Einzige, der diese wunderbare Entdeckung gemacht habe.

Dann wurde die Lection fortgesetzt. Es giebt genug Menschen, welche bei vernünftiger Anleitung schon nach der ersten Stunde ganz hübsch fahren können; zu diesen gehörte Sir Munro, und Dick war ein guter Lehrer, obgleich er doch selbst eben erst diese Kunst gelernt haben wollte. Ja, der Glaube, dass dem wirklich so sei, trug nicht wenig dazu bei, dass Sir Munro überraschend leicht die Sicherheit fand. Der Glaube macht eben selig.

In dieser einen Stunde machte der Baronet alle Phasen des Anfängers durch. Näherte er sich einer Felswand auf drei Meter, so musste er hinfahren und seine Hände darauf abdrücken; gelegentlich fiel er auch seinem Lehrmeister um den Hals; der Boden war arm an losen Steinen, lag aber einmal einer da, musste er natürlich gerade nach dorthin abbiegen und darüber fallen; trat aber nun gar eine grössere Felsmasse in den Weg, dann war die magnetische Anziehungskraft eine ganz colossale, und Sir Munro hatte genug zu philosophiren.

Doch es ging immer besser. Schon liess er den Körper mit nach der Seite fallen, nach welcher das wankende Vorderrad ausbog, und als er das erst heraus hatte, da machte er rapide Fortschritte. An Umlenken, Abspringen und Aufsteigen war freilich noch nicht zu denken.

»Treten, Euer Gnaden, das Treten nicht vergessen, und die Lenkstange locker! Denken Sie immer, die Lenkstange sei die Nase Ihrer Geliebten; an die würden Sie sich auch nicht so krampfhaft mit den Fäusten anklammern.«

»Na, wenn mich jetzt Ellen sähe, was würde die sagen,« lachte Manro.

»All Heil!« rief eine tiefe Stimme, und diesmal lag der Baronet gleich glatt auf dem Rücken und winkte mit den Füssen dem hinter einem Felsen hervortretenden Starke die Begrüssung zu.

»Famos, Starke, haben Sie gesehen, wie ich schon fahren kann?« rief er glückstrahlend, und dabei zappelte er noch mit den Beinen in der Luft.

Wie er sich wieder erhoben hatte, kam er auch auf andere Gedanken, und Starke war über neugierige oder spöttische Fragen erhaben, er wollte wissen, was geschehen sei und wie die Beiden hierher kämen, und wenn ihm etwas zu lang wurde, forderte er grob zur Kürze auf.

Solche Kleinigkeiten, dass ihm der Häuptling ins Gesicht gespuckt hatte, brauchte Sir Munro also gar nicht zu berichten.

»Es ist ja gar nicht so schwer, wie man immer denkt,« musste er doch schliessen, »denken Sie nur, Dick konnte es sofort, konnte sogar beim Fahren auf dem Kopfe stehen — na, und ich bin auch schon ein ganz flotter Fahrer, Sie haben's doch gesehen — dass ich vorhin grade herunterfiel, das kann auch dem geübtesten Fahrer einmal passiren — und einfach herrlich ist's, grossartig, es giebt ja gar nichts Schöneres als ...«

Sir Munro brach plötzlich ab, es mochte ihm etwas einfallen, nicht gerade, dass ihn eine Mücke steche, weil er so schnell an seine Halsbinde griff.

Starke warf dem Diener nur einen Blick zu, und da sah er in diesem Augenblick allerdings etwas Merkwürdiges: der hinter seinem Herrn stehende Dick griff sich in den Mund, zog seine Zunge mindestens einen Fuss weit heraus, sie musste unbedingt von Gummi sein, und liess sie zurückschnellen. Aber auch das brachte auf Starke keinen Eindruck hervor.

»Und Bill, der Cowboy.«

»Himmel Herrgott!« rief Munro entsetzt. »Der Unglückliche! Ich habe noch gar nicht an ihn gedacht! Wir müssen ihn sofort ...«

»Wir müssen ihn seinem Schicksale überlassen. Geht nicht anders. Er ist auch mehr Indianer, wird zu sterben wissen, seine Rache soll er haben, sie gehört mir. Miss Howard befindet sich mit Hassan, dem Reporter, Somaja und drei Cowboys in Sicherheit in der sogenannten Cisterne. Haben Sie das Aussehen dieses grossen Felsens, in dem Sie sich mit Wasser versahen, noch im Kopf?«

»Jawohl, die Cisterne kenne ich, aber wie den Weg finden ...«

»Sehen Sie dort in der Ferne den spitzen Thurm der Kirche? Ja? Direct darauf zu, dann kommen Sie wenigstens daran vorbei und man wird Sie schon anrufen. Steigen Sie hinten auf's Rad, Dick mag fahren, dann sind sie in spätestens zwei Stunden dort.«

Und Starke wandte sich schon zu gehen. Kein einziges Wort der Erklärung seinerseits. Munro schüttelte seine Verblüfftheit über solch' ein Verhalten ab, rannte ihm nach und hielt ihn fest.

»Ja, aber Starke, so sagen Sie doch ...«

»Halten Sie mich nicht auf, ich eile nach Fort Lamarie und hole Hülfe herbei. Jeder verlorene Augenblick ist unersetzlich.«

Er riss sich von dem Baronet förmlich mit Gewalt los.

»Ich habe Durst, wir haben kein Wasser.«

»Ich auch nicht. Halten Sie noch zwei Stunden aus.«

Der seltsame Mann liess sich wirklich durch nichts aufhalten, Munro sah ihn schon im Trab laufen. Da aber wurde er noch einmal von Dick eingeholt.

»Starke, nur ein Wort, ich muss Ihnen etwas Wichtiges mittheilen.«

Der Gerufene blieb noch einmal stehen.

»Was giebt's? Aber kurz.«

»Sind Sie der Mann, welcher blitzen kann, ohne zu donnern?«

»Die Indianer sagen so, weil ich einmal sehr schnell mit dem Messer war. Na, was ist denn nun! Wir sind hierin der Prairie, nicht im Conversationszimmer.«

»Pst, ich will Ihnen etwas sagen, aber nichts verrathen,« und Dick reckte sich an dem grossen Mann empor, der ihm auch willig das Ohr neigte, und Dick flüsterte: »Und ich kann donnern, ohne zu blitzen.«

»Narr Du!« gab Starke nur zur Antwort, setzte seinen Trab fort und verschwand hinter den Felsen. Aber wenn Ellen ihn jetzt beobachtet hätte, würde sie erkannt haben, dass diese ernste Steinfigur dennoch eines Lächelns fähig war.

»So ein merkwürdiger Mensch!« meinte Munro kopfschüttelnd. »Kein Wort ist aus ihm herauszubringen, was denn eigentlich geschehen ist, was wir zu erwarten haben, zeigt uns den Weg wie ein Stadtpolizist und fort ist er wieder. Angerufen sollen wir werden? Von wem? Sollte die Cisterne nicht von Indianern umgeben sein? Ja, da hilft es wohl nichts, wir müssen die Anweisung eben befolgen, und schliesslich, drohte uns eine Gefahr, wäre die Luft nicht ganz rein, so würde Starke doch davon auch etwas gesagt haben.«

Sie setzten also unbekümmert die Fahrt fort, sich nach der fast immer sichtbaren, natürlichen Kirchthurmspitze richtend. Mit dem Gefühle der Sicherheit kehrte aber auch dem frischgebackenen Jünger des edlen Radsports die Lust an der Kunst zurück, er stellte sich nicht wieder hinten drauf, sondern fuhr selbst; der lungenlose Dick trabte daneben.

»Das kann doch gar nicht so schwer sein, das Bein herüberzuheben, auf der Seite zu sitzen und nur mit einem Fusse zu treten, wie Du es auch gleich konntest,« meinte Munro schon im Bewusstsein seiner Balancesicherheit.

»Probiren es Euer Gnaden lieber noch nicht, ich konnte es gleich, weil ich als früherer Kunstreiter so etwas gelernt habe.«

Munro machte dafür ein anderes Kunststück.

»Au — das ist doch gar nicht so einfach, mit dem Rade stehen zu bleiben,« sagte er kläglich, als er mit zerplatzter Hose am Boden lag.



23. Capitel.

Ohne Wasser.

Ermüdet war Ellen neben dem Lager des fiebernden Somaja eingeschlafen. Als sie erwachte, schien die Sonne schon schräg durch die Wandöffnungen. Sie hatte einmal durchgeschlafen, ohne von dem Stundenplane im Traume gestört zu werden. Somaja ass, Ellen erkannte ihren eigenen Proviant, der sechste und letzte Theil desselben war für sie reservirt worden. Zwei Cowboys hingen den Pferden die Hafersäcke vor, aber nicht lange, bald nahmen sie sie wieder ab; der dritte und der Reporter befanden sich nicht in diesem Raume.

»Deadly Dash ist gegangen,« sagte Somaja.

»Deadly Dash? Wer ist das?« fragte Ellen erstaunt.

»Mr. Starke.«

Während sie am Dacotah krank gelegen, war sie kaum mit den Cowboys zusammengekommen, deshalb hatte sie noch nie diesen Namen gehört.

»Ich weiss es, ich war noch wach, als er ging.«

»Wir könnten es vier Wochen lang hier aushalten. Aber in spätestens acht Tagen schon wird Deadly Dash wieder hier sein und keine Rothhaut wird ihm entkommen.«

Entsetzt sprang Ellen auf. Ganz zufällig hatte sie beobachtet, wie nur vier Pferde den Futtersack erhielten, das eine nicht; mit diesem machten sich die beiden Cowboys zu schaffen; plötzlich stürzte es nieder, furchtbar um sich schlagend, ein Blutstrahl schoss durch den ganzen Raum.

»Es wird geschlachtet,« erklärte Somaja, »Es weht ein starker sehr trockener Wind, das muss benutzt werden, um Fleisch zu trocknen. Da haben wir gleich Proviant für die acht Tage.«

Ellen ging hinauf, um der Schlächterei nicht beizuwohnen. Die Sicherheit, mit welcher der Prairiejäger auf Starke baute, hatte sie äusserst beruhigt. Deadly Dash! Und Deadly Dash würde auch Sir Munro befreien, vielleicht auch die anderen Beiden, denn er hatte ihr versprochen, sein Möglichstes zu thun, wenn sie noch lebten, und Sir Munro lebte noch, sie wusste es, fühlte es.

Wasser und Proviant war vorhanden. Was hatten da die acht Tage Belagerungszustand zu bedeuten? Eine angenehme Ruhepause, ein interessantes Abenteuer mit hübscher Erinnerung. Sie lachte. Jetzt würde es also Pferdefleisch geben, wahrscheinlich roh oder nur mürbe geklopft, denn wo soll man es hier braten. Die Ursache der Reise, die Wette, hatte sie schon fast vergessen. Aber die Lady Barrillon wollte sie doch noch sprechen .......

In der Mitte der Plattform stand Mr. Schade, den Photographenapparat zum Abknipsen bereit; an der Balustrade kroch gebückt der wachehabende Cowboy entlang, das erbeutete Gewehr im Anschlag.

Der Reporter steckte den Apparat in den Kasten und begrüsste Ellen.

»Ich lauere hier nun schon drei Stunden, um eine auf dem Kriegspfad schleichende Rothhaut zu photographiren. Ist absolut nichts zu sehen. Ich glaube überhaupt, es ist gar Niemand mehr da.«

Ellen mochte es auch fast annehmen. Nichts Lebendes zu sehen, kein Laut, kein Stampfen eines Pferdehufes zu hören.

Wo sollten die Belagerer denn Wasser und Proviant herbekommen?

»Daran dachte ich auch. Der Cowboy meint, das wüssten die Indianer schon zu finden, und wenn's auch nur eine Pfütze wäre; das genügte ihnen und hungern könnten die. Die wichen nicht von hier, als bis sie uns lebendig hätten — oder bis wir durch sind. Aber gehen Sie lieber nicht so nahe an den Rand, der Cowboy warnt immer.«

Pfuff! Der Cowboy hatte geschossen, wonach, sagte er nicht, er knurrte verdriesslich und zu sehen war nichts.

Eine Stunde verging, während welcher Ellen die anderen Kammern des hohlen Felsens durchstrich, ohne einen Ausgang zu finden; sie versuchte mit dem gefangenen Indianer anzuknüpfen, dessen Bande gelockert worden waren, der sich aber beharrlich schlafend stellte, Speise und Trank verschmähte; jetzt konnte sie auch zusehen, wie ein Cowboy dem bereits abgehäuteten und zerlegten Pferd lange Fleischstreifen abschnitt. Das Wasser lief ihr dabei freilich nicht gerade im Munde zusammen.

Der andere Cowboy kam die Treppe herauf.

»Der Hund will nicht fressen und nicht saufen, erst knurrte er mich an, dann winselte er. Ich hab's ihm hingelegt, aber er rührt nichts an, ich habe ihn heimlich beobachtet. Als Deadly Dash am Dacotah fort war, hat der Hund sich doch von uns füttern lassen? Ich glaube, der will verhungern.« Ellen erschrak ob ihrer Vergesslichkeit. Hassan war ja der treueste Wächter, und der lag jetzt einsam unten an der Treppe.

Sie eilte hinab und wurde von Hassan mit stürmischem Schwanzwedeln begrüsst. Neben ihm lag rohes Fleisch und stand Starke's ziemlich grosser Theetopf mit Wasser gefüllt, aber der Hund hatte nichts angerührt. Verschmähte er Pferdefleisch?

»Trink und iss doch, Hassan,« sagte sie unter Liebkosungen — und sofort soff und frass der Hund mit ungewöhnlicher Gier.

Ellen konnte nur staunen. Starke hatte ihr kein Wort davon gesagt, wie sie den Hund behandeln solle. Vielleicht, dass er es für selbstverständlich hielt. Wollte Hassan die Nahrung nur aus ihrer Hand nehmen oder doch von ihr, der Stellvertreterin seines Herrn, dazu aufgefordert sein? Warum aber hatte er denn am Dacotahstrome willig von den Cowboys das Futter angenommen? Vielleicht, weil sie selbst damals durch Krankheit unfähig war, ihm dasselbe zu reichen?

Dieser Beduinenhund war und blieb ihr ein Räthsel, gerade so wie sein Herr.

»Sind draussen noch Indianer?« fragte Ellen.

Hassan liess das Stück Fleisch aus dem Munde fallen, sein Auge nahm einen starren Ausdruck an, wie er nach dem Ausgange blickte, und knurrte leise.

»Wird Dein Herr zurückkommen?«

Sofort wechselte der Ausdruck des Auges, Hassan wedelte freudig mit dem Schweif.

Konnte sich denn ein Thier deutlicher ausdrücken? Er musste den Inhalt der Frage unbedingt aus dem Tonfall heraushören. Ellen wollte ihm eine Falle stellen, um sich diesen Beweis zu verschaffen.

»Nicht wahr, ich könnte ganz ruhig hinausgehen,« sagte sie im heitersten Tone.

Vergebens. Hassan blickte sie aufmerksam an, dann knurrte er grimmiger als zuvor, fuhr mit dem Kopfe schnappend nach der Richtung des Ausganges, und Ellen wusste nicht mehr, was sie sagen sollte.

Etwas Anderes fiel ihr ein. Starke hatte doch gesagt, Hassan nähme kein Wässer, in welches irgend ein Mensch absichtlich seine Hand getaucht habe, während es ihn nicht genire, wenn aus Versehen das Wasser mit der Hand in Berührung gekommen sei — ein Räthsel, welches sich auch Starke nicht erklären könne, besonders das nicht, wodurch denn der Hund diesen Unterschied sofort herausfinde, ohne es gesehen zu haben.

Hassan hatte das Gefäss schnell mit einigen Zungenschlägen geleert und schien noch Durst zu haben; bei den Pausen im Fressen leckte er noch mehrmals auf dem Grunde des Topfes. Dieser war sehr voll gewesen, der Cowboy würde ihn wohl schwerlich, wie ein gelernter Kellner, getragen haben, er hatte doch jedenfalls mit den Fingern über den Rand in's Wasser gegriffen. Das hätte also für den stolzen, aber sonst nicht verwöhnten Hund nichts zu sagen gehabt.

Ellen mochte es nicht glauben, dass der Hund solch einen Unterschied, eigentlich doch nur einen psychologischen, instinctiv erkenne.

»Willst Du noch Wasser haben?« fragte sie, und Hassan freute sich jetzt schon.

Sie ging also in die Brunnenstube, den Kessel mitnehmend, füllte ihn am Lasso mit Wasser und tauchte in dieses ihre ganze Hand.

»Er wird es nicht merken, es ist nicht möglich,« sagte sie sich dabei.

Nachdem sie die Hand sorgfältig wieder getrocknet hatte, trug sie den Napf hinab, freudig von Hassan wieder begrüsst.

Der Hund hatte Durst, er wollte sich sofort über das Wasser machen — da, er stutzte, er wich zurück, warf Ellen einen Blick zu und brach in das jämmerlichste Heulen aus, das Ellen je von einem Hunde gehört hatte.

Sie war mehr erschrocken als erstaunt, besonders über diesen Blick des Hundes. Das war kein thierischer gewesen. Ja, sie hatte das Auge eines Mensehen gesehen! Und dieser Hund heulte nicht, er klagte; er weinte schmerzlich. Ellen meinte herausgefunden zu haben, dass Starke an Seelenwanderung glaube. Er hatte Andeutungen gemacht. Aber deswegen gefragt, hatte er sehr kurz erklärt, dass er nicht über Religion spreche, weil er sich nicht zum Apostel berufen fühle. Diese Lehre von der Seelenwanderung — freilich nicht die nach unten, sondern die nach oben, nach der Vollkommenheit — besonders von den sogenannten Theosophen gepflegt, ist viel verbreiteter als die, welche sich nicht darum kümmern, vielleicht annehmen. »Vielleicht hat die Orthodoxie bald mit dieser Secte als mit einer gefährlichen Macht zu rechnen. In Nordamerika bekennen sich schon Hunderttausende zu dieser neuen und doch uralten Lehre von der individuellen Wiedergeburt mit Weiterentwickelung, von der Pflanze zum Thiere, vom Thiere zum Menschen — vom Chaos der Materie bis nach Nirvana. In London haben die Theosophen einen Club, dem die bedeutendsten Männer angehören; dort findet man wahre Nächstenliebe, freilich ohne jede Gefühlsduselei und da fast alle grossen Geister diesem Glauben mehr oder weniger gehuldigt haben — ein Kant, ein Schopenhauer — so werden die kleineren Geister mit allem Geschrei und Hohngelächter diese Entwickelung nicht hemmen.«

Nur so hatte Starke einmal gesprochen, ohne sich selbst als Anhänger dieser Lehre zu bekennen.

Wenn nun etwas Wahres daran war oder wenn hier eine Wahrheit geahnt wurde, so hatte Ellen vielleicht einen »Ueberhund« vor sich, dessen Seele sich bei ihrer nächsten Incarnation nach langem Todesschlafe mit einem menschlichen Körper umhüllte.

Wie der geliebten Person, der man mit einem Scherze wehe gethan hat, bat sie dem Hunde ihr Vergehen ab und Hassan verzieh ihr schnell, leckte ihre Hand und soff das Wasser.

Nachdem sie sich noch einige Zeit mit ihm unterhalten hatte, begab sie sich wieder eben auf den Felsen und schaute zu, wie die Cowboys an einem ausgespannten Lasso die Fleischstreifen zum Trocknen aufhingen. Solches Hin- und Herwandern würde wohl die ganzen acht Tage ausfüllen. Dann konnte sie auch ihr Tagebuch ausführlicher bearbeiten.

Ein Cowboy stiess einen Ruf aus und deutete mit der Hand, Ellen folgte der Richtung, sie glaubte nicht richtig zu sehen, sie beschattete die Augen, aber das Phantom blieb — dort zwischen den Felsen rannte Dick und vor ihm fuhr — es war und blieb Thatsache, fuhr Sir Munro — auf einem Zweirad!

»Es — ist — nicht — möglich!« rief Ellen.

Mit sechs Knoten Fahrt kam er, von dem Winde getrieben, heran.

»Hütet Euch!« schrien die Cowboys, an die Balustrade springend. Die Beiden dort unten waren, wenn es die Indianer auf sie abgesehen hatten, so wie so verloren, sie konnten jene nicht decken, hofften nur einen guten Schuss anzubringen.

Aber Munro sah keine Gefahr, er sah nur die Menschen dort oben auf dem Felsen, deren Stimmen er gehört hatte, darunter auch Ellen.

»Ellen, ich kann's schon ganz — — — — — famos!« jubelte er, war aber auf solches »In-die-Höhe-blicken« noch nicht eingeübt, das etwas wankende Rad verlor vollends die Balance, bei dem »famos« lag Sir Munro bereits neben der Maschine.

»Schnell, hier herein, in die vierte Oeffnung!« schrie Somaja, welcher auf die Plattform, geeilt war.

»Ja ja, ich komme schon — ich kann's aber schon ganz gut.«

Dann waren die Beiden nicht mehr zu sehen, man hätte sich dann über den Rand hinausbiegen müssen, und Ellen wurde daran von Somaja's gesundem Arme gehindert. Hassan schlug freudig an, sein Bellen leitete die Ankömmlinge, Munro schob schon sein Rad durch die Passage, als ihm Ellen entgegen eilte.

»Robin — schnell hierher, hier sind Sie keinen Kugeln mehr ausgesetzt — Robin, ist es möglich?!«

Munro staunte, wo denn eigentlich die Gefahr stecke, welchen Kugeln er ausgesetzt sei — Ellen staunte, alle Anderen staunten. Es gab keine andere Erklärung, als dass die unsichtbaren Feinde die Ankömmlinge eben als unschädlich in die belagerte Festung gelassen hatten, jedenfalls aber nicht wieder hinausliessen. Ganz räthselhaft wurde es jedoch, als dann später Munro seine Begegnung mit Starke erzählte. Dieser musste doch offenbar schon bestimmt gewusst haben, dass die Beiden die Reihen der Indianer ungehindert passiren konnten. Aber woher das Starke wusste, das konnte man später nur von ihm selbst erfahren. Hatte er doch auch kein Wort darüber verloren, dass er etwa auf der Spur der Vermissten gewesen sei.

Jedenfalls waren die Beiden jetzt drin in Sicherheit, und Ellen war glücklich, Munro gesund wiederzusehen, sie that sich keinen Zwang mit Verstellung an. Munro hatte gar viel zu erzählen, nicht minder Ellen, sie brauchten viele Stunden dazu. Nur von dem Spucken des Häuptlings erwähnte Munro nichts, und Dick hatte seine Verschwiegenheit beschworen.

»Und Sie haben jetzt also Ihre Ansicht über das Radfahren geändert,« kam Ellen endlich auch auf dieses Thema, »Sie haben es während Ihrer Flucht schon recht hübsch gelernt.«

»Irren ist menschlich,« begann Munro eine langathmige Erklärung, in der er bewies, dass sich des Menschen Anschauungen immer erweitern und daher ändern; aus dem Wüstling kann ein frommer Asket werden, aus dem Verschwender ein Geizhals, aus dem Spitzbuben ein Tugendbold, aus dem Antiradler ein Radlerfreund, es muss nur der Anstoss dazu kommen, und wenn sogar der Teufel, der doch über alle Schätze der Erde gebietet, manchmal so in Noth kommen kann, dass er Fliegen frisst, dann sei es dem Baronet doch nicht zu verdenken gewesen, wenn er hinten auf solch eine Höllenmaschine geklettert wäre, ehe er sich lebendig schinden liess.

»O ja, das Rad ist unbedingt eine schöne Erfindung, man muss die Geschichte nur einmal probiren, es hebt das Körpergewicht auf, der Mensch wird zum leichtbeschwingten Vogel ...«

»Besonders wenn der Mensch herunterfällt,« spottete Ellen.

»... und eins will ich Ihnen sagen,« fuhr der begeisterte Munro unbeirrt fort, »erinnern Sie sich meiner Worte: Das Rad hat noch eine grosse Zukunft.«

»Was Sie nicht sagen! Sie kommen aber etwas spät mit Ihren prophetischen Worten. Sie haben wohl noch nie eine Radfahrerzeitung in der Hand gehabt.«

»Ich werde mir gleich morgen eine kommen lassen. Jetzt will ich aber erst umlenken lernen und aufsteigen und absteigen, daran hapert's noch bei mir — nur das Herunterfallen kann ich wunderschön — der Saal hier eignet sich ja prachtvoll dazu — denken Sie, Dick konnte sofort auf dem Kopfe stehen, das muss ich auch lernen, Zeit genug habe ich ja dazu — Dick halte das Rad.«

»Und Sie wären wirklich noch nie Rad gefahren, Dick?«

Dick war gleich bereit, seine Aussage zu beschwören.

»Lassen Sie nur, Sie glauben doch an nichts, und ich will Sie nicht zum Meineid verleiten.«

Ellen holte ihr Rad, es war ja auch das von Starke vorhanden, der Reporter und Dick bestiegen es abwechselnd, die Brunnenstube wurde zur fröhlichen Radlerschule, trotz aller draussen lauernden Rothhäute.

Nach längerer Uebung war Munro zum ersten Male hinaufgekommen, gleich darauf klebte er an der Wand.

»Was halten Sie sich denn da an der Wand fest?« lachte Ellen.

»Festhalten? Mich? Ich treibe nur geologische Studien. Das ist Quarz,« er kam wieder frei und schlug anderswo mit den Händen gegen die Wand, »und das ist auch wieder Quarz — merkwürdig, alles Quarz — so, nun kann's weitergehen, links herum. Warten Sie nur, Miss Ellen, in acht Tagen fahre ich mit Ihnen durch Feuer und Wasser ...«

»Werfen Sie sich nach rechts! Springen Sie ab!« schrie Dick, die Katastrophe schon kommen sehend; er sprang hinzu, kam aber zu spät, erwischte nur noch die Maschine, Munro war dem Brunnenloch zu nahe gekommen; nun wirkte dieses erst recht magnetisch, wohl war er schnell abgesprungen, schoss taumelnd vorwärts und verschwand in dem Cisternenschachte. Das Wasser spritzte auf.

»Um Gottes Willen Robin!« rief die tödtlich erschrockene Ellen, an dem Loche auf den Knieen liegend. »Leben Sie noch?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben, ja, vorläufig noch,« erscholl es mit Grabesstimme herauf. »Sehen Sie, mit dem Wasser fange ich schon an.«

Alles lachte aus vollem Halse. Dann konnte das Unglück nicht schlimm gewesen sein. Zwei Lassos wurden hinabgelassen, Munro sollte sie sich unter die Arme befestigen.

»Lassen Sie nur, lassen Sie nur, mir gefällt's hier unten ganz gut. Wollen Sie nicht ein bischen mit herunterkommen, Miss Ellen? Hier ist's so hübsch kühl.«

»Gestatten Sie, dass ich eine Blitzlichtaufnahme mache, bitte, recht freundlich,« rief der Reporter in den finsteren Schlund. Dazu kam er freilich nicht, aber das Lachen wollte kein Ende nehmen, als der triefende Munro wieder das Licht der Welt erblickte. Noch nach Stunden verstieg sich selbst der von Schmerzen geplagte und sonst immer verdriessliche Somaja zu dem Witz, dass das Brunnenwasser doch recht nach Bouillon schmecke.

In solch' heiterer Laune verging der ganze Nachmittag. Ellen war glücklich, einen Gesellschafter gefunden zu haben, mit dem sie sich unterhalten konnte, und es war doch eben Sir Munro, ihr alter Ereund mit seinen schlagfertigen Antworten. Erst die anbrechende Nacht machte der Radlerschule ein Ende, morgen sollte sie fortgesetzt werden. Die Cowboys hatten über das Zusehen und Lachen ganz das Abendbrot vergessen, welches heute noch einer längeren Zubereitung bedurfte, im Finsteren mussten sie die Fleischstreifen mit Steinen mürbe klopfen. Denn das Petroleum der Radlampen wollte man für alle Fälle sparen, erleuchtete Fenster waren überhaupt nicht gut.

Das starke Klopfen dröhnte in dem ganzen Felsen wieder, dazwischen noch immer Scherze und Lachen.

»Still, Hassan bellt!« rief da Ellen, und das Klopfen verstummte.

Hassan schlug an, bellte vielleicht schon lange, man hatte es überhört.

Somaja bestieg die Plattform, Ellen begab sich hinab. Jener gewahrte nichts, und Ellen verstand den Hund nicht, welcher unausgesetzt bellte und die grösste Unruhe zeigte.

Das wurde mit der Zeit unheimlich. Hier drohte offenbar eine Gefahr, Hassan bellte nicht umsonst unausgesetzt so drohend, und die Gefahr war nicht zu erkennen.

»Wir wollen essen,« entschied Ellen, an Starke denkend, der ihr eingeschärft hatte, die Oberleitung nicht aus ihren Händen zu lassen, und in diesem Augenblicke dachte sie auch daran, dass sie die Klauen des erlegten Bären als Ehrenzeichen trüge und dass Starke ein kräftiges Essen als Haupterforderniss betrachtete, um Strapazen und Gefahren mit Gleichmuth zu bestehen.

Es war eine ganz eigentümliche Ideenverbindung, wenn Ellen gleichzeitig auch an ihr Verhältniss zu Starke und zu Sir Munro dachte. Das plötzliche Erkennen einer Gefahr erzeugte sie.

Ihr Entschluss war fertig gewesen, ein weiblicher Rad-Weltbummler zu werden, an seiner Seite, als sein Freund, als sein ständiger Begleiter. Nicht jene andere Liebe mehr, sie wollte entsagen. Das Weib entsagt überhaupt viel leichter als der Mann, und wenn man mit offenen Augen und Ohren durch die Welt geht, merkt man, wie es so viele Jungfrauen giebt, welche den Traualtar nicht als das höchste Ziel ihres Lebens betrachten, welche sich unbestimmt oder mit Bewusstsein nach der Entsagung sehnen, und dabei spielt Stand oder Bildung gar keine Rolle; man findet dieses Sehnen nach Entsagung in allen Schichten, bei der langsamen Norwegerin wie bei der heissblütigen Creolin. Lieben, ja, das müssen sie, sie wollen den Geliebten küssen, immer küssen, aber nicht sich ihm hingeben, nicht durch Heirath — dann möchten sie fliehen und nur noch in der Ferne an ihn denken, ihm schreibend. Und man sollte diese sogenannte platonische Liebe nicht immer lächerlich machen; das ist ein tiefes Geheimniss im Busen des keuschen, ernst angelegten Weibes, und der reifere Geist, der ernst darüber nachdenkt, wird diesem Geheimniss auch auf den Grund sehen: es ist das dunkle Streben nach Erlösung der Menschheit, nach Befreiung von dem Fluche, welcher dem Apfelbiss gefolgt ist.

Dass dieses dumpfe Sehnen nach Entsagung so selten als Wille zur That wird, das ist wiederum eine Folge der Führung einer weisen Natur, und es ist auch ein grosser Unterschied, ob man dabei eine alte Jungfer wird oder ein heiteres Kind bleibt. Aber es giebt schon solche alte Jungfrauen, denen das Bewusstsein, das Ihrige zur Erlösung beigetragen zu haben, im reinsten Glücke aus den Augen strahlt.

Und Ellen besass den hohen Geist und den festen Charakter, eine Entsagung mit lächelnder Freudigkeit durchzuführen. Wenn sie Sir Munro wieder sehen würde, was ein gütiger Gott ihr gewähren möchte, hatte sie ihm mit ernsten Worten ihren Entschluss offenbaren wollen. Ja, sie liebte jenen Anderen, ihm gehörte ihr Herz. Aber Munro brauchte nicht eifersüchtig zu sein. Die allermodernste Nonne — auf dem Rade. Er brauchte sich nicht einmal jener anderen, der höheren Eifersucht hinzugeben. Er konnte ja der Dritte im Bunde sein. Jeden wollte sie als ihren Freund willkommen heissen, der die Ordensregeln unterschrieb. Ein radelndes Kloster.

Himmelstürmender Geistesflug —
Verspottet mir nicht das träumende Kind ...

Nein. Ein tüchtig rechnender, braver Kaufmannslehrling kann dereinst der umsichtige Director einer grossen Actien-Gesellschaft werden. Aber die unsterblichen Apostel der Menschheit konnten fast Alle nicht rechnen, verträumten ihren Vortheil im Waldesschatten oder in der Dachkammer.

Nun war Sir Munro auf dem Rade angekommen, und man hatte gelacht. Das Lachen tödtet, und es hatte auch Ellen's Gedanken getödtet. Jetzt, im Bewusstsein der Gefahr an jenen hohen, eisernen Mann denkend, den sie sich zum idealen Vorbild nahm, kamen sie wieder.

Schweigend assen sie im Finstern. Das unausgesetzte Bellen des Hundes liess einen Scherz über dieses Pferdefleischdinner nicht aufkommen, und dann waren die Beiden doch keine Menschen, welche sich durch schlechte Witze gegenseitig das Essen verderben, und die Cowboys fanden nichs dabei. Allerdings wurde an die Engländer eine starke Anforderung gestellt. Keine andere Nation verabscheut Pferdefleisch so als die englische, in ganz England giebt es keine einzige Rossschlächterei zum Bedarf für Menschen, der Engländer isst überhaupt kein rohes Fleisch. Und nun hier gar rohes Pferdefleisch! Ob Sir Munro wirklich ass, war sehr zweifelhaft. Ellen aber war schon so weit, dass, wenn Starke ihr gesagt hätte, sie müsste mit Eidechsen und Spinnen vorlieb nehmen, sie mit Appetit Eidechsen- und Spinnensalat verzehrt hätte.

Da — ein Ton — auch das schmatzende Kauen eines Cowboys verstummte.

Tick—tick—tick, ging es im Felsen.

»Sie meisseln einen Tunnel,« flüsterte Ellen sofort, wurde aber weder von Somaja noch von den anderen Cowboys verstanden. Das war doch fester Stein, und ganz unbekannt war ihnen, dass Rothhäute auch nur eine Ahnung davon hätten, solchen zu durchbrechen, sie wussten selbst nichts davon, und als ihnen Ellen erklärte, was sie meinte, gaben sie ganz richtig zur Antwort, dass, wenn es wirklich so wäre, die Feinde dadurch doch gar nichts erreichten, dann habe man eben nur einen zweiten Eingang zu bewachen, jeder sichtbar werdende Kopf würde einfach eingeschlagen.

Doch das Durchmeisseln des Felsens ging überhaupt über ihre Begriffe; weil es eben nicht Indianerart war, wussten auch jene nichts davon.

Das unheimliche Ticken währte fort, gewiss, es wurde am Felsen mit eisernen Werkzeugen gearbeitet, das musste auch Somaja zugeben. Aber warum? Wo? Sie lauschten an allen Wänden, in allen Kammern, begaben sich auf die Plattform, hier war es noch viel deutlicher hörbar; doch die Stelle, wo gemeisselt wurde, liess sich nicht feststellen, jeder gab einen anderen Ort an, der Stein pflanzte den Schall zu gut fort, und es war stockfinster. Und Hassan heulte immer wüthender.

Ellen suchte ihn auf. Sehen konnte sie ihn nicht, aber der Hund war ausser sich, er riss sie mit den Zähnen an den Kleidern, er sagte ihr etwas und sie verstand ihn nicht, bis sie endlich begriff. Hassan wollte sie ja die Treppe hinaufziehen.

Sie rief einen Cowboy, dieser kam.

»Der Hund will mir offenbar etwas zeigen, er will fort von hier. Bleibe Du hier, bis wir wiederkommen.«

Sie hatte sich nicht geirrt, augenblicklich verstummte Hassan, sie merkte, dass er die Treppe hinauflief; und folgte ihm schnell.

In der Brunnenstube entzündete sie die Radlaterne mit dem einen weiten Strahl aussendenden Scheinwerfer. Hassan war gar nicht hier. Da aber kam er aus einer der Kammern, er mochte schon durch alle gestrichen sein, sich orientirend, er war ja noch gar nicht hier oben gewesen, er strich an den Wänden entlang, stutzend und immer weiter tretend, bis er sicher war; mit starren Augen und leisem Knurren näherte er sich langsam einer bestimmten Stelle der Wand.

»Hier wird gearbeitet, hier höre ich auch das Pochen am deutlichsten,« flüsterte Ellen das Ohr gegen die Wand gelegt.

Hassan verweilte nicht lange, er suchte weiter, fand die zweite Treppe, Alles folgte ihm, Ellen den Strahl der Lampe mit der Hand verdeckend.

Hier schlich der Hund ganz genau in derselben Richtung nach der Balustrade zu, es war eine bestimmte Stelle auf der östlichen Seite. Jetzt wussten sie mit einem Male Alle, dass gerade hier unten gearbeitet wurde.

Der Felsen war also etwa drei Etagen hoch. Nach kurzer Berathung wurde beschlossen, einmal einen Strahl hinabzuschicken, den Boden musste er doch noch erreichen, und vielleicht konnte man doch etwas über die Natur der Gefahr entdecken. Ellen liess es sich nicht nehmen, selbst die Laterne zu handhaben, die Anderen sollten nur aufs schärfste beobachten. Sie lehnte sich also ebenfalls über die Brüstung, den Strahl noch verdeckend, entfernte die Hand, sie drehte die Lampe und liess den Strahl an der glatten Wand entlang gleiten — da blitzte es dort unten etwas seitwärts in der Finsterniss auf, und noch ehe der Knall folgte, war die Lampe in Ellen's Hand zerschmettert; Alles sprang zurück.

»Es ist merkwürdig,« hatte Starke einmal gesagt, »dass die Indianer, welche den Pfeil mit solch' einer Sicherheit entsenden, wie es nicht einmal in den Indianergeschichten geschildert wird, weil man es doch nicht glauben würde, sich nicht mit der Feuerwaffe vertraut machen können, obgleich sie genug vernarrt in diese sind. Sie bleiben immer recht mittelmässige Gewehrschützen, und bei kleinerer Entfernung, wenn es darauf ankommt, greifen sie noch heute lieber zu Pfeil und Bogen. Die Eichhörnchen in den Nordstaaten werden alle mit dem Pfeil geschossen, nur deshalb, weil der rothe Pelzjäger die flinken Thierchen auch mit dem weitesten Streuschrotschuss nicht treffen kann. Wer aber nun gar einmal eins mit der Kugel erlegt, der ist der besungene Held. Ausnahmen giebt es natürlich.«

Dann war dort unten solch' eine Ausnahme. Und dann wollten die Rothhäute die Eingeschlossenen auch lebendig haben, sonst hätte der sichere Schütze dort unten, welcher auf mindestens hundert Meter Entfernung dem Mädchen die kleine Lampe aus der Hand schoss, schon manchen wegputzen können. Unerklärlich war es nur, warum man dann die beiden neuen Ankömmlinge nicht gleich festgenommen, sie erst ungehindert in die Festung eingelassen hatte, denn dass man hier gut verproviantirt war, wussten doch auch die Belagerer.

Was sollte man hier oben? Einer blieb wie gewöhnlich als Wache zurück, die Anderen begaben sich wieder in die Brunnenstube. Hassan war bereits verschwunden, er löste den Cowboy ganz von selbst ab.

Das tickende Hämmern währte fort und fort, man lauschte unausgesetzt; dass man das Vorhaben des Feindes nicht erkannte, war das Allerunheimlichste dabei, und darüber vergass Ellen wiederum, Sir Munro ihre Zukunftspläne auseinanderzusetzen. An Schlafen dachte natürlich Niemand, selbst Somaja überwand sein sich wieder einstellendes Wundfieber.

Eine Stunde nach Mitternacht setzte das Ticken plötzlich aus. Nein, es war keine Pause, es fing nicht wieder an. Jetzt wurde es erst recht, unheimlich, jetzt hatte der Feind seinen Zweck erreicht. Welchen?

Sie durchstrichen mit der zweiten brennenden Lampe und mit schussbereitem Revolver alle Kammern und Gänge, und sie glaubten doch selbst nicht, dass die Indianer sich auf diese Weise einen Eingang zu verschaffen suchten.

Dann stand Ellen wieder«einmal auf der Plattform, neben ihr Munro.

»Was haben Sie?« schrak Ellen zusammen, als er plötzlich nach langem Schweigen ihre Schulter berührte.

»EIlen, durch das Wasser bin ich nun für Sie schon gegangen,« sagte er, trotz der scherzhaften Worte sehr ernst, »was meinen Sie — mir kommt eine Ahnung — diese Indianer kennen doch die Explosionskraft des Pulvers — wenn sie nun unter dem Felsen eine Mine an ....«

Eine furchtbare Detonation erfolgte, dass der ganze Felsen erbebte; aber so leicht war solch ein massiver Berg doch nicht in die Luft zu sprengen, der Boden hielt, es folgte nichts weiter. Ellen war nur vor Schreck erstarrt, und unten schrieen die Cowboys und schlugen die Pferde gegen die Wände.

Da hörte Ellen ein Rauschen, und mit einem Male wusste sie Alles.

»Schöpft Wasser, Wasser! — mit Allem, was ihr habt!« schrie sie, die Treppe hinabstürzend. »Schöpft Wasser, sie lassen den Brunnen ab!«

In der Brunnenstube brannte die Lampe. Die Cowboys mochten noch an den Untergang der Welt glauben; hier unten mochte die Detonation auch noch ganz anders geklungen haben, Ellen allein handelte, war aber doch so verwirrt, dass sie die schon gefüllte Lederflasche am Lasso hinabwarf.

Jetzt hatten die Cowboys die Gefahr erkannt, sie ermannten sich, sprangen herbei, wickelten mit fieberhafter Eile ihre Lassos von den Hüften, knüpften die Ecken einer Lederdecke daran — tief, immer tiefer hinab — diese Lassos sind weit über zwanzig Meter lang und tiefer konnte das Niveau des Erdbodens unmöglich sein, das Wasser konnte also auch nicht weiter abfliessen — und die auf- und abgehobene Decke bekam auch Grund — aber kein Wasser mehr. Demnach musste der Boden der Cisterne noch höher liegen als das Niveau der Umgegend.

Die Cowboys schienen ob dieser Entdeckung erschrockener zu sein als Ellen.

»Nein, es ist nicht gut möglich, dass der Boden so völlig glatt ist, dass das Wasser rein abfliesst,« sagte sie mit erkünstelter Ruhe, »auch die Wände sind überall uneben. Herauf wieder mit der Decke, wir müssen mit den Flaschen jeden Tropfen aus den Löchern zu sammeln suchen; gelingt es nicht, lässt sich Jemand an den zusammengeflochtenen Lassos hinab.«

Ihr Rath wurde befolgt, eine Flasche ging hinab, man hörte sie auf dem Boden scheuern, Ellen leuchtete mit dem Scheinwerfer hinunter, sie sah den weissen nassen Stein glänzen — und da ein Schatten — eine dunkle Hand — und dem Gowboy wurde von unten der Lasso aus der Faust gerissen.

Nun war nichts mehr zu machen, nun war das Schicksal der Belagerten entschieden. Draussen die Feinde und auch im Felsen selbst, im Cisternenschachte; auch der letzte Rest etwa noch vorhandenen Wassers konnte nicht mehr benutzt werden, wer sich hinabliess, glitt ja den Indianern direct in die Hände. Nur noch eine einzige Flasche mit Wasser für die acht Personen — und dann das Blut der schon hungernden Pferde.

Wie die Indianer die Sprengung ausgeführt hatten, wurde gar nicht erörtert, es hatte ja keinen Zweck. Jedenfalls mussten sie oder einer von ihnen genau wissen, wie das Innere des Felsens, die Cisterne, beschaffen war, oder man hatte durch Klopfen herausgefunden, wo die Wand des Wasserbassins am dünnsten war, am nächsten dem Niveau des Erdbodens; stark konnte sie dort nicht gewesen sein, sie hatten in etwa vier Stunden ein Loch gemeisselt und mit Pulver gefüllt; die Sprengung hatte die Scheidewand zertrümmert, und das Ausflussloch war mindestens so gross, dass ein Mann hindurchkriechen konnte. Da sind 500 Cubikmeter Wasser schnell abgelaufen. Der Canal konnte ja aber noch viel grösser sein.

Ellen hatte die Lampe wieder verlöscht, ein minutenlanges Schweigen trat ein.

»Deadly Dash wird zurückkommen und diesen Frevel furchtbar rächen — sie haben den Wüstenbrunnen zerstört, der Tod treffe sie,« brach Somaja endlich das Schweigen, es lag etwas von furchtbarer Feierlichkeit darin, und Ellen erwachte aus ihren Träumen.

»Wie lange können wir es ohne Wasser aushalten?«

»Bis Deadly Dash zurückkommt sicher nicht. Nicht einmal drei Tage. Dann sind wir alle matt wie die Fliegen, und soweit lasse ich's nicht kommen.«

»Was wollt Ihr damit sagen?«

»Mit dem Blute der Pferde ist nicht zu rechnen, das stillt gar nicht den Durst. Ehe mein Thier crepirt und ehe ich matt wie eine Fliege bin, breche ich aus — so oder so.«

»Und was ist unser Schicksal, wenn wir uns ergeben?«

Der Prairiejäger konnte noch lachen, wahrscheinlich machte er im Dunkeln die Bewegung des Scalpirens.

»Das natürlich. Zuerst aber werden sie uns ein bischen kitzeln.«

Ellen hatte genug herausgehört. Aber sie glaubte nicht daran, wenigstens nicht für ihre eigene Person. Dieser indianische Ueberfall wurde von anderer Seite geleitet; nur auf sie war es abgesehen; allerdings konnten die Scalpe ihrer Beschützer als Preis für die Hülfe den Indianern mit versprochen worden sein. Auf den Schwur, bei Auslieferung von Deadly Dash und Ellen sollten die Anderen freien Abzug haben, war bei den Indianern doch nicht zu bauen.

Dann hatte Ellen zuletzt auch noch etwas Anderes überlegt. Zu der Sprengung des Felsens gehörten doch immerhin einige bergmännische oder technische Kenntnisse. Sollte unter ihnen nicht Jemand sein, der mit so etwas Bescheid wusste? Vielleicht gar Jenkins?

»Wie kommt es aber, dass sie da Sir Munro und seinen Diener ungehindert passiren liessen, wenn sie es auf unseren Martertod abgesehen haben?«

»Ich weiss nicht,« knurrte Somaja, »ich weiss auch nicht, dass Deadly Dash nicht daran gedacht hat, wie sie die Cisterne auslaufen lassen können.«

Auch dieser Prairiejäger schien Starke für ein höheres Wesen zu halten, der Alles wissen musste und zum Schutze seiner Untergebenen verpflichtet war.

Der Hund schlug an.

»Es ist nichts, jetzt droht uns nichts Anderes mehr als der Durst; die Indianer versuchen jetzt nichts Anderes mehr, sie werden sich zurückschleichen, das merkt der Hund,« meinte Somaja.

Ellen antwortete nicht, sie war in Gedanken versunken, und doch galten diese dem Hunde, welcher sich schnell wieder beruhigt hatte.

»Der Hund! Wir sind gerettet!« fuhr sie plötzlich aus ihrem Sinnen empor.

Von allen Seiten erschollen zweifelnde Fragen, wieso, durch was denn.

»Sollte Hassan nicht der Fährte seines Herrn folgen können? Still, nicht so laut.«

»Natürlich kann er das,« flüsterte Somaja zurück. »Ha, ich verstehe! Hassan kann sich auch durchschleichen. Aber ob er uns verstehen wird, wenn wir ihn fortschicken wollen? Er wird seinen Posten nicht verlassen. Ja, wenn Deadly Dash hier wäre!«

»Mich wird er schon verstehen,« entgegnete Ellen, schnell wieder die Lampe anzündend. »Sam, gehe hinab, deute ihm an, dass Du unten bleiben willst, er soll herauf kommen. Das kluge Thier wird sofort begreifen, oder ich verkenne ihn ganz. Aber vorsichtig, dass auch kein heimlicher Beobachter etwas davon merken könnte. Und schnell einen Streifen Leder zurechtgeschnitten, den ich ihm um den Hals binde.«

Papier hatte Ellen bei sich, sie liess den Strahl der Laterne auf eine glatte Stelle der Wand fallen, legte dort den Zettel an und kritzelte einige Zeilen darauf, kurz meldend, was passirt sei — ohne Wasser.

Sie war noch nicht fertig, als schon Hassan neben ihr stand, aufmerksam zusehend.

»Somaja glaubt, drei Tage aushalten zu können. Die Cowboys wollen im Kampfe sterben. Jetzt hoffen wir auf Sie. Ihre treue Freundin Ellen Howard.«

So lauteten die Schlussworte. Mehr brauchte es nicht. Wenn Starke die Botschaft erhielt, würde er wissen, was er zu thun habe.

Der Riemen war fertig, jeder Cowboy führte eine Art von Packnadel mit sich, der Zettel wurde besonders in einen Lederlappen genäht und an dem Riemen und an Hassans Halse befestigt.

Das Weitere übernahm Ellen allein. Sie machte Hassan durch Worte und Zeichen klar, was man von ihm verlange, wie man eben zu einem Hunde spricht, den man auf die Fährte seines Herrn oder einer anderen Person hetzen will, und Hassan verstand sofort, die Erklärung dauerte ihm sogar zu lange, er wurde ungeduldig — so dumm bin ich doch nicht — und geräuschlos verschwand er, und er würde sich auch durch die Reihen derer zu schleichen wissen, die er als seine Feinde betrachtete, sich nicht einmal von einem blicken lassen; war es doch schon wunderbar genug, wie er sich unten an der Treppe niemals eine Blösse gab.

Alles athmete erleichtert auf; eine feierliche Stille trat ein. Es war, als sei ein Engel erschienen und wieder gegangen, um Hülfe herbei zu holen.

»Nun sind wir gerettet,« brach Ellen endlich das Schweigen.

»Dass Hassan Ihren Freund findet, daran zweifle ich, nachdem, was ich soeben beobachtet habe, nicht mehr,« nahm Sir Munro das Wort. »Ich verstehe nur nicht, wie er uns vor acht Tagen befreien soll, wenn Fort Lamarie die nächste Station ist, wo bewaffnete Hülfe zu holen ist, und wenn er so lange zum Hin- und Hermarschiren braucht. Sollte aber nun Starke sofort umkehren, um uns zu befreien, so müsste er doch geradezu einen Indianer nach dem anderen abfertigen, und das hätte er doch dann gleich thun können.«

Es hatte etwas Bitterkeit in den Worten des Sprechers gelegen, besonders in den ersten, da er auch das »Ihren Freund« stärker betonte. Munro mochte die Unterschrift gelesen haben.

»Er wird zurückkommen und uns retten, ehe ich — — — ehe wir verschmachten,« sagte Ellen einfach und doch mit festester Ueberzeugung.

»Ist denn dieser Starke Ihr — — — ist er denn ein Gott?«

Auch Munro hatte sich verbessert, vielleicht mit Absicht.

»Er ist mein Freund, er wird mich nicht verlassen. Kommen Sie mit hinauf, es ist mir zu eng hier unten für das, was ich Ihnen zu sagen habe.«

Munro folgte ihr. Unter den Sternen sollte die Auseinandersetzung erfolgen. Sie blickte hinab. Die tiefste Stille herrschte, Hassan war nicht bemerkt worden, er musste jetzt schon weit entfernt sein.

»Starke und ich, wir haben einen Freundschaftsbund für's Leben geschlossen,« wandte sich dann Ellen an den Baronet.

»Sie lieben Starke,« sagte dieser gerade heraus.

Es waren zwei Engländer, die sich über so etwas unterhielten und es waren zwei sehr gleichartige Charaktere. Trotzdem aber wird in England die Liebessache eigentlich viel idealer aufgefasst als in dem sentimentalen Deutschland. Auf die Frage, »Was bekommt Ihre Tochter mit?« würde in England der Freiersmann gleich hinausfliegen. Solch' eine Frage ist in England eine Schmach. Kein Bett bekommt sie mit; an baares Geld gar nicht zu denken, der englische Geschäftsmann rückt keinen Penny heraus, man kennt es nicht. Du musst Deine Frau ausstatten und ernähren können, sonst heirathe nicht. Und dass Verführung und das »break of promise«, das Brechen des Eheversprechens, so furchtbar hart bestraft wird — der Betreffende ist gewöhnlich ruinirt, dem Arbeiter wird der Wochenlohn abgepfändet, die Polizei weiss ihn immer wieder zu finden, er muss aus seinem Heimathslande flüchten — das ist auch gewiss eine gerechte Ansicht des englischen Gesetzes über solche Vergehen. Denn das englische Mädchen, das schon einmal verlobt gewesen ist, bekommt selten noch einen Mann. Deshalb soll es entschädigt werden: »I am engaged« — das hat noch eine ganz andere Bedeutung als nur: ich bin verlobt. —

Ellen wollte auffahren — »und wenn es so wäre?« — aber sie beherrschte sich.

»Nein, ich liebe ihn nicht, oder doch nicht so, dass Jemand eifersüchtig auf ihn zu sein brauchte,« entgegnete sie also statt dessen. »Und Sie hätten Recht, wenn Sie, Theilnahme für mich fühlend, zwischen ihn und mich treten würden. Denn dieser Mann ist nicht zur Liebe geschaffen und ich würde mich unglücklich machen. Doch Sie brauchen keine Sorge zu haben. Ich liebe ihn nicht anders als wie seinen Hund.«

Ellen hatte sich schon recht gut die Ausdrucksweise ihres Ideals angeeignet, betrachtete auch schon seinen Hund als gleichgestelltes Wesen.

»Wie seinen Hund. So. Das beruhigt mich,« meinte Robin trocken. ,,Ja ja, ich weiss schon, wodurch es Ihnen dieser Mann angethan hat, unterliege ich doch selbst seinem Zauber. Also für's ganze Leben haben Sie mit ihm Freundschaft geschlossen?«

»Für's ganze Leben.«

»Das ist sehr lange. Dann, Miss Ellen, gestatten Sie, dass ich hier oben — es zieht hier recht— dass, wenn die Sache so beschaffen ist, ich Ihnen nochmals meine Liebe ge ...«

»Ich danke dafür — ich meine, ich weiss es zu würdigen, wenn ein Mann wie Sie seine Liebe anträgt, und ich weiss auch, Sie sind ein guter Mensch. Aber — ich — bleibe — ledig.«

Munro blieb einige Zeit die Antwort schuldig, er schlug seinen Rockkragen hoch.

»Ach — ach — ach nein! Wie lange?«

Munro war ein Tolpatsch. Man konnte sich aber auch sehr in ihm irren. Plötzlich, ehe Ellen wieder zu Worte kam, hatte er sich vor ihr auf ein Knie gelassen und ihre Hand ergriffen.

»Ellen, ich liebe Dich, und ich möchte Dich glücklich machen,« sagte er in ganz anderem, in seinem wärmsten Tone.

Das hatte er gutgemacht, das wirkte doch. Ellen wurde augenblicklich gerührt, verlor die Fassung; aber jener andere Mann stand zu fest zwischen ihnen, und sie sah ihn leibhaftig vor sich stehen.

»Zu spät,« murmelte sie, wie schon einmal, »ich kann nicht mehr — meine Zukunft ist bereits entschieden. Der Freundschaftsbund ist für das ganze Leben geschlossen, ich werde Starke begleiten.«

Ebenso schnell war Munro's Sentimentalität vorüber; er hatte sich schon wieder erhoben.

»Er begleitet Sie, wollen Sie sagen, während Ihrer Reise um die Erde.«

»Wir beide sind fortab Gefährten — für immer.«

»Ach, jetzt beginne ich zu verstehen. Sie wollen auch ein Weltenbummler werden.«

»Meinetwegen nennen Sie es so,« entgegnete Ellen, schon etwas gereizt, »ich verbinde einen wissenschaftlichen Zweck dabei.«

»Viel Vergnügen! Also Sie haben beschlossen, Ihr ganzes Leben lang auf der nackten Erde zu schlafen, aus Pfützen zu trinken ...«

»Wenn es sein muss, jawohl!« rief Ellen, immer heftiger werdend. Der Spott klang doch zu deutlich hindurch und Munro blieb dabei ganz höflich.

»Und diese Entsagung aus Freundschaft zu Starke?«

»Jawohl denn, da Sie es doch so gerne hören möchten: nicht aus Neigung zu solch' einem Leben, sondern nur aus Freundschaft zu Starke.«

»Und wie lange werden Sie das aushalten?«

»Für immer, für immer — bis mich eine Kugel trifft! Und nun gehen Sie, machen Sie, dass Sie aus meinen Angen kommen, ich hasse Sie, ich wollte Sie auffordern, unserem Freundschaftsbunde beizutreten, Sie sind es nicht werth, Ihr kleiner Geist ...«

»I, ich werde mich hüten, mein ganzes Leben lang aus Pfützen zu trinken und getrocknete Pferde zu kauen. Good luck for you. Wir sprechen uns wieder ... ich gebe hinab, es ist mir oben zu kühl für das, was Sie mir da zu sagen haben.«

Und er ging. So schnell und auf solche Weise endete die von Ellen in Güte geplante Auseinandersetzung. Und er ging so siegessicher! Ellen ärgerte sich gewaltig über ihre dummen Thränen.



24. Capitel.

Ohne Hoffnung.

Aber diese Unterhaltung war nur unterbrochen, nicht abgeschlossen gewesen; wenn sie es nicht ausgemacht hatten, mussten sie auf dasselbe Thema doch immer wieder von selbst kommen, das brachten die ganzen Verhältnisse mit sich, das enge Zusammenleben in der belagerten Festung, wo Tag und Nacht keinen Unterschied erzeugten, jeder Gegenstand erinnerte ja daran.

Munro mochte wirklich nur gegangen sein, weil es ihm oben zu kühl war — freilich etwas unhöflich — und dann hatte er Ellen nur deshalb nicht mehr gesehen, weil es zu dunkel war.

Mit Anbruch des neuen Tages stand Ellen wieder auf dem Söller und betrachtete unten zu ihren Füssen den breiten Streifen, den das abfliessende Wasser gezogen hatte, am Geröll deutlich erkennbar. Die Belagerer würden sich wohl damit verproviantirt haben. Sir Munro trat zu ihr, ohne einen Morgengruss zu haben, der Schlaf hatte eben nicht getrennt.

»Verzeihen Sie mein Benehmen von vorhin,« begann er dann gleich, als seien nicht schon Stunden vergangen; seine Stimmung hatte sich inzwischen aber doch geändert, und bei Tage nimmt auch Alles eine andere Färbung an als in der Nacht, wenn der Mensch der Natur, welche Schlaf gebietet, trotzt.

»Die Eröffnung Ihrer Zukunftspläne musste mir zu unerwartet kommen.«

»Ich glaube und verzeihe Ihnen,« entgegnete Ellen sanft, ebenso versöhnlich gestimmt. »Sehen Sie, wie schön die Sonne aufgeht, wie friedlich die Natur. Kann man da an einen baldigen Tod denken?«

»Das wollen wir auch nicht. Es ist also Ihr fester Entschluss, an Starke's Seite das unstäte Leben fortzusetzen, so wie es dieser Mann führt?«

»Ja,« und Ellen erklärte weiter, wie sie sich dieses Leben vorstellte, nur dass sie ihrem Vorsatz einen wissenschaftlichen Hintergrund gab. Sie brauchte nur Starke's Worte zu wiederholen, wie eine Frau bei solcher Art zu reisen manche Geheimnisse der Ethnographie enthüllen könnte, welche dem männlichen Forschungsreisenden immer verborgen blieben, u. s. w.

»Gestatten Sie dann, dass ich Sie von nun an in engerer Fühlung begleite?«

»Per Rad?«

»Per Rad,« erwiderte er ernsthaft, aber Ellen musste doch lächeln.

»Ich denke, Sie wollen nicht Zeit Ihres Lebens aus Pfützen trinken ....«

»Oh, bitte, Sie haben mir doch schon verziehen! Wenn ich nicht störend wirke, so lassen Sie mich der Dritte in Ihrem Bunde sein.«

»Wie sollten Sie störend wirken? Wenn Sie unser Freundschaftsverhältniss richtig erfassen, so sind Sie überhaupt der Unserige; im anderen Falle werden Sie uns bald langweilig finden und uns verlassen. Woher kommt aber Ihre Sinnesänderung, dass Sie plötzlich geneigt sind, Strapazen auf sich zu nehmen, welche Sie für unnöthig erachten, weil es eine bequemere Eisenbahn giebt?«

»Sie ist so gekommen, wie ich plötzlich das Vergnügen kennen gelernt habe, welche das Radfahren gewährt — weil ich nur das Mittel besitze, immer in Ihrer Nähe zu weilen — weil ich Sie liebe, Ellen.«

»Dann begleiten Sie mich, damit ich Sie von dieser Liebe curire, so wie mich Starke von .... wie mich Starke den Werth der Freundschaft gelehrt hat.«

Das Gespräch drohte schon wieder humoristisch zu werden, und Ellen hatte eigentlich eine ganz andere Entscheidung herbeiführen wollen, aber Munro hätte sich diesmal wohlweislich gehütet, sie wieder zu reizen, und ein herzlicher Handschlag besiegelte die Wiederversöhnung.

»So könnte ich meine komische Vorstellung ja fortsetzen. Aber das Brunnenloch muss zugedeckt werden, jetzt könnte ich wirklich in's Feuer fallen.«

»Sir Munro,« ermahnte Ellen, »unterlassen Sie das Scherzen, bedenken Sie, dass unsere Lage eine ganz verzweifelte ist.«

»Ja, was wollen Sie? Soll ich mich etwa trübsinnig hinlegen? Wir haben doch auch Hoffnung, und wenn sie sich erfüllt, muss ich doch im Stande sein, Sie auf dem Rade begleiten zu können.«

»Bravo, da haben Sie Recht. Vorläufig leben wir noch, und wir wollen keine Zeit unbenutzt verstreichen lassen. Ueben Sie, ich werde mein Tagebuch führen und einen Aufsatz schreiben.«

Munro setzte also seine Uebungen fort, er biss die Zähne zusammen, er war heute steif wie ein Sägebock, und als er zum ersten Male wieder auf dem Sattel sass, verzog er schmerzhaft das Gesicht. Dabei wünschte er bereits nichts sehnlicher als einen Trunk Wasser.

»Das kann ja noch gut werden,« dachte der phlegmatische Engländer.

Ellen verband den Cowboys die Wunden, gewaschen konnten sie nicht mehr werden, dann schrieb sie auf den Knieen, und dabei dachte sie sehnsüchtig an die einzige Flasche Wasser, welche sie umgehängt hatte. Die Cowboys rauchten mit indianischem Gleichmuth, Dick führte seinen Herrn, der Reporter riss Possen.

»Ein Schwarzfuss will sprechen,« rief der auf der Plattform postirte Mestize.

Ellen sprang auf und wies Somaja zurück, sie wolle mit dem Parlamentär unterhandeln, und wenn er nicht Englisch könne, solle ein Anderer kommen, der sie verstände. Von der ersten Oeffnung aus, durch welche sie blickte, konnte sie den Indianer unten stehen sehen. Man musste sehr laut sprechen, fast schreien.

»Deadly Dash,« sagte in forderndem Tone der Indianer. Seine scharfen Augen hatten sofort erkannt, dass dort oben eine andere Person stand, noch dazu ein von den Rothhäuten verachtetes Weib. Man wusste also nichts davon, dass sich ein Mann aus der Festung entfernt hatte.

»Deadly Dash schläft.«

»So wecke ihn,« entgegnete der Indianer in richtigem Englisch.

»Deadly Dash will nicht geweckt sein, um mit einem Schwarzfuss zu sprechen. Die Schwarzfüsse sollen nicht seinen Schlaf stören, er verachtet sie. Was willst Du? Ich bin seine Freundin. Sprich mit mir, oder geh.«

»Seit wann ist die Squaw die Freundin eines Kriegers?«

»Komme herauf, damit ich Dir eine andere Ansicht über mich beibringe.«

Plötzlich machte der Indianer eine Bewegung der Ueberraschung, die ihm als einem Krieger gar nicht erlaubt war. Er musste die Augen eines Falken besitzen.

»Was erblickt Adlerauge? Die Squaw trägt die Klauen des grauen Bären!«

»Du irrst Dich nicht, und komm nur herauf, damit Du kennen lernst, dass ich wirklich einen grauen Bären erlegt habe.«

Der Parlamentär beruhigte sich, er dachte an seinen Auftrag.

»Deadly Dash gehört Stronghand, und der schluckende Geier wird sich freuen, mit einer Squaw zu schlafen, welche den Herrn des Felsens getödtet hat. Die Anderen sind frei, und kein Haar soll ihnen gekrümmt werden.«

»Gebt mir dort mein Gewehr,« sagte Ellen nach rückwärts mit eiserner Ruhe, auf die Revolverbüchse deutend, die ihr Starke gelassen, während er ihren Revolver mitgenommen hatte, und sie wiederholte ihr Verlangen drohend, als ihr nicht gleich gewillfahrt wurde.

»Es ist ein Parlamentär, er ist heilig, auch wenn es ein Indianer ist.«

»Vorläufig, ich weiss es. — Hast Du sonst noch etwas zu sagen?«

»Wenn in drei Tagen nicht Deadly Dash waffenlos vor Stronghand kniet und wenn in drei Tagen nicht die weisse Squaw im Wigwam des schluckenden Geiers das Lager bereitet, hängen in drei Tagen sechs Scalpe an unseren Gürteln und Deadly Dash steht dennoch am Marterpfahl und die goldhaarige Squaw mit der weissen Haut wird dennoch in des Häuptlings Wigwam schlafen.«

»Sonst noch etwas?«

»Ihr habt kein Wasser.«

»Ihr habt kein Wasser?« wiederholte Ellen, als hätte sie sich verhört, und sie löste die Flasche von dem Riemen. »Da,« sie warf die gefüllte Flasche hinab, »da habt Ihr Wasser.«

Die Lederflasche war beim Aufschlagen aus solcher Höhe zerplatzt, das Liter Wasser ergoss sich am Boden und auf den Indianer schien es doch Eindruck zu machen.

»Und nun,« fuhr sie fort, und der wieder aufblickende Indianer sah, wie sie das kurze Gewehr auf ihn anschlug, »nun sage Deinem Häuptling, er soll mich selbst zur Hochzeit abholen, aber ich zähle bis zehn, und wenn Du bis dahin nicht hinter den Felsen verschwunden bist, und Du hast Zeit genug dazu, so erschiesse ich Dich. Hast Du mich verstanden?«

»Adlerauge hat Dich verstanden und er verspottet Dich. Stronghand wird ...«

»Eins — zwei — drei — vier ...»« zählte Ellen ganz langsam, den Kolben an der Wange.

».... Der schluckende Geier ist ein mächtiger Krieger,« fuhr der Schwarzfuss-Indianer unbeirrt fort; lügnerisch mochte er sein, feig war er nicht, er entledigte sich seines Auftrages, »und Du wirst seine erste Frau sein.«

».... fünf — sechs — sieben — acht.«

».... und Du wirst es gut bei ihm haben, er wird Dich nicht schlagen ...«

».... neun — — — — — zehn.«

Ein Feuerstrom aus Ellen's Gewehr, ein Knall, und der Indianer, mit der Hand nach dem Herzen fahrend, schlug rückwärts zu Boden und blieb liegen.

»Ellen, Ellen, was haben Sie gethan!?« schrie Munro ausser sich.

Ellen war sehr bleich, doch ruhig lehnte sie das Gewehr gegen die Wand.

»Was ich verantworten kann, vor Gott und vor menschlichen Richtern.«

Hinter den Felsen erscholl ein vielstimmiges Wuthgeheul, doch es zeigte sich Niemand. Augenblicklich, wie auf Commando, verstummte es auch wieder.

»Viel zu viel Ehre für den Schuft,« brummte Somaja, »jetzt bewundern ihn die Rothhäute nur, und sie hatte ihm ja gesagt, was sie thun würde, warum ist er nicht gegangen.«

»Ich hätte es auch gethan, aber die Flasche Wasser hätte ich lieber selbst ausgetrunken — schade,« meinte der Reporter.

»Für uns acht Menschen hätte es doch nur einen Tropfen bedeutet,« entgegnete Ellen, und dann wandte sie sich gegen die Cowboys. »Leute, wenn ihr durstig seid, so fordert mein Blut, aber nicht, dass ich mich den Indianern lebendig ausliefere.«

»Hipp — hipp — hurrah für die Lady!!« brüllten die Cowboys, bei denen sich die Bewunderung für die That, dass eine weisse Frau einen Indianer mit solch' sicherem Schusse getödtet hatte, erst jetzt Luft machte.

Während Ellen schon wieder schrieb, als wäre nichts geschehen, war Munro noch ganz kopfscheu, blickte furchtsam nach der Schreibenden und ebenso nach dem unten liegenden Todten. Er wusste, dass sie schon einen Indianer in's Jenseits geschickt hatte, ja, man befand sich im Kriege, Ellen hatte gewarnt und genügend Zeit gegeben, sie war furchtbar beleidigt, aber — da lag der Indianer, mit gebrochenem Auge in die Sonne starrend — es war hässlich.

Mit der fröhlichen Radlerei in der Brunnenstube war es vorbei. Es wurde Mittag, sie assen getrocknetes Pferdefleisch; es wurde Abend.

»Ich habe fürchterlichen Durst,« platzte Mr. Schade heraus.

Ellen blickte nach den unbeschäftigten Cowboys, sie gaben sich mit stoischem Gleichmuthe wie immer dem Genusse ihrer Pfeife hin, sie deutete auf den gebundenen Indianer, der noch genau so an der Wand sass, wie ihn der Reporter zum Photographiren hingelehnt hatte, beharrlich die Augen geschlossen, wie ein Todter; es war mit ihm absolut nichts anzufangen, nur die regelmässigen Athemzüge verriethen noch Leben.

»Sehen Sie diesen Mann.«

»Ja, den Mann sehe ich. Delirium habe ich noch nicht. Könnten Sie mit dem nicht einen Austausch bewirken, vielleicht gegen mich?«

»Nein, die Feinde dürfen nicht erfahren, dass Mr. Starke sich entfernt hat, auch nicht, dass der Hund nicht mehr als Wächter am Eingange liegt, und solch' einen Austausch kennen die Indianer nicht, wie mir Starke bereits erklärt hat. Dieser rothe Krieger will sich selbst befreien oder von seinen Kameraden befreit werden, oder er will sterben. Der junge Indianer, ein Knabe noch, durstete schon, als wir uns noch mit Wasser sättigen konnten; er hat jedenfalls schon Durst gelitten, als ihn Starke fing. Das ist ein Mann!«

»Ich bin auch ein Mann.«

»Sie sind ein Waschlappen,« sagte Dick, seinen Gürtel anziehend, um zu zeigen, wie er Hunger und Durst spotte, aber gleich so eng, dass er wie eine eingeschnürte Spinne aussah; man konnte seine Taille mit den Händen umspannen.

»Bitte sehr, ich bin ein Mann, ich muss es doch am besten wissen,« entgegnete der Yankee.

»Nehmen Sie das, es wird Ihren Durst weniger empfindlich machen.«

Starke hatte ihr die Büchse mit Kolapulver zurückgelassen, sie schüttete jedem eine Dosis in die Hand.

»Das schmeckt gar nicht übel, aber Wasser ist's nicht,« meinte der Reporter.

»So gehen Sie doch hinaus und bitten Sie die Indianer um Wasser!« zürnte jetzt Ellen.

»Das werde ich mir diese Nacht noch sehr überlegen.«

Die Nacht war gekommen. Es war ein heisser Tag gewesen und bald vierundzwanzig Stunden ohne einen Tropfen Wasser ist schon eine gewaltige Schwächung für den Menschen.

Bei Somaja stellten sich in der Nacht Delirien ein. An seinem Lager betete Ellen um Regen und um Starke's Rückkehr. Nach dem Aussehen des Himmels war kein Regen zu erwarten, und was sollte Starke thun, wenn der Hund ihn einholte, wenn er sofort umkehrte und allein wiederkam? Gleichgiltig, sie hoffte auf ihn wie auf den rettenden Engel, vor dem Gefahr und Tod entweichen. Aber Flügel besass dieser Engel nicht, nur schnelle Füsse, und diese hatten ihn schon vierundzwanzig Stunden davon getragen, ehe Hassan von hier abgelassen wurde.Vor übermorgen konnte er unmöglich zurück sein — und so lange ohne Wasser!

Der Tag graute. Ein Pferd lag, versuchte aufzustehen und konnte es nicht mehr; die anderen drei liessen die Köpfe hängen. Somaja tobte, er schrie nach Wasser. Und im Brunnenschachte raschelte es, jetzt wussten die Feinde, dass man kein Wasser hatte. Ueber Starke's und des Hundes Abwesenheit durfte wegen lauschender Ohren nur im leisesten Flüsterton gesprochen werden, dagegen wurden diese Namen öfters mit Absicht laut gerufen.

»Wenn ich jetzt einen Eimer Schwefelsäure hätte,« sagte Dick, in den Schacht blickend, »würde ich sie dem da unten über den Kopf giessen.«

»Und ich würde sie trinken,« meinte der Reporter. »Na, ich habe es mir reiflich überlegt. Meine Herrschaften, ich halt's nicht mehr aus. Ich habe mir im Traume den ganzen Niagarafall in den Mund laufen lassen, wenn der jetzt trocken ist, wundern Sie sich nicht. Ich gehe zu den Indianern über und heirathe eine Rothe. Kommen Sie mit? Nein? Schade. Good morning

Und der Yankee ging. Ellen vertrat ihm den Weg, den Revolver in der Hand.

»Was, Sie wollen wirklich gehen?«

»Sie glauben's nicht? Schade. Good morning

»Lieber schiesse ich Sie nieder, ehe ich Sie gehen lasse, Sie — elender Feigling.«

»Und dann schneiden Sie meinen Bauch auf und sehen nach, wie es da drin aussieht, ich bin selbst neugierig darauf. Was habe ich Ihnen denn gethan, dass Sie mich erschiessen wollen? Sie schulden mir überhaupt noch meine Hose, meine Hose will ich wieder haben.«

Ellen konnte nicht mehr lächeln. Es mochte ja sein, dass der Mann den Durst weniger ertragen konnte als die Anderen, er hatte vielleicht schon vorher Durst gehabt, als der Brunnen mitten in der Nacht plötzlich versiechte. Ausserdem war er ein Yankee und ein ganz verrückter dazu.

»Draussen wartet Ihrer der Tod.«

»Hier drinnen auch, ich sterbe vor Durst.«

»Was wollen Sie denn bei den Indianern?«

»Ich trinke mich noch einmal satt, wenn's geht, dann lade ich sie zum Abonnement auf den New-Yorker Spion ein, und dann — kchchch.«

Mr. Schade machte bei jenem schriftlich nicht wiederzugebenden Laute eine Schnittbewegung über seine Kehle.

»So oder so, wir können es nur noch bis morgen früh aushalten,« sagte flüsternd der nicht auf Wache stehende Cowboy, »heute Nacht müssen wir es wagen. Der Wind trocknet uns zu sehr aus.«

Dieser einfache Mann wusste nicht einmal, dass der Mensch Wasserdampf ausathmet, aber die Folgen des Unterschiedes zwischen einem feuchten und einem trockenen Winde kannte er, und er rechnete damit.

»Wird es gelingen?« fragte Ellen.

»Nein. Wir wollen sterben, solange wir noch kämpfen können.«

»Deadly Dash wird kommen.«

»Ja, aber zu spät für uns. Morgen können wir vor Schwäche keine Hand mehr regen. Die Pferde sind schon nichts mehr werth, wir werden zu Fuss ausbrechen, wenn nur Somaja wieder auf den Beinen wäre.«

»Mr. Schade, hören Sie? Warten Sie wenigstens bis heute Abend, dann haben Sie doch noch einige Hoffnung, lebendig durchzukommen.«

»Der Cowboy scheint diese Hoffnung nicht zu haben, und ich möchte meine Haut doch lieber retten. Was nützt mir der Heldentod, wenn ich nicht mehr lebe.«

»Aber ich lasse Sie nicht gehen, Sie verrathen, dass Deadly Dash und Hassan nicht mehr hier sind.«

»Miss Howard, da kennen Sie mich schlecht. Ich will nichts weiter als mich noch einmal satt trinken — zu hören sollen die von mir nichts bekommen.«

Ellen trat zur Seite. Es war mit diesem aus Albernheiten und Halsstarrigkeit zusammengesetzten Yankee doch nicht anzufangen, sie konnten froh sein, ihn los zu werden, und Ellen hatte die Yankees nun zur Genüge kennen gelernt, um ihm zu glauben, dass er kein verrätherischer Ueberläufer sein würde. Es ist ein ganz eigenthümliches Volk, diese Yankees, aus lauter entgegengesetzten Excentricitäten zusammengesetzt, couragirt wie kein anderes Volk, ohne muthig zu sein, von grossartiger Freigebigkeit ohne Herz, praktisch und dabei dem crassesten Aberglauben anhängend, nüchtern und dann wieder total verrückt. In Brooklyn ist eine sogenannte Centrifugal-Bahn aufgestellt, ein Amüsement, ein Wagen saust eine schiefe Ebene herab und folgt der wohl zwanzig Meter hohen Schleife, nur durch die Centrifugalkraft oben festgehalten, und die schüchternste amerikanische Miss setzt sich hinein und lässt sich im Kreise herumschleudern, sie muss doch auch einmal hoch in der Luft mit dem Kopfe nach unten baumeln. Es sieht schauderhaft gefährlich aus, und so etwas ist in einem anderen Lande gar nicht möglich, so etwas bringt nur die Amerikanerin fertig, die Yankee-Lady mit dem unschuldigen Gesichtchen aus Milch und Blut und mit Nerven aus Clavierdraht.

»Good morning, Ladies and Gentlemen,« sagte Mr. Schade, nichts weiter, und den am Riemen hängenden Photographen-Apparat, sein ganzes Gepäck, unter dem Arm, ging er.

Gespannt beobachteten die Zurückbleibenden durch die Wandöffnungen, wie er sorglos, die eine Hand in der Hosentasche, über das freie Terrain nach den Felsen zu schlenderte. Was würde geschehen? Sie hatten die Gewehre im Anschlag, vielleicht konnte der Reporter wenigstens als Köder dienen, dass ein Feind sich eine Blösse gab. Er war zwischen die ersten beiden Felsen gekommen. Hier blieb er stehen und blickte zur Seite.

»Heh, Sie da,« hörte man ihn mit lauter Stimme sagen, »haben Sie nicht ein Glas Wasser? Es kann auch ein Topf sein.«

Ob er wirklich Jemanden sah, war sehr die Frage. Am Ende wollte er die, von denen er sich beobachtet wusste, noch auf seinem Todesgange belustigen.

In New-York wird ein Raubmörder gehenkt. Wie er auf dem Fallbrett steht, wird ihm noch ein letztes Wort vergönnt, und da sagt der Yankee: »Der Cacao von der Firma Soundso ist der beste« — er stürzt und hat im Tode seinen Hinterbliebenen noch eine ansehnliche Summe verdient. Wenn's nicht wahr ist, so ist es doch echt amerikanisch. Aber es dürfte schon wahr sein, denn die Cacaofabrik, deren Name hier aber lieber nicht genannt sei, hat lange Reclame mit dieser Geschichte gemacht.

Ja, Mr. Schade wollte bis zum letzten Augenblick der verrückte Mitarbeiter eines verrückten Blattes bleiben. Er hatte einige Schritte weiter gemacht und blieb wieder stehen, blickte nach der anderen Seite.

»Sie — Sie da! Sind Sie schon auf den New-Yorker Spion abonnirt? Der New-Yorker Spion ist das weitverbreitetste Zukunftsblatt der Erde. Der Spion hat in jeder Stadt und in jedem Dorfe der Welt und Umgegend seinen eigenen Correspondenten. Hier ist eine Probenummer. Ganz besonders mache ich Sie auf den Feuilleton-Roman aufmerk — — — na was machen Sie denn!!«

Wie es geschah, war bei der grossen Entfernung nicht zu sehen. Mr. Schade verschwand plötzlich wie eine hinter die Coulissen gezogene Marionettenfigur nach rückwärts, ohne die Beine in Bewegung zu setzen. Ein Lasso hatte ihn geholt. Er wurde nicht wieder gesehen, auch kein Laut war zu vernehmen. —

Der zweite Tag verging in qualvollem Durste. Die Belagerten brüteten vor sich hin und träumten von Wasserquellen, aus denen sie tranken, tranken, immer tranken. Man braucht nicht in der Wüste zu sein, um eine Fata Morgana zu sehen. Als Somaja seinen langen Fieberanfall überstanden hatte, kam er von selbst; der letzte Kriegsrath wurde abgehalten.

Am Abend sollte eines der völlig unbrauchbar gewordenen Pferde geschlachtet werden, das noch blutige Fleisch wirkte wenigstens etwas erfrischend; dann leise hinaus, einzeln sich zerstreut, und dann — — — die Cowboys sagten ganz ruhig, dass keiner den wachsamen Indianern entkommen würde.

»Ich weiss, dass Starke morgen zurück sein wird,« behauptete Ellen.

»Wenn Hassan nicht eben so still abgefangen worden ist wie jener Mann. Und morgen befinden wir uns schon in den Händen der Rothhäute, wir kennen den Wassermangel.«

»Ihr sollt frei sein, wenn ich mich ausliefere,« nahm Ellen nach einer langen Pause wieder das Wort und Munro schrak auf.

Starke kannte den Charakter des Mannes, den er zum Führer gewählt, in dessen Schutze er das Mädchen zurückliess, und Somaja wiederum hatte seine Leute gewählt. Und diese Cowboys rühmten nicht ihre Tapferkeit und Treue, spanische Vaqueros hätten es mit verschwenderischen Worten gethan — diese hier waren viel zu ehrlich dazu, sie erklärten ganz einfach, dass so etwas gar keinen Zweck hätte, die lügnerischen Schwarzfüsse hielten ihr Wort doch nicht.

»So geht, ich will Euch nicht halten; ich bleibe hier und vertheidige die Festung bis zu meinem letzten Athemzuge,« entschied Ellen und Munro stimmte ihr bei.

»Bis zum letzten Athemzuge,« wiederholte Somaja mit etwas Hohn. »Miss, seid Ihr schon einmal so durstig gewesen, dass Ihr lauter Regenbogen vor Euren Augen seht? Ich bin's gewesen.«

»Ich bleibe — die letzte Patrone im Revolver ist für mich.«

»Seid Ihr schon einmal so durstig gewesen, dass Ihr lauter Menschen um Euch herumspringen seht, nach denen Ihr schiesst? Ich habe schon nach solchem Teufelsspuk geschossen.«

Ellen wusste keine Antwort. Sie fühlte die furchtbare Wahrheit mehr heraus, für welche dem einfachen Manne die deutlicheren Worte fehlten.

»Schiesst Euren Revolver heute Nacht ab,« fuhr Somaja fort, »wenn Ihr noch lebendige Menschen von Teufelsspuk unterscheiden und noch treffen könnt — den letzten Schuss könnt Ihr dann auch noch für Euch aufbewahren, wenn Ihr wollt.«

Der Mann hatte Recht, Ellen war bereit, sich den Hinausschleichenden anzuschliessen. Doch brachte sie es noch so weit, dass sich die Cowboys einverstanden erklärten, erst um vier Uhr, zwei Stunden vor Anbruch der Helligkeit, den Ausfall zu wagen. So krampfhaft klammerte sie sich an die Hoffnung, Starke könnte doch noch zurückkehren.

»Ellen, was wollen Sie thun?« flüsterte Munro.

»Sie haben es gehört. Oder glauben Sie, ich werde lebendig in die Hände eines Indianers kommen?«

Hierauf war nichts zu erwidern.

Im letzten Dämmerlichte wurde ein Pferd getödtet. Die Cowboys verschlangen das noch rauchende Fleisch, tranken das Blut; auch Dick ass — die beiden Engländer vermochten es nicht, obgleich sie es hatten thun wollen; soweit war es mit ihnen noch nicht.

Ellen kauerte in einer Ecke und blickte stier vor sich hin. So also sollte ihre Radreise enden!

»Halt!« rief da Munro gebieterisch. »Diesen Indianer werdet Ihr nicht tödten!«

Somaja, das Messer in der Hand, war in leicht erkennbarer Absicht auf den Gefangenen zugegangen.

»Und warum nicht? Denkt Ihr etwa, die Rothhäute werden uns schonen, wenn sie ihn lebendig finden? Deadly Dash hat befohlen, ihn zu schonen, bisher mag es auch seinen Zweck gehabt haben, jetzt ist's genug, und der rothe Junge wartet schon lange auf seinen Tod — da ........ —«

Ellen konnte nur ein Röcheln ausstossen, sie schloss die Augen und hatte es doch schon gesehen. Munro war zurückgestossen worden, ein Schritt, und der an der Wand lehnende Jüngling hatte Somaja's Klinge im Herzen, und mit zwei weiteren Griffen war er scalpirt worden.

Kein Laut war zu hören gewesen. Nur Ellen stöhnte noch. Alles Blut, Tod, Mord. Nun bloss noch versuchen, das bischen Leben zu retten, und wenn es wirklich gelang, sie würde doch hier in dieser Cisterne etwas zurücklassen, was ihr Niemand wieder ersetzen könnte. Auch sie würde hier das Lächeln für immer verlernt haben.

So dachte wenigstens Ellen in diesem Augenblicke unklar. Sie befand sich in einer furchtbar verzweifelten Stimmung. —

Schon seit einigen Stunden herrschte finstere Nacht. Oben hielt kein Cowboy mehr Wache, nur noch unten an der Treppe, Ellen's Uhr in der Hand, sie an den ihn Ablösenden abgebend. Aber ob wirklich noch Jemand wachte?

Auch Ellen war in ihrer Ecke vor Erschöpfung eingeschlafen, im Traume immer grösseren Durst erzeugendes Wasser trinkend. Jetzt gab der Traumgott ihr die gefüllte Wasserkaraffe in ihrem Schlafboudoir in die Hand; wie sie dieselbe zum Trinken ansetzte, that sie sich sehr weh, sie hatte das Glas heftig gegen den Mund gestossen, sie erwachte davon — es lag wirklich etwas Schweres Hartes vor ihrem Munde, ihre Hände wurden von anderen gepackt, ihre Füsse — sie hörte einen Tumult, ein wildes Balgen, Flüche — es wurde wieder still ...... überrumpelt! — lebendig gefangen!

Wenn der Neger seine Seele frei von dem in Ketten geschlagenen Körper machen will, so verschluckt er seine Zunge. So hört man wenigstens häufig in Sclavenerzählungen. Daran dachte Ellen im Augenblick, als sie ihre Hände gefesselt fühlte, und hinter der fremden ihren Mund noch verschliessenden Hand legte sie die Zungenspitze weit hinten an den Gaumen an, zog den Atem ein und versuchte die Zunge zu verschlucken — — das Bewusstsein verliess sie.



25. Capitel.

Ausgespielt und ausgefochten.

Sir Munro war wie alle Anderen überwältigt worden, nur ein Cowboy hatte etwas Widerstand geleistet. Der Wächter an der Treppe hatte geschlafen oder sich doch in einem Zustand befunden, der ihn zum aufmerksamen Wachen untauglich machte. Die Indianer mochten auch dem Brunnenschachte entstiegen sein.

Der Stille, während welcher Ellen das Experiment mit dem Zungenverschlingen machte, folgten tiefe Kehllaute; die Indianer unterhielten sich, es raschelte und tappte von Schritten, dann sah Munro, dem, wie wohl auch jedem Anderen, ein zusammengeballtes Tuch in den Mund gepfropft worden war, ein Lichtchen aufblitzen, und trotz seiner verzweifelten Lage wunderte sich Sir Munro im Augenblick sehr, ein modernes Streichholz utan svafuel och phosphor zu erkennen.

Sonst sah er in dem schwachen Lichtscheine nicht viel, das Streichholz erlosch, andere wurden angerissen, seine Lage war auch eine sehr ungünstige. Dann wurde die Radlampe gefunden und angezündet. Munro sah Indianer wie die Schatten hin und her wandeln, dunkle Gestalten, herumliegen, der Laternenträger war ein alter Mann mit weissen Haaren, aber doch sicher ein Indianer, sich von den Anderen nur dadurch unterscheidend, dass er den Oberkörper bedeckt hatte — — — es war in dem hin- und herhuschenden Lichte nichts richtig zu erkennen, Munro dachte nur gleich an Stronghand. Dieser beleuchtete die am Boden liegenden Gestalten, eine ganz besonders lange, und da erkannte Munro Ellen's bleiche Züge, auch sie hatte einen Knebel im Munde, die Augen geschlossen — und da fiel ihm selbst der blendende Strahl direct in's Gesicht, dass er nun gar nichts mehr sehen konnte.

»Wer seid Ihr?« fragte eine rauhe Stimme auf Englisch und dem Gefangenen wurde der Knebel aus dem Munde gezerrt.

Munro antwortete nicht. Er glaubte zu wissen, dass auch schon ein und der andere Gefangene gefragt worden wäre, aber dass niemals eine Antwort gekommen sei.

»Seid Ihr der Robin Munro?«

»Ja.«

»Parlez-vous français?« erklang es nach einer kleinen Pause.

»Oui

Munro wollte die Augen öffnen, musste sie aber gleich wieder geblendet schliessen.

»Antworten Sie mir, es ist Ihr Glück,« fuhr er leiser und eindringlich auf Französisch fort. »Hat sich Deadly Dash mit seinem Hunde entfernt?«

Munro war ganz von der Einbildung beherrscht, es hier mit einem gebildeten Manne zu thun zu bekommen, mit einem Cavalier, der das Räuberhandwerk ergriffen hatte. Sprach er doch ausser Englisch noch Französisch, wenn es auch etwas seltsam klang.

Die professionellen Jäger in den Gegenden Nordamerikas, in denen Pelzjagd betrieben wird, sind sämmtlich Abkömmlinge von den ersten Franzosen und Indianerinnen, sie sprechen noch heute Französisch, wenn auch mit indianischen und englischen Brocken gemischt; obgleich sie englische Canadier oder Yankees sind, hat sich doch auch ihr Name »voyageurs« erhalten. Das ist bekannt genug, Munro dachte jetzt nur nicht daran, er schöpfte neue Hoffnung.

»Ja, Deadly Dash hat sich durchgeschlichen. Monsieur, im Namen ....«

»Wann?« wurde er hastig unterbrochen.

»Monsieur, ich werde Ihnen Alles sagen — aber ich verschmachte vor Durst, und nehmen Sie sich dort der Dame an, wenn Sie ein ....«

»Ihr sollt gleich Wasser bekommen und ich werde die Dame unter meinen Schutz nehmen. Erst sprecht, Mann! Wann hat sich Deadly Dash mit seinem Hunde von hier entfernt?«

»Vor zwei — drei Nächten.«

»Also in der ersten Nacht, die er hier verbrachte, als Ihr und Euer Diener noch nicht hier waret.« »Jawohl.«

»Wann da? War es in der Zeit zwischen zwei Stunden vor und zwei Stunden nach Mitternacht?«

»Es ist ziemlich genau um Mitternacht gewesen.«

»Genau um Mitternacht. Eh bien

Jetzt konnte Munro die Augen endlich öffnen, da aber war der Sprecher schon wieder gegangen, es war wieder finster.

Merkwürdig eigentlich, dass der Mann gar nicht gefragt hatte, wohin denn Deadly Dash gegangen sei, nur das »Wann« schien ihn zu interessiren. Doch konnte ja auch der Reporter bereits befragt worden sein, und auch dieser mochte die Indianer in dem Glauben belassen haben, Starke sei sofort von seinem Hunde begleitet worden. Das wäre sehr gut.

Der Mann, Stronghand oder war es nun sonst wer, hielt doch Wort.

»Trinkt,« sagte die rauhe Stimme wieder, im Finstern wurde an Munro's Mund der Hals einer Flasche gesetzt, er trank gierig.

»Und die Dame,« keuchte er einmal beim Absetzen.

»Für die will ich schon sorgen,« kicherte plötzlich die rauhe Stimme in einer so höhnischen Weise, dass dem Trinker gleich der Appetit verging.

Es wurde wieder still, Munro konnte sich seinen sorgenschweren Gedanken hingeben. Er machte die Qualen am Marterpfahle schon jetzt durch, das höhnische Lachen war das ihn brennende Feuer. Er rief Ellen's Namen, aber sie antwortete nicht. Dann schlief er nochmals ein.

Er wurde durch einen Tritt geweckt, den ihm ein Indianer ertheilte. Der Tag war angebrochen, sämmtliche Gefangene wurden hinaustransportirt.

»Das Ende naht,« flüsterte Ellen, die Hände auf dem Rücken gebunden, mit weissen Lippen, als sie in Munro's Nähe kam, »Sir Munro, wissen Sie nicht, wie man die Zunge verschluckt?«

»Wenn Sie Ihre eigene meinen, die Sie selbst im Munde haben, so ist das dummes Zeug,« liess sich Dick gleich vernehmen. »Das steht nur in den Büchern, ich hab's einmal probirt, habe mir alle Mühe gegeben, es geht gar nicht.«

»Hoffen Sie,« flüsterte Munro zurück

»Nicht mehr. Nur einmal noch möchte ich meine Hand frei haben ....«

Auf dem freien Platze vor dem Eingange zur Cisterne befanden sich etwa zwanzig Indianer, und ausserdem etwas seitwärts davon noch der Reporter, ungefesselt, doch war ihm um den Leib ein langer Lasso gebunden, hinten auf dem Rücken mit vielen Knoten geschürzt, das Ende des Lassos wurde von einem alleinstehenden Indianer gehalten, und um diesen marschirte Mr. Schade immer wie eine Ziege oder ein im Göpelwerk gehendes Pferd herum, und wollte der Indianer nicht aufgewickelt werden, musste er sich immer mit herumdrehen.

»Wir spielen Circus,« rief er sofort, freudestrahlend den Heraustretenden zu.

Doch deren Aufmerksamkeit wandte sich den Indianern zu, welche einen Halbkreis um die zwei Hauptpersonen bildeten.

Die eine von diesen war ein alter, hagerer Indianer im vollen Häuptlingsschmuck, die aufrechtstehenden bunten Federn auf dem Kopfe und den ganzen Rücken herabhängend. Seinen Namen konnte man ihm gleich aus dem geierartigen Gesichte und den habgierigen Augen ablesen, und was dieser Geier verschluckt oder einmal zwischen seinen Fängen hatte, gab er nicht so leicht wieder heraus. Aber ein tüchtiger Krieger und Jäger mochte er doch sein, er hatte viele Narben aufzuweisen und nach den vielen auf Schnüren gereihten Klauen hatte er nicht nur einen grauen Bären erlegt.

Der Andere war ein Mann von riesenhaftem Wuchs, trotz seines rothbraunen Gesichtes doch offenbar mehr Europäer als Indianer — Stronghand, Munro erkannte an den grauen Haaren sofort den nächtlichen Sprecher wieder, und er erschrak ob seines Irrthums, dass er an einen abenteuerlichen Cavalier der Landstrasse hatte denken können — das war das schrecklich wüste Gesicht eines Raubmörders, von allen Leidenschaften entstellt, ein Tiger in Menschengestalt.

Starke hatte zu Munro über diesen Mann nur einige kurze Mittheilungen gemacht. Ehedem ein canadischer Pelzjäger, dann sogar auf einer Factorei einen hohen Posten bekleidend, hatte er wegen verschiedener Verbrechen, zu denen auch Menschenfresserei gehörte — freilich mag ein gnädiger Gott Niemanden in die canadischen Eiswüsten führen, die englischen Pelz-Compagnien sind mit voller Gerichtsbarkeit ausgestattet, und dort wird manches todtgeschwiegen, weil es zu grässlich ist; nur einmal wurde ein Fall aufgedeckt, wie sich solch' eine Pelzexpedition den ganzen Winter hindurch von rothem Menschenfleisch genährt hat, dann auch von weissem — hatte er also das englische Gebiet verlassen müssen und hauste hier schon seit vielen Jahren als echter Steppenräuber, war mit fast allen Indianerstämmen verschwägert, d. h. hatte bei jedem Stamme eine Frau, machte den Spion, hetzte unparteiisch die Sioux gegen einander, dann von jeder Partei Antheil an der Beute beanspruchend — ein Commissionär für Mord, Scalpe, Pferdediebstahl, Mädchenraub und einschlägige Geschäfte.

Der canadische Voyageur französischer Abstammung verrieth sich auch noch durch seine seltsame Ausstaffirung. Das lederne Jagdcostüm so schmierig, aber dabei so bunt und so befranzt als möglich, auf dem grauen Kopfe lächerlicher Weise die goldbetresste ehemalige Mütze eines englischen Offiziers; Stronghand war ein wohlhabender Mann, er trug seinen Reichthum zur Schau, an den plumpen Fingern eine Menge kostbarer Ringe, die er sicher nicht gekauft hatte; um den Hals, um die Brust und wo sie sich nur sonst anbringen liessen, durchbohrte Goldmünzen, auf lederne Schnüre gereiht, so hatte er sich auch goldene Knöpfe hergestellt, und als der tapferste Krieger der Wildniss hatte er seinen Gürtel mit Waffen aller Art wirklich gespickt, wenigstens jetzt, wo er als Herrscher in seiner Würde auftrat; wohl ein halbes Dutzend Revolver und eben so viel Messer staken darin, und schliesslich hatte er noch an jeder Seite einen gewaltigen Cavalleriesäbel hängen. In anderer Situation wäre Stronghand eine lächerliche Figur gewesen, den weissen Gefangenen aber verging das Lächeln. Die beiden Führer stritten sich, der Indianer behielt dabei seine stolze Ruhe, Stronghand schrie und gesticulirte heftig, tanzte von einem Bein auf's andere.

Als die Gefangenen in den Halbkreis geführt wurden, deutete er sofort auf Munro und bediente sich mit einem Male des Englischen.

»Frage auch diesen Mann,« schrie er den Häuptling an, »wann Deadly Dash entkommen ist. Zur Zeit, als ich für Euch Wasser suchte. Der schluckende Geier und seine Krieger haben geschlafen. Die weisse Squaw ist mein!«

Der Häuptling mochte sich nicht entschuldigen können.

»Die weisse Squaw ist mein!« sagte er nur mit Bestimmtheit. »Der lange Rock gab Stronghand das Gold mit den Köpfen ....«

»Was geht das den schluckenden Geier an?! Mir Deadly Dash, Dir die Scalpe der Anderen, so war es ausgemacht. Wo ist nun Deadly Dash?«

»Nicht mehr im Felsen. Stronghand soll ihn sich suchen.«

»Du hast ihn entkommen lassen. Ich fordere die weisse Squaw dafür.«

»Ich schenke meinem Bruder den gewürfelten Mann, welcher mit dem Kasten malt. Die weisse Squaw ist mein!«

»Was will der Geier mit der weissen Squaw,« fing jetzt Stronghand an zu höhnen, es auf eine andere Weise versuchend, »Kirschblüthe kratzt ihm ja die Augen aus, bringt er die fremde Squaw in sein Wigwam.«

So etwas giebt es also auch bei dem Indianer, wenn er schon beweibt ist.

»Was will Stronghand mit der weissen Squaw,« entgegnete der Häuptling in derselben Weise, den Oberkörper bewegend, dass die vielen Bärenkrallen klapperten, »ich sehe an meinem Bruder viel Gold, aber nicht, dass er ein grosser Jäger ist — die weisse Squaw hat den Herrn des Felsens erlegt, die weisse Squaw wird Stronghand auffressen, die weisse Squaw gehört nur dem Bärentödter.«

Die umstehenden Indianer murmelten Beifall. Wüthend riss Stronghand den linken Cavalleriesäbel aus der Blechscheide. »So lass uns um sie kämpfen!« schrie er. Damit schien der schluckende Geier aber gar nicht einverstanden zu sein.

»Stronghand ist mein Bruder, er hat des Geiers Tochter zum Weibe, wie kann er da gegen Stronghand kämpfen,« wehrte der rothe Diplomatiker ab.

»Der schluckende Geier ist ein Feigling.«

»Der schluckende Geier hat eins — zwei — drei — vier Bären getödtet— genug! Der grosse Geist wird entscheiden, wem die weisse Squaw gehört.«

Die Sioux bellten Beifall, und da Stronghand gleich den Säbel einsteckte, ein ganz anderes Wesen zeigte, musste er wohl mit dem Vorschlage des Häuptlings einverstanden sein.

Die weissen Gefangenen wussten natürlich nicht, was die Indianer damit meinten, der grosse Geist solle entscheiden. Bald wurde es ihnen klar.

Stronghand hatte aus seiner Tasche eine Hand voll kleiner Knöchelchen hervorgebracht, sie wurden zwischen ihm und dem Häuptling vertheilt, Beide kauerten nieder und warfen die Knöchelchen abwechselnd hinter sich. Es ist eine Art von Würfelspiel, bei allen Indianern verbreitet; auch noch andere Rassen, z. B. die Südsee-Insulaner würfeln mit solchen Knöchelchen, die Indianer sind diesem Spiele leidenschaftlich ergeben, sie vertreiben sich tagelang die Zeit damit, vergessen darüber Essen und Schlafen. Diese Leidenschaft zeigte sich auch hier. Selbst der stolze Häuptling verlor seine Würde, der französische Räuber schrie, lachte und weinte, die Zuschauer begleiteten jeden Wurf mit Bellen oder Heulen, schnatterten und klatschten in die Hände.

»Aha, jetzt weiss ich,« sagte da Dick, »Miss Howard, Sie werden ausgeknobelt.«

Ellen wusste es bereits; diese Worte, nicht einem rohen Charakter, sondern einer naiven Offenheit entsprungen, konnten keinen Eindruck mehr auf sie machen.

»Der Glückliche gewinnt eine Todte,« flüsterte sie, »einmal werde ich meine Hand doch noch frei bekommen, und dann — erst ihn, dann mich.«

Munro sagte nichts, er strengte seine Muskeln aufs äusserste an, seine Bande heimlich zu zersprengen; die Handgelenke bluteten schon, die Lederstreifen hielten. Das Spiel dauerte sehr lange.

»Robin,« begann sie da wieder, »ich habe Dich geliebt.«

»Weil der Retter nicht kommt, sagst Du das mir jetzt?« erklang es nach einer Weile bitter zurück.

»Ja, Du hast Recht, zürne mir. Aber ich habe Dich wirklich geliebt.«

»Gewonnen, sie gehört mir!!« jubelte der aufspringende Stronghand, und die Indianer verstummten.

»Lebe wohl, Robin, dort kommt mein Tod.«

Stronghand hatte einen gellenden Pfiff ausgestossen; hinter einem Felsen kam ein Pferd hervorgaloppirt, es folgte dem Rufe seines Herrn. Er eilte auf Ellen zu.

»Komm, Schatz,« jauchzte er, »in Stronghand's Armen wird es Dir besser gefallen als in denen einer Rothhaut ....«

Munro hatte auf ihn, der die Hände nach Ellen ausgestreckt hatte, zustürzen wollen, ihm wenigstens einen Tritt zu versetzen, hoffentlich einen tödtlichen — besonders der Engländer versteht sich auf so etwas — aber ein Indianer mochte ihn beobachtet haben und seine Absicht ahnen, er wurde von hinten von einem kräftigen Arme festgehalten, und es kam auch ganz anders, als er erwartet hatte. Denn Ellen harrte nicht einfach der Gelegenheit, bis man ihr die Hände befreien würde, sie hatte vielmehr bereits einen bestimmten Plan gefasst.

»Wehe Dir, wenn Du mich anrührst!« donnerte sie Stronghand an.

Dieser zog die ausgestreckten Hände schnell wieder zurück, er erschrak etwas, er war eben nicht gewöhnt, von einem Weibe so angeherrscht zu werden; er wurde sogar etwas verlegen. Dann aber lachte er schallend auf.

»Na, ich werde Dich wohl anfassen müssen, wenn ich Dich auf mein Pferd heben will. Komm, Püppchen, ziere Dich nicht.«

»Löse mir die Hände, dann will ich sehen, ob Du der Mann bist, dem ich freiwillig folge oder nicht.«

»Nein, lieber nicht.«

»Feigling! Du willst mich, die ich einen grauen Bären erlegt habe, zum Weibe haben? Löse mir die Hände, damit ich Dir die Waffen abnehme und Dich wie ein Kind züchtige. Ja, immer schäme Dich nur! Befreie meine Hände, gieb mir den Säbel, nimm Du den anderen, wir wollen zusammen kämpfen, und besiegst Du mich, will ich Dir als Dein Weib folgen. Ich bin keine rothe Squaw, und so ist es Sitte bei uns weissen Frauen.«

Wirklich, Stronghand wurde immer verlegener. Und Munro staunte, obgleich er die Katastrophe nur immer näher kommen sah. Vielleicht hatte Ellen gar nicht beabsichtigt, solch' einen Zweikampf zu fordern, aber nun, da sie die Wirkung sah, bestand sie darauf.

»Nadowessiers,« rief sie weiter mit erhobener Stimme, »wenn Ihr tapfere Krieger seid, so duldet nicht, dass mich dieser Mann wie eine Sclavin gebunden fortführt, ich will mit ihm kämpfen, und besiegt er mich, will ich ihm freiwillig folgen. So ist es bei uns Sitte.«

Unter den Indianern entstand eine Bewegung. Stronghand hatte die Arme über der Brust gekreuzt, seine Verlegenheit war sichtlich, und der beobachtende Munro konnte sie sich doch gar nicht recht erklären.

»Unsinn,« knurrte Stronghand, »ich kämpfe nicht mit einem Weibe — und sie gehört überhaupt mir.«

»Die weisse Squaw kämpft mit dem Manne, ehe sie ihm in seinen Wigwam folgt?« fragte der schluckende Geier.

»So ist es, schützt mich vor der Schmach, einem feigen Manne anzugehören.«

»Stronghand wird mit Dir kämpfen,« entschied der schluckende Geier.

»Unsinn,« knurrte Jener wieder, »der grosse Geist hat schon entschieden.«

»Der grosse Geist liebt auch eine muthige Squaw, und Stronghand ist ein feiges Weib.«

»Ich mag nicht!!«

»So kämpfe mit mir,« mischte sich Munro plötzlich ein.

Stronghand blickte auf und nach dem Baronet hin, er musterte dessen schlanke, schmächtige Gestalt, ein immer höhnischerer Zug trat in seinem wüsten Gesicht hervor. Offenbar war ihm die gestellte Forderung, mit einer Frau zu kämpfen, nur deshalb so unangenehm, weil er schon wusste, was diese thun würde, so bald sie die Hand frei hatte: sich selbst tödten. Stronghand mochte schon oft derartige Scenen erlebt haben, wenn die Ansiedelung von Indianern überfallen wird — auch die derbe Hinterwäldlersfrau zieht den Tod vor, ehe sie den Rothhäuten in die Hände fällt.

»Ist es Deine Frau?« fragte er naiv, aber furchtbar genug.

»Jawohl, wir wollen um sie kämpfen.«

»Stronghand soll mit ihm mit den langen Messern kämpfen,« liess sich der Häuptling wieder vernehmen, und seine Krieger zollten diesem Vorschlage lebhaften Beifall.

Ein Zweikampf auf Säbel, deren Furchtbarkeit sie von den weissen Cavalleristen kennen gelernt hatten, mit denen sie selbst aber nicht umzugehen wussten — wie konnte es für diese rothen Krieger ein schöneres Schauspiel geben.

»Kann das Bleichgesicht mit dem langen Messer kämpfen?«

»Ja, ich verstehe es etwas.«

»Nicht mit dem Säbel,« sagte Stronghand, »wähle zwischen Messer und Tomahawk.«

»Die langen Messer, die langen Messer — Stronghand ist ein feiger Prahler gewesen — die langen Messer!!« erscholl es durcheinander.

»Stronghand hat gesagt, dass er wie kein anderes Bleichgesicht mit dem langen Messer kämpfen kann,« erklärte der Häuptling noch besonders. »Stronghand soll es uns zeigen, oder Stronghand ist ein feiger Lügner.«

Und der Häuptling hob die Hand und beschrieb mit dem Finger einen Schnörkel in der Luft, und fast gleichzeitig wurden Munro's Banden durchschnitten, er war frei.

»Robin, tödte mich,« hauchte Ellen.

Es war ganz anders gekommen, als sie beabsichtigt hatte. Sie hatte gar nicht an einen Zweikampf gedacht, am wenigsten an ein Säbelduell — sie konnte überhaupt nicht fechten. Irgend welche Waffe, die sie in die Hand bekommen, hätte sie sofort gegen sich selbst gewandt, nun war Munro frei. Und nun sollte er ihr den Liebesdienst erweisen. Sie verlangte zu viel von seiner Liebe. Er hatte ihre geflüsterten Worte auch gar nicht gehört.

Munro war ein ausgezeichneter Fechter, und es schien, als ob dem Prairieräuber eine andere Waffe als gerade der Säbel lieber gewesen wäre. Aber er wurde von seinen rothen Freunden dazu gedrängt, seine Kunst mit dem gefürchteten Säbel der berittenen Grenztruppen, mit welcher Kunst er oft geprahlt hatte, jetzt zu beweisen. Und als er seine erste kleine Unsicherheit bemeistert hatte, begann er auch gleich wieder zu renommiren und seinen Gegner zu verhöhnen. Er ein Riese an Grösse und Kraft, jener ein zarter Zwerg, wie konnte der denn seinen Schlägen mit dem schweren Säbel widerstehen!

Die beiden etwas ungleich grossen Cavalleriepallasche wurden vertheilt, nicht unparteiisch, Stronghand wählte gleich selbst, hielt mit kindlicher Unschuld die beiden Waffen neben einander und nahm die grössere, die andere dem Gegner gebend und dabei schwatzte der französische Voyageur immer prahlend und höhnend weiter.

Scharf und spitz war der etwas gebogene Säbel, daraufhin prüfte Munro seine Waffe — und dann musste er sie blitzschnell zum Schutze emporheben, denn urplötzlich, ohne irgend eine Warnung gegeben zu haben, drang Stronghand mit furchtbaren Hieben auf ihn ein.

Nun ist es aber auch beim schweren Säbel am allerwenigsten die rohe Kraft, welche den Kampf entscheidet. Stronghand handhabte den Säbel wie eine stählerne Keule; er wusste ihn nicht einmal anzufassen, und als er auf diese Weise nicht die Parade durchschlagen konnte, fing er mit wüthenden Stichen an, die Munro als unschuldige Spielversuche parirte, dabei rückte Stronghand ihm immer näher auf den Leib, und wenn es hier so anging, dann durfte Munro auch ungenirt retiriren, und nun wusste er, dass sein Gegner ja gar keine Ahnung von der edlen Fechtkunst hatte, und dabei überlegte er kaltblütig, ob er jenem nur den Arm unbrauchbar machen sollte, oder ob es nicht besser sei, ihm gleich den Kopf zu spalten.

»Hund verfluchter!« brüllte Stronghand und fing zur Abwechselung wieder mit dem Hauen an. Die Indianer heulten vor Vergnügen.

Da stiess Munro's Fuss beim Zurücksetzen an einen Felsen, und nun hatte er seinen Entschluss gefasst, noch einen der langsamen, weil mit dem ganzen Arme gegebenen Hiebe parirt, zum ersten Male fiel Munro mit einer Prim aus, noch eine Drehung des Handgelenks — und da lag Stronghand auf dem Rücken, zwei Schritte rechts von ihm sein rechter Arm, den Säbel noch in der Faust — zwei Schritte links von ihm sein Kopf, ebenfalls glatt vom Rumpfe getrennt, noch die Augen rollend.

Den Indianern blieb das »Hau« in der Kehle stecken. In der Steinwildniss verwandelte sich auch alles menschliche Leben in regungslosen Stein. Alles blickte starr vor furchtsamer Scheu nach dem noch in Positur stehenden Gladiator, nach dem Körper, den er so in einem einzigen Momente, gar nicht zu verfolgen, in drei Theile zerlegt hatte. Auch die gefangenen Cowboys, auch Dick, auch Ellen. Nur einer war nicht zur Bildsäule verwandelt.

»Bitte, ein recht intelligentes Gesicht, lächeln Sie freundlich,« liess sich des Reporters Stimme vernehmen, dem man seinen Photographen-Apparat gelassen hatte, es knipste — »Danke, never mind,« und Mr. Schade legte den Zeigefinger an die schottische Mütze und schnellte ihn nach vorn, er hatte den unheimlichen Kopf mit den noch immer rollenden Augen photographirt.

Dann kam wieder Leben in den Häuptling, und schon wie er langsam auf Munro zuschritt, wusste dieser sofort, nicht nur aus den Zügen, schon aus dem Gange, aus der ganzen Haltung, was er zu erwarten habe — keine Rache, keine Strafe — und er senkte die Waffe.

»Das lange Messer hat den furchtbaren Stronghand getödtet,« begann der Häuptling feierlich. »Das lange Messer ist ein gewaltiger Krieger. Der schluckende Geier ist der grosse Häuptling der Nadowessiers, der schluckende Geier will mit dem langen Messer Freundschaft machen.«

Der Häuptling fuhr vor dem sich hebenden Säbel etwas zurück. Munro hatte nur nach Ellen gedeutet.

»Wenn Du mein Freund sein willst, so musst Du erst die Banden jener Dame lösen.«

Der schluckende Geier blickte hin, sann einen Moment.

»Deiner Squaw? Will mein Freund mit seiner Squaw in das Lager des schluckenden Geiers kommen und seinen Kriegern und Kindern lehren, wie man mit dem langen Messer kämpft?«

»Ich will es.«

Der Häuptling ging selbst hin, zog das Messer aus dem Gürtel und durchschnitt Ellen's Fesseln. Munro war ihm gefolgt.

»Jetzt diesem, und diesem auch. Es sind meine Freunde, ich darf nicht frei sein, wenn sie gebunden sind.«

»Mein Bruder ist so edel wie stark.«

Auch Dick's Fesseln fielen, und der Reporter wurde losgekettet.

»Und diese Cowboys auch.«

Es war ein starkes Verlangen; der Häuptling zögerte und machte ein finsteres Gesicht. Seine Krieger wollten doch ein Vergnügen haben, die Getödteten forderten auch Rache.

»Sie müssen sterben.«

»So binde auch mich wieder,« beharrte Munro standhaft.

»Will das lange Messer den Nadowessiers das Kämpfen lehren, wenn ich sie am Leben lasse? Sie sollen die Büffelhäute am Wasser gerben.«

Munro bejahte, auch die Cowboys waren frei, wenn auch nur als Sclaven, wurden aber auch gleich von Indianern in die Mitte genommen, Somaja sprach mit dem Häuptling in seinem Dialect.

Die Rothhäute hatten ihre Würde wiedergefunden, besonders unter den Augen solch' eine Kriegers; was sie jedoch nicht hinderte, den Todten auszuplündern. Der schluckende Geier hing sich die Ducatenketten selbst um; es kam aus Taschen und Falten noch mehr Gold zum Vorschein; wenn die Ringe nicht von den dicken Fingern herabwollten, wurden sie abgeschnitten, der Säbel aus der krampfhaft geballten Faust des abgeschlagenen Armes gewunden, dieser, wie der Körper, beseitigt, wahrscheinlich in einen hohlen Felsen geworfen. Mit dem Kopfe beschäftigten sich Dick und der Reporter, sie rissen sich um ihn.

»So reiss doch,« rief der Reporter.

»Ich reisse ja, Ihr haltet aber nicht fest, packt doch bei den Ohren an.«

»Was macht Ihr denn da?« rief Munro.

»Wir scalpiren ihn,« frohlockte Dick, »aber der Kerl hat so kurze Haare.«

Mancher Arzt, an die Indianergeschichten denkend, hat schon das Scalpiren an einer ihm zur Verfügung stehenden Leiche probirt, es ist auch darüber berichtet worden. Es geht, es genügt, rings um das Haar einen nur leichten Einschnitt zu machen, dann kann man die Haut abziehen oder sogar an einem dickeren Haarstrange, der Scalplocke, mit einem einzigen Rucke abreissen. Aber es gehört eine ganz gewaltige Kraft dazu — oder ein besonderer Kniff. Das ist gerade so wie mit dem Bogenspannen. Als sich in Deutschland eine Bande Sioux producirte, zeigte im Zoologischen Garten zu Leipzig ihr Impresario einer Gesellschaft von Herren —es handelte sich um eine Wette — einen ihrer Bogen, aus dem Horne des Steinbocks. Keinem der Herren gelang es, und es waren einige Kraftmeyer darunter, den Bogen nur so weit zu spannen, um den mit Daumen und Zeigefinger am Federschaft gepackten Pfeil nur zehn Meter weit zu entsenden, während ein Indianer, der nach seinem Oberarm gar keine besondere Muskelkraft besass, die Sehne mit spielender Leichtigkeit zurückzog, so weit er wollte, den Pfeil in den Wolken verschwinden lassend. Hierbei handelt es sich eben nur um die Ausbildung der Muskelkraft von Daumen und Zeigefinger, und wirklich ergab eine Prüfung, dass jeder der Sioux zwischen diesen beiden Fingern eine kleine Haselnuss aufdrücken konnte, und dazu gehört etwas. Ferner war es auch dem stärksten »Bleichgesicht« ganz unmöglich, die abgelöste Sehne wieder auf den Bogen zu bringen, und ein halbwüchsiger rother Junge macht es ohne Anstrengung mit einem kleinen Ruck. Das sind Merkmale, an denen man echt von unecht unterscheiden kann.

Die Pferde kamen, der Häuptling malte wieder seine stumme Sprache in die Luft, mehrere Thiere mussten zwei Reiter aufnehmen, immer ein Indianer hatte vor sich einen der Gefangenen — denn solche waren es doch noch — alle Sättel oder Decken waren schon besetzt, nur ein Pferd war noch ledig und dort standen noch Munro und Ellen.

»Will mein Bruder nicht seine Squaw vor sich nehmen?« Munro stieg auf, und half Ellen zu sich herauf. Sie hatte noch kein Wort gesagt. Der plötzliche Wechsel ihres Schicksals war zu viel für sie gewesen. Sie zitterte in seinen Armen — und weinte.


— — — — — — — —

Einsam lag die Cisterne da, in und um welche es einige Tage so lebhaft zugegangen war. Die abgehungerten Pferde hatten ausgelitten, sie waren zuvor getödtet worden.

Ganz einsam war es wieder. Denn der hünenhafte Mann im gelben Lederanzug, welcher auf der Plattform stand und dorthin blickte, wo die Reiter als kleine Punkte am Horizont verschwanden, war selbst eine Steinfigur, ebenso wie der neben ihm stehende arabische Windhund.

Die Punkte waren untergetaucht, und endlich kam Leben in das menschliche Steinbild.

»Ausgespielt und ausgefochten,« sagt er leise und traurig. »Nun, mein armer Hassan, komm, nun wollen wir die letzte Wanderung zusammen machen, und dann — müssen wir uns trennen. — Es hat sich erfüllt. — Er hat gesiegt. — Wohl mir. — Und er ist ihrer werth. Er hat sie sich wie ein Mann errungen. — Und Du, mein Hassan, Du wirst alt, Du bedarfst der Ruhe, und der Geliebte Deiner neuen Herrin wird auch Dich lieben.«



26. Capitel.

Der verhängnissvolle Schuss.

Mit der Radreise war es vorbei. Die Indianer wussten jedenfalls, wie zwei der Bleichgesichter schon einmal entflohen waren, sie hatten die Räder zertrümmert. Die Gefangenen durften sich frei in dem grossen Wigwamlager bewegen, wurden aber ständig beobachtet. Die Cowboys mussten den Weibern beim Gerben der Felle helfen. Wer einmal nur mit einem Messer in der Hand gesehen wurde, war augenblicklich des Todes; das war ihnen eingeschärft worden. Munro hatte gleich am ersten Tage seine Fechtlectionen beginnen müssen, zuerst mit Knüppeln; der schluckende Geier versprach noch mehr Säbel verschaffen zu wollen; der Häuptling hatte jedenfalls grosse Pläne mit einer neuen Armirung vor. Mr. Schade photographirte einen Indianer nach dem anderen, bis seine Films erschöpft waren. Dann bummelte er den ganzen Tag unthätig im Lager herum. Dick galt als des Fechtlehrers Leibsclave, Ellen als dessen Squaw, den Beiden war ein Wigwam allein angewiesen worden. Mit keinem Blicke hatte der Häuptling bisher ein Begehr nach der weissen Squaw verrathen, Ellen aber hielt es dennoch für besser, die Rolle von Munro's Frau zu spielen. Sie schrieb, zeichnete und lernte von den stickenden Mädchen deren Sprache und Handfertigkeiten.

Auf diese Weise waren nun schon drei Wochen vergangen, unterbrochen von einer Büffeljagd, an welcher auch Munro und Ellen hatten theilnehmen dürfen, und dem Abbrechen und Aufschlagen des Lagers, dazwischen anstrengende, tagelange Märsche. Denn die Indianer wechselten ihr Lager beständig, sie hatten den Landfrieden gegen die Bleichgesichter gebrochen, und wenn auch Deadly Dash das Fort nicht erreicht hatte, solch' ein Ueberfall blieb nicht unbekannt, die Rache würde schon noch in Gestalt der berittenen Grenztruppe der Union kommen.

Deshalb zog dieser Stamm, welcher fast 150 Krieger stellen konnte, beständig hin und her, nur auf den geschütztesten und schwer zugänglichen Plätzen die Wigwams aufschlagend; in der Nacht durfte kein Feuer brennen, selbst am Tage kein nasses Holz benutzt werden, doppelte Wachtposten standen, Kundschafter schwärmten in Entfernungen von Tagereisen umher, keine Vorsichtsmaassregel wurde unterlassen.

»Robin, wie soll das noch enden? Sollen wir denn unser ganzes Leben lang die Gefangenen der Sioux bleiben?«

Das Lager stand jetzt auf einer Waldblösse im nördlichen Dacotah rings von einem Sumpfe umgeben. Doch schadete dieser der Gesundheit nicht, er war mit einer Eiskruste bedeckt, der Urwald nahm ab und zu schon den Charakter einer schneeigen Winterlandschaft an.

Gerade heute war es wieder einmal sehr kalt gewesen. Die Indianer schlugen um den nackten Oberkörper eine wollene Decke, sie untersuchten die Schneeschuhe, auf denen Büffel und Elenthiere gejagt werden, die Weiber nähten an den Pelzcostümen aus den Fellen des Fuchses und des Schneehasen.

Den ganzen Tag hatte Munro eine Rothhaut nach der anderen mit dem Fechtknüppel verbläut; vor Anbruch der Dunkelheit fand die Hauptmahlzeit am offenen Feuer statt, an welcher auch die mit Bärenklauen ausgezeichnete Ellen als die einzige Squaw theilnehmen durfte; dann mussten die Feuer verlöscht werden, auch Munro und Ellen zogen sich für zehn bis zwölf Stunden in das ihnen gemeinschaftlich zur Verfügung gestellte Wigwam zurück. So, wie sie angezogen waren, kroch Jeder unter sein weichgegerbtes Bisonfell.

»Drei Wochen ist noch nicht das ganze Leben,« gab Robin auf Ellen's seufzende Frage scherzend zur Antwort.

»Starke kann das Fort nicht erreicht haben, er muss verunglückt sein.«

»Sie scheinen den Glauben an Starke's Unfehlbarkeit verloren zu haben.«

»Es ist ja gar keine Hoffnung mehr vorhanden! Sonst müsste er doch schon längst mit den Miliztruppen hier sein!«

»Wir wollen hoffen und die Augen aufhalten, die vier Cowboys wollen auch nicht für immer als Sclaven arbeiten, deren Willigkeit kommt mir gar zu unnatürlich vor, die sinnen Tag und Nacht auf eine Flucht, die müssen wir hauptsächlich beobachten, dass uns kein geheimes Zeichen von ihnen entgeht.«

So sprachen sie in dem finsteren Wigwam noch viele Stunden lang unter den Büffelfellen hervor, sie sprachen von Fluchtplänen, wegen eines heimlichen Lauschers bedienten sie sich des Deutschen, welches auch Munro recht gut beherrschte, sie sprachen über die Zukunft, zuletzt aber nicht mehr von Fluchtplänen.

»Ach, Robin, ich möchte so gern wieder einmal baden,« seufzte Ellen schmerzlich.

»Und ich möchte mich so gern wieder einmal rasiren,« wehklagte Robin. »Haben Sie gesehen, wo mein Rasirmesser geblieben ist? Eine alte Hexe schabt damit die Büffelfelle.«

»Ach, Robin, ich habe solche furchtbare Sehnsucht nach — nach — nach .... wissen Sie, wonach? Können Sie es errathen?«

»Nach mir.«

»Sie ......... nach einem Stück echten Plumpudding.«

»Ach, Ellen, und ich habe auch eine so furchtbare Sehnsucht, nach — nach — nach ..... wissen Sie, wonach? Rathen Sie einmal.«

»Nicht wahr, nach einer recht grossen Omelette aux Confitures?«

»Nein, aber nach so etwas Aehnlichem, es klingt so ähnlich — nach Ihnen. Na, Ellen, da gieb mir doch mal einen Kuss aux Confitures.«

»Oh. Sie, Sie — Unhold. Schämen Sie sich denn gar nicht?«

»Nein, warum denn?«

So war das neue Thema eingeleitet worden, so wurde es fortgesetzt.

Nach einer viertel Stunde hatte es wieder eine neue Seitenrichtung eingeschlagen.

»Ja, Sie haben Recht — es war eine Geschmacksverirrung von mir.«

»Das mit dem Plumpudding?«

»Seien Sie doch nur ernst, mir ist so feierlich zu Muthe ....«

»Und mir wird's ganz warm unter der Decke.«

»Starke ist ja ein ganz ausgezeichneter Mensch, so treu, so gut, so bieder, aber ....«

»Aber mit dem Ledigbleiben ist es nichts.«

»Ich bleibe dennoch ledig.«

»Ich nicht.«

Ein leises Zischen erscholl in dem Wigwam, das Flüstern verstummte, sogar der Herzschlag der Beiden setzte aus.

Der Retter war da — natürlich Starke!

Nun war Ellen trotz ihrer dauerhaften Lodenhosen immer noch ein Weib. Als solches empfand sie in diesem Augenblick die im Wigwam befindliche Person nicht als den Befreier, sondern als den Mann, dem sie ihre Liebe schon gestanden und der nun Alles belauscht hatte, und deshalb erbleichte und erröthete sie abwechselnd nicht vor gespannter Hoffnung, sondern vor Scham über sich selbst — mit der Scham des keuschen Weibes.

Ja, aber was nun? Es war bei dem Schlangenzischen geblieben, und die Minuten wurden zur Ewigkeit.

»Pst,« flüsterte Munro endlich.

»Schschschscht,« zischte es abermals, und es kam von dem verhangenen Zelteingange her.

Himmel - Herrgott - Bombenelement, dachte nach einer abermaligen Viertelstunde Sir Munro auf Deutsch, solch' eine Befreiung mag indianisch sein, aber sie ist grässlich langweilig.

»Starke!« flüsterte Ellen etwas lauter.

Die Schlange zischte eindringlicher.

Wenn Sir Munro noch im Besitze einer Uhr gewesen wäre, und er hätte seinen Finger in ein Streichholz verwandeln können, er würde seinen Finger angebrannt haben, um einmal nach der Uhr zu sehen. So begnügte er sich, die Secunden zu zählen, und er zählte bis 3600, das ist eine Stunde, und dazu gehört bei solch' einer Situation ein gut Theil Energie, und dann biss er vor Verzweiflung in das haarige Büffelfell. Ellen schwamm schon längst in Thränen. Dass ein Sträfling in der letzten Nacht, die er in seiner Zelle zubrachte, den Verstand verloren oder sich gar aufgehangen hat, weil er das fürchterliche Warten auf den Anbruch des Morgens, der ihm seine Freiheit erbringt, nicht mehr ertrug, das soll schon öfters vorgekommen sein. Das sagt auch ein deutsches Sprichwort über dieses Hoffen und Harren.

Da — draussen krächzte dreimal die Nachteule, gleich darauf blökte in weiterer Entfernung ein Hirsch. Das tröstete wieder etwas.

Solche Thierstimmen wurden freilich jede Nacht laut, aber für die Verzweifelten war es ganz selbstverständlich, dass es die Signale der Freunde sein müssten, und wenn es wirklich nicht der Fall wäre, dann — sollte Gott den Teufel todtschlagen und sämmtliche Eulen und Hirsche dazu.

Nein, das hielt kein irdischer Mensch aus. Ellen schluchzte herzzerbrechend.

»Sssssssst,« zischte es sofort warnend, und jetzt biss auch Ellen in das alte Büffelfell.

»Huhuuuh — huhuuuh,« liess sich wieder die Eule vernehmen, und dann bellte ein Fuchs, und dann blökte wieder der Hirsch.

Geduld, nur Geduld, Deadly Dash weiss schon, was er thut.

Geduld! Sechs Stunden mussten seit dem ersten Zischen nun mindestens schon vergangen sein. Eine Eisenbahnfahrt von Bombay nach Calcutta bei 40 Grad Celsius, wenn man das eine Bein zum Fenster hinaushängt, das andere auf die Kofferstellage legt und den Himmel um einen Eisenbahn-Zusammenstoss anfleht, der dieser Qual ein Ende macht — es war nichts dagegen. Ellen war bereits an gebrochenem Herzen gestorben, Munro frass schon die Haare von seinem Büffelfell ab.

Na, und endlich etwas Anderes — Ellen wurde wieder lebendig — ein Schuss! In weiter Ferne war er gefallen. Und noch ein anderer hallte dumpf herüber, noch ein anderer, mehrere, sie wurden wieder spärlicher, aber bei der Schiesserei blieb es, und dazwischen die Thierstimmen.

Aha! Die Freunde hatten sich absichtlich von den Indianern bemerken lassen, hatten sich mit ihnen in eine Plänkelei eingelassen, beschäftigten sie, und inzwischen schlich Starke in das Lager und holte die Gefangenen heraus. Natürlich, so war es. Denn dass sich Starke schon hier im Wigwam befand, daran war ja gar kein Zweifel, und er würde sich schon sichtbar oder fühlbar machen, wenn die Zeit dazu gekommen. Aber sprechen hätte er doch einmal können, nur ein kleines tröstendes Wörtchen. Und er sprach nicht.

Der Bogen war überspannt, jetzt brach er.

»Zum Donnerwetter, Starke, sind Sie das?!« platzte Ellen heraus.

Ein drohender, tiefer Kehllaut, die Decke wurde von dem Eingang gerissen, draussen herrschte schon ein trübes Dämmerlicht, es drang in das Wigwam und beleuchtete den Mann, der sich die ganze Nacht bereits darin aufgehalten hatte — oh weh, das war kein Starke, das war der ihnen wohlbekannte uralte Indianer, welcher immer, wenn er seine Pfeife ausgeraucht hatte, die Tabakssauce aus dem Rohre in seine Nasenlöcher laufen liess, und drohend wie zum Wurfe hatte er den Tomahawk gegen die Beiden erhoben.

»Schschschscht.«

Das war eine Ueberraschung! Gleichzeitig wurde es den Beiden jetzt klar, was das Schiessen bedeutete, um was es sich handelte. Allerdings waren die Retter in der Nähe, aber es war bereits zum Kampf nach indianischer Plänkeleiweise gekommen, wenn sie Deckung finden können, und das dazu noch in weiter Entfernung. Draussen schossen die Krieger aus dem Hinterhalt, im Lager befanden sich nur noch die Weiber, Kinder und die ungelenken Greise zum letzten Schutze, und dieser Alte z. B. war angestellt, wenn die Bleichgesichter doch das Lager erstürmten, diesen beiden Gefangenen hier noch die Köpfe zu spalten, ehe sie befreit wurden.

Sie blickten sich an, und Ellen las aus Munro's Augen dessen Entschluss.

»Ja, tödte ihn, wenn es Zeit dazu ist, ich helfe Dir,« lautete ihre stumme, nur mit den Augen gegebene Antwort. Die Decken durften sie von sich abwerfen, aber wie sie aufstehen wollten, hob der Alte sofort wieder den Tomahawk, und sie blieben sitzen.

Beide konnten von ihren Plätzen aus durch den offen bleibenden Zeltausgang etwas von der Waldblösse übersehen. Doch zu unterscheiden war nichts, es schneite sehr stark, Alles war wie von einem weissen, durchlöcherten Tuche bedeckt.

Das langsame Schiessen in der Ferne währte fort und fort, sonst kein einziger Laut; es war ein merkwürdiger Kampf, und so verging mindestens noch eine Stunde, und Munro rechnete unausgesetzt, wohin er beim Aufspringen die Füsse zu setzen habe, ob er erst den linken Fuss dorthin stemmen solle, oder ob er erst nach dem steinernen Napfe greife und dann erst das rechte Bein zum Sprunge vorwerfe. Oder sollte er lieber mit dem rechten Fuss abspringen? -Nein, mit dem linken, dann war seine rechte Hand der Steinschüssel näher.

Diese grosse Schüssel, wie sie die Indianer aus dem weichen, wenn frisch gebrochenen Pfeifensteine, der mit der Zeit an der Luft erhärtet, mit dem Messer zu schneiden verstehen, war in dem Wigwam der einzige Gegenstand, welcher als Waffe dienen konnte, und eben war Munro mit seiner Calculation bis in die kleinsten Details fertig, als er zur Praxis übergehen konnte. Es kam urplötzlich wie der Hurican nach der Windstille.

»Hip —hip — hip — orrreeehh!« gellte der englische Schlachtruf, den auch die Nordamerikaner haben. Er klingt nicht schön, es ist kein brausendes Hurrah; er wird mit der höchsten Fistelstimme ausgestossen, er kann aber auch wie liebliche Engelsmusik klingen, und er kam nicht aus weiter Ferne, hier, ganz dicht, schon am Wigwam, aber das nachfolgende indianische Kriegsgeheul musste noch ausserhalb des Lagers sein, und da war der donnernde und krachende Hurrican schon da ....

Der alte Indianer hatte wie gelähmt den Tomahawk sinken lassen — der Feind im Lager! — Zum ersten Male wendete er den Kopf, er mochte' an eine Geistererscheinung glauben — da zerbrach die schwere Steinschüssel auf seinem brechenden Schädel, im Stürzen entriss ihm Munro den Tomahawk, noch ein Hieb ....

»Du bleibst im Zelt,« schrie er und stürzte in das Schneewetter hinaus.

Aus dem Walde brach eine Schaar von Reitern mit geschwungenem Pallasch hervor, in der dunklen Uniform der irregulären Roughriders; mehr sah Munro gar nicht; es war, als wenn vor der Bühne der den Nebel vorstellende Schleiervorhang herabgelassen wird, und hinter diesem Vorhang donnerte und heulte und krachte es, schoss, hieb, stach und katzbalgte es sich; Munro stürzte tiefer in das Schneemeer hinein, er sah zwei Männer sich am Boden wälzen — »Blutige Canaille,« keuchte der eine — Munro erkannte einen nackten rothen Schädel mit Scalplocke, er hob den Tomahawk — da wurde er von einem kleinen rothen Jungen wie von einer Katze angesprungen, die Schneide des zum Hiebe bereiten Tomahawks grub sich in die Schulter des männlichen Kindes ....

Ellen hatte die Warnung nicht befolgt, sie war ihm gleich nachgesprungen, blieb aber entsetzt ob des Schauspiels, welches sie hinter dem Schleier mehr ahnte als sah, gleich vor dem Zelteingange stehen.

In demselben Augeblicke huschte wie ein Schatten ein Indianer geduckt an ihr vorüber, und in demselben Augenblicke sah Ellen aus dem Nebel einen hünenhaften, gelben Mann hervorspringen, den Revolver so von oben nach unten schleudernd, wie es dieser selbe Mann sie gelehrt hatte, und der Feuerstrahl, der seinem Revolver entfuhr, drang bis in ihr Gehirn und schoss wieder aus ihren Augen, sie empfand einen furchtbaren Schmerz im Kopfe — sie brach bewusstlos zusammen.



27. Capitel.

Schluss.

Ellen schlug die Augen auf, sie lag im Wigwam, sie lag sehr weich, sie wollte sich aufrichten, es gelang ihr nicht. Dann tastete sie an ihrem Kopfe.

»Ich lebe noch?« flüsterte sie.

Ihre Hand wurde ergriffen, Munro's Gesicht beugte sich über sie.

»Gott sei gelobt, Sie sind gerettet, und Sie werden nicht einmal etwas nachbehalten.«

»Aber — ich hatte doch eine Kugel in den Kopf bekommen.«

»Nein, oh nein. Sie sind nur am linken Beine verwundet worden.«

Lange sann Ellen nach.

»Ja — ja — jetzt fühle ich es,« sie legte die Hand an der betreffenden Stelle auf die Decke, »es ist ganz steif — aber Schmerz empfinde ich nicht — es ist ganz steif ....«

»Nicht bewegen!!«

Wieder eine lange Pause, Ellen tastete auf der Decke.

»Es ist so — still — Und ich bin .... wie lange — liege ich denn schon?«

»Vier Tage.«

Diesmal eine lange, lange Pause der Ueberlegung; Ellen hatte die Augen geschlossen.

»Mein — linkes Bein — ist — geschient. Sagen Sie mir die Wahrheit.«

»Nun, ich will es Ihnen sagen, einmal erfahren Sie es doch; Sie brauchen nicht die geringste Sorge zu haben. Allerdings der Schenkelknochen ist gebrochen, aber ohne jeden Splitter, die Kugel hat ihn glatt durchgeschnitten und ist auf der anderen Seite wieder herausgegangen. Es war nur eine kleine Operation nöthig, dann nur noch Verbinden und Schienung. Ich garantire dafür, dass Sie den Gebrauch des Beines vollkommen wieder erlangen, keine Spur wird zurückbleiben. Ein Glück war es nur, dass Sie in solch' tiefer Ohnmacht lagen und dass jeder Roughrider antiseptische Verbandwatte und Bandagen bei sich hat.«

Ellen stöhnte schmerzlich.

»Oh mein Gott,« weinte sie, »der arme Starke — wo ist er — ich will ihn sofort sehen — er soll nicht glauben ...... oder,« fuhr sie hoffnungsfreudig auf, »er weiss nicht, dass er mich geschossen hat?«

Sie erschrak. Munro hatte einen Schrei nicht unterdrücken können, wahrhaft entsetzt prallte er zurück.

»Sie erinnern sich ......?«

»Ich sah es, er schoss auf einen gerade an mir vorbei springenden Indianer. Aber er weiss es doch nicht, dass er mich traf?!«

Es lag eine namenlose Angst in ihrer Stimme und da brach auch der Jammer bei dem Baronet hervor, wie er halb stöhnend, halb schluchzend fortfuhr:

»Oh, Ellen! Ellen!! Was haben meine Augen erblickt! Ich habe den von Schmerz wahnsinnig gewordenen Achill gesehen — wie er im Blute watete und ich habe ihn fluchen hören. — Nun kann Alles zu Hölle gehen! schrie er — und er erwischte einen fliehenden Indianer hinten am Fusse, wirbelte ihn um den Kopf und zerschmetterte ihn am nächsten Baum ......«

»Hören Sie auf, hören Sie auf!« stöhnte Ellen.

Ein junger Mann betrat das Zelt, durch ein schlichtes Merkmal an der prunklosen Uniform als Officier gekennzeichnet. Trotz seiner Jugend war er schon ein verwitterter Soldat und dabei dennoch ein gebildeter Mann. Er entschuldigte sich, er habe im Krankenzelte sprechen hören und sich erst überzeugt, dass er eintreten könnte. Mit der ehrlichsten Herzlichkeit gab er Ellen die Hand, aber ganz vorsichtig, legte seine andere noch auf die ihre. Der Schuss hätte ja gar nichts zu sagen, meinte er, in drei Monaten könne sie wieder wie ein Wiesel springen, und er und ein Dutzend seiner Reiter ständen ihr mit Leib und Seele zur Verfügung.

Erst wollte Ellen hören, was geschehen sei, und sie erhielt Aufklärung.

Starke war von Hassan eingeholt worden und am dritten Tage an der Cisterne zurückgewesen; aus einem Versteck hatte er die Duellscene und Alles beobachtet. Vielleicht hätte ein Deadly Dash helfen können, meinte der Offizier. Er brauchte es nicht zu riskiren; er sah die Gefangenen vorläufig dem Leben erhalten, und er machte sich zum zweiten Male auf den Weg nach Port Lamarie. Jetzt aber hatte man es mit dem ganzen Stamme der Schwarzfüsse zu thun, und das Fort konnte doch nur vierzig Mann abgeben. Ein Zufall und Glück war es, dass sich dort gerade gegen dreissig Roughriders aufhielten, eine Art von Gendarmerie, garnisonlos. Diese schlossen sich natürlich dem Rachezuge an, waren die Hauptmacher. Es war keine leichte Aufgabe zu lösen. Abgesehen davon, dass der Feind in doppelter Stärke war — und man musste auch noch mit anderen Stämmen, mit einem ganzen Indianeraufstande rechnen — wusste er sich verfolgt, zog beständig hin und her, um den Gegner zu täuschen und schlug sein Lager nur an Plätzen auf, wo er vor einem Ueberfall gesichert oder bedeutend im Vortheil war. Bis man ihn hier im Sumpfe hatte, da war er geliefert. Denn gerade in diesem Sumpfe wusste der den Soldaten auch als Oberst Horst wohlbekannte Deadly Dash genauen Bescheid, dann kam auch noch eine sehr kalte Nacht zu Hülfe, welche das trügerische Wasser fest genug gefrieren liess. Den Weg musste man freilich immer noch Schritt für Schritt kennen, um Pferde lebendig hindurch zu bringen. Die berittene Infanterie sass ab und liess sich mit den Rothhäuten in eine Plänkelei ein, während Starke dieRoughriders auf Schleichwegen durch den Sumpf führte, und als es die Indianer merkten, war es schon zu spät für sie. Im offenen Kampfe hielten auch 300 Rothhäute nicht den 30 Pallaschen stand.

Ja, es hatte Blut gekostet. Nähere Angaben über die Verluste wollte der Officier nicht machen. Er war von seinem Vorgesetzten commandirt worden, zum Schutze der Schwerverwundeten mit einem Dutzend Gensdarmen hier zu bleiben. Die Leichtverwundeten, die gefangenen Indianer und Frauen und Kinder waren bereits von einigen Garnisonsoldaten nach dem Fort transportirt worden. Die Hauptmacht verfolgte den Feind, bis dieser aufgerieben war oder die Waffen gestreckt hatte, und dann wurden alle Ueberlebenden vom Stamme der Schwarzfüsse nach dem Indianerterritorium verpflanzt, wo sie unter strengerer Aufsicht standen. Dasselbe galt von jenem kleinen Stamme, der sich an dem Ueberfall gegen friedliche Reisende betheiligt hatte, in dessen Händen sich Munro und Dick schon einmal befunden hatten.

»Und Mr. Starke?« fragte Ellen, als er schwieg.

»Sie meinen Oberst Horst? Er ist der Führer der Verfolger.«

»Auch Mr. Schade hat sich ihm angeschlossen,« setzte Munro hinzu, »unsere Cowboys natürlich erst recht.«

»Und Starke weiss, dass er mich versehentlich getroffen hat?«

»Ja,« entgegnete der Officier leise, »und er scheint der Ansicht gewesen zu sein, Sie getödtet zu haben, obgleich er sich nicht darüber vergewisserte, er — raste. Doch jetzt weiss er auch bereits, dass Sie gerettet sind, er erfuhr es noch an demselben Tage, und da .... lassen Sie mich nicht darüber sprechen. Er soll schon einmal aus Versehen eine Frau erschossen haben.«

»Ich glaube, Leutnant,« sagte Munro, »Sie könnten nun Ihre Leute ihre Kochkunst beweisen lassen.«

»Auf der Stelle. Die Boys kochen schon seit vier Tagen jede Stunde Tag und Nacht die frische Bouillon, welche der Doctor verordnet hat, wenn die arme Miss wieder zum Bewusstsein kommt.«

Der Leutnant eilte hinaus. Eine Zeit lang blieb Ellen mit geschlossenen Augen still liegen.

»Sir Munro,« erklang es dann leise.

Dieser hatte sich mit den Verbandsachen zu schaffen gemacht, welche auf einem Holzklotz ausgebreitet waren. Er trat an ihr erhöht angebrachtes Lager.

»Was wünschen Sie, Ellen?« fragte er, als sie ihn nur immer ansah.

»Ist hier ein Arzt?«

»Der aus Port Lamarie war hier, aber er ist mit den Anderen gegangen, es giebt doch noch viel zu thun für ihn, nachdem er sich überzeugt hat, dass ich auch ohne Doctorexamen die hier untergebrachten Verwundeten behandeln kann.«

»Und wer ist der Arzt, der mich operirt und geschient hat?«

Munro blieb die doch so einfache Antwort auf diese merkwürdige Frage schuldig. War er schon vorhin etwas erröthet, so färbte er sich jetzt dunkelroth, Ellen blieb bleich und so sahen sich die Beiden an.

»Brauchen Sie keinen weiteren fachmännischen Berather in meinem Falle?«

»Nein.«

»So möchte ich auch in keines anderen Arztes Behandlung.«

Und jetzt erglühte auch sie wie eine Purpurrose, als sie den Kopf wieder zurücksinken liess.

»Robin,« wurde er nach einer Weile abermals an ihr Lager gerufen.

»Was wünschen Sie, Miss Howard ?« musste er abermals fragen. Aber Beide hatten die Anrede gewechselt.

Sie sagte nichts und er verstand nicht, warum sie ihm immer die geschlossene Hand hinhielt, so unsicher, so flehend — bis er hastig danach griff — es war der oxydirte Kupferring, der ihren Namen trug und als der Leutnant eigenhändig die Bouillon brachte, sah er den zierlichen Siegelring, der bisher Sir Munro's kleinen Finger geschmückt hatte, an ihrem Zeigefinger glänzen.

— — — — — — — — —

Die kräftige Natur des Mädchens überstand die Krisis des Wundfiebers. Als Ellen wieder Interesse für ihre Umgebung hatte, befand sie sich zwar noch in derselben Lichtung des im Winterschmuck prangenden Urwaldes, aber in einem schmucken Blockhäuschen, wie solche die zurückgebliebenen Roughriders zur Unterbringung der Verwundeten und als Winterquartiere im Handumdrehen eine ganze Menge hatten entstehen lassen. Denn es waren ehemalige Cowboys oder lumberers, Holzfäller, und die verstanden so etwas, und die meisten von ihnen waren Deutsche, welche, wie schon die alten Germanen, so gerne in fremde Kriegsdienste treten. Ellen machte merkwürdige Beobachtungen an ihnen.

Wahrhaftig, wenn diese Burschen auch kein Hauptwort sagen konnten, ohne ein »blutig« vorzusetzen und den Tabak pfundweise in den Mund pfropften, der fremden Dame gegenüber waren sie Gentlemen vom Scheitel bis zur Sohle, und geradezu rührend war die Aufmerksamkeit, welche sie der Kranken entgegenbrachten; Ellen merkte es wohl, wie sie sich in den Dienst in der Krankenstube theilten; heute wurde diese von dem Einen, morgen vom Zweiten gereinigt und so fort, Einer wollte es immer besser machen als der Andere, und Jeder brachte ihr immer etwas mit, einen neu geschnitzten Löffel, der zimmerte ihr ein bequemes Schreibpult zurecht, jener besohlte ihre Mocassins und brachte sie ihr neben dem Suppenteller herein.

»Heute habe ich ihr das Essen zu kochen,« hörte sie draussen sagen.

» Aber heute bin ich daran, ihr Messer zu putzen.«

»Sie hat gesagt: Ich danke Ihnen, mein Lieber — das hat sie zu mir gesagt!« verkündete draussen Einer, der sie eben verlassen.

»Aber zu mir hat sie gestern gesagt: Ich danke Ihnen vielmals, mein lieber Tom — sie weiss schon meinen Namen,« triumphirte ein Anderer.

Ja, Ellen wurde richtig verkauft, abermals ausgeknobelt.

Sir Munro erzählte ihr, zwei Roughriders hätten gewürfelt, der Eine verlor Alles, auch seine Löhnung im Voraus, da habe der Andere verlangt, er solle seinen morgenden Tag einsetzen, den er als Krankenwärter bei der fremden Lady habe, aber darauf sei jener nicht eingegangen.

»Was haben denn nur Ihre Leute mit mir?« fragte sie einmal den Leutnant, einige ihrer Beobachtungen erklärend.

»Ach, Miss, es thut unsereinem so wohl, wieder einmal eine weisse Dame zu sehen — noch dazu, wenn's eine anständige ist.« lautete die herzlich offene Antwort, und dabei strahlte der junge Officier im ganzen Gesicht.

Von den anderen Verwundeten bekam Ellen nichts zu merken.

Ein stilles Begräbniss wurde ihr erst recht verschwiegen. Ab und zu kam eine Meldung aus Fort Lamarie, in drei Tagen schnellen Reitens erreichbar, oder auch direct von der Front.

Die Schwarzfüsse suchten die canadische Grenze zu erreichen, der Weg wurde ihnen verlegt, wiederholt hatten neue Kämpfe stattgefunden. Starke hatte einen Stich in die rechte Schulter erhalten, aber er war noch immer an der Spitze.

Ein Reiter ging nach Fort Lamarie ab, welches an der Pacificlinie liegt und Telegraphenstation ist. Ob Ellen etwas mitzugeben habe. Sie setzte ein Telegramm für 160 Dollars auf, welches dem Lady-Champion-Club ziemlich ausführlich ihr Schicksal erzählte.

»Sir Munro behandelt mich. I am engaged,« schloss die Depesche.

Nach sechs Tagen kam der Bote zurück, meldete einen ihm langsamer folgenden Waarentransport an und brachte ein Telegramm mit, welches im Fort Lamarie schon vor zwei Wochen für Miss Ellen Howard eingelaufen war, bezahlt für eventuelle Weiterbeförderung. Man hatte es dort festgehalten; die Bestellung, auch gar nicht so einfach, war bei den Verhältnissen, die jetzt in dem Fort herrschten, doch vergessen worden oder aus irgend einem Grunde unterblieben.

»Gwaliorminen pleite. Judith spurlos verduftet. Ist ruinirt. Ich auch. Bin verlobt. In vierzehn Tagen Hochzeit. Bitte um stilles Beileid. Oliva.«

Das gab viel zu denken, besonders der zweite Theil des Inhalts.

»Jetzt bleibt die Weltgeschichte stehen!« rief Ellen in hellem Staunen. »Die tolle Oliva heirathet! Wen denn eigentlich? Das zu sagen hat Sie natürlich vergessen. Am Ende weiss sie es selbst noch nicht! Und gleich in vierzehn Tagen! In vierzehn Tagen! Da könnte sie ja jetzt schon die Hochzeit gefeiert haben.«

Es vergingen zwei Wochen. Ellen war noch auf dem Lager festgebannt und würde es noch länger bleiben, an einen Transport nach dem Fort war noch nicht zu denken, Ellen wünschte es auch nicht, sie hatte den Urwald im Winterschmuck, auf den sie wenigstens ab und zu einen Blick bekam, bereits lieb gewonnen, und wenn draussen der Schneesturm tobte, würde es in dem mit Moos ausgefütterten Blockhäuschen erst recht gemüthlich.

An einem schönen Nachmittage hörte Ellen draussen seltsame fremde Töne schnell näher kommen, und doch kamen sie ihr so bekannt vor, sie wusste gar nicht, wo hatte sie das doch schon gehört .... »schneffschneffschneffschneff« ging es immer, es verstummte, und mit einem Male stürzte eine Dame herein, in ein pompöses Pelzcostüm gehüllt, eine Hutschachtel in der Hand.

»Ach Du allerärmstes Würmchen!«

»Die — die — Oliva!!«

Ja, es war und blieb Thatsache, es war die Oliva Hobwell, die im Urwalde von Dacotah an Ellen's Brust lag, nachdem sie erst vorsichtig gefragt hatte, ob sie das auch dürfe, und welche dann die Hutschachtel aufriss und über das Bett einen Regen von Bonbons und Chocoladen-Confect ausgoss.

»Na nu iss doch.«

»Ja, aber, Oliva, wie in aller Welt kommst Du denn hierher?!«

»Mit dem Automobil. Na nu iss doch,«

»Ja, aber, Oliva, ich denke, Du bist jetzt schon verheirathet?!«

»Noch nicht ganz. Pass auf. Die Geschichte ist schon fix und fertig, es ist der Morgen vom Hochzeitstage, ich habe schon mein Traukleid an, warte nur noch auf meinen Zukünftigen ....«

»Aber wer ist es denn nur, wer ist es denn nur?!«

»Der Lord — der Lord — der Lord Dingsda .... na, wie heisst der Kerl doch gleich .... Aujust ist sein Vornamen....«

»Lord Worthingham.«

»Jawohl, der Lord Worthingham ist es. Also ich habe schon das Traukleid an mit Allem, was dazugehört, draussen halten ein paar Hundert Equipagen, Aujust ist auch schon da, da bekomme ich Deine Depesche, ich lese sie — — Ellen angeschossen, liegt da in ihren Schmerzen einsam und allein im Urwalde von Amerika — — höre, Aujust, das hilft nichts, da muss ich hin, da musst Du noch ein bischen warten, und wenn Du's noch nicht kannst, dann musst Du's eben lernen — — wenn ich mich beeile, kann ich in Southampton gerade noch einen Dampfer erwischen; ich habe noch so viel Geistesgegenwart, die weissen Lumpen abzureissen und ein anderes Kleid überzuwerfen, auch den Pelzmantel, drüben soll's schon sehr kalt sein, nun aber fort, auf der Strasse merke ich, dass ich keinen Hut aufhabe, ich kaufe fix einen, ich muss meiner Ellen doch auch etwas mitbringen, also in die nächste Conditorei, die Hutschachtel mit Bonbons gefüllt, nun im Galopp nach der Victoriastation, ich kriege gerade noch den Zug, ich kriege auch gerade noch den Dampfer — — — auf dem Schiffe merke ich erst, dass ich noch meine weissen Atlasschuhe anhabe — — — hört, Kinder, im Pelzmantel ohne Hut, mit weissen Atlasschuhen — — — die Leute haben mich alle für verrückt gehalten.

»Als ob ich's überhaupt nicht immer wäre. Ich habe sie gegen die Stiefel einer Stewardess vertauscht — — hier, guckt mal, diese Galoschen. In New-York habe ich den rechten auf der Strasse einmal vom Fusse fallen lassen. Und ich merkte es in meiner Rage nicht einmal, ein Junge brachte ihn mir nach. Na, Kinder, ich sage Euch. Hier, Sir Munro, gucken Sie mal meine Strümpfe an. Sie denken wohl, das sind schwarze Strümpfe? Ne — weisse sind's — sie müssen bloss wieder mal gewaschen werden — — — Was heulst Du denn, Ellen?«

Munro konnte sich nicht mehr halten; er lehnte an der Wand, um vor Lachen nicht umzufallen, während Ellen, den ganzen Mund voll Chocolade, plötzlich in Thränen ausbrach.

»Und da hat Starke gesagt, es gebe keine ehrliche Freundschaft!« schluchzte sie.

»Ach, Nonsens. Meine Geschichte ist noch lange nicht fertig. Das Beste kommt erst noch. In New-York höre ich, dass ich Glückspilz abermals gerade noch den nächsten Pacificzug erwischen kann. Auf dem Schiffe hatte ich mich natürlich schon orientirt, wohin und wie dann weiter. Wie ich nach der Station galoppire, sehe ich in einem Laden ein famoses Automobil stehen — halt, denke ich, Oliva, sei gescheidt, ehe es zu spät ist, von Fort Lamarie aus hast du ja noch hundert und etliche Meilen zu machen — ich also in den Laden — — — dabei habe ich noch das Fenster von der Thüre eingeschmissen — dieses Automobil sofort transportfähig nach der Station — — — wird gemacht, Madam — — — ich geniales Weib denke an Alles, auf dem Fort könnte es kein Petroleum geben, also nehme ich gleich zehn Gallonen Petroleum mit .......«

»Pardon, was hat das Fahrzeug gekostet?« unterbrach Sir Munro die Sprecherin. Denn er hatte das draussen stehende Automobil gemustert und so viel verstand er auch davon, dass dies ein Luxuswagen war, ein Prunkstück im Schaufenster eines Radsportladens, in dem die amerikanischen Milliardäre ihre Einkäufe machten.

»Was das Ding kostet? Keine Ahnung. Ich habe einen Blanco-Wechsel gegeben. Nun sitze ich also mit meinem Automobil, mit der Chocolade und dem Petroleum im Zuge. Ich komme in dem Fort an. Keine Umstände, Leute, sage ich, gebt mir einen Führer und dann fort. Das Automobil wird ausgepackt, ich nehme mein Petroleum her, will füllen ........ Kinder, da ist das ein Spiritusmotor!«

Das Allerkomischste in der Erzählungsweise lag darin, wie sich die Oliva jetzt herumdrehte und gebückt durch das Zimmer schlich. Munro fing auch an zu weinen vor Lachen.

»Gab es auf dem Fort keinen Spiritus?«

»Eine einzige Flasche denaturirten Brennspiritus, und die war auch schon halb ausgetrunken. Aber ich bin eben ein Glückspilz. Die Frau des Commandanten machte nämlich Schnaps, wahrscheinlich für die Indianer — eine rothe Nase hat sie freilich selber — und die hatte ein ganzes Fass Branntwein da, d. h. neunzigprocentigen, versteuerten, sie wollte Cognac machen, die Cognacessenz hatte sie schon hineingegossen, ihn aber zum Glück noch nicht mit Wasser verdünnt— ich gleich Beschlag darauf gelegt, kaufe ihr das ganze Fass ab, das Liter zu acht Schilling — — — Kinder, nehmt den Hut vor mir ab — ich bin die drei Tage mit Cognac gedampft.«

Munro als Arzt bat die Erzählerin, entweder aufzuhören oder hinauszugehen, die Patientin dürfe nicht so lachen. Es gab auch noch vieles Andere zu erzählen. Zunächst kam Ellen daran.

»Nein, Du und Lord Worthingham!« schloss sie ihre eigene Abenteuer- und Liebes- und Leidensgeschichte. »Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass eine Oliva Hobwell überhaupt nur an's Heirathen denken kann.«

»Nicht ich? Na wozu sind wir Frauenzimmer denn sonst da? Ach, Ellen, das war eine nette Geschichte. Ich war am Abend in einer Gesellschaft gewesen und hatte mich wieder einmal entsetzlich bezecht. Aber man hatte es mir wohl nicht angemerkt. Am anderen Morgen kommt es mir unklar zum Bewusstsein, dass ich ein Eheversprechen gegeben habe, jawohl, in meinem Schädel wird es immer klarer, ich bin verlobt — aber gegen wen? — Keine Ahnung. Na, denke ich, er wird schon kommen, bin doch neugierig. Richtig, er kommt, aber wer? Heinrich Joachim Puff, Kohlenhändler, Hamburg — London, lese ich auf der Karte. Kenne ich nicht. Herein mit ihm. Und herein kommt ein altes, dürres Männchen, hinten und vorn ausgewachsen, einen stark wehmüthigen Zug um die Beine. Mir fiel vor Schreck gleich das Herz in die — in die — Schuhe. Mylady, Sie hatten die Güte, mir gestern Abend zu versprechen ..... Ne, ne, mein lieber Heinrich Joachim Puff, daraus kann nichts werden .... Aber Mylady haben es mir doch versprochen .... Ne, ne, das thut mir leid, das kann ich nicht, ich will gern Reugeld zahlen, verklagen Sie mich .... Aber es ist doch gar nichts weiter dabei .... Na, ich danke, Herr Joachim Puff .... und so drucksen wir also noch eine ganze Weile herum, bis es endlich herauskommt, dass der Mann Präsident von einem Mässigkeitsverein ist, er will auch eine weibliche Branche gründen, ich habe ihm gestern Abend versprochen, die Präsidentschaft üher die versoffenen Weiber zu nehmen. Jawohl, das kann er haben. Ellen, ich bin Präsidentin von einem Mässigkeitsverein. Dann kam noch so ein Mann mit Leichenfrack und Angströhre, Lord Augustus Worthingham — na, der war mir lieber.«

Ellen wusste ja, dass zwischen ihrer Freundin und diesem Lord schon längst ein Verhältniss bestanden hatte. Sie übertrieb überhaupt immer, hatte so ihre eigenthümliche Erzählungsweise, machte sich immer selbst schlecht. Aber dass sie am Tage ihrer Hochzeit ausgerissen war, vierzehn Tage später in einem Urwalde im Herzen Nordamerikas mit einem mit Cognac gespeisten Motorwagen eintraf, das war Thatsache; und wenn auch die Engländerinnen und noch mehr die Amerikanerinnen in abenteuerlichen Reisen gross sind — so etwas brachte doch nur die tolle Oliva Hobwell fertig.

»Ob ich glücklich bin? Na und wie! Aber mein Papa, der ist erst glücklich, dass er mich los wird. Der springt noch jetzt mit dem Kopfe gegen die Decke. Ach, Du, Ellen, mit meinem Papa habe ich noch eine Geschichte gehabt. Ich hatte doch also wegen Deiner Reise ein Wettbureau aufgemacht, nahm zwei zu eins für Dich an. Schliesslich wurde mir die Geschichte langweilig, Niemand kam mehr, weil es doch gerade aussah, als wenn Du gewinnen würdest, und nun wollte ich doch gerade, dass die armen Leute etwas verdienten — ach, dachte ich, Du hörst auf. Du zahlst Reugeld, gerade so, als hätte ich verspielt, also zwei zu eins. Ich annoncirte — na, da kamen sie aber gelaufen! Wie mir nun die Abrechnung vorgelegt wird, was ich zu bezahlen habe — Herr Gott, wie wird mir da zu Muthe — frage nicht, Ellen, frage nicht, wieviel's gewesen ist — Du würdest's nicht glauben oder denken, ich wollte renommiren. Ich hätte ein Dutzend Kirchen davon bauen können. Ja, was soll ich thun? Das konnte ich nicht irgendwo zusammenpumpen. Ich gehe zu Papa's Bankier — hier, mein lieber Lewis, seien Sie so freundlich. Der hebt erst die eine Schulter, dann hebt er die andere Schulter, schiebt die Augenbrauen bis hinauf in die Haare — nein, das thäte ihm leid, das könnte er mit nicht so ohne Weiteres auszahlen, da müsse erst mein Papa unterschreiben. .... Was? Wo? Hier. Oder einen Check. Ach, denke ich, wenn es weiter nichts ist! Ich gehe nach Hause, passe auf, wenn Papa einmal das Checkbuch nicht in der Tasche hat, reisse ein Formular heraus, fülle es aus mit der Summe, die ich brauche, eine Unterschrift Papas ist schnell gefunden, ich lege das Papier an die Fensterscheibe, den Check darauf und male den Namenszug hübsch und fein nach ....«

»Oh, oh, oh,« liess sich Sir Munro vernehmen.

»Ja, Sie können gut ohohohn. Nun bekam ich das Geld gleich. Aber am anderen Tage merkt's der Papa! In's Zuchthaus gehörte ich, in die Tretmühle! Ich denke, er will mich hau ..... na, ich will nur offen sein: ich habe eine fürchtbare Maulschelle bekommen, dass ich mich gleich wie ein Kreisel herumdrehte. Dann verlobte ich mich — ich hatte an dem Abend immer noch eine ganz geschwollene Backe — und da war Alles wieder gut. — Na, Ellen, und wie ist es denn nun mit .........«

Die unverbesserliche Schwätzerin stockte. Und rieb sich mit dem Zeigefinger das Näschen. Ihr Blick war auf der Freundin Hand gefallen, an der ein kleiner Herrenring funkelte, und ihr Blick entdeckte auch an Sir Munro's Hand etwas Besonderes.

»Hm, Du hattest uns ja telegraphirt, dass Dich Sir Munro behandelte und dass Du verlobt seiest, aber eigentlich ...... hm.«

Robin verschwand schnell, die blasse Ellen erröthete und nun kam sie an die Reihe des Erzählens.

Hatte die Oliva aus den Briefen, die sich am meisten mit dem starken, kalten Manne beschäftigten, herausgelesen, wie es mit der Freundin gestanden? Wenn nicht völlig, so erfuhr sie es jetzt aus Ellen's eigenem Munde mit rückhaltloser Offenheit.

Ja, sie hatte ihn geliebt, den starken, kalten Mann, sie liebte ihn noch jetzt. Sie liebte ihn noch jetzt wie — so wie man seinen Gott liebt, wie man einen göttlichen Helden anbetet, ihn bewundert. Aber eine menschlich-irdische Liebe war es nie gewesen. Auf dem Krankenlager war ihr dies voll zum Bewusstsein gekommen.

Doch an dem Anderen hatte sie stets mit echt weiblicher Liebe gehangen, und wenn sie auch noch so oft gesagt, sie hasse ihn. Ja, er hatte Recht, jene Liebe wäre als solche, wie sie dieselbe aufgefasst haben wollte, eine Verirrung gewesen.

Und hatte Sir Munro sich nicht ihre Liebe verdient? Auch er war ein Held. Auch er hatte sie aus schlimmeren Händen als aus denen des Todes befreit. Er hatte um sie gekämpft, mit dem Schwerte, wie nur je ein Ritter um die Braut gekämpft hat.

Und dann kam die verwundete Jungfrau und der hülfeleistende Arzt dazu.

Der Mensch hatte den Gott besiegt.

»Ich werde mit Robin glücklich sein,« schloss Ellen weinend, »ich habe ihn stets lieb gehabt, er ist ein so treuer Mensch, er wird mich stets lieben, auch wenn er weiss, dass ich den Anderen nie vergessen kann.«

Der wieder eintretende Munro hatte es gehört, und er drückte ihr die Hand und küsste ihr den Mund.

Aber wenn sie den Anderen nun wiedersah? Ellen erzitterte.

— — — — — — — — —

Und diese Stunde kam für Ellen, an einem Morgen mit freundlich lächelndem Sonnenschein, in welchem sich die Kranke vor der Blockhütte wärmte, in der Freundin Pelz gehüllt, auf einem langen Stuhle liegend.

»Er kommt,« sagte Munro leise.

Ellen schrak empor, und da sah sie ihn schon kommen, und nach der ersten jähen Röthe wurde ihr Antlitz weiss wie der Schnee, durch welchen er zwischen den Bäumen schritt, neben sich Hassan. Er hatte ein Gewehr über der Schulter, und die hohe Mannesgestalt, welche sonst immer so aufrecht wie eine eherne Statue wandelte, hatte den Kopf tief gesenkt.

Da stürmte Hassan mit mächtigen Sätzen herbei, die Reisegefährtin zu begrüssen, doch er überfiel sie nicht, dicht vor ihr war er wieder der vernünftige Beduinenhund; er äusserte seine Freude über das Wiedersehen nur so weit, als man es bei einer Schwerkranken darf, ohne ihr wehe zu thun.

Ellen streichelte ihn und sprach mit ihm und dieses erste Wiedersehen hatte dem zweiten schon etwas die Gefährlichkeit genommen.

Starke hatte sie erreicht, setzte den Gewehrkolben in den Schnee, sie blickten sich an, er streckte die Hand aus, wollte sprechen, konnte nicht, nur seine Lippen zuckten.

»Um Gottes Willen — Starke — nicht weinen — weinen Sie nicht — nur von Ihnen kann ich es nicht sehen!!« jammerte Ellen.

Er fuhr sich mit der Hand über die Augen — es war wieder vorbei.

»Wie geht es Ihnen, Miss?« fragte die eherne Metallstimme.

»Gut, ganz gut. Sir Munro als Arzt versichert mir, dass ich in drei Monaten wieder gehen kann, ohne zu hinken ......«

»Werden Sie auch wieder radfahren?«

»Nein .....«

»Ja,« sagte Munro.

»Wir scheinen die Rollen zu wechseln. Sie sind verwundet worden?«

»Nicht von Bedeutung. Sie hätten die Tour um die Erde in 300 Tagen gemacht. Sie haben die Kraft und die Ausdauer dazu. Behaupten Sie immer noch, dass Sie es könnten, berufen Sie sich auf mich. Götter sind wir natürlich nicht. Aber ich hätte auch ganz andere Bedingungen für die Wette gemacht. Immerhin sollten Sie noch den Fall einem Comité vorlegen, moralisch sind Sie nicht verpflichtet, die Gegnerin auszuzahlen, meiner Ansicht nach hat sogar, wenn es gerecht zuginge, Ihre Gegnerin verloren ....«

»Lady Barrilon ist durch den Bankerott einer Firma vollständig ruinirt.«

»So? Nun, Miss Howard, Sir Munro, ich möchte mich verabschieden.«

Er hielt ihr schon wieder die Hand hin.

»Oh, so bald! Bleiben Sie doch noch etwas.«

»Nein, ich kann nicht. Good bye.«

Sie hatte den rechten Pelzhandschuh ausgezogen und gab ihm die Hand.

»Wo gehen Sie hin?« brachte Ellen nur mühsam hervor.

»Erst habe ich noch ein Privatgeschäft zu erledigen, dann suche ich mir wieder einen Dienst als Führer bei einer Expedition oder bei einem ähnlichen Unternehmen. Leben auch Sie wohl, Sir Munro.«

Kalt liess er ihre Hand los, um die seine Munro zu geben.

»Wir müssen doch noch abrechnen ....«

»Nein. Sprechen Sie nicht davon. Ich bin nicht zufrieden mit den Diensten, die ich Ihnen erwiesen habe .... nein, ich will nicht. Good bye. Komm, Hassan.«

Und er schulterte das Gewehr, drehte sich um und ging, er ging wirklich, so entfernte er sich, hochaufgerichtet, stark und kalt wie eine eherne Statue, so wie ihn die Beiden zuerst kennen gelernt hatten.

Ellen musste es glauben, dass er wirklich ging, ohne noch ein Wort, ohne noch einen Blick zu haben.

Hassan hatte sich an ihrem Lehnstuhle emporgerichtet, blickte sie an und winselte leise. Ellen schlang ihren Arm um seinen Hals.

»Lebe auch du wohl, mein guter, treuer Hassan,« weinte sie mit hellen Thränen.

»Komm, Hassan!« erklang es noch einmal zwischen den Bäumen hervor.

»Gehe, mein Hassan, bleibe ihm der gute Freund und Kamerad.«

Hassan liess die Vorderpfoten von der Armlehne herabfallen und machte einige Schritte nach der Richtung, in welcher sein Herr noch zu erblicken war. Dann aber blieb er stehen, drehte sich halb zur Seite, blickte nach seinem Herrn, winselte, blickte nach Ellen, blickte wieder nach dem weiter Schreitenden — und kam mit tiefgesenktem Kopfe zurück, sich vor Ellen's Füsse legend.

Ellen hatte die Blicke des Hundes gesehen, aber das waren keine Blicke eines Thieres gewesen, und da plötzlich hörte sie deutlich eine Stimme aus der Vergangenheit sprechen; gleichgültig und trocken erzählte sie: einmal hatte ich gegen eine Person eine herzliche Zuneigung, sie ahnte es nicht, Niemand ahnte es, ich wusste meine Gedanken zu zähmen. Plötzlich war der Hund um diese Person herum, liebkoste sie, rieb sich an ihr — ich staunte selbst — Hassan hätte mich bald verlassen, um ihr zu folgen .........

»Starke! Starke!! Rufen Sie Ihren Hund!«

Aber Starke antwortete nicht, er war schon im Walde verschwunden.

»Robin — um Gottes Willen,« jammerte Ellen ausser sich, »jage ihm den Hund nach — zwinge ihn ......«

Hassan ging nicht, liess sich nicht zwingen.

Ellen jammerte den ganzen Tag; sie wollte das treulose Thier gar nicht mehr sehen, und auch noch in der Nacht netzte sie das Kissen mit ihren Thränen.

»Nun hat er auch noch seinen letzten Freund verloren, nun hat er gar nichts mehr.«

Zwei Tage später — Ellen hatte ihren Schmerz noch immer nicht überwunden, überhäufte aber jetzt Hassan mit doppelter Zärtlichkeit, sie musste es thun; denn das Thier wusste wohl, was es gethan, und eben deshalb klammerte es sich an seine neue Herrin förmlich an — traf in dem Urwaldscamp ein indianischer Läufer eines nördlichen Sioux-Stammes ein, brachte aus seinen Leggins einen Zettel hervor, eine Botschaft von Deadly Dash an die weisse Squaw.

»Geben Sie ihm niemals Krebse oder Krabben, er frisst sie leidenschaftlich gern, wird aber stets krank davon. Mit Gruss Curt Starke.«

Nichts weiter.

»Ein merkwürdiger Mensch,« meinte Munro lächelnd. Ellen lächelte nicht.

Der Indianer konnte nichts weiter angeben. Der dem Stamme befreundete Deadly Dash war eben in das Lager gekommen, hatte den Häuptling um einen Boten nach hierher gebeten, hatte ein Pferd gekauft, war auf diesem gleich wieder nordwärts fortgeritten.

Ellen sollte so bald nichts wieder von dem modernen Lederstrumpfe hören.

Auch die in den Kampf gezogenen Roughriders kamen nach hier zurück, bauten noch einige Blockhäuser, und ihre Wintergarnison war fertig, welche sie nicht eher verlassen würden, als bis indianische Unruhen oder etwas Anderes, wobei die Polizei einzuschreiten hat, Alle oder Einzelne abrief. Inzwischen beobachteten sie die Indianerstämme der Umgegend und schafften durch Jagd Nahrungsmittel herbei. Mehl, Conserven, Tabak und Anderes, was sie brauchten und nicht selbst erzeugen konnten, bezogen sie gegen Schein ihres Führers von dem nächsten, immer reichlich verproviantirten Fort, das war hier Lamarie, und dass solch ein Transport über acht Tage in Anspruch nahm, hatte für diese amerikanische Truppe gar nichts zu sagen. Im Sommer aber müssen sie, wenn sie frisches Gemüse essen wollen, dieses selbst bauen; Erbsen und Bohnen ziehen sie auch immer; daneben halten sie stets Schlachtvieh und Hühner, und doch kann täglich ein Befehl eintreffen, der sie Hunderte von Meilen weit fortführt, dass sie Alles in Stich lassen müssen. Heirathen giebt es bei solch einem unsteten Leben natürlich nicht.

Mit ihnen war auch Mr. Schade wieder eingetroffen, doch nur, um sich zu empfehlen. Er hatte gehört, dass der »Spion« eingegangen sei, da müsse er schnellsten's nach New-York. Von seinen Photographien wolle er Copien schicken.

Ellen empfand nicht die mindeste Sehnsucht, ihr Krankenlager nach dem bequemeren Fort zu verlegen. Hier fühlte sie sich nun schon zu Hause, sie hatte in dem verschneiten Urwalde schon ihre Lieblingsplätzchen, nach denen sie sich hintragen liess, und ebenso dachten Sir Munro und Lady Oliva, welch Letztere von einer Heimreise zum Bräutigam nichts wissen wollte. Erst das Vergnügen, dann die Pflicht, erklärte sie in ihrer Weise. Und wenn im Fort ein Brief ankam, so setzte sich dort solch' ein Soldat auf seinen mageren Klepper, hinten auf dem Sattel den Futtersack für sich und das Thier, und ritt die 120 englischen Meilen in drei Tagen durch Sturm, Schnee und Eisschollen; in der Nacht wickelte er sich in seine Decke und schmiegte sich an den warmen Pferdeleib, und dann gab er den Brief ab; wenn für ihn gerade ein Glas heissen Grogs vorhanden war, so schmunzelte er im ganzen Gesicht; und dann ging es wieder stracks zurück. Fürwahr, das Wort, welches der Yankee so gern und so stolz im Munde führt — »Amerika ist gross« — es hat seine ganz eigene Bedeutung.

Ja, als in der ersten Zeit von den Londoner Freundinnen täglich eine Depesche für Ellen auf Fort Lamarie eintraf, waren immer sechs solcher Reiter gleichzeitig auf dem Wege, bis Ellen nach London bat, ihr doch wöchentlich höchstens einmal zu depeschiren, und so hielt sie sich auch nur wöchentlich erscheinende Zeitungen. Von solcher Dienstwilligkeit wurde man ja wirklich beschämt, wenn diese verwitterten Gesellen es auch nur als kleine Spazierritte betrachteten.

Nun waren schon wieder vier Wochen vergangen, seitdem der Mann den frostigen Abschied genommen und doch sein Herz im Urwalde von Dacotah zurückgelassen hatte, als in den Londoner »Weekly News« ein sensationeller Artikel gelesen wurde.

»Ein mysteriöser Vorfall. — Rache oder Richter Lynch? — Er schweigt.

»Ein mysteriöser Vorfall beschäftigt die Gemüther der Bevölkerung von Smithstown, einem Städtchen im südöstlichen Canada. In einem der besseren Gasthöfe war ein Gentleman abgestiegen, welcher zu warten schien, bis die eingeschneite Bahnlinie nach Montreal wieder frei würde. Er hatte sich als Andrew Brown aus New-York eingeschrieben, war aber seinem Dialect nach offenbar ein Engländer. Eines Abends wurde die Aufmerksamkeit der Strassenpassanten durch den taumelnden Gang eines gut gekleideten Mannes erregt, erst wich man ihm als einem Betrunkenen aus, dann bemerkte man bei jedem Schritte Blutspuren im Schnee, das Blut floss ihm aus den Hosenbeinen heraus, er brach ohnmächtig zusammen. Man brachte ihn auf die nächste Polizeistation, es war jener Andrew Brown, man fand aber auch Briefe mit anderen Namen, unter denen »Jenkins« am häufigsten vorkam. Die weitere Untersuchung an dem Bewusstlosen ergab, dass der Mann ausgepeitscht worden war, und zwar auf eine fürchterliche Weise, jedenfalls mit einem Lederriemen.

Sein ganzer Rücken war zerfleischt. Alles nur noch blutige Fetzen. Wie der Mann unter den Händen des Arztes wieder zur Besinnung kam und die Uniformen der Constabler um sich sah, schrie er sofort und ununterbrochen: Ich sage nicht, wer mich gepeitscht hat, ich verrathe nichts! — und dabei blieb er. Da sonst nichts gegen ihn vorlag, musste man ihn laufen lassen, er schleppte sich in sein Hotel zurück; am nächsten Morgen reiste er ab. Die Aussage einer alten Negerin schien erst Aufklärung in die Sache bringen zu wollen, machte sie aber womöglich nur noch dunkler. Die Frau hatte an jenem Abende im nahen Walde Holz gesammelt, als sie aus einer einsamen, verfallenen Blockhütte ein schreckliches Schmerzgebrüll ertönen hörte. Sie beobachtete die Hütte, soweit eine alte Negerin im finsteren Walde zu so etwas fähig ist, da sah sie im Mondschein einen riesengrossen Mann, ganz auffallend in einen gelben Anzug gekleidet, ein Gewehr über der Schulter, aus der Hütte treten und zwischen den Bäumen verschwinden. Bald darauf wankte ein zweiter Mann heraus und dessen Beschreibung stimmt mit der Person des Geschlagenen überein. Nun, jedenfalls hat dieser Mr. Brown oder Jenkins die fürchterliche Tracht Prügel sich ehrlich verdient gehabt, da er sie so gehorsam hinnahm und auf jede Klage und Anzeige verzichtete.«

In dem Urwaldcampe von Dacotah hätten einige Personen sagen können, wer der gelbe Unbekannte gewesen und warum er jenen ausgepeitscht hatte.

Das war also das Privatgeschäft, von dem Starke so trocken beim Abschiede gesprochen hatte, und dieser moderne Lederstrumpf verstand also eine Spur auch bis in den hohen Norden, bis in die Strassen einer Stadt zu verfolgen. Freilich räthselhaft genug, aber dies Alles, wie er es so stillschweigend ausgeführt hatte, entsprach doch wieder ganz seinem räthselhaften Charakter.

— — — — — — — — —

Ende Februar betrat Ellen in Liverpool wieder Englands Boden, völlig hergestellt.

Was von Gewinnen oder Verlieren der Wette zu halten war, hatte Starke mit kurzen, klaren Worten gesagt. Doch Ellen hielt ihr Wort, welches Munro nicht hatte gelten lassen wollen: sie fuhr nicht mehr Rad — sie ging nämlich zum Kraftwagen über, und Munro folgte ihr bald nach. Aber es war doch nicht nur einfach eine Aenderung im Geschmack, es war auch noch etwas Anderes dabei. Ellen wurde nie wieder den leisen Schauder los, der sie sofort befiel, wenn sie nur versuchsweise ein Rad bestieg, und Starke hätte noch hinzusetzen sollen: Das Rad ist nicht dazu da, um jeden Tag zehn Stunden lang darauf zu liegen, um auf ihm um die Erde zu fahren, und abnorme Leistungen an Schnelligkeit und Ausdauer, wie solche Schaustellungen allerdings nöthig sind, um einem gesunden Sport immer mehr Freunde zn erwerben, so etwas sollen wir denen überlassen, welche sich dazu speciell ausbilden.

Ellen war erst einige Tage zurück, als sich der katholische Geistliche der französischen Colonie Londons vorstellte. Er drückte erst lange herum, eigentlich habe sie doch die Wette verloren, Lady Barrilon sei vollständig mittellos, werde wegen Schulden verfolgt, halte sich verborgen ........

»Kennen Sie ihre Adresse? Wollen Sie die zehntausend Pfund übermitteln?«

Dazu war der Mann ja hier, und vier Tage später erhielt Ellen die Quittnug über diese Summe aus Paris mit Judith's hochachtungsvoller Unterschrift.

»Nein, ich hätte sie zu mir kommen lassen, um ihr wenigstens erst noch ein paar Ohrfeigen zu geben,« meinte die Oliva.

Ellen war edel gewesen. Was hätte Starke dazu gesagt? Schliesslich war er auch edel gewesen, als er den Verfasser von »Happy England« nur ausgepeitscht hatte. Starke liess nichts wieder von sich hören, und sie musste seine Adresse doch wissen, um ihm die 20 000 Dollars für das Halsband mit Zinsen zurückzuzahlen. Das war überhaupt eine theuere Geschichte, sie wollte die Summe auf Abzahlung auf ihr Vermögen nehmen — oder — ein besserer Gedanke — wozu hatte sie denn den reichen Bräutigam?

Die Oliva holte die so plötzlich unterbrochene Hochzeit nach, sie sollte das Geschmeide als Brautgeschenk haben. Das kostbare Packetchen war bei jenem Bankhause richtig deponirt, Ellen ging hin, öffnete es — da lag oben darauf die Schuldverschreibung — zerrissen. Solch' ein grossmüthiger Heuchler! Nun aber behielt sie das Halsband selbst und sie vergoss einige Thränen, wie sie überhaupt noch recht oft schwermüthige Stunden haben konnte.

Die drei Monate im verschneiten Urwalde hatten einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Im Mai sollte die Hochzeit sein. Dann gleich eine Hochzeitsreise? Um Gottes Willen nicht!

»Nun, wie wäre es denn mit einer kleinen Radtour über die Alpen nach der Riviera,« meinte Robin mit dem ernstesten Gesicht.

Ellen verbat sich derartige dumme Witze. Oder die Londoner Saison mitmachen? Auch nicht. Sie kauften sich als Stammsitz der zukünftigen Barone im waldigen Kent eine grosse Farm, dorthin in die ländliche Stille sollte es sofort gehen.

»Es ist auch schon Hassans wegen,« sagte Ellen, »er braucht Zerstreuung.«

Am Tage der Hochzeit zeigte es sich, dass der unsichtbare Mann in London einen Spion hatte, der ihm berichten musste. Auch aus New-York traf eine Depesche ein.

»Herzlichen Glückwunsch. Ich schliesse mich der New-Yorker Nordpol-Expedition an. Curt Starke.«

Der Eine ging zur Hochzeit, der Andere zog den Nordpol vor. Sir Munro hatte gesiegt, der Andere war nie unterlegen.

»Sir Munro, vernehmen Sie von mir ein grosses Wort, welches sonst vermessen klingt, aber nicht von mir, denn ich spreche es aus mit kühler Ueberlegung: Sie sehen vor sich einen zufriedenen Mann, dessen Glück durch nichts, durch gar nichts zu erschüttern ist. Ich habe der Welt entsagt, und deshalb gehört mir die ganze Welt ........«

Nicht einmal zu lügen brauchte er! Auch seines einzigen Freundes konnte er entsagen!

Die Ballmusik spielte »Deasy Deasy«, die befrackten Herren und die geputzten Damen hopsten im Saale herum, da fühlte es Ellen plötzlich wie einen Ekel in sich aufsteigen, dem eine unsagbare Sehnsucht folgte.

»Komm, Geliebter, wir wollen mit Hassan nach unserer stillen Farm gehen.«



1)  Nach der alten englischen oder der internationalen Seemeile gerechnet; eine solche = 1854.965 Meter = ¼ deutsche Meile.