Robert Kraft: Detektiv Nobody. Band VII
Detektiv Nobody's


Erlebnisse und Reiseabenteuer.


Nach seinen Tagebüchern bearbeitet

von


Robert Kraft.


7. Band.





1. Das große Rätsel.

Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, den wir aber nach wie vor einfach Nobody nennen wollen, begrüßte seine Gattin am Kaffeetisch.
Es war heute tatsächlich die erste Begegnung; denn der Landwirt, der schon sein Reitkostüm gewechselt, hatte bereits mehrere Arbeitsstunden hinter sich, während Gabriele zu normaler Zeit aufgestanden war, sie hatte nur noch die Kinder dem Hauslehrer übergeben, und der ausgetauschte Morgengruß hätte bei Neuvermählten nicht herzlicher sein können.
»Heute ist ein großer Tag,« sagte Nobody, als sie sich zum Frühstück niedergesetzt hatten.
»Wieso, Alfred?«
»Heute vor sieben Jahren sprang ich von dem Dampfer ›Persepolis‹ über Bord in den Atlantischen Ozean, um als neuer Mensch, um als Nobody das amerikanische Festland zu betreten.«
Da allerdings war viel Stoff zur Unterhaltung vorhanden! Vor sieben Jahren ein unbekannter, heimatloser Abenteurer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, Detektiv zu werden, mit gar nichts beginnend - heute Ehrendoktor einer Universität, englischer Baronet, Waffenmeister des höchsten Ritterordens, Champion-Detektiv der englischen Königin, dessen Macht als Kriminalbeamter fast unbeschränkt war, und das alles aus eigener Kraft geworden, und was nun alles dazwischen lag - ja, das gab Stoff zur Unterhaltung!
Die Morgenpost kam. Nur die mit einer besonderen Chiffre versehenen Briefe gelangten direkt in Nobodys Hände und wurden gleich beim Kaffeetrinken gelesen, die anderen wurden im Sekretariat erledigt.
Besonders ein versiegelt gewesener Brief schien Nobodys Aufmerksamkeit zu fesseln.
»Gabriele, ich muß in den nächsten Tagen nach New-York.«
So nebenbei hatte er es gesagt, ohne ein ›leider‹, und Gabriele führte die Tasse so ruhig zum Munde, als hätte sie das Gleichgültigste von der Welt gehört.
Denn sie hatte den Nobody geheiratet, den rastlosen Detektiv, und er war noch ganz genau derselbe, als den wir ihn früher zur Genüge kennen lernten, dem Aeußeren nach, dem Charakter nach, dem Berufe nach. Was er tat, das tat er ganz.
Gewiß, es hatte sich manches geändert. Als Baronet von Kent lagen ihm Verwaltungsgeschäfte ob, die er treu erfüllte; zu gewissen Zeiten hatte er auch am Hofe und beim Ordenskapitel Ehrendienste zu tun; er war ein leidenschaftlicher Landwirt geworden, der manchmal den ganzen Tag nicht von den Feldern kam und sich am liebsten über Rüben und über Schweinezucht unterhielt; mit seiner Gabriele, die als Künstlerin gefeiert wurde, gab er sich gern gesellschaftlichen Vergnügungen hin, aber wenn irgendwo in der Welt, ob nun in den dunklen Gassen des nahen Londons oder in den fernsten Landen jenseits des Meeres, eine unerklärliche Tat geschehen war, vor welcher die Kriminalpolizei ratlos stand, da war Nobody als Detektiv zur Stelle, um seine ganze Kraft und Erfahrung, sein eigentümliches Genie, das ihm ein gütiger Gott verliehen, in den Dienst der Gerechtigkeit und Aufklärung zu stellen.
»Das heißt,« fuhr er fort, »in New-York selbst habe ich gar nichts zu tun. Ich weiß nur, daß sich eine Person, die ich in einem gewissen Verdachte habe, nächstens von London aus nach New-York begibt, und ich habe einen Grund, den Mann gerade während der Ueberfahrt zu beobachten. Da muß ich die Reise nach New-York eben mitmachen. Es handelt sich nur noch darum, festzustellen, wann er abfährt und welchen Dampfer er benutzen wird. Diesem Briefe nach könnte die Depesche eigentlich schon unterwegs ...«
Ein Diener trat ein, er brachte ein Telegramm. Nobody riß es auf, und eine Erregung packte ihn, er erhob sich vom Stuhle.
»Welch wunderbarer Zufall!!« rief er. »Persepolis! Er benutzt die ›Persepolis‹! Und sie geht schon heute in See! - Heute vor sieben Jahren sprang ich in der Nähe von New-York über die Nordwand der ›Persepolis‹, heute, nach sieben Jahren, muß ich mich an Bord der ›Persepolis‹ wieder nach New-York einschiffen! Gabriele, was sagst du zu solch einer Fügung?«
Zunächst sagte Gabriele gar nichts. Sie war plötzlich bleich geworden und hatte ganz große Augen bekommen, so saß sie mit im Schoße gefalteten Händen da.
»Gabriele, was ist dir?« fragte er erschrocken.
»Alfred, geh nicht nach New-York!« brachte sie mühsam mit zitternder Stimme hervor. »Nicht mit der ›Persepolis‹, nicht heute - die Sieben ist eine Unglückszahl!«
»Ach so, die böse Sieben!« lachte er aber belustigt auf. »I, bist du denn auch abergläubisch? Das habe ich noch gar nicht gewußt. Ich aber bin sehr abergläubisch. Sieh, Schatz,« noch immer lachend legte er den Arm um ihre Hüften, »gerade heute ist mein besonderer Glückstag; denn erstens fand ich heute früh ein vierblättriges Kleeblatt - hier ist es, zweitens lief mir vorhin ein weißes Wiesel über den Weg, und drittens war heute früh mein allererstes, daß ich mit dem Kopf gegen einen Scheunenbalken rannte, und zwar ganz tüchtig, und nichts bedeutet mehr Glück, als wenn man sich mit nüchternem Magen an einem Scheunenbalken eine Brausche holt, das weiß ich aus langjähriger Erfahrung. Und da soll heute nicht mein Glückstag sein?«
Gegen solche Argumente war freilich nicht aufzukommen, und schließlich mußte Gabriele über sich selbst lachen. Außerdem sagte Nobody ihr zur Beruhigung auch noch, gegen seine sonstige Gewohnheit, um was es sich handelte - um etwas ganz Harmloses: Der Betreffende stand im Verdacht, aus dem englischen Staatsarchiv Papiere entwendet zu haben, nun kam es darauf an, wer sein Kompagnon sei; die Begegnung würde jedenfalls an Bord des Dampfers erfolgen, nur das wollte Nobody beobachten, weiter nichts, und dabei war absolut keine Gefahr. Und die gefährliche Seereise? Konnte das Schiff nicht untergehen? Du lieber Gott, da wollen wir lieber gar kein Wort verlieren! Konnte in dissem Augenblick nicht ein Stück Gips von der Decke fallen und Nobody erschlagen?
»Doch ich muß mich beeilen. Nun nenne mir noch einen Namen, auf den ich mir einen Paß ausstellen lasse - irgend einen englischen, keinen so auffallenden.«
»Edward Scott.«
»Edward Scott, schön! Dieser von meinem lieben Frauchen gewählte Name, unter dem ich segeln werde, wird mir erst recht Glück bringen!«


Wir wollen nicht die Empfindungen schildern, welche Nobody hatte, als er die ›Persepolis‹ betrat, und der Zufall wollte es auch, daß er, ohne sein Zutun, gerade wieder dieselbe Kabine angewiesen bekam, die er damals vor sieben Jahren innegehabt.
Als er seinen Namen ins Kajütenbuch einschrieb, merkte er, daß er an Bord einen Namensvetter hatte.
»Edward Scott, Quebec, Privat,« stand da mit markigen Zügen.
Er las es ohne Ueberraschung. So etwas passierte ihm häufig. Denn Nobody wählte als Pseudonym immer einen recht populären Namen, in Deutschland nannte er sich etwa Wilhelm Schulze oder Friedrich Müller, und da fand er denn gar oft einen Namensvetter. Und so ist in England und Amerika Edward Scott ein sehr häufig wiederkehrender Name.
Mehr interessierte er sich für diese Handschrift.
»Das ist ein Mann, der weiß, was er will, der immer seinen geraden Weg geht und sich durch nichts beirren läßt, ein aufrichtiger Charakter, durchaus zuverlässig. Wohl dem, der den seinen Freund nennen darf!«
Was Nobody an Bord geführt, hatte aus einem besonderen Grunde eben nur an Bord dieses Dampfers erledigt werden können, und doch war dies schon am zweiten Tage der Fahrt geschehen. Es interessiert uns so wenig, daß wir ganz darüber hinweggehen wollen. - - -
Es ist nicht so einfach, auf hoher See einen Dampfer zu verlassen und auf einen anderen, ihm begegnenden zu gehen. Die Dampfer müßten stoppen, das würde schmähliches Geld kosten - ein Kapitän, der nicht zugleich Eigentümer des Schiffes ist, würde sich auf so etwas gar nicht einlassen, solch eine Fahrtunterbrechung kann er im Schiffsjournal gar nicht verantworten.
Uebrigens war es Nobody recht lieb, wieder einmal nach New-Nork zu kommen, er konnte drüben gleich einige finanzielle Geschäfte erledigen, desgleichen eine Unterredung mit dem Verleger von ›Worlds Magazine‹, in welcher Zeitschrift Nobody nach wie vor die Berichte über seine Abenteuer veröffentlichte.
Die Fahrt schien ohne jeden Zwischenfall verlaufen zu wollen. Auch unter den Passagieren fand das beobachtende Auge des unübertrefflichen Menschenkenners nichts Bemerkenswertes, weder in der ersten Kajüte, noch in der zweiten, noch im Zwischendeck.
Erst am vierten Tage der Reise, nur noch zwei von New-York entfernt, fesselte ein Mann seine besondere Aufmerksamkeit. Nobody hatte sich sehr früh an Deck begeben, in der fünften Morgenstunde, da begegnete er jenem, wie er eine Morgenpromenade machte.
Es war ein noch junger Mann, hoch und schlank, mit breiten Schultern und schmalen Hüften, gewachsen wie - wie ...
»Wie eine kanadische Edeltanne,« dachte Nobody. »Sollte es nicht ein Kanadier sein?«
Aber nun dieses Gesicht! Dieses war es, welches dem Detektiv, der die Menschenbeurteilung zu seinem Studium gemacht hatte, ein Rätsel aufgab.
Edle, männliche Züge, charaktervoll, kühn, stolz und trotzig - und dabei die großen, blauen Augen eines kindlichen Träumers, der weltvergessen in die Ferne blickt, der für diese Welt verloren ist, weil er sich an seinem unerreichbaren Ideale verzehrt - und die Verbindung dieser Manneskraft und Kühnheit mit schwärmerischer Träumerei gaben dem Ganzen einen Ausdruck von unsäglicher Schwermut.
»Armer Mann,« dachte Nobody erschüttert, »du hast mit deinen jungen Jahren schon etwas erlebt - dir hat das Schicksal eine Wunde geschlagen, die nimmer wieder heilt!«
Wer war es? Jener promenierte noch auf und ab, als Nobody dem Zahlmeister begegnete, dessen Freundschaft der Detektiv gleich am ersten Tage durch einige Flaschen Champagner gewonnen und sich erhalten hatte. Dieser Zahlmeister, der die Schiffsliste führt, besaß das Talent, bei jeder Reise jeden Kajütenpassagier mit Namen zu kennen.
»Mr. Edward Scott, Quebec, Privat, eigene Bedienung, dritte Salonkabine im zweiten Promenadendeck auf Backbordseite,« deklamierte der Befragte herunter.
Also Nobodys Doppelgänger, wenigstens dem Namen nach! Wie kam es, daß Nobody ihn noch nicht gesehen? Auch das hatte er bald von einem Steward erfahren.
Mr. Scott speiste in seiner Kabine. Servieren tat ihm sein eigener Diener, der aber gar nicht wie ein regelrechter Diener aussah. Jeden Tag kam er nur zweimal an Deck, überhaupt aus seiner Kabine, um eine Promenade zu machen: früh von 4 bis 5 und abends von 9 bis 10, und dieselbe minutiöse Pünktlichkeit hielt er auch bei seinem Spaziergang ein, immer vom Heck bis nach dem Mittelmast und wieder zurück, die Arme über der Brust verschränkt und den Kopf etwas geneigt, am Heck genau sechs Sekunden stehen geblieben und mit erhobenem Kopfe nach hinten in die Ferne gespäht, dann mit demselben Fuße wieder den Rückmarsch angetreten - und wenn der noch einige Reisen mitmachte, dann konnte man seine Fußspuren in den Deckplanken sehen.
Nobody hatte die Handschrift ganz richtig beurteilt. Von den träumerischen, schwermütigen Augen freilich war nichts darin ausgedrückt gewesen, so weit geht die Wissenschaft des Graphologen nicht.
Was machte er denn den ganzen Tag in seiner Kabine? Der Steward hatte keinen Zutritt. Einmal aber war er doch hineingekommen. Da hatte Mr. Scott, von aufgeschlagenen Büchern umgeben, geschrieben.
Nobody bekam den Diener zu Gesicht. Auch wieder ein menschliches Rätsel, an dem ein Psychologe knacken konnte. Ein kleiner, untersetzter, schon ältlicher Mann, das Gesicht, so weit der graumelierte Bart es frei ließ, mit zahllosen Furchen und Runzeln durchzogen, die schmalen Lippen immer fest zusammengepreßt. Von der Sonne gebräunt wie sein Herr, trug er auch einen ebensolchen dunkelblauen Anzug, allerdings nicht nach Seemannsschnitt, nur aus gröberem Tuche, ohne goldene Knöpfe und derartige Dienerabzeichen. Nobody sah seine Hände, sie waren groß und muskulös, hatten innen sogar Schwielen. Er schlief auch in der Salonkabine seines Herrn, war unter dem deutschen Namen Bruno Wünsche ohne weitere Angaben eingetragen.
Wieso mit diesem Manne ein Rätsel verknüpft sein sollte, das freilich wäre für einen anderen Menschen schwer zu sagen gewesen. Dazu gehörten eben die Augen eines Nobody. Wenn er die Schüsseln brachte, die Schiebetür öffnete, die Kabine betrat - da war doch gar nichts Besonderes dabei. Aber Nobody beobachtete mit anderen Augen. Der öffnete die Schiebetür nur so weit, um eben durchzukommen, und sofort hatte er sie mit der Hand auf dem Rücken wieder geschlossen, daß nur ja kein fremder Blick ins Innere der Kabine dringe. Und das war nur eine geringe Kleinigkeit.
»Dieser Mann hat das Lebensgeheimnis seines Herrn zu bewahren,« sagte sich Nobody, »und nirgends ist es treuer aufgehoben als bei ihm.«


Das Meer ist groß! Nur noch einen Tag von New-York entfernt, und so weit das Auge, das beste Fernrohr reicht - keine Rauchwolke, kein Segel zu sehen!
Die See war immer noch so, wie sie während der ganzen Fahrt gewesen. Nicht gerade ruhig - ein ›spiegelglatt‹ gibt es auf dem Atlantischen Ozean gar nicht - die Wellen zeigten weiße Kämme, aber den Riesendampfer konnten sie nicht wiegen. Nur seine Planken zitterten unter der Gewalt der beiden Schrauben, und außerdem waren sämtliche Segel gesetzt worden, die solch ein Passagierdampfer an seinen kurzen Masten führen kann, denn dieser prächtige Ostwind mußte ausgenützt werden.
Immer vergnügter rieb sich Kapitän Jonas die Hände. Hei, das war einmal eine Fahrt! Die brachte ihm etwas ein! Denn für jede Stunde, für jede Minute, die der Kapitän an der durchschnittlichen Fahrzeit erspart, bekommt er eine ganz beträchtliche Prämie! Das geht nach der Kontrolluhr! Und dann die Ehre, die Ehre!! Jede schnelle Fahrt ist für den Kapitän eine gewonnene Schlacht, die ihn höher befördern kann.
»Boot ahooiiiii!« sang langgedehnt der Matrose auf dem am Vordermaste angebrachten Ausguck, der den ausgestorbenen Mastkorb wieder zu Ehren gebracht hat, er hatte den Krimstecher vor Augen, und dann blickte er auf seinen kleinen Kompaß: »Drei Strich Steuerbord voraus!«
Wer nicht wußte, wohin er zu blicken hatte, der erkannte es schnell aus der Richtung der Fernrohre auf der Kommandobrücke.
Der dunkle Punkt rechts in der Ferne, eigentlich mehr voraus, wurde auch mit bloßen Augen entdeckt. Also ein Boot! Was für ein Boot? Keine Ahnung. Ein Segel schien es nicht zu führen.
Schnell wurde der Punkt größer.
»Das riecht hier recht nach Benzin,« meinte ein Herr mit einer Sturmkappe auf dem Kopfe.
Es war ganz undenkbar, daß man einen von dem Boote ausgehenden Benzingeruch hätte wahrnehmen können, ganz abgesehen davon, daß ja der Wind dorthinging. Aber bei dem Töfftöffmanne war das schon zum Instinkte geworden. Der roch selbst immer nach Benzin, und wenn er auch frischgewaschen aus dem Bade stieg.
Jetzt konnte man die Umrisse des Bootes deutlich unterscheiden, und der Instinkt sollte den Benzinmann nicht betrogen haben.
»Wahrhaftig, ein Motorboot!« wurde gerufen, wenn auch nur erst von denen, die etwas davon verstanden. Für die anderen war es vorläufig noch ein einfaches, scheinbar winziges Boot.
Doch bald war zu erkennen, daß sich nicht nur der Dampfer näherte, sondern daß das Boot selbst fuhr, direkt nach Süden, ohne Segel, ohne Ruder, von einem Schornstein war nichts zu sehen. Also mußte es wohl ein Motorfahrzeug sein.
»Da sind ja gar keine Menschen drin!« - »Die liegen am Boden, um dem Winde keinen Widerstand zu bieten.« - »Aber sich in solch einem Dingelchen so weit auf das Meer hinauszuwagen!«
So und anders klang es durcheinander.
Den kundigen Seemannsaugen wurde die Sache bedenklich. Das sah gerade so aus, als müsse, wenn sich hier nichts änderte, ein Zusammenstoß erfolgen, und mochte das Ding auch noch so klein sein, es war von Eisen und lief mindestens zehn Knoten - es konnte dem Riesen einige Rippen brechen, freilich um selbst in Atome zu zersplittern.
»Boot ahooiiiii!« donnerte das Sprachrohr.
Kein Mensch zeigte sich, und auch keine unsichtbare Hand änderte die Richtung des Bootes.
»Es kreuzt uns, es kommt nicht vorüber, wir müssen nach Steuerbord beidrehen,« sagte der wachehabende Offizier.
»Kein Viertelstrich wird von der Richtung abgewichen!« entgegnete der Kapitän zornig.
War der Kapitän gewillt, das Boot in den Grund zu rammen, es mitten durchzuschneiden? Das ist wohl schwerlich anzunehmen. Er hatte erkannt, daß es doch noch rechtzeitig an dem Dampfer vorüberfuhr.
Und so geschah es. Gute dreißig Meter vor dem Steven des Dampfers schoß es vorbei. Freilich war es von dem Kapitän ein gewagtes Spiel gewesen, oder er hatte seiner Berechnung sehr, sehr sicher sein müssen. Denn was sind dreißig Meter bei einem Schnellzug!
Da nun der große Dampfer fast noch einmal so schnell fuhr als das Motorboot, so kam es, daß sich dieses in der nächsten Minute, fast im nächsten Augenblick, ganz nahe links neben dem Dampfer befand.
Das hatten die Passagiere kommen sehen; alles, was sich an Deck befand, war nach der Backbordseite gestürzt.
Da konnte man nun für einige Augenblicke direkt in das unverdeckte Fahrzeug hineinsehen und ...
»Da ist ja gar kein Mensch drin! - Das Steuer ist nur festgebunden! - Der Führer muß über Bord gefallen sein! - Ein Sarg, da steht ein Sarg drin!«
Es war nur ein langer, schwarzer Kasten, der hinter den zischenden Zylindern am Boden des Fahrzeuges stand. Für diese Leutchen mußte es selbstverständlich ein Sarg sein.
Die Hauptsache und Tatsache aber war: In dem sich in voller Fahrt befindlichen Motorboote befand sich kein Mensch! Daß man die Ruderpinne festlegen konnte, hatte nichts zu sagen. Es gab dort unten gar keinen Platz, wo sich ein Mensch hätte verstecken können.
Hier zwanzig Knoten voraus und dort zwölf Kilometer seitwärts - wer nicht gerade günstig an der Bordwand gestanden hatte, konnte keinen Blick mehr ins Innere hinabwerfen - im nächsten Moment befand sich das führerlose Boot schon weit ab und hinter dem Dampfer, in dem aufgeregten Kielwasser heftig schlingernd.
Auch Nobody hatte einen vollen Blick bekommen, und ein plötzlicher Entschluß war ihm durch den Kopf geschossen - wohl nur einer Laune entspringend, aber auch ein unerschütterlicher Entschluß, für alles verantwortlich.
Er sprang nach der Kommandobrücke.
»Kapitän, geben Sie mir eine Jolle, lassen Sie den Dampfer für eine Minute stoppen, nur mit halber Kraft fahren, ich folge dem Motorboote!« schrie er hinauf.
Der Kapitän machte ein Gesicht, als traue er seinen Ohren nicht.
»Was wollen Sie?«
»Ein Boot aussetzen; ich will dem führerlosen Motorboote folgen, das kann doch nicht lange aushalten, lassen Sie den Dampfer stoppen!«
»Sie sind wohl nicht recht ...«
»Ich bezahle alles! Was kostet die Minute, wenn Sie mit rückwärtsdrehender Schraube abstoppen? Schnell, schnell!«
Der Kapitän brach in ein höhnisches Lachen aus.
»Nicht für hunderttausend Dollar! Und wenn auch der Himmel selbst ...«
Bum! Ein dumpfer Knall, augenblicklich hörte das Zittern der Planken auf, die Schraube stand.
Mit einem fürchterlichen Fluche sprang der Kapitän an das Telephon, das ihn mit sämtlichen Räumen des Schiffes verband; sofort bekam er Meldung. Im nächsten Augenblick verteilten sich Offiziere und Unterbeamte geschickt überall unter den Passagieren, wo sich solche nur aufhielten, um mit beruhigenden Worten eine Panik zu unterdrücken.
Gar nichts von Bedeutung. Nur einer der acht Dampfzylinder war gesprungen. Hatte absolut nichts auf sich. Weil zwei Schrauben vorhanden, mußte die Kuppelung umgeschaltet werden.
»Denn wenn nur die eine Schraube arbeitet, dann drehen wir uns doch immer im Kreise, und das geht doch nicht, nicht wahr, meine Damen und Herren?«
So beruhigten die wohlgeschulten Beamten mit scherzhaften Worten, nur um den ersten Emdruck zu verwischen. Denn ist die Panik einmal ausgebrochen, dann läßt sie sich nur noch mit roher Gewalt wieder eindämmen.
Dem Kapitän war es gar nicht scherzhaft zumute. In ohnmächtiger Wut knirschte er mit den Zähnen. Die Reparatur nehme mindestens zwei Stunden in Anspruch, so hatte das Telephon aus dem Maschinenraume gemeldet. Vorbei, vorbei! Der Feldherr hatte zu früh von einer gewonnenen Schlacht geträumt!
Daß man von einem in voller Fahrt befindlichen Dampfer kein Boot aussetzen kann, das bedarf wohl keiner besonderen Begründung. Man wolle nur immer an einen Schnellzug denken. Da bekäme einem das Herausspringen wohl übel.
Der Himmel, gegen den der Kapitän trotzen wollte, war Nobody zu Hilfe gekommen.
»Herr Kapitän, geben Sie mir ein Boot mit soller Ausrüstung, ich bezahle alles.«
»Lassen Sie mich ungeschoren!!« fuhr der Kapitän den Untenstehenden wütend an.
»Herr Kapitän, ich bitte Sie, das Motorboot ist offenbar ...«
Zufällig hatte Nobody einen Fuß auf die unterste Stufe der nach der Kommandobrücke hinaufführenden Treppe gesetzt; der Kapitän sah es.
»Mensch, den Fuß von der Treppe, oder ich lasse Euch in Eisen schließen!!« donnerte er und fuhr mit der Hand in die Tasche, als sei er zu noch mehr fähig.
»Bitte, Sir,« sagte da neben Nobody eine tiefe, wohllautende Stimme, »ich habe mein Segelboot mit, es liegt gleich hier an Deck. Darf ich es Ihnen zur Verfügung stellen?«
Ueberrascht sah Nobody auf und blickte in die energischen Züge und in die traurigen Augen seines Namensdoppelgängers.
Zunächst trat er schnell unter die Kommandobrücke, um aus den Augen des Kapitäns zu kommen; der Kanadier folgte ihm.
»O, sehr liebenswürdig von Ihnen! Tatsache? Ein seetüchtiges Boot?«
»Ein Sportboot, das jeden Seegang besteht. Es ist der ›Clever‹ - Sie haben vielleicht davon gehört ...«
»Doch nicht das Boot, in welchem voriges Jahr der amerikanische Kapitän Archy Brown mit nur einem Begleiter von New-York nach Liverpool gesegelt ist?« rief Nobody überrascht.
»Dasselbe. Ich habe es gekauft und vollständig neu herrichten und auftakeln lassen. Dort liegt es. Es kann sofort ins Wasser gelassen werden.«
Er deutete auf eine festgeschnürte Plane, die einen großen, langgestreckten Gegenstand verbarg, der mitten an Deck lag.
»Einen Augenblick!«
Der zweite Offizier ging vorüber, Nobody hielt ihn an.
»Verzeihung, Mister Governor. Gerade als das Motorboot vorüberfuhr, und als der Knall erscholl, sah ich Sie die Sonne aufnehmen, Sie machten eine geographische Ortsbestimmung. Darf ich das Resultat der Berechnung erfahren?«
Bereitwillig zog der Gefragte sein Rechenbuch.
»41 Grad 58 Minuten 53 Sekunden nördliche Breite, 73 Grad 11 Minuten 36 Sekunden westliche Länge.«
»Danke sehr.«
Nobody brauchte sich diese Zahlen nicht zu notieren, und nun hatte er Zeit. Das Motorboot steuerte mit seiner festgelegten Ruderpinne den Kurs weiter, den Nobody wohl beachtet hatte, mit dem Kompaß in der Hand, bis das Benzin erschöpft war, und was sich der Riesendampfer unterdessen allein durch die Kraft der Segel entfernte, das kam gar nicht in Betracht.
»Es muß aber wohl erst mit Proviant und Trinkwasser versehen werden?« wandte sich Nobody wieder an den Kanadier.
»Es ist mit Proviant und frischem, in Liverpool eingenommenem Trinkwasser für drei Mann versehen, um noch einmal eine Reise über den Ozean machen zu können - Sextant und Logarithmentafeln, der beste Chronometer und Kompaß und alles ist vorhanden, es kann augenblicklich ins Wasser gelassen werden.«
»Vortrefflich! Aber können die Segel auch nur von einem Manne vom Steuer aus bedient werden?«
»Es ginge wohl. Doch wir begleiten Sie, ich und mein Diener.«
Betroffen blickte Nobody den Sprecher an, und immer wieder sah er die energischen, kühnen Züge und die traurigen, träumenden Augen.
»Herr, ich mache Sie darauf aufmerksam ...«
»Ich weiß, was ich tue,« wurde er von der ruhigen Stimme unterbrochen, »und wir sind auf den kanadischen Gewässern zu Hause, welche dem Atlantic an nichts nachgeben.«
»Trotzdem - wir sind mindestens noch 300 Seemeilen vom Lande entfernt, die Verfolgung des Motorbootes, das vielleicht noch stundenlang aushält, ist eine Fahrt ins Planlose ...«
»Das eben ist nach meinem Geschmack.«
»Well, dann ans Werk! Wir haben zwei Bootskrane zur Verfügung, und der Kapitän soll uns nicht hindern, den Dampfer zu verlassen.«
Schnell war bekannt geworden, daß ein Passagier beabsichtige, dem führerlosen Motorfahrzeuge in einem Segelboote zu folgen, es einzuholen - der Kapitän hatte ihm ein Boot verweigert, aber ein anderer Passagier hatte sein eigenes mit, dort lag es, es gehörte jenem jungen Manne, der schon die Plane löste, seine Schlüssel aus der Tasche holte - und das war nun so etwas für die Matrosen, mancher hätte gern selbst mitgemacht, und sie sprangen ohne Aufforderung herbei und waren behilflich.
Unterdessen holte Nobody sein Köfferchen, und als er wieder an Deck kam, war die Plane schon entfernt.
Es war ein Seeboot, bei dessen Anblick das Auge eines jeden Sportsmannes aufleuchten mußte. Mr. Scott befand sich bereits darin und zog mit kundiger Hand die Taue durch die Rollen, ohne sich in dem netzartigen Durcheinander von zahllosen Tauen und Seilen und Schnüren zu irren, obgleich er deshalb noch kein Seemann zu sein brauchte.
Auch Bruno erschien mit zwei kleinen Koffern, die in das Boot gelegt wurden, und was die beiden sonst noch an Gepäck mithatten, das ging ja nicht verloren.
Zur schnellen Erledigung war ein Zufall zu Hilfe gekommen, daß man den Kapitän gar nicht erst brauchte.
Beim Verlassen des Hafens hatte der Dampfer eine kleine Kollision gehabt, ein in den Davits hängendes Boot war dabei eingedrückt worden. Man hatte die Trümmer beseitigt, sonst waren die Bootskrane mit allen Tauen noch in Ordnung.
Dorthin wurde das Boot auf Rollen gebracht, die drei Männer befanden sich schon darin - eingehakt, aufgehievt, ausgeschwungen, herabgelassen - und als der Kapitän merkte, was hinter seinem Rücken geschehen war, konnte er sein Donnerwetter nur noch über den Köpfen der Offiziere entladen, die dabeigewesen und solch ein eigenmächtiges Vorgehen von Passagieren geduldet hatten.
Das Boot schwamm bereits selbständig, hatte Hauptsegel und beide Klüver gesetzt, Nobody saß am Steuer.
Noch einmal blickte er zurück, um die Entfernung zu messen, die ihn von dem Koloß trennte, und da hatte er eine Vision, obgleich es doch handgreifliche Wirklichkeit war.
Aus einem Bollauge, wie die kleinen, runden Schiffsfensterchen heißen, schaute ein Gesicht, umwuchert von einem schwarzen Barte, das Gesicht selbst weiß wie eine Kalkwand, es machte aber auch einen leichenähnlichen Eindruck, und dieses Leichengesicht war verzerrt von Haß und Hohn, und Haß und Hohn funkelten aus den schwarzen Augen, welche dem absegelnden Boote nachblickten, und Haß und Hohn ...
Es läßt sich gar nicht beschreiben.
Dazu kam noch die runde Umrahmung, in welche diese Teufelsfratze genau hineinpaßte.
Wir sagten, Nobody hätte nur eine Vision gehabt. Das kam daher, weil er ja nur einen einzigen Blick nach rückwärts geworfen hatte. Er hatte keine Zeit, sich dieses Gesicht näher zu betrachten. Aber wie unauslöschlich fest sich diese weiße Teufelsfratze, nur bestehend aus Haß und Hohn, seinem Gedächtnis eingeprägt hatte, nur bei dem einzigen Blick nach rückwärts, das werden wir dann gleich sehen.
Die Segel schwellten, das Boot legte sich nach Steuerbord über, als wolle es kentern, richtete sich wieder auf, und dann schoß es wie ein weißer Schwan davon, nur wenig nach Lee überliegend, und mit welcher Macht sich auch das Wasser brach, der scharfe Bug des edlen Renners durchschnitt es wie - wie ein Rasiermesser die Butter - kein Tropfen benetzte die Insassen.
War das Risiko ein gewagtes? Wie man es nimmt. Nobody fürchtete nur eins: Daß das Motorboot, noch fahrend oder schon stilliegend, von einem anderen Schiffe gesehen und aufgefischt werden könnte. Es war ein wertvolles Objekt, und wenn es von Menschen verlassen worden, freiwillig oder unfreiwillig, so gehörte es nach Seerecht als treibendes Gut dem Finder.
Und würde dieses Segelboot, das doch nur vom Winde abhängig war, das Fahrzeug, wenn es sein Benzinleben ausgehaucht hatte, auch finden?
Mr. Scott warf einen an einer Leine hängenden Apparat aus, welcher die Schnelligkeit bestimmte, aber keine gewöhnliche Logleine, und beobachtete die am anderen Ende der sich drehenden Schnur befestigte Uhr.
»Acht bis neun Knoten, und die Segel können noch voller stehen.«
»Ich bin der Ueberzeugung,« sagte Nobody, »daß das Motorboot auch nicht schneller fuhr. Die Ansicht der Sportsleute, die ich hörte, es mache mindestens zwölf Knoten, beruhte auf Täuschung, weil sie selbst auf dem schnellen Dampfer standen, und mögen sie auch auf dem Lande so etwas taxieren können, auf der See ist das doch etwas ganz anderes.«
»Ich hörte sogar einen Steuermann sagen, daß es höchstens zehn Knoten liefe,« bestätigte der Kanadier.
»Well, dann soll es uns auch nicht entgehen, und wenn das gebrauchsfähige Benzin auch noch zehn Stunden aushielte.«
»Dort ist es ja noch!« ließ sich Bruno zum ersten Male vernehmen.
Er hatte mit dem Fernrohr voraus den Horizont abgespäht und einen dunklen Punkt entdeckt. Es bestätigte sich, es war das Motorboot, allerdings noch in voller Fahrt, denn der Punkt wurde nicht größer.
Nobody bat den Bootseigentümer, das Steuer zu übernehmen, setzte sich an den Mast, zog sein Taschenbuch und begann zu zeichnen. Wenn das Boot auch schlingerte und stampfte, am Schreiben und Zeichnen hindert dies Nobody nicht.
Es war das eingerahmte Gesicht, welches er mit gewandtem Bleistift wiedergab, und obgleich es sein Blick doch nur ganz flüchtig gestreift hatte, war er sich bewußt, die Physiognomie der Teufelsfratze mit der Wahrheit einer Photographie getroffen zu haben.
»Mister ... ich kenne noch nicht einmal Ihren werten Namen.«
»Edward Scott,« stellte sich der Kanadier vor.
»Ah, welch seltsamer Zufall!« tat Nobody überrascht. »Da führen wir ja ein und denselben Namen, auch der Vorname stimmt überein!«
Der Kanadier antwortete nicht, er hatte die großen, blauen Augen ruhig auf den Sprecher geheftet, und Nobody fand in diesem Moment, daß diese Augen einem klaren, tiefen Alpensee glichen.
»Doch führe ich lieber den Namen des Mannes,« fuhr Nobody fort, »welcher mich als Kind adoptierte, und dem ich alles verdanke - sein Name war Mulford.«
»Sehr wohl, Mister Mulford,« entgegnete der Kanadier, und fast wäre es passiert, daß Nobody den Blick dieser großen, blauen Kinderaugen nicht ausgehalten hätte, etwas wie Beschämung beschlich ihn, daß er diesen ehrlichen Charakter so anflunkern mußte - doch schließlich war es ja ganz harmlos, und es ist oftmals nicht angenehm, wenn zwei Personen genau den gleichen Namen führen - ja, es kam Nobody fast vor, als ob diese klaren Augen ihm bis ins Herz sähen und dort die Wahrheit läsen.
Schnell hatte Nobody die kleine Schwäche überwunden.
»Haben Sie, als wir vom Schiffe abstießen, das Gesicht gesehen, welches uns aus einem Bollauge nachblickte? Der Mann, dem das Gesicht gehörte, befand sich in einer Kabine des unteren Promenadendecks.«
Ruhig schüttelte der Kanadier den Kopf.
»Ich habe nichts bemerkt, habe nicht darauf geachtet.«
»Mich wundert nämlich, daß ich dieses auffallende Gesicht während der fünf Tage gar nicht an Bord gesehen habe. Ein Passagier war es, er muß sich geradezu beständig in seiner Kabine aufgehalten haben. Ich habe das auffallende Gesicht hier nach dem Gedächtnis gezeichnet, nun stellen Sie es sich noch ganz unheimlich bleich vor, schon mehr weiß.«
Nobody hielt jenem die Zeichnung hin, und ... was war das?
Nur einen Blick auf das eingerahmte Gesicht, und der junge Mann war tödlich erschrocken zusammengezuckt. Aber er hatte sich außerordentlich in der Gewalt.
Ein anderer Mensch hätte dieses Zusammenzucken und den Schreck wohl schwerlich bemerkt, doch dem scharfen Auge des Detektivs war es nicht entgangen.
Bei dem Zusammenzucken blieb es nicht, hastig wendete sich Mr. Scott um, und Nobody wußte es ganz bestimmt, wenn er auch die Augen nicht sehen konnte, daß jener jetzt einen furchtsamen Blick nach dem Dampfer zurückwarf, der dieses Gesicht beherbergte, ohne daß der einsame Mann, der sich immer in seiner Kabine aufgehalten, es gewußt hatte.
Als er sich wieder umwandte, war freilich nichts mehr davon zu bemerken, und so ruhig wie vorhin schüttelte er den Kopf, während er nochmals auf die Zeichnung blickte, scheinbar ohne jedes Interesse.
»Nein, dieser Herr ist mir gänzlich unbekannt.«
Er sprach die Unwahrheit.
Es lag schon in seiner Ausdrucksweise. Er hätte höchstens sagen können: Nein, ich habe dieses Gesicht an Bord nicht gesehen.
Außerdem war seine Interesselosigkeit zu sehr erkünstelt, auch ihn hätte, wie jeden anderen Menschen, die Physiognomie dieser Teufelsfratze, die Nobody in ihrer ganzen Häßlichkeit wiedergegeben, überraschen müssen.
Da gab es für Nobody etwas zu grübeln. Was für ein Geheimnis lag hier vor? Hatte der in dem Gesichte ausgeprägte Haß und Hohn diesem jungen Kanadier gegolten?
»Das Motorboot liegt still!« rief in diesem Augenblick Bruno, der das Fernrohr nur aus der Hand gelegt hatte, wenn er sich mit den Segeln beschäftigte.
Schnell kamen sie näher. Nobody griff nicht erst zum Fernrohr.
»Schon vom Dampfer aus bemerkte ich,« sagte er, »daß an dem schwarzgemalten Heck kein Name stand, kein Buchstabe.«
»Nicht wahr, es ist nötig, daß jedes Fahrzeug, auch auf dem Meere, ob nun der größte Dampfer oder nur das kleinste Boot, seinen Namen und Heimatshafen in deutlich erkennbarer Schrift trägt? Ich bin kein Seemann, ich habe nur davon gehört.«
»Allerdings, das schreiben die internationalen Seegesetze aufs schärfste vor, und jedes Kriegsschiff ist verpflichtet, ein Fahrzeug, welches keinen Namen und keine Flagge führt, sofort ins Schlepptau zu nehmen und zur Bestrafung der nächsten Seebehörde auszuliefern. Name und Heimatshafen müssen unbedingt deutlich angegeben sein, da gilt keine Ausnahme.«
»Dieses Motorboot scheint aber doch eine zu machen.«
»Ja, das ist eben sehr rätselhaft. Nun, wir werden ja gleich sehen.«
Das auf den Wogen schaukelnde Fahrzeug war erreicht, das Segelboot legte bei. Nobody sprang sofort hinüber, während Scott es nicht so eilig hatte. Vorläufig blieb er noch am Steuer sitzen, obgleich das gar nicht nötig gewesen wäre, und beobachtete von hier aus Nobodys Untersuchungen, während sich der Diener nur mit dem Herablassen und Festmachen der Segel beschäftigte.
Das Fahrzeug war durchweg aus Stahl gebaut, der Form nach speziell für die See bestimmt, obgleich nur die beiden Zylinder und die empfindliche Maschinerie überdeckt waren.
Es war reichlich mit Trinkwasser und Proviant versehen, hauptsächlich Konserven, und zwar recht ausgesuchte; in luftdicht verschlossenen Glasbüchsen sah man außer grünen Erbsen und Bohnen auch den besten Spargel, Artischoken, Morcheln und andere Delikatessen, fix und fertig gebratene Fleischstücke aller Art brauchten auf einem kleinen Spiritusapparat nur noch gewärmt werden. Auch das Hartbrot schien von vorzüglicher Beschaffenheit zu sein.
Ebenso wie dieser Proviant deuteten auch die vollzählig vorhandenen nautischen Apparate an, daß das Boot nicht etwa zufällig von der Küste verschlagen worden war, sondern daß eine längere Reise auf hoher See beabsichtigt gewesen.
Das war das Ergebnis der ersten, oberflächlichen Untersuchung.
Jetzt wandte Nobody seine Aufmerksamkeit der langen Kiste zu, welche mitten am Boden des Fahrzeuges stand. Sie war schwarz angestrichen wie das ganze Boot, etwa zwei Meter lang und einen halben Meter breit, ebenso hoch - also eine einfache, vierkantige Kiste aus Brettern, die sonst mit einem Sarge gar keine Aehnlichkeit hatte.
Ihr Gewicht konnte Nobody nicht taxieren; er hätte, um sie zu heben, erst die Querhölzer entfernen müssen, welche zwischen die Kiste und die Bordwand geklemmt waren, um sie eben in dieser Lage festzuhalten, und das Boot schlingerte doch sehr stark, und war sie sehr schwer, so konnte leicht, wenn sie gegen eine Bordwand rutschte, eine Katastrophe eintreten.
Vorsichtig mußte man auf alle Fälle sein.
Der Deckel war mit Nägeln befestigt. Nobody fand im Werkzeugkasten Hammer, Meißel und Zange; er begann, den Deckel abzuheben, dabei ganz kaltblütig sich die Frage stellend: Wenn das nun eine Höllenuhr ist, die beim Oeffnen des Deckels explodiert?
Wie gesagt, er dachte es ganz kaltblütig, während er lustig mit Hammer und Brecheisen arbeitete. Er hätte es nicht ändern können.
Der Deckel drohte in der Mitte zu zerspalten, Nobody wollte es verhüten.
»Bitte, Mr. Scott, kann Ihr Diener mir behilflich sein, den Deckel abzunehmen?«
Der junge Kanadier stieg selbst hinüber, langsam, phlegmatisch, ließ sich von Nobody anstellen; gleichzeitig gingen alle Seiten des Deckels hoch, die Kiste war offen, und ...
Das sensationslüsterne Publikum auf dem Dampfer hatte richtig gewittert.
Die schwarze Kiste war wirklich ein Sarg! Eine Leiche lag darin, die Leiche eines jungen Weibes, eines blondhaarigen Mädchens, nur mit einem Hemd bekleidet.
Es muß doch ein eigentümliches Gefühl sein, wenn man eine zufällig gefundene Kiste öffnet und man sieht darin einen toten Menschen liegen. So ganz teilnahmlos, als wenn man darin etwa alte Zeitungen fände, bleibt man dabei wohl nicht. Auch Nobody blieb es nicht. Seine Bestürzung war groß. Im ersten Augenblick war er wie gelähmt.
Seltsam! In diesem Augenblicke, in welchem man bei solch einer Gelegenheit, wenn man sich selbst zu beobachten versteht, nämlich gar nichts denkt - das Gehirn hört plötzlich zu funktionieren auf - da schoß durch Nobodys Kopf der fragende Gedanke: Was wohl der junge Kanadier mit den energischen Zügen und den träumenden Augen denkt, wenn er diese Leiche sieht? Was für ein Gesicht wird er machen? Was für Augen? Wie wird er sich benehmen?
Und Nobody betrachtete nicht die Leiche, sondern er blickte seinen Begleiter an.
Und siehe da - Mr. Scott schaute völlig teilnahmlos in die Kiste, seinetwegen hätte sie ebensogut mit altem Zeitungspapier gefüllt sein können.
»Eine Leiche! Ein totes Weib! Das ist ja merkwürdig!«
Diese Ueberraschung war erkünstelt!!
Und Bruno, der Diener? Der hantierte nach wie vor mit seinen Segeln, der Kiste hatte er noch gar keinen Blick geschenkt, und auch jetzt tat er es nicht, da sein Herr mit lauter Stimme gesagt hatte, daß eine Leiche darin sei; ruhig fuhr er fort, ein Tau aufzurollen, und da plötzlich schoß es durch Nobodys Kopf:
Diese beiden wußten schon, daß in dieser Kiste diese tote Frau ist!!!
Im nächsten Augenblick freilich hatte Nobody diesen Gedanken auch schon wieder verworfen.
Nein, das waren eben zwei Sonderlinge. Der junge Mann mit den träumenden Augen war für alles abgestorben, der war selbst schon eine Leiche, die von irgend einem großen Seelenschmerze noch lebendig gehalten wurde, und der Diener war wie sein Herr geworden.
Nobody richtete seine Augen wieder auf die Kiste und ihren Inhalt, und jetzt stellte er ganz nüchterne Betrachtungen an. Höchstens zwanzig Jahre alt, sicher noch ein Mädchen, das unschuldige Gesicht von sehr zarten Zügen, die Hände klein und sorgsam gepflegt, desgleichen die Füße - also jedenfalls einem besseren Stande angehörend.
War sie denn auch wirklich tot? Oder schlief sie nicht nur?
Nobody wagte nicht, ihr seine Hand auf das Herz zu legen. Eine heilige Scheu hielt ihn ab, in Gegenwart des fremden Mannes den jungfräulichen Busen zu berühren, der sich leicht unter der dünnen Leinwand wölbte - eine Scheu, die der Detektiv Nobody sonst gar nicht kannte.
Zunächst begnügte er sich, ihre Hand zu heben. Keine Spur von Todesstarre. Hierbei konstatierte Nobody auch, daß diese Hand nie schwere Arbeit verrichtet, in letzter Zeit auch nicht mit der Nadel.
Dann nahm er prüfend das goldblonde Haar zwischen die Finger, welches langaufgelöst zum Teil über der Brust lag, und immer wieder ließ er es durch die Finger gleiten, und dann waren seine Züge etwas verstört, als er den anderen anblickte.
»Mr. Scott,« flüsterte er stockend, »ich weiß nicht - diese Frau ist - entweder - soeben erst verschieden - oder - sie ist - überhaupt gar nicht tot.«
»Gar nicht tot?« erklang es in fragendem Tone zurück, und wiederum so überaus gleichmütig. »Prüfen Sie doch einmal den Puls und das Herz!«
»Das habe ich nicht nötig - ich habe für so etwas meine eigene Methode - das Haar - und - dieses Haar ist noch lebendig.«
»Wie meinen Sie das?«
»Es ist noch nicht brüchig - nicht hart - nicht im geringsten - es ist noch vollständig weich.«
»Vielleicht scheintot?«
Wie teilnahmlos diese Frage nur herauskam?!
»Mr. Scott - verzeihen Sie - eine Frage ... sind Sie - verheiratet?«
Da sah Nobody in dem sonst so unerschütterlichen Gesichte etwas vor sich gehen, ein eigentümliches Zucken, nur für das beobachtende Auge dieses Detektivs bemerkbar, gleich war es wieder vorüber - doch es hatte genügt, um Nobody eine ganze Geschichte zu erzählen - jene alte Geschichte, die ewig neu bleibt - die alte Geschichte von der unglücklichen Liebe - und wem sie just passieret, dem bricht das Herz entzwei.
Dem war es dabei gebrochen!
Er antwortete nicht, aber er hatte verstanden, was mit der Frage, ob er verheiratet sei, gemeint war, und schweigend begab er sich zurück in das Boot und traf Vorbereitungen, um mit dem Sextanten nach der hochstehenden Sonne die geographische Lage zu bestimmen, was er also ebenfalls verstand, ohne ein Seemann zu sein, und der Diener war ihm dabei behilflich.
Jetzt hatte Nobody jene Scheu überwunden, etwa fünf Minuten lang beschäftigte er sich mit dem Körper des jungen Weibes.
Als er sich nach dem Segelbote umwandte, war er etwas bleich.
»Das Rätsel bleibt bestehen.«
»Einen Augenblick, Sir,« sagte Scott, der auf einem Blatt Papier rechnete und manchmal in dem Logarithmenbuche nachschlug, welches ihm Bruno halten mußte.
»Welches Rätsel?« fragte er dann ruhig, als er das Resultat gefunden hatte.
»Sie ist tot, ich kann es nicht anders annehmen; aber alle bekannten Anzeichen, daß der Tod eingetreten ist, fehlen.«
»Keine blauen Flecke?«
»Das wäre doch das Allerauffallendste. Nein - nichts, gar nichts! Und, wie gesagt, für mich ist die Beschaffenheit des Haares das Ausschlaggebende, und es ist das Haar eines lebenden Menschen.«
»Also scheintot.«
»Ich muß es annehmen.«
»Zeigt sie eine Verletzung?«
»Nichts, keine Beule, kein Fleckchen, absolut nichts.«
»Verstehen Sie, eine Ader zu öffnen?«
»Ich verstehe es, aber ich tue es nicht, es hat in diesem Falle gar keinen Zweck. Ob das Blut nun fließt oder nicht - bei Scheintoten hat der Aderlaß schon zu viel Fehlschlüsse ergeben.«
Mit seinem gewöhnlichen Gleichmut hob der Kanadier die Schultern.
»Da müssen wir eben warten, ob sie wieder erwacht oder nicht. Welche Richtung wollen wir nun einschlagen?«
Zum ersten Male sprachen sie über den Besitzer des Motorbotes, über den Chauffeur wie wir ihn fernerhin nennen wollen, der doch jedenfalls über Bord gestürzt war - daß in dem Boote nur ein einziger Mensch gewesen war, konnte Nobody besonders aus den Eßgerätschaften konstatieren - und keiner sprach sein Bedauern aus, Nobody selbst machte sich auch nicht im stillen Vorwürfe, daß man gleich dem durchgegangenen Motorboote gefolgt war, anstatt erst nach dem Verunglückten zu suchen.
Alle drei waren eben Männer, welche die See kannten.
In dem Segelboote nach dem irgendwo im Wasser schwimmenden Kopfe zu suchen, auf hoher See, das wäre einfach eine Verrücktheit gewesen, sie kamen gar nicht auf solch eine Idee. Sie hätten ihn doch nicht gefunden - und das entflohene Motorboot dann ebenfalls nicht!
Jetzt aber konnte man tun, was in diesem Falle noch zu tun war. Mr. Scott hatte selbst ein Motorboot besessen, er verstand etwas davon, er schätzte die zweizylindrige Maschine auf dreißig Pferdekräfte, und der Behälter, aus welchem das Benzin direkt vergast wird, hielt vier Stunden aus, auf keinen Fall länger.
Das befestigte Steuer war natürlich ›recht‹ gelegt worden, das heißt, das Motorboot war immer geradeaus gefahren. Nun hatte Scott schon die geographische Lage des Ortes auf dem Wasser, wo man sich zur Zeit befand, bestimmt; Nobody machte die Berechnung nochmals und bestätigte ihre Richtigkeit. Hierzu kam die geographische Bestimmung des Steuermannes auf der ›Persepolis‹. Zwischen diesen beiden idealen Punkten mußte man sich eine Linie denken, dieser Kurs wurde gesteuert, und zwar vier Stunden lang, oder, da das Segelboot nachgeschleppt wurde, fünf Stunden lang, dabei immer die Wasseroberfläche abspähend - und sie hatten ihre Pflicht getan, kein irdischer Richter und kein Gott konnte sie einer Unterlassungssünde beschuldigen. Mancher Seemann, selbst einer mit einem feinen Gewissen, hätte es gar nicht getan. Soll man einmal einen Schwimmer in einem Umkreise von sechzig Kilometern auf hoher See suchen und finden! Und war er ertrunken, und hatte er nicht zufällig eine Korkweste angehabt, dann sank er sofort und tauchte erst wieder empor, wenn sich sein Körper mit Gasen anfüllte.
Ein großes, eisernes Reservoir war noch zur Hälfte mit Benzin gefüllt. Scott berechnete sofort die Quantität genauer und konstatierte, daß man mit diesem Kraftstoff bequem die 320 Seemeilen entfernte Küste Amerikas erreichen konnte, auch wenn man erst noch fünf Stunden nördlich steuerte.
Es ging also sofort rückwärts. Scott übernahm die Bedienung des Motors, was vom Ruderplatz aus geschah, so daß er zugleich steuerte. Bruno blieb in dem ins Schlepptau genommenen Segelboot, welches ebenfalls gesteuert werden mußte, und durch Setzen von Segeln konnte der Widerstand sehr verringert werden. Das Motorboot lief noch immer acht Knoten, sonst wären es wohl neun geworden. Dabei konnten die beiden die Wasserfläche mit Auge und Fernrohr abspähen, woran sich Nobody ebenfalls beteiligte, wenn er auch noch mit etwas anderem beschäftigt war.
Zunächst befestigte er mit zwei Nägeln den Deckel wieder auf der Kiste, doch so, daß dort, wo sich der Kopf befand, eine Oeffnung blieb, daß man auch immer das Gesicht sehen konnte. Hierauf konstatierte Nobody durch gründliche Untersuchung eine Tatsache, die er schon seit längerer Zeit vermutet hatte: An und in diesem Motorboote war auch nicht ein einziger Buchstabe vorhanden!
Das würde eigentlich schon genug sagen. Doch es möchte zum Verständnis noch etwas näher erläutert werden.
Vergebens hatte Nobody in dem mit Spitzen besetzten, feinen Leinwandhemd der Toten, kein eigentliches Leichenhemd, nach einem Monogramm gesucht.
»Weshalb sind denn hier aus der Umschaltvorrichtung die Bezeichnungen entfernt?« hatte vorhin Scott gesagt, als er den Motor erst einmal zur Prüfung anstellen wollte.
Mit einem Hebel konnte man dem Motor natürlich verschiedene Schnelligkeiten geben, ihn vorwärts und rückwärts gehen lassen, und es gibt wohl keinen Motor, wo die betreffenden Ruhen nicht mit Worten oder doch mit Anfangsbuchstaben bezeichnet sind.
Statt dessen waren hier nur flache Vertiefungen, und Nobody war fest überzeugt, daß hier Worte oder Buchstaben aus dem gehärteten Stahl entfernt worden waren, jedenfalls mittels einer Säure.
Da erwachte in Nobody die erste Vermutung, und sie sollte sich bestätigen.
An der ganzen Maschinerie, an jedem einzelnen Teile, wo die Fabrikfirma eingeprägt gewesen oder auch nur eine Zahl, eine Nummer für die Montage, war diese verschwunden, jedenfalls herausgebeizt! Das hatte geschehen können, denn solche Stempel sind doch nur dort angebracht, wo es nichts schadet, an passiven Teilen.
Und so war es überall und überall! Aus jedem Werkzeug, aus jedem Schraubenschlüssel war jeder Buchstabe entfernt.
Nur eine einzige Einschränkung müssen wir machen, die aber wohl ganz selbstverständlich ist: der Chronometer hatte auf dem Zifferblatt natürlich noch die Stundenzahlen, sowie der Kompaß und der Spiegelsextant am Kreissektor seine Einteilung. Aber was den Ursprung hätte verraten können, das war auch aus diesen Instrumenten entfernt oder auf irgend eine Weise unkenntlich gemacht. So war auf dem elfenbeinernen Zifferblatt ein großer, schwarzer Klecks, der offenbar die Fabrikmarke verdeckte, während sie aus dem Kompaß mit einem Messer herausgekratzt worden war.
Das wäre das, was das Motorboot selbst und seine nautische Ausrüstung anbetraf. So war es aber überall! Für die anderes Fälle, welche von der außerordentlichen Vorsicht zeugten, mit welcher jeder Buchstabe entfernt worden war, nur noch ein einziges Beispiel: Außer den Einmachegläsern waren auch einige Blechbüchsen da, ebenfalls ohne Etikette, aber Nobody konnte noch erkennen, daß sie ursprünglich eine gehabt hatten, und daß diese durch Aufweichen entfernt worden waren. Als Nobody eine der Blechbüchsen mit dem Messer anbohrte, zeigte sich, daß sie kondensierte Milch enthielt.
Nobody teilte seine Wahrnehmungen dem Kanadier mit.
»Das ist allerdings höchst merkwürdig,« meinte dieser in seiner phlegmatischen Weise.
»Ja, aber wozu diese übergroße, fast lächerlich übertriebene Vorsicht?«
»Der Betreffende wollte durchaus verheimlichen, woher er das Motorboot und alles andere bezogen hat!«
Nun hätte Nobody immer wieder mit einem ›Wozu‹ fragen können. Es hatte keinen Zweck. Hier lag ein Verbrechen vor, das war ja ganz offenbar - so offenbar, daß die beiden dies gar nicht erst erwähnten.
Einmal versuchten sie, aus dem Benzinverbrauch und anderen Wahrzeichen bestimmen zu wollen, woher das Boot gekommen sein könnte, oder doch wenigstens, wie lange es wohl unterwegs sein möge. Doch bald gab Nobody diese Kalkulation wieder auf, indem er erkannte, daß man hier nur Fehlschlüsse ziehen könne, welche die Lösung erschwerten, ganz in Frage stellten. Es war nicht einmal unbedingt nötig, daß das Boot vom nördlichen Amerika gekommen war. Wenn der Betreffende nun seine eigene Jacht gehabt und diese mit dem Motorboot erst vor wenigen Stunden verlassen hatte? Und wo war er zuvor mit dieser Jacht gewesen? Dies hatte sogar etwas für sich, weil gar keine Kleidungsstücke vorhanden waren, die der Chauffeur doch sicher mitgenommen hätte, wenn er tagelang auf der See weilen wollte. Doch auch hierdurch durfte man sich nicht irremachen lassen, man hatte es offenbar mit einem ganz raffinierten Menschen zu tun.
Ja, mußte denn das Motorboot unbedingt einen Führer gehabt haben? Konnte es nicht mit festgelegtem Steuer von einem Schiffe oder auch von der Küste, die oberhalb New-York einen großen Bogen nach Osten macht, nordwärts in das offene Meer abgelassen worden sein? Das hatte sogar außerordentlich viel für sich!
Wir wollen hierzu nur eins bemerken: Durch Erwägung all dieser zahllosen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten wäre in dem Kopfe auch des nüchternsten Detektivs, der sonst seine Gedanken logisch zu ordnen versteht, nur eine heillose Verwirrung entstanden, während Nobodys Urteilskraft, indem er sich auf solche Vermutungen jetzt gar nicht einließ, weil es absolut keinen Zweck hatte, ungetrübt blieb.
Die fünf Stunden waren verstrichen, man hatte nichts auf dem Meere erblickt, kein treibendes Stück Holz, nicht einmal ein Schiff. Es war etwas nach vier Uhr, als Nobody die Sonne aufnahm.
Er berechnete die Lage, danach befanden sie sich 314 Seemeilen ziemlich direkt östlich von New-York entfernt.
»Wenn Seegang und Wind so bleiben,« meinte Scott, »können wir es bei 8 Knoten Fahrt in 40 Stunden erreichen, das wäre übermorgen vormittag, Benzin ist dazu überreichlich vorhanden.«
»Nach New-York wollen wir uns wenden?« fragte Nobody mit Spannung.
»Ja, wohin denn sonst? Natürlich können wir auch schon im ersten Hafen von Long Island anlegen, da ersparen wir noch mehrere Stunden.«
»Und dann?«
»Dann übergeben wir die Leiche und die ganze Sache natürlich der Polizei.«
Nobodys Entschluß war schon längst gefaßt gewesen.
»Geehrter Mr. Scott, ich möchte Ihnen eine Eröffnung machen, ganz kurz: Ich bin selbst Detektiv.«
»Das habe ich mir gedacht,« sagte der Kanadier ohne Ueberraschung.
»Wieso?«
»Nun, ich habe Sie doch lange genug beobachtet, und solche gründliche Untersuchungen kann wohl nur ein professioneller Detektiv anstellen, der hat Gedanken, auf die unsereiner gar nicht kommt. Sie stehen in amerikanischen Diensten, Mr. Mulford?«
»Nein. Ich bin Privatdetektiv - und auch nicht. Doch ich habe keine Zurückhaltung nötig. Haben Sie schon von Nobody gehört?«
»Sie sind ... Nobody?!«
Jetzt war es allerdings Ueberraschung, aber ... Nobody hatte den Eindruck, als sei sie erkünstelt. Doch er achtete nicht darauf, fand diese Erkünstelung sogar ganz angebracht. Dieser junge Mann war eben gegen alles ganz abgestorben, und er erachtete es gewissermaßen als eine Pflicht der Höflichkeit, jetzt überrascht sein zu müssen.
»Ich bin es.«
»Dann sind Sie doch ... Sir Alfred Willcox, der Champion der englischen Königin?!«
»Ich bin es, und ...«
Der junge Mann mit den energischen Zügen und den traurigen Augen lüftete mit einer leichten Verbeugung seine Sportmütze, was man bei einem Engländer äußerst selten sieht, er tut es fast nur seinem Landesherrn und dem Helden gegenüber, der gerade an der Tagesordnung ist.
»O, bitte, gar keine Ursache ...«
»Verzeihung - ich bin zwar geborener Kanadier und als solcher geborener Engländer, doch schon seit langem bin ich freier Bürger der freien Republik von Nordamerika, und als solcher zog ich meinen Hut nicht vor Sir Alfred Willcox, dem Baronet von Kent, auch nicht vor dem Champion der englischen Königin, sondern meine Ehrenbezeugung galt dem Detektiv Nobody und dann noch dem Ehrendoktor der Universität Oxford.«
Das war fein gesagt, und Nobody hatte keine andere Antwort, als daß er jenem die Hand hinhielt, die mit einer sichtbaren Aufwallung von Herzlichkeit ergriffen und gedrückt wurde.
»Jetzt werden Sie auch meinen Wunsch verstehen,« nahm Nobody dann wieder das Wort, »wenn ich die Sache nicht der Kriminalpolizei übergeben, sondern die Aufklärung selbst übernehmen möchte, ganz abgesehen davon, daß ich glaube - bei aller Bescheidenheit - das Rätsel schneller zu lösen, als es der Kriminalpolizei möglich sein dürfte.«
»Selbstverständlich, als Nobody haben Sie überhaupt nur zu befehlen ...«
»O nein. Sie überschätzen meine Stellung!«
»Ueber mich, meine ich, und ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Ihnen behilflich sein dürfte.«
Nobody wollte diese Höflichkeitsbezeugungen abkürzen.
»Ich bin Ihnen schon außerordentlichen Dank schuldig; ohne Sie hätte ich das Motorboot ja gar nicht verfolgen können, und ich nehme auch fernerhin Ihre Unterstützung dankbar an. Also jetzt erst einmal Kurs nach Westen genommen! Wohin dann speziell, das können wir noch unterwegs überlegen, wir haben ja Zeit genug.«
Das Motorfahrzeug ward gewendet, im nachgeschleppten Boote die Segel anders gesetzt, und mit acht Knoten Fahrt ging es dem Westen zu.
»Dort tauchen die Masten eines Schiffes auf,« fuhr Nobody fort, »es scheint ein Dampfer zu sein, und wäre es ein Kriegsschiff, welches das namenlose Fahrzeug zur Rechenschaft ziehen will, so würde mein ganzer Plan durchkreuzt. Das nächste muß also sein, daß ich dem Motorboot einen deutlich lesbaren Namen gebe. Das hat freilich seine Schwierigkeiten. Ich habe Kreide bei mir, ich muß sie pulvern und ...«
»Bitte, in meinem Boote, das ich habe weiß anstreichen lassen, ist eine Büchse weiße Oelfarbe mit Pinsel.«
»Ah, vortrefflich! Dann werde ich mich einmal als Kunstmaler auf dem schaukelnden Drahtseile produzieren. Denn ich muß doch von dem hüpfenden Boote aus auf dem schaukelnden Heck malen ...«
»Könnten Sie denn nicht die Buchstaben erst auf ein Stück schwarzes Tuch malen und dieses dann am Heck befestigen?«
»Ja, wenn wir solch ein Stück Tuch hätten, das die Farbe annimmt!«
»Ist alles vorhanden! Bruno, gib mir hinten aus dem Kasten die geteerte Segelleinwand!«
»Mr. Scott, Sie sind ja ein Kapitalmensch!« lachte Nobody. »Verzeihung, es war eine ehrlich gemeinte Anerkennung - und wirklich, Sie scheinen eine Zaubertasche zu besitzen, aus der Sie alles holen, was man gerade braucht.«
Nobody schnitt aus der herübergereichten, auf der einen Seite geteerten Leinwand ein viereckiges Stück heraus und begann nach kurzer Ueberlegung, ohne erst seinen Begleiter um Rat zu fragen, mit Pinsel und weißer Oelfarbe große Buchstaben zu malen - Ariadne, New-York - ließ die Farbe etwas trocknen, und dann war es ihm ein leichtes, das Stück Tuch an dem rundlichen Heck zu befestigen.
»Nun handelt es sich darum, unser Ziel genauer zu bestimmen, und wohin wir die Leiche zur weiteren Beobachtung und Untersuchung bringen. Am liebsten möchte ich natürlich keinen anderen Menschen ins Vertrauen ziehen.«
»Auch da könnte ich Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte der Kanadier.
»Bitte!«
»Ich besitze an der Ostspitze von Long Island ein Haus, liegt ganz einsam, hat einen eigenen Hafen. Das ist zu alledem wie geschaffen.«
»Hm! Und Ihre Dienerschaft?«
»Habe keine. Das Haus ist zwar vollständig eingerichtet, aber schon seit langer Zeit unbewohnt. Ich muß darauf gefaßt sein, daß unterdessen einmal eingebrochen und alles ausgeräumt worden ist,« sagte der junge Mann lächelnd, doch dieses Lächeln sah recht gezwungen aus, dieses Gesicht konnte überhaupt gar nicht mehr lächeln. »Das hätte für uns ja nichts zu sagen, so viel an Möbeln werden wir wohl noch vorfinden, um einige Betten herrichten zu können.«
Nobody ließ sich die Lage dieses Landsitzes genauer beschreiben, und er wunderte sich im stillen, wie man solch ein Haus mit vollkommener Einrichtung sich so ganz allein überlassen konnte.
»Ich nehme Ihr Anerbieten wiederum dankbar an, und dadurch würden wir ja auch ganz beträchtlich Zeit ersparen.«
»Gewiß. Mantauk Top, wie das Kap heißt, auf dem die Villa liegt, ist von New-York in der Luftlinie noch etwas über hundert Seemeilen entfernt, wir kommen also zwölf Stunden früher an.«
»Also in der Nacht! Vortrefflich! Können Sie hinein in das Haus?«
»Jederzeit. Ich habe den Schlüssel zur Haustür in der Tasche.«


Wir überspringen anderthalb Tag oder genau zweiunddreißig Stunden.
Die finsterste Nacht herrschte, doch war das Meer hier in der Nähe der Küste und im Fahrwasser nach New-York von zahlreichen Lichtern belebt, auch erleuchtete Fenster von Häusern konnte man schon sehen; eine Turmuhr war es, welche man die Mitternachtsstunde schlagen hörte, etwas zu früh, die Schiffsglocken glasten fünf Minuten später.
Die Fahrt in dem offenen Boot war bei dem schönen Wetter ohne jede Strapaze gewesen, so hatten sich die drei Männer auch zum Schlafen regelmäßig ablösen können.
Man war besonders heute oftmals dicht an Schiffen vorbeigekommen, wohl hatte das Motorfahrzeug mit dem nachgeschleppten Segelboot Aufmerksamkeit erregt, doch kein sargähnlicher Kasten. Der war wohlweislich unter Segeln verpackt worden. Eben kühne Sportleute, die sich in den Nußschalen so weit in die offene See gewagt hatten, und wurden sie einmal angerufen, so gab Nobody humoristische Antworten.
Er brauchte nur einen Zipfel des Segeltuchs zurückzuschlagen, so konnte er direkt in das Gesicht der Leiche blicken. Der Leiche? Nicht die geringste Veränderung des Körpers trat ein, was sich doch auch in den Zügen bemerkbar gemacht hätte. Und schob Nobody die Lider zurück, so blickte er in zwei blaue, sanfte Augen, die nichts von Todesstarre wußten, noch viel weniger eingesunken waren.
Die drei Männer hatten nicht mehr über dieses Rätsel gesprochen. Es war für den menschlichen Verstand gar zu ungeheuerlich. Aber auch sonst hatten sie wenig gesprochen, fast nur über nautische Sachen, die mit der Führung des Bootes zusammenhingen, So wußte Nobody über seinen Begleiter noch ebensowenig wie zuvor.
Am Nachmittage hatte man die Fahrt mit Absicht verzögert, ganz unterbrochen, um erst in später Nacht das Ziel zu erreichen.
»Was für viele Häuser sind das dort?« fragte Nobody.
»Mantauks Town, eine Villenkolonie von reichen New-Yorkern, die am Meere ihre Sommersitze haben, und jetzt ist Saison.«
»Und dort das so hellerleuchtete Gebäude?«
»Das Badehotel.«
Wie mächtig wurde Nobody jetzt wieder an den Zeitpunkt vor sieben Jahren erinnert, als der Schwimmer die Küste von Amerika betrat! Da hatte ihm auch ein Badehotel so hell entgegengestrahlt.
»Zwischen diesem Hotel und dem Gebäude, von dem Sie nur die erste Etage erleuchtet sehen, steht mein Haus.«
»Da liegt es doch nicht gar so einsam?«
»Nein, ganz einsam gerade nicht. Es liegt nur ... selbständig, für sich abgeschlossen.«
»Werden wir unbemerkt an Land kommen? Müssen wir erst über eine Straße?«
»Das eben nicht. Die hintere Haustür, zu der ich den Schlüssel habe, führt mit einer Treppe direkt ins Wasser.«
Der junge Mann mußte hier schon oft nächtlicherweile sein Boot eingesteuert haben, die erleuchten Fenster genügten ihm zur Orientierung, denn Nobody sah in der schwarzen Finsternis noch nichts von einer Treppe, nichts von einem Hause, als es einen kleinen Ruck gab und die eisernen Planken an Stein knirschten.
»Wir sind am Ziel. Hier ist auch noch der Ring vorhanden - wahrhaftig, sogar der Strick hängt noch daran! Bruno, bringe unser Boot herum. Darf ich Ihnen beim Aussteigen behiflich sein, Mr. Mulford?«
Es war nicht nötig. Jetzt, da Nobody wußte, wohin er seine Augen zu richten hatte, begannen sie nach und nach zu unterscheiden, und sie erkannten die Umrisse eines stattlichen Gebäudes, das nicht mit so einem Landhäuschen an der See verglichen werden konnte, in dem man ein paar Sommermonate verbringen will. Nobody glaubte einen venezianischen Stil zu erkennen - wahrhaftig, die Wassertreppe wurde auch von zwei steinernen Löwen bewacht! - und er dachte lebhaft an den Dogenpalast zu Venedig, hier freilich in stark verkleinertem Maßstabe.
Der junge Mann mußte Geld haben, daß er solch ein großes Haus so zinsenlos daliegen lassen konnte!
Scott war die Treppe hinaufgegangen, ein Schlüssel rasselte, eine Tür knarrte, und er kam wieder zurück.
»Alles in Ordnung, die Tür ist offen. Wollen wir nicht erst die Kiste in Sicherheit bringen? Dann schlage ich vor, daß Sie das Tragen uns beiden überlassen, mir und meinem Diener, wir kennen hier jeden Fußbreit, während Sie sich selbst mit Ihrer Taschenlaterne vor die Füße leuchten.«
Nobody sah die Richtigkeit dieses Vorschlags ein. Die Kiste mit ihrem Inhalte war die Hauptsache, die mußte vor allen Dingen im Hause verschwinden.
Das Herausbefördern aus dem schwankenden Boote ging ohne Schwierigkeiten vonstatten, ebenso das Hinauftragen. Viel mehr als ein Zentner konnte es nicht sein, und der eine der Träger war ein Arbeiter, und der Kanadier konnte trotz seiner feinen Hände sicher noch ganz andere Lasten heben.
Erst in dem Hausflur, als Nobody die Türe wieder geschlossen hatte, ließ er seine kleine Benzinlampe mit elektrischer Zündung aufflammen, und das erste, worauf der Blendstrahl fiel, war eine dicke Schicht Staub, welche den Boden bedeckte - und derselbe Staub überall, wohin er auch leuchtete!
Wie lange mußte dieses Haus nicht betreten, von keiner Hand gesäubert worden sein, daß sich solch eine hohe Schicht Staub ansammeln konnte? Und der Eigentümer hatte immer den Schlüssel dazu in der Tasche? Und es war sogar ein sehr, sehr großer Schlüssel, den man eigentlich sonst nicht so mit sich herumschleppt!
Jedenfalls war etwas dabei, was Nobody gar nicht recht in den Kopf wollte.
Die beiden schienen sich schon verabredet zu haben, wohin die Kiste kommen sollte. Sie trugen sie eine Treppe hinauf, mit einem kostbaren Teppichläufer bedeckt, aber ebenfalls voll Staub, wie alles in diesem Hause.
»Oeffnen Sie dort die zweite Tür, bitte!« sagte der vorn tragende Scott.
Nobody tat es, stieß die Flügeltür auf, trat selbst zuerst ein, mit der Laterne vorausleuchtend. Dem Auge des Detektivs entging nichts, und er brauchte nur einen Blick, um hier ein Geheimnis zu erkennen.
Es war ein höchst luxuriös eingerichtetes Wohngemach, die kostbaren Möbel noch ganz neu, wenn auch mit einer Staubschicht bedeckt, und es war auch wirklich bewohnt worden, aber der Bewohner hatte sich seinerzeit plötzlich entfernt, um dieses Zimmer, dieses Haus nie wieder zu betreten, alles stehen und liegen lassend, wie es sich gerade zurzeit befunden hatte, und unterdessen war auch keine andere ordnende Hand hier gewesen.
Auf dem großen Mitteltisch, mit golddurchwirkter Decke belegt, stand ein dreiarmiger Leuchter, dessen Kerzen schon gebrannt hatten. Das eine Ende der Decke war etwas über den Tisch geschlagen - ein deutlicher Beweis, daß nach dem Verlassen des Hauses hier keine ordnende Hand gewesen war! Dort auf dem Armstuhl, an den Kamin gerückt, in dem noch Asche lag, ein aufgeschlagenes Buch - zu einer kalten Jahreszeit war das Haus plötzlich verlassen worden, das Feuer hatte noch im Kamin gebrannt! Und dort auf dem Tischchen neben dem Sofa ein Teller, auf dem sogar noch etwas lag, was unter der Staubschicht wie ein halbes Brötchen aussah.
Dies hatte also des Detektivs erster Blick gesehen. Doch ihm war jetzt die Hauptsache, daß die hohen Fenster mit Portieren dicht verhangen waren.
»Wohin sollen wir die Kiste setzen?« fragte Scott.
»Einstweilen an den Boden, bitte. Dann möchte ich aber die Leiche auf den Tisch - oder besser auf das Sofa haben. Nur wäre eine bessere Unterlage ...«
»Bruno holt sofort die Decken aus dem Boote, und was wir sonst brauchen, besorgt er aus dem Hotel.«
Der Sarg war an den Boden gesetzt worden; der Diener, den man einen Stummen nennen konnte, hatte sich entfernt, sein Herr war zurückgeblieben.
Nobody hob mit einem Ruck den nur durch zwei Nägel befestigten Deckel. An der Leiche war noch nicht die geringste Veränderung wahrzunehmen, und man befand sich in der heißen Jahreszeit, die Zersetzung hätte schon beginnen müssen.
Jetzt wäre eine Gelegenheit gewesen, einmal über das Phänomen zu sprechen. Aber die Abwesenheit des Dieners wurde zu einer anderen Aussprache benutzt.
»Sir Willcox - Mister Nobody!« erklang es leise.
Scott hatte die drei Wachskerzen angebrannt, neben diesen stand er jetzt, den über den Sarg Gebeugten beobachtend, in der ungezwungenen Stellung eines Weltmannes, der nie in Verlegenheit ist, wohin er seine Hände zu tun hat, auch wenn ein scharfer Blick auf ihm ruht.
»Sie wünschen, Mister Scott?« fragte Nobody, sich aufrichtend.
»Ich habe eine Bitte an Sie.«
»Bitte sehr.«
Wie unsäglich traurig gerade jetzt diese schönen, großen Augen ihn anblickten!
»Sie befinden sich in meinem Hause, und ich werde mich bemühen, Sie als meinen Gast zu bewirten. Wir werden dabei die Hilfe des Hotels in Anspruch nehmen müssen; denn ... nicht wahr, Sie finden recht viel auffällig in diesem Hause?«
»O, nicht doch - nicht, daß ich wüßte - Sie sagten mir doch schon, daß Sie es seit langer Zeit nicht bewohnt ...«
»Doch, doch, es muß Ihnen sehr, sehr viel auffallen. Das ist nicht der Zustand eines Hauses, welches man auf gewöhnliche Weise verlassen hat. Und so wollte ich Sie bitten, mich niemals zu fragen, weshalb ich es so schnell verlassen und nie wieder betreten habe, obgleich ich den Schlüssel dazu immer bei mir trage.«
»O, mein Herr, wie dürfte ich es wagen, in Ihre Geheimnisse dringen zu wollen ...«
»Ich danke Ihnen, ich habe Ihr Wort,« unterbrach ihn der Kanadier mit einiger Hast, »das Wort eines Mannes, dem man unbedingt vertrauen darf.«
Eine leichte Verbeugung, und Mr. Scott entfernte sich schnell aus dem Zimmer, und Nobody fühlte förmlich, wie jener ihn mit gebundenen Händen zurückließ. Also Geheimnisse waren vorhanden, auch in diesem Hause, und er hatte sein Wort gegeben, er durfte ihnen nicht nachspüren, selbst wenn sie ihm von direktem Interesse gewesen wären.
Bruno kam wieder, außer den im Segelboot befindlichen Decken auch Nobodys Koffer mitbringend. Die eine Decke ward über das verstaubte Sofa gebreitet, der Diener war behilflich, die Leiche darauf zu betten.
»Falls sie sich morgen doch verändert hat, werde ich gleich jetzt einige photographische Aufnahmen bei Blitzlicht machen,« sagte Nobody, und der schweigsame Diener schien den Wunsch aus diesen Worten herausgehört zu haben, er entfernte sich sofort wieder.
Nobody war allein mit der Toten, und zum ersten Male bei ihrem Anblicke packte es ihn. Wir wissen ja, was für ein weiches Herz im Grunde genommen dieser Mann besaß, der, wenn es sein mußte, auch hartherzig bis zur Grausamkeit sein konnte.
Wie schön sie war, wie hold, wie unschuldig, wie keusch! War sie denn nur wirklich tot? Noch einmal stellte er alle Untersuchungen an, die er aus seiner langjährigen Praxis kannte, um den Tod eines Menschen zu konstatieren - nur den Aderlaß wandte er nicht an, er brachte es nicht über sich, diesen weißen Körper auch nur an der Fußsohle zu verletzen, und es war doch auch gar nicht nötig, er kannte untrüglichere Mittel.
Ja, sie war wirklich tot! Hier konnte auch von keinem Scheintod mehr die Rede sein. Daß der Körper im Tode so vollständig unverändert blieb, war für Nobody bereits kein Rätsel mehr. Die Leiche war präpariert! Hier lag also wohl noch ein zu lösendes Geheimnis vor, aber kein Rätsel mehr. Hierbei ist ein großer Unterschied. Und dieses geheimnisvolle Mittel schützte auch die Haare davor nach dem Tode steif und brüchig zu werden.
Wer war sie?
Diese Frage ließ im wehmütig gestimmten Menschen wieder den Detektiv erwachen.
Er entnahm dem Koffer einen vorzüglichen Photographenapparat und machte im jeweilig verfinsterten Zimmer wohl ein Dutzend Blitzlichtaufnahmen - Brustbilder und auch nur Kopfbilder, von vorn und von der Seite, mit offenen und geschlossenen Augen. Mehrfach drapierte er das goldblonde, leichtgewellte Haar anders, er strich es aus der Stirn zurück und ließ es darüberfallen, da hierdurch der Gesichtsausdruck ein anderer wird, und schließlich machte er auch zwei Aufnahmen vom unbekleideten Körper, und es mußten Photographien werden, welche einem Maler, der kein Modell für eine Diana findet, als Aktstudien dienen konnten.
»Wenn Sie fertig sind, Sir,« sagte die Stimme des jungen Kanadiers durch die Spalte der Nebentür, »hier ist ein Schlafzimmer für Sie vorgerichtet worden.«
Soeben hatte Nobody seine letzte Aufnahme beendet; über die Leiche hatte er eine Decke gebreitet, und er begab sich hinüber.
Es war ein als Schlafzimmer eingerichtetes Gemach, wiederum alles höchst luxuriös; aber man hatte unterdessen alles, was an Möbeln leicht transportabel, daraus entfernt und die schwereren Stücke mit Decken belegt, um den Staub nicht aufwirbeln zu lassen. Denn hätte man diesen hier im Zimmer entfernen wollen, das wäre ja eine heillose Schmutzarbeit geworden. Nur die Bettpfosten waren abgewischt worden, und die Bettwäsche stammte dem Monogramm nach, wie noch manches andere, offenbar aus dem nahen Hotel. Der Diener, welcher eben das kostbare Porzellangeschirr des Waschtisches mit Wasser versorgte, hatte dies alles inzwischen von dort geholt.
»Wir müssen uns behelfen, so gut es geht,« sagte der junge Hausherr. »Angenehmer wäre es wohl, wenn Sie im Hotel schliefen, aber ich vermute, daß Sie die Leiche nicht hier zurücklassen wollen.«
»Allerdings, und ich möchte Ihren Diener bitten, daß er mir behilflich ist, das Sofa, auf dem sie liegt, mit hierherüberzutragen.«
»Hier in dieses Zimmer, wo Sie schlafen? Herr, Sie haben starke Nerven! Nun ja, warum nicht, Sie werden in Ihrem Berufe noch etwas ganz anderes gewöhnt worden sein.«
Das Sofa mit der Leiche wurde herübergetragen und auf Nobodys Anordnung in einiger Entfernung neben das Bett gesetzt, dann holte er noch den brennenden Armleuchter herüber, stellte ihn auf den Tisch, auf dem schon ein genau solcher silberner Leuchter stand, ebenfalls mit drei brennenden Wachskerzen.
»Ich denke,« sagte Mister Scott in einer Stellung, welche andeutete, daß er gehen wollte, »wir sprechen jetzt nicht mehr über das Rätsel, morgen ist auch noch ein Tag, und uns allen werden einige Stunden Ruhe guttun.«
»Ganz meine Ansicht.«
»Hier ist eine Klingel, ihr Läuten ruft sofort den Diener herbei. Die Türen gehen zu verriegeln. Sir Willcox, ich wünsche Ihnen eine gesegnete Nachtruhe.«
Zum Abschied nur eine formelle Verbeugung, die von Nobody schweigend erwidert wurde.
Und nun passierte etwas, weshalb vorhin so umständlich die beiden Armleuchter erwähnt wurden - eigentlich gar nichts von Belang, und doch etwas recht Merkwürdiges, was nicht alle Tage vorkommt.
Die beiden, also gleichen Leuchter standen dicht nebeneinander auf der Ecke des Mitteltisches. Nobody hatte den seinen vorhin mehr nach dem Rande zu gesetzt, er stand gegenwärtig dem Hausherrn und dessen Diener am nächsten. Nobody wußte, daß es der seine war, und als er die Verbeugung gemacht, griff er nach diesem, die Hand so geöffnet, wie eine Hand eben greift, wenn sie einen schweren Leuchter erfassen will.
Gleichzeitig griff auch Mr. Scott nach dem ihm zunächst stehenden Leuchter, also nach demselben, den er für den seinen halten mochte, um ihn wieder mitzunehmen - aber der Diener hatte denselben Gedanken schon eher gefaßt gehabt als die beiden anderen, seine Hand kam zuvor, sie nahm den Leuchter schon weg, und auf diese Weise geschah es, daß sich Nobody und Scott plötzlich wider ihren Willen die Hand gegeben hatten!
Es lag etwas Komisches in diesem Zufall, das klappte auch alles so, wie die beiden halbgeöffneten Hände gerade ineinander fuhren, und Nobody konnte sich denn auch nicht enthalten, ein heiteres Lachen hören zu lassen.
»Na, da gute Nacht, Mr. Scott,« lachte er, die nun einmal erwischte Hand kräftig schüttelnd, »es stand eben im Buche des Schicksals schon verzeichnet, daß wir uns erst noch einmal die Hand zum Abschied geben sollten!«
So lachte Nobody. Und Mr. Scott? Der lachte nicht. Das gesunde, gebräunte Gesicht des jungen Kanadiers war plötzlich aschgrau geworden, möglichst schnell zog er seine Hand zurück und folgte dem Diener hinaus, der den brennenden Leuchter trug.
»Ein seltsamer Mensch!« brummte Nobody, als er sich entkleidete. »Zur einen Hälfte ein Athlet mit unbeugsamer Willenskraft, macht er zur anderen Hälfte den Eindruck eines träumenden Geistersehers. Nun, ich hoffe, noch Gelegenheit zu haben, diesen Charakter näher studieren zu können.«
Das Licht war verlöscht, und in der Finsternis grübelte Nobodys Hirn.
Doch nicht die neben ihm liegende Leiche war es mit der sich jetzt sein rastloser Kopf beschäftigte. Wir wollen seinen Gedanken folgen.
Der geneigte Leser der früheren Erzählungen wird gefunden haben, daß Nobody als Detektiv niemals von Glück oder besonderem Zufall begünstigt wurde. Nobody war niemals ›zufällig‹ dazugekommen, wenn irgendwo gerade ein Mord oder sonst ein Verbrechen passiert war, er hatte bisher niemals ›zufällig‹ auf der Straße oder sonstwo eine Leiche gefunden, kein abgeschnittenes Glied, nicht einmal ein blutiges Messer und dergleichen, er war niemals ›zufällig‹ mit der Nase gegen einen blutigen Fingerabdruck an der Wand gerannt. Er war auch niemals ›zufällig‹ dazugekommen, daß gerade ihm ein Sterbender ein fürchterliches Geheimnis beichten konnte. Nobody war auch niemals das glückliche Opfer einer Verwechslung gewesen. Kein Briefchen war ihm versehentlich zugesteckt worden, dessen unheimlicher Inhalt ihn nun auf eine Fährte brachte, die ihn als Detektiven zu einem Triumphe führte, er war auf keinem Maskenballe mit einer anderen Person verwechselt worden, so daß er ›zufällig‹ etwas zu erfahren bekam, was er als Detektiv gerade recht gut brauchen konnte.
Hierbei sei eine Bemerkung gemacht: Es gibt genug solche Detektiverzählungen, wo der Held ›zufällig‹ immer gerade dabei ist, wenn es für ihn etwas zu tun gibt, wobei er seine Weisheit leuchten lassen kann, und so läuft ihm ›zufällig‹ alles immer direkt in die Hand, wie einem im Schlaraffenland die gebratenen Tauben in den Mund fliegen. Das ist ja alles recht schön und gut, das mag sich auch ganz interessant lesen, aber auf die Dauer wird das doch langweilig, man sieht zu deutlich, woher das alles stammt, das nennt man ›bei den Haaren herbeiziehen‹, und wer etwas Phantasie besitzt, der sieht während des Lesens immer den Schreiber hinter dem Ofen sitzen, wie er einen Federhalter nach dem anderen zerkaut und sich die verschiedenen ›Zufälle‹ aus den Fingern saugt.
Nein, unser Nobody hatte sich als Detektiv ehrlich abgemüht! Was hatte er nicht auf der Eisenbahn und auf dem Wasser gelegen, um dorthin nach den fernsten Landen zu eilen, wo sich ein geheimnisvoller Fall ereignet hatte, dem die Kriminalpolizei ohnmächtig gegenüberstand! Oder es waren ihm ehrenvolle Aufträge zuteil geworden.
Dies hier war eigentlich das erstemal in seinem Leben, daß sich der Zufall so mit ihm verbunden hatte. Als er dem führerlosen Motorboote hatte folgen wollen, das war nur so eine plötzliche Laune seines abenteuerlustigen Charakters gewesen. Auf den schwarzen Kasten hatte er gar nichts gegeben, mit keinem Gedanken daran gedacht, derselbe könne irgend ein Geheimnis bergen. Und nun war das alles so gekommen! Und gerade jetzt, nach sieben Jahren, gerade wieder von der ›Persepolis‹ aus!
»Mir ist, als sollte das geradezu ein Zeichen des Himmels sein, daß für mich jetzt eine neue Aera beginnt,« dachte er.
Und nun diese Begegnung mit dem Kanadier! Wie gesagt, es war ihm ja schon oft passiert, einen Namensdoppelgänger zu finden, aber ... wie kam seine Frau dazu, irgendeinen Namen auszusprechen, und der eigentliche Träger dieses Namens entpuppte sich dann gerade als ein so merkwürdiger Mensch, und gerade dieser Namensdoppelgänger hatte ein Boot bei sich, ohne welches Nobody dem Motorboote gar nicht hätte folgen können, und gerade er mußte ihn begleiten, gerade mit diesem merkwürdigen, sonderlichen Namensdoppelgänger mußte er dieses Abenteuer erleben, in seinem Hause mußte er die rätselhafte Leiche unterbringen, und mit diesem Hause war es auch wiederum nicht recht geheuer!
Und dann vorhin der von formeller Höflichkeit diktierte Abschied, eine Verbeugung, nichts weiter - nein, es sollte eben nicht sein, sie hatten sich die Hände geben müssen, müssen!!!
Jetzt, da er so grübelnd in der Finsternis dalag, lachte Nobody nicht mehr darüber. Er wiederholte seine vorigen Worte, nur in anderer Fassung:
»Mir ist, als sei dieser Mann dazu bestimmt, meinem ganzen Leben eine andere Wendung zu geben.«
Und seine grübelnden Gedanken beschäftigten sich weiter mit dem ihm gänzlich unbekannten Menschen. Sie waren gezwungen dazu! Aber was war es, was ihn mit so unwiderstehlicher Gewalt zu diesem jungen Manne mit den ernsten, charaktervollen Zügen und den träumenden Augen hinzog?
Wir wollen alles, was Nobody dachte, in einige Worte kleiden, die er am anderen Morgen in sein Tagebuch einschrieb:
»Ich wollte, er wäre bettelarm und hilflos. Das ist der Mann, den ich schon immer gesucht und niemals gefunden habe. Das ist der Mann, dessentwegen ich wünschte, ich selbst verlöre alles, alles, um ihm beweisen zu können, daß es eine Freundschaft gibt, welche freudig das letzte Stückchen Brot teilt.«
Mit diesem Gedanken schlief Nobody ein, und da war es nicht wunderbar, daß er sich auch noch im Traume mit dem jungen Kanadier beschäftigte.
Eine besondere Handlung besaß der Traum nicht. Wie von einer Laterna magica an die Wand geworfen, tauchte das schöne männliche Gesicht mit den schwermütigen Zügen vor ihm auf, es war wohl eine Schiffswand, und das Gesicht war, wie bei einer Photographie, eingerahmt, mit einem kreisrunden Rahmen - doch nein, das war ja ein Bollauge, aus dem Scott blickte - und da plötzlich ging mit dem Gesicht des jungen Mannes eine langsame Verwandlung vor sich, das hellblonde Bärtchen wurde schwarz und immer größer, schwarze Haare sproßten aus Backen und Kinn hervor, ein wilder, schwarzer Vollbart entstand - und immer mehr veränderten sich auch die Züge - bis aus dem runden Fensterchen die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze grinste!
Man kann auch im Traume staunen. Nobody tat es. Wie konnte sich das ehrliche Gesicht nur in diese Teufelsfratze verwandeln?! Doch nicht lange, so ging die Verwandlung wieder rückwärts, der schwarze Bart verschwand nach und nach, bis nur noch das blonde Bärtchen blieb und aus dem verzerrten Mephistokopfe wieder der sympathische des jungen Kanadiers geworden war. Dann verschwamm alles in einem Nebel, Nobodys Schlaf wurde traumlos. -
Eine Maus nagte leise. Der Schläfer hörte sie nicht. Polternd fuhr ein Lastwagen vorbei, daß die Fensterscheiben erklirrten und das ganze Gebäude in seinen Grundfesten erzitterte. Nobody erwachte nicht. Was sollte ihn das auch im Schlafe stören? Ob er nicht vielleicht sogar das Nagen der Maus hörte, das freilich war eine andere Sache.
Da plötzlich zuckte ein dünner Lichtstrahl durch das Gemach, er blieb stehen, und das war etwas, was jetzt nicht hierherein gehörte, und die Sehnerven dieses Detektivs mußten so fein sein, daß er den schwachen Lichtstrahl unter den Lidern wahrnahm, denn sofort schlug er die Augen auf.
Der Lichtstrahl kam oben aus der Wand, welche keine Tür besaß. Nobody hatte sofort beim Eintritt bemerkt, daß es nur eine Bretterwand war, mit einer Tapete beklebt, und dort oben befand sich ein Astloch, dort war auch die Tapete defekt.
Wenn sich Nobody auf das Bett stellte, mußte er hindurchblicken können. Und er tat es. Deshalb brach er nicht sein Wort, nicht in die Geheimnisse dieses Hauses und seines Besitzers dringen zu wollen. Es konnte ja ein Einbrecher sein.
Er blickte in ein sehr großes Zimmer - nicht eigentlich hinein, sondern mehr hinab. Denn dieses kleinere Gemach hier hatte ursprünglich zu jenem gehört, breite Stufen führten herauf, es bildete eine Art von Podium, wie man es oft in englischen Häusern findet, und war erst nachträglich durch eine Bretterwand zu einem besonderen Zimmer gemacht worden.
Es war ein Schlafgemach, mit äußerstem Luxus eingerichtet, besonders überall orientalische Teppiche, und die Hauptsache waren wohl die beiden nebeneinanderstehenden Betten, die ihre weiche Pracht unter einer Staubschicht verbargen. Ehe der Bewohner dieses Haus für so lange und so plötzlich verlassen hatte, waren sie gemacht worden. Oder waren sie vielleicht überhaupt niemals benutzt worden? »Aha! Das ist der casus belli, daher das Herzeleid! Zwei Betten und nur ein Mann!«
Das Licht kam von einem dreiarmigen Leuchter, welcher auf einem Seitentische stand. An diesem saß Mr. Edward Scott und schrieb. Oder er war wohl eben fertig damit, er überlas noch einmal das Geschriebene.
Das Papier sah nicht wie ein Briefbogen aus, eher wie ein Zettel, der irgendwo heraus- ober abgerissen worden war. Näheres konnte Nobody nicht unterscheiden. Sonst konstatierte er nur noch, daß auf dem Tische außer dem Leuchter noch eine Tintenflasche stand, wie man sie bei jedem Krämer für zwei Cent bekommt, und dann eine Weinflasche. Aber kein Glas.
Der Schreiber war zufrieden mit seiner Arbeit, das sagte sein Nicken, und dann warf er einen langen Blick nach der Holzwand, gerade dorthin, wo Nobody stand.
Wohl jeder andere Mensch hätte bei diesem Blick schnell den Kopf zurückgezogen oder sich unter das Astloch geduckt. Das macht das böse Gewissen des Schlüssellochguckers. Aber Nobody war gegen so etwas schon viel zu sehr abgebrüht, er wußte, daß sein Auge von dort aus unmöglich gesehen werden konnte.
»Das sieht bald aus, als stände das, was er da geschrieben, mit mir in irgendeiner Verbindung,« dachte er nur, eine Erklärung für den Blick nach der Wand suchend.
Jetzt rollte Scott den Fetzen Papier zusammen, drehte die längliche Rolle einige Zeit zwischen seinen Händen, dann nahm er die Weinflasche und steckte die Papierrolle durch den Hals hinein. Er hielt die Flasche noch einmal gegen das Licht, stand auf, verkorkte das Tintenfläschchen, steckte es in die Rocktasche, nahm zu der Weinflasche noch den Leuchter in die Hand, und so ging er auf dem Teppich lautlosen Schrittes der Tür zu, öffnete sie - und finster war es!
Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, was Nobody zu alledem dachte. Vielleicht auch dachte er gar nichts dabei. Denn eine Erklärung fand er doch nicht, er hätte sich nur in Vermutungen ergehen können, und damit ließ sich ein Nobody nicht ein.
Er legte sich wieder hin, ließ einmal seine Benzinlaterne wie ein Glühwürmchen aufleuchten, um nach der Uhr zu sehen, es war erst kurz nach zwei, also hatte er vorhin erst eine halbe Stunde geschlafen, und er setzte den unterbrochenen Schlaf fort, ohne noch einmal gestört zu werden.


Der Morgen brach an. Die Leiche des jungen Mädchens zeigte keine Veränderung.
Nobody machte durch möglichstes Geräusch bemerkbar, daß er auf sei: denn er selbst sah und hörte Bruno auf dem Hofe schon Teppiche und Möbel ausklopfen, und alsbald meldete sich Mr. Scott.
Nach den üblichen Fragen, ob gut geschlafen, sagte er, das Frühstück würde sogleich von einem Kellner aus dem Hotel serviert werden, hier nebenan, in demselben Zimmer, welches sie diese Nacht zuerst betreten hatten, und welches unterdessen von dem fleißigen Bruno schon von allem Staube befreit worden war. Nobody wunderte sich nur, daß der Mann mit den träumenden Augen dieses einsame Haus, das ihm doch jedenfalls als Begräbnis seines Glückes heilig war, durch den Eintritt eines Kellners entweihen ließ, oder er freute sich vielmehr darüber, denn das zeigte, daß der ihm so überaus sympathische Mann frei von allen Schrullen war.
»Ich habe das Motorboot in den Wasserkanal bringen lassen,« sagte Scott, »welcher zur Aufbewahrung von Booten in dieses Haus eingebaut ist, durch ein Gittertor verschließbar.«
Nobody fand dies vortrefflich, und während des Frühstücks setzte er seinem Wirte auseinander, was er in dieser Angelegenheit nun zunächst zu tun beabsichtige - er hielt diese Einweihung für seine Pflicht - Scott zollte ihm Beifall, und gleich nach dem Frühstück ging Nobody ans Werk, während jener und sein Diener im Hause blieben.
Es war erst sechs Uhr, als Nobody in die quer durch Long Island fahrende Eisenbahn stieg und dann einen nach der Stadt New-York übersetzenden Dampfer benutzte.
Sein erstes Ziel war das Riesengebäude, in welchem der ›New-York Herald‹ herausgegeben wird. Noch keine der vielen Redaktionsstuben war für das Publikum geöffnet; aber Beamte sind doch immer da, dankbar für jede Neuigkeit, und Nobody brauchte sich nur als jener Edward Scott vorzustellen, der mit dem anderen Edward Scott die ›Persepolis‹ verlassen hatte, um das führerlose Motorboot zu verfolgen, so geriet der Zeitungsmensch gleich ganz aus dem Häuschen.
Jawohl, ei gewiß!! Das hatte schon gestern in allen Zeitungen gestanden! Und der Herr war einer von den beiden? Sie hatten also das Motorboot wirklich bekommen?
»Was ist denn in dem schwarzen Sarge drin gewesen?«
»Gar nichts, er war ganz leer.«
»Schade, sehr schade!«
Nobody ging noch zu einigen anderen Redaktionen von großen Zeitungen, stellte sich vor als derjenige, welcher, berichtete und gab seine Adresse an.
So, nun konnte die Sache ihren Weg gehen und Nobody wieder nach Hause.
Das, was er berichtet, stand als Ergänzung des gestrigen Artikels schon heute in sämtlichen New-Yorker Zeitungen, morgen in allen amerikanischen, in einigen Tagen in denen der ganzen zivilisierten Welt. Denn das Wort ›Sarg‹, besonders ›schwarzer Sarg‹, hat für das Lesepublikum einen ganz eigentümlichen Klang, so etwas wird sogar übers Meer telegraphiert.
Nun hieß es geduldig abwarten, bis sich der Betreffende, der sich für den Sarg oder doch für das führerlose Motorboot speziell interessierte, melden würde, wohl nicht persönlich, sondern durch ein Briefchen, das etwa zu einem geheimnisvollen Rendezvous bestellte, um diese Angelegenheit zu erledigen.
Der Erfolg war ja sehr zweifelhaft, das mit der präparierten Leiche war doch eine sehr heikle Sache, umsonst waren in dem Motorboote doch auch nicht alle Buchstaben ausgekratzt worden, dann war auch zu bedenken, daß der Mann, welcher allein darum wußte, daß die schwarze Kiste nicht leer, sondern mit einer Leiche belastet gewesen, ertrunken war - aber immerhin war es das Schlaueste gewesen, was Nobody hätte tun können. Seine Adresse, die jenes Hauses, hatte er auf allen Redaktionen hinterlassen, die meisten Zeitungen würden sie wohl auch gleich veröffentlichen.
Nobodys nächster Weg führte nach dem Hafen, nach der ›Persepolis‹, auf welcher er eine Erkundigung einziehen wollte - nicht gerade, daß sie mit dieser Angelegenheit zusammengehangen hätte, sondern es war dabei mehr ein besonderes Interesse des Mannes, der das Menschenstudium zu seinem Privatvergnügen, zu einem Sport gemacht hatte.
Er hatte nicht nötig, den Dampfer zu betreten: er begegnete dem ersten Zahlmeister, den er hatte aufsuchen wollen, am Kai.
»Mister Purser, ich schätze mich glücklich, Ihre mir so werte Bekanntschaft auf dem Lande erneuern zu dürfen. Ihr Rezept, wie man den Sillery mit sechserlei Schnäpsen im Geschmack verbessert, ist mir auf der Zunge unvergeßlich, leider nicht im Kopfe - ich meine, ich habe die Namen der sechs Schnäpse vergessen, seit gestern abend saufe ich nun schon hier in New-York herum und probiere alle Schnapsflaschen ...«
»Hallo, der Motorbootsucher!« unterbrach der Zahlmeister den Redefluß. Aber für den rotnasigen Zahlmeister war das Saufen doch die Hauptsache - jawohl, so eine Champagnerbowle konnte er auch an Land brauen, gleich aus freier Hand, die Ingredienzen waren überall zu haben, und hinein ging es in die nächste Weinstube.
Dem Bericht, wie sein Kumpan das Motorboot gefunden und nach der Küste geschleppt hatte, widmete er sehr wenig Aufmerksamkeit, danach hatte er sich nur aus Höflichkeit erkundigt, jener lebte ja noch und bezahlte, das war die Hauptsache, und so mußte Nobody die Blicke des Mannes auch mit Gewalt auf die Zeichnung lenken, das von dem runden Bollauge eingerahmte, verzerrte Gesicht darstellend.
»Kennen Sie diesen Passagier?«
»Bei der letzten Reise an Bord gewesen?«
Diese Frage war ganz überflüssig. Der Zahlmeister kannte überhaupt nur immer die Passagiere der jeweiligen Reise, dann existierten sie nicht mehr für ihn, das heißt, dann verließ ihn sein erstaunliches Gedächtnis, dann aber auch vollkommen, um eben für neue Gesichter und Namen Platz zu haben.
»Gewiß.«
»Den? Nee! Nee!!! Solch eine Galgenvisage hatte ich zum Glück nicht an Bord, den ließe ich überhaupt gar nicht an Bord, der könnte eine Höllenuhr bei sich haben.«
Wie, sollte des Zahlmeisters wundersame Gabe, von deren Unfehlbarkeit sich Nobody schon wiederholt überzeugt hatte, einmal versagen? Doch bald erkannte er den Grund dieses Mißlingens, er zeichnete mit flüchtigen Bleistiftstrichen einen anderen Kopf, indem er sich vorstellte, wie dieses Gesicht wohl aussähe, wenn es nicht so von Haß und Hohn verzerrt sei, wozu nun freilich Nobodys Genie gehörte, um so etwas fertig zu bringen; es wurde ein vollständig anderes Gesicht daraus, das mit jenem nur noch den gleichen Bart hatte - aber wahrhaftig, das künstlerische Experiment gelang!
»Ja, den kenne ich, der war an Bord. Das ist aber auch ein ganz anderer, als der dort mit seinem verdammten Spitzbubengesicht.«
»Nun wer ist es?«
»Monsieur Viktor Sinclaire, Kaufmann aus Paris, zweite Salonkabine im ersten Promenadendeck, mittschiffs Backbord,« deklamierte der Zahlmeister geläufig herunter.
»Ich habe ihn nie bei Tisch und an Deck gesehen.«
»Glaube ich. Speiste in seiner Kabine, kam nie zum Vorschein. Hier fehlen aber noch ein paar Tropfen Ingwer.«
Nobody machte bald, daß er fortkam, die Bowle dem Zahlmeister und einigen anderen Maaten von der ›Persepolis‹ überlassend, die den geistigen Genuß gerochen hatten.
Von hier aus begab sich Nobody direkt nach seiner einstweiligen Wohnung auf der Ostspitze von Long Island zurück, doch zuvor betrat er einmal das nahe Hotel, nicht nur, um nach der ziemlich langen Fahrt eine Erfrischung zu sich zu nehmen, sondern noch in einer besonderen Absicht, und richtig, in dem Lunchroom waren schon viele Badegäste versammelt, Herren und Damen, und das erwünschte Gespräch war bereits im besten Gange. Nobody bekam zu hören, was er hatte hören wollen.
Unter den Badegästen war bekannt geworden, daß das einsame, stattliche Haus, das so mancher gern sein eigen genannt hätte, und das schon seit so lange leer stehen sollte, diese Nacht wieder von seinem Besitzer bezogen worden war. Der Diener hatte aus dem Hotel schon verschiedenes geholt, ein Kellner heute das Frühstück hingebracht.
Nun hatte bereits der Hotelier etwas von einem seltsamen Menschen gesprochen, welcher der Besitzer, ein noch ganz junger, reicher Mann; etwas von einer unglücklichen Liebe, obgleich der Hotelier selbst Mr. Edward Scott gar nicht weiter kannte; aber die Neugier der sich langweilenden Badegäste war nun einmal erwacht. Das gab eine Abwechslung in dem ewigen Einerlei, und da fand sich auch jemand, der alles ganz, ganz genau kannte.
Ein fetter Herr, der das ihm von seinem früheren Berufe her anhaftende Odeur de Tran nicht mehr loswerden konnte, gab soeben den ihn umringenden Damen eine Erklärung ab, heute schon zum so und so vielten Male.
»Sein Vater war der Gründer und dann Direktor der Canadian-Fishing-Company,« erzählte die tranige Stimme des Tranhändlers, »ein schwerreicher Mann, Edward, das einzige Kind, war mit im Geschäft. In demselben Hause wohnte noch eine verheiratete Stieftochter mit Familie, kleine Kinder. Es wurde eine neue Erzieherin angenommen, wie sie hieß, weiß ich nicht mehr, sie hatte so einen verdammten deutschen Namen, nur gesehen habe ich sie, ein kleines, zartes, nixiges Ding - aber wie es nun so geht, der lange Bengel von Edward verliebte sich gleich in das nixige Ding bis über die Ohren. That is the fact.«
»Ach, wie interessant!« schmachtete eine Jungfrau zwischen zwanzig und vierzig, und alle anderen Damen schmachteten mit ihr.
»Na, bei Oldman Scott gab's ja da nu nischt,« fuhr der mit Gold behangene Tranonkel fort, »die verdammte Deutsche mußte rrraus aus dem Hause. Aber jung Edward hatte auch seinen eigenen Willen. Das war damals ein toller Bruder. Na, er brauchte gar nicht lange zu warten, da biß sein Alter ins Gras. Nun gleich Hochzeit. Oder doch die Arrangements dazu getroffen. Edward kaufte dort jenes Haus, das erst neu erbaut war, richtete es glänzend ein. Der Tag der Hochzeit kam, alles war fix und fertig - aber wer nicht kam, das war die Braut. Gestorben, ein Herzschlag, meinen Sie? Krank? Nee, durchgebrannt war sie in der letzten Minute, mit dem Hauslehrer jener Familie, den sie von früherher kannte, und mit dem sie schon immer ein Verhältnis gehabt haben mag.
»Das ist's gewesen, und da hat Edward einen Knacks wegbekommen. Da ist aus dem einst so wilden Jungen ein stiller Träumer geworden. Gekümmert hat er sich um das Mädel nie wieder, aber vergessen hat er es auch nicht können. In dem zur Hochzeit hergerichteten Hause mußte alles so bleiben wie es war, dann hat er es verschlossen und ist auf Reisen gegangen. Diese Nacht hat er das verlassene Haus zum ersten Male wieder betreten. Die angerichtete Hochzeitstafel muß noch drin stehen. Das ist nun vier Jahre her, vier und ein halbes Jahr. That is the fact.«
»Gott, wie interessant!« flötete die Jungfrau zwischen zwanzig und vierzig, und alle anderen Damen flöteten es mit ihr.
Nobody aber fand dies gar nicht so besonders interessant - so etwas kam ja in der Welt jeden Tag vor! - und als es auch nicht interessanter wurde, verschwand er.
Das hätte ihm der junge Mann auch gleich erzählen können, da hätte er nicht erst von ›Geheimnissen‹ anzufangen brauchen. Doch nein! Man soll das Begrabene ruhen lassen. Gerade Nobody war der Charakter, der so etwas zu würdigen wußte. Auch noch der Treulosen ein treues Andenken zu bewahren, weil man sie geliebt und ihr dann verziehen hat - gibt es denn etwas Edleres? Oder ist es etwa edler, sich nach solch einem Vorkommnis in die Strudel des Lebens zu stürzen, um Vergessenheit zu suchen und wirklich zu finden? Und war der junge Mann dadurch etwa ein seufzender Schwächling geworden? Durchaus nicht! Kraftvoll hatte er den Schmerz überwunden, das sagten seine Züge und alles, er hatte mit sich gerungen und sich besiegt - nur in seinen Augen war die Wehmut zurückgeblieben, und dafür konnte er nichts, über den Ausdruck des Auges hat der Mensch nicht zu befehlen. Aber sonst belästigte er mit seinem Schmerz keinen anderen durch Klagen und Jammern.
Nobodys Sympathie für den jungen Mann wuchs nur durch das Gehörte.


Die Tage vergingen in dem einsamen Hause. Auf jene Zeitungsartikel hin stellten sich Neugierige genug ein, fast ausschließlich Reporter, welche Näheres hören, das Motorboot und den schwarzen Sarg beschnüffeln wollten. Sie wurden sämtlich vor der Haustür abgewiesen.
Ein geheimnisvoller Besuch mußte kommen, oder aber ein Brief - und beides kam nicht.
Nobody war vollauf beschäftigt. Er entwickelte die von der Leiche genommenen Photographien, stellte Kopien her, übertrug sie sogar auf Kupferplatten und fertigte sogenannte Klischees, wie sie zum Drucken der Bilder benutzt werden. Durch Galvanoplastik läßt sich ein einziges Klischee ins Endlose vermehren.
Die Leiche blieb absolut unverändert. Einmal hatte sie Nobody schon auf dem Tische liegen und das Seziermesser in der Hand, und er war befähigt dazu, er hatte nicht umsonst einen Kursus in der Anatomie durchgemacht, und wozu sonst ein normaler Mensch als Student sechs Semester bedarf, dazu hatte dieser gereifte Mann mit seinem fabelhaften Gedächtnis und seiner wunderbar leichten Hand nur drei Monate gebraucht.
Bruno säuberte unterdessen eine Stube nach der anderen, auch Mr. Scott verließ das Haus nicht. Was er trieb, wußte Nobody nicht, welcher sich mit seinen zwei Zimmern begnügte, noch in kein anderes gekommen war, außer in den gemeinsamen Speisesaal. Das Essen wurde nach wie vor von einem Hotelkellner gebracht.
Beim Mittagessen am sechsten Tage nach jener Nacht wurde die ganze Angelegenheit zum ersten Male wieder zwischen den beiden berührt. Nobody begann:
»Bis morgen früh warte ich noch. Hat sich bis morgen früh zur ersten Post niemand persönlich oder schriftlich gemeldet, der zu der Leiche oder dem Motorboot in Beziehung steht, so lasse ich die Sache in ein anderes Stadium treten.«
»Was werden Sie tun?«
»Ich lasse in sämtlichen illustrierten Zeitungen der Welt, allerdings nach und nach, das Bild des jungen Mädchens erscheinen, mit einem Aufruf. Irgend jemand muß sie doch gekannt haben. Dann habe ich wenigstens den Anfang einer ersten Spur, die ich weiter verfolgen kann.«
Nobody setzte seinen Plan weiter auseinander, wie er den Aufruf fassen wollte, äußerst geschickt, eines Nobody würdig, wie wir später sehen werden. Selbst der eventuelle Entführer des im Bilde wiedergegebenen Mädchens hätte keine Ahnung gehabt, daß man auf ihn als auf einen Verbrecher fahndete.
Sinnend spielte der junge Kanadier während des Zuhörens mit seinem Messer. Dann hob er wie mit einem plötzlichen Entschlusse den Kopf.
»Sie hatten doch jenes Gesicht gezeichnet, welches uns vom Dampfer aus durch das Bollauge nachblickte.«
Endlich! Endlich begann er von selbst davon! Nobody hatte schon immer nach einer Gelegenheit gesucht, davon wieder anfangen zu können.
»Hier ist es. Und hier habe ich es noch einmal gezeichnet, unter der Vorstellung, wie es aussehen würde, wenn die Züge nicht so von Haß und Hohn - man findet gar keinen anderen Ausdruck - verzerrt wären. Kennen Sie den Mann?«
Ruhig blickte Scott auf die eine wie auf die andere Skizze, aber vergebens beobachtete Nobody ihn auf das schärfste - nur Staunen war es, das sich nach jener letzten Frage auf den edlen Zügen ausprägte.
»Ob ich den Mann kenne?! Wie kommen Sie denn auf solch eine Frage?!«
»Verzeihung - als ich Ihnen zum ersten Male dieses Gesicht zeigte, damals im Boot, kam es mir so vor, als ob Sie den Mann kennten,« sagte Nobody offen.
Ruhig schüttelte Scott den Kopf.
»Ich sagte Ihnen doch schon damals, daß ich ihn nicht kenne - auf mein Wort, er ist mir gänzlich unbekannt. Aber ich entsinne mich, daß ich damals fast erschrak, als mein Auge zum ersten Male auf diese Zeichnung fiel, und ich wandte mich wohl auch hastig um, um diesen Menschen selbst zu sehen, dessen Gesicht solch einen Haß und Hohn ausdrücken kann - jawohl, Haß und Hohn, anders kann man hier gar nicht sagen.«
Nobody glaubte ihm, jener hätte es gar nicht auf sein Wort zu versichern brauchen. Diese edlen Züge logen nicht, oder man durfte überhaupt keinem Menschen mehr auf der Erde glauben.
So hatte sich Nobody also geirrt. Er hatte nämlich geglaubt, besonders nachträglich, als er von dem Zahlmeister erfuhr, auch dieser Passagier habe seine Kabine nicht verlassen, daß es dieser Mann gewesen sei, welcher Edward Scott das Glück geraubt habe. Die beiden Nebenbuhler hatten sich an Bord des Dampfers zufällig getroffen, beide hatten sich sofort in ihre Kabinen zurückgezogen, um einander nicht mehr zu begegnen. Deshalb auch hatte sich Scott so gern der abenteuerlichen Segelpartie hinter dem Motorboote her angeschlossen - nur fort von diesem Dampfer! Und da hatte ihm sein Nebenbuhler mit diesem Gesicht voll Haß und Hohn nachgeblickt.
Man muß zugestehen, daß diese Kalkulation viel für sich hatte. Aber sie war falsch gewesen.
»Nein,« nahm Scott wieder das Wort, »mir fiel diese Nacht etwas ein, leider etwas spät. Könnte dieser Mann mit dem Geheimnis der Leiche nicht in einer Beziehung stehen? Hier liegt doch irgend etwas Teuflisches vor, und teuflisch ist dieses Gesicht. Mit Haß blickt es uns nach, weil wir uns zur Verfolgung des Motorbootes aufmachen, das sein teuflisches Geheimnis birgt, und mit Hohn, weil er weiß oder glaubt, daß wir dieses sein Geheimnis niemals lösen können.«
O, da war unser Nobody nun freilich ein sehr ungläubiger Thomas! Wie? An Bord des Dampfers sollte sich zufällig gerade der Urheber oder doch ein Mitwisser des Geheimnisses befunden haben, und an diesem Dampfer mußte das führerlose Motorboot mit seinem Geheimnis zufällig gerade vorbeifahren? Nein, an solche wunderbare Zufälle glaubte Nobody eben nicht.
Doch gut, er konnte ja seine Hilfsdetektivs, die er in aller Welt unterhielt, und die jetzt sowieso nichts zu tun hatten, mit Zuhilfenahme der beiden Porträts auf die Spur dieses Monsieur Viktor Sinclaire setzen, er konnte das jetzt um so mehr tun, da er nun wußte, daß er dadurch kein persönliches Geheimnis seines liebenswürdigen Gastfreundes berührte. Freilich war es schon etwas spät dazu, die Fährte war schon verwischt, und wurde der Betreffende dennoch aufgestöbert, so hatte es doch keinen Zweck, davon war Nobody von vornherein überzeugt. Er glaubte nun einmal nicht an solche Zufälle.


Am Morgen des nächsten Tages, an welchem Nobody also sein tatenloses Warten aufgeben wollte, betrat er wie gewöhnlich pünktlich sieben Uhr das Frühstückszimmer. Der Kellner hatte den Kaffee bereits gebracht, Bruno hatte den Tisch geordnet, war aber nicht im Zimmer, ausnahmsweise auch noch nicht Mr. Scott.
Nobody setzte sich und wartete.
Nicht lange, so kam die Treppe ein Schritt herauf, Mr. Scott, das hörte Nobody trotz des Teppichs sofort heraus, aber der Schritt war viel eiliger als sonst.
Hastig trat er herein, eine Flasche in der Hand.
»Sehen Sie da,« rief er noch im Türrahmen, »was Bruno gefunden hat! Eine Flasche! Mit einem zusammengerollten Zettel darin! Eine angeschwemmte Flaschenpost!«
So rief er, die Weinflasche in der ausgestreckten Hand haltend, und unserem Nobody blieb plötzlich der Verstand stehen, wenn man sich so ausdrücken darf.
Er sah es der Rotweinflasche ja nicht gerade an, daß es dieselbe war, aber ... wozu in aller Welt hatte denn neulich nachts der junge Mann solch eine Flaschenpost präpariert?!
Doch er beherrschte sich vollkommen.
»Haben Sie sie schon geöffnet?«
»Nein, noch nicht. Der Gummipfropfen ist tief eingetrieben, er kann nur mit Gewalt herausgezogen werden, und ich dachte - Sie sind Detektiv - Ihr scharfer Blick sieht manches, was einem anderen Auge verborgen bleibt.«
Nobody nahm die dunkle Flasche, hielt sie gegen das Licht, er erkannte ein zusammengerolltes Papier ... i natürlich, das war dasselbe, was Scott in jener ersten Nacht hineingesteckt hatte! Nobody hätte es ja nicht gerade beweisen können, aber er ließ sich doch gleich ... fressen!
»Wo haben Sie die Flasche gefunden?«
»Bruno fand sie, nicht weit von diesem Hause, über Nacht muß die Flut sie auf den Strand gespült haben. Gestern hat sie bestimmt noch nicht dort gelegen.«
»So! Na, da wollen wir mal sehen, was drin ist.«
Er öffnete den Korkzieher seines Taschenmessers, bohrte den Gummipropfen an und zog ihn heraus. Um das zusammengerollte Papier, das aber nicht mehr durch den Hals ging, herauszubefördern, war es nicht nötig, die Flasche zu zerbrechen, Scott brauchte auch nicht erst, wie er wollte, die Papierschere zu holen, denn schon kam an Nobodys Messer, dem wir bereits einmal eine längere Beschreibung gewidmet haben, und das noch jetzt in Scottland Yard, dem Verbrecher-Museum und der Schule der Detektivs zu London, zu sehen ist, ein langes Instrument zum Vorschein, welches das Papier erfaßte und herauszog.
Nobody rollte es auf, ein gelber, abgerissener Fetzen, und oben links fehlte die große Ecke - natürlich, es war dasselbe Papier!! So viel hatte Nobody damals ganz deutlich erkennen können und im Gedächtnis behalten.
Der Fetzen war mit englischer Schrift bedeckt, mühsam mit zittriger Hand mehr gemalt denn geschrieben, mit Tinte, und Nobody ließ erst einen Laut der Ueberraschung hören, ehe er laut vorlas:
»Dies ist meine letzte Botschaft, die ich schreiben und dem Meere anvertrauen kann. Hier werden meine Gebeine liegen und in einer Blechkapsel mein Tagebuch. 83 Grad 7 Minuten 11 Sekunden nördliche Breite, 24 Grad 37 Minuten 18 Sekunden westliche Länge von Greenwich. William Temple, Kapitän der ›Recovery‹.«
»William Temple, Kapitän der ›Recovery‹!« wiederholte Scott in flüsterndem Tone.
Voriges Jahr im Mai war der bewährte Nordpolfahrer von New-York aufgebrochen, um mit seiner Brigg soweit wie möglich an der Ostküste Grönlands nach Norden vorzudringen. Andere Nordpolfahrer haben und hatten schon einen viel nördlicheren Breitengrad erreicht. Aber nicht an Grönlands Ostküste! Dort starrt alles von Treibeis, dort ist auch im Sommer kein Durchkommen!
Noch hatte man nichts wieder von dieser Expedition gehört, es konnte auch noch gar nicht sein, auf drei Jahre war die Brigg verproviantiert, noch dachte niemand an eine Hilfsexpedition.
Schweigend legte Nobody das Papier auf den Tisch, zog aus der Brusttasche eine auf Leinwand gezogene Karte, breitete sie auf dem Tische aus. Es war eine Erdkarte in Mercators Projektion.
»Hier ist der angegebene Punkt,« sagte er, die Fingerspitze darauflegend. »Noch vollständig unbekanntes Gebiet. Da man aber mit Sicherheit annehmen kann, daß die gerade Ostküste Grönlands auch so weiter verläuft, so müßte es eine Insel sein.«
Scott ward von einer plötzlichen Aufregung ergriffen, mit hastigen Schritten wanderte er hin und her.
»Mister Nobody,« stieß er hervor, »William Temples Tagebuch - noch niemand ist an dieser Küste so weit nach Norden vorgedrungen - was mag das Tagebuch enthalten? - Und wir allein wissen etwas von dieser Flaschenpost - dieser Triumph ...« mit einem Ruck blieb er vor Nobody stehen. »Mein Entschluß ist gefaßt! Ich rüste eine Nordpolexpedition aus! Ich suche Temples letzte Ueberreste und sein Tagebuch auf! Sie begleiten mich!«
Wir wollen nicht die Gedanken zu schildern versuchen, die durch Nobodys Kopf gingen, als er mit scheinbarem Gleichmut wieder nach dem gelben Papierfetzen griff.
»Hm. Mit so etwas muß man vorsichtig sein. Mit solchen Flaschenposten werden manchmal dumme Witze gemacht. Und das sieht mir fast geradeso aus, als wäre das erst vor sechs Tagen geschrieben worden.«
Das war nicht der Fall, das konnte man nicht erkennen. Die Täuschung war äußerst geschickt gemacht, das Papier war vergilbt und schien von Feuchtigkeit gelitten zu haben, die Tinte war jedenfalls eigens zu diesem Zwecke präpariert worden, etwas verloschen, und ebenso sah der Gummistöpsel oben aus, als wäre er vom Seewasser zerfressen worden, was sich allerdings alles künstlich machen läßt.
Nobody hatte mit Absicht gerade ›sechs Tage‹ gesagt, dabei hatte er unter sich auf das Papier gesehen, doch er verstand es, unter den gesenkten Lidern hervor den ihn Anblickenden zu beobachten, ohne daß dieser etwas davon merkte.
Und siehe da, der junge Mann hatte sich zu wenig in der Gewalt, er wechselte die Farbe, seine Augen erweiterten sich.
»Vor - sechs - Tagen?!« wiederholte er stoßweise, und dann lachte er auf.
»Na, wenn diese Flasche nicht schon einige Monate im Wasser gelegen hat, dann weiß ich ...«
Er brach ab. Nobody hatte die fragliche Flasche ergriffen, ohne einen Zweck, nur um sie mit einem harten Stoß wieder auf den Tisch zu setzen, und so etwas deutet doch an, daß man einen Entschluß gefaßt hat.
»Gut, ich bin bereit, Ihnen nach dem Nordpol zu folgen, denn Sie müssen doch irgendeinen Grund haben, mich nach dort zu ... locken!«
Es hatte gewirkt. Mit stieren Augen beugte der Kanadier den Oberkörper vor.
»Ich - ich - Sie - locken?«
»Mister Scott, ich halte Sie immer noch für einen Ehrenmann, und an dieser meiner Meinung kann ich auch nicht irre werden. Sie können ja überhaupt gar nicht lügen. Also seien Sie doch so offen, wie ich es jetzt sein werde: Heute vor sechs Tagen, in der ersten Nacht, da wir dieses Haus betraten, sah ich einen Lichtstrahl in mein finsteres Zimmer fallen, er kam durch ein Astloch in der Tapetenwand; ich stellte mich im Bett aufrecht, konnte durch das Astloch blicken, und da sah ich Sie, wie Sie hier diesen Zettel schrieben und ihn in diese Flasche steckten.«
Die Wirkung dieser Erklärung war geradezu furchtbar. Zoll für Zoll sank der hohe, starke Mann in sich zusammen, tief sank das Haupt auf die Brust, und als er es wieder hob, war er gar nicht mehr zu erkennen.
»Dann - freilich - wenn Sie - es selbst - gesehen haben,« brachte er mühsam mit röchelnder Stimme hervor, »dann - dann - muß ich Ihnen - mein unglückliches - Geheimnis preisgeben ... oder,« wie hoffnungsfreudig richtete er sich wieder etwas empor, »oder - ich muß ...«
Ohne den Satz zu vollenden, wandte er sich schwerfällig um und wankte der Tür zu, erst als er diese öffnete, nahm er wieder etwas mehr Haltung an und einen festeren Schritt.
Also jetzt würde Nobody alles erfahren. Was eigentlich, davon hatte er noch gar keine Ahnung. Er mußte eben warten. Der ging doch jetzt, um etwas zu holen.
Und Nobody wartete. Er wartete fünf Minuten. Jener kam nicht zurück. Er wartete abermals fünf Minuten. Er wartete ...
Da fiel unten die Haustür schwer ins Schloß! Es war die vordere, die ging immer so schwer.
Und da bekam der so geduldig wartende Nobody eine böse Ahnung! Himmel, der Entlarvte würde doch nicht etwa ...
Nobody sprang ans Fenster, riß es auf, lehnte sich weit hinaus. An und vor der Haustür war nichts zu sehen, auf der Straße wohl einige Menschen, doch nicht die hohe Gestalt des Kanadiers. Freilich brauchte er auch nur wenige Schritte zu machen, so wäre er um die nächste Ecke verschwunden gewesen.
Ach, es war ja auch gar nicht möglich, weshalb sollte er denn die Flucht ...
Ja, schien er aber nicht in seinem Entschluß, sein Geheimnis preiszugeben, wankend geworden zu sein? »Oder - oder - ich muß ...« Oder was? Oder die Flucht ergreifen?
»Mr. Scott!!!«
Nobodys machtvolle Stimme hallte durch das einsame Haus. Keine Antwort.
»Bruno!!! Bruno, wo sind Sie?!«
Auch der Diener ließ nichts von sich hören.
Nun war es aber auch mit Nobodys Warten vorbei, diesmal verließ er sich auf seine Ahnung, und so hielt er sich nicht erst damit auf, alle die vielen Zimmer des großen Hauses zu durchsuchen, sondern er setzte den Hut auf und rannte hinaus, zuerst nach der Dampffähre.
Soeben war der Dampfer nach New-York abgefahren. Ob solch ein Mann oder zwei Männer wie Nobody sie beschrieb, an Bord gegangen waren, konnte der Beamte am Billettschalter nicht sagen, und er war der einzige Mensch in der weiteren Umgebung.
Nun nach der Eisenbahnstation, von wo soeben wieder der Zug abgegangen war, und hier dieselbe Frage und Beschreibung wiederholt.
»No, Sir.«
Nun nach der Telegraphenstation und ... doch wir wollen es kurz machen.
Nach zwei Stunden hatte Nobody alles getan, was er nur tun konnte, um die Verschwundenen aus Long Island oder beim Betreten des amerikanischen Festlandes festzuhalten, natürlich nicht als Verbrecher, sondern in aller Güte, und wir wissen aus den früheren Erzählungen, über was für einen gewaltigen Apparat von Hilfskräften Nobody verfügte.
Jetzt mußte er vorläufig geduldig warten. So begab er sich wieder nach dem einsamen Hause zurück, schloß die Vordertür auf, schloß sie wieder hinter sich zu, ging die Treppe hinauf.
Wie er einen Seitengang kreuzte, stockte plötzlich sein Schritt, starr haftete sein Auge am Boden.
Bruno war in den sechs Tagen sehr fleißig gewesen, von früh bis abend hatte er gewischt und gefegt und gescheuert und geklopft, aber das ganze Haus allein in dieser Zeit vom vierjährigen Staub zu säubern, daran war natürlich gar nicht zu denken gewesen. Drei Zimmer hatte er in Ordnung gebracht, mehr nicht. Auch die vielen Seitengänge des winklig gebauten Hauses hatte er noch liegen lassen, nur die Hauptkorridore, die man immer benutzte, vom Staube befreit.
Auch in diesem Seitengange nun, vor dem Nobody jetzt mit starrem Auge stand, lag der Staub noch zollhoch, und ... in dem Staube war der Abdruck eines großen Männerstiefels eines außerordentlich großen!
Er gehörte weder Mr. Scott noch dem Diener an, beide hatten viel kleinere Füße; auf so etwas zu achten, gehörte doch zum Berufe eines Detektivs. Auch nicht dem Kellner. Und überhaupt, Nobody wußte ganz, ganz bestimmt, daß heute früh, als er hier vorübergegangen war, um einen Brief in den Kasten zu stecken, diese Fußspur des großen Stiefels noch nicht gewesen war!
»Während meiner Abwesenheit ist ein fremder Fuß im Hause gewesen!!«
Wie ein Panther duckte sich Nobody zusammen, und so schlich er, den Revolver in der Hand, der Stiefelspur im Staube nach.
Sie bog um eine Ecke, dann hörte sie in einem gesäuberten Korridor auf.
Zugleich sah sich Nobody der Türe seines Schlafzimmers gegenüber, und ... diese war nur angelehnt!
Immer noch wie zum Sprunge geduckt, öffnete Nobody sie vollends, bereit, jeden Kampf aufzunehmen.
Es war nicht nötig.
Kein lebender Mensch war im Zimmer - und auch kein toter.
Dort stand noch das Sofa - aber die Leiche des jungen Mädchens war verschwunden.
Dafür lag auf dem Sofa ein Zettel. Endlich hatte Nobody ihn in der Hand. Nur wenige Zeilen, mit der Schreibmaschine geschrieben.
»Das Mädchen, welches gar nicht tot ist, erlaube ich mir als mein rechtmäßiges Eigentum wieder abzuholen. Statt dessen hinterlasse ich Ihnen eine Nuß, an der Sie, geehrter Mr. Nobody, Champion-Detektiv der Königin und der Welt, Ihre Weisheitszähne probieren können.«

2. Die Mysterien des Nordpols.

Ganz New-York sprach vom neuesten Tagesereignis - von der ›gepfändeten Nordpolexpedition‹.
Die Nordpolexpeditionen schienen Mode werden zu wollen. So etwa, wie ein neuer Sport eingeführt wird, wie zum Beispiel das Schneeschuhlaufen und das Schlittenrennen, wovon vor zwanzig Jahren in Deutschland noch niemand etwas gewußt hat, nur daß zum Nordpolsport noch andere Geldmittel gehören.
Wer nun damals zuerst die Behauptung aufgestellt hat, die Nordpolexpeditionen würden noch eine noble Passion werden, der hat auch ganz recht behalten. Heutzutage findet man unter den Nordpolfahrern Leute, denen dieser Beruf eigentlich ganz fern liegen sollte, so fern, wie einem Eskimo die Ananaskultur, ist doch zum Beispiel auch ein italienischer Fürst unter die Nordpolentdecker gegangen - nicht der Fürst von Monaco ist hier gemeint, der es allerdings auch einmal auf den Nordpol abgesehen hatte, aber es war so eklig kalt dort oben, und da ist er bald wieder umgekehrt - sondern der Herzog der Abruzzen.
In Amerika, im Lande der unbegrenzten Möglichkeiten, war die Veranlassung zu dieser jetzt vielbesprochenen Nordpolexpedition folgende gewesen:
Mr. Odysseus Ganymed Olyfax, Mitglied des Athletic-Clubs, in den keiner aufgenommen wird, der nicht mindestens drei Millionen besitzt, ein Sportsman vom Scheitel bis zur Sohle, welcher allein für diesen Scheitel jährlich rund für tausend Dollar Pomade verausgabte - von den Sohlen ganz zu schweigen - dieser hatte dem exzentrischen Töchterchen eines Multimillionärs den Hof gemacht. Er warb um ihre Hand.
»Jawohl, gewiß, warum nicht,« sagte das exzentrische Töchterchen, »aber ich verlange von meinem zukünftigen Gatten, daß er den Nordpol entdeckt hat.«
»Nu allemal, wenn's weiter nischt ist,« entgegnete Mr. Odysseus Ganymed Olyfax, machte eine Verbeugung und verließ das Zimmer, um den Nordpol zu entdecken.
Es ging fix, wie alles in Amerika. Ein Schiff gekauft, die ganze Ausrüstung gekauft, Schlitten gekauft, Eskimohunde gekauft, Matrosen gekauft, einen schon als Nordpolfahrer erprobten Kapitän gekauft - so, nun brauchte bloß noch der Nordpol zu kommen.
Aber der Nordpol kam nicht. Statt seiner kam der Gerichtsvollzieher und klatschte überall seine Siegel drauf. Böse Zungen behaupteten, daß sogar die Eskimohunde hintendrauf ein Siegel bekommen hätten.
Mr. Odysseus Ganymed Olyfax war nämlich in der Nacht vor dem Tage, an welchem die Anker gelichtet werden sollten, ein ruinierter Mann geworden, was in Amerika manchmal auch recht fix geht, und seine Gläubiger hatten sich vorgesehen.
Daß eine ganze Nordpolexpedition gepfändet wird, ist heute nicht einmal mehr originell. Dem Herzog der Abruzzen ist in einem norwegischen Hafen genau dasselbe passiert. Weil er die Forderung einer englischen Versicherungsgesellschaft zu hoch fand und nicht bezahlen wollte, wurde gerichtlich seine ganze Expedition bis zum letzten Eskimohundeschwanz mit Beschlag belegt, bis er bezahlt hatte.
Damals aber war die Pfändung einer ganzen Nordpolexpedition noch etwas Neues. Die Sache wurde viel belacht, denn wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen, und diesmal hatte der Verspottete auch noch extra den Schaden dazu; denn mit der Braut war es nun natürlich ebenfalls vorbei, die fühlte sich doch selbst unsterblich blamiert, und Mr. Odysseus Ganymed Olyfax saß arg in der Klemme.
Da geschah wieder etwas, was ganz New-York beschäftigen sollte.
Am Morgen war der ›Polarstern‹ mit Beschlag belegt worden, am Mittag erschien ein fremder Herr, sprach mit dem Kapitän, ließ sich die Listen vorlegen, kroch durch alle Räume, und am Nachmittage schrieb er einen Scheck über viermalhunderttausend Dollar aus, womit die ganze Nordpolexpediton mit Ausschluß des Nordpols in seinen Besitz überging.
Das machte Aufsehen. Wer war es? Niemand kannte ihn. Er unterschrieb sich W. T. Wheeler, ein noch junger Mann; ohne Freund, ohne Begleiter, ohne Diener. Sein Scheck war von einem der größten Bankiers anstandslos angenommen und in bares Geld verwandelt worden; aber dieser Bankier war auch der größte Sonderling von New-York, von dem erfuhr man nichts.
Man sollte auch nicht viel Zeit dazu haben. Noch in derselben Nacht fuhr der ›Polarstern‹ mit der einsetzenden Ebbe zum Hafen von New-York hinaus.
Wir begleiten ihn. Der ›Polarstern‹ war ein Vollschiff, das heißt ein Dreimaster mit voller Takelage, mit einer Hilfsmaschine ausgerüstet, für drei Jahre mit Proviant versehen, durch Bau, Kapitän und Mannschaft zu solch einer Polarfahrt und einer zweimaligen Ueberwinterung im Eise durchaus befähigt. Mehr brauchen wir vorläufig nicht zu wissen.
Mit günstigem Winde ging es nordwärts. Die Schraube ließ man nur einmal probeweise arbeiten, alles funktionierte tadellos. Die Nacht des neunten Tages, auf der Höhe von Neufundland, brachte einen Sturm. Um die Wirksamkeit der Schraube auch in einem solchen und bei aufgewühlter See zu prüfen, wurde die Maschine in Gang gesetzt.
Die Sachverständigen äußerten ihre Zufriedenheit. Da plötzlich begann die Maschine zu würgen, immer mehr, sie wollte sich von der Schraubenwelle befreien, und wäre sie nicht schnell abgestellt worden, so wäre etwas gebrochen.
Das Hindernis mußte die Schraube selbst sein. Zu sehen war in der finsteren Nacht nichts, man mußte bis zum Morgen warten, konnte ja unterdessen nach wie vor segeln. Aber auch das Segeln war außerordentlich beschwerlich, man kam nicht vorwärts, der ›Polarstern‹ schleppte etwas hinter sich, ohne Zweifel.
Als die Morgendämmerung anbrach, sah man in einiger Entfernung hinter sich ein Wrack, jedenfalls ein Schoner, und da die Schraube bei dem hohen Seegang immer aus dem Wasser schlug, erkannte man, daß sich die Schraubenflügel total in ein Drahttau verwickelt hatten, welches das Wrack hinter sich hergeschleppt.
Die Schraube von den zahllosen Drahtumschlingungen von Bord aus zu befreien, war ganz unmöglich, auch von einem Boot aus, vorausgesetzt, daß man ein solches bei so hoher See überhaupt hätte ins Wasser lassen können. Es wäre sofort an den Schiffsplanken zersplittert. Wenn der Segler nicht ein für allemal auf die Hilfe der Schraube verzichten wollte, so mußte er einen Hafen anlaufen. In das Trockendock zu gehen, war wohl nicht nötig, jedenfalls konnte auch ein Taucher im ruhigen Hafenwasser das Drahttau durchsägen, freilich Stück für Stück, jede Umwindung einzeln.
Soeben hatte der Steuermann nach der aufgehenden Sonne die geographische Lage berechnet, er meldete das Resultat.
»Dann befinden wir uns nur 80 Seemeilen östlich von St. Johns entfernt, dem größten Hafen von Neufundland,« erklärte Kapitän Colman, ohne erst die Karte befragt zu haben.
So ohne weiteres konnte man aber nicht den Kurs nach dort nehmen, wenn auch der Wind günstig war. Dem Schiffe drohte sogar eine Gefahr.
Grimmig blickten die Matrosen nach dem Wrack, mit dem sie durch ein Drahtseil verbunden waren. Wie nett wäre das gewesen, das Wrack ins Schlepptau zu nehmen, wenn es auch die Fahrt hinderte, man wollte es schon nach dem Hafen bringen; vor der Erfindung der Dampfmaschine sind die Schiffe doch auch nicht anders geschleppt worden, und wenn der Schoner auch nur mit Ballast beladen war, schon als Brennholz steckte ein ansehnlicher Wert darin, und das verlassene Schiff war Freigut, der Erlös wurde geteilt - nur schade, daß gar keine Aussicht vorhanden war, das Wrack noch nach dem Hafen zu bringen, das hielt keine zehn Stunden mehr aus, keine drei mehr, keine einzige, das pfiff jetzt gerade aus dem letzten Loche. Bei längerem Hinsehen konnte man bemerken, wie es sank.
Und dann? Dann war der ›Polarstern‹ immer noch mit dem gesunkenen Wrack durch das Drahtseil verbunden! In den Grund ziehen konnte es den großen Dreimaster freilich nicht; aber hatte es eine schwere Ladung an Bord, etwa Kohlen, so brach das ziehende Seil die Schraube ganz sicher ab, die Stopfbüchse wurde undicht, der ›Polarstern‹ wurde leck, kam selbst in die Gefahr des Sinkens.
Mr. Wheeler stand hinten am Heck. Die Mannschaft hatte ihn während der neun Tage so wenig kennen gelernt, wie das New-Yorker Publikum von ihm erfahren hatte. Der junge Mann war ein stiller, verschlossener Charakter. Gerade deswegen aber hatte man vor ihm Respekt bekommen, obgleich er sich noch durch nichts hervorgetan.
Wie wäre es wohl an Bord zugegangen, wenn Mr. Odysseus Ganymed Olyfax die Nordlandfahrt angetreten hätte! Dieser Fatzke hätte sich doch natürlich als Kommandant aufgespielt, wäre in einem phantastischen Kostüm herumspaziert, oder aber in Seestiefeln mit Südwester, so recht verwogen, und hätte ins Matrosenlogis und in alle Töpfe geguckt - freilich wohl nur so lange, wie die Sonne schien.
Dieser hier trug seinen bequemen Anzug und kümmerte sich um gar nichts. Wozu auch? Dazu hatte er doch seinen Kapitän. Er ging an Deck spazieren und speiste allein in der kleinen Kabine, die er sich hatte einrichten lassen. Hatte er mit dem Kapitän etwas zu besprechen und er traf ihn nicht an Deck oder in der Kajüte, so ließ er ihn in seine Kabine zitieren. Noch an keinen Matrosen hatte er auch nur ein Wort gerichtet. Und das war für die Seeleute kein Stolz, sondern das imponierte ihnen vielmehr. Der wußte, was sich an Bord schickt. Ich bin ich, ich bin der Eigentümer dieses Schiffes. Ihr seid mein Kapitän, und du bist der Matrose, der nicht mir, sondern dem Kapitän zu gehorchen hat - basta!
Jetzt stand er also am Heck, ganz teilnahmlos, als ginge ihn das alles gar nichts an, mit auf der Brust verschränkten Armen beobachtete er eine von dem Wrack losgerissene Schiffsplanke, wie sie von den Wellen hin und her geschleudert wurde.
»Was macht Ihr da?« fragte er plötzlich, sich seitwärts wendend.
Der Kapitän und der Schiffszimmermann waren damit beschäftigt, an das Ende einer langen Stange eine Eisensäge zu befestigen, sie hatten schon zahllose Umwindungen mit Schnüren und Draht gemacht.
»Wir müssen das Drahttau zersägen.«
»Von hier oben aus? Mit der Stange? Wie lange soll denn das dauern?«
»Ja, aber es gibt doch kein anderes Mittel.«
Wheeler hatte sich die umflochtene Schraube schon vorhin genau betrachtet, er beugte sich noch einmal über die Bordwand. Dort unten sah es fürchterlich aus! Wie das zischte und kochte, und nun die große Schraube mit den Flügeln, wie eine eingesponnene Spinne anzusehen, wie sie immer in dem Gischt verschwand und dann wieder drei Meter hoch über demselben schwebte, um dann mit neuer Wucht hineinzuhauen - ein schauerliches Bild!
Mr. Wheeler wandte sich an die Matrosen, welche, da sie nichts zu tun hatten, sich alle am Heck versammelt hatten, falls sie gebraucht würden.
»Wer von euch will dort hinuntergehen, an einem Tau befestigt, um das Drahtseil unterhalb der Schraube durchzusägen?«
Keine Antwort. Die meisten verstanden gar nicht, was der wollte, sie hatten nur ein dummes Lächeln, und die ihn verstanden, blickten auf das sturmdurchwühlte Meer hinaus und konnten ihn ob seiner Unerfahrenheit nur bemitleiden.
»Na, wer wagt es, Rittersmann oder Knapp?«
Die Gesichter und das Lächeln wurden nur noch dümmer oder mitleidiger.
»Nee, Mr. Wheeler, nee,« meinte der Kapitän gutmütig, »so, wie Sie sich das denken, geht das nicht. Das muß mit der Stange von hier oben aus durchgesägt werden.«
»Geht nicht? Macht die Säge wieder los oder bringt eine andere her!«
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, begab sich der junge Mann nach dem Kajüteneingange und verschwand in der Luke.
Man ahnte noch immer nicht, was er beabsichtigte, diese erfahrenen Seeleute kamen eben gar nicht auf solch einen verrückten Gedanken, sie fuhren fort, die lange Säge vorzubereiten.
Da stieß ein Matrose einen Laut der Ueberraschung aus, die anderen folgten seinen Blicken, und auch sie glaubten ihren Augen nicht recht trauen zu dürfen.
Er kam wieder, nur noch mit einer Badehose bekleidet, und in diesem ersten Augenblicke staunten sie alle vielleicht am allermeisten die Muskulatur an, die sie bei dem so schlank aussehenden Manne nimmermehr vermutet hatten.
»Ist die Säge denn noch nicht wieder los?« fragte Wheeler, den wir aber nun lieber Nobody nennen wollen.
Man versuchte, ihm Widerstand zu leisten, ihm die Unmöglichkeit seines Vorhabens klarzumachen, er sei doch auch nur ein Mensch, er wisse ja gar nicht, welcher Gefahr er sich aussetze - doch als der Schiffseigentümer als Befehlshaber auftrat, mußte man, da er ja nicht wahnsinnig war und auch keines anderen Menschen Leben aufs Spiel setzte, ihm gehorchen.
Eine andere Eisensäge ward gebracht, die Nobody auch für besser hielt als jene, er ließ sich ein Tau unter die Arme binden und wurde hinabgelassen.
Das Weitere kann man nicht beschreiben. Man kann wohl schildern, wie der nackte Mann rittlings auf der bockenden Schraubenwelle saß, mit dieser aller Sekunden in dem Gischt verschwindend, wie er dann über die Schraubenflügel hinwegkletterte und sich noch tiefer hinabließ, sich an das Drahttau klammernd, welches er zersägte; aber das sagt nicht, warum denen oben dabei die Haare zu Berge standen.
Nach nur zehn Minuten war es geschehen, der nackte Mann war im Kampfe gegen die Wut der Wogen, gegen die sich bäumende Schraube und gegen das halsstarrige Drahtseil Sieger geblieben, er wurde wieder emporgezogen, er stand wieder an Deck, und die wortkargen Seeleute waren noch stiller geworden, sie sahen ihn nur an.
Sofort hatte Nobody seine Augen auf das nun freigewordene Wrack gerichtet. Das Seil war am Steven befestigt, dadurch mußte das Fahrzeug diesen auch dem ›Polarstern‹ zudrehen, so konnte man den Namen am Heck nicht sehen, und wer weiß, ob es sich überhaupt so drehen würde.
»Ihr haltet es nicht für möglich, jetzt ein Boot auszusetzen?« wandte sich Nobody an den Kapitän.
Dieser verneinte. Natürlich kann man bei jedem Seegange, wenn das Meer nicht gerade kurz vorher von einem Orkan aufgewühlt worden ist, ein Boot ins Wasser bekommen, wenn nicht das erste und zweite, dann das dritte, sonst könnten sich Schiffbrüchige auf hoher See ja überhaupt niemals retten; aber einige zerquetschte Gliedmaßen gibt es dabei immer, und was sollte man denn bei dem Wrack da drüben? Denn an einer Uebernahme der Ladung war nun wirklich gar nicht zu denken.
»Und doch muß ich hinüber, ich muß wissen, was für ein Schoner das ist, der mir so beharrlich seinen Namen verschweigen will,« murmelte Nobody gedankenvoll.
»Kapitän,« fuhr er dann fort, »ist hier eine Strömung?«
»Keine Strömung, gerade jetzt hat auch die Flut den höchsten Stand erreicht, jetzt ist Stauwasser.«
»Und das hält eine Stunde lang an, nicht wahr?«
Da plötzlich ging dem alten Kapitän die Ahnung auf, was jener beabsichtigte.
»Um Gott, Mr. Wheeler, begehen Sie keinen Frevel,« bat er mit erhobenen Händen.
»Mein lieber Kapitän,« entgegnete Nobody ruhig, »Sie sagten vorhin, ich sei doch auch nur ein Mensch - nein, das bin ich gar nicht, ich war es einmal, vor sieben Jahren bin ich einmal ertrunken, und da hat mich das Meer wiederum geboren, das Meer ist also meine Mutter und ...«
... und schon stand er auf der Bordwand und war mit einem mächtigen, ganz flachen Kopfsprung in einer sich hochauftürmenden Woge verschwunden, und als er wieder auftauchte, befand er sich bereits weit ab von dem hüpfenden Schiffe.
Wieder war es ein Schauspiel, das sich gar nicht beschreiben läßt, der weiße Leib des Hand über Hand greifenden Schwimmers, wie er über die weißen Berge hinwegglitt und in die schwarzen Wogentäler hinabstürzte - wer hat schon einmal einen Menschen auf der sturmgepeitschten See schwimmen sehen? Es gibt Menschen, welche es fertig bringen, es gibt besondere Lehrer dafür; denn die hauptsächliche Kunst besteht darin, unter den Wogen, welche, wenn sie sich über stürzen, den Schwimmer mit ihrer Wasserlast einfach erschlagen würden, hinwegzutauchen, sich in sie rechtzeitig hineinzubohren, und dann ist dieser Kampf des schwachen Menschleins mit dem allgewaltigen Element ein grandioses Schauspiel.
Schnell kam er vorwärts. Doch die Entfernung auf hoher See täuscht sehr, er brauchte eine halbe Stunde, und dann mußte er auf der Hut sein, daß er nicht noch zu guter Letzt an den hölzernen Planken zerschmettert wurde, denn jetzt verwandelte sich der Wogengang in die noch gefährlichere Brandung. Er wurde denn auch gegen die Planken geschleudert, wußte aber die furchtbare Wucht mit den vorgestreckten Füßen abzuschwächen, und dann hatte er das am Steven herabhängende Drahtseil gepackt, er schwang sich empor und stand an Deck.
Zwei Maststümpfe, sonst alles glattgewaschen, auch die Bordwand vielfach zerschmettert. Es ist die Pflicht des Kapitäns oder seines Stellvertreters, das hoffnungslose Wrack, das er verläßt, möglichst schnell zum Sinken zu bringen. Tut er es nicht, und es wird ihm nachgewiesen, wird er streng bestraft. Denn was für Schaden so ein treibendes Wrack anrichten kann, davon hatte Nobody an seinem Schiffe nur eine kleine Probe bekommen.
Das Oeffnen einer Luke, in die sich das immer das Deck überspülende Wasser ergießt, genügt bei hohem Seegange vollkommen. In einer Viertelstunde ist jedes Schiff weggesackt. Hier war die Pflicht erfüllt worden. Die große Luke war offen. Aber ein mächtiger Ballen klemmte darin, und man erkannte sofort, daß er nur von unten her hineingezwängt sein konnte. Wer wußte, wie es möglich war, daß der Ballen Segeltuch von unten nach oben geschleudert worden? Die Elemente bringen noch ganz andere Kunststückchen fertig. Vielleicht hatte das Wrack schon einmal kieloberst getrieben, hatte sich aber wieder aufgerichtet.
Um das Heck war der Schwimmer nicht gekommen, noch also hatte er keinen Namen gesehen. Er brauchte nicht nach hinten zu gehen. Dort war ein eiserner Böller, Nobody sah eingegrabene Buchstaben ...
»Recovery, New-York!«
Sie war es, die Brigg des amerikanischen Nordpolfahrers, des Kapitäns William Temple! Hier mußte er ihr begegnen als Wrack!
Doch Nobody hatte in letzter Zeit schon so viel erlebt, was er früher nicht für möglich gehalten, daß er sich über nichts mehr wunderte.
Es war nicht etwa eine Ahnung gewesen, die ihn nach dem Wrack getrieben hatte. Durchaus nicht! Er hatte es für seine Pflicht gehalten, zu konstatieren, was für ein verlassenes Schiff das sei. Denn wer wußte, ob sich die Mannschaft hatte retten können? Und wie dankbar würde ihm die Reederei und manch anderer sein, wenn man nicht mehr auf das überfällig gewordene Schiff zu warten brauchte, wenn man nun dessen Schicksal bestimmt wußte, und sei dies auch noch so traurig - und Nobody fühlte die Pflicht deshalb in sich entstehen, weil er befähigt war, das Wrack auch ohne Boot zu erreichen, und je mehr ein Mensch kann, desto mehr Verpflichtungen hat er - und dann vielleicht war es auch etwas von göttlichem Trotz bei ihm, den Namen des Wracks dennoch zu erfahren, gerade weil es ihm so beharrlich den Rücken zudrehte!
In die Kajüte konnte er gar nicht mehr dringen; er trat sofort den Rückweg an; nach einer weiteren halben Stunde befand er sich wieder an Bord des ›Polarstern‹, wo er mehr als Gott denn als Uebermensch mit Ehrfurcht angestaunt wurde.
»Die ›Recovery‹ aus New-York, mit der Kapitän William Temple an der Ostküste nach Norden vordringen wollte.«
»Was, die ›Recovery‹?!« rief Kapitän Colman mit einer Bewegung, als wolle er die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen. »Ich staune nämlich nur, die ›Recovery‹ überhaupt wiederzusehen, wenn auch nur als Wrack! Habe nie geglaubt, daß es aus dem Treibeise wieder herauskommen würde! Denn noch kein Schiff, welches einen Winter an der hohen Ostküste Grönlands zugebracht hat, etwa über den 75. Breitengrad hinaus, hat den Rückweg wiedergefunden. Die Zeiten sind schon vorbei, da man solch wahnsinnige Versuche machte. Man hat die Unmöglichkeit eingesehen.«
Nobody warf dem Sprecher einen prüfenden Blick zu, ohne etwas dazu zu sagen. Wenn der gute Mann wüßte, daß er selbst, Nobody, diesen wahnsinnigen Versuch unternehmen wollte - sogar bis zum 82. Breitengrade vorzudringen!
Denn Mr. Wheeler hatte mit dem schon erprobten Nordpolfahrer nur die Reiseroute an Grönlands Westküste entlang besprochen. Weshalb Nobody seinen eigentlichen Plan verheimlichte, werden wir bald erfahren, wenn der Leser es noch nicht ahnt.
Erst in der Nähe von Grönlands Südspitze wollte Nobody seinen Plan plötzlich ändern, er wollte also auf der Ostseite nach Norden vordringen. Daß er auf einigen Widerstand stoßen würde, damit hatte er sowieso gerechnet; jetzt aber mußte er erkennen, wie groß dieser Widerstand des Kapitäns und der ganzen Mannschaft sein würde.
Nun, da würde es sich einmal zeigen, wie machtvoll Nobodys persönlicher Einfluß auf den Menschen sein konnte. Er freute sich sogar schon auf diesen Kampf.
Jetzt entzog er sich den Vermutungen, ob sich die Besatzung der ›Recovery‹ gerettet habe oder nicht, indem er sich in seine Kabine begab und nicht so bald wieder zum Vorschein kam.
Gegen Mittag kam die Küste von Neufundland in Sicht, dann tauchte St. Johns auf, ein ganz bedeutender Hafen, über den auch das transatlantische Kabel geht.
Immer belebter wurde das Meer, besonders von Fischerbooten. Die Fischbänke von Neufundland sind ja die reichsten der Welt, die Lotsenflagge wurde gehißt, bald hatte ein Kutter den kundigen Führer zur Einfahrt an Bord gebracht, der Kapitän gab an ihn das Kommando ab.
»Die Besatzung der ›Recovery‹ ist gestern schiffbrüchig hier angekommen,« war die erste Neuigkeit, welche der Mann mitzuteilen hatte.
Er erzählte ausführlicher. Vor zwei Tagen hatte hier ein strichweise gehender Orkan gewütet. Ihm fiel auch die ›Recovery‹ zum Opfer, nachdem sie allen Schrecken der Polarregion getrotzt hatte! Glücklicherweise konnten alle Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungsreise gerettet werden, als ein englischer Dampfer die Sinkenden aufnahm.
»Wie weit ist die ›Recovery‹ nach Norden vorgedrungen?« fragte Nobody.
»Bis zum 72. Breitengrade. Dort fror sie im September ein und blieb bis Ende Mai liegen. Es soll mordsmäßig zugegangen sein. Trotzdem haben sie nur für einen einzigen dort oben ein Grab ins Eis gehackt, für einen Matrosen, der am Skorbut starb.«
»Und der Kapitän?«
»William Temple? Der war wohlauf, als ich ihn sah. Nur die Ohren hat er sich erfroren.«
Was würde nun Mr. Scott gesagt haben, wenn er so seiner Lügen überführt wurde?
Edward Scott!! Wir werden bald sehen, was sich Nobody unterdessen über diesen rätselhaften Menschen für ein Urteil gebildet hatte, muß doch auch noch erklärt werden, wie Nobody überhaupt darauf kam, auf die fingierte Flaschenpost hin, deren Lüge er erkannt hatte, die Reise nach dem Norden wirklich anzutreten, mit der Absicht, jene angegebene Stelle an der Ostküste Grönlands wirklich aufzusuchen.
»Von denen geht keiner wieder nach der Ostküste von Grönland, nicht für alles Geld der Welt,« fuhr der Lotse fort, und er erzählte weiter, was die alles durchgemacht hatten.
Nobody sorgte dafür, daß es keiner der Matrosen, auch nicht der Steuermann, zu hören bekam. Den Kapitän konnte er nicht entfernen. Lieb war es ihm, daß die ganze Mannschaft der ›Recovery‹ bereits nach New-York weitergereist war, so kamen seine Leute nicht mit jener in Berührung, so gern er selbst auch mit Kapitän Temple gesprochen hätte.
Angesichts der Hafenmauern flaute der Wind immer mehr ab. Der ›Polarstern‹, der schon seinen Namen signalisiert hatte, mußte um einen Schleppdampfer bitten. Ein solcher kam aus dem Hafen. Ehe er sich vorspannte, legte er längsseit, da waren zwischen den Kapitänen erst Förmlichkeiten zu erledigen, hauptsächlich auch wegen des Bezahlens.
»Ist hier ein Mister W. T. Wheeler an Bord?« fragte der Kapitän des Schleppers.
»Bin ich,« sagte Nobody.
»Gerade als ich abfahren wollte, wurde von der Post aus gefragt, ob der New-Yorker ›Polarstern‹ schon in den Hafen gelaufen sei oder auf Reede liege. Ein Telegramm ist für Sie angekommen. Ich habe es gleich mitgebracht. Hier!«
Der Kapitän hielt ihm die Depesche in der ausgestreckten Hand hin, doch Nobody nahm sie nicht. Freilich war dieses Detektivs schnelle Auffassungsgabe dazu nötig, um sofort zu wissen, daß er ja gar keine Depesche hierher erhalten konnte.
»Das Telegramm kann nicht für mich sein.«
»Nicht? Na, ist denn das nicht der ›Polarstern‹ von New-York?«
»Das ist er!«
»Und sind Sie denn nicht Mister W. T. Wheeler?«
»Der bin ich.«
»Na, hier - ganz ausführlich - W. T. Wheeler, an Bord New-Yorker ›Polarstern‹, St. Johns, Neufundland. Der Absender wußte doch, daß der ›Polarstern‹ hier anläuft.«
Nobody bemeisterte alle Empfindungen, die in ihm aufsteigen wollten. Er nahm das Telegramm, öffnete es und las:
»78, 16, 47 nördlich; 2, 99, 15 östlich (östlich!) finden Sie freie Durchfahrt. Vertrauen Sie mir! Erklärung folgt noch. Edward Scott.«
Vier Stunden lang arbeiteten zwei Taucher daran, die von dem Drahtseil eingesponnene Schraube wieder zu befreien, und vier Stunden lang saß Nobody in seiner kleinen Kabine, den Kopf in die Hände gestemmt, und stierte auf das vor ihm liegende Telegramm, und er hatte während dieser Reise schon noch länger so dagesessen und vor sich hingegrübelt.
In was für eine ihm bisher unbekannte Welt war er denn nur plötzlich versetzt worden?
Zufall über Zufall, Wunder über Wunder, Rätsel über Rätsel!
Das Telegramm war in St. Louis aufgegeben worden. Wann? Heute früh um drei Uhr. Und heute früh um drei Uhr hatte Nobody noch nicht gewußt, daß die Schiffsschraube sich so in das nachschleppende Tau eines Wracks verwickeln würde. Er hatte noch mit keinem Gedanken daran gedacht, daß er deswegen St. Johns anlaufen würde!
Ganz abgesehen nun davon, daß Scott gar nicht wissen konnte, wie sich hinter Mr. Wheeler, dem Eigentümer des ›Polarstern‹, Nobody versteckte - denn dieser hatte sein neues Pseudonym ganz, ganz geheim gehalten - wie kam dieser rätselhafte Mann dazu, heute früh um drei Uhr dieses Telegramm hier direkt nach St. Johns aufzugeben, um es Nobody an Bord des ganz unerwartet ankommenden ›Polarstern‹ einhändigen zu lassen?!
»Mir bleibt der Verstand stehen,« flüsterte Nobody, während seine Finger in dem lockigen Haar wühlten, und es hatte wie ein Aechzen geklungen.
Ja, er wußte eine Lösung dieses Rätsels. Dann aber ging auch seine ganze bisherige Weltanschauung in die Brüche, und das war es eben, was den eisernen Mann so aus der Fassung brachte. - -
Der ›Polarstern‹ hatte den Hafen wieder verlassen.
»Herr Kapitän, ich möchte Sie sprechen!«
Und Nobody setzte ihm auseinander, wie es seine Absicht sei, nicht an der Westküste, sondern an der Ostküste Grönlands so weit wie möglich nach Norden vorzudringen.
Es kam alles so, wie Nobody vorausgesehen. Kapitän Colman erklärte ganz energisch, er habe die Führung dieses Schiffes für eine Reise an der Westküste übernommen, und wenn dies auch nicht kontraktlich ausgemacht worden, das sei für ihn ganz selbstverständlich, auf Grund mündlicher Besprechungen habe er dies mit Bestimmtheit angenommen, das entscheide - und da der nächste Hafen St. Johns sei, so verlange er, wenn der Schiffsreeder auf seiner Absicht bestehe, daß der ›Polarstern‹ sofort wende und nach St. Johns zurückgehe, der Kapitän wolle sofort sein Kommando abgeben.
Aber es kam auch weiter so, wie Nobody vorausgesehen. Eine Viertelstunde später konnte der unübertreffliche Hexenmeister, der nicht nur mit toten Dingen, sondern sogar mit lebendigen Menschenherzen Taschenspielerei trieb, den sonst so energischen Mann um den Finger wickeln.
Der Kapitän merkte selber, daß dies gar nicht mit rechten Dingen zugegangen sein konnte.
»Teufel, Mister Wheeler, Sie wissen einen aber herumzubringen, Sie sollten ins Parlament!« lachte er ärgerlich, als er den bindenden Handschlag gab.
Und was würden die Matrosen sagen? Die hatten überhaupt gar nichts zu sagen! Der Matrose, besonders der vom Segelschiff, erfährt überhaupt nur durch Zufall das Ziel des Schiffes, er wird im Hafen einfach ›für hohe See‹ oder ›für Küstenfahrt‹ angemustert, speziell in Deutschland auch ›für Ost- und Nordsee‹, so wird's in seinem Buche eingetragen, das ist Usus, und erst nach Beendigung der Reise, wenn der Matrose sein Zeugnis ausgestellt bekommt - Seemannschaft, Gehorsam, Nüchternheit - werden die angelaufenen Häfen eingetragen. Genau dasselbe gilt für Steuerleute und Unteroffiziere.
Die Mannschaft hatte bei der Anmusterung gewußt, daß es eine Nordpolfahrt galt - das allerdings mußte ihnen in diesem Falle gesagt werden - und damit basta! Und im übrigen würde der Hexenmeister bei der Mannschaft ganz genau dasselbe Kunststückchen fertig bringen wie bei dem Kapitän, falls es bei einer ausbrechenden Unzufriedenheit nötig war. -
Das gute Wetter hielt nicht an, es gab viel Sturm, der ›Polarstern‹ mußte gegen den Wind kreuzen.
Es war am elften Tage, nachdem man St. Johns verlassen hatte, der ›Polarstern‹ war schon östlich von Kap Farewell, der Südspitze von Grönland, ohne daß dies dem Steuermann, der ja immer die geographische Lage berechnete, auffiel, da man ja sowieso ständig von Westen nach Osten kreuzen mußte, als das Steuerrad plötzlich so leicht ging und das Schiff dem Ruder nicht mehr recht oder doch zu langsam gehorchte. Die Untersuchung ergab, daß der unter Wasser befindliche Teil der Ruderpinne gebrochen war.
Es war kein neues Schiff mehr. Man hatte alles in tadelloser Beschaffenheit gefunden, aber unter Wasser hatte man nicht blicken können. Eine selbständige Reparatur war ausgeschlossen.
»Gut, daß sich die Schwäche des Steuerruders noch hier bemerkbar gemacht hat,« sagte Nobody. »Welches ist der nächste Hafen, in dem eine Reparatur ausgeführt werden kann?«
»Fiskernäs.«
So war Nobody doch noch gezwungen, erst ein gutes Stück an der Westküste Grönlands hinaufzusegeln, wodurch ihm, die Rückfahrt eingerechnet, mindestens eine Woche verloren ging. Doch war es noch Zeit genug, man befand sich erst im Anfang des Juli.
Während es an der Ostküste keinen einzigen bewohnten Platz gibt, zählt man an der Westküste bis hinauf zum 74. Breitengrade 130 Ansiedlungen, freilich keine mit mehr als fünf Hütten und mit mehr als dreißig Menschen, zusammen wurden zuletzt gezählt rund 6000 Eskimos und 126 Europäer.
Fischfang und Robbenschlag ist ihr einziger Beruf, aber auch so ergiebig, daß an der Küste ein ganz bedeutender Schiffahrtsverkehr stattfindet. Segler und kleine Dampfer tauschen die getrockneten Fische und Seehundfelle ein und bringen sie nach Fiskernäs fast dem einzigen Flecke, der Anspruch auf den Namen Stadt machen kann, zumal, da hier auch Walfischfahrer anlegen und Tran auskochen. Im Winter freilich ist auch hier alles tot.
So sah Nobody ein bewegtes Bild, wie er es an der Küste von Grönland nicht vermutet hätte. Als der ›Polarstern‹ in den Hafen einlief, der sogar ein Trockendock besitzt, wurde er von einem stattlichen Dampfer überholt, der aus New-York kam, um die aufgespeicherte Jagdbeute abzuholen. -
Es war Nacht. Die Reparatur war schon vollendet, aber der ›Polarstern‹ lag noch im Hafen, um erst bei Tagesanbruch die Rückfahrt um Kap Farewell herum anzutreten.
Nobody lag schlafend in der Koje.
Plötzlich erwachte er, da an die Tür seiner kleinen Kabine geklopft wurde.
»Was gibt's?«
»Mister Wheeler, ein Herr ist gekommen, er möchte Sie sprechen,« meldete der wachehabende Matrose.
»Wie heißt er? Hat er seinen Namen genannt?«
»Ich habe hier seine Karte - Edward Scott.«
Als Nobody die in Kugellagern schwebende Petroleumlampe anzündete, wußte er nicht, wie er so plötzlich aus der Koje und in seine Kleider gekommen war.
Und er trat ein, der Mann mit den schwermütigen Augen. Aber die Kühnheit war jetzt aus seinen Zügen verschwunden. Er sah sehr niedergeschlagen aus.
Die Tür war hinter ihm geschlossen worden, an dieser blieb er stehen, den Hut in der Hand, und schweigend sahen sich die beiden eine Zeitlang an, und es war dieser Wiederbegegnung entsprechend.
»Mister Wheeler, was haben Sie von mir gedacht?« begann er endlich mit leiser Stimme.
Mit Macht mußte Nobody gegen seine furchtbare Aufregung ringen. Jetzt endlich sah er die Lösung aller dieser Rätsel kommen.
»Mister Scott, erst erklären Sie mir, wie Sie hierherkommen!«
»Mit einem New-Yorker Dampfer, der vorhin in den Hafen gelaufen ist.«
»Das sagt mir gar nichts! Sie sind nicht zufällig hierher nach Fiskernäs gekommen! Ich glaube nicht an solch einen Zufall! Und wenn Sie ein irdischer Mensch sind, wie können Sie wissen, daß meinem Schiffe unterwegs das Ruder bricht, so daß ich gegen meinen Willen gezwungen bin, nach der Westküste von Grönland zurückzukehren und hier das einsame Fiskernäs aufzusuchen? Mann, geben Sie mir eine natürliche Erklärung, auf daß ich nicht an Wunder glauben muß, die gegen meinen gesunden Menschenverstand gehen!«
»Sie sollen die Erklärung haben. Erst aber muß ich wissen, was Sie von mir denken, für wen Sie mich halten.«
»Gut, und ich werde mich kurz fassen. Bitte, setzen Sie sich.«
»Nicht eher, als bis ich mein Urteil aus Ihrem Munde vernommen habe.«
»Nun denn: Ich halte Sie für den Mitwisser eines verbrecherischen Geheimnisses.«
Diese Worte wirkten wie Blitz und Donnerschlag, so brach der starke Mann unter ihnen zusammen, jetzt mußte er sich setzen, er fiel auf das kleine Sofa nieder.
»Sie halten - mich - also - für - einen - Schurken?« kam es ächzend hervor.
»Nicht doch, nicht doch!!« rief Nobody, plötzlich ganz außer sich. »Um Gottes willen, mißverstehen Sie mich nicht! Mister Scott, selten hat mir eine Person so viel Sympathie eingeflößt wie Sie, Sie sind ein Ehrenmann, Sie sind der bravste, zuverlässigste Mensch, den es gibt, ich weiß es, ich fühle es, und darin kann ich durch nichts irregemacht werden, was auch passiert sein mag. Sie wollen meine Ansicht hören? Mit jener präparierten Leiche ist irgend ein verbrecherisches Geheimnis verbunden. Das ist doch ganz klar. Und Sie sind Mitwisser dieses Geheimnisses, aber ein unfreiwilliger. Auf Sie wird von gewisser Seite aus ein Druck ausgeübt. Sie wollen sich davon befreien, zugleich Ihr Gewissen entlasten. Sie selbst können gegen den Schuldigen nicht vorgehen. Ihnen sind irgendwie die Hände gebunden. Da haben Sie einen anderen Mann gesucht, der es für Sie tut, und Sie fanden zufällig mich, einen professionellen Detektiven, wenn Sie es nicht von vornherein auf mich abgesehen hatten, obgleich mir nicht recht begreiflich erscheint, woher Sie hätten wissen können, daß ich mich an Bord der ›Persepolis‹ befand. Kurz, ich war der Mann, den Sie brauchten. Nun wollten Sie mich langsam, nach und nach, auf die Spur bringen, es gilt wahrscheinlich, die Menschheit von einem Verbrecher zu befreien. Sie selbst haben eben irgendeinen Grund, sich dabei ganz passiv zu verhalten. Ist es nicht so, Mister Scott?«
Jener hatte sich wieder erhoben, er streckte Nobody die Hand entgegen.
»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen!« sagte er mit überströmender Herzlichkeit, und jetzt war auch einmal sein Auge von Freude verklärt.
Nobody hatte die Hand gedrückt.
»Also meine Vermutung ist richtig?«
»Nein, Sie irren vollständig.«
Diese Verneinung hatte Nobody nun freilich nicht erwartet. Er war ganz verdutzt. Dann blieb nur noch eine Möglichkeit, an die er aber doch so gern nicht geglaubt hätte.
Trotz der Aufregung, in der er sich befand, merkte er, daß die Petroleumlampe zu verlöschen drohte.
»Einen Augenblick, ich muß erst Petroleum nachfüllen lassen.«
»Bitte, löschen Sie die Lampe lieber ganz aus,« sagte Scott leise, und Nobody tat es, ohne sich über dieses Verlangen zu wundern. In der Finsternis sind Geständnisse leichter zu machen.
Schweigen herrschte in dem kleinen, stockfinsteren Raume. Nobody wußte, daß sich jener wieder gesetzt hatte, auch er nahm Platz. Aber vergebens wartete er auf eine Eröffnung.
»Nun?« brach er endlich das Schweigen. »Mister Scott, offenbaren Sie mir, was Sie wollen - in keinem Busen ist es besser verwahrt als in dem meinen.«
Immer noch eine lange Pause, bis es schließlich leise erklang.
»Sollten Sie es - denn nicht schon - ahnen?«
»Vielleicht. Sind Sie etwa ... krankhaft ... somnambul veranlagt?«
Die Antwort ließ lange, lange auf sich warten, und dann zitterte durch die Finsternis ein gehauchtes ›Ja‹.
Wir wollen Nobodys Ansicht über den Somnambulismus mit wenigen Worten erledigen.
Nobody glaubte nicht an Gespenster, der Bearbeiter seines Tagebuches tut es auch nicht. Somnambulismus ist etwas anderes, hierzu gehört auch die Mondsüchtigkeit, und wer nicht an Mondsüchtige glaubt, wer darüber spottet, dem sei trotz alledem gewünscht, daß ihm solch ein Fall nicht einmal in seiner eigenen Familie passiert.
In seinem Tagebuche sagt Noboby wörtlich:
»Das Urteil eines Kant, eines Schopenhauer und eines Karl du Prel über den Somnambulismus ist mir maßgebender als das Urteil der anderen in Europa lebenden hundert Millionen Menschen, welche überhaupt wissen, was Somnambulismus ist, und welche dieses Geheimnis des menschlichen Seelenlebens nicht anerkennen und es am Biertisch mit einigen billigen Witzen abgetan zu haben glauben. Derselbe Immanuel Kant, welcher, ohne jemals aus den Mauern Königsbergs herausgekommen zu sein, die Ursache des Lissaboner Erdbebens ergründete und eine Theorie der Passatwinde aufstellte, nach der sich in den südlichen Breiten noch heute jeder Segelschiffskapitän richtet - derselbe Immanuel Kant hat auch die somnambulischen Eigenschaften, die fernsehende und prophetische Gabe des Schweden Swedenborg, seines berühmten Zeitgenossen, als Tatsache anerkannt, und das ist für mich ausschlaggebend!«
Nobody hatte aber auch selbst wiederholt somnambule Personen studiert und war von selbst zu der Ueberzeugung gekommen, daß es einen Zustand des Menschen gibt, da er mit den geistigen Augen in die Ferne schauen und künftige Dinge und Geschehnisse voraussehen kann.
Freilich ist das nicht so einfach, da müssen gar viele Einschränkungen gemacht werden und der Experimentator kann gar nicht vorsichtig genug sein.
Den stärksten Beweis, daß es ein Hellsehen gibt, hatte Nobody von einem halbwüchsigen Kinde erhalten. Es war mondsüchtig gewesen; Nobody nahm es in seine Behandlung, die Kur gelang, aber jetzt fiel das hysterisch veranlagte Kind oft in somnambulen Schlaf, in dem es ferne und zukünftige Dinge sah.
Für manch anderen Menschen wäre das Resultat der Prüfung ein negatives gewesen, er hätte das Kind vielleicht des Betruges bezichtigt, im besten Falle des unbewußten.
Denn bei hundert Fällen waren fünfzig Aussagen so undeutlich, daß ihre Richtigkeit gar nicht kontrolliert werden konnte. Vierzig Prozent ergaben sich als direkt falsche Angaben. Nur zehn Prozent stimmten, waren aber auch ganz belanglos, nichts von Wichtigkeit, betrafen nur Sachen und Geschehnisse aus dem Alltagsleben des Kindes.
Trotzdem genügten diese zehn Prozent, um Nobody zu überzeugen, daß dieses Kind tatsächlich hellsehende Eigenschaften besaß.
Daß aber nun dieser junge Mann hier im voraus gewußt haben konnte, wie der ›Polarstern‹ wegen seiner unbrauchbaren Schraube St. Johns anlaufen würde, daß er gewußt haben konnte, daß er Nobody in Fiskernäs an der Westküste Grönlands treffen würde, wo dies alles doch absolut nicht in Nobodys Absicht gelegen hatte - das war etwas, was nicht in dessen Kopf wollte, so gläubig er auch sonst dem Somnambulismus gegenüberstehen mochte.
Nun, er würde es ja gleich erfahren.
»Sie sind von Kindheit an somnambul veranlagt?«
»Nein. Lassen Sie mich erzählen. Bis vor vier Jahren war ich ein Mann, der für nichts weiter Interesse hatte, als fürs Geschäft und für Sport, und in körperlichen Uebungen jeglicher Art suchte ich meinesgleichen, besonders wenn ich dabei mein Leben aufs Spiel setzen konnte. Die Liebe zu einem Mädchen änderte daran nichts. Ich war und blieb die heiterste Natur mit übersprudelnder Lebenskraft. Das Mädchen betrog mich. Ersparen Sie mir die Einzelheiten. In jenem Hause, schon zur Hochzeit vorbereitet, erfuhr ich, daß Agathe mich verraten, mich verlassen hatte, um mit einem anderen zu gehen. Als ich die Botschaft vernahm - Bruno brachte sie mir - als ich den überzeugenden Beweis in Händen hatte, da plötzlich stieg es mir siedendheiß zum Kopfe empor, alles drehte sich vor meinen Augen, ich stürzte zu Boden nieder. Bruno hielt mich für tot, er rannte davon, um einen Arzt zu holen. Aber ich war nicht tot, nicht einmal besinnungslos. Doch was nun mit mir geschah, das kann ich Ihnen mit bloßen Worten unmöglich erklären, es wird für Sie ganz unverständlich sein. ›Das ist ein Schlaganfall, ein Nervenschlag, du bist gelähmt für immer!‹ So sagte ich mir, und ich sah mich schon mit entsetzlicher Deutlichkeit als Krüppel. Und nun ging etwas Seltsames mit mir vor sich. Ich war mir ganz deutlich bewußt, daß ich auf dem Teppich lag, unfähig, ein Glied zu rühren, und da plötzlich war es mir, als ob meine Glieder zu schwellen begännen, immer dicker und dicker wurden sie, als ob sie zerplatzen wollten, es war schmerzlos, aber ich fühlte den kalten Todesschweiß aus allen Poren brechen, und dann schälte sich etwas aus meinem Fleische heraus, aus meinem Innern, aus meiner Seele, und das war ich selbst, und ich sah mich selbst ganz deutlich vor mir, nicht etwa als eine weiße Gestalt, sondern ... sondern ... ich sah es ja überhaupt nur mit meinen geistigen Augen ... und dennoch sah ich es mit handgreiflicher Deutlichkeit ... aber wie, das kann ich Ihnen eben gar nicht schildern ...«
»Ich verstehe schon,« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe. »Es war Ihr Doppelgänger, Ihr seelisches Ich, Ihr Astralleib, den Sie aus sich heraustreten fühlten.«
»Ah, Sie glauben daran, daß der Mensch einen solchen unsichtbaren Astralleib besitzt, der bei besonderer Gelegenheit aus dem Menschen heraustreten und für den betreffenden sichtbar werden kann?« erklang es mit freudigem Staunen.
»Jawohl, ich glaube daran,« versicherte Nobody der Einfachheit halber, und nun fuhr der Erzähler denn auch gleich fort:
»Mein Doppelgänger ging zu einem Tischchen, und ich ging mit ihm, das heißt, ich war in ihm, in seinem Bewußtsein, obgleich ich doch regungslos am Boden lag; er schenkte sich ein Glas Wasser ein und trank es aus, hierauf begab er sich an den Schreibtisch, setzte sich, nahm einen Briefbogen und Feder und schrieb mit geläufiger Hand ein längeres Rezept, mit meiner Handschrift; denn eigentlich schrieb ich es ja selbst. Ich verstehe nichts von Medizin, von Arzneikunde, kann kein Rezept ausschreiben, damals nicht und heute nicht. Und ich schrieb die mir unbekannten chemischen Formeln und lateinischen Ausdrücke so geläufig hin, als sei ich ein professioneller Arzt, und darunter setzte ich noch die Bemerkung: Aller zwei Stunden einen Teelöffel voll einzunehmen. Mein Doppelgänger legte die Feder hin, stand auf, kam auf mich zu, er verschmolz wieder mit mir. Wie dies geschah, kann ich Ihnen nicht schildern. Aber es war mir sehr wohltuend, die Bewegungsfähigkeit kehrte zurück, scheinbar auch das Bewußtsein, obgleich es mich doch gar nicht verlassen hatte, ich konnte wieder aufstehen.«
Der Erzähler machte eine Pause.
»Und da lag das geschriebene Rezept auf dem Tische?« fragte Nobody.
»O nein. Das eigentliche Rätsel sollte erst beginnen. Ich ging zu dem Tischchen, füllte ein Glas mit Wasser und trank es aus. Eine unsichtbare Gewalt zwang mich, es zu tun. Hierauf begab ich mich an den Schreibtisch, setzte mich, nahm einen Briefbogen und Feder und schrieb mit geläufiger Hand ein langes Rezept, darunter die Bemerkung setzend: Aller zwei Stunden einen Teelöfel voll einzunehmen. - Das schrieb ich, der ich nichts von Arzneikunde wußte!«
Nobody schwieg. Ganz genau denselben Fall hatte er schon einmal erlebt. Auch jenes mondsüchtige Kind hatte sich im somnambulen Zustande selbst Rezepte verschrieben, wenigstens die Formeln dazu angegeben, man solle solch eine Medizin in der Apotheke anfertigen lassen, die würde es von seinen Krämpfen befreien - und es war gemacht worden und hatte tatsächlich sofort geholfen!
»Schrieben Sie das Rezept aus dem Gedächtnis nach, wie Sie die Formeln schon im Traume hatten schreiben sehen?« fragte er dann.
»Ja und nein. Ich kann es nicht erklären. Ich tat es unter einer fremden Willensbeeinflussung. Es war, als ob die Buchstaben von selbst aus meiner Feder kämen, als ob eine fremde Hand die meine führte. Jedenfalls war ich gezwungen, es zu tun. Bruno kam mit einem Arzt zurück. Ich fühlte mich wieder ganz wohl. Aber wiederum zwang mich ein geheimnisvolles Etwas, dieses Rezept nun auch ausführen zu lassen. Doch was sollte ich sagen? Hier kam mir kein fremder Einfluß zu Hilfe, und eine unbestimmte Scheu, ein Gefühl von Scham hielt mich zurück, die Wahrheit zu bekennen. So griff ich zu einer Notlüge. Ich sagte dem Herrn, ich litte öfters an solchen Ohnmachtsanfällen, schon seit vielen Jahren, ein mir bekannter Arzt habe mir dagegen einmal dort jene Medizin verschrieben, die sich stets bewährt habe. Sie sei mir ausgegangen. Das ursprüngliche Rezept besäße ich nicht mehr, dort sei eine Abschrift von meiner Hand. Bruno, mein langjähriger, treuer Diener, der mich schon als Kind behütet hat, sah mich mit erstaunten Blicken an. Was, ich, der kerngesunde Mensch, hätte schon an Ohnmachtsanfällen gelitten?! Doch er schwieg. Und der Arzt las das Rezept und setzte seinen Namen mit Beglaubigung darunter, Bruno trug es nach der nächsten Apotheke, die Medizin wurde hergestellt, ich nahm aller zwei Stunden einen Teelöffel voll ein, bis die Flasche leer war.«
»Was war es?«
»Ich weiß es nicht. Jene Scheu, jenes Entsetzen, das ich immer vor meinem Doppelgänger gehabt habe, auch jetzt noch, hielt mich ab, weitere Erkundigungen einzuziehen.«
»Besitzen Sie das Rezept noch?«
»Nein, es ging mir mit einem Koffer verloren.«
»Wie schmeckte die Medizin?«
»Der vorherrschende Geschmack war Kampfer.«
»Und sie hat geholfen?«
»Geholfen? Ich weiß es nicht. Ich kann nur sagen, daß jener Ohnmachtsanfall keine schädlichen Folgen für mich gehabt und sich nie wiederholt hat.«
»Aber Sie sind der Ueberzeugung, daß der Ohnmachtsanfall schädliche Folgen gehabt hätte, daß Sie vielleicht noch nachträglich einen Nervenschlag bekommen, der Sie für immer gelähmt, wenn Sie jene Medizin nicht genommen hätten?«
»Nach allem, was ich sonst noch erlebte, muß ich es annehmen. Denn mein mit prophetischem Blick begabter Doppelgänger, oder wie man dieses geheimnisvolle Etwas, das manchmal aus meinem Körper tritt, nun nennen mag, ist mein Schutzpatron, der mich noch immer vor bösen Zufällen, die mich gar oft schon mit dem Tode bedrohten, gewarnt hat.«
Und er erzählte weiter solche Beispiele. Denn von da ab passierte es ihm häufig, daß er seinen Doppelgänger, sein zweites Ich, aus seinem Körper heraustreten und Handlungen ausführen sah, die er selbst ihm dann unwillkürlich nachmachen mußte, wie unter einem fremden Willen stehend. Doch niemals wieder ging dem ein Ohnmachtsanfall voraus. Scott versicherte, sonst kerngesund zu sein. Es geschah sowohl im Traume, aber scheinbar bei vollem Bewußtsein, oder aber, wenn er ruhig auf dem Stuhle saß, oder aber auch mitten in einer Gesellschaft, selbst mitten auf der belebten Straße, ohne daß es irgend jemandem auffiel, und Scott hatte durch Beobachtung schon längst herausgebracht, daß es nur momentane Visionen waren, und wenn die Handlungen seines Doppelgängers scheinbar auch viele Tage währten, so wie man ja auch Träume hat, die ein ganzes Lebensalter umfassen, und man hat Gelegenheit, zu konstatieren, daß sie nur wenige Minuten gedauert haben: Viele Gelehrte, die sich mit dem Traumleben beschäftigen, behaupten auch, daß überhaupt jeder Traum nur den Bruchteil einer Sekunde währt.
Von den vielen Beispielen, welche Scott noch anführte, um zu zeigen, wie sein Doppelgänger ihn immer vor drohenden Gefahren behütete, wollen wir nur noch ein einziges wiedergeben, und zwar lassen wir ihn mit seinen eigenen Worten erzählen, wie es auch in Nobodys Tagebuch geschehen ist.
»Auf meinen Reisen, die mich in ganz abgelegene Distrikte führen, habe ich immer eine kleine Petroleumlampe im Koffer. Denn Petroleum ist heutzutage fast überall zu haben, wenn man sich nicht gerade in der Wildnis befindet, und ich liebe es, in der Nacht zu lesen oder zu schreiben. Das kleine Bassin faßt für drei Stunden Petroleum. Es war in einem arabischen Dorfe in der Nähe von Algier; ein französischer Ingenieur, der dort gerade sein Holzhaus aufgeschlagen, hatte mich gastfreundlich aufgenommen. Eines Nachts saß ich lesend bei meiner Lampe. Schon seit einiger Zeit war der Docht zu kurz geworden, er saugte das Petroleum nicht mehr völlig auf, ich hatte es zu spät bemerkt, einen für meine Lampe passenden Docht konnte ich hier nicht bekommen, und natürlich wurde er immer kürzer. So mußte ich aller Stunden Petroleum nachfüllen. Das war auch jetzt wieder nötig, ich merkte, wie die Flamme immer kleiner wurde. Bei dem Nachfüllen des Petroleums blies ich die einmal brennende Lampe nie aus. Das Bassin hat einen Stöpsel, den man losschrauben kann, in die Oeffnung wird das Petroleum gegossen, eine Explosionsgefahr ist dabei ganz ausgeschlossen. Viele Hunderte Male hatte ich das so gehandhabt, und so wollte ich das auch diesmal tun.
»Da, als ich diesen Entschluß eben gefaßt hatte, eben aufstehen wollte, schon nach der Lampe griff, fühlte ich plötzlich jenen seltsamen Zustand über mich kommen, meine Glieder schwollen scheinbar an, mein Doppelgänger trat aus mir heraus. Jetzt war er es, der aufstand, die Lampe, also noch brennend, ergriff, sie an die Ecke des Tisches setzte, alles genau so, wie auch ich getan haben würde, dann nach der Ecke des Zimmers ging und von dort die Petroleumkanne holte. Nun aber geschah etwas, was ich sonst nimmermehr getan hätte. Er setzte die Kanne nochmals an den Boden, zündete das auf dem Tische stehende Stearinlicht an, blies die Lampe aus, schraubte jetzt erst den Messingstöpsel ab, füllte das Petroleum nach, nahm, seine Hand mit dem Taschentuch umwickelt, den heißen Zylinder ab, zündete die Lampe wieder an, blies das Stearinlicht wieder aus, trug die Petroleumkanne wieder in die Ecke und ... und er kehrte in meinen Körper zurück.
»Ich erwachte. Was ich nun tat, geschah, wie ich Ihnen schon wiederholt zu schildern versucht habe, unter jener fremden Willensbeeinflussung. Also auch ich zündete erst das Stearinlicht an, auch ich blies die Lampe aus - etwas, was ich sonst nie, nie getan hatte, und ich habe diese Lampe viele hundertmal nachgefüllt, immer brennend.
»Wie ich mich bücke, um die einstweilen niedergesetzte Petroleumkanne aufzunehmen, mache ich eine ungeschickte Handbewegung, werfe die auf der Ecke stehende Lampe vom Tisch, im Stürzen übergießt der Inhalt des Bassins, wegen der Kürze des Dochtes also noch zweidrittel gefüllt, meine Beinkleider, ich bin bis zu den Strümpfen mit Petroleum durchtränkt, der Zylinder zerschmettert am Boden. Verstehen Sie? Hätte ich die Lampe vorher nicht ausgeblasen, würde ich jetzt rettungslos in Flammen gestanden haben. Jenes geheimnisvolle Etwas hatte es vorausgewußt, hatte mich veranlaßt, diesmal die Lampe vorher auszublasen.«
Der Erzähler schwieg. Eine Pause des Gesprächs trat ein in dem kleinen, finsteren Raume, und dann war es ein merkwürdiges Wort - nämlich des Merkens würdig - das Nobody aussprach:
»Mr. Scott, das Schicksal hat Sie noch zu etwas Großem bestimmt!«
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und auch sie war merkwürdig.
»Zu etwas Großem? Ach, Herr, wenn Sie wüßten, wie tief, tief unglücklich ich bin!!«
Stöhnend hatte es geklungen. Nobody wußte ganz bestimmt, daß der junge Mann dabei seine Hände vor das Gesicht geschlagen hatte, und einen tieferen Seelenschmerz hätte er in diese Worte gar nicht legen können.
Unglücklich? Wieso? Etwa deshalb, weil er einen Doppelgänger besaß, der ihn immer noch rechtzeitig vor jeder Gefahr warnte und behütete? Ist das nicht vielmehr ein großes Glück?
O nein! Nobody, dieser unübertreffliche Menschenkenner, Seelenbeobachter und Gedankenleser, dachte anders hierüber, und wenn er es auch nicht so leicht mit Worten ausdrücken konnte, so wußte er doch ganz genau, was jenen so unglücklich machte, und er fühlte mit ihm.
Das Köstlichste vielleicht, was der Mensch besitzt, ist seine Willensfreiheit! Das ist der Kernpunkt der ganzen Sache!
Denen, die sich mit so etwas beschäftigen, ist überhaupt bekannt, daß sich alle jene Personen, welche somnambule Eigenschaften besitzen, sich so tief unglücklich fühlen, ohne selbst den Grund hierfür zu wissen. Ja, es gibt wahrscheinlich viel, viel mehr Menschen, welche somnambul veranlagt sind, als man ahnt, aber sie hüten sich, davon zu sprechen, es ist ihr Geheimnis, vor dem sie sich selbst entsetzen, während man alle jene Medien, die daraus ein Geschäft machen und dabei dick und fett werden, von vornherein mit Sicherheit als Schwindler bezeichnen kann.
Entsetzen! Auch Scott hatte dieses Wort gebraucht, als er die Scheu näher bezeichnen wollte, die er vor seinem Doppelgänger hatte.
Dieses Entsetzen hatte eine doppelte Bedeutung. Gewöhnlich gebraucht man es doch als einen Ausdruck für den höchsten Schreck, wenn man sich im nächsten Augenblick umdreht und davonrennt, oder man ist vor Entsetzen wie gelähmt.
Man kann diesem ›Entsetzen‹ aber auch noch eine andere Bedeutung geben. So gebraucht es auch Luther wiederholt.
» ... und das Volk entsetzte sich vor ihm« ... nämlich vor Jesus, denn - »er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten.«
Da ist doch kein tödlicher Schrecken gemeint, sondern eben jene geheimnisvolle Scheu vor etwas Unbegreiflichem - es geht über die Vernunft des gesunden Menschenverstandes - deshalb will man lieber gar nichts damit zu tun haben.
Und wo in der Bibel steht einmal, daß Christus gelacht oder gelächelt hat? Aber geklagt und geweint hat er desto mehr!
So war auch der Geisterseher Swedenborg tiefunglücklich ob seiner somnambulen Fähigkeiten - bis er sie zu seinem Studium machte und seine Beobachtungen an sich selbst in jenem Werke niederlegte, das noch heute einer großen, weitverbreiteten Sekte, den Swedenborgianern, als Glaubensbekenntnis dient.
Auch sonst konnte der junge Kanadier mit dem schwedischen Gelehrten verglichen werden. War es denn glaubhaft, daß dieser junge, von Gesundheit strotzende Mann mit dem athletischen Körperbau und den energischen Zügen somnambul veranlagt sei?
Nun, Emanuel Swedenborg hätte kein Geisterseher zu sein brauchen, um sich einen unsterblichen Namen zu machen. Seine Schriften über Algebra, Planetenlauf, über Ebbe und Flut sind klassisch, ebenso wie seine geologischen Abhandlungen, und was für ein energischer Praktikus dieser Geisterseher war, das zeigte er bei der Belagerung von Friedrichshall, wo er fünf große Kriegsschiffe mittelst von ihm konstruierter Rollapparate meilenweit über Berg und Tal schaffte.
»Es ist nicht allein,« nahm Scott ohne Aufforderung wieder das Wort, »daß so mein zweites Ich aus meinem Körper heraustritt, sondern ich werde des Nachts auch von seltsamen Träumen heimgesucht. Ihren Inhalt kann ich mir nie zusammenreimen; erst wenn sich alles erfüllt, verstehe ich ihren prophetischen Inhalt, und stets packt mich neues Entsetzen. Und nun, Mister Nobody, kommen auch Sie mit ins Spiel.
»Schon vor mehreren Jahren hatte ich von Ihnen gehört, von dem berühmten Detektiv Nobody. Aber - Sie verübeln es mir wohl nicht - ich hielt Sie nur für eine stereotype Romanfigur. Trotzdem las ich immer mit Vergnügen Ihre Reiseberichte in ›Worlds Magazine‹.
»Da eines Nachts erschien mir im Traume Ihr Bild, und eine Stimme sprach zu mir: ›Das ist der Mann, der dich von deinem Leiden befreien wird, der dir auch dein verlorenes Glück zurückgeben wird.‹
»Wiederholt hatte ich denselben Traum, eine innere Stimme flüsterte mir auch im Wachen dasselbe zu, sobald ich Ihr Bild sah, wenn ich nur ›Worlds Magazine‹ in die Hand nahm.
»Zunächst hatte dies bei mir den Erfolg, daß ich mich näher über Sie erkundigte, wodurch die Ansicht schwinden mußte, Ihre Person sei nur eine erfundene Figur, und außerdem wurden Sie bald danach zum Ehrendoktor der Universität Oxford ernannt.
»Da mußte jedes Bedenken schwinden. Und die innere Stimme flüsterte mir ständig und ständig dasselbe zu, im Traume wie im wachen Zustande. Und dennoch ging ich nicht, um Sie aufzusuchen. Das ist aber nicht etwa ein Zeichen von Stärke gewesen, daß ich an solche visionäre Träume nicht glauben wollte, sondern vielmehr ein Zeichen von Schwäche, ich gestehe es ganz offen ein. Einmal hält mich eine unüberwindliche Scheu davon ab, zu irgend jemandem von meinem somnambulen Zustande zu sprechen; Bruno ist der einzige Mensch, der darum weiß. Hätte ich früher einem Fremden solche Offenbarungen machen müssen, wie ich es jetzt tue, ich hätte eher Selbstmord begangen. Der Grund zu dieser unüberwindlichen Abneigung ist mir selbst nicht ganz klar. Mit einem Wort: Dieses mein Leiden kommt mir selbst wie eine unauslöschliche Schmach vor - ganz mit Unrecht, das weiß ich wohl, aber es ist nun einmal so.
»Außerdem besteht meine Schwäche darin, daß ich mich schon auf den Rat meines Doppelgängers verlasse, daß ich ihn schon erwarte. ›Wenn es so weit ist,‹ sagte ich mir, ›dann wird mein Doppelgänger schon kommen und mich zu jenem führen. - Sagen Sie nichts, beschönigen Sie nichts, das ist eine furchtbare Schwäche von mir, ich selbst habe mich schon zum Sklaven eines fremden Willens gemacht.
»Ja, und doch kam es so! Vor sechs Wochen hielt ich mich in London auf. Zufällig hörte ich, daß der amerikanische Kapitän Brown aus Geldverlegenheit sein berühmt gewordenes Segelboot, mit dem er den Atlantic durchquert, versteigern wolle. Ich will nun nicht immer wiederholen, wie mein Doppelgänger aus mir heraustritt und das ausführt, was ich ihm dann willenlos nachmachen muß, sondern ich sage kurz: Mein Doppelgänger bestimmte mich, dieses Boot in der Auktion zu erstehen, es seetüchtig zu machen, mit allem auszurüsten, was man für eine längere Seereise braucht, und dann dieses Boot mit mir an Bord der nach New-York gehenden ›Persepolis‹ zu nehmen.
»Was ich an Bord der ›Persepolis‹ erleben würde? Keine Ahnung! Ich kam eben erst von New-York. Und da hatte mich mein Doppelgänger auf jene eigentümliche Weise veranlaßt, mir den großen Hausschlüssel wieder zu besorgen, den ich bei meinem Rechtsanwalt niedergelegt hatte, und ihn immer bei mir zu tragen. Aber wozu, das hatte mir mein Doppelgänger nicht gesagt, und man trägt doch eigentlich solch ein mächtiges Ding nicht umsonst mit sich herum, zumal zu einem Hause, an dessen Betreten man gar nicht mehr denkt.«
»Seltsam, ganz seltsam!« murmelte Nobody. »Nun, bitte, erzählen Sie weiter.«
»Menschenscheu, wie ich geworden bin, hielt ich mich immer in meiner Kabine auf. Es würde schon noch kommen, weswegen mich mein Doppelgänger gerade auf diesen Dampfer geführt hatte. Und es kam. Am fünften Tage blieb die Maschine plötzlich stehen. Auch ich eilte an Deck. Da sah ich gerade noch seitwärts vom Dampfer das führerlose Motorboot, und da hörte ich, wie Sie den Kapitän um ein Boot baten. Nun freilich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Ich offerierte Ihnen mein Boot ...«
»Verzeihen Sie - wußten Sie schon, daß ich der Detektiv Nobody sei?«
»Nein. Mit keinem Gedanken dachte ich daran. Aber als Sie sich mir dann zu erkennen gaben, war ich auch nicht im mindesten überrascht. Gut, nun hatte mich mein Doppelgänger eben doch noch zu Ihnen geführt.«
»Wußten Sie schon im voraus, daß Sie mich auch in dem Segelboote bei der Verfolgung des Motorfahrzeuges begleiten würden?«
»Im voraus wußte ich überhaupt gar nichts. Allerdings trieb mich ein unbestimmtes Gefühl dazu, Sie auf dieser abenteuerlichen Fahrt zu begleiten, doch braucht man daraus auf nichts Uebernatürliches zu schließen. Solch eine abenteuerliche Fahrt ist überhaupt nach meinem Geschmack.«
»Hatten Sie in einer Vision schon gesehen, daß der schwarze Kasten jene Leiche enthielt?«
»Das noch weniger. Auch von der Begegnung hatte ich mir nichts träumenlassen.«
»Sie zeigten sich so wenig überrascht, als sich der Inhalt der Kiste offenbarte.«
»O, Mister Nobody, wenn Sie wüßten, wie teilnahmlos ich durch meine schreckliche Gabe gegen alles geworden bin, was um mich herum passiert, und sei es auch das Wunderbarste!« erklang es niedergegeschlagen in der Finsternis.
»Aber Sie schienen doch zu erschrecken, als ich Ihnen die Skizze jenes Gesichtes zeigte, welches uns nachgeblickt hatte.«
»Ja, das war auch etwas ganz anderes. Da erhielt ich wieder einmal den Beweis, daß ich ein Geisterseher bin, der nicht unter die normalen Menschen paßt. Nun muß ich wieder von meinen Träumen beginnen, die nichts mit meinem Doppelgänger zu tun haben. Seit jenem Tage, da mir die Botschaft zuteil ward, die mein Lebensglück vernichtete und diesen Nervenzustand in mir hervorrief, erschien mir fast jede Nacht ein Bild im Traume - ein menschliches Gesicht, wie eingerahmt, verzerrt von Haß und Hohn - mit einem Wort: Genau dasselbe, welches Sie mir da zeigten! Nun können Sie sich wohl vorstellen, weshalb ich so zusammenzuckte und mich erschrocken umdrehte.«
»Seltsam!« murmelte Nobody. »Und Sie wissen nicht, wer das sein mag?«
»Nicht die geringste Ahnung. Für mich eine stereotype Traumfigur, ein Schreckgespenst, vor dem ich mich jede Nacht entsetzte, bis ich es in Ihrer Hand durch Ihren Bleistift zur Wirklichkeit werden sah. Merkwürdig ist es auch, daß es mir seitdem nicht wieder erschienen ist.«
»Sie haben keine Vermutung, daß dieser Mann, der sich doch wirklich an Bord des ›Persepolis‹ befunden hat, zu Ihnen in irgendwelcher Beziehung stehen könnte?«
»Durchaus nicht.«
»Nicht vielleicht zu ... Ihrer Braut?«
»Nein!« erklang es bestimmt.
Doch Nobody hatte diese Frage nun einmal angebrochen.
»Kennen Sie den Mann, dessentwillen jenes Mädchen Sie verlassen hat?«
»Ja. Dieser ist es nicht.«
Dann hatte Nobody diesbezüglich auch nichts mehr zu fragen.
»Nun weiter. Wie war das mit der Flaschenpost?«
»Immer dasselbe. Als Sie überlegten, wohin Sie unauffällig die Leiche bringen sollten, da erkannte ich, weshalb ich aufgefordert worden war, mir wieder den Schlüssel zu jenem einsamen Hause zu besorgen. Dann begegneten sich bei dem höflichen Gutenachtgruß zufällig unsere Hände, es griff mich furchtbar an; denn da erkannte ich mit Macht, daß ich wirklich in Ihnen den Mann gefunden hatte, der mein Retter werden soll. Und in derselben Nacht veranlaßte mich mein Doppelgänger, jenen Zettel zu schreiben und in eine Weinflasche zu stecken, das Ganze als eine Flaschenpost zu präparieren.«
»Mit der Angabe, daß die Mitteilung von dem Kapitän der ›Recovery‹ stamme?«
Die Antwort ließ etwas auf sich warten.
»Ja,« erklang es dann zögernd, niedergeschlagen. »Und nicht etwa,« wurde dann um so hastiger hinzugesetzt, »daß ich mich dadurch reinwaschen will, als hätte diese Lüge etwa mein Doppelgänger begangen, für den ich nicht verantwortlich zu machen wäre, und ich bin nur sein gewissenloser Nachbeter gewesen ...«
»Ich verstehe, ich verstehe vollkommen,« unterbrach Nobody den Sprecher, der sich selbst anklagte, was aber nur seinen edlen, offenen Charakter verriet. »Nevermind, lassen wir uns darauf gar nicht ein. Und am sechsten Tage wurden Sie veranlaßt, mir die vorgebliche Flaschenpost zu übergeben.«
»So ist es. Da sagten Sie mir die Wahrheit ins Gesicht. O, was ich in diesem Augenblicke durchgemacht habe! Ein Lügner und Betrüger, ein Namensfälscher, ich gebrauchte den Namen eines ...«
»Nevermind,« unterbrach Nobody ihn abermals, »Sie sind trotz alledem für nichts verantwortlich zu machen. Sie flohen also davon.«
»Bis ans Ende der Welt wollte ich vor meiner Schande fliehen. Als ob man dadurch seiner Schande entgehen könnte! Ich kam nur bis St. Louis. Mein Herz war zerrissen. Da las ich in einer Zeitung von der gepfändeten Nordpolexpedition, wie ein W. T. Wheeler sie ausgelöst habe, selbst die Expedition antreten wolle, und in diesem Augenblicke löste sich von mir mein Doppelgänger aus und diktierte mir jene Depesche, die ich nach St. Johns in Neufundland richten mußte.«
»Wunderbar! Wußten Sie denn, daß ich selbst dieser Wheeler war?«
»Nicht die geringste Ahnung. Dann freilich, als ich von jener unsichtbaren Macht gezwungen wurde, die Depesche zu schreiben, ging sie mir als Gewißheit auf.«
»Und wie kommen Sie nun hierher?«
»Auf Veranlassung meines Doppelgängers. Er zeigte mir den ›Polarstern‹ und Sie selbst hier in Fiskernäs an der Westküste von Grönland, und befahl mir, hierherzugehen und mich Ihnen rückhaltlos anzuvertrauen. Ich drücke mich jetzt so aus, eigentlich geschah diese Aufforderung ganz anders ...«
»Nevermind, und ich muß Ihrem Doppelgänger das Kompliment machen, daß er ein recht vernünftiger Mensch ist.«
War es nicht etwas wie Heiterkeit, welche nach dieser trockenen Aeußerung in die sonst immer so niedergeschlagen klingende Stimme gezaubert wurde?
»Ja, da haben Sie recht, viel vernünftiger als ich; denn ich hätte beinahe die größte Dummheit begangen. Zum ersten Male bäumte ich mich dagegen auf, meinem Doppelgänger zu gehorchen, und wäre Bruno nicht gewesen, diesmal hätte ich gesiegt - zu meinem Nachteil. Aber Bruno, dem ich mich stets anvertraue, ließ nicht locker, und so fuhren wir nach New-York, bestiegen den ersten Dampfer, der nach Fiskernäs ging, und ... nun bin ich hier, nun wissen Sie alles.«
Eine lange Pause trat ein. Nobody hing seinen grübelnden Gedanken nach.
»Sie sagten vorhin,« hob er dann wieder an, »als wir uns damals so zufällig die Hand gaben, als hätte das so sein müssen, da sei in Ihnen die Gewißheit entstanden, daß ich Ihr Retter sei. Inwiefern Ihr Retter? Wie stellen Sie sich das vor, daß ich Sie von diesen somnambulen Zuständen befreien soll? Sie sprachen auch von der Rückgabe des verlorenen Lebensglückes. Wie meinen Sie das?«
Anstatt eine Antwort zu hören, fühlte Nobody plötzlich eine Hand an seinem Knie, sie krabbelte an seinem Bein hinauf, und da Nobody wußte, daß sie jedenfalls die seine suchte, nahm er die Hand.
Und da kam es, was er nicht erwartet hätte.
»Ich weiß es ja selbst nicht,« erklang es in schluchzendem Tone, »mir ist ja selbst alles ein unfaßbares Rätsel - ich weiß nur das eine, daß Sie allein mir helfen können - ich weiß es, ich fühle es - verlassen Sie mich doch nicht ...«
Die Stimme konnte vor Weinen nicht weitersprechen, und auf die Hand, die von Nobody etwas weggezogen wurde, tropften heiße Tränen.
Selten war Nobody so furchtbar erschüttert gewesen als in diesem Moment! Er konnte ihn in der Finsternis nicht sehen - und er hatte ihn doch deutlich vor Augen, diesen starken Mann mit den stolzen, kühnen Zügen, wie er sich weinend über seine Hand bog, und nun diese rührenden Bitten eines hilflosen Kindes - im Augenblicke glaubte Nobody, sein eigenes Herz müsse vor Jammer brechen.
Doch er beherrschte sich. Er fühlte, daß er hier die Rolle eines Arztes zu spielen habe, eines Seelenarztes, und ein solcher darf nichts von Rührung wissen.
»Ich Sie verlassen? Ich hoffe vielmehr, daß Sie mich jetzt nicht mehr verlassen. Mein Entschluß war doch sowieso gefaßt, mich nach der von Ihrem Doppelgänger in der Flaschenpost bezeichneten Stelle zu begeben, nur daß ich aus einem ganz anderen Grunde glaubte, dort oben wirklich etwas zu finden. Ich hielt Sie eben für den Mitwisser eines Geheimnisses. Diesen Glauben muß ich nun fallen lassen. Trotzdem setze ich meine Reise nach dem 83. Breitengrade natürlich fort, Ihrem Doppelgänger vertrauend, der ja schon glänzende Proben für seine Glaubwürdigkeit geliefert hat. Hat er Ihnen denn gar nicht angedeutet, was wir dort oben im höchsten Norden finden werden?«
Nein, nichts, absolut nichts! Das Medium hatte die geographische Angabe ganz mechanisch niedergeschrieben.
»Es ist zu meinem, wie auch zu Ihrem Vorteil.«
»Auch zu meinem Vorteil?«
»Ja. Inwiefern, das kann ich Ihnen mit Worten nicht sagen. Ich ahne es, ich fühle es, ich weiß es. Mein Doppelgänger veranlaßte mich, mich mit einem vollständig ausgerüsteten Segelboote an Bord der ›Persepolis‹ zu begeben, und wäre ich nicht gewesen, so hätten Sie doch schwerlich dem Motorboote folgen können. Ist das nicht so?«
»Hm, da haben Sie allerdings recht. Und nun weiter?«
»Dann hätten Sie auch nicht die präparierte Leiche gefunden, und dieser Fund muß Ihnen, als Detektiv, doch hochwillkommen sein.«
»Hm, da haben Sie wiederum recht. Da hat mich Ihr Doppelgänger tatsächlich auf die Fährte eines Verbrechens gesetzt, wie sie sich ein tatenlustiger Detektiv gar nicht besser wünschen kann. Leider nur muß ich gestehen, daß ich hierbei ein Fiasko gemacht habe, so ziemlich das erste in meinem Detektiv leben.«
»Ein Fiasko? Inwiefern? Ja, sprechen wir jetzt doch einmal darüber. Wie weit sind Sie unterdessen mit den Recherchen über die Leiche des jungen Mädchens gekommen?«
»Die Leiche? Die ist weg. Die ist mir wieder entführt worden aus Ihrem Hause, in derselben Stunde, da Sie das Haus verließen.«
In dem finsteren Raume ward eine heftige Bewegung gemacht, jedenfalls war Scott aufgesprungen.
»Die Leiche - ist weg?!« erklang es im Tom der höchsten Ueberraschung, verbunden mit Schreck.
Nobody erzählte. Er konnte nur die Resultatlosigkeit aller seiner Bemühungen berichten.
Ja, der Champion-Detektiv hatte am Anfange der Periode, die er als eine neue Aera seines Lebens bezeichnet, ein Fiasko gemacht, aber auch ein vollständiges!!
Scott war furchtbar erregt.
»Haben Sie das Porträt des Mädchens schon in den Zeitungen mit jenem Aufruf veröffentlicht?«
»Noch nicht. Ich halte die Zeit dazu noch nicht für gekommen. Aber natürlich tue ich es, und ich werde schon einen Anhaltepunkt finden, von wo aus ich die Spur aufnehme.«
Also etwa nun die Flinte gleich ins Korn zu werfen, daran dachte unser Nobody nicht. Vielleicht vermehrte dieser erste Mißerfolg nur seine Spannkraft.
»Und haben Sie Erkundigungen eingezogen über jenen Mann, der sich an Bord der ›Persepolis‹ Monsieur Viktor Sinclaire nannte?«
»Erkundigungen habe ich wohl eingezogen, aber sie haben keinen Zweck gehabt. Die Teufelsfratze ist aus der Welt, die ich mit meinem Apparat beherrsche, wie verschwunden.«
Wieder legte sich ihm eine Hand aufs Knie, diesmal aber mit festem Griffe.
»Mister Nobody, ich versichere Ihnen - ich kann für diese meine Behauptung absolut keinen Beweis der Wahrscheinlichkeit erbringen, und dennoch versichere ich auf das bestimmteste: Dieser Mann kannte den Inhalt der schwarzen Kiste in dem namen- und führerlosen Motorboote! Dieser Mann hat die Leiche auch wieder entführt! Und mit diesem Manne werden wir auch dort oben im Norden zu tun haben!!«


Am 16. August passierte der ›Polarstern‹ wohlbehalten den 72. Breitengrad, auf welchem die ›Recovery‹ also im Anfang September vorigen Jahres eingefroren war.
Der ›Polarstern‹ hatte diese Höhe, obgleich er New-York viel später verlassen, eben eher erreicht.
Vierzehn Tage können in der Temperatur schon einen großen Unterschied ausmachen, und außerdem schmachtete die nördliche Halbkugel der Erde dieses Jahr unter einer fürchterlichen Sonnenhitze, die auch noch hier oben bemerkbar war. So hatte der ›Polarstern‹ noch immer offenes Fahrwasser vor sich, freilich schon erfüllt mit Eisschollen und Eisbergen, welche niemals wegtauten.
Die geographische Bestimmung dieses 72. Breitengrades sollte für lange Zeit die letzte gewesen sein. Während dieses Jahr in den südlichen und gemäßigten Zonen den ganzen Spätsommer hindurch eine Trockenheit herrschte, wie sie fast noch gar nicht dagewesen, begann jetzt hier oben der graue Himmel gewaltige Schneemengen herabzuschütten. Vier Tage und Nächte schneite es ununterbrochen, das war kein Schneien mehr, sondern das war ein Schneewolkenbruch. Der von der Hilfsmaschine getriebene Dreimaster fuhr nicht mehr im Wasser, sondern er würgte sich durch eine breiige Masse von Schneeschlamm.
Dennoch kam man gut vorwärts. Treibende Eisschollen konnten dem festgebauten Schiffe nicht gefährlich werden, Eisberge machen sich schon von weitem durch die ausströmende Kälte bemerkbar. Man wich ihnen aus. Die Helligkeit war in dem schleierartigen Schneegestöber in der Nacht dieselbe wie bei Tage. Denn in diesen Breitengraden ging zu dieser Jahreszeit die Sonne auch bei Nacht nicht unter den Horizont.
Die Fahrt konnte nicht direkt nördlich eingehalten werden, ging vielmehr stark nach Westen. Wohl hat die Ostküste von Grönland eine direkt nördliche Richtung - so weit man das bis jetzt bestimmt hat - aber ihr ist eine Bank von hoch sich auftürmenden Eisschollen vorgelagert, gleich von Kap Farewell an, und je höher nach Norden, desto mehr verbreitert sich diese Eisbank, also in östlicher Richtung, und ihrem Saume entlang mußte der ›Polarstern‹ fahren, natürlich noch immer in respektvoller Entfernung.
Und wenn sich diese Eisbank nun hinter das Schiff schob, wenn die treibenden Schollen festen Zusammenhalt fanden? Dann war der ›Polarstern‹ eingeschlossen. Kommen mußte das ja sowieso einmal, darauf war man gefaßt. Aber man mußte bedenken, daß dieses Jahr eben ein sehr heißer Sommer war, und es war sehr die Frage, ob nächstes Jahr sich die Eisbank auch wieder öffnete!
Doch Nobody hatte alle Bedenken der Mannschaft zu zerstreuen gewußt. Glück muß der Mensch haben, und an dieses Mannes Fersen heftete sich das Glück. Sie würden den Ausweg durch das Eis schon wiederfinden, davon waren sie alle fest überzeugt, ohne die geringste Gewähr dafür zu haben. Die Suggestion ging eben von Nobodys ganzer Persönlichkeit aus.
Scott studierte während der ganzen Fahrt in der mitgenommenen Bibliothek, hauptsächlich Polarreisen behandelnd, während Bruno, der gegen Menschen so verschlossen war wie sein Herr, sich ausschließlich mit dem Dutzend Eskimohunden beschäftigte. Auch erwähnte Scott nichts davon, daß er wieder eine seiner Visionen gehabt, und Nobody fragte nicht deswegen.
In der Nacht vom 20. zum 21. August wurde Nobody dadurch geweckt, weil er im Schlafe merkte, daß die Schraube stand. Er eilte an Deck. Es war heller, klarer Tag. Aber der Anblick der Mitternachtssonne, welche auf den Eisbergen ein wundersames Farbenspiel erzeugte, entzückte ihn nicht, denn sonst zeigte sie ihm ein böses Bild. Alles überdeckt mit einem weißen Leichentuche. Auch hinter dem ›Polarstern‹ hatte sich das Fahrwasser sofort wieder geschlossen.
Bis hierher und nicht weiter! Hier an dieser Stelle würde das Schiff den Polarwinter verbringen! Der Winter hatte sogar bereits begonnen, der bitterkalte Nordwind machte für die arbeitenden Matrosen schon das Pelzkostüm nötig, das kaum noch vom Gesicht etwas sehen ließ.
»Achtundsiebzig Grad, sechzehn Minuten, siebenundvierzig Sekunden Breite; zwei Grad, neununddreißig Minuten, fünfzehn Sekunden östliche Länge,« meldete der Steuermann, der soeben die Sonne aufgenommen hatte, also nach vier Tagen wieder zum ersten Male.
»Oestliche Länge!« betonte er nochmals. »Wir haben den Greenwicher Nullgrad überschritten.«
Nobody machte eine Bewegung der Ueberraschung, auch Scott befand sich an Deck, und die Blicke der beiden begegneten sich.
Da war es! Dieselbe Ortsbestimmung hatte die Depesche angegeben, und gerade hier war der ›Polarstern‹ eingefroren!
»Das sieht aber gar nicht danach aus, als ob sich hier noch eine freie Durchfahrt eröffnen würde,« meinte Nobody, sein Auge über die weite Fläche schweifen lassend, aus der sich nur hier und da ein kleinerer oder größerer Eisberg erhob.
»Doch - im Hundeschlitten,« entgegnete der Kanadier ruhig.
Allerdings, für eine Fahrt im Schlitten oder auf Schneeschuhen war das Gefilde jetzt wie geschaffen, selbst Schlittschuhe hätte man verwenden können, so glashart war über Nacht die Schneedecke gefroren, welche in sanften Wölbungen alle die aufgetürmten Eisschollen und Spalten überzog.
In Nobodys Kabine bei einer Polarkarte wurde das Gespräch fortgesetzt, mit Ausschluß des Kapitäns.
»War denn mit jener ›freien Durchfahrt‹ in Ihrer Depesche eine Fahrt im Schlitten gemeint?«
»Ich weiß es nicht. Aber heute nacht sah ich mich auf Schneeschuhen einen mit Eskimohunden bespannten Schlitten begleiten.«
Was sollte Nobody darauf entgegnen? Er hatte solche Visionen nie ernst genommen, er hätte sich bisher geschämt, einen Wahrsager zu befragen - und doch ... daß der ›Polarstern‹ gerade hier einfrieren mußte, das hatte wiederum einen kolossalen Eindruck auf ihn gemacht.
»Und wenn nun die plötzliche Kälte wieder nachläßt, wenn das Meer wieder auftaut? Denn wir befinden uns noch auf offenem Meere.«
»Ich weiß nur eines: wir werden die Expedition per Schlitten antreten, unser Ziel erreichen und glücklich wieder zurückkehren.«
Das war so zuversichtlich gesprochen, die träumerischen Augen blickten so ernst - Nobody gab jedes Zögern auf. Ueber der Karte wurde beraten.
Von jenem Punkte auf dem 83. Breitengrad war man von hier aus noch 5 Grade oder 75 geographische Meilen entfernt. Die Differenz der Längengrade kam hier oben nahe dem Pol, wo die Längengrade doch zusammenlaufen, gar nicht mehr in Betracht.
Sechs Eskimohunde ziehen auf mittelmäßiger Schlittenbahn 640 Pfund - das ist eine feste Norm, die der Eskimo genau innehält, wenn er seinen Schlitten bepackt, er wiegt dabei die einzelnen Stücke in den Händen ab und irrt sich um kein Pfund. Mit dieser Last legen die sechs Hunde täglich mindestens 15 Meilen (deutsche) zurück; am vierten Tage müssen sie ruhen.
Am Morgen bekommt der Hund nur einen halben getrockneten Fisch, abends muß er sich, wenn er seine ganze Kraft entwickeln soll, sattfressen können.
Wenn kein unvorhergesehenes Ereignis eintrat, brauchte man also zu den 75 Meilen sechs Tage - mit Zugabe gerechnet sieben Tage. In diesen sieben Tagen verbrauchten die sechs Hunde 200 Pfund getrocknetes Fleisch, als das kondensierteste Nahrungsmittel, die drei Menschen - Bruno sollte mitgehen - 70 Pfund. Einer der echten Eskimoschlitten, wie sich mehrere an Bord befanden, aus Knochen gebaut, nur mit Riemen unverwüstlicher Haltbarkeit, wog 40 Pfund. Wenn man ihn nun mit 400 Pfund Nahrungsmitteln belastete, so blieben noch 200 Pfund für Schlafsäcke, Waffen und andere Gegenstände.
So war die Hinfahrt vollkommen gedeckt. Aber nun die Rückfahrt? Sollte man einen zweiten Schlitten mit sechs Hunden mitnehmen? Es konnte ausgerechnet werden, daß alles stimmte, daß es auch für die Rückfahrt gelangt hätte, aber da mußte man schon geizen.
Hierüber entstand zwischen den beiden gar keine Streitfrage. Nein, es wurde kein zweiter Schlitten mitgenommen. An dem Punkte, wo man umkehrte, wurden die Hunde geschlachtet, ihr getrocknetes Fleisch nahmen die Schneeschuhläufer unter Zurücklassung des Schlittens als Proviant auf dem Rücken mit! Wenn nur jeder Polarforscher immer getrocknetes Hundefleisch hätte!
Vielleicht auch brauchten die Hunde nicht geopfert zu werden. Fortwährend hörte man die Schneefüchse heulen, man würde sie als Hundefutter zu erlegen wissen, und auch auf Eisbären konnte man rechnen. Dort saß schon einer, der den Dreimaster bewunderte.
»Wann brechen wir auf?«
»Sofort!«
Und eine Stunde später jagten die sechs vor Freude laut kläffenden Hunde wie toll über die harte Schneedecke dem Norden zu, neben dem hochgepackten Schlitten Bruno auf Schneeschuhen, die nach der langen, faulen Zeit ausgelassenen Tiere mit Leitseil und endloser Peitsche im Zaume haltend, hinter dem Schlitten Scott, gleichfalls auf Schneeschuhen, und weit, weit voraus, mehr fliegend denn laufend, Nobody auf Schlittschuhen, und die Schneefläche glich wirklich mehr einer feingekörnten Eisdecke, und Nobody machte mit den tobenden Hunden um die Wette Spektakel, nur daß er nicht bellte, sondern jauchzte.
Er war noch nicht bis zum Polarkreis gekommen. Zum ersten Male befand er sich in der Region des ewigen Eises. Und ach, war das herrlich hier!!
In großem Bogen kam Nobody zu dem Schlitten zurückgeflogen.
»Ich begreife gar nicht, warum die Kerls den Nordpol nicht erreichen können! Für mich eine Kinderspielerei! In drei Tagen will ich dortsein. Nehme nur in einer Botanisiertrommel ein paar belegte Buttersemmeln mit.«
Wohl hatte sich auch Scotts Antlitz unter der kalten Luft bei dem schnellen Lauf gerötet, aber seine Augen blitzten nicht wie die Nobodys in fröhlichster Lebenslust, es waren noch immer die traurigen, und auch für diesen Scherz hatte er nur ein trübes Lächeln.
Denn Nobody scherzte natürlich nur. Er kannte einige Männer persönlich, welche vergebens ständig und ständig rangen, das Geheimnis des Nordpols zu lösen - und was für Männer waren das! - und Nobody war doch zu wenig Optimist, um glauben zu können, daß dies immer so weiterginge!
Wenn jetzt nun Schneeschmelze eintrat? Durchbrechen konnte man nicht, aber vielleicht knietief oder auch bis zum Halse in dem Wasser waten, das auf dem nie schmelzenden Eise stand; dann war es mit den 15 Meilen pro Tag vorbei, etwa 2 Meilen pro Tag, und vom Nordpol war man von hier aus noch 150 Meilen entfernt, und dann später Gebirge mit Gletschern, Eisspalten, zu deren Umgehung man Tage, Wochen brauchte ...
Doch wozu jetzt an so etwas denken? Nobody wollte ja gar nicht den Nordpol entdecken. Jetzt war hier famose Eisbahn, und der Nordwind hatte sich gelegt, nur acht Grad Kälte - Nobody entledigte sich seiner Pelzjacke und sauste wieder voraus.
Was trabte dort über die Schneefläche? Ein Eisbär! Er hatte einen Eisberg verlassen und suchte einen anderen zu gewinnen, manchmal den Blick nach dem Hundeschlitten wendend.
Nobody dachte jetzt an keine Jagd.
»Luder, willst du weg!!«
Mit diesen Worten, mit der Faust drohend, schoß Nobody auf ihn zu.
Der Bär, ein riesiges Tier, sah ihn kommen, er setzte sich in einen kurzen Galopp, die glatte Fläche war ihm aber sehr hinderlich, und er wollte dem Menschen nur aus dem Wege gehen, die Flucht ergriff er nicht, und als er sah, daß es der Mensch direkt auf ihn abgesehen hatte, drehte er sich herum, hob sich auf den Hinterfüßen empor, die Vordertatzen zum Schlage erhoben, und stieß aus dem weitgeöffneten, mit furchtbaren Zähnen bewaffneten Rachen ein donnerndes Brüllen aus.
Im Nu war der Schlittschuhläufer dicht vor ihm, es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick dem Ungeheuer in den Armen liegen.
»Morning,« sagte Nobody, tief seine Pelzkappe ziehend.
Weiter trieb er die Begrüßung natürlich nicht, der Bär wollte ihm auch keine Hand geben, sondern er hatte schon mit der Pranke einen wuchtigen Hieb nach dem kecken Menschlein geführt, sicher in der Meinung, dasselbe nun vor sich liegen zu haben, um es verspeisen zu können.
Aber der Hieb war zehn Meter daneben gegangen, das kecke Menschlein befand sich schon hinter seinem Rücken.
Und so ging es weiter. Der gewandte Schlittschuhläufer spielte mit der Bestie, und falls diese es noch nicht wußte, sang er es ihr auch noch vor:

    »Komm doch, komm doch, kleiner Schäker,
    komm doch, komm doch, spiel mit mir.«
Zuletzt wußte der Eisbär weder aus noch ein. Das kecke Menschlein fuhr ihm immer dicht an der Nase vorbei; schlug er nach ihm, schlug er immer daneben, dann war das Menschlein ihm schon hinter dem Rücken, und von dem fortwährenden Herumdrehen mußte er ja die Schöpsdrehe bekommen, und zuletzt fuchtelte der auf dem Hinterteil sitzende Bär mit den Vordertatzen nur noch planlos in der Luft herum.
Aber für den Zuschauer sah es höchst gefährlich aus, dieses Spiel, welches der Schlittschuhläufer da mit dem mächtigen Herrn der Eisregion trieb.
»Das kann ihm übel bekommen,« sagte Bruno zu seinem Herrn. »Mag er auch noch so gewandt und besonnen sein, wenn er jetzt einen Schlittschuh ver ...«
In diesem Augenblick hob Nobody den einen Fuß, löste mit einem Druck den Halifax-Schlittschuh ab, schwenkte ihn, tanzte auf einem Beine um die Bestie herum und schlenkerte das andere in der Luft.
»Der macht schon ein ganz verlegenes Gesicht!« schrie er seinen Begleitern zu.
Ja, jetzt bekam auch Meister Petz die Geschichte satt. Er ließ das Herumfuchteln, setzte sich, unbekümmert um das dreiste Menschlein, wieder in einen Trab, dem als Ziel gewählten Eisberge zu - doch gleich war Nobody, der den anderen Schlittschuh wieder befestigt hatte, hinter ihm her und hatte ihn beim kurzen Schwanze gepackt.
Eine blitzschnelle Wendung, die man dem so plump aussehenden Tiere gar nicht zugetraut hätte, ein furchtbarer Hieb mit der Pranke - Nobody war aber noch schneller gewesen, der Hieb ging wiederum zehn Meter daneben.
Auch dies wiederholte sich noch mehrmals, bis auch dies der Bär satt bekam, er trollte weiter, wobei es bei der eigenartigen Gangart des Eisbären aussah, als ob er den Kopf schüttele.
Nobody, den Schwanz gepackt, ließ sich eine Weile unter »hüh« und »hott« fortziehen, dann zog er sein Taschenmesser, ließ eine kleine Schere herausschnappen und schnitt aus dem weißen Felle eine gute Portion Haare, und damit noch nicht zufrieden, brachte er aus der Brusttasche einen Stempel mit Farbkissen zum Vorschein und klatschte seine Firma dem Eisbären mehrmals auf den Pelz - Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, Doctor honoris causa.
Der Bär sagte und machte gar nichts mehr, er schüttelte nur den Kopf, und jetzt ließ Nobody das arme Tier endlich in Ruhe. Er kehrte zurück zum Schlitten, triumphierend die Haare zeigend und von seinem Stempel erzählend, dann weiter ausmalend, was der Jäger wohl sagen würde, welcher diesen Bären erlegte, mit der unverwischbaren Farbe abgestempelt.
Hierauf stöberte Nobody einen Eisfuchs auf, welcher ebenfalls einen Eisberg zu gewinnen suchte, der wohl allein noch Schlupfwinkel barg. Eine wilde Jagd entspann sich; Nobody wollte das Tier beim Schwanze fangen, womit der Fuchs nicht einverstanden war. An Schnelligkeit war ihm der Schlittschuhläufer bei weitem überlegen, er schnitt ihm stets den Weg ab; aber der Fuchs fühlte sich auf der glatten Fläche sicherer als der Eisbär, er schlug die schärfsten Haken, die der Schlittschuhläufer nicht einhalten konnte.
Schon gab Nobody die Jagd als vergeblich auf, er wollte zum Revolver greifen, als wie ein Pfeil ein anderer Mensch einhergeschossen kam, Scott auf Schneeschuhen. Der Fuchs kam gar nicht mehr zum Hakenschlagen, ein Griff, Scott hatte ihn beim Schwanze gepackt, und ehe der Fuchs beißen konnte, sauste er durch die Luft, und an der steinharten Schneekruste ward der Schädel zerschmettert.
Er kam auf den Schlitten, ein Futter für die Hunde am Abend.
Bei dieser Gelegenheit hatte Nobody einmal gesehen, was der junge Kanadier im Schneeschuhlaufen leistete, und sein Diener schien ihm darin nicht nachzustehen, denn auch ihm kam es nicht darauf an, wenn er auf die andere Seite wollte, gleich über den hochgepackten Schlitten hinwegzuspringen.
Und wir überspringen, wozu weniger Kunst gehört, drei Tage. Wir dürfen es, da sich nichts Besonderes ereignete, so wenig wie in den Nächten, die in den warmen Schlafsäcken verbracht wurden, umlagert und bewacht von den Hunden.
Am Abend des dritten Tages setzte ein warmer Südwind ein, der die Schneedecke erweichte, sie nach und nach in Wasser verwandelte, und das war um so schlimmer, als der nächste Tag der Ruhe gewidmet sein sollte. Die Hunde bedurften auch solcher, hatte man doch nicht nur 45, sondern schon 55 Meilen zurückgelegt, und auch die Beinmuskeln der menschlichen Läufer konnten etwas erzählen.
Das untere Plateau eines mächtigen Eisberges wurde zum Ruheplatz erkoren. Die von dem Koloß ausströmende Kälte war eine so große, daß noch in weiterem Umkreise der Schnee ungeschmolzen blieb.
Hier auch erlegte Nobody seinen ersten Eisbären, der dieses kalte, aber trockene Plätzchen nicht mit Menschen teilen wollte. Es ist hierüber nichts weiter zu sagen, als daß Nobody das abgestreifte Fell auf den Schlitten, der durch Abnahme des Proviantes nun schon sehr erleichtert, packte, in der Hoffnung, es auch per Schlitten wieder nach dem Schiff befördern zu können.
Doch würde sich diese Hoffnung erfüllen? Während des ganzen folgenden Tages hing Nobody sehr trüben Gedanken nach. Es taute mächtig, alles hatte sich in einen See verwandelt. Doch die unteren Eisschollen hielten noch zusammen, stiegen also noch nicht empor. Aber wenn dies nun geschah? Dann wurde der Eisberg zur Arche Noah und ... das andere kann sich jeder ausmalen. Dem Hungertode preisgegeben, wenn der zusammenbrechende Eisberg nicht schon vorher ein gnädiges Ende machte!
»Diese Nacht friert es wieder, um vor dem nächsten Sommer nicht mehr aufzutauen,« sagte Scott am Nachmittage.
Hatte er seinen Doppelgänger oder seine Erfahrung befragt? Der Kanadier mußte allerdings solche haben - und richtig, als Nobody auf diesem Eisberge zum zweiten Male aus seinem Schlafsack kroch, pfiff ihm ein kalter Ostwind entgegen, der über Nacht den geschmolzenen Schnee in spiegelglattes Eis verwandelt hatte.
Es war dies nicht besonders günstig. Die gekörnte Schneedecke war besser gewesen. Die Hunde konnten auf der spiegelglatten Fläche schlecht laufen. Man wußte Rat, jetzt vertauschten auch Scott und Bruno ihre Skis mit Schlittschuhen, alle drei schoben den Schlitten, und mit unverminderter Schnelligkeit ging es weiter.
Wir überspringen diesen fünften Tag der Reise. Am sechsten änderte sich die Landschaft. Die Hügel waren nicht mehr zugeschneite Eisschollenhaufen, das waren vereiste Erdhügel. Daß man unter sich festen Boden hatte, verriet auch das Fehlen der Eisberge. Und immer höher wurden die Hügel, schon mußte man Pässe suchen, und dort hinten in der Ferne stieg ein mächtiges Gebirge zum Himmel empor.
»Dort ist's vorbei mit Schlittschuh und Botanisiertrommel,« sagte Nobody gemütlich. »Nun wollen wir erst einmal sehen, wo wir eigentlich sind. Ich wittere eine recht verdächtige Nähe unseres Zieles.«
Sie machten Halt. Nobody nahm mit dem Sextanten die Sonne auf, wie er es seit heute morgen aller Stunden tat. Das letztemal waren sie noch zwei geographische Meilen von ihrem Ziele entfernt gewesen.
Das Resultat der Berechnung war gezogen.
»Nur noch fünf Sekunden fehlen daran!« flüsterte Nobody, als fürchte er, daß es ein fremdes Ohr hören könne, und so vorsichtig schaute er sich auch um.
Eine Breitengrad-Sekunde beträgt 31 Meter, so mußte 155 Meter vor ihnen der Punkt liegen, den die von Scott unbewußt geschriebene geographische Ortsbestimmung angab, wegen welcher diese ganze Expedition unternommen worden war.
»Dann werden wir es dort hinter jenem größeren Hügel finden,« sagte Soott gelassen.
»Finden - was?«
»Das weiß ich nicht, aber irgend etwas müssen wir wohl dort finden.«
Und Scott war bereits auf dem Wege, um den Hügel herumzufahren.
Hatte der eine Vertrauensseligkeit zu seinem Doppelgänger! Doch Nobody ließ ihn nicht allein gehen, er fuhr ihm nach, überholte ihn, bog zuerst um den Hügel, welcher auf der Nordseite steil abfiel und ...
Nobody bremste, daß unter seinen Füßen das Eis spritzte, und unwillkürlich riß er zu seiner Verteidigung den Revolver aus dem am Gürtel hängenden Futteral, während Mister Cerberus Mojan, wenn er dabeigewesen, jedenfalls sein Maul so weit aufgerissen hätte, daß er es niemals wieder zubekam.
Dicht vor Nobody stand eine Indianerin, mit dem auf dem Bogen liegenden Pfeile nach ihm zielend; aber nicht etwa eine Eskimofrau im Pelzkostüm - wenn man den Eskimo zu den Indianern zählen dürfte - sondern eine halbnackte Indianerin im kurzen, bunten, federgeschmückten Röckchen, auf dem Kopfe eine bunte Federkrone, Papageienfedern, und überhaupt gar keine Indianerin, sondern eine Südsee-Insulanerin in ihrem heimatlichen Putz, dem heißesten Süden entnommen, für den heißesten Süden berechnet!
Das hatte Nobody auf den ersten Blick erkannt, und auf den zweiten erkannte er etwas anderes, was ihn in vielleicht nur noch größeres Staunen versetzte, das schon mehr an Furcht und Schreck grenzte.
Er hatte kein lebendes Wesen vor sich. Diese Tochter des Südens war in einen Eisblock eingefroren, der aber durchsichtig wie Wasser war, und zwar hatte der Eisblock scharf abgesägte Seiten, also ein Würfel mit scharfen Kanten, und in diesem stand das junge Weib aufrecht, den linken Fuß etwas vorgesetzt, in der linken Hand den Bogen, mit der rechten den gefiederten Schaft des Pfeiles gefaßt und mit ihm zugleich die Sehne zurückziehend, das linke Auge etwas zugedrückt, mit dem rechten zielend, dementsprechend auch das Haupt etwas nach rechts übergelegt - eine vollkommen natürliche Stellung.
Nobody warf einen Blick um sich, kein fremder Mensch war zu sehen, keine Spur von einem solchen, und dann wandte er sich an seinen Begleiter, welcher mit über der Brust verschränkten Armen dastand und das eingefrorene Weib so gelassen betrachtete, als befände er sich in einem Wachsfigurenkabinett.
»Scott! Edward Scott!!« rief Nobody außer sich, jenen am Arm packend. »Ich beschwöre Sie - was wissen Sie von diesem künstlich eingefrorenen Mädchen - was wissen Sie davon, wie diese Wilde von einer Insel der Südsee hierhergekommen ist?!«
Der junge Kanadier hatte kein Staunen, keine unwillige oder vorwurfsvolle Gegenfrage, ruhig löste er die verschränkten Arme von der Brust, er hob die rechte Hand mit zwei ausgestreckten Fingern empor, und feierlich erklang es:
»Bei Gott dem Allmächtigen, an den ich glaube - ich weiß nichts von alledem - ich habe auch nicht geahnt, daß ich hier so etwas oder etwas Aehnliches finden würde!«
Mit einem gemurmelten ›Verzeihen Sie mir‹ wandte sich Nobody von ihm ab, nochmals musterte er die Umgebung, ging hinter die nächsten Hügel, erklomm den höchsten, hielt Umschau, und dann kehrte er zurück, um mit ruhigem Blute das Wunder näher zu untersuchen.
Es war nicht etwa eine Puppe, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Nach der schwarzbraunen Haut, der Kopfbildung und den Gesichtszügen, nach der Kostümierung und vor allen Dingen nach den vorhandenen Tätowierungen hielt Nobody sie für eine Eingeborene von den Salomons-Inseln, welche fast auf dem Aequator liegen und von einigen Geographen zum australischen, von anderen noch zum malaiischen Archipel gerechnet werden.
In Anbetracht, daß die Kinder des heißen Südens schnell reifen, schätzte Nobody das vollentwickelte Weib oder Mädchen auf höchstens sechzehn Jahre; und zeichnen sich alle diese Südsee-Insulanerinnen durch schöne Körperformen und angenehme, sanfte Gesichtszüge aus, so war dies ein ganz bevorzugtes Exemplar der Rasse.
Ihre Bekleidung bestand aus überhaupt nichts weiter als aus dem kurzen, nicht einmal bis zu den Knien reichenden Röckchen aus bunten Federn - oder die Federn von Papageien und Paradiesvögeln waren auf einen festen Stoff aufgenäht - und dann als Kopfbedeckung auf dem langen, schwarzen Haar eine bunte Federkrone. Es war die Festtracht jener Insulanerinnen, und dazu gehörte auch, daß die Haare mit Korallenschnüren durchflochten waren, gehörten die goldenen Arm-, Hand- und Fußspangen, nicht minder die großen Ohrringe.
Nun allerdings tragen diese Wilden nur messingnen Schmuck, den ihnen europäische Schiffe bringen, englisches Fabrikat, den sie blankputzen. In dem Eise hätte er sich keine Stunde so blank gehalten. Also mußten die Spangen wohl von Gold oder doch vergoldet sein. Oder man konnte ja auch eine Häuptlingstochter vor sich haben, die sich einen echten Schmuck wohl leisten kann.
Aber es war überhaupt etwas Theatralisches daran, etwas Herausstaffiertes, etwas, was wirklich an das Wachsfigurenkabinett erinnerte.
So z. B. sind die Frauen dieser Insulaner in der Führung der Waffen ganz unbewandert, und diese hier sollte sich eben als Bogenschützin produzieren. Doch sonst war alles echt an ihr, bis auf Bogen und Pfeil, die unverkennbar von den Salomons-Inseln stammten, einheimische Arbeit.
Keine Spur von Verfall! Warum atmete die Brust nicht? Warum ließ sie den befiederten Pfeil nicht entschwirren? Sie befand sich eben in einem Eisblock eingeschlossen! Und der hatte sie so gut konserviert! Selbst die kleine Narbe oberhalb des linken, runden Knies war noch ganz frisch, noch ganz frisch die leichte Verletzung an dem kleinen, nackten Fuß. Am wunderbarsten aber war das rechte, zielende Auge, wie hell das noch blickte, und nicht minder das linke, wie natürlich das blinzelte, wie die Pupille unter dem halbgesenkten Lid noch leuchtete!
»Mr. Scott, Ihr Urteil!«
»Die ist nicht zufällig eingefroren.«
»Natürlich nicht. Auch diese Leiche ist vorher künstlich präpariert worden, dann hat man sie einfrieren lassen, und zwar muß dabei eine ganz geniale Methode angewendet worden sein, um ihr diese Stellung zu geben.«
»Auch? Also ein Pendant zu jener Europäerin, die sich in dem Motorboote befand.«
»Sicher. Wir haben es mit einer Person zu tun, welche Leichen präpariert, welche mit menschlichen Körpern Experimente anstellt.«
»Und diese Person ist der Mann, welchem jenes Mephistogesicht voll Haß und Hohn angehört.«
»Sagt Ihnen das Ihr Doppelgänger?«
»Nein. Darüber äußerte ich mich schon. Nur eine Ahnung, die ich nicht loswerden kann.«
»Und mir kommt jetzt dieselbe Ahnung. Ja, aber ... wie kommt nun die Südsee-Insulanerin in dem Eiswürfel hierher auf den 83. Polarkreis? Wie ist sie hierhergebracht worden? Von wem?«
Das braune Mädchen in dem Eisblock gab keine Antwort, so wenig wie der Himmel.
Der herbeigekommene Bruno war es, welcher auf etwas aufmerksam machte, was Nobody allerdings auch sehr bald erkannt hätte.
Auch hier war der Boden mit spiegelglattem Eis bedeckt. Aber von dem Blocke aus liefen in der Eisfläche nach Norden Striche und Streifen, die man mit den Augen eine ziemliche Strecke weit verfolgen konnte, und diese glatte Ebene senkte sich etwas, der Eisblock war offenbar auf ihr gerutscht, bis eine kleine Bodenunebenheit ihn noch vor dem Hügel aufgehalten hatte.
Sie verfolgten die Spur etwa 200 Meter weit, wo sie aufhörte. Hier schien der Eisblock ursprünglich gestanden zu haben. Warum gerade hier? Wie er hierherbefördert worden war, das war aus nichts zu erkennen.
Plötzlich heulten die Hunde wütend oder auch furchtsam auf, und hätte Bruno nicht das Leitseil um die Hand geschlungen gehabt, sie wären ihm durchgegangen.
»Ein Eisbär! Er greift uns an!« rief Scott, sprang nach dem Schlitten und nahm seine handbereitliegende Doppelbüchse, während sich Nobody begnügte, seinen Revolver zu ziehen, dessen zöllige Kugel, von todsicherer Hand abgeschickt, auch für einen Eisbären genügte.
Das riesige Tier war hinter einem Hügel hervorgekommen, und es mußte von grimmigem Hunger geplagt sein, daß es so ohne weiteres sofort zum Angriff überging, zumal man annehmen mußte, daß es den Menschen noch gar nicht kannte, und der aufrecht gehende Herr der Schöpfung flößt jedem Raubtiere beim ersten Anblick Schrecken ein.
In einem kurzen Galopp eilte die Bestie auf die Menschen zu, doch sah es sehr unbehilflich, fast komisch aus, denn der Bär rutschte auf dem spiegelglatten Eis beständig aus, fiel mit der Nase auf den Boden, als wolle er einen Purzelbaum schlagen.
Scott stand mit angeschlagenem Gewehr neben Nobody. Doch da ließ er es wieder sinken, und während er mit starren Augen das ankommende Tier betrachtete, legte er seine Hand auf Nobodys bewaffneten Arm.
»So benimmt sich kein Eisbär, wenn er auf einen Menschen losgeht!« flüsterte er.
»Was sagen Sie da?« stieß Nobody erregt hervor.
Auch ihm war das Benehmen schon höchst merkwürdig vorgekommen. Er hatte ja noch keine Erfahrung mit Eisbären; aber gewiß, so tölpisch rennt wohl keiner auf Menschen zu, die er angreifen will, auf keine andere Beute. Und dieses Brummen, das klang ja eher gutmütig denn drohend!
»Dieser Eisbär ist ... gezähmt!«
Man mußte sich schnell entscheiden, ob man das furchtbare Raubtier als Freund oder Feind empfangen wollte; keine fünfzig Schritt war es mehr von ihnen entfernt, und nun stelle man sich vor, um was es sich hier handelte.
»Ich riskiere,« sagte Scott, die Büchse auf den Boden legend. »Nobody, bleiben Sie mit dem Revolver hinter mir, oder nehmen Sie lieber mein Gewehr, es ist schon entsichert, zuletzt muß sich der Bär unbedingt doch noch auf den Hinterfüßen aufrichten, oder es ist kein Bär, und dann ...«
»Halt! Das überlassen Sie mir, ich werde das Tier empfangen!«
Und schon war Nobody einige Schritte vorausgeeilt, dort blieb er stehen, in der rechten Hand den schußbereiten Revolver, die linke gebieterisch ausgestreckt.
»Where is your master? Wo ist dein Herr!«
Dabei hatte er sein Auge fest auf die des Tieres gerichtet, er konzentrierte seine Willenskraft, und Nobody hatte schon oft genug bewiesen, daß seinem machtvollen Blicke auch der bissigste Hund, jedes ihm in der Wildnis begegnende Raubtier erlag.
Aber diesmal mißglückte das Experiment. Im nächsten Moment hatte der Bär ihn erreicht, und er kümmerte sich nicht um den machtvollen Blick, im Nu hatte er sich aufgerichtet, um den Menschen mit seinen Pranken zu umarmen ... und da lag Nobody auch schon am Boden!
Doch nichts weiter als ein rauher Zungenschlag ins Gesicht, dann hatte das riesige Tier unter einem lauten Grunzen, das aber eher wie ein Jauchzen klang, auch Mr. Scott zur Strecke gebracht, und als Nobody, im Liegen seinen Revolver sichernd, sich wieder aufrichten wollte, wurde er abermals mit einem kosenden Tatzenhieb zu Boden geschleudert, und dann war das vor Freude ausgelassene Ungeheuer wieder über Scott, und dann wußte er Nobodys Aufstehversuch abermals zu vereiteln, und es genügte noch nicht, daß sich nur diese beiden Menschen auf dem glatten Eise herumkugelten, die sechs Hunde gebärdeten sich wie wahnsinnig, sie wollten auf den Bären los; aber der hundekundige Bruno erkannte sofort, daß das keine Kampfeswut war, sondern die hatten mit ihrem Tierinstinkt nun auch schon den Charakter des Bären erkannt, die wollten mitspielen, und sie ließen sich nicht mehr halten, und Bruno fürchtete für den Schlitten, so gab er durch den Ruck einer einzigen Leine sämtliche sechs Hunde einzeln frei. Und nun die sechs Hunde los auf den Bären, Bruno wurde zu Boden gerissen, und es bildete sich ein balgender Haufen von sechs Hunden, drei Menschen und einem Eisbär, und alles bellte, heulte, lachte und grunzte vor Vergnügen.
»Gott's Wetter!« lachte Nobody, als es ihm gelungen war, sich zu retirieren. »Also auf diese Weise wird man am Nordpol empfangen!«
Jetzt hatte es der auf dem Rücken liegende Bär nur noch mit den ihn am Pelze zausenden Hunden zu tun, er wehrte sich, warf sie mit den Pranken hin und her, spielte Fangeball mit ihnen. So konnten sich auch die beiden anderen aufrichten, und als Scott es tat, sah und hörte Nobody diesen Mann zum ersten Male aus vollem Halse lachen.
Bruno hatte die Peitsche genommen und bearbeitete die Hunde, auch der Bär bekam einige Hiebe ab, und siehe da - allerdings nahm er sie nicht geduldig hin, schnell sprang er auf, aber nur, um zu einem anderen Menschen zu fliehen, der keine Peitsche in der Hand hatte, zu Nobody, kroch zu seinen Füßen, benahm sich ganz wie ein Hund, so halb ängstlich, halb freudig.
Die Hunde waren wieder eingespannt, und das Lachen war verstummt. Mit bedeutsamen Blicken, welche mehr sagten als Worte, sahen sich die beiden Männer an.
Dann streichelte Nobody den Kopf des gewaltigen Tieres.
»Wo ist dein Herr?«
Sofort erhob sich der Eisbär, trabte nördlich davon, schaute sich um, kam auch die Hälfte des Weges wieder zurück - benahm sich ganz wie ein kluger Hund, der zum Mitgehen auffordert.
»Wir sollen ihm folgen.«
Und sie folgten ihm.
»Sein Herr ist ein Engländer oder spricht doch zu dem Bären auf englisch,« sagte Nobody nur noch, dann nichts weiter. Aber es läßt sich wohl denken, was in den drei Männern vorging, als sie dem vierbeinigen Führer folgten.
Zu wem würde er sie führen? Was würden sie zu schauen bekommen? Was für ein Mensch konnte es sein, der hier oben auf dem dreiundachtzigsten Breitengrade im ewigen Schnee und Eis hauste? Ein Eskimo ganz sicher nicht, der hätte zu dem dressierten Eisbären nicht Englisch gesprochen, und schon dessen Abrichtung war ein Wunder zu nennen.
Das Ziel sollte nicht so bald erreicht werden. Eine gute halbe Stunde trabte der Bär voraus, der sich also sehr weit von dem Orte, wo er sich für gewöhnlich aufhielt, entfernt haben mußte. Vielleicht auch war er zur Bewachung des eingefrorenen Weibes dort postiert gewesen, allerdings wohl nicht zur Abwehr von Menschen, bei deren Anblick er ja ganz außer sich vor Freude gewesen war.
Doch durfte man aus dem Benehmen dieses gezähmten Raubtieres auf den Charakter seines Herrn schließen? Das war sehr die Frage!
Immer wilder wurde die Gegend, die erst einzelnen Hügel vereinten sich zu einem zerklüfteten Gebirge. Aber der Bär wußte immer Wege und Pässe zu finden, bei deren Ueberwindung der Hundeschlitten nur wenig Schwierigkeiten hatte.
Und dann, als sie hinter einer Bergwand hervorbogen, zeigte sich ihnen ein Naturphänomen, dessen Erklärung sie nicht sogleich fanden.
Ganz sicher hatten sie festes Land unter ihren Füßen. Daß der Boden aber irgendwo zum Vorschein kam, davon konnte natürlich keine Rede sein. Man muß bedenken, daß, seitdem die Erde vor ungezählten Jahrtausenden an ihren Polen erkaltete und schließlich vereiste, hier oben sich unaufhörlich die Schneemassen ansammeln, ohne jemals wieder zu verschwinden. Wohl tauen sie einmal oberflächlich etwas ab, es mag auch etwas bei trockener Witterung verdunsten, sonst aber müssen noch die gesamten Schneemassen hier liegen, welche seit jenen ungezählten Jahrtausenden, vielleicht Jahrmillionen, vom Himmel herabgekommen sind. Dieser Ursache schreiben Geologen und Astronomen auch die sich nach und nach bemerkbar machende Veränderung der Jahreszeiten für die ganze übrige Erde zu, denn diese einseitige Anhäufung von gewaltigen Gewichtsmassen muß unbedingt das Gleichgewicht verschieben, die Achsenlage und Rotation der Erde muß nach und nach eine andere werden, die Regenmenge in den anderen Zonen spärlicher, usw. (Doch brauchen die Regenschirmfabrikanten noch keine Sorge zu haben, so schnell geht das nicht!)
Der laue Südwind, der vor einigen Tagen wehte, hatte die obere Schneekruste zum Schmelzen gebracht, auch hier im Gebirge, so war jetzt alles mit einer Eiskruste bedeckt, überall hingen mächtige Eiszapfen. Nur in geschützten Spalten und auch auf den Nordseiten der Berge war noch richtiger Schnee zu finden. Hieraus erklärte sich auch die Beschaffenheit des wasserhellen Eisblocks. Auch er mußte - vorausgesetzt, daß er zur Zeit des starken Schneefalls schon dort gestanden hatte - sich mit Schnee bedeckt haben, der war durch den Südwind weggeschmolzen, aber das Eis bot viel mehr Widerstand, nur die Kanten waren ein klein wenig abgerundet worden, dann trat wieder Kälte ein, ohne neuen Schnee zu bringen.
Und nun plötzlich, nach Umgehung einer Eismauer, zeigte sich den erstaunten Augen in der weißen Eiswüste ein hoher Berg, dessen dunkle Farbe von der zutage tretenden Erde und von Felsmassen herrührte.
Dieser Anblick wirkte so überraschend, so bestürzend, daß alle drei gleich Halt machten, ihre Füße wollten nicht weiter, sprachlos vor Staunen standen alle drei da.
Dann freilich hatten die beiden gebildeten Männer schnell ein Urteil gefunden.
»Ein Vulkan!!« riefen Nobody und Scott wie aus einem Munde.
»Ein Vulkan? Der raucht ja nicht einmal,« meinte Bruno.
»Das ist auch nicht nötig,« wurde ihm erklärt, »es gibt genug Vulkane, welche nicht als erloschene zu bezeichnen sind, welche noch glühende Lavamassen bergen, die sie aber nur zuzeiten oder überhaupt niemals auswerfen.«
So einen hatte man unbedingt vor sich. Allzu groß konnte die ausstrahlende Wärme des inneren Feuers nicht sein; denn beim Näherkommen erkannte man, daß auf dem Berge noch genug Schneemassen lagerten, nur auf den geneigten Flächen war der getaute Schnee abgeflossen, hier und da hatten sich auch kleine Gletscher gebildet. Doch sonst traten überall nackte Felsen und Erde zutage. An eine Vegetation ist in dieser Region nicht zu denken, und sei der Boden unterirdisch auch noch so gut geheizt, und die ausstrahlende Wärme des Berges konnte nur eine ganz geringe sein, denn schon in der nächsten Nähe war der Boden wieder mit festem Eis bedeckt.
Dieser Berg war ganz sicher das Ziel, dort konnte man sich die Behausung eines Menschen vorstellen, hier mußte er auch vor der grimmigsten Kälte des Polarwinters geschützt sein, man brauchte nur an eine tiefe Höhle zu denken.
Richtig, der führende Bär, von Nobody dicht gefolgt, bog um eine vorspringende Ecke und verschwand in dem Eingänge einer finsteren Höhle.
Auch in seinem Pelzkostüm hatte Nobody seine kleine Benzinlaterne mit magnetoelektrischer Zündung bei sich, er ließ sie aufflammen, im Scheine des breiten Blendstrahles erkannte er, daß es ursprünglich wohl eine natürliche Höhle war, die Wände von Basalt, aber auch der Meißel eines Menschen hatte viel mitgeholfen. Der ebene Boden stieg nach hinten etwas an, infolgedessen war er vollkommen trocken, nur der Bär hatte eine nasse Spur hinterlassen; der an seinen Sohlen haftende Schnee war augenblicklich geschmolzen, ein Zeichen, daß der Boden sehr warm war, wenn auch nicht die Höhle selbst, zu der ja die bitterkalte Außenluft ungehinderten Zutritt hatte.
Im Hintergrund stand der Bär an der Wand aufgerichtet, Nobody sah noch, wie er die Klinke einer eisenbeschlagenen Tür aufdrückte, was ja jeder große Hund ohne Dressur lernt, das riesige Tier lehnte sich dagegen, die Tür ging auf, und Nobody wurde von einer wahren Backofenhitze getroffen, die ihm aus der Finsternis entgegenschlug.
Doch diese übermäßige Hitze war nur eine Täuschung, wie es sich später erwies. Das Thermometer zeigte nirgends mehr als eine Temperatur von 18 Grad Celsius - eine ganz angenehme Wärme.
Die schwere Tür war auf schrägen Fall gebaut, sie hätte sich von selbst wieder geschlossen, wenn Nobody sie nicht aufgehalten hätte. Innen war wieder eine Klinke, außerdem steckte im Schloß ein großer Schlüssel, den sich Nobody gleich aneignete. Falls der Bär nicht imstande war, die Tür auch von innen zu öffnen, wobei er sie also zurückziehen mußte, was für die Pfote eines Tieres doch Schwierigkeiten bietet, so mußte er von einem Menschen herausgelassen werden. Und welchen Menschen würde man finden? Nun, das mußte sich ja gleich zeigen.
Wenige Worte der Verständigung, und auch Scott trat ein, während Bruno draußen am Schlitten blieb, unauffällig den geladenen Revolver in Bereitschaft.
Die Lampe erleuchtete die Fortsetzung der Höhle, die also nur eine Scheidetür erhalten hatte. Dann war nur noch an der Seite eine zweite Tür vorhanden, kleiner und aus Holz. An dieser kratzte winselnd der Bär, drückte auch an der Klinke, doch im Schlosse steckte ein Schlüssel, den Nobody erst herumdrehen mußte, was der Bär nicht fertig brachte.
Was sich nun zeigte, konnte die staunende Bestürzung der Eindringlinge nur vermehren.
Es war ein geräumiges Gemach, als Arbeitszimmer und Laboratorium eines Chemikers und wohl auch experimentierenden Physikers eingerichtet.
Wir können hier die Ausstattung eines Laboratoriums nicht näher beschreiben. Bemerkt sei nur, daß es nicht etwa so ein altertümliches Studierzimmer eines Dr. Faust oder Alchimisten war, angefüllt mit in Spiritus gesetzten Mißgeburten, mit unheimlichen Maschinerien und anderem Teufelszeug, sondern ein modernes Laboratorium, in dem eine musterhafte Ordnung und Sauberkeit herrschen muß.
Nun aber auch ein erstklassiges Laboratorium, das sich dem staunenden Auge hier oben im ewigen Eis zeigte! In Glasschränken wohlgeordnet alle Chemikalien, die man zur qualitativen und quantitativen Analyse braucht, dazu die sämtlichen notwendigen Apparate, vor allen Dingen eine Wage, die durch eine sogenannte Reitervorrichtung das Ablesen eines tausendstel Milligrammes gestattete - wenn, wie bei dieser hier, alle Achsen auf Diamanten gelagert sind, so repräsentiert eine solche chemische Wage ein großes Vermögen - Retorten, Phiolen, Kochflaschen, Porzellanschalen, und alles in sauberster Ordnung gehalten, am Experimentiertisch Gebläse und Luftpumpe, eine Abdampfvorrichtung, Säureausguß, Giftraum - es fehlte überhaupt absolut nichts!
Nur Gas war nicht vorhanden. Aber das kann vollständig durch Spiritus in der Berzeliuslampe ersetzt werden, alte Praktiker der Chemie ziehen es sogar dem Gas noch immer vor, besonders im Gebläse, um die höchsten Temperaturen zu erzielen.
Dafür aber waren in dem fensterlosen Raume, der nur verschiedene Ventilationsröhren aufwies, zahlreiche elektrische Glühlampen angebracht, was Nobody nun vollends kopfscheu machte
Woher kam die Elektrizität? Die grünumsponnenen Drähte verliefen in einem hölzernen Kasten. Nobody nahm den Deckel ab, er sah einen kleinen Elektromotor. Doch dieser, welcher das Gebläse, die Luftpumpe und andere physikalische Apparate trieb, erzeugte die Kraft nicht selbst. Er erhielt die Elektrizität aus einem zweiten Kasten, in dem Nobody eine Batterie von Akkumulatoren sah, und auch diese Batterie mußte doch erst gespeist werden. Gegenwärtig war sie ungeladen, die Birnen wollten nicht erglühen.
Ein starkes Kabel ging durch die Felsenwand, in die auch eine zweite Tür eingelassen war. Sie führte in das theoretische Arbeitszimmer des Gelehrten, ausgestattet mit großem Schreibtisch, die Wände mit Büchern besetzt, deren Titel meist chemische Werke anzeigten, sowohl in englischer, französischer, deutscher als auch in lateinischer Sprache.
Auf dem Studiertisch lag nichts Geschriebenes, die Fächer waren verschlossen. Nobody schob die nähere Untersuchung für später auf, jetzt wollte er erst das Kabel verfolgen, welches nochmals die Wand durchbrach.
Der nächste Raum war nur eine nackte Kammer, in der Ecke befand sich am Boden ein Loch von etwa zwei Meter Durchmesser, in dieses lief das an der Wand befestigte Kabel, hier aber mit einer Kautschukhülle umkleidet.
»Ein Brunnen!«
Der Blendstrahl der Laterne zeigte kein Wasser, keinen Boden. Aber da hing ein Seil, daran ein kupfernes Gefäß befestigt. Nobody ließ es hinab, bei etwa zehn Meter Tiefe fand es Widerstand, senkte sich nicht weiter. Nobody ließ das Seil auf und nieder spielen, zog es wieder herauf, das Gefäß hatte sich mit Wasser gefüllt. Nobody kostete es.
»Salzwasser! Bitteres Seewasser!«
So stand dieser Berg trotz seiner inneren Wärme, die nur vulkanischen Ursprunges sein konnte, durch einen unterirdischen Tunnel mit dem Meere in Verbindung, das Wasser drang bis hierherein!
Wohin aber führte das Kabel? Woher holte es die Elektrizität? Wo und wie wurde diese erzeugt?
Sprossen und dergleichen gab es nicht. Nobody würde auf andere Weise hinabzudringen wissen, er würde schon ein starkes Seil auftreiben.
Zunächst aber wollte man sich noch einmal der Führung des Eisbären überlassen, der sich doch nicht umsonst so auffällig benahm. Er hatte immer nur darauf gewartet, daß man ihm die Türen öffnete, jetzt war er durch eine unverschlossene Oeffnung verschwunden, kehrte zurück, schien die beiden Männer aufzufordern, ihm zu folgen, lief wieder davon, kehrte abermals zurück, packte Nobody sogar beim Pelzrock und zog ihn fort.
Man folgte dem klugen Tiere. Ein langer Gang kam, in dem die Wärme fast bei jedem Schritte merklich abnahm. Noch eine Tür, die der Bär selbst öffnen konnte, und man befand sich in einem weiten Raume, angefüllt mit Kisten und Kästen und Fässern aller Art, jedenfalls Proviant, der bei der herrschenden Temperatur von nur 4 Grad Wärme, wie ein an der Wand hängendes Thermometer angab, zu seiner Erhaltung die günstigsten Bedingungen hatte.
Auf Simsen standen eine Unmenge von gefüllten Einmachegläsern - genau dieselben, wie man sie in jenem Motorboote gefunden hatte!
Die beiden Männer sahen sich an, aber sie sagten nichts. Und der Bär hatte noch keine Ruhe, er wollte den beiden fremden Menschen noch etwas anderes zeigen.
Wiederum ein langer, langer Gang, und immer kälter wurde es, von der Decke hingen lange Eiszapfen herab. Nobodys kleines Thermometer zeigte schon 6 Grad Kälte; wieder eine Tür, die der Bär vergebens zu öffnen suchte, Menschenhand brachte es fertig. Eiskälte drang ihnen entgegen, und ...
Die weite Halle war ein Völkermuseum, das alle Menschentypen der ganzen Erde präsentierte, lauter solche gesägte Eisblöcke, darin stets ein oder auch mehrere Menschen eingefroren!
Des Detektivs Falkenauge zählte im Augenblick siebzehn solcher Eisblöcke, an den Wänden oder auch in der Mitte des Saales aufgebaut.
Hier ein Spanier in phantastischem Kostüm, wohl ein Bandit, der sich eine Zigarette drehte, und selbst das dünne Zigarettenpapier war in dem Eise wohlerhalten; dort ein nackter Papuaneger mit künstlicher Frisur, die Kriegskeule schwingend; in der Mitte eine ganze Gruppe, fünf indische Gaukler, mehrere Brillenschlangen nach der Pfeife tanzen lassend; daneben ein einzeln eingefrorener Europäer, sicher ein Engländer im Tropenkostüm, das Opernglas vorm Auge, den Schlangenbändigern interessiert zusehend; dahinter eine junge Dame in eleganter Toilette, den Fuß auf einen Stein gestellt, sich niederbeugend, um die Schnuren des Lackstiefelchens zu binden; dort links ein alter Indianer mit Skalplocke, einen Hirsch ausweidend; daneben ein blondlockiger Knabe, mit dem Netze einem Schmetterlinge nachjagend ...
Wir können nicht jede einzelne der siebzehn Figuren und Gruppen beschreiben. Auch Nobody hätte es nicht in seinem Tagebuche tun können; denn gleich nach dem ersten, allgemeinen Ueberblick wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes gefesselt, und dann später sollte er keine Zeit mehr zu einer genaueren Besichtigung haben.
Der Bär war gleich auf einen großen Haufen von Eisbruchstücken losgestürzt und begann unter Winseln die einzelnen Stücke mit der Pranke zur Seite zu schleudern.
Unter diesem Trümmerhaufen lag etwas verborgen, was der Bär heraus haben wollte, und Nobody erkannte gleich die Ursache dieses Trümmerhaufens. Ueber demselben hing an der Decke ein dicker Strick, der offenbar gerissen war. Auch das war ursprünglich solch ein großer Eisblock gewesen, er hatte dort oben an der Decke gehangen, war herabgestürzt und am Boden zerschmettert.
Vor allen Dingen mußte man untersuchen, was der Bär unter diesen Trümmern witterte oder schon wußte. Man war ihm behilflich, die Eisstücke zur Seite zu räumen; bald kam ein Stiefel zum Vorschein, das Bein eines Mannes, jetzt konnte man den ganzen Mann mit leichter Mühe hervorziehen - einen Arbeiter in dicker Wolljacke, ein blondhaariger Europäer mittleren Alters, durch das Eis völlig gut erhalten, aber der Brustkasten eingedrückt.
Daß der Mann sich schon als präparierte Leiche in dem Eisblock befunden hatte, das hielt Nobody für ausgeschlossen. Eine Eissäge erzählte ihm auch noch mehr. Dieser Mann mit den schwieligen Händen hatte eben an dem an der Decke hängenden Eisblock gearbeitet, dieser war herabgestürzt und hatte ihn zerschmettert. Wohl also war er hier zu Hause, aber den Gelehrten, der dort im Laboratorium experimentierte, hatte man sicher nicht vor sich, sondern eben nur einen Hilfsarbeiter, vielleicht den ...
Nobody brach erschrocken in seinen Kalkulationen ab. Sein Blick war zufällig auf seinen Begleiter gefallen ... und da stand dieser unter den wie lebendig erscheinenden Toten, als lebendiger Mensch mehr wie ein Toter erscheinend, das sonst so gesunde Gesicht plötzlich leichenfarben, die stieren Augen weit hervorgequollen, überhaupt einen wahrhaft entsetzlichen Eindruck machend, den man gar nicht beschreiben kann. Eben ein aufrecht stehender, schon in Verwesung begriffener Leichnam.
»Um Gottes willen, Scott, was ist Ihnen?« Doch der zur Leiche erstarrte Mann regte sich nicht, gab keine Antwort. Nobody folgte der Richtung der fürchterlich stieren Augen - sie waren auf den toten Arbeiter geheftet, das konnte der Grund nicht sein - da fiel es Nobody ein, daß Scott jetzt eine seiner Visionen haben könnte - und als er das dachte, da kehrte auch schon mit der gesunden Gesichtsfarbe das Leben wieder zurück, aber nur, um einem Ausdruck von Furcht und Schreck Platz zu machen.
»Fort, fort von hier!« stieß Scott in wahrhaft wahnsinniger Furcht hervor, und schon wandte er sich zur Flucht.
Noch einmal gelang es Nobody, ihn aufzuhalten.
»Was haben Sie gesehen? Was hat Ihr Doppelgänger gesagt?«
Aber Scott wollte sich nicht halten lassen.
»Fort von hier!! Oder es ist unser Tod! Ich sah Sie und auch mich selbst in solch einem Eisblock eingefroren! Mehr kann ich jetzt nicht sagen! Fort, nur fort von hier, oder wir sind verloren!!«
Und da plötzlich fühlte auch der sonst so eiserne Detektiv, der für gewöhnlich sicher nichts von Furcht wußte, wie sich ihm das Haar unter der Pelzkappe sträubte; und man vergegenwärtige sich nur die Situation und die ganze Umgebung, um das begreiflich zu finden, und Nobody, den Kopf gewendet haltend, blickte gerade in das Antlitz der jungen Dame, jedenfalls eine pikante Französin, welche ihre Augen nicht auf den Fuß gerichtet hatte, dessen Schnuren sie band, sondern so kokett, wie sie dabei das Spitzenkleid raffte, um den durchbrochenen Strumpf zu zeigen, unter dem es verführerisch weiß leuchtete, so kokett lächelte sie dabei auch den Beobachter an, und das konnte doch überhaupt keine Leiche sein ...
»Das junge Mädchen, welches übrigens gar nicht tot ist,« hörte Nobody eine schreckliche Stimme sagen, jene Worte, die mit Maschinenschrift statt der entführten Leiche zurückgelassen worden waren, und ... kurz und gut, Nobody fühlte es plötzlich eiskalt über seinen Rücken hinablaufen, er selbst fühlte sich schon in solch einem Eisblock sitzen, und er schloß sich dem fluchtähnlichen Rückzüge seines Begleiters an, nur dafür sorgend, daß die Türen immer so geschlossen wurden, wie er sie gefunden hatte.
»Dortheraus würde unser Verderben kommen, wenn wir noch länger hier verweilten!« flüsterte Scott, beim Passieren jener kleinen Kammer mit furchtsamer Scheu auf das Wasserloch deutend, und Nobody glaubte ihm.
Draußen stand noch Bruno mit dem Schlitten; dieser wurde gewendet, und zurück ging es nach dem Süden, immer noch fluchtähnlich, und auch bei der eingefrorenen Südsee-Insulanerin ward kein Aufenthalt gemacht.
Nobody sagt in seinem Tagebuche, er habe es nie bereut, der Warnung seines Freundes so ohne weiteres Gehör geschenkt zu haben, ganz abgesehen von seinem eigenen Gefühle. Er nennt es keine Schwäche, gar nicht versucht zu haben, das Rätsel zu lösen, obgleich ihm doch der Schlüssel fast so gut wie in die Hand gegeben worden war.
Einmal hatte er von der Glaubwürdigkeit der Prophetengabe seines Freundes schon zu überzeugende Beweise bekommen, und dann mußte man auch die ganze Situation erwägen. Der Gelehrte, der dort oben im ewigen Eis und Schnee sich ein Laboratorium eingerichtet hatte, das war doch kein gewöhnlicher Mensch; wer wußte, was der für Hilfsmittel besaß, um fremde Eindringlinge in sein geheimnisvolles Reich zu vernichten oder doch festzuhalten, unschädlich zu machen - nein, Nobody hatte ganz richtig gehandelt, als er der Warnung seines Begleiters Gehör geschenkt!


Wir wollen dieses Kapitel, welches Nobodys erste Polarexpedition erzählt, so kurz wie möglich beenden.
Eine Zeit der furchtbarsten Strapazen folgte; Nobody sollte noch auskosten, was solch eine Polarreise zu bedeuten hat, er hatte das Schicksal mit seiner ›Botanisiertrommel und belegten Brötchen‹ spottend herausgefordert.
Anstatt sieben Tage brauchte man zur Rückfahrt auf Schneeschuhen nach dem Orte, wo der ›Polarstern‹ eingefroren war, drei Wochen. Ununterbrochener Schneefall trug schuld an dieser Verzögerung. Die drei Männer kamen richtig ohne Schlitten an, ohne einen einzigen Hund: man hatte alle geschlachtet und gefroren auf dem Rücken getragen, das letzte Pfund Fleisch war aufgegessen, und ... vom ›Polarstern‹ war keine Spur mehr zu sehen!
Zwei Tage lang eilten sie kreuz und quer über die Schneeflächen, ohne den Dreimaster zu finden, und hätten sie nicht zufällig das Winterlager einer Eisbärin mit ihren Jungen entdeckt, die sie erlegten, so wären sie des Hungers gestorben.
Mit gefrorenen Fleischstücken schwer bepackt, auch noch mit den Schlafsäcken belastet, traten die Schneeschuhläufer den Landweg an. Erst hinüber nach der Ostküste von Grönland, an dieser gegen zweihundert deutsche Meilen entlang, dann quer durch Grönland nach der Westküste.
Am zweiunddreißigsten Tage der Wanderung, von dort aus, wo der ›Polarstern‹ eingefroren gewesen, erreichten sie Fiskernäs, vor Hunger und Erschöpfung halbtot, und hätten sie nicht ab und zu eine Möwe geschossen, deren zähes, traniges Fleisch sie mit den Zähnen zerrissen, sie wären überhaupt nicht nach Fiskernäs gekommen. Nicht einmal mehr einen Polarfuchs hatten sie gesehen, viel weniger einen Bären. In Fiskernäs wollte man gar nicht glauben, daß die drei Männer auf Schneeschuhen zu dieser Zeit nur von der Ostküste herübergekommen seien, geschweige denn vom 83. Breitengrad, wovon auch gar niemandem etwas erzählt wurde.
So war es also Ende Oktober, hier schon vollständiger Winter, der aber doch noch eine Aenderung zulassen konnte. Diese trat denn auch ein. Allerdings nicht Wärme, sondern eine von heftigem Sturme begleitete Springflut brach noch einmal die Eisdecke im Hafen, dies benutzte ein sich verspätet habender New-Yorker Fischdampfer, der schon eingefroren war, zum Versuch, noch das freie Meer zu gewinnen. Nobody und seine Begleiter begaben sich noch rechtzeitig an Bord, der Versuch gelang, acht Tage später trafen sie wohlbehalten in New-York ein.
Von dem ›Polarstern‹ war nichts bekannt, was auch gar nicht der Fall sein konnte. Wollen wir das Schicksal des Schiffes und seiner Mannschaft, für welche Nobody natürlich eine große Verantwortung fühlte, gleich hier erledigen.
Jener laue Wind, der drei Tage nach der Abfahrt des Schlittens geweht, hatte den ›Polarstern‹ zwar nicht befreit, wohl aber das Eis an vielen Stellen gebrochen, es herrschte eine starke Strömung nach Süden, das machtlos in einer Eisscholle sitzende Schiff wurde mitgetrieben, viele Tage lang, bis es auf dem 71. Breitengrade zum Stillstand kam, freilich für den ganzen Winter.
Dieser wurde gut überstanden, im Mai des nächsten Jahres kam der ›Polarstern‹ frei, Ende desselben Monats traf er wieder in New-York ein, zu einer Zeit, als Nobody von London aus eine Hilfsexpedition abzuschicken beschloß.
Er war glücklich, es nicht tun zu brauchen, und Kapitän und Mannschaft freuten sich nicht minder, daß der Mr. Wheeler noch am Leben war; denn nun wurde das Verhältnis unter dem Klänge von goldenen Münzen zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst.


Doch so weit sind wir noch nicht in der Zeit. Dieses halbe Jahr sollte für Nobody vielmehr ein sehr taten- und abenteuerreiches werden.
Wir versetzen uns in die kleine Kajüte, welche der Kapitän des Fischdampfers seinen drei Passagieren zur Verfügung gestellt hatte.
Für Nobody hatten einige reichliche Mahlzeiten genügt, um ihn völlig wiederherzustellen, auch der stählerne Körper des jungen Kanadiers hatte allen Strapazen getrotzt, nur Bruno mußte ein erfrorenes Ohr und zwei Finger mit dem probaten Katzenfett einsalben.
Die beiden, welche sich jetzt Freunde nannten, wenn sie nach englischer Sitte auch noch immer eine gewisse Förmlichkeit zwischen sich aufrecht erhielten, befanden sich allein in der Kajüte, in der es bei der Lampe recht traulich war, während der Dampfer von einer wilden See geschleudert ward.
Nobody vertraute seine Erinnerungen dem Tagebuche an, Scott las wie gewöhnlich, und als der Schreiber einmal aufsah und überlegend mit gerunzelter Stirn den Rauchwölkchen seiner Zigarre nachblickte, legte auch der Leser sofort, als hätte er auf diese Gelegenheit nur gewartet, sein Buch hin.
»Sie sind wohl recht unzufrieden mit mir?« fragte er leise.
Ueberrascht wandte sich Nobody ihm zu.
»Inwiefern, Edward? Ich wüßte nicht den geringsten Grund dazu.«
»Weil ich Sie in dem Augenblicke, da Sie glauben mußten, den Schlüssel zu dem Rätsel in der Hand zu haben, wieder fortzog, fast mit Gewalt.«
Es war das allererstemal, daß die beiden wieder davon sprachen. Während der fürchterlichen Schneeschuhpartie hatten sie entweder zwischen den Zähnen den Fuchsschwanz gehabt, durch den sie atmeten, oder sie hatten im zugezogenen Schlafsack gesteckt, da hatten sie an so etwas überhaupt gar nicht gedacht, dann waren sie sofort an Bord dieses Dampfers gegangen: jetzt waren sie hier zum ersten Male allein, und außerdem hätte Nobody von selbst gar nicht davon begonnen, und der junge Kanadier schien der stille, verschlossene Charakter bleiben zu wollen, auch seinem Freunde gegenüber.
»Ich hatte mich schon längst von Ihrer Sehergabe überzeugt,« entgegnete Nobody einfach, »und so glaube ich auch, daß es tatsächlich unser Verderben gewesen wäre, wenn wir dort auch nur einen Augenblick gewartet hätten.«
»Ich danke Ihnen,« murmelte Scott und beugte sich wieder über sein Buch.
Wie gedrückt das geklungen hatte! Und weshalb nur diese verzagte Gedrücktheit? Wenn dieser junge, starke Mann mit den kühnen Gesichtszügen doch nur einmal aus sich herausgegangen wäre! Und Nobody sollte später noch Proben davon bekommen, was dieser Mann an Energie und Tatkraft leisten konnte.
»Ja,« hob er da wieder an, auch wieder so seufzend, »was für einen Zweck hatte es da eigentlich, daß ich Sie erst dort obenhinaus in den eisigen Norden locke, das Leben von zwei Dutzend braven Menschen aufs Spiel setze, wenn wir am Ziele ganz resultatlos gleich wieder umkehren?«
Das klang wiederum sehr merkwürdig aus dem Munde gerade dieses Mannes, der die ganze Fahrt doch erst veranlaßt hatte. Der peinigte sich eben mit ewigen Selbstvorwürfen, ganz grundlos. Nun, Nobody wußte solch einen Charakter zu behandeln.
»O, diese Nordpolfahrt hat sogar sehr viel Zweck gehabt! Jetzt weiß ich doch, daß ich es nicht nur mit einem Gelehrten zu tun habe, der nicht nur ein einziges Mal die Leiche eines jungen Mädchen präpariert hat, sondern jetzt bin ich zur festen Ueberzeugung gekommen, daß auf der Erde ein gelehrtes Ungeheuer in Menschengestalt existiert, welches professionsmäßig mit Menschen, und jedenfalls auch mit lebenden, Experimente anstellt - allerdings wohl der Wissenschaft zuliebe - aber immerhin, hier liegt ein Verbrechen vor, welches unbedingt aufgeklärt werden muß - hier handelt es sich um ein teuflisches Ungeheuer, von dem die Welt befreit werden muß, oder es muß doch wenigstens alles ans Licht der Sonne! - Und daß ich zu dieser Erkenntnis gekommen bin, das habe ich nur Ihnen zu verdanken. Nein, Edward, diese Polarfahrt hat vielmehr ein außerordentliches Resultat gezeitigt.«
Die Wangen des Zuhörers dieser Erklärung hatten sich etwas wie vor Freude gerötet.
»So würden Sie abermals meinem Rate Gehör schenken?«
»Ob ich es tun werde? Ganz sicher!!« rief Nobody.
Scott zog seine Briefmappe, nahm einen mit Zahlen beschriebenen Zettel heraus und gab ihn Nobody.
»Das ist die letzte Ortsbestimmung - dort werden Sie das Weitere erfahren, wie Sie dem Ziele, der Lösung des Rätsels, näherkommen - vielleicht nur einen Schritt, vielleicht, um es sofort gelöst zu haben. Das weiß ich selbst nicht.«
Nobody fragte nicht mehr, auf welche Weise ihm das der Doppelgänger diktiert oder wie er sonst die abermalige geographische Ortsbestimmung erhalten hatte, er las sie - und mit grenzenloser Ueberraschung blickte er wieder auf.
»Das ist ...«
»Es dürfte sich wohl um London handeln. Die Karte habe ich noch nicht befragt, habe es nur ungefähr im Kopf.«
»Nein! Die Weichgrenze von London ist nördlicher! Edward, wissen Sie, wo ich wohne?!«
»In Kent. In Maidstone.«
»Nein!« rief Nobody immer lebhafter. »Zwischen Maidstone und London! Ich bin durch meinen Beruf so halb und halb zum Geographen geworden, der immer bis zur Sekunde wissen muß, auf welchem Breiten- und Längengrad er weilt! Und diese Sekundenangabe hier bezeichnete in England einen Platz von 31 mal 22 Metern! Und genau auf diesem Punkt der Erde steht mein Wohnhaus, meine Familienwohnung!!«


In New-York stattete Nobody nur einen Besuch in der Redaktion von ›Worlds Magazine‹ ab, für welche von ihm gegründete Zeitung er ja nach wie vor schrieb, übergab den Bericht über seine Polarreise, strotzend von haarsträubenden Abenteuern, nur nichts davon erzählend, was er seinem verschwiegenen Tagebuche anvertraut hatte; dann überzeugte er sich, daß das Motorboot, welches der Entführer der Leiche damals nicht etwa mitgenommen hatte, noch unversehrt in dem verschlossenen Wassertunnel des verlassenen Hauses lag, und trat die Rückreise nach London an, begleitet von Edward Scott und dessen Diener als seinen Gästen.
Sechs Tage später lag der Nordpolfahrer in den Armen seiner Frau und küßte seine Kinder - und nun konnte er warten, bis ihm das Schicksal die Lösung des Rätsels direkt ins Haus bringen würde.

3. Mephistopheles.

Nobody wartete nicht untätig. Einmal hatte er als Landwirt wie als Stellvertreter der Regierung zu tun, dann wollte er denn doch nicht so geduldig auf die Vorsehung hoffen, bis sie ihm den Schlüssel zur Lösung in seine Stube bringen würde. Was unterdessen getan werden konnte, wurde getan.
Die Recherchen nach jenem Monsieur Viktor Sinclaire hatten noch immer absolut keinen Erfolg gebracht. So mußte jetzt versucht werden, ob irgend ein Mensch jenes junge Mädchen vermisse, das Nobody als Leiche photographiert hatte.
Zuerst ließ Nobody das Kopfbild, welches er für das gelungenste hielt, im ›Punch‹ einrücken, dem weitestverbreiteten Witzblatt der englischen Zunge, unseren ›Fliegenden Blättern‹ entsprechend, auch nach der fernsten Hinterwäldlerhütte Amerikas wie unter die Goldgräber Australiens dringend.
Als Text nur die Worte darunter: ›Komme zurück, alles ist verziehen!‹ - Und dann als Adresse, an welche sich die Verschwundene zu wenden hätte, eine Chiffre, hauptpostlagernd London.
Das Einfachste ist manchmal oder sogar gewöhnlich das Beste. Wer das Mädchen gekannt hatte und von dessen Verschwinden oder Entführung wußte und diese Photographie sah, der würde sich auch ganz sicher mit einer Anfrage an diese Adresse wenden, in der Annahme, daß man endlich auf die Spur des Entführers gekommen sei. Würde sich aber gar der wirkliche Entführer melden, so lief er erst recht in eine Falle. Nobody holte die etwa eingehenden Briefe natürlich nicht selbst ab, sie wurden ihm nicht zugeschickt, er war doch der Champion-Detektiv der Königin, der erste Kriminalbeamte in England, dem auch der Polizeidirektor von London unterstand, nur der erste Postmeister des betreffenden Amtes wurde eingeweiht, soweit es dienlich war, und so brauchen wohl keine weiteren Erklärungen gegeben werden, wie geschickt alle Arrangements getroffen waren.
Dies war ja auch nur der erste Anfang, ein Probeversuch mit einer englischen Zeitung, das konnte später erweitert und noch ganz anders gemacht werden.
Es war in der dritten Nachmittagsstunde des neunten Tages. Nobody befand sich in seinem Arbeitszimmer.
Dasselbe zeigte nichts von dem Luxus, der sonst in diesem Hause herrschte. An der dunkeltapezierten Wand einige Landschaftsbilder, das Sofa und zwei Lehnstühle nur mit Leder überzogen, nicht einmal eine Statue aus der Hand seiner Gattin, an der sich das Auge des von seiner Arbeit aufblickenden Mannes hätte erfreuen können.
Auf diesen Lederpolstern hatte schon mancher Verbrecher und ihm aus dem Zuchthaus zugeführter Sträfling gesessen, hier hatte es in der kurzen Zeit, während welcher Nobody Englands erster Kriminalbeamter war, der sich in jeden Handel mischen durfte, schon zwei Verzweiflungskämpfe gegeben, damals hatte an der Wand noch ein Thermometer aus Bronze gehangen, es hatte einem herkulischen Menschen zur Waffe gedient, bis der schmächtige Nobody ihn niedergeschmettert hatte, und an solch einem Orte durften natürlich keine Nippsachen herumstehen, bei solchen Szenen konnte auch eine Marmorstatue in die Brüche gehen, da war schon eher der dicke Teppich angebracht, in dem der Fuß bis zum Knöchel versank. Er bedeckte den Boden vollkommen, bis zum letzten Winkel, und war mit etwa metergroßen Karrees gemustert. (Der geneigte Leser darf wohl glauben, daß es einen besonderen Zweck hat, wenn dieser Teppich so ausführlich beschrieben wird.)
Keine Bücherschränke, keine Akten. Das Hauptmöbel war der am Fenster stehende Schreibtisch, ein mächtiges Ding, mit einer Rolljalousie verschließbar, das hohe Hinterteil wie die massiven Seitenwände mit zahllosen Schubfächern bedeckt, ein kleines Bureau für sich, in dem der Schreiber ganz verschwand. Aber auf der Platte nur das notwendige Schreibgerät, nichts weiter; keine Klingel, keine elektrischen Drähte und Knöpfe, kein Telephon, keine Waffe, keine geheimnisvollen Figuren und dergleichen, was man vielleicht auf dem Schreibtisch eines Detektivs erwartet hätte, und dennoch liefen hier an diesem Schreibtisch alle Fäden seines die ganze Welt umspannenden Netzes zusammen, von hier aus, ohne aufstehen zu müssen, ließ er den ganzen gewaltigen Apparat funktionieren.
Nobody hatte einen Brief beendet, kuvertierte ihn, adressierte ihn an einen Herrn nach Buenos Aires in Argentinien. Er öffnete in der hinteren Wand des Schreibtisches ein Türchen, ein kleines, leeres Fach zeigte sich, in dieses legte er den Brief, machte das Türchen wieder zu und griff zu einem anderen Briefbogen. Als auch dieser beschrieben, kuvertiert und adressiert war, diesmal aber nur nach London, legte er den Brief in dasselbe Fach, da aber zeigte sich, daß der erste Brief bereits verschwunden war, jedenfalls schon unterwegs nach Argentinien.
Im Schreibtisch ertönte ein Glockenzeichen, Nobody öffnete ein anderes Fach, eine beschriebene Karte lag darin, sie wurde gelesen, auf die Rückseite eine Antwort gesetzt, sie wanderte zurück in dasselbe Fach.
Jedenfalls wurde die Expedition pneumatisch besorgt. Denn von hinten konnten die Sachen nicht herausgenommen werden, der Schreibtisch stand voll der Wand abgerückt.
»Wann soll Mr. Pearson wiederkommen?« fragte da eine Stimme; aber woher, das hätte kein Mensch sagen können.
»Morgen früh um acht,« entgegnete Nobody, ohne von seinem Schreiben aufzublicken.
Wieder ein leises Klingelzeichen; aber es mußte ein anderes gewesen sein als zuvor, Nobody öffnete ein anderes, ein größeres Fach. Eine Zeitung lag darin, eine Nummer des ›Punch‹, das Belegexemplar, welches sein Inserat enthielt. Unter das Publikum kam das Witzblatt erst heute abend.
Als Nobody den Abdruck des Kupferklischees, das er selbst gefertigt, betrachtete, das ganze Inserat auf seine Wirksamkeit prüfte, rollte unten ein Wagen vor. Nobody stand auf und trat ans Fenster, sah vor dem Portal eine Equipage halten, aus der soeben eine pelzgekleidete Dame stieg.
»Lady Osborne, sie besucht meine Frau.«
Mit diesen Worten setzte er sich wieder. Er hatte sich durch das Aufstehen nur einmal Bewegung machen wollen. Er hatte die Dame gar nicht weiter gesehen, nur eine Pelzboa, kannte auch die Equipage nicht, aber es konnte doch niemand anders sein, als der von seiner Frau für heute nachmittag erwartete Besuch, und sollte es doch jemand anders sein, so mußte ihm dies sofort sein geheimnisvoller Schreibtisch mitteilen.
Aber diesmal ließ ihn der, Nobodys eigene Erfindung, doch im Stich. Zum ersten Male sollte er in diesem Zimmer überrumpelt werden, auch trotz der strenggeschulten Dienerschaft.
Auf dem Korridor näherte sich dem Zimmer ein Stimmengewirr, eine durchdringende Frauenstimme behielt die Oberhand.
»Was?! Ich?! Ich?! Ich hätte keinen Zutritt?! Wißt ihr Escupideras denn überhaupt, wer ich bin?! Hier in diesem Zimmer befindet er sich, ich habe ihn am Fenster stehen sehen ...«
Da wurde schon die Tür aufgerissen und ... Die ganze nachfolgende Szene läßt sich schwer schildern, es ließe sich nur dramatisch wiedergeben.
Die langen Enden einer kostbaren Boa schwirrten durch das Zimmer, darüber ein kolossaler Hut, bei dem es einem Künstler gelungen war, mit Pelz und Straußenfedern den Nordpol mit dem äquatorialen Afrika harmonisch zu verbinden, darunter ein pelzverbrämtes Jackett, so phantastisch, daß ihm in Deutschland alle Kinder nachgelaufen wären - und dann wurde die Boa um Nobodys Ohren gehauen, d. h. nicht mit Absicht, sondern die Boa war wirbelnd auf das Sofa geschleudert worden, ihr nach folgten Pelzhut und Pelzjackett ... und das andere läßt sich noch weniger schriftlich wiedergeben.
Nobody konnte sich so ungefähr denken, wen er vor sich hatte, noch ehe er die Person richtig gesehen, und sein erstes war, daß er einen Griff unter die Schreibtischplatte machte, worauf sich die offengelassene Tür sofort von allein schloß, und hierdurch waren auch die Diener benachrichtigt, daß der Besuch trotz seines eigenmächtigen Eindringens angenehm war.
»Ooohhh, ooooooohhhh!!! Uuuuiiihhh! Rache! Racheee!!! Wenn Sie der Champion-Detektiv der Königin dieses Landes sind, so fordere ich von Ihnen Racheee für die mir angetane Schmaaach! Oooohh!«
Ritsch! Die diamantgepanzerten Finger hatten nach dem weißen Halse gegriffen, an dem es wie Tauperlen glänzte - Absicht oder Versehen! - wie ein Regen von Tauperlen strömte es durch das Zimmer und verschwand spurlos in dem dicken Teppich - ihr erstes war, daß sie die Perlenkette vom Halse gerissen hatte, eine Perlenkette, wie sie herrlicher nicht die Königin von Italien besitzt, welche in Perlenschmück unerreichbar ist.
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Nee,« sagte Nobody so trocken, wie er auf seinem amerikanischen Drehstuhl saß.
Und nun in tiefem Tonfalle:
»La belle Hermoso!«
Schrum!! Ein Gewoge von zahllosen Fältchen und Spitzen flog herum, und dann stand sie da, das erst so weite Kleid plötzlich ganz eng an den schlanken Leib geschmiegt, den Oberkörper, den Kopf zurückgeworfen, die Arme in die Hüften gestemmt - stand so da, wie ihr Konterfei seit einigen Tagen an allen Straßenecken Londons prangte - La belle Hermoso, die spanische Tänzerin aus der Alhambra, die schon in allen Hauptstädten der Welt Triumphe gefeiert, Unheil angerichtet und junge und alte Goldgimpel gerupft hatte.
Nobody hatte schon schönere Weiber gesehen; aber schön war sie doch. Und nun dieses Leben, dieses Feuer, welches in diesem spanischen Weibe steckte! Das genügte nicht, nur aus den schwarzen Augen zu blitzen, dieses Feuer mußte sich jeden Augenblick in irgendeiner Weise Luft machen, sonst platzte der Vulkan.
»Ooooohhhh!!«
Nun eine Pirouette, daß alles flog und flatterte, daß das aus lauter Fälbchen und Fältchen und Spitzen bestehende Kleid das ganze Zimmer ausfüllte, dabei ein Schnalzen mit den Fingern, daß es wie Kleinfeuer knatterte - und bums, da lag sie vor dem Sofa, ein furchtbares Schluchzen erschütterte ihren ganzen Körper.
Und Nobody war ganz eingeschüchtert. Es gibt eben Personen, gegen deren Auftreten auch der energischste und selbst rücksichtsloseste Mann vollständig ohnmächtig ist.
»Aber ich bitte, gnädige Madam ...« begann er schüchtern.
Da schoß das Weib schon wieder wie eine Furie auf ihn los, daß Nobody gleich mit seinem ganzen Stuhl drei Schritte zurückprallte.
Von Tränen keine Spur, und - Herrgott! - wie diese Augen funkeln konnten!
»Bitten? Was haben Sie zu bitten?! Ooooohhh, dieser Spucknapf! Dieser Schpppucknapf!! Mein Herr, verschaffen Sie mir diesen Schschpppucknapf wieder!!«
Dabei nun immer dieses unausgesetzte Tanzen, Drehen und Fingerschnalzen, die heftigsten Gestikulationen - der geneigte Leser sieht wohl ein, daß man auf eine Beschreibung der Gebärden dieser unruhigen Tänzerin verzichten muß. Für jedes einzelne Wort hatte sie eine andere Geste, die sich von dem beweglichen Gesicht an bis hinab zur Fußspitze über den ganzen Leib hinweg erstreckte.
»Ihnen ist ein Spucknapf abhanden gekommen?« fragte Nobody, nur um etwas zu sagen, und man konnte ihm nicht verdenken, wenn er sich vor diesem Weibe wirklich zu fürchten begann, so interessant ihm die ganze Vorstellung sonst auch war.
»Ein Spucknapf, sage ich. Ein Schpppucknapf!! Wissen Sie nicht, was ein Spucknapf ist?«
»Ein Spucknapf ist ein Napf, in den man spuckt.«
»Einen menschlichen Spucknapf meine ich! Einen Kerl, der nicht einmal des Anspuckens wert ist!«
»Ah so! Und der hat Sie beleidigt?«
»Beleidigt?! Ich will mich kurz fassen.«
Na endlich! So schnell ging das nun freilich nicht, und da es sich um eine Aufzählung handelte, klabasterte sie immer mit ihren diamantstrotzenden Fingerchen vor Nobodys Nase herum.
»Also: Heute früh um neun stehe ich auf. Um zehn gehe ich aus, um etwas einzukaufen. Um elf bin ich wieder in meinem Hotel. Ich merke sofort, daß ich meinen Pompadour mit Portemonnaie verloren habe. Ich schicke meine Zofe nach der Polizei, da kommt schon - um zwölf Uhr - ein Mann, der den Pompadour gefunden hatte, eine darin enthaltene Visitenkarte sagte ihm, wem er gehöre. Das war also um zwölf Uhr. Um ein Uhr dinieren wir zusammen. Und um zwei Uhr - um zwei Uhr - da - da - da - sagte mir dieser Spucknapf, daß ich nicht unter die Galerie seiner schönen Frauenleiber passe!! Das sagte mir dieser Spucknapf!! Oooohhhh, ich Unglückliche!!!«
Bruch! - diesmal warf sie sich gleich der Länge nach auf den Boden hin, daß trotz des dicken Teppichs das ganze Haus wackelte. Nun, sie machte dasselbe Manöver dem Publikum jeden Abend auf der Bühne vor, ohne daß die Bretter von einem Teppich geschützt waren, und es tat diesen elastischen Gliedern nicht das geringste.
Nobody sprang ihr also nicht erschrocken zu Hilfe, sondern er freute sich schon darauf, wenn er dann beim Tee diese Szene mit dem ganzen Gebaren des verrückten Weibes vor seiner Frau wiederholen würde, und wenn dann nicht auch Edward Scott aus vollem Halse lachen mußte, dann ... war dem jungen Manne überhaupt nicht mehr zu helfen.
»Entsetzlich!« flüsterte Nobody, verständnisvolle Teilnahme heuchelnd.
Mit einem Sprunge, den kein Panther dieser Tänzerin nachmachen konnte, stand sie mit flammensprühenden Augen schon wieder vor ihm.
»Entsetzlich? Genügt das? Sagt dieses Scheusal, ich passe nicht in seine Sammlung schöner Frauenleiber, weil - weil ...«
Und nun geschah etwas, was Nobody auch nicht erwartet hätte.
Mit einem Griff hatte sie ihr Kleid aufgerafft und zeigte ihm über dem Strumpfband, welches sie noch oberhalb des Knies trug, einen haselnußgroßen, braunen Fleck.
» ... weil ich diesen kleinen Leberfleck habe! Herr, entstellt dieser kleine Fleck etwa meinen Körper?«
Zuerst schielte Nobody nach der Türe - Himmel Herrgott, wenn jetzt seine Frau hereinkäme! Nein, das durfte er dann freilich nicht vormachen! Und dann betrachtete er das gleichfalls mit Brillanten besetzte Strumpfband und das, was sich darüber befand, und er mußte sich gestehen, selten ein so schöngeformtes Bein gesehen zu haben, dabei trotz der spanischen Abstammung blütenweiß.
»Ich finde diesen kleinen Fleck vielmehr reizend,« sagte Nobody in aufrichtiger Bewunderung.
Sie hatte nur auf einem Beine gestanden, auf diesem schlug sie eine Pirouette, daß Nobody einen ganzen Schwall von parfümierten Spitzenröcken ins Gesicht bekam, und der Anstand war wiederhergestellt.
»Nicht wahr? Das hat mir auch der Herzog von Dupleans gesagt, der Prinz von Augidy, das haben mir Fürsten gesagt, sie alle waren entzückt von diesem kleinen Fleck - und er ist der einzige an meinem ganzen Körper - und ich bade mich jeden Tag zweimal in sterilisierter Milch - - in ste - ri - li - sier - ter Mil - lich! - - und dieser Spucknapf, den ich in der Gosse aufgelesen habe, sagt mir ins Gesicht, wegen dieses kleinen Fleckchens passe ich nicht in die Galerie seiner schönen Frauenleiber - und er läuft davon - läuft verächtlich davon! - als wenn ich eine aussätzige Hexe wäre!! Ooooouuuuiiiihhhhh!!!!«
Kniend vor dem Sofa liegend, brüllte und schluchzte sie sich wieder einmal aus. Zum Glück dauerte das niemals lange.
»Wer war denn dieser Unmensch, der Ihnen so etwas zu sagten wagte?«
»Weiß ich es? Wie soll ich denn das wissen?« fuhr sie schon wieder wild empor.
»Ja, Sie müssen den Herrn doch gekannt haben!«
»Nein, sage ich, nein! Ich erklärte Ihnen doch schon, er hatte meinen Pompadour gefunden, brachte ihn mir, ich fragte, was für eine Belohnung er fordere - einen Kuß - einen Kuuuußßß - aaaaach, wie er das zu sagen verstand! - und da lag er auch schon vor mir auf den Knien - und es war ein so reizender Mensch! - ich konnte ihm nicht widerstehen - ja, mein Herz schlug ihm sofort entgegen - wir dinierten zusammen - wir schäkerten zusammen - und dann - und dann - als ich ihm alles gewähren wollte - da sagte er jene Worte zu mir und wandte sich verächtlich von mir - aaaooouuuiiihhh!!!«
Sapperment, dachte Nobody, das ging ja furchtbar fix mit den beiden! Da muß der ihr kein schlechtes Geschenk mitgebracht haben, denn mit Kleinigkeiten gibt die sich doch nicht ab!
»War der Gentleman schon alt?«
»Ein Gentleman? Ein Spucknapf war er!! Starrend vor Schmutz, stinkend vor Kot, ich mußte ihn erst baden, und dabei häßlich wie die Nacht, schief, verwachsen, lahm, ein elender Krüppel, der einen Klumpfuß hinter sich her zog ...«
Und da mit einem Male verwandelte sich vor Nobodys staunenden Augen die Wut und der Haß des Weibes in etwas ganz anderes, mit einer Liebesleidenschaft, wie ihrer nur solch eine Spanierin fähig ist, sehnsüchtig die Arme ausbreitend, rief sie:
»O, bringen Sie mir das herrliche Scheusal wieder, damit ich es mit heißen, glühenden Küssen ersticke!!«
Jetzt war es mit Nobodys Fassungskraft vorbei. Entweder war sie verrückt oder er!
Nun, Nobody erkannte, daß hier kein gewöhnlicher Fall vorlag, sondern ein ganz rätselhafter, jetzt begann er erst der Sache Aufmerksamkeit zu schenken, jetzt verwandelte er sich in den Detektiv, der sachgemäß zu fragen verstand, er bändigte das zügellose Weib durch seine Willenskraft, und was er nun aus ihm herausbrachte, wollen wir hier im Zusammenhange wiedergeben.
Diese spanische Tänzerin war nicht etwa ein Weib, das sich in blinder Liebe dem ersten besten, der eine hübsche Larve hatte, an den Hals warf. Man muß nur bedenken, was für eine Rolle solch eine Tänzerin und Chansonette spielt, was für Bewunderer die zu ihren Füßen liegen hat, unter denen sie auswählen kann, und da ist der Geldsack oft genug auch verbunden mit Jugend und Männerschönheit - der Kitt ist der Leichtsinn.
Die Liebe hatte La belle Hermoso überhaupt schon so ziemlich hinter sich. Es war ihr ein Sport geworden, die Männer blind zu machen und dann auszuplündern, und welch praktischen Geschäftssinn sie mit aller Exzentrizität verband, das zeigten ihre Besitztümer, die sie dem Detektiven an den Fingern herzählte, um zu beweisen, daß sie kein Schäferstündchen umsonst gewährte: in Paris, in Madrid, in Petersburg je ein Haus mit voller Ausstattung und Dienerschaft, der Unterhalt pekuniär sichergestellt, an der Riviera gleich zwei Paläste, und dergleichen Grundstücke und Landgüter noch mehr, und allein das, was sie an Juwelen auf dem Leibe trug, repräsentierte ein Vermögen, von dessen Zinsen ein Kavalier hätte nobel leben können.
Heute war die mit ihren Triumphen prahlende Tänzerin, die also einen Sport daraus gemacht hatte, reiche Existenzen und Familienglück zu ruinieren, von der rächenden Nemesis erreicht worden. Es war ein guter Teil Humor dabei, den das Weib freilich nicht mehr empfand.
Der Finder des verlorenen Pompadours war ein schmieriger, ungewaschener Kerl gewesen, nur in Lumpen gehüllt, um die Füße mit Stricken Fragmente von Schuhen gebunden, schief, verwachsen, einen Klumpfuß nachschleifend - ein Individuum, welches an den Straßenecken sitzt und das öffentliche Mitleid anruft.
Bei seinem Anblick war die Tänzerin entsetzt in die äußerste Ecke des Salons geflüchtet. Das war ja von dem Zimmerkellner unverantwortlich, solch einen Menschen bei ihr eintreten zu lassen, wenn er auch den Pompadour, dessen Verlust sie im Hotel gemeldet, in der Hand hatte.
Sie wagte nicht, ihn ihm aus der ausgestreckten Hand zu nehmen, er mußte den seidenen Beutel auf den Tisch legen, und auch dann wollte sie ihn noch nicht berühren, um sich zu überzeugen, ob die bedeutende Geldsumme noch darin war. Das war ja auch selbstverständlich, sonst hätte der Kerl den Beutel doch gar nicht abgeliefert.
Doch mischte sich dem Grausen auch etwas Mitleid bei. Der später so gefeierten Tänzerin war nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie dereinst in Gold und Juwelen wühlen würde, und solche Weiber sind überhaupt stets freigebig gegen Armut, sogar verschwenderisch, und da darf man von gar keiner Tugend sprechen, das hängt mit dem ganzen Charakter zusammen.
»Nehmen Sie den Pompadour, behalten Sie ihn, es sind ungefähr hundert Pfund Sterling darin, sie gehören Ihnen.«
So hatte die Tänzerin aus ihrer Ecke zaghaft gesprochen, ihr Kleid an sich raffend.
»Es ist mir nicht um das Geld zu tun,« hatte der Mensch entgegnet, »sonst hätte ich den Fund doch einfach behalten. Ich erbitte mir eine andere Belohnung.«
»Was für eine?«
Und da plötzlich hatte der Kerl auf den Knien gelegen und sehnsüchtig die Arme ausgebreitet.
»Einen Kuß von der schönsten aller schönen Frauen - einen Kuß von dir!«
Die Tänzerin konnte nicht weiter mit Ruhe erzählen, sie begann wieder im Zimmer herumzurasen.
»Und Sie haben ihn geküßt?« fragte Nobody.
»Ja! Ja!!« heulte das Weib. »Ich habe ihm einen Kuß auf sein ungewaschenes, nach Zwiebel stinkendes Maul gegeben - ein Dutzend Küsse - hundert Küsse!!«
»Ja, wie kamen Sie denn aber dazu? Ich denke, Sie ekelten sich vor ihm?«
»Ich weiß es selbst nicht - ich muß wahnsinnig gewesen sein - nein, nicht doch - diese Stimme! - und erst diese Augen! - ach, diese Augen!! - ich war plötzlich ganz vernarrt, ich mußte es tun, ich mußte ihn küssen, ich mußte!!«
Ein anderer Mensch hätte so eine Geschichte gar nicht geglaubt. Nicht so Nobody. Wenn er etwas nicht glaubte, so war es die Ahnung, die mit einem Male in ihm aufdämmerte.
Doch zunächst mußte er mehr hören.
»Was geschah nun weiter?«
»Er mußte erst ein Bad nehmen. Es ging nicht anders. Zu meinem Appartement gehört auch ein eigenes Badezimmer. Und er war bereit dazu ...«
»Das war sehr nett von ihm,« meinte Nobody trocken.
»Nicht wahr? Er war überhaupt ein reizender Mensch. Unterdessen ließ ich schon das Diner servieren. Es fiel nicht auf, da ich stets mit meiner Zofe zusammen speise, und diese war noch nicht da, kam auch nicht so bald. Seine schmutzigen Lumpen sollte er nicht wieder anziehen. Ihm schnell einen anderen Anzug zu verschaffen, hätte Schwierigkeiten gehabt. So gab ich ihm meinen Frisiermantel. Er hing ihn sich um. So dinierten wir zusammen ...«
»Er im Frisiermantel?«
»Im Frisiermantel.«
»Und was hatte er denn darunter an?«
»Was sollte er darunter anhaben? Gar nichts. Er war doch eben aus dem Bade gekommen.«
Nobody stellte sich das Bild vor - die pompös gekleidete Tänzerin und der nackte Kerl im Frisiermantel, wie die beiden am Speisetisch saßen! Aber er lächelte nicht, auch nicht innerlich.
»Ich saß auf seinem Schoß, er steckte mir die Bissen in den Mund.«
Jetzt wurde das Bild noch humoristischer.
»Sah er denn jetzt manierlicher aus?«
»Sein Bart war gerade noch so struppig wie zuerst, noch dieselbe Teufelsfratze.«
Teufelsfratze? Das Wort war gefallen! Und für einen Augenblick setzte Nobodys Herzschlag aus.
Doch immer noch stellte er erst andere Fragen, die sich auf die Geschehnisse bezogen.
Die Weltdame erzählte ihm alles in der größten Offenherzigkeit, was wir aber hier nicht wiedergeben dürfen. Es war alles so gekommen, was man voraussehen kann, wenn solch eine Weltdame zusammen mit einem Manne diniert, der nur mit einem Frisiermantel bekleidet ist, und wenn sie ihm schon auf dem Schoße sitzt.
»Ich habe sein Liebesflehen erhört - nein, er brauchte gar nicht zu flehen - ich war wie besessen - noch nie hat ein Mann solch einen dämonischen Einfluß auf mich ausgeübt - und da, als er den kleinen Leberfleck sieht, da sagt dieser Unhold: ›Ich bedauere, dieser Leberfleck entstellt Sie, Sie passen nicht in meine Galerie schöner Frauenleiber.‹ - So spricht er, und hohnlachend verläßt er mich! Ooohhh!!!«
»Er hat das Hotel doch nicht in Ihrem Frisiermantel verlassen?«
»Nein. Als ich wieder zu mir kam, lag der Frisiermantel da, aber seine Lumpen waren verschwunden, er hatte sie wieder angezogen.«
»Und den Pompadour? Das Geld?«
»Hat er auch nicht mitgenommen.«
»Sie sind ohnmächtig gewesen, daß Sie gar nicht bemerkt haben, wie er sich wieder entfernt hat?«
»Nicht gerade ohnmächtig. Ich war nur entsetzt über solch eine mir widerfahrene Schmach. Versetzen Sie sich nur in meine Lage. Mir so etwas zu sagen, mich zu verschmähen, mich, mich, die ...«
Das Wort erstarb ihr im Munde, das rastlos hin und her jagende Weib selbst erstarrte plötzlich zur Bildsäule, die Augen nach oben verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.
Nobody hatte einen günstigen Moment erspäht, um sie zu hypnotisieren, und es ist in den früheren Erzählungen genugsam geschildert worden, wie hierzu ein einziger Blick dieses Mannes, wenn er dabei seinen Willen konzentrierte, genügte.
Wir wollen hier nicht Frage und Antwort wiedergeben. Der Hypnotiseur vergewisserte sich, daß ihm die Tänzerin keine erfundene Geschichte erzählte, und dann vor allen Dingen auch, daß jener Mann selbst sie nicht hypnotisiert hatte.
Auch das ist ja in den früheren Erzählungen ausführlich erklärt worden, wie der Hypnotisierte aus seinem schlafwachen Zustande erinnerungslos erwacht - es ist dazu nicht einmal ein besonderer Befehl nötig, man tut dies nur zur Vorsicht - aber in einer neuen Hypnose erinnert sich der Betreffende stets wieder alles dessen, was man mit ihm in der früheren Hypnose getan hat, was er gefragt worden ist usw.
Nein, jener Mann hatte keine Hypnose angewandt, um sich das schöne Weib willfährig zu machen. Bei völligem Bewußtsein hatte es der häßliche, in Lumpen gehüllte Bettler, ein Krüppel, fertig gebracht, und hierzu mußte ein dämonischer Zauber seiner Persönlichkeit gehört haben, der noch unerklärlicher war als die Hypnose, über welche wir ja im Grunde genommen ebensoviel wie nichts wissen.
Außerdem überzeugte sich Nobody auch im Zustande der Hypnose, welche keine Unwahrheit und keine Verstellung kennt, daß die Spanierin mehr aus Liebestollheit denn aus Haßgefühl den berühmten Detektiv aufgesucht hatte, er sollte ihr jenen Mann wiederverschaffen, nicht damit sie Rache an ihm nehmen könne, sondern um ihn von neuem zu küssen. Allerdings war ja ein furchtbar beleidigtes Gefühl dabei, ihre Wut über diese Verschmähung kannte keine Grenzen, aber das alles läßt sich mit Liebessehnsucht recht wohl vereinen, besonders bei solch einer exzentrischen Spanierin.
Mehr brauchte Nobody von ihr im hypnotischen Zustande nicht zu erfahren.
»Erwachen Sie erinnerungslos!!«
Die verdrehten Augen kehrten in ihre natürliche Stellung zurück, sofort begann die Spanierin wieder ihren aufgeregten Tanz durch das Zimmer, und dort, wo sie vorhin stehen geblieben, fuhr sie fort:
» ... mich, die belle Hermoso, welche gewohnt ist, Fürsten zu ihren Füßen liegen zu sehen, mich zu verschmähen, dieser Bettler ... ooohhhh!!«
»War es vielleicht dieser hier?«
Nobody hatte aus einem Fache des Schreibtisches jene Skizze genommen, welche er damals im Boot gefertigt hatte, also die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze.
Das Bild sehen und darauf losstürzen, um es Nobody zu entreißen, war eins. Nobody ließ es sich nicht nehmen, aber nur zu deutlich bemerkte er dabei, daß sie es ihm nur entwenden wollte, um es mit glühenden Küssen zu bedecken.
»Er ist es, er ist es!« rief die Tänzerin außer sich. »Wo finde ich ihn, daß ich ihn an mein Herz drücken kann?«
»Madame,« entgegnete Nobody ernst, »es ist ein Glück gewesen, daß Sie sich sofort in dieser Sache an mich gewendet haben; denn Sie geben mir hierdurch ein neues Beweismittel in die Hand. Es handelt sich um ein Individuum, dem ich schon lange auf der Spur bin. Es ist ein Bösewicht, ein Kavalier aus der großen Welt, der beständig gewissenlose Wetten eingeht, wie er unschuldige Mädchen verführen will, und bei Ihnen hat er jedenfalls gewettet, sich Ihnen als Bettler zu nähern und auch als solcher Sie sich gefügig zu machen, dabei aber Sie maßlos zu beleidigen, das ist stets sein Triumph.«
Es war das Klügste gewesen, was Nobody hätte sagen können. Er hätte noch hinzufügen können: danken Sie Gott, daß Sie am Knie den Leberfleck haben, der Ihren Körper in seinen Augen entstellt, sonst hätte er Sie wirklich in seine Galerie schöner Frauenleiber aufgenommen, Sie nämlich in einen Eisblock einfrieren lassen.
Er sagte dies aber nicht, sondern begnügte sich nur mit jener aus der Luft gegriffenen Erklärung, an der aber doch ein gut Teil Wahrheit sein konnte. Dann wußte er sich des aufgeregten Frauenzimmers schnellstens zu entledigen. Dieses gefährliche Subjekt befand sich also in London, nun galt es für den Detektiv, den ganzen ihm zur Verfügung stehenden Apparat in Bewegung zu setzen, um des Mannes habhaft zu werden.
Die Tänzerin sah ein, daß sie jetzt überflüssig war, sie griff nach ihren auf dem Sofa liegenden Pelzsachen.
»Sie werden den Herrn festnehmen und zur Bestrafung ziehen?«
»Ein Grund zur Bestrafung liegt noch gar nicht vor, da müßte erst eine Anklage erfolgen, die nur von Ihnen erhoben werden könnte. Bitte, Senorita, lassen Sie Ihre werte Adresse da.«
Er erhielt eine Visitenkarte.
»Die Perlen Ihres zerrissenen Halsbandes werden zusammengesucht und nach Ihrem Hotel geschickt. Wissen Senorita, vielleicht, wieviel Perlen es gewesen sind?«
Die Tänzerin hatte die Frage gar nicht gehört, wußte wahrscheinlich auch gar nichts von dem Verluste ihres kostbaren Geschmeides, oder sie kümmerte sich gar nicht darum.
»Bringen Sie ihn mir nur wieder zurück, führen Sie ihn mir wieder zu, und Sie sollen meines grenzenlosen Dankes sicher sein!«
Unter diesen leidenschaftlich hervorgestoßenen Worten war sie hinausgestürmt.
Nobody war allein mit sich und mit seinen Gedanken. Es wurde finster in dem Gemach, und er hatte den Kopf in die Hände gestemmt und grübelte vor sich hin.
Also er hielt sich in London auf, der geheimnisvolle Unbekannte! Denn er war es, es gab nun keinen Zweifel mehr. Der Zahlmeister hatte vergessen, Nobody davon zu sagen, daß der Betreffende etwas verwachsen sei und hinke.
Was für eine rätselhafte Person war das nun?
Nobodys Ansichten kamen der Wahrheit sehr nahe, aber wir brauchen seinen Gedanken nicht zu folgen, denn wir werden die vollständige Wahrheit sogleich aus einem anderen Munde zu hören bekommen.
»Sir Willcox?« ließ sich wieder die Stimme aus dem Schreibtisch vernehmen.
»Was gibt es?«
»Ein Herr ist hier, er möchte Sie sprechen.«
»Wer ist es?«
»Ich kenne ihn nicht, er will auch seinen Namen nicht nennen, er sagt, Sie erwarteten ihn.«
»Ich erwarte heute niemanden.«
»Er behauptet es, und er hat seine Visitenkarte, auf die er etwas geschrieben, in ein Kuvert gesteckt, ich lasse es Ihnen unentsichert zugehen.«
Wieder ertönte im Schreibtisch ein Glockenzeichen.
Zunächst ließ Nobody seine elektrische Studierlampe und den an der Decke hängenden Kronleuchter aufflammen, dann entnahm er einem Fache ein Kuvert, welches ihm auf unsichtbarem Wege zugeflogen war.
Adressiert war es nicht, dagegen war mit Rotstift ein großes Kreuz daraufgemalt, welches wohl eine besondere Bedeutung haben mußte, hatte doch auch der unsichtbare Sekretär davon gesprochen, daß der Brief oder das Kuvert mit der Visitenkarte unentsichert sei.
Unter Nobodys Fingerdruck sprang seitwärts in der Schreibtischplatte ein Klappe auf, in der Höhlung zeigte sich ein Bassin, angefüllt mit einer hellen Flüssigkeit. In diese tauchte er das Briefchen, zog es darin hin und her, dann nahm er ein elfenbeinernes Falzbein und schlitzte es auf, ebenfalls unter Wasser, wenn die Flüssigkeit wirklich solches war.
Der erste Kriminalbeamte Englands hatte schon zu viel Erfahrungen mit explodierenden Briefchen und anderen Postsendungen gemacht, er hatte nicht umsonst im Hause ein Laboratorium mit bewährten Chemikern, die erst alles untersuchen mußten, was ihm von fremder Hand zuging. Doch das Oeffnen eines Briefes, der vielleicht mit Knallquecksilber präpariert war, konnte er allein riskieren, eben unter jener Flüssigkeit, die jede bisher bekannte Explosionsmasse augenblicklich zerstörte - allerdings kein Wasser, das schützt oft gar nicht, sonst gäbe es ja auch keine unterseeischen Minen.
Nachdem er sich die Hände an einem neben dem Schreibtisch hängenden Tuche abgetrocknet hatte, zog er die Karte heraus - keine Visitenkarte, also mit keinem Namen bedruckt, sondern es war nur mit Bleistift darauf geschrieben:
»Ich bin der, den Sie sehnlichst erwarten. Mephistopheles.«
»Mephistopheles!« hauchte Nobody, als seine Hand mit der Karte schwer auf den Tisch fiel. »Er kommt, der Teufel, den ich an die Wand gemalt habe!«
Nur einen Augenblick währte seine furchtbare Erregung.
»Ich erwarte den Herrn,« sagte er mit fester, ruhiger Stimme vor sich hin.
Ein Klingelzeichen antwortete, daß er verstanden worden sei.
Ehe Nobody erwartungsvoll nach der Tür blickte, schob er rechterhand auf der Schreibtischplatte einen Schieber zurück, darunter zeigte sich ein in bunte Felder eingeteilter Plan, und wer darauf geachtet, der hätte bemerkt, daß dieser Plan genau das karierte Muster des Teppichs wiedergab.
Schnell ließ Nobody diese Einrichtung wieder unter dem Schieber verschwinden, und da ging auch schon die Tür auf, der Erwartete trat ein.
Mephistopheles! Ein echter Mephisto, wenn er auch statt des charakteristischen Zwickbartes einen schwarzen Vollbart trug.
Vor allen Dingen aber kennzeichnete sich dieser Mann dadurch als den echten Fürsten der Hölle, daß er einen Pferdefuß nachschleifte, und wenn der Teufel nach dem Volksglauben nun einmal verkrüppelt sein muß, so paßte es auch recht gut, daß er die rechte Schulter hängen ließ, während die linke zu hoch und etwas nach hinten ausgewachsen war.
Mehr noch als die Gestalt aber interessierte Nobody das von dem schwarzen Barte eingerahmte, fast schneeweiße Gesicht! Von einer ›Teufelsfratze‹ konnte man jetzt nicht sprechen. Jetzt zeigte es nichts von jenem Haß und Hohn, wohl aber war es solch eines Ausdrucks fähig, überhaupt durchwühlt von allen Leidenschaften, deren nur ein Teufel fähig sein kann, und trotzdem nicht abgelebt zu nennen, und nun vor allen Dingen wahrhaft durchgeistigt, besonders aus den Augen sprach ein alles durchdringender Geist.
»Der schärfste Verstand, der genialste Mensch, der mir je begegnet ist,« urteilte Nobody im ersten Augenblick.
Im allgemeinen war es ein jüdischer Typus. Bekleidet war die kleine, schmächtige, fast zierliche Gestalt mit einem schwarzen Gesellschaftsanzug, tadellos, stutzerhaft, auf den Effekt berechnet, wie man es ja besonders bei Krüppeln so häufig findet, nur daß der schwarze Bart struppig aussah, aber nur deshalb, weil er das ganze Gesicht umwucherte, während das etwas lang gehaltene Haar sorgsam in der Mitte gescheitelt war. Außer einer doppelten Kavalierkette von schwerem Golde bemerkte der musternde Nobody noch am zweiten Finger der linken Hand einen roten Ring, den er für ganz aus Rubinen bestehend hielt, und vom obersten Teile desselben ging ein so wunderbares Feuer aus, wie Nobody es noch an keinem Diamanten wahrgenommen hatte. Wenn ein guter Kapdiamant als die Quelle des brillantesten Farbenspiels gilt, so war ein solcher doch nichts gegen diese Farbenpracht, die von einer gewissen Stelle des roten Ringes ausging, Nobody hatte so etwas eben noch nie gesehen, solch ein wunderbares, überirdisches Gefunkel nicht für möglich gehalten, und nun sah es auch so seltsam aus, wie der rote Ring mehr einem Feuermale glich, das sich um den Finger schlang.
Nobody war die kalte Ruhe selbst, als er die formvollendete Verbeugung erwiderte.
»Mit wem habe ich die Ehre?«
»Ich bin, wie schon meine Karte sagte,« entgegnete eine Stimme, die hart und tönend wie Metall klang, »derjenige, den Sie schon längst gesucht haben, und wenn Sie durchaus einen Namen brauchen, so bitte ich Sie, mich einfach Mephistopheles oder kürzer Mephisto zu nennen.«
»Bitte, nehmen Sie Platz.«
Nobody selbst setzte sich vor den Schreibtisch auf den Drehstuhl, faltete die Hände und schlug die Beine übereinander, ebenso bequem ließ sich der Fremde ihm gegenüber in einem der Fauteuils nieder.
Wohl entstand eine lange Pause, prüfend sahen die beiden einander in die Augen, und eben dies verriet, daß diese beiden Männer keine Einleitung zu einem Gespräch brauchten.
»Der läßt sich nicht hypnotisieren, und eben dasselbe denkt er jetzt von mir,« sagte sich Nobody im stillen, und laut setzte er hinzu:
»Woraus schließen Sie, mein Herr, daß ich Sie schon längst gesucht habe?«
»Nun, unsere Bekanntschaft ist doch nicht erst von heute. Wir haben uns schon einmal gesehen.«
»Wo wäre das gewesen?«
»An Bord der ›Persepolis‹. Oder vielmehr, als Sie den Dampfer in dem Segelboote verließen, da habe ich Ihnen doch aus dem Schiffsfenster nachgeblickt.«
»Stimmt! Ich erkenne Ihr Gesicht sofort wieder. Aber woher ist Ihnen bekannt, daß jener Kajütenpassagier und Sir Willcox ein und dieselbe Person sind? Denn ich bezweifle, daß irgendein Mensch mich erkannt hätte.«
»Allwissend bin ich nicht, doch viel ist mir bewußt,« zitierte der Fremde mit sarkastischem Lächeln die Worte des Mephistopheles aus Goethes Faust.
Sofort erkannte Nobody, besonders aus dem höhnischen Lächeln, wie aus dem ganzen Gebaren, daß der Fremde sich mit Absicht etwas Dämonisches, etwas Uebernatürliches geben, sich also wirklich als Höllenfürst aufspielen wollte, und das konnte unserem Nobody nun gar nicht imponieren.
»Bah,« machte er mit wegwerfender Handbewegung, »das sagt mir gar nichts, und vor allen Dingen nicht, wie Sie auf die Vermutung kommen, daß ich Sie schon längst gesucht hätte.«
»Ist dem nicht so?« fragte der Schwarzrock, jetzt mit einem widerlichen Lächeln des Hohns.
»Beweise!«
»Nun, ich dächte, wenn man jemanden fast bis zum Nordpol verfolgt ...«
Der Fremde brach ab, und es hätte nicht viel gefehlt, so wäre Nobody vor Ueberraschung zusammengefahren. Doch er hatte sich vollkommen beherrscht, auch seine Gesichtsmuskeln.
»Dann allerdings, dann muß ich Farbe bekennen,« sagte er offen, und erkünstelte Offenheit ist manchmal die schlaueste List. »Ja, ich habe Ihre Spur bis nahe zum Nordpol verfolgt und habe dort Seltsames zu sehen bekommen. Mann, wer sind Sie? Was treiben Sie eigentlich? Woher wissen Sie, daß ich in dem vulkanischen Berge auf dem 83. Breitengrade gewesen bin? Daß gerade ich das war?«
»Ich werde mich Ihnen sogleich offenbaren, und Sie sollen etwas zu hören bekommen, was Sie nimmermehr erwartet hätten. Erst aber muß ich um Erklärung bitten, woher Sie hoffen konnten, die Spuren meiner weiteren Tätigkeit dort oben im hohen Norden zu finden.«
Ah! So wußte er also nichts von den somnambulen Eigenschaften seines Freundes! Vortrefflich, dann sollte er auch nichts davon erfahren!
»Bedauere,« sagte Nobody kalt, »ich fühle mich hier als Herr, der zunächst eine Erklärung zu fordern hat. Also bitte.«
Er brauchte diese scharfen Worte nicht zu bereuen. Der Fremde erhob sich nicht, um zu gehen. Und hätte er es getan, so hätte Nobody sofort ein anderes Register gezogen - und zwar tatsächlich ein Register, nämlich aus seinem Schreibtisch. Diesen geheimnisvollen Mann hatte er nun einmal zwischen den Fingern, den ließ er nun nicht wieder los!
Aber der Höllenfürst dachte noch nicht daran, unter Hinterlassung von Schwefel- und anderem Teufelsgestank wieder zu verschwinden, er kam vielmehr sofort entgegen.
»Schön! So werde ich den Anfang machen. Hören Sie denn: Schon seit vielen Jahren, seit damals, da Sie sich als Detektiv einen Namen zu machen begannen, habe ich alle Ihre Unternehmungen mit dem regsten Interesse verfolgt, Sie von meinen unsichtbaren Geistern ständig beobachten lassen ...«
»Von Ihren unsichtbaren Geistern?«
»Von meinen unsichtbaren Geistern,« wiederholte der Schwarzrock gleichmütig, selbstgefällig an seiner schweren Uhrkette spielend. »Die Erklärung hierzu folgt sofort. Wer ich bin? Ich will so bescheiden wie möglich sein, darum sage ich: ich bin der Erbe eines Mannes, eines Gelehrten, der schon vor Jahrzehnten so tief in alle Wissenschaften eingedrungen war, wie davon noch heute die ganze Gelehrtenwelt gar keine Ahnung hat. Nun muß ich trotz aller Bescheidenheit freilich gestehen, daß ich die mir hinterlassenen Kenntnisse immer mehr erweitert habe, und - kurz und gut, ich stehe geistig so hoch über allen anderen Menschen, daß selbst die erfolgreichsten Gelehrten, Praktiker wie Theoretiker, für mich unmündige Kinder, einfach Nullen sind.«
Herr Mephistopheles hatte dabei verächtlich mit den Fingern geschnalzt, was nun allerdings wie die ganze Erklärung sehr wenig seiner angesagten Bescheidenheit entsprach. Er schien auf eine Antwort zu warten, und als eine solche nicht kam, fuhr er von allein fort:
»Das mag über meine Person vorläufig genügen. Ich beobachtete Sie also, und im Laufe der Zeit erkannte ich, daß Sie der einzige Mann sind, welcher außerhalb der gesamten Menschenherde steht.«
Wieder schwieg er, und Nobody machte eine leichte Verbeugung.
»Und?«
»Sir Alfred Willcox, ich habe vor Ihnen Hochachtung bekommen.«
»Und?«
»Ich möchte Sie noch gänzlich von dieser unselbständigen Menschenherde absondern.«
»Auf welche Weise?«
»Indem ich Sie in mein Reich einführe.«
»Was für ein Reich ist das?«
»Ein Reich, welches nicht von dieser Erde ist.«
»Das klingt so mysteriös, daß ich es gar nicht verstehe.«
»Ich möchte Sie zu meinem Kompagnon, zu meinem Mitarbeiter machen.«
»Und was für eine Branche ist das, in der Sie arbeiten?«
Der Schwarzrock hatte den Spott herausgehört, ein furchtbar drohender Blick traf den Sprecher. Doch er beherrschte sich, und die Bewegung in seinem Gesicht suchte er zu verbergen, indem er schnell einen goldenen Klemmer aufsetzte.
»Wie ich schon sagte: ich bin Gelehrter.«
»In welcher Wissenschaft?«
»Ich habe mich in Wissenschaften vertieft, von deren Existenz unsere heutigen Gelehrten noch nicht einmal eine Ahnung haben.«
»Dann muß ich bedauern. Ich bin alles andere als ein Gelehrter, da würden Sie an mir keinen Mitarbeiter finden.«
»Doch! Mir sind auch noch andere Geschäfte aufgebürdet, die ich keinem anderen übertragen kann, weil ich keinen für fähig dazu halte. Sie sind der einzige.«
»Was für Geschäfte sind das?«
»Verwaltungsgeschäfte, und ich habe ein gar großes Reich zu verwalten.«
»Jenes Reich, welches gar nicht von dieser Welt sein soll?«
»Sie bedienen sich eines biblischen Ausdrucks. Von dieser ›Erde‹ sagte ich. Genug, darüber möchte ich jetzt nicht mehr sprechen, Sie würden dieses unsichtbare Reich schon noch kennen lernen. Kurz und gut, Sie sollen darin alle praktischen Angelegenheiten übernehmen, damit ich mich ausschließlich meinen Studien widmen könnte.«
»Hm!« brummte Nobody. »Und wie stände ich mich dabei?«
»Ihr Einkommen wird auf 80.000 Pfund Sterling geschätzt.«
»Sie sind ganz richtig orientiert.«
Geringschätzend hob der Schwarzrock die verwachsenen Schultern.
»Was ist das für einen Mann wie Sie! Ich offeriere Ihnen als erstes das dreifache Gehalt, sagen wir gleich rund dreimalhunderttausend Pfund Sterling im Jahre.«
»Hm, das ließe sich hören!« brummte Nobody wiederum, der natürlich schon seine eigenen Pläne ausspann. »Sechs Millionen im Jahre - Donnerwetter, das genügt!«
»Ja, so etwas kann eben nur ich bezahlen!« lautete die selbstbewußte Antwort.
»Donnerwetter, über was für Reichtümer müssen Sie da gebieten!«
»Nun, der Fürst der Hölle ist ja bekanntlich auch der Herr über alle Schätze der Erde.«
Es war ganz offenbar, daß Nobody den Herrn Mephisto etwas verspottete, und dazu hatte er um so mehr ein Recht, weil es eben offenbar war, daß dessen Eitelkeit keine Grenzen kannte; infolgedessen merkte er jetzt diesen Spott nicht einmal.
Im Grunde genommen aber war es Nobody gar nicht so spöttisch zumute. Vor allen Dingen mußte er, um sich nicht irritieren zu lassen, immer mit aller Gewalt seine Aufmerksamkeit von jenem Ringe abwenden. Was für ein wundervolles und wunderbares Etwas war das nur? Jetzt in der Nähe hatte Nobody schon erkannt, daß der Ring nicht etwa aus einzelnen Rubinen zusammengesetzt war, sondern er mußte aus einem einzigen Rubin von wenigstens einem Zoll Durchmesser herausgeschnitten worden sein, an sich schon ein Kleinod von unschätzbarem Werte.
Nun aber der leuchtende Punkt auf diesem Ringe erst, das war etwas, wofür Nobody, der doch auch so etwas kannte, gar keine Erklärung finden konnte.
Es war nämlich nicht etwa ein besonderer Stein zu sehen, also kein Diamant, von dem das wunderbare Feuer ausging, sondern es war an diesem Ringe nur wie ein leuchtender Punkt, aber nun wie leuchtend! Den besten Diamanten vom reinsten Wasser hundertfach an Brillantfarben überstrahlend! Einfach gar nicht zu beschreiben! Außerdem leuchtet der Diamant doch besonders oder eigentlich fast nur, wenn er ins Licht kommt, er wirft das Licht zurück - dieser Punkt hier aber schien um so mehr zu leuchten, je tiefer er in den Schatten kam!
Doch, wie gesagt, Nobody wollte sich nicht von dem Ringe beeinflussen lassen, er blickte lieber gar nicht mehr hin. Deshalb war das noch lange kein ›übernatürlicher Mensch‹, und dieses Rätsel wollte er schon noch lösen, ohne sich jetzt darüber den Kopf zu zerbrechen.
»Da soll ich mich also sozusagen dem Teufel verschreiben?«
»Jawohl, mir, und nicht nur mit Haut und Haaren, sondern auch mit Leib und Seele,« ging der Schwarzrock auf den Scherz ein - oder es konnte auch sein Ernst sein, und so sah er dabei auch aus.
»Hm! Solch ein Pakt muß doch wohl überlegt sein. Da hätte ich erst einige Fragen zu stellen.«
»Fragen Sie! Ich werde antworten, soweit ich es für angemessen finde. Die meisten Erklärungen würden Sie ja überhaupt gar nicht verstehen.«
Immer derselbe hochtrabende Ton, einer maßlosen Eitelkeit entspringend. Doch Nobody achtete vorläufig nicht darauf, er hob sich schon etwas bis zuletzt auf.
»Sind Sie es gewesen, der die Leiche des jungen Mädchens aus jenem Hause auf Long Island entführt hat?«
»Das bin ich gewesen!«
Warte, dachte Nobody, jetzt habe ich dich ja schon - mindestens Einbruchsdiebstahl!
»In welcher Beziehung standen Sie zu der Leiche?«
»Das war ein wissenschaftliches Präparat.«
Wer das junge Mädchen sei, wollte Nobody jetzt lieber nicht fragen, jener hätte seine Absicht durchschauen können.
»War es ein Zufall, daß das Motorboot der ›Persepolis‹ begegnete?«
»Nicht so sehr Zufall, wie Sie vielleicht meinen,« war die ausweichende Antwort.
»Auch die nahe am Nordpol in Eis eingefrorenen Leichen sind wissenschaftliche Präparate, wie Sie sie nennen?«
»Selbstverständlich. Aber es sind gar keine Leichen.«
»Diese Menschen wären noch lebendig?!«
»Ich hoffe bestimmt, sie nach einer gewissen Zeit wieder ins Leben zurückrufen zu können, obgleich einige von ihnen schon zehn Jahre und länger in Eis eingeschlossen sind.«
Nobody hatte kein Wort, nicht einmal einen Gedanken des Zweifels - im Augenblicke hatte er nur eins herausgehört, und er mußte seine Aufregung mit Gewalt niederringen.
»Soll das heißen, daß Sie die betreffenden Menschen lebendig einfrieren lassen?«
»Gewiß doch, lebend müssen sie noch sein. Einmal wirklich tot, kann auch ich sie nicht wieder ins Leben zurückrufen. Es handelt sich nur um das Experiment, wie lange ein Mensch bei Luftabschluß in Eisverpackung am Leben bleibt, wobei ich ihn freilich zuvor ... doch es ist ein Experiment, dessen Hypothese Sie überhaupt gar nicht verstehen.«
Noch einmal mußte Nobody mit sich ringen und Herr seiner selbst bleiben.
»Finden Sie denn immer solche menschliche Versuchskaninchen, die sich freiwillig einfrieren lassen?«
»Freiwillig?« lachte der Mephistopheles höhnisch, und jetzt verwandelte sich das Gesicht in solch eine Teufelsfratze. »Da würde ich wohl wenige Experimente anstellen können. Nein, ich suche mir die am geeignetsten erscheinenden Objekte aus, und ob sie nun wollen oder nicht - sie haben der Wissenschaft das Opfer zu bringen!«
Nobody atmete schwer.
»Dann nur noch eine Frage: Was bezwecken Sie mit alledem eigentlich?«
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Es handelt sich - darum, zu konstatieren, wie lange ein lebendig bei vollem Bewußtsein eingefrorener Mensch ...«
»Schon gut! Glauben Sie, hiermit der Menschheit einen großen Dienst zu erweisen?«
»Der Menschheit?!« hohnlachte die Teufelsfratze. »Für mich ist die ganze Menschheit ein hirnloses Herdenvieh, nur dazu da, um abgeschlachtet zu werden. Ich aber bin ein Diener der Wissenschaft, und die Wissenschaft ist für mich eine hehre Göttin, die ich anbete.«
»Das heißt also mit anderen Worten, daß Sie niemals eine Entdeckung Ihrer Wissenschaft preisgeben werden, und wenn sie auch noch so zum Nutzen der ganzen Menschheit wäre?«
»Niemals! Die Erfolge meiner Studien bringen mich immer weiter in meiner Erkenntnis, und das genügt mir, das ist mein Stolz, mein Glück, das ist mein Schatz, den ich mir durch eigene Kraft rechtmäßig erworben habe, und den ich daher auch mit niemandem teile.«
Mit Pathos hatte es der Schwarzrock gerufen, und die Antwort ließ nicht lange auf sich warten:
»Mensch, du bist ja ein Scheusal allerersten Ranges!«
Ganz ruhig hatte es Nobody gesagt, dabei sitzen bleibend, und seltsamerweise blieb auch der andere ganz ruhig bei diesen Worten.
»Eher will ich,« fuhr Nobody fort, »einen Räuber und Einbrecher, welcher den Reichtum plündert, dann aber die Beute verschwenderisch unter die Armen verteilt, und selbst, wenn er dabei zum Mörder geworden ist, als Gastfreund empfangen, als daß ich einem Geizhalse, der seine Schätze durch Wucher vermehrt, die Hand gebe. Und Sie sind in meinen Augen solch verruchter Wucherer, der seine Schätze auf Kosten anderer vermehrt, ohne ihrer Tränen zu achten. Außerdem sind Sie ein gemeingefährliches Subjekt, direkt ein Verbrecher! Und wissen Sie denn gar nicht, mit wem Sie sprechen? - Im Namen der Königin: Sie sind verhaftet!«
Immer noch ganz ruhig hatte Nobody gesprochen.
Jetzt aber erhob sich der Schwarzrock mit einer verächtlichen Handbewegung.
»Herr, machen Sie sich doch nicht lächerlich! Sie wären der rechte, mich zu verhaften!«
»Sie sind bereits verhaftet - ich habe die Verhaftungsformel ausgesprochen.«
»Verhaften können Sie mich wohl, aber mich nicht festhalten.«
»Das werden wir sehen.«
Dabei aber machte Nobody noch immer keine Miene, auch nur aufzustehen, hatte noch immer die Beine übereinandergeschlagen und die Hände gefaltet, den anderen nur mit interessierten Augen betrachtend. Er mußte seiner Sache sehr, sehr sicher sein.
Mit seinem höhnischsten Gesicht reckte der Schwarzrock seine kleine, mißwachsene Gestalt so hoch wie möglich empor.
»Himmelhoch stehe ich über der ganzen Menschheit, also auch über Ihnen!«
»Aber durch die Decke dieses Zimmers werden Sie nicht wachsen. Sie sind und bleiben mein Gefangener.«
»Und ich wiederhole: Herr, machen Sie sich doch nicht lächerlich!«
»Die Lächerlichkeit ist ganz auf Ihrer Seite.«
»Wissen Sie, wer ich bin?«
»Ein vom Größenwahn aufgeblasener Narr!«
»So! Wollen Sie Beweise haben, daß ich mit überirdischen Kräften ausgestattet bin?«
Da kam es ja schon! Nobody hatte doch nicht umsonst diesen Ton angeschlagen, reizte den Mann doch nicht umsonst so.
»Jawohl, geben Sie mir Beweise!«
»Sie sollen sie haben. Sie sind doch in meiner nahe dem Nordpol gelegenen Werkstatt und Studierstube gewesen, haben sie aber nur nach einer mühseligen Fahrt durch Eis und Schnee erreicht: daß Sie den Rückweg wiederfanden, war nur ein Zufall. Der ›Polarstern‹ steckt jetzt noch im ewigen Eis und wird darin mit der Mannschaft seinen Untergang finden. Interessiert Sie denn nun gar nicht, wie ich jederzeit imstande bin, dort oben nach dem höchsten Norden, auch bis zum Nordpol, der für mich schon längst ein gelöstes Geheimnis ist, hinzukommen und jederzeit auch wieder zurück?«
Jawohl, das interessierte unseren Nobody sehr. Aber in Güte, durch einfaches Fragen hätte er es doch nie zu erfahren bekommen, so hatte er eben zum Hohn, welcher reizt, gegriffen. Nobody hatte doch den Charakter dieses Mannes sofort erkannt.
»Nun, Sie begeben sich einfach ab und zu mit einem Schiff dorthin, so wie ich es auch getan habe.«
»Bah, Schiff!« klang es verächtlich zurück. »Sie müssen doch überhaupt selbst bemerkt haben, welche Schwierigkeiten das hat.«
»Na, haben Sie denn etwa einen Zaubermantel, daß Sie nach Belieben überallhin fliegen können?«
»Sie sagen es.«
Die Bestürzung, mit welcher Nobody den Sprecher ansah, war ungekünstelt. Nämlich, daß ein Mensch es wagen konnte, solch eine ungeheuerliche Behauptung aufzustellen, darüber war er bestürzt.
»Sie haben einen Zaubermantel, der Sie durch die Luft trägt?«
»Ich habe einen - meine eigene Erfindung, die Frucht meiner Studien!« war die selbstbewußte Antwort.
Jetzt brach Nobody in ein herzliches Lachen aus.
»Nein, mein lieber Mann, an solche Zauberei glaube ich nicht! Na, da fliegen Sie doch einmal durch die Luft!«
»Daß ich das kann, werde ich Ihnen dann gleich beweisen, nämlich wenn ich Sie verlasse, trotzdem Sie mich schon als Ihren Gefangenen betrachten. Erst aber werde ich Ihnen etwas anderes vormachen. Ich sagte Ihnen schon, daß mein Reich, in dem ich herrsche, nicht von dieser Erde sei.«
»Das haben Sie mir sogar schon ein paarmal gesagt.«
»Es ist ein Reich von unsichtbaren Geistern, die mir dienstbar sind.«
»Ach nee!«
»An diesen Ring hier sind diese Geister gebunden.«
»Ach nee! Ein hübscher Ring, in der Tat. Was für ein Stein ist denn das, der so wunderbar glänzt?«
»Sie werden es erfahren, sobald Sie der Meine geworden sind, werden auch solch einen Ring bekommen!«
»Dann kann ich mich wohl auch selbst unsichtbar machen?«
»Gewiß!«
»Ei, das wäre ja vortrefflich! Besonders für einen Detektiv! Können Sie mir das nicht erst einmal an Ihrer eigenen Person vormachen?«
»Gewiß.«
»Sie wollen sich unsichtbar machen?«
»Ich werde es tun.«
»Hier in diesem Zimmer?«
»Hier in diesem Zimmer!«
»Na, da mal los! Aber heraus kommen Sie nämlich nicht!«
Der Schwarzrock trat einige Schritte zurück und breitete beide Arme wagerecht aus, von Nobody, der nach wie vor auf seinem Stuhle saß, mit ungläubigem Lächeln beobachtet.
»Passen Sie auf!« sagte die metallische Stimme. »Eins - zwei - drei!«
Eine eigentümliche Bewegung der Arme und ... die ganze Gestalt des Schwarzrockes war spurlos verschwunden, war wie in Luft zerflossen!
Wie vom Donner gerührt saß Nobody da, seinen Augen nicht trauend, an seinem Verstande zweifelnd, und doch war es Wirklichkeit - und dann plötzlich bemächtigte sich seiner eine furchtbare Wut.
»Himmel und Hölle - du oder ich!!!«
Mit diesen Worten stürzte er auf die Stelle zu, wo der Schwarzrock soeben noch gestanden hatte, und wirklich, er packte mit seinen Händen auch eine menschliche Gestalt, die nur nicht sichtbar war - aber in demselben Augenblick erhielt er einen furchtbaren Schlag, der ihm zuckend durch alle Glieder ging, sicherlich eine elektrische Entladung - Nobody ward gleich bis gegen die Wand und zu Boden geschleudert.
Bewußtlos war er nicht geworden, blieb nicht liegen, sprang gleich wieder auf, und als er sich das Haar aus dem verstörten Antlitz strich, stand auch schon wieder der Schwarzrock mit höhnischem Gesicht da.
»Nun? Zweifeln Sie immer noch, daß ich etwas mehr kann als Sie und andere Menschen? Zweifeln Sie noch immer an meinen überirdischen Kräften?«
Mit einem Male war über Nobody eine eiserne Ruhe gekommen. Gleichmütig lehnte er am Schreibtisch, sich mit der linken Hand darauf stützend.
»Das kann ich auch.«
Zum ersten Male fiel der Schwarzrock aus seiner Mephistorolle voll überlegenen Hohnes.
»Was?!« stieß er bestürzt hervor.
»Sie spurlos verschwinden zu lassen. Passen Sie auf ...« - Nobody streckte den rechten Arm gegen ihn aus - » ... eins - zwei - drei - weg!!«
Es schnappte etwas, es klappte etwas - nämlich das Karree des Teppichs, auf dem der Schwarzrock stand, klappte herunter, jener war in einer Versenkung verschwunden, das Stück Teppich schnellte wieder empor, alles war wieder in tadelloser Ordnung, keine Fuge und nichts zu sehen.
Ein Klingelton schrillte durch das ganze Haus, von Nobodys Fingerdruck auf einem geheimen Knopf erzeugt.
»Mister Scott möchte sofort zu mir kommen - sofort!« rief er in den Schreibtisch, der wohl ein unsichtbares Telephon barg, hinein.
Der Gewünschte mußte sich in allernächster Nähe befunden haben, drei Sekunden später betrat er das Zimmer.
»Um Gott, Alfred, was ist denn geschehen?« rief er beim Anblick Nobodys bestürzt.
Denn mit Nobodys Ruhe war es nun vorbei, und wenn auch nur seine Brust heftig arbeitete, so war das doch schon bei diesem sonst so eisernen Manne auffällig genug.
»Etwas, was auf dieser Erde wohl noch keines Menschen Auge erblickt hat,« stieß er hervor. »Sind die Türen wieder geschlossen? Ja. Nur Sie sollen Zeuge von allem werden. Sehen Sie hier!«
Er schlug das betreffende Teppichkarree zurück, noch ein Stück Parkett, im Boden zeigte sich eine tastenähnliche Oeffnung, und in dieser sah Scott einen schwarzgekleideten Menschen kauern, das Gesicht nach oben gekehrt, und kaum hatte er dieses totenbleiche, vom Hohn des letzten Ausdrucks verzerrte Gesicht erblickt, umrahmt von dem schwarzen Vollbart, als er zurückprallte.
»Das Gesicht meiner Träume!« hauchte er.
Mit kurzen Worten teilte ihm Nobody mit, was geschehen war, hauptsächlich nur über den Antrag berichtend, den ihm der Mann gestellt hatte, die vorhergehende Tänzerin und Kleinigkeiten gar nicht erwähnend.
»Er weiß, daß wir seine Werkstatt am Nordpol besucht haben, er weiß mich auf seiner Fährte, und er will mich auf seine Seite hinüberziehen. Ein ganz gefährlicher Halunke und dennoch ein ganz außergewöhnlicher Mensch, der im Besitze von Kenntnissen und Erfindungen ist, von denen wir noch nicht einmal etwas ahnen. Sogar unsichtbar machen kann er sich.«
»Was sagen Sie da?« staunte Scott. »Unsichtbar machen?!«
»Ich erkläre Ihnen noch alles. Jetzt muß ich den Mann erst beobachten, ich habe ihn betäubt, lasse ein Gas in den Kasten einströmen.«
Schon immer hatte Nobody die Taschenuhr in der Hand gehabt. Durch die Entfernung des Teppichs und des Parketts war die Versenkung noch nicht offen, sie war oben noch durch eine Glasscheibe verdeckt, und außerdem waren eiserne Stäbe zu sehen, zu eng zusammenstehend, als daß der Mann hätte hindurchfallen können.
Nobody ging nach dem Schreibtisch und kam mit zwei grünumsponnenen Drähten zurück, die sich hinter ihm aufrollten. Er hatte seine Ruhe wiedergewonnen.
»Seit ich einmal in diesem Zimmer eine Balgerei mit einem obstinaten Gesellen hatte, den ich mir aus der Untersuchungshaft hier vorführen ließ, habe ich eine besondere Vorkehrung getroffen, um solche aufsässige Geister in aller Gemütlichkeit kaltzustellen,« erklärte er. »Jedes dieser Karrees bezeichnet eine Versenkung, und wo der Mann im Zimmer auch stehen mag - ein Druck von mir auf die entsprechende Stelle des Schreibtisches, und der Teppich hat ihn verschlungen. Da sehen Sie solch einen Geist sitzen - und zwar einen wirklichen Geist! Er ist bereits betäubt. Um nämlich den Geist noch zahmer zu machen, lasse ich in den hermetisch schließenden Behälter ein Gas einströmen. Das geschieht mechanisch, gleichzeitig mit dem Fall. Dieses Gas ist eine Erfindung meines besonderen Chemikers, der hier im Hause für meine eigenen Fälle angestellt ist. Es betäubt im Augenblick, kann aber niemals töten, denn es enthält auch noch atembaren Sauerstoff genug. Nun muß aber, ehe ich den Kerl herausnehme, das Gas wieder vertrieben werden, sonst bekommen wir es selbst in die Lunge. Sehen Sie dort unten die kleine Röhre einmünden? Da lasse ich jetzt komprimierte Luft eintreten, das Gas ist leichter, es wird oben zu der anderen Röhre wieder hinausgetrieben.«
Ein leises Zischen erscholl. Interessiert blickte Scott hinab in die Oeffnung, in welcher der Schwarzrock regungslos kauerte.
»Woher wissen Sie, ob das Gas auch vollständig vertrieben ist?«
»Sehen Sie dort, ganz oben, den blauen Streifen? Sobald dieser seine Farbe ändert, purpurrot wird, ist die letzte Spur des Gases entwichen. So - jetzt ist es so weit. Na, wird der Kerl Augen machen, wenn er bemerkt, wohin er geraten ist! Treten Sie etwas zurück.«
Der Bewußtlose brauchte nicht durch Menschenhände herausbefördert zu werden, auch das ging alles mechanisch vor sich. Auch die Glasscheibe hob sich noch, Eisenstäbe kamen zum Vorschein, und in der Mitte des Zimmers stand ein zwei Meter hoher Käfig, auf dessen Boden der Schwarzrock regungslos kauerte, so, wie er hineingestürzt war.
»Ich habe ein Mittel, ihn sofort zum Bewußtsein zu bringen, aber in diesem Falle ist es besser so. Wir wollen erst einmal seine Taschen untersuchen, wozu er freilich aus dem Käfig heraus muß. Doch ist noch immer Vorsicht geboten, ehe wir ihn anfassen, er scheint eine elektrische Batterie bei sich zu haben, ich habe schon einen heftigen Schlag bekommen.«
Bald hatte sich Nobody durch das Gitter hindurch überzeugt, daß die elektrische Batterie nicht mehr zu befürchten war, entweder hatte der Schwarzrock dieselbe vorher abgestellt, oder sie funktionierte aus irgendeinem Grunde nicht mehr.
Jetzt öffnete Nobody eine Gittertür, deren Schloß kein anderer Mensch gefunden hätte, Scott war behiflich, den Bewußtlosen herauszuholen, er wurde auf das Ledersofa gelegt, die Visitation begann.
Als erstes kam aus jeder Fracktasche des Gehrocks ein Gegenstand hervor, der etwa einem Uhrgewicht ähnelte - die beiden Elemente der elektrischen Batterie. Natürlich waren sie miteinander verbunden, und zwar lief der verbindende Draht unter dem Rock um den Rücken herum, oben teilte er sich, je ein isolierter Draht lief durch den Aermel, wo er in einem eigenartig konstruierten Manschettenknopf festgeschraubt war.
Auf diese Weise war die ganze Person selbst zu einer Batterie geworden, welche mit den Händen elektrische Schläge austeilen konnte, und jeder, der den Mann irgendwo anfaßte, mußte einen elektrischen Schlag erhalten, vorausgesetzt, daß der Batterieträger selbst isoliert war. Dies war denn auch der Fall - es konnte ja auch gar nicht anders sein - denn als Nobody ihm den Stiefel von dem normalen Fuß abzog, zeigte sich, daß er einen dicken Gummistrumpf trug, ebenso, wie sich später erwies, über dem mißgestalteten Klumpfuß.
»Hm,« meinte Nobody, »das ist ja eine vortreffliche Angriffs- und Verteidigungswaffe, überhaupt ein genialer Kerl, meine Hochachtung steigt immer mehr. Aber was für eine eigentümliche Batterie ist denn das?«
Nobody war Elektrotechniker genug, um zu wissen, daß von den beiden kleinen Trockenelementen - nach Abschrauben des Deckels sah er Asbest darin - nicht solch eine elektrische Entladung herkommen konnte, wie er sie als Schlag empfangen hatte, wenigstens der heutigen Wissenschaft ist solch eine Elektrizitätsquelle in so kleiner Form nicht bekannt.
Doch er legte das Ganze vorläufig auf den Schreibtisch, die weitere Untersuchung war Sache des Fachmannes.
Weiter enthielten die Taschen des Bewußtlosen einen Dolch, ein Taschenmesser, einen kleinen Revolver, ein kunstreich geschnitztes Büchschen aus Buchsbaum, das nichts enthielt, eine Briefmappe mit Notizbuch, worüber später gesprochen werden soll - alles wanderte auf den Schreibtisch, auch der Rubinring mit dem wunderbaren Farbenspiel, den Nobody vom Finger abstreifte, so wie er dem Manne auch Uhr und Kette und Klemmer, überhaupt alles abnahm.
Nun wollen wir einmal mit Scotts Augen beobachten, welcher auch nur zusah; denn Nobody nahm die Visitation allein vor.
Schon alle Taschen hatte er entleert, und dieser Detektiv hatte gewiß alle zu finden gewußt, die man nur irgendwo anbringen kann, und noch immer tastete er an dem Anzug herum.
»Was suchen Sie noch?« fragte Scott.
»Mir war doch gewesen, als ob er ...«
Er hatte noch einmal in die hintere Rocktasche gegriffen, der er zuerst eins der Elemente entnommen, zog die Hand wieder heraus, blickte darauf. Scott bemerkte, daß er plötzlich ein grenzenlos erstauntes Gesicht machte.
»Haben Sie noch etwas gefunden?« fragte Scott, der aber in Nobodys Hand nichts sehen konnte.
Nobody schien wie vom Donner gerührt zu sein. Scott wiederholte seine Frage, und dann mußte sich jener wie mit Gewalt aufraffen.
»Ja - nein - das ungeheuerste Rätsel,« stieß er hervor, schien etwas in der Hand zusammenzuballen und ging nach dem Schreibtisch.
Scott achtete nicht weiter darauf, er dachte, es sei ein kleines Tuch gewesen, die Erklärung würde ihm Nobody später schon noch geben, und außerdem beschäftigte ihn jetzt das Benehmen des Betäubten.
»Er bewegt sich - er kommt wieder zu sich!«
»Dann will ich ihn erst noch einmal in einen anderen Zustand versetzen,« sagte Nobody schnell, und als er vom Schreibtisch zurückkam, brachte er ein Fläschchen und einen Teelöffel mit.
»Ich will ihn in der Hypnose ausfragen. Mit Blicken ist dieser Mann nicht zu hypnotisieren, doch diesem Elixier widersteht kein Mensch, so wenig wie dem Einfluß des Alkohols.«
Er tröpfelte etwas von der roten Flüssigkeit auf den Teelöffel und zwang den Ohnmächtigen durch Zuhalten der Nase zum Schlucken.
Sofort dehnten sich die Glieder, sie wurden gar starr, der Kopf wurde wie von unsichtbarer Gewalt hintenübergepreßt, die Augen öffneten sich, aber die Pupillen waren ganz nach oben verdreht.
»Er ist hypnotisiert. - Sie werden mir gehorchen!« sagte Nobody in befehlerischem Tone.
Keine Antwort.
»Sie werden mir gehorchen!!!«
Keine Antwort. Und Scott sah, wie Nobodys Gesicht um eine Schattierung blässer wurde.
»Mann, hören Sie mich?!«
»Ja,« erklang es mit röchelnder Stimme.
»Sie werden mir gehorchen!«
»Nein - ich - werde - Ihnen - nicht - gehorchen,« röchelte der Hypnotisierte.
Mit einem Satze sprang Nobody nach dem Schreibtisch und kehrte mit einer kleinen Laterne zurück, an der zwei grüne Drähte befestigt waren.
Ein intensives Blendlicht flammte auf; als der Strahl zufällig Scotts Augen traf, fühlte er in denselben einen wahrhaften Schmerz. Nobody ließ ihn direkt in die Augen des kleinen Mannes fallen, und ... es zeigte sich nicht die geringste Wirkung, die Augen blieben wie zuvor nach oben verdreht, sonst auch nicht das geringste Zucken.
»Allmächtiger! Hier ist meine Kunst zu Ende!«
Mit diesen Worten ließ sich Nobody auf einen Stuhl fallen, und es hatte wie ein Aechzen geklungen.
Im Hause ertönte ein Klingeln. Nobody erhob sich wieder. Im ersten Augenblick hatte Scott ein ganz verstörtes Gesicht gesehen, schnell war es wieder eisern geworden.
»Das war meine Frau. Sie wartet mit dem Tee auf uns. Bitte, Edward, gehen Sie zu ihr, erzählen Sie ihr alles. Ich möchte mit diesem Manne, der sich meiner Macht entzieht, einmal allein sein.«
Scott entfernte sich, erst nach einer halben Stunde kam er wieder, und da befand sich der Käfig und auch der Schwarzrock nicht mehr im Zimmer, in dem Nobody auf und ab wanderte.
»Setzen Sie sich, Edward. Ich will Ihnen jetzt alles erzählen, was ich erlebt, was ich während Ihrer Abwesenheit getan und was für Schlüsse ich gezogen habe, ich schicke gleich voraus, daß böse Sorgen auf uns lasten.«
Er setzte sich wieder vor den Schreibtisch, auf dem noch die meisten der den Taschen entnommenen Gegenstände geordnet lagen. Scott ließ sich seitwärts neben dem Schreibtisch nieder.
»Sorgen?«
»Schwere, sehr schwere Sorgen. - Mein lieber Freund. Wären Sie nicht gewesen, so hätte ich keine Möglichkeit gehabt, dem führerlosen Motorboote zu folgen, ich hätte die Leiche des jungen Mädchens nicht gefunden, nicht jene geheimnisvolle Wohnung am Nordpol, ich wäre jedenfalls auch nicht mit diesem Manne zusammengetroffen. Daß nun alles so gekommen ist, dafür bin ich Ihnen unendlichen Dank schuldig, und ich werde alle diese mir jetzt noch ganz unfaßlich scheinenden, ans Unnatürliche grenzenden Rätsel lösen, oder ihre Lösung soll doch fernerhin die Hauptaufgabe meines Lebens bilden, und mit freudiger Tatkraft gehe ich an diese Arbeit, aber - aber ... doch lassen Sie mich erzählen.«
Und Nobody begann zu erzählen, mit dem Besuche der spanischen Tänzerin beginnend, wie dann der ›Mephistopheles‹ kam, er gab sogar die Wechselreden möglichst wortgetreu wieder, bis er mit den Worten schloß:
»So beweisen Sie mir doch, daß Sie sich unsichtbar machen können,« sagte ich zu ihm. - Da stellte sich der Mann, den ich für einen maßlos dünkelhaften Großprahler hielt, dorthin, eine Bewegung mit den Armen, und - verschwunden war er!«
Der sowieso sehr wortkarge Kanadier hatte den Erzähler mit keiner Silbe unterbrochen.
»Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß er sich unsichtbar gemacht hätte?« fragte er jetzt.
»Er war fort - verschwunden - unsichtbar.«
Scott konnte nur ungläubig den Kopf schütteln.
»Nach Untersuchung der hier vor mir liegenden Gegenstände,« fuhr Nobody fort, einen der beiden kleinen, durch Drähte verbundenen Zylinder in die Hand nehmend, »hat sich meine Ansicht über diesen Mann total geändert. Wie gesagt, ich hielt ihn für einen Narren, dessen Prahlerei schon an Wahnsinn grenzt. Mit nichten! Dieser Mann ist im Besitze von Kenntnissen und von technischen Erfindungen, von denen sich unsere Schulweisheit noch nichts träumen läßt. Das hatte er mir selbst gesagt - ich verspottete ihn - hier ist der erste Beweis.«
»Diese kleine Trockenbatterie?«
»Ja. Als er sich unsichtbar gemacht hatte, stürzte ich nach der Stelle, wo er soeben noch gestanden hatte, und wenn ich ihn auch nicht sehen konnte, so stand er doch noch da, ich packte ihn, hatte ihn zwischen den Händen - und in demselben Augenblick erhielt ich einen elektrischen Schlag, der mich gleich bis dorthin in die Ecke schleuderte.«
»Einen elektrischen Schlag?«
»Einen elektrischen.«
»Ich denke doch, Alfred, daß Sie so etwas zu unterscheiden wissen.«
»Gewiß, Edward, und Ihre Frage schon, ob es auch wirklich eine elektrische Entladung gewesen sei, welche den mich fortschleudernden Schlag oder Stoß verursachte, zeigt mir, daß Sie schon wissen, was mich so furchtbar irritiert.«
»Allerdings; denn ich glaube, es gehört doch schon etwas dazu, um Sie gleich gegen die Wand zu schleudern, und diese beiden kleinen Elemente hier sollten wirklich solch eine Kraftquelle von Elektrizität enthalten? Auch als Akkumulatoren könnten sie ja nur ein Minimum aufspeichern.«
Der junge Kanadier schien recht gut in diesem Fache beschlagen zu sein. Gerade heutzutage setzen ja alle Elektrotechniker ihre ganze Erfindungskraft daran, einen Elektromotor zu konstruieren oder einen Akkumulator, überhaupt eine Elektrizitätsquelle, die besonders für das Automobil wirklich brauchbar ist. Bis heute ist das noch nicht gelungen, der Elektromotor ist noch viel zu schwer. In Zahlen ausgedrückt: ein Elektromotor ist etwa zehnmal so schwer wie ein Benzinmotor, der die gleiche Kraft entwickelt.
Der bekannte Edison wollte jüngst einen Akkumulator konstruiert haben, der an Leichtigkeit alles bisher Dagewesene übertreffe, doch scheint sich seine Erfindung nicht zu bewähren.
Daß nun zwei solch winzige Elemente, wie sie hier vorlagen, solch eine Kraft entwickeln könnten, das war nach dem Stande der jetzigen Elektrotechnik ganz ausgeschlossen - und doch war es ja hier zur Tatsache geworden.
»Das ist aber noch nicht alles,« fuhr Nobody fort. »Beide Zylinder sind von Kupfer, beide sind mit Asbest gefüllt, der eine enthält eine silberne Stange, der andere eine von Kohle, an diese beiden Stangen sind die Drähte befestigt. Daß wir hier die Batterie vor uns haben, welche die Elektrizität lieferte, um mir den Schlag zu versetzen, daran ist doch gar kein Zweifel. Nun kann ich aber machen, was ich will - und ich verstehe auch etwas davon - ich bekomme keine Elektrizität heraus, nicht den kleinsten Funken. Mr. Kummer, mein Elektrotechniker, versteht mehr davon als ich. Er hat die beiden Elemente bereits in der Hand gehabt, hat sie untersucht. Nach seiner Ueberzeugung ist gar nicht daran zu denken, daß die Dinger Elektrizität erzeugen könnten, das sei wohl die Erfindung eines Narren, den der Wahnsinn plagt, die ganze Anordnung sei allen unseren Kenntnissen über die Entstehung der Elektrizität gerade zuwiderlaufend.«
»Haben Sie Ihrem Elektrotechniker gesagt, daß Sie Zeuge davon geworden sind, welche Kraft die beiden kleinen Elemente liefern können?«
»Nein. Ich will alles geheimhalten. Nur Sie müssen darum wissen. Also dieser geheimnisvolle Mann besitzt nicht nur eine uns ganz unbekannte Elektrizitätsquelle von ungeheurer Kraft, sondern er kann sie auch willkürlich fließen lassen und wieder abstellen. - Das wäre das eine Rätsel. Nun aber dieser Ring hier.«
Scott nahm den ihm gereichten Ring.
»Der ist aus einem einzigen Rubin geschnitten,« sagte auch er sofort. »Was für ein wunderbarer Diamant aber ist das? Nein, es ist überhaupt gar nichts von einem Stein zu sehen, das prachtvolle Feuer scheint nur von einem Punkte auszugehen!«
»Ich werde einmal das Zimmer verdunkeln.«
Nobody drückte auf einen Knopf, das elektrische Licht verlöschte, in dem Zimmer herrschte vollkommene Finsternis, und gleichzeitig kam aus Scotts Munde ein Ruf der Ueberraschung.
Von seiner Hand, die den Ring hielt, ging noch immer ein brillantes Farbenspiel aus, wie von einem Punkte und sich strahlenartig verbreitend, hell leuchtend, so hell, daß man z. B. den darübergehaltenen Finger sehen konnte, nur daß jetzt eine grünliche Farbe vorherrschte.
»Es gibt gar keinen Diamanten, der auch im Dunkeln wirklich leuchtet!« rief Scott.
»Dann ist es eben eine andere Substanz - eine Substanz mit eigener, selbständiger Leuchtkraft.«
»Solch eine Substanz gibt es nicht! Nichts in der Welt besitzt eine selbständige Leuchtkraft, und auch die Sonne wird dereinst verlöschen!«
Schon aus diesen Worten ist zu schließen, daß es sich nicht etwa um jene Masse handelte, um phosphorsaures Barium, welches in der Finsternis leuchtet. Das ist nur ein von der Sonne erborgtes, aufgesaugtes Licht, welches langsam wieder ausgestrahlt wird. Nein, hier lag etwas ganz anderes vor, mit jenem schwachen Leuchten ließ sich dieses auch gar nicht vergleichen, das war ein intensives Feuer, welches von dem Ringe ausging!
Das Licht wurde wieder angedreht.
»Der Ring besitzt noch andere Eigenschaften,« sagte Nobody. »Sie sehen hier eine silberne Dose, sie ist leer, ich lege den Ring hinein, schließe den Deckel - bemerken Sie etwas?«
Nein, Scott konnte nichts Auffälliges bemerken.
»Jetzt drehe ich das Licht wieder aus - und nun?«
Von der silbernen Dose ging ein grünes Licht aus, zwar schwach, aber in der Finsternis doch deutlich erkennbar. Sie war wie von einem leuchtenden Flor umgeben.
»Das von dieser Substanz ausgehende Licht ist ein anderes als das Sonnenlicht,« erklärte Nobody, »es durchdringt alle Metallwände, wenn sie nicht gar zu dick sind, noch leichter Holz. Ich habe schon verschiedene Versuche darüber angestellt.«
Der Leser wird bereits erkannt haben, um was es sich hier handelte: um Radium. Damals aber war dieses selbstleuchtende Element noch nicht bekannt, und wenn noch heute die Gelehrten, welche dieses geheimnisvolle Licht entdeckt haben und sich ständig mit ihm beschäftigen, vor einem unlösbaren Rätsel stehen, so kann man sich denken, wie jenen beiden Männern zumute war.
Doch schließlich faßte Nobody es sehr gleichmütig auf; er nahm es eben als Tatsache hin, daß jener Mann solch eine durch eigene Kraft leuchtende Substanz besaß - fertig!
»Nun zum dritten,« sagte er, als er das Zimmer wieder erleuchtet hatte, und legte den Ring beiseite. »Wollen Sie einmal dort nach dem Fenster sehen?«
Scott blickte nach der bezeichneten Richtung, während Nobody aufstand und hinter seinen Rücken trat.
»Edward Scott, blicken Sie sich um!« erklang es dann.
Der Gerufene drehte sich um - er sah niemanden! Und schon drückte sein Gesicht aus, was er empfand, denn das hatte doch dicht hinter oder jetzt vor ihm geklungen.
»Alfred, wo sind Sie denn?«
»Hier, dicht vor Ihnen!«
Der junge Kanadier prallte im Sitzen zurück, daß er bald mit dem Stuhle umgefallen wäre.
Es war absolut nichts zu sehen, und nicht etwa, daß im Zimmer irgend ein anderer Gegenstand durch etwas verdeckt worden wäre.
»Strecken Sie Ihre Hand aus, Sie brauchen nicht zu erschrecken!«
Gehorsam streckte Scott seine Hand aus, sie zitterte, und es war gut, daß Nobody ihn vorbereitet hatte; denn furchtbar schreckhaft mußte es doch sein, als seine Hand plötzlich von einer anderen ergriffen wurde, ohne daß diese zu sehen war. Es war wie feste Luft.
Sie wurde wieder losgelassen. »Nicht wahr, ich bin nicht nur unsichtbar, sondern auch vollkommen durchsichtig?« erklang es weiter in einiger Entfernung. »Passen Sie auf, Sie sollen wenigstens meinen sprechenden Kopf zu sehen bekommen!«
Und Nobodys Kopf erschien, frei in der Luft schwebend. Er zeigte seine wie abgehackten Hände, seine Füße, darüber den Kopf, aber in der Mitte war nichts, dann stand er wieder ganz da, die Arme ausgebreitet - eine Bewegung mit diesen, und er war wieder spurlos verschwunden.
»Hier ist das Rätsel, freilich nicht die Lösung,« sagte er dann, und Scott bekam in seine Hände einen Stoff, ein Zeug, wie Seide anzufühlen, nur daß es vollkommen unsichtbar war, oder richtiger durchsichtig, und alles, was es einhüllte, unsichtbar machte.
Wir wollen hier nun eine leichtfaßliche Erklärung für dieses physikalische Wunder einschalten.
Man denke sich eine Glastafel. Hält man hinter diese einen Gegenstand, etwa ein Buch, so ist dieses natürlich zu sehen ( ›natürlich‹ für uns; für einen unkultivierten Wilden, der noch gar nicht weiß, was Glas ist, ist diese harte und doch durchsichtige Tafel an sich schon ›Hexerei‹.)
Nun nimmt man eine zweite Glastafel, stellt diese hinter das Buch, so daß es sich zwischen den beiden Glastafeln befindet, und da mit einem Male ist von dem Buche nichts mehr zu sehen. Blickt man von oben oder von der Seite zwischen die beiden Glasscheiben, ist das Buch noch da - blickt man aber durch eine der beiden Glastafeln, so scheint das Buch verschwunden zu sein, und so verschwindet auch die Hand und alles andere, was man dazwischen hält.
Wie kommt das? Nun, das ist eben kein gewöhnliches Glas, sondern das ist eine andere, durchsichtige Substanz, welche das Tageslicht zwar hindurchläßt, aber es beim Durchlassen in besonderer Weise ›bricht‹, die Strahlen verändern sich, sie geraten in andere Schwingungen, diese neuen Strahlen durchdringen jeden festen Gegenstand, machen ihn farblos, für das menschliche Auge unsichtbar.
Das heißt, dies ist nur eine Hypothese, eine Annahme. Nobody und Scott aber hatten die Richtigkeit dieser Hypothese in der Hand, nur daß es sich hier nicht um einen glasähnlichen, harten Stoff handelte, sondern um einen schmiegsamen.
Es gehörte kein besonderer Scharfsinn dazu, daß diese beiden Männer sofort solch eine Erklärung für das Phänomen fanden. Denn gerade damals wurde die ganze Welt in Aufregung versetzt durch die Entdeckung von Professor Röntgen, durch seine sogenannten X-Strahlen.
Bisher war für uns Licht einfach Licht, alle physikalischen Eigenschaften des Lichtstrahls mit seinen chemischen Wirkungen waren uns bekannt - bis Professor Röntgen den Beweis lieferte, daß es noch andere Lichtstrahlen gibt, mit völlig anderen Eigenschaften, und seitdem hatten und haben sich viele Physiker mit Macht daraufgeworfen, immer noch andere Lichtstrahlen zu entdecken, auch mit Erfolg.
So z. B. ist die Entdeckung des wunderbaren Radiums - welches aber zur Zeit unserer Erzählung also noch nicht bekannt war - nur dem Umstande zu verdanken, daß sich ein französischer Gelehrter mit den Röntgenstrahlen beschäftigt hatte. Bei Durchleuchtung der verschiedenen Mineralien entdeckte er durch Zufall das selbständig leuchtende Radium.
Und hier verstand ein Mann eine Substanz herzustellen, welche durch doppelte Brechung und Reflexion des Lichtes Strahlen erzeugte, die jeden Gegenstand für das menschliche Auge unsichtbar machten.
»Ich hatte eine Ahnung, daß so etwas vorliegen müsse,« sagte Nobody, »es kam mir nämlich gerade so vor, als ob der Schwarzrock in dem Moment, da er verschwand, etwas wie einen Mantel um sich warf. Er hatte solche Armbewegungen gemacht. Deshalb untersuchte ich auch immer wieder seine Taschen - und richtig, da liegt der Tarnmantel!«
Unterdessen hatte sich Scott mit dem unsichtbaren Gewebe beschäftigt. Es war immer dasselbe. Steckte er seine Hand darunter, so war diese zu sehen. Wickelte er aber das Tuch darum, so daß die Hand also eingehüllt war, so war sie verschwunden, zugleich durchsichtig, denn wurde sie auf einen Gegenstand gelegt oder auf die Tischplatte, so war diese ganz deutlich zu sehen.
Wußten die beiden gebildeten Männer das Phänomen auch auf eine natürliche Weise zu erklären, so war ihre Erregung über diese Erkenntnis doch eine ungeheure. Besonders bei Scott war dies der Fall.
Der sonst so phlegmatische Kanadier konnte nicht mehr sitzen, er mußte aufspringen und im Zimmer herumrennen.
»Tarnmantel, Tarnmantel!!« rief er ein übers andere Mal. »Das ist das richtige Wort! Die unsichtbar machende Tarnkappe gehört ins Reich des Märchens - und hier - und hier - nein, es ist ja gar nicht möglich!!«
»Mein lieber Freund. Wenn Professor Röntgen seine X-Strahlen vor 300 Jahren entdeckt hätte, so wäre er als Hexenmeister, der mit dem Teufel im Bunde steht, auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden, und hätten Sie noch voriges Jahr die Behauptung aufgestellt, man könnte dereinst die Knochen im menschlichen Leibe photographieren, so wären Sie jedenfalls ins Irrenhaus gesperrt worden. Oder glauben Sie nicht?«
»Ich verstehe, was Sie meinen, und Sie haben recht,« murmelte Scott. »Und doch - die unsichtbar machende Tarnkappe erfunden - gleich ein Tarnmantel - es ist schier unfaßlich!«
»Jawohl, Sie können auch von einer Tarnkappe sprechen, gleich von einem ganzen Tarnanzug. Der Mephisto - ich will ihn Monsieur Sinclaire nennen, wie er sich damals ins Kajütenbuch eingetragen hatte - hat nämlich nicht nur dieses unsichtbarmachende Tuch bei sich gehabt. Hier ist auch noch ein ganzer Anzug von demselben Stoffe. Glücklicherweise griff ich einmal in das Büchschen hier, da merkte ich, daß etwas drin war, aber es dauerte verdammt lange, ehe ich mich darin zurechtgefitzt hatte.«
Er nahm jene erwähnte Büchse aus Buchsbaumholz, öffnete sie, schien etwas herauszunehmen, sortierte etwas Unsichtbares.
»Ja, da muß man verdammt vorsichtig sein - und nur ja nicht blasen, das Zeug ist leicht wie Spinneweben - halt, hier habe ich die Kappe.«
Nobody stülpte etwas vorsichtig über den Kopf, und dieser war bis zu den Schultern verschwunden!
»Und hier ist eine Jacke, weit und bequem,« fuhr der unsichtbare Kopf zu sprechen fort, »sie wird, soweit ich fühlen kann, einfach übergezogen, denn Knöpfe und dergleichen gibt es nicht daran - und hier ist die Hose - hei, das muß ein Vergnügen sein, an einem heißen Sommertage nackt und in der Tarnkappe auf der Straße herumzulaufen ...«
Er zog die betreffenden Kleidungsstücke nicht an, nur die Kappe behielt er auf, und nun der kopflose Mensch, wie er die unsichtbare Kleidung sortierte und dabei immer in trocken-humoristischem Tone erklärte - der so ernste Kanadier konnte sich nicht helfen, er mußte lachen.
»Geht denn das nur alles in das kleine Büchschen hinein?« fragte er dann.
»O, was das betrifft - Sie kennen doch die Seidengewebe der indischen Hausindustrie - da kann man doch auch ein Tuch von zehn Quadratmetern mit Leichtigkeit durch einen Fingerring ziehen. Und so fein fühlt sich auch dieses Zeug hier an, und dennoch scheint es von bedeutender Festigkeit zu sein, eben indische Seide, nur präpariert mit Mephistopheles-Strahlen. Aha, die Hosenbeine sind ja unten zu, habe also gleich Strümpfe. Das ist famos, das kann man gleich unter dem gewöhnlichen Anzug tragen, und zieht man diesen aus, so ist man eben unsichtbar.«
Nobody nahm die Kappe wieder ab, und im Gegensatz zu der humoristischen Weise, in der er gesprochen hatte, waren es sehr ernste Augen, welche Scott anblickten.
»Was sagen Sie nun zu alledem, mein Freund?«
»Ja, jetzt verstehe ich Ihre schweren Sorgen, von denen Sie vorhin sprachen - die furchtbare Gefahr, die Ihnen und Ihrem ganzen Hause droht.«
»Sie wissen, was ich meine?«
»Ich glaube, dieser rätselhafte Mann weiß, daß ein Fremder in sein Geheimnis am Nordpol gedrungen ist. Auf eine mir noch unerklärliche Weise hat er erfahren, daß gerade Sie es gewesen sind, der Baronet von Kent, Champion der Königin. Er sucht Sie auf, nicht, um Sie zu verderben, dazu sind Sie ihm zu schade; denn er hat sich schon längst mit Ihnen beschäftigt, und auch er schätzt Ihre Kenntnisse und Fähigkeiten. Er will Sie auf seine Seite ziehen. Deshalb sucht er Sie hier in Ihrer Wohnung auf. Jedenfalls ist er doch nicht allein, er hat Helfershelfer, er nannte sie ja wohl schon die Untertanen seines unsichtbaren Reiches. Sollte denen nicht bekannt sein, daß sich ihr Gebieter hierher zu Ihnen begeben hat? Sollten diese unsichtbaren Geister, wie man sie wohl nennen darf, nicht Mittel und Wege finden, ihren Gebieter zu befreien und ... Rache zu nehmen?«
Scott hatte aus Nobodys tiefster Seele gesprochen, und es mußte ein furchtbar niederschlagender Gedanke sein, daß der sonst so energische Mann plötzlich den Kopf so tief auf die Brust sinken ließ.
»Gegen Menschen und Elemente will ich kämpfen,« flüsterte er, »und nahe sich mir der Teufel in eigener Gestalt, wenn ich ihn nur sehen kann, ich will ihn packen und mit ihm ringen - aber unsichtbare Menschenhände - entsetzlicher Gedanke - der lähmt meine ganze Energie!«
»Vielleicht ist nur er im Besitze dieser beiden Gewänder,« suchte Scott zu trösten.
»Vielleicht, vielleicht! Wer gibt mir hierfür eine Garantie? Er selbst wird es mir natürlich nicht sagen.«
»Sie haben nichts in der Hypnose aus ihm herausgebracht?«
»Das ist es ja eben! Dieser geheimnisvolle Mann wird zwar durch mein Mittel in Hypnose versetzt, aber er verweigert dem Hypnotiseur den Gehorsam! Wiederum ein mir unfaßbares Rätsel. Der Kerl kann eben mehr als ich.«
»Steht etwas in dem Notizbuche?«
»Jawohl, genug. Hieroglyphen. Und ich bezweifle, daß dieser Mann sich einer Geheimschrift bedient, die irgend ein anderer Mensch entziffern kann. Und was es sonst für ein Charakter ist, das erfahren Sie hier aus diesem Aquarellbildchen, jedenfalls von seiner Hand gemalt und gewissermaßen sein Wappen darstellend.«
Es war ein seltsames Bild, farbig ausgeführt, welches die erste Seite des in Saffianleder gebundenen Notizbuches schmückte.
Ein großes Spinnennetz, in der Mitte die Spinne, aber auf dem geschwollenen Leibe ein Menschenkopf, dessen mit einem schwarzen Barte eingerahmtes Gesicht ganz deutlich die Teufelsfratze jenes Mannes wiedergab.
Um diese Menschenspinne herum nun eine ganze Menge von Weibern, die sich in dem Netze gefangen hatten, Repräsentantinnen aller Völkerrassen: eine modern gekleidete Dame, eine Türkin, eine ganz nackte Wilde, dann die Tracht einer Schwedin, einer Rumänin u.s.f.
Das Bildchen war ausgezeichnet gemalt. Nicht nur konnte man deutlich erkennen, daß die eine Figur eine elegante Dame aus der großen Welt, die andere etwa ein Fabrikmädchen darstellen sollte, sondern auch die angstvollen Gesichtszüge waren immer treulich wiedergegeben.
Zu dieser Angst hatten sie ja auch allen Grund. Einige schienen soeben erst in das Netz geflogen zu sein und waren sich ihrer Lage noch nicht recht bewußt; andere erhoben bittend ihre Hände zu der Menschenspinne, welche sich soeben anschickte, eine wohlgenährte Vierländerin auszusaugen. Andere versuchten sich von dem sie umstrickenden Gewebe zu befreien, wobei manchmal recht lüsterne Stellungen herauskamen, wie überhaupt die Lüsternheit vorherrschte, und andere wieder waren schon wie die ausgesaugten Fliegen vollkommen eingesponnen, verdorrt.
»Seltsam!« murmelte Scott.
»Nein, gar nicht seltsam. Das ist eben das Wappen dieses Mannes, eine menschliche Giftspinne, das offenbart seinen Charakter, und wenn die spanische Tänzerin, deren Stolz er als Bettler mit dämonischer Kraft gebrochen hat, nicht den Leberfleck gehabt hätte, der diesem Kenner an tadelloser Frauenschönheit nicht paßte, so hätte er auch sie eingesponnen und ausgesaugt, dann vielleicht noch in Eis konserviert, als Andenken. O, da weiß man wirklich nicht, ob man dieses Genie anbeten, oder ob man sich vor diesem Scheusal entsetzen soll.«
Im Schreibtisch ertönte ein Klingelzeichen.
»Was gibt es?«
»Der Gefangene ist zu sich gekommen,« meldete eine Stimme, »er hat Bleistift und Papier gefordert, ich habe es ihm gegeben.«
»Recht so. Ich komme sofort.«
Mit einer trotzigen Bewegung warf der Detektiv den Kopf zurück, als er aufstand.
Verschwunden war mit einem Male alle Niedergeschlagenheit, Nobody war wieder derselbe, der er immer war.
»Ich bin es gewesen, der im Kampfe Sieger geblieben ist, trotz aller seiner Künste! Und ich werde ihn auch noch zum Sprechen bringen, er muß mir alles offenbaren, er muß! Oder ich ...«
Er vollendete den Satz nicht, auch ging er nicht sogleich.
Zuerst verpackte er alle die Sachen und brachte sie in Schubfächern des Schreibtisches unter, was einige Zeit in Anspruch nahm.
»Verzeihen Sie, Edward, ich möchte ihn doch zuerst allein sehen und sprechen. Ich teile Ihnen dann alles mit.«
»Wo befindet er sich denn jetzt?«
»Hier nebenan im Empfangszimmer. Aber noch immer in seinem Käfig. Na, der wird schöne Augen gemacht haben, als er erwachte! Als Sie draußen waren, habe ich ihn entkleidet - ein zierlicher, fast schwächlicher Körper - und ihm andere Sachen angezogen. Mein Sekretär blickt manchmal nach ihm. Papier und Bleistift hat er gefordert? Was will er denn schreiben? Nun, ich werde es ja gleich sehen.«
Nobody war fertig mit dem Wegräumen, er ging nach der Tür des Nebenzimmers, öffnete sie und ...
Erst prallte er einen Schritt zurück, dann stürzte er mit einem Schrei vorwärts.
Der Käfig stand noch in dem Zimmer, der Gefangene befand sich auch noch darin, aber er saß nicht, stand auch nicht, sondern er - hing!
Er hatte sich mit seinem Hosenträger oben an einem Gitterstab aufgeknüpft, hatte seine schönste Teufelsfratze aufgesetzt, nur daß diese jetzt nicht so bleich, sondern blau angelaufen war, und so hing er und streckte dem Eintretenden die Zunge weit heraus.
Im nächsten Augenblick war Nobody in dem Käfig und hatte den Hosenträger durchschnitten. Zu spät! Der Tod war bereits eingetreten, und gegen den Tod wußte auch Nobody kein Mittel.
Auf dem Stuhle lag ein mit Bleistift beschriebener Bogen Papier.
»Sir Dr. Alfred Willcox, genannt Nobody! Meine respektvollste Hochachtung vor Ihnen! Sie sind mir über. Ich hätte niemals geglaubt, daß mich ein Mensch besiegen könnte - Sie haben es fertig gebracht. Deshalb noch einmal meine Hochachtung!
»Nun ist's aber doch mit mir vorbei. Sie haben mir meine Gottähnlichkeit geraubt, und daß mich, den unsichtbaren Gott, jemand ohnmächtig in einem Affenkäfig sitzen sehen soll, das vertrage ich nicht. Außerdem bin ich schon längst des Lebens überdrüssig, ich bin auch viel zu gut für die Erde, ich gehe wieder zurück in meine schöne Heimat, in die Hölle.
»Ja, ich bin ein Teufel gewesen. Aber auch ein Teufel kann einmal großmütig sein. Ich setze Sie zu meinem Erben ein. Ueberhaupt hatte ich ja vor, Sie zu meiner rechten Hand zu machen, und daß Sie mich gleich so in einen Affenkäfig einsperren, das ist eigentlich gar nicht hübsch von Ihnen.
»Trotzdem, ich verzeihe Ihnen, und während ich zur Hölle fahre, die sich bekanntlich im Innern der Erde befindet, mache ich Sie zum Herrn auf der Erdoberfläche, zum Herrn über alle Menschen und alles, was da kreucht und fleugt.
»Sollte es Ihre eigene Findigkeit noch nicht entdeckt haben, so untersuchen Sie meine linke Rocktasche, Sie werden da etwas Unsichtbares herausziehen, etwas ebenso Unsichtbares ist auch in dem geschnitzten Holzkästchen, und das ist ein vollkommener Anzug, und eine weitere Einleitung braucht Mr. Nobody wohl nicht.
»Wenn ich Ihnen nun noch mitteile, daß diese beiden ›Nebelkostüme‹ die einzigen sind, welche existieren, so brauche ich Ihnen nicht mehr zu sagen, wie Sie sich dadurch zum Herrn der gesamten Erde machen können.
»Ich habe keine Zeit mehr zum Schreiben. Nur das eine will ich Ihnen noch zur Beruhigung mitteilen: wenn ich von Ihrer Wohnung aus per Extrapost zur Hölle fahre, so kümmert sich kein Mensch darum. Ich bin immer als unnahbarer, unsichtbarer Gott auf Erden gewandelt - mit Ausnahme einiger Gelegenheiten; auch heute leistete ich mir eine Extravaganz mit einer spanischen Tänzerin, die ja wohl auch bei Ihnen gewesen ist, (notabene: geben Sie sich nicht so viel mit Frauenzimmern ab, wie ich es getan habe, es hat keinen Zweck, es kommt nichts dabei heraus, man verläuft dabei nur seine kostbare Zeit; für mich häßlichen Krüppel freilich hatten solche Eroberungen einen ganz besonderen Reiz.)
»Wie ich erfahren habe, daß Sie in meinem Laboratorium am Nordpol gewesen sind? Als Sie über die Schwelle gingen, wurden Sie und Ihr Begleiter automatisch photographiert. Ich kam bald nach Ihnen dorthin, sah die Photographie, ging nach New-York zurück, hörte vom ›Polarstern‹, nur drei Mann waren von der Polarexpedition, die östlich von Grönland gemacht worden war, zurückgekehrt, dann Nobodys Bericht in ›Worlds Magazine‹ - und wenn da auch etwas ganz anderes zu lesen war, ich wußte genug, denn ein dummer Teufel bin ich nicht. Das ist die einfache Erklärung.
»Nun aber zur Hauptsache: Von Edfu am Nil führt nach den Ruinen von Berenice durch das Gebirge eine alte, jetzt nicht mehr benutzte Karawanenstraße, genannt das ›Tal der Verwirrung‹.
»Zählen Sie auf dieser Straße rechts den achten Brunnen, bei allen dort hausenden Beduinen bekannt als der Teufelsbrunnen. Das ist der Zugang zu einer meiner Behausungen. Es gibt noch einen anderen, viel bequemeren Zugang, aber dessen Beschreibung wäre zu kompliziert, den finden Sie dann von innen.
»Der Brunnen ist ausgetrocknet. Sie lassen sich an einem Seile hinab. Sechs Meter unterhalb der Erdoberfläche sehen Sie in der Wand einen eisernen Riegel eingelassen. Diesen Riegel drehen Sie nach rechts herum, so weit er geht. Tun Sie das nicht, so werden Sie wieder nach oben expediert, d. h. Sie fliegen in die Luft.
»Was Sie dort unten finden, werden Sie ja sehen. Am meisten wird Sie ein von mir geschriebenes Buch interessieren. Dieses gibt Ihnen über alles Aufklärung: wer und was ich bin, was für Entdeckungen ich gemacht habe, besonders auf dem Gebiete der Elektrizität, was für eine Bewandtnis es mit dem roten Ringe hat, wie ich zu den beiden ›Nebelkostümen‹ gekommen bin, usw. usw.
»Auch von der von mir gegründeten Sekte, die mich nicht nur als ihren Propheten, sondern als ihren Gott anbetet, wird Ihnen das Buch erzählen. Machen Sie mit dieser Bande, was Sie wollen. Da Sie sich wohl nicht als Gott anbeten lassen werden, so ist es vielleicht das beste, Sie setzen die wahnsinnige Gesellschaft auf ein Pulverfaß und blasen sie in die Luft.
»Genug! Ich bin und bleibe
                               Mephistopheles.«

4. Im Teufelsbrunnen.

Die Passagiere des von Genua kommenden Dampfers drängten sich nach vorn, um das erreichte Ziel oder bei einer weiteren Reise doch die erste Zwischenstation zu betrachten: das im Glanze der Morgensonne auftauchende Alexandrien.
Der Anblick von Alexandrien, wenn man in den Hafen einläuft, ist nicht besonders reizvoll. Mit dem des herrlich gelegenen, von Bergen umsäumten, terrassenförmigen Algier ist er gar nicht zu vergleichen.
Ein großer Haufen kastenähnlicher Häuser, aus dem hier und da eine Spitze aufsteigt, inmitten einer baumlosen Ebene gelegen, das Auge von keinem Grün erfreut, eine sandige Küste, an der eintönig das Meer rollt, zwei langgestreckte Molen - das ist der Eindruck, den der objektive Beschauer empfängt, wenn er sich dem großen Handelshafen Aegyptens von der Seeseite her nähert.
Freilich, wenn man eine Seereise hinter sich hat, und währte sie auch nur wenige Tage, dann wirkt eben auch die trostloseste Küste herzerquickend, und dort in dem Häuserhaufen winkt einem ja alles, was man auf dem Dampfer, wenn dieser noch so komfortabel eingerichtet, entbehrt hat, und sei es auch nur der feste Boden unter den Füßen.
Dazu kommt nun noch das orientalische, sogar direkt afrikanische Gepräge, welches einen beim Einlaufen in den Hafen sofort umgibt. Denn wenn dieses orientalische Gepräge dem heutigen Alexandrien auch fast ganz fehlt, draußen auf dem Wasser drückt es sich um so mehr aus. Das sind die ständig aus- und einfahrenden und auf dem Meere fischenden Sambuks, die großen Boote mit den beiden dreieckigen Segeln, die sich im Laufe der Jahrhunderte durchaus nicht geändert haben; mit solchen Sambuks sind die Araber schon vor tausend Jahren nach Indien und dann erobernd nach Europa gefahren, und noch heute bilden die Mannschaft dieser Sambuks dieselben Araber im Kaftan oder im weißen Kittel mit mächtigem Turban und dieselben schwarzen Neger mit Lendenschurz, welche gestikulierend unter einem Heidenlärm die Segel bedienen, die Fischnetze auswerfen oder sich schon mit den Passagieren der ankommenden Schiffe wegen des Gepäcks zu verständigen suchen, während andere nur deshalb hinausfahren, um ihre Taucherkünste zum besten zu geben oder überhaupt um zu betteln.
Das ist ja nun für den Reisenden, wenn er Afrika zum ersten Male auch an seiner poesielosesten Stelle erreicht, ein unvergeßliches Bild!
Nobody stand an der Bordwand, als Scott zu ihm trat. Sie wechselten den ersten Morgengruß, und Nobody sagte sich, daß sein Freund heute ganz außergewöhnlich niedergeschlagen aussah. Und da kam auch gleich der Grund dafür, Scott begann von selbst davon.
»Wir sind am Ziel - am Anfange der Landroute - und ich ... ich ... möchte mich trennen von Ihnen.«
»Trennen? Von mir? Weshalb denn?!« stieß Nobody überrascht hervor.
Tief ließ der junge Kanadier das Haupt sinken, seine traurigen Augen irrten auf den Deckplanken umher.
»Ja, ich möchte Sie in Alexandrien verlassen - es muß sein - aber ... das Warum weiß ich selbst nicht.«
Wie sehr bereute Nobody seine voreilige Frage! Denn er hatte ja seinen unglücklichen Freund nun schon zur Genüge kennen gelernt.
In der letzten Zeit, besonders im Hause Nobodys, war der junge Mann viel heiterer geworden, konnte manchmal auch recht herzlich lachen. Aber verschlossen blieb er deswegen immer, vor allen Dingen hatte er noch nie auch nur mit einem Worte sein unglückliches Liebesverhältnis berührt.
Auch in jenen Zustand, in welchem, wie er sagte, sein Doppelgänger aus ihm heraustrat, wobei er solch ein starres, leichenähnliches Aussehen annahm, war er noch nicht wieder gefallen, wenigstens hatten die Hausbewohner nichts davon bemerkt.
Trotzdem hatte Scott in Nobodys Hause seine somnambulen Eigenschaften zweimal bewiesen, nur in ganz anderer Weise, und besonders der erste Fall, der hier ausführlich wiedergegeben werden soll, hatte Nobody plötzlich den Somnambulismus seines Freundes in ganz anderem Lichte erscheinen lassen.
Eines Morgens beim Frühstück hatte sich Lady Willcox sehr aufgeregt gezeigt. Nobody fragte sie nach dem Grunde, sie hatte nur darauf gewartet, sonst würde sie bei der ersten Gelegenheit wohl allein davon begonnen haben. Sie erzählte. Die Vorgeschichte kannte Nobody, wegen des anwesenden Gastes war sie ausführlicher.
Vor einem Jahre hatte Lizzy, eine ihrer Küchenmägde, vom benachbarten Gute einen Stallknecht geheiratet. Lady Willcox gehörte zu jenen seltenen Frauen, welche ihrem gesamten Hauswesen als Patriarchin vorstehen; trotz all ihrer künstlerischen und anderen Beschäftigungen hatte sie noch immer Zeit, sich um die Angelegenheiten ihrer geringsten Dienstmagd zu kümmern. So hatte sie dieses Verhältnis nie gebilligt, um so weniger, weil sie mit Lizzy sonst zufrieden war, und jener Bursche war ein Taugenichts. Aber die Liebe ist nicht nur blind, sondern auch taub, und ... nun gerade erst recht! Die ließ doch nicht von ihrem schneidigen Bereiter.
»Dann kann ich ja gehen.«
»Ja, wenn Sie nicht bleiben wollen, dann können Sie gehen.«
Und die beiden waren gegangen, als Mann und Frau, gleich bis nach Amerika, nach New-York, wo der Bereiter eine Stelle in Aussicht hatte.
»Heute früh bekomme ich von Lizzy einen Brief - aus London - denke dir, Alfred, die ist schon seit einem Vierteljahre wieder hier, ihr Mann ist drüben in New-York verunglückt und gestorben - und es geht ihr herzlich schlecht - dabei krank - und ein kleines Kind - und anstatt daß das dumme Ding nun gleich wieder zu mir kommt, wo sie wissen muß, daß ich sie gleich wieder annehme, weil ich doch sonst mit ihr zufrieden war, hat sie sich bis jetzt so durchgeschleppt - nun ist es aber zu Ende - sie schuldet seit zwei Wochen die Zimmermiete, und wenn sie bis heute mittag nicht die acht Schilling bezahlt hat, wird sie auf die Straße gesetzt - und nun steht die arme Frau mit dem kleinen Kinde hungernd da - und in ihrer Verzweiflung denkt sie nun endlich an mich - ich möchte ihr doch verzeihen - ich möchte ihr doch bis heute mittag zehn Schilling schicken - nächste Woche bekäme sie wieder Arbeit ...«
»Na, da schicke ihr doch das Geld und laß sie herkommen!« unterbrach sie der Gatte.
»Ja, ich weiß ihre Adresse nicht! Ich habe den Brief verlegt! Wie ich ihn heute früh las, wurde ich einmal unterbrochen, ich legte ihn weg, nur für einen Augenblick - und dann konnte ich ihn nicht wiederfinden - drei Stunden lang habe ich alle Zimmer umkehren lassen - alles hat mitgesucht - er ist nicht wiederzufinden - und jetzt ist es schon um elf - und was die arme Frau, die sich in ihrer letzten Verzweiflung an mich gewendet hat, nun von mir denken wird, daß ich sie so im Stiche lasse ...«
Gabriele zog ihr Taschentuch und wandte sich, um heimlich zwei Tränen zu trocknen.
Sie wußte wohl selbst nicht, die einstige Wüstenräuberin und jetzige Lady und gefeierte Künstlerin, was für ein herrliches Zeugnis sie sich mit diesen von Tränen begleiteten Worten ausgestellt hatte!
»Alfred, kannst du denn nicht helfen? Telegraphisch ist ja noch Zeit - aber nur erst den Brief wiederfinden - ich glaube, er kam aus dem Ostend.«
Nein, da konnte auch Nobody nicht helfen, zumal nicht in so kurzer Zeit. Eine polizeiliche Anmeldung gibt es in England nicht, das Ostend Londons ist groß. Gabriele ›glaubte‹ ja auch nur, und mit dem Wiederfinden des Briefes hatte es jetzt, wenn schon alles durchwühlt war, auch seine schwierige Bewandtnis, ganz abgesehen davon, daß er vielleicht schon verbrannt worden war.
»O Gott, o Gott, die kranke Frau mit dem kleinen Kinde auf der Straße, ohne einen Penny Geld, was die nur von mir denken wird ...«
Da plötzlich legte Scott Messer und Gabel hin.
»Wenn Mylady gestatten, daß ich aufstehe und das Zimmer verlasse, kann ich Ihnen gleich sagen, wohin Sie den Brief gelegt haben.«
Und ohne die Erlaubnis abzuwarten, erhob er sich, verließ das Zimmer, die staunenden Zurückbleibenden hörten ihn die Treppe hinaufgehen, sein über diesem liegendes Zimmer betreten, dort oben war es ganz still, schon nach fünf Minuten kehrte er zurück.
»Haben Mylady einen braunen Nähkorb mit grünem Deckel?«
»Ja, den habe ich, aber der ist gar nicht in dem Zimmer gewesen, in dem ich den Brief ...«
»In diesem Nähkörbchen liegt der vermißte Brief.«
Mit starren Augen blickte sie den Sprecher an.
»Ach - - ja - - ja!! - - Jetzt entsinne ich mich ...«
Sie schnellte vom Stuhle auf und eilte ins Nebenzimmer, und gleich darauf erklang es drüben jubelnd:
»Richtig, hier im Nähkörbchen liegt er!«
Gabriele hatte jetzt keine Zeit, eine Erklärung zu fordern, dachte im Augenblick vielleicht gar nicht daran, daß hier ein Wunder geschehen war, sie eilte in das Telegraphenbureau ihres Mannes.
Die beiden Männer waren allein.
»Nun sagen Sie, Sie wunderbarer Mann,« begann Nobody, »darf ich jetzt einmal um eine Erklärung bitten?«
Doch augenblicklich wunderte sich Nobody noch mehr darüber, daß sein Freund jetzt so heiter lächelte, während er sonst doch seine somnambulen Eigenschaften als ein Unglück betrachtete, das ihn schwermütig machte.
»Eine richtige Erklärung kann ich Ihnen gar nicht geben, da fehlen mir immer die Worte.«
»Das verstehe ich schon. So können Sie Ihren Doppelgänger also auch willkürlich heraustreten lassen? Das ist mir ganz neu.«
»Mit meinem Doppelgänger hatte dies gar nichts zu tun.«
»Nicht?!«
»Nein. Ich ... ich kann mich nicht ausdrücken. Mein Doppelgänger macht sich mir nur bemerkbar, wenn mir eine Gefahr droht, nur mir allein, und dieses Heraustreten ist mir stets fürchterlich, der Angstschweiß bricht aus allen meinen Poren hervor, ich fühle mich schon als - als - - eine Leiche. Dieses Hellsehen ist etwas ganz anderes, das kann ich jederzeit, ich muß nur allein sein und Ruhe um mich haben, und das bereitet mir weder körperliche noch seelische Schmerzen, im Gegenteil, es beglückt mich. Wie sich dieses Hellsehen vollzieht, das kann ich nicht beschreiben, so wenig, wie - wie - wie ich mich an meine eigene Geburt erinnern kann. Nun ja, ich setze mich ruhig auf einen Stuhl hin, schließe die Augen, konzentriere meine Gedanken auf das, was ich sehen oder wissen will, und plötzlich hebt es sich vor meinen geistigen Augen wie ein Schleier, ein Nebel lichtet sich, ich sehe.«
»Das ist ja wunderbar!« staunte Nobody, außerdem froh, daß er seinen Freund einmal zum Sprechen brachte. »Edward, Sie sind ja beneidenswert, da kann Ihnen gar nichts verloren gehen!«
O weh! Nobody hatte mit Absicht einen humoristischen Ton angeschlagen, und als wenn diese Worte Stiche gewesen wären, die bis ins Herz trafen, so schmerzhaft verzog sich das Gesicht des jungen Mannes.
»Pardon. Diese Gabe kann ich nur für andere benutzen, für mich selbst bleibt nur mein schrecklicher Doppelgänger.«
Nun, auch dann wußte Nobody seinen Fehler wieder gutzumachen.
»Dann können Sie doch Ihren Mitmenschen unersetzliche Dienste erweisen.«
»Doch nicht immer, es hat seine Grenzen, sogar sehr enge. Allerdings kann ich mich zu jeder Zeit willkürlich in diesen Zustand versetzen, doch es muß ein hinreichender Grund dazu vorhanden sein. Hätte jemand seine Tabakspfeife verlegt, so würde ich vergeblich darauf warten, daß sich der Schleier vor meinen Augen lüftet. Anders schon wäre es, wenn die Tabakspfeife ein teures Andenken ist, an dem das ganze Herz des Betreffenden hängt, und dann ist es noch immer davon abhängig, ob mir der Mann sympathisch ist. Sympathie, Zuneigung, das ist dabei überhaupt die Hauptsache. Sehen Sie, bei Ihrer Frau Gemahlin ...«
Er brach ab, ein feines Rot überzog sein edles Gesicht.
»Mißverstehen Sie mich ja nicht,« wollte er hastig fortfahren.
»Gott bewahre!« lachte Nobody. »Ich hoffe doch, daß Sie für meine Frau ebensoviel Sympathie empfinden, wie meine Frau und ich für Sie, und hier handelte es sich doch nicht um eine verlegte Tabakspfeife, sondern von dem Auffinden des Briefes hing vielleicht das Wohl und Wehe zweier Menschenleben ab.«
»Das ist es! Sehen Sie, ich will Ihnen zwei korrespondierende Fälle erzählen. Sie wissen, ich bin ein großer Kinderfreund. In Philadelphia war es, eine Frau, erst fremd zugereist, jammerte auf der Straße, sie hatte im Menschengedränge ihr Kind verloren. Ihr Jammer ging mir ans Herz, und ich sah nun im Geiste das kleine Kind hilflos umherirren, oder von fremden Menschen umringt, deren Sprache es nicht verstand - ja, daß es mir ans Herz geht, so wie vorhin bei Ihrer Gattin, das ist die Hauptsache. Ich nahm mich der Frau an, suchte einen stillen Ort auf, wo ich mich in meine Gedanken versenken konnte - zehn Minuten später hatte sie ihr Kind wieder. Ich wußte genau, wo es zu finden war. Dasselbe passierte mir in Paris. Eine Frau schrie auf der Straße mörderlich nach ihrem verlorengegangenen Kinde. Aber - ich weiß nicht - die Frau gefiel mir nicht recht. Trotzdem, ich versuchte das Kind im Geiste zu finden. Es gelang mir nicht. Und richtig, die Frau beruhigte sich sehr schnell und sagte in herzlosestem Tone: ›Na, die Polizei wird ihn mir schon wiederbringen, und sonst habe ich ja noch sieben zu Hause!‹ - Sehen Sie! Und der Junge war mit Absicht weggelaufen, der amüsierte sich unterdessen auf eigene Faust. Nein, ich muß für den, für den ich hellsehen will, Sympathie haben, und meint er es nicht durchaus ehrlich, so schwindet auch sofort meine Sympathie, mir selbst ganz unbewußt, und dann wirkt es nicht.«
»Nun, ich hoffe, Ihre Sympathie zu besitzen, und werde sie mir zu erhalten wissen,« sagte Nobody, »auf daß ich immer solch einen Schutzengel zur Seite habe, den ich manchmal um Rat fragen kann.«
Schon wieder nicht recht gesprochen? Ein furchtsam erschrockener Blick hatte den Sprecher getroffen.
»Dann will ich Ihnen noch einen dritten Fall erzählen,« fuhr Scott fort, »ebenfalls ein verlorenes Kind betreffend. Es war in einer deutschen Stadt - auf einem Volksfest - ein ungeheuerer Menschentrubel - ein Vater suchte sein - Kind - und ich - sah es denn - auch ...«
Er hatte von Anfang mit zitternder Stimme gesprochen, er wurde immer stockender, zuletzt konnte er nicht weiter, er legte plötzlich beide Hände vor die Augen, ein unterdrücktes Schluchzen erklang.
Daß dieser starke Mann ein überaus weiches Herz besaß, das hatte Nobody ja schon längst bemerkt. Nun war das aber bei Nobody auch der Fall, wenigstens manchmal brach es bei ihm hervor. Einmal konnte er einen Menschen langsam erdrosseln, ein andermal weinte er über einen toten Sperling. (Ueber solch einen toten Sperling oder doch eine tote Schwalbe werden wir später noch einmal eine ganze Geschichte erzählen, indem nämlich kleine Ursachen manchmal große Wirkungen haben.)
»Tot?« flüsterte Nobody also selbst schon mit zitternder Stimme.
»Zermalmt - von einem Wagen - und ich sah das kleine Mädchen - so deutlich - in dem Augenblicke - und ich - konnte nicht beispringen - ich war ja - weit entfernt - o, das ist schrecklich ...«
Der Kanadier richtete sich wieder auf und hielt jenem die Hand hin.
»Alfred, eine Bitte! Betrachten Sie mich nie als ein Orakel, das man nach Belieben um Rat fragen kann. Nicht umsonst ist den Menschen die Zukunft verhüllt, und nicht umsonst sind alle die, welche den Schleier hin und wieder lüften können, so unglücklich. Es kommt ganz allein über mich, wenn denen, die ich liebe, eine Gefahr droht oder wenn ich ihnen sonst helfen kann. Und schweige ich auch dann noch, dann ... hat das einen gewissen Grund. Bitte, Alfred!«
»Selbstverständlich, abgemacht!« sagte Nobody, in die dargebotene Hand einschlagend.
Dies war der erste Fall in Nobodys Hause gewesen. Der zweite spielte sich kurz nach jenem Ereignis ab, als sich der rätselhafte Mann, der Mephistopheles, in seinem Käfig erhängt hatte. Hierbei ist auch zu beachten, daß Nobody damals seinen Freund nicht um Rat gefragt hatte, ob ihm von irgendwoher eine Gefahr drohe, obgleich er doch so sehr besorgt gewesen war; Scott selbst hatte nichts davon gesagt, und diese Angelegenheit hatte sich ja auch schnell genug erledigt.
Nobody packte seinen Koffer für die Reise nach Aegypten, als Scott zu ihm eintrat. Eine Weile sah er schweigend zu.
»Damals, bei der Untersuchung der Magnetinsel,« begann er dann, »worüber ich Ihre Beschreibung gelesen habe, bedienten Sie sich doch eines besonderen Tauchapparates.«
»Des Skaphanders, ja.«
»Skaphander?« wiederholte Scott sinnend. »Heißt dieser neue Apparat so? Wie ist mir denn - diesen Namen muß ich doch schon als Kind gelesen haben.«
»Das kann wohl sein. Der Romanschriftsteller Jules Verne hatte schon vor einem Vierteljahrhundert solch einen selbsttätigen Tauchapparat in seiner Phantasie konstruiert, als noch kein Mensch an so ein wunderbares Ding dachte - wie es überhaupt mit manchen phantastischen Erfindungen von Jules Verne gegangen ist; das ist eben das prophetische Genie des Dichters - er nannte ihn Skaphander, und diesen Namen habe ich beibehalten.«
»Haben Sie solch einen Skaphander hier?«
»Gewiß, eine ganze Menge, alle in tadelloser Ordnung.«
»Nehmen Sie einen mit,« erklang es in bittendem Tone.
»Mit nach Aegypten?« fragte Nobody überrascht. »Glauben Sie etwa, daß ich nur im Taucheranzug in jenen Brunnen dringen kann? Dieser Mann sagte, der Teufelsbrunnen sei trocken, und das ist auch ganz sicher der Fall, dort gibt es absolut kein Wasser, eben deshalb ist ja die einst frequentierte Karawanenstraße durch das Tal der Verwirrung schon längst ...«
»Bitte, fragen Sie mich doch nicht nach dem Warum meines Rates, ich weiß es ja selbst niemals!« wurde er unterbrochen, diesmal in fast flehendem Tone. »Und Sie glauben gar nicht, wie mich solch eine zweifelnde Frage ... verletzt ... oder doch kränkt.«
Nobody fühlte, weshalb die Frage nach dem Warum kränken und sogar verletzen mußte, er packte den Tauchapparat mit zwei Luftbomben ein und nahm sich vor, niemals wieder solch eine Frage zu stellen.


Und nun, angesichts des Hafens von Alexandrien, hatte Nobody es doch getan! Allerdings kam dazu, daß die Niedergeschlagenheit seines Freundes diesmal ganz auffallend war, noch überraschender kam das von einer plötzlichen Trennung, und dann war ja auch gar nicht gesagt, daß dieser Entschluß mit des jungen Mannes Somnambulismus zusammenhing.
Scott hatte ihn etwas zur Seite geführt.
»Wir müssen uns trennen,« flüsterte er mit bleichen Lippen, »es muß sein - ich darf Sie auf dieser Expedition nicht begleiten. - O, wenn Sie wüßten, wie gern ich es täte - wenn Sie wüßten, was mich davon abhält!«
»Das ist Ihnen soeben erst klar geworden?«
»Soeben - in meiner Kabine - es ist ja stets zu meinem Besten, aber ...«
»Verzeihen Sie, Edward, ich glaubte, Ihr Entschluß entspränge einem ganz anderen Grunde. Nun gut, so trennen wir uns eben. Hoffentlich nicht für immer. Und wissen Sie schon, wohin Sie sich wenden?«
»Ja, wir sprechen an Land darüber.«
Der Dampfer lief in den Hafen ein, das Hasten der Passagiere nach dem Gepäck begann, Kämpfe mit den Kofferträgern und um die Boote, und dann waren die beiden in einem Hotelzimmer allein und fertig zur Aussprache.
»Zuerst, Alfred,« begann Scott, »möchte ich Ihnen Rat erteilen.«
»Ich werde ihn bedingungslos befolgen.«
»Wir hatten ausgemacht, das Niltal in Edfu zu verlassen.«
»Jawohl, dort fängt auch die Karawanenstraße an, welche durch das sogenannte Tal der Verwirrung führt, in dem der Brunnen liegen soll.«
»Ich möchte Sie bitten, noch etwas südlicher zu gehen und das Niltal erst in Assuan zu verlassen von hier aus das Tal der Verwirrung zu erreichen.«
Ohne vorläufig ein Wort zu sagen, zog Nobody eine Spezialkarte von Aegypten hervor und breitete sie auf dem Tische aus.
»Assuan liegt von Edfu noch 80 englische Meilen südlich, ist den Ruinen von Berenice eigentlich näher, weil es ihnen direkt gegenüberliegt, aber eine Straße führt nicht hin, hier wenigstens ist keine angegeben. Nun, ob flache Wüste oder Wüstengebirge, ich komme überall durch, und die Hauptsache ist wohl, daß ich ja doch noch das Tal der Verwirrung passieren muß, um nach Berenice zu gelangen.«
»Ich möchte Sie bitten, diesen Weg von Assuan an zu benutzen. Weshalb, das freilich kann ich nicht sagen, es ist mir ja selbst ...«
»Herrgott, Mensch, so laß doch dein ewiges Bitten!« unterbrach Nobody ihn scherzhaft. »Kommandieren Sie einfach: Stillgestanden, marsch! - und ich marschiere ab.«
»Dann ist es ja gut,« mußte Scott denn doch lachen. »Also Sie gehen von Assuan ab. Sie werden unterwegs etwas erleben. Was das ist, davon habe ich selbst noch keine Ahnung.«
»Ich auch nicht. Ich werde Ihnen später erzählen, was ich erlebt habe.«
»Auf dem Wege von Edfu ab würde es Ihnen entgehen.«
»Na ja, darum gehe ich ja von Assuan ab.«
»Es ist für Sie von größter Wichtigkeit.«
»Das freut mich!«
»Wo Sie diesem Etwas begegnen werden, weiß ich nicht.«
»Mir auch ganz egal! Wo der Feind gefunden wird, wird er gepackt und gekloppt.«
»Allerdings werden Sie etwas finden.«
»O, seien Sie versichert, ich werde es schon aufheben. Na, Edward, sonst noch etwas? Sonst könnten wir dieses Thema ja schließen.«
»Jetzt habe ich eine Frage zu stellen,« sagte Scott mit einem Lächeln, dadurch seinen eigentlich heiteren Charakter offenbarend.
»Immer los!«
»Ist Ihnen zufällig ein Schiff, ein Dampfer bekannt, welches wie ein Torpedojäger gebaut, aber kein Kriegsschiff, sondern eher eine Lustjacht ist, und den Namen ›Wetterhexe‹ führt? Der Kapitän und Eigentümer ist in Seemannskreisen und weit darüber unter dem Namen Flederwisch bekannt. Kennen Sie das Schiff?«
Ueberrascht blickte Nobody auf. Aber auch der Leser dürfte sich wundern, warum denn Nobody über diese Frage überrascht war.
Das Torpedoschiff hatte sich Nobody ursprünglich gewissermaßen als seine schwimmende Garderobe geschaffen, in der er, während sie jeden anderen Dampfer überholte, seine Masken wechselte.
Da liegt aber auch ganz klar auf der Hand, daß der Detektiv von diesem Geheimnis niemals gesprochen, am wenigsten davon etwas in ›Worlds Magazine‹ erzählt hatte. Die Namen Nobody und Wetterhexe sind im Zusammenhange niemals von einem Publikum ausgesprochen worden, und auch Scott hatte er bisher noch nichts davon berichtet, da war immer anderes zu besprechen gewesen, wenn er diesem gegenüber auch kein Geheimnis zu haben brauchte.
»Woher kennen Sie denn die Wetterhexe?«
»Ich habe sie einmal in Montevideo liegen sehen und mich sehr über die lange Zigarre gewundert. Der Kapitän war nicht da, aber ich habe viel von ihm erzählen hören. Sie stehen doch nicht gar in engerer Beziehung zu der ›Wetterhexe‹ und Kapitän Flederwisch?«
»Ich? Na und ob und wie!!!« schrie Nobody förmlich auf.
Und er offenbarte ihm mit möglichst kurzen Worten das Verhältnis.
»Wunderbar, wunderbar!« flüsterte Scott, dabei zum Himmel blickend. »Aber jetzt haben Sie nicht mehr über die ›Wetterhexe‹ zu gebieten?« fuhr er dann im Fragen fort.
»Gebieten?« lachte Nobody. »Wie man das so nimmt! Es ist ja richtig, ich habe mit Kapitän Flederwisch wenig mehr zu tun, er ist der Herr von den Schwefelinseln und von der ›Wetterhexe‹ und von noch manch anderem, aber im Grunde genommen gehört ihm gar nichts, oder aber ... na, kurz und gut, zwischen uns beiden herrscht ein ideales Freundschaftsverhältnis, da kann es niemals zu Streitigkeiten kommen. Wir haben niemals einen Kontrakt gemacht, also gibt es auch niemals einen aufzulösen.«
»Er würde mit der ›Wetterhexe‹ also überall hindampfen, wohin Sie wollen?«
»Flederwisch? Ich brauche nur zu winken, sofort Volldampf voraus, und wenn's in die Hölle geht, das ist dem Flederwisch nur um so lieber.«
»Nein, Alfred, ich bitte um genaue Angabe. Haben Sie über die ›Wetterhexe‹ noch zu befehlen?«
»Ja.«
»Gehorchen Kapitän Flederwisch und die Mannschaft Ihrem Kommando?«
»Ja.«
»Können Sie dies Kommando auf jemanden anders übertragen?«
»Wollen Sie es haben?«
»Ja.«
»Sofort! Nur ein Fetzchen Papier her!«
Nobody machte Ernst. Er nahm Feder und Tinte, schrieb mehrere Zahlenreihen auf seinen Notizblock.
»Das ist unsere Geheimschrift, bei Vorzeigung dieser Vollmacht übernehmen Sie zwar nicht das nautische Kommando der ›Wetterhexe‹, können aber sonst Ziel und alles bestimmen, und darauf kommt es Ihnen doch wohl an?«
»So ist es.«
»Nun müssen Sie sich bloß noch legitimieren, daß Sie auch wirklich der Richtige sind. Wollen Sie mir Ihren rechten Daumen geben?«
Nobody nahm ein Stempelkissen aus der Tasche und rieb die untere Seite von Scotts rechtem Daumen mit Farbe ein.
»Nun drücken Sie Ihren Daumen hier unten, auf das Papier!«
Scott tat es, der Daumenabdruck zeigte in blauer Farbe die feinsten Rillen der Haut, kreisförmige, ovale und abgehende Striche.
»So,« sagte Nobody, als er das Blatt vom Block abriß und seinem Freunde einhändigte, »hierdurch sind Sie legitimiert. Sie haben nur auch vor Kapitän Flederwischs Augen solch einen Daumenabdruck zu machen, und Sie können über die ›Wetterhexe‹ befehlen.«
Verwundert betrachtete der junge Kanadier den Fingerabdruck.
»Sind denn die Daumenabdrücke der einzelnen Menschen so verschieden?«
»So wenig wie das Schicksal eines Menschen dem eines anderen gleicht, so wenig gleicht ein Fingerabdruck dem anderen. Ich habe die Fingerabdrücke von Tausenden von Menschen daraufhin geprüft, nicht einer ist dem anderen auch nur ähnlich. Durch irgend etwas unterscheidet sich die Struktur der Linien und Rillen in der Haut immer. Es dürfte die Zeit kommen, da im Kriminalwesen der Fingerabdruck eine wichtigere Rolle spielt als das heutige Verbrecheralbum, da der Fingerabdruck so gut gefordert wird wie eine Namensunterschrift, wodurch eine Urkundenfälschung zur Unmöglichkeit gemacht wird - ja, es dürfte die Zeit kommen, da das so vielverspottete Wahrsagen der Zigeuner aus der Hand als wissenschaftlich betriebene Chiromantie wieder zu Ehren gelangt. - Ja, nun kann ich Ihnen aber nicht sagen, wo sich die ›Wetterhexe‹ zur Zeit befindet, und ob sie gerade bei den Schwefelinseln sich aufhält ...«
»Sie liegt in Smyrna, dort werde ich sie treffen.«
Mit grenzenloser Ueberraschung sah Nobody auf, und Scott erkannte den fragenden Blick. Aber er zuckte die Schultern, es war immer dasselbe.
»Ich weiß selbst nicht, woher ich es weiß, so wenig mir vorläufig noch bekannt ist, was ich auf der ›Wetterhexe‹ eigentlich will, wohin ich mit ihr segeln will. Ich werde es erfahren - und Sie auch.«
Scott studierte den Fahrplan der Dampferlinie, Nobody hatte Vorbereitungen für die Weiterreise zu treffen, Einkäufe zu machen.
Als er in das Hotel zurückkam, hörte er, daß sein Begleiter ausgegangen sei. In dem Zimmer, das die beiden genommen - Bruno begleitete seinen Herrn - lag auf dem Tische ein abgegriffenes Buch aufgeschlagen, das Nobody schon oft in der Hand seines viellesenden Freundes gesehen hatte. Was war es? Ein Band Schopenhauer in englischer Ausgabe. Und dieser deutsche Philosoph wird in England vielleicht mehr gelesen und ... mehr verstanden, als in seiner Heimat. Ist es doch schon seltsam - allerdings nicht für den, welcher die Ursache ergründet hat - daß der sonst so nüchterne, praktische Engländer wie der Yankee stark zum Uebersinnlichen neigt, während der sonst so ideal und romantisch veranlagte Deutsche noch immer nichts davon wissen will, und Arthur Schopenhauer war ein Verfechter des Uebersinnlichen, der wissenschaftliche Begründer, trotz der schärfsten und nüchternsten Logik dieses Mannes, dessen Keulenhieben noch niemand widerstanden hat.
Es war der erste Teil seiner ›Parerga und Paralipomena‹, und aufgeschlagen war das Kapitel ›Ueber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen‹.
Auf Nobody machte es einen gewaltigen Eindruck, daß gerade dieses Kapitel aufgeschlagen war. Er las darin, bis Scott mit seinem Diener zurückkam.
»In einer Stunde fährt ein Dampfer nach Smyrna, ich habe schon zwei Plätze belegt, wir müssen sofort an Bord.«
»Halt! Erst habe ich noch etwas Wichtiges mit Ihnen zu sprechen. Bruno kann es hören, er zählt mit zu den Eingeweihten, auch er hat mir sein Ehrenwort gegeben. Es handelt sich um die beiden Tarnkleider, die ich natürlich mitgenommen habe. Eins genügt für mich ja vollkommen und ...«
Scotts abwehrende Handbewegung unterbrach ihn.
»Ich will keins davon haben. Es ist nicht für mich bestimmt gewesen, sondern für Sie. Genug! Fragen Sie nicht, weshalb nicht.«
Es waren fast die letzten Worte gewesen, welche die beiden wechselten. Ein Händedruck sagte mehr, und dann schritt Scott mit seinem Diener nach dem Hafen und Nobody nach der Bahnstation.
Wir begleiten ihn, halten uns aber nur beim Wichtigsten auf.
Nobody hatte sich einen Paß auf den Namen Brian Aston ausstellen lassen, und jetzt brauchte er keine wirklich lebende Persönlichkeit unterzuschieben, deren Rolle er nur spielte, der Champion-Detektiv der Königin konnte doch nach Belieben schalten und walten, er stellte sich einen Paß einfach selbst aus, und alle Stempel waren echt.
In Kairo suchte er den englischen Generalkonsul auf, dem gab er sich zu erkennen, und innerhalb zweier Tage, während welcher Nobody seine Erinnerungen an Kairo auffrischte, hatte ihm dieser einen Paß in arabischer und türkischer Sprache verschafft, welcher, da er die Unterschrift des Vizekönigs von Aegypten trug, einem Ferman glich, was im türkischen Orient dasselbe ist wie in Rußland ein Ukas des Zaren.
Sir Alfred Willcox, Champion der Königin, Waffenmeister des höchsten Ritterordens, wäre am Hofe des Vizekönigs mit fürstlichen Ehren empfangen worden, aber Nobody trieb es, das Geheimnis des Teufelsbrunnens zu lösen.
Bis nach Siut ging es mit der Eisenbahn, von dort aus benutzte er einen Nildampfer, zunächst bis nach Edfu.
Schon immer hatte er sich bei jeder Gelegenheit über die alte Karawanenstraße erkundigt, welche von Edfu südöstlich durch das Tal der Verwirrung nach den Ruinen von Berenice führt.
Es war ein sehr negatives Resultat, welches er bekam, sowohl von gebildeten Europäern, als von eingeborenen Fellahs und Beduinen.
Die Ruinen des alten Berenice liegen am Arabischen Meerbusen im innersten Winkel der Foul-Bay. Von Ptolemäus gegründet, war es einst ein großer Handelshafen, die Waren gingen und kamen von Arabien und Indien nach dem Nil, wozu durch das Gebirge, welches den Nil östlich begrenzt, eine Straße gebrochen wurde, zahlreiche Brunnen wurden angelegt.
Damals muß es dort unten ganz anders ausgesehen haben. Jedenfalls ist durch irgendeine Erdkatastrophe im Gebirge die Hauptwasserader gebrochen, die Brunnen versiegten, und damit war den Bewohnern der Stadt der Lebensfaden abgeschnitten, die Stadt wurde verlassen, jetzt sind nur noch Ruinen vorhanden.
Der vollständige Wassermangel machte sich auf der ganzen Seite östlich des Nils bemerkbar. Zwischen Meer und Nil hauste der mächtige Stamm der Beni Schammar, welcher gegen Tribut die Karawanen führte und gegen Wüstenräuber schützte. Sie sind ausgewandert, und das will bei Beduinen gewiß etwas heißen, da muß die Wassernot schon sehr groß sein.
Aber es muß doch noch Wasser geben! Ein kleiner Stamm der Beni Schammar vermag doch noch dort unten zu existieren, die Pferde und Kamele zu füttern und zu tränken. Aber wo sie ihre Weideplätze und Quellen haben, das ist ihr Geheimnis, oder vielmehr, es fragt niemand darum.
Denn von dort ist nichts zu holen, und die Ruinen von Berenice sind schon zur Genüge untersucht. Das ist ja auch ganz leicht mit dem Schiff zu erreichen; alljährlich kommt denn auch ganz regelmäßig ein Segler dorthin, wo sich einige Beduinen einfinden, welche gegen selbstgesponnene Kamelhaardecken Tabak und andere Bedürfnisse eintauschen.
Nobody hätte keinen bequemeren Weg gehabt, wenn er den Landweg von Berenice angetreten hätte, abgesehen davon, daß er sich dann erst ein Fahrzeug hätte mieten müssen. Das Tal der Verwirrung, welches das Gebirge durchbricht, liegt in der Mitte der Strecke.
»Einen Führer haben Sie nicht nötig,« wurde ihm überall erklärt, wo er anfragte, »den Weg können Sie nicht verfehlen, der ist mit Knochen von Menschen und Tieren gekennzeichnet. Weshalb jenes Tal das der Verwirrung heißt, weiß ich nicht. Arabische Begleiter werden Sie schwerlich bekommen; denn den Beni Schammar ist nicht zu trauen. Ja, wohl werden sich Leute engagieren lassen, aber sobald sie ihren Lohn oder wenn sie Sie bestohlen haben, laufen sie Ihnen davon.«
So lautete die Auskunft in Edfu, von wo die ehemalige Karawanenstraße ausgeht, also an erster Quelle. Doch Nobody dachte gar nicht daran, einen Begleiter mitzunehmen, sein Sextant war ihm der beste Führer durch die Wüste, und dann wollte er ja auch von Assuan aufbrechen, wo er nun freilich noch viel weniger einen Führer gefunden hätte.
So fuhr er mit dem Dampfer noch eine Tag- und Nachtreise stromaufwärts bis nach Assuan, besichtigte hier einmal in Gemütsruhe die hochinteressanten Bauten aus den Zeiten der älteren Pharaonen, welche sich hauptsächlich auf den beiden Nilinseln Philä und Elephantine vorfinden, dann traf er Vorbereitungen zu seiner Wüstenreise.
Die Hauptsache war das Reittier, und nur das Kamel konnte hier in Betracht kommen. Ein schlankgebautes, speziell zum Reiten geeignetes Kamel, Hedjihn genannt, legt in vier Tagen achtzig deutsche Meilen trabend zurück, ohne gefüttert und getränkt zu werden. Allerdings ist das die Höchstleistung, die verlangt man aber auch von jedem Reitkamel, welches nach unserem Gelde 400 Mark kostet. Es gibt Hedjihns, welche viele tausend Mark kosten, die dem Besitzer überhaupt unverkäuflich sind, sie haben Stammbäume, und solche wertvolle Tiere leisten auch noch etwas ganz anderes.
An Durchschnittstieren ist in Aegypten nirgends Mangel, Nobody hatte die Auswahl, er erstand das beste für fünfundzwanzig Pfund Sterling.
Die Entfernung von hier bis nach Berenice betrug vierzig deutsche Meilen, den großen Bogen eingerechnet, den er beschreiben mußte, um nach dem Tale der Verwirrung zu gelangen. In direkter Linie hätte er Berenice wohl auch nicht erreichen können, umsonst war die Straße durch das Gebirge doch nicht gehauen worden, sonst hätten doch auch schon die früheren Karawanen diese direkte Linie gewählt. Dieses Gebirge war für Kamele jedenfalls unübersteigbar, und dann auch für Pferde.
Am ersten Tage konnte er das Tal der Verwirrung erreichen und vielleicht auch noch den Teufelsbrunnen. Einen Tag rechnete er für dessen Untersuchung; ob er dann zurückritt oder weiter östlich bis Berenice, das blieb der Zukunft überlassen, jedenfalls hatte er noch immer einen Tag Ueberschuß; das Hedjihn brauchte während dieser vier Tage kein Futter und kein Wasser, daß aber sein Reiter für diese Zeit mit genügend Wasser und Proviant ausgerüstet ist, daß dieses Gewicht also mit eingerechnet wird, das ist doch ganz selbstverständlich.
Eines Nachts um zwei Uhr bestieg Nobody sein Hedjihn, welches gehorsam niedergekniet war, im weißen Burnus eines Beduinen, auf dem Rücken sein sechzehnschüssiges Henrygewehr, hinter sich zwei gefüllte Wasserschläuche, vor sich den Proviant und etwas Gepäck, dessen Hauptbestandteil das Taucherkostüm, dessen Gewicht aber auch gar nicht in Frage kam, und als die Morgensonne des Novembertages den Horizont rötete, befand er sich schon acht geographische Meilen vom Nil entfernt, und das Rennkamel, dessen Leib von Hafer und Wasser mächtig angeschwollen war, trabte noch, als wäre es nach langer Ruhe soeben erst aus dem Stalle gekommen.
Selten findet man in der Wüste eine völlig ebene Fläche. Jeder Dornenbusch, jeder größere Stein bietet dem vom Winde einhergetriebenen Flugsande ein Hindernis, hier setzt er sich an, das Häufchen wird zum Hügel, der jedoch nicht gleichmäßig ist, sondern er hängt nach der Windrichtung etwas über, wodurch die ganze Wüste einem aufgewühlten Meere mit sich überstürzenden Wogen gleicht. Doch diese Hügel sind nicht beständig; dreht sich der Wind, so bekommt er neue Angriffsflächen, er trägt die Hügel nach und nach ab und läßt neue entstehen, wodurch die Sandwüste noch mehr mit dem Meere zu vergleichen ist.
Zwischen solchen Hügeln hindurch trabte das Hedjihn mit langgestrecktem Halse, bei jedem Schritt den Sand wie mit einer Schaufel hinter sich werfend, dem Osten zu, nur mit einer kleinen Abweichung nach Norden. Die Sonne stieg, es wurde heißer und heißer, und wenn man sich auch im November und noch etwas nördlich vom Wendekreis des Krebses befand, so wurde die Hitze des von Arabien herüberkommenden Windes doch fast unerträglich, wenigstens für den Reiter; denn das Hedjihn wollte nichts von einer Mittagsruhe wissen, hier war das Schiff der Wüste eben in seinem heimatlichen Element, und es wußte durch seinen Instinkt, daß es nicht eher wieder gefüttert und getränkt wurde, als bis es diese Wüste durchquert hatte, und deshalb äußerte es seinen Unwillen durch ein mißtönendes Brüllen, wenn es aller zwei Stunden gezwungen wurde, anzuhalten und niederzuknien, weil sein Reiter abstieg, um mit Hilfe des Sextanten die Sonne aufzunehmen und die geographische Lage zu berechnen, welche Zwischenpause Nobody auch stets benutzte, eine Erfrischung zu sich zu nehmen.
Es wurde Mittag, die Sonne trat die zweite Hälfte ihrer Wanderung an.
Kein Halm, kein Dornenbusch, kein gebleichter Knochen. Weswegen war diese direkte Richtung nie von einer Karawane benutzt worden?
Noch am Nachmittage sollte Nobody es erfahren. Vor ihm stieg ein hohes Gebirge auf, er übernachtete neben seinem Kamel in einer Felsenwildnis. Am Morgen des nächsten Tages mußte Nobody schon Pässe suchen, die für den Fuß des Kamels geeignet waren, und beim Abstieg einer abschüssigen Stelle tat es einen Sturz, legte sich, ein Bein in unnatürlicher Stellung, auf die Seite und stand nicht wieder auf.
Nobody zögerte nicht lange, er gab dem klagenden Tiere einen Gnadenschuß hinters Ohr. So war er jetzt auf seine Füße angewiesen, er selbst konnte sein Gepäck schleppen, und das fatalste war ihm, daß das Kamel beim Sturz einen der beiden Wassersäcke zerdrückt hatte, und zwar gerade den vollen, während der andere kaum noch bis zur Hälfte gefüllt war.
Als er sich außer mit dem Proviant und mit dem schlaffgewordenen Wassersack auch mit dem zusammengepackten Taucherkostüm belud, konnte er sich nicht helfen, er mußte aus vollem Halse lachen. Hier in dem wasserlosen Wüstengebirge einen Tauchapparat mit sich herumschleppen, es lag wirklich Witz darin!
Er keuchte weiter, bergauf und bergab, hatte halsbrecherische Klettertouren zu überwinden, die Sonne brannte wie Feuer, und dabei eine Last von mehr als einem Zentner auf dem Rücken! Fürwahr, es gehörte Nobodys Leibeskonstitution und Seelencharakter dazu, um das fertig zu bringen!
Soeben machte er wieder eine Rutschpartie einen zackigen Felsgrat hinunter, als er es plötzlich so angenehm kühl und feucht seinen Rücken hinabrieseln fühlte. Ueber die Ursache grübelte er nicht lange nach - und richtig, auch sein letzter Wassersack aus Ziegenleder hatte einen Riß bekommen, das Wasser floß in Strömen heraus.
Was Nobody noch retten konnte, waren vielleicht drei Liter. Einen Augenblick Ueberlegung, dann beugte er sich und schlürfte drei Liter Wasser, ohne einmal abzusetzen.
Hierauf berechnete er die geographische Lage des Ortes, wo er stand. Danach war er von der alten Karawanenstraße, die also auf seiner Karte genau bezeichnet war, noch zwei Meilen entfernt, und von dort aus, wo er sie erreichen würde, bis nach Edfu noch vierzehn geographische Meilen, bis nach Berenice aber noch einundzwanzig.
Für Nobody gab es nun kein Zögern mehr. Die Expedition war durch den Verlust seines Reittiers gescheitert! Also ohne Säumen zurück! Natürlich nach Edfu, das war nicht nur die kürzere Strecke, sondern jetzt auch der geradeste Weg, der ihn an den Nil zurückbrachte.
Diese vierzehn, respektive sechzehn Meilen ohne Wasser zurückzulegen, das brachte Nobody schon fertig.
Er mußte es überhaupt fertig bringen, er mußte es!!
Oder er konnte sich schon als toten Mann betrachten.
Den Tauchapparat mit dem gewichtigen Helm, den beiden Bleisohlen und den zwei Luftbomben nahm er nun natürlich nicht mehr mit. In dieser Beziehung hatte es bei Nobody jetzt ... dreizehn geschlagen.
Ja, an seines Freundes Unfehlbarkeit waren nun starke Zweifel in ihm aufgestiegen.
Es waren überhaupt sehr bittere Empfindungen, die ihn beherrschten, als Nobody, nur mit Sextant und was dazu gehört, mit Gewehr und zwei Dosen präservierten Fleisches seine Klettertour fortsetzte.
Wäre er doch nur von Edfu aufgebrochen! Dann hätte er den Teufelsbrunnen jetzt schon erreicht, hätte ihn schon untersucht! Die Angabe jenes rätselhaften Mannes war ja sehr ungenau gewesen - der achte Brunnen auf der rechten Seite - aber die Angabe war eben speziell für Nobody bestimmt gewesen, der hätte ihn schon gefunden, schließlich hätte er ja die einzelnen Brunnen auch nur zu zählen brauchen.
Und jetzt? Wie sollte er denn wissen, wenn er die Straße erreichte, ob der Teufelsbrunnen sich westlich oder östlich von ihm befand? Und die Brunnen waren schon seit Jahrhunderten ausgetrocknet! Und nun gar noch mit dem Taucheranzug, hahaha!!
Nobody lachte nochmals, daß die Felswände dröhnten.
Und wo blieb denn eigentlich das, was er auf dieser anderen Tour finden sollte, weswegen er in die Gefahr des Verschmachtens kam?
Nein, nun hatte Nobody genug, jetzt handelte er nach seiner eigenen Vernunft, und da wollte er doch lieber ...
Sein Fuß wurzelte am Boden, seine Augen starrten seitwärts.
Auch hier in diesem Felsengebirge gab es noch genug Sand. Jede Stelle, die vor dem Wind geschützt lag, war mit feinem Flugsand angefüllt, solch eine Spalte hatte Nobody vor sich, und ... aus dem Sande erhob sich wie warnend eine menschliche Knochenhand!
»Da - da ist es!« flüsterte er betroffen.
Doch er schüttelte den Gedanken von sich, daß es gerade diese Totenhand sein könnte, die er hatte finden sollen. Aber er hätte sowieso nachgegraben, und er tat es auch jetzt, was ohne Schwierigkeiten mit den Händen zu bewerkstelligen war.
Es war das Gerippe eines Mannes, welches Nobody nach und nach zutage förderte, die einzelnen Knochen natürlich nicht mehr zusammenhängend. Das scharfe Auge des Detektivs erkannte sofort, daß der linke Oberarm einmal gebrochen gewesen war, die Bruchstelle war wieder zusammengewachsen, und der Schädel, den Nobody zu unterst fand, war gespalten. Daraus war noch nicht zu schließen, daß hier ein Mord vorlag, der Mann konnte auch abgestürzt sein, und hier gehörten die Erfahrung und das Auge des Detektivs dazu, um konstatieren zu können, daß der Schädelbruch tatsächlich nur von einem schweren, schneidenden Instrumente, wahrscheinlich von einer Axt herrühren konnte.
»Soll ich der Entdecker und Rächer dieses Mordes werden?«
Noch einmal untersuchte er die einzelnen Knochen. Sie waren normal bis auf den gebrochenen Oberarm; die sonst wohlerhaltenen Schneidezähne standen vorn etwas weit voneinander ab, der linke dritte Backzahn schien plombiert gewesen zu sein. Für Nobody konnten das sehr wichtige Argumente werden.
Aus dem Fehlen aller Kleidungsstücke konnte man schließen, daß der Tod schon sehr, sehr lange erfolgt war, sie waren eben vermodert oder vielmehr dem Zahne der Zeit zum Opfer gefallen, wobei aber zu bedenken ist, daß in dem trockenen Aegypten alles sehr gut konserviert wird, besonders in dem alle Feuchtigkeit anziehenden Sande, und an ein gar zu hohes Alter dieser Knochen konnte Nobody nicht glauben, danach sahen sie gar nicht aus, und ebenso fehlten ja auch alle anderen Gegenstände, welche länger als Kleidungsstücke ausgehalten hätten.
Sollte Nobody wenigstens den Kopf mitnehmen? Nach einiger Ueberlegung verneinte er es.
Schon war er dabei, die Knochen, mehr zusammengelegt, wieder zu verscharren, als er, wie er so mit den Händen den Sand schaufelte, ein längliches, rundes Stück Holz bloßlegte.
Es war eine jener Holzbüchsen, wie sie damals zum Beispiel in Deutschland allgemein bekannt waren. Aeltere Leser werden sich noch des Pennals erinnern, in dem das Schulkind seine Schiefer- und Bleistifte und Federhalter aufbewahrte. Jetzt sind diese Pennals meist durch die viereckigen Federkästen verdrängt worden.
Solch ein Pennal hatte Nobody in der Hand. Er schraubte den oberen Teil ab, ein zusammengerolltes Pergamentpapier war darin; er rollte es auseinander und sah eine mit Tinte oder Tusche ausgeführte Zeichnung oder einen Plan, wozu vier kleine Figuren gehörten.
Die erste stellte eine Kirche dar, nur mit Umrissen gezeichnet. Rechts daneben ein Nadelbaum, deutlich als Fichte erkennbar. Unter der Kirche die Figur einer Frau, und rechts davon, also unter der Fichte, ein Stiefel, an dem hinten die Strippe heraussah. Nun waren noch die Kirchturmspitze und die Strippe des Stiefels, sowie die Spitze der Fichte mit dem Kopfe der Frau durch Striche verbunden, so daß sich also die beiden Linien kreuzten.
Nichts weiter, kein Wort, keine Zahl! Das war alles - und doch genug!
Nobody machte eine Handbewegung, als wolle er seinen Hut vom Kopfe nehmen, er hatte wohl vergessen, daß er als Beduine gekleidet war, und da er einen solchen nicht fand, erklang es um so feierlicher aus seinem Munde:
»Edward, verzeihe mir noch einmal, daß ich wiederum an deiner Sehergabe zweifelte! Hier ist der Beweis in meiner Hand, daß du wirklich ein Seher bist!«
Was die Zeichnung zu bedeuten hatte, das wußte Nobody freilich auch nicht. Aber irgend etwas bedeuten mußte es doch. Das war offenbar ein schematischer Plan, und der Kreuzungspunkt der beiden Linien war die Hauptsache dabei.
Wo lag diese Kirche? Wo stand die Fichte? Was hatte das Weib zu bedeuten, was der triviale Stiefel?
»Edward ließ mich dieses Rätsel finden, er wird mir auch den Schlüssel dazu geben, wenn nicht jetzt, dann später, wenn die Zeit dazu gekommen ist.«
Hatte der Mörder es etwa auf diesen Plan abgesehen gehabt? Denn wie leicht im Sande solch ein gar nicht so kleiner Gegenstand wie die Holzbüchse dem Auge und auch der suchenden Hand entgehen kann, das hatte Nobody soeben aus eigener Erfahrung bemerkt.
So durchwühlte er noch einmal den Sand der Umgebung, er fand außer Knochen nicht das geringste mehr, und gar zu lange durfte er sich nicht aufhalten, seinen ganzen Wasservorrat hatte er jetzt nur noch im Magen.
Er schaufelte die Knochen mit den Händen wieder zu, bestimmte die geographische Lage der Ruhestätte des unbekannten Toten, und was er dabei dachte, erkennen wir am besten aus dem, was er dann tat: er ging den Weg zurück, den er gekommen war, hatte es auch nicht weit, so war er wieder an der Stelle, wo ihm vorhin der Wasserschlauch gerissen war und wo er auch alles andere zurückgelassen hatte, und er belud sich wieder mit dem Taucherkostüm und den beiden Luftbomben.
Und ohne Murren schleppte er die Last weiter. Er hatte eine Lektion bekommen, zu seinem Glück noch zeitig genug, um das Versäumte nachholen zu können.
Gegen Mittag blickte er in ein tiefes Tal hinab und sah auch gerade auf eine Pyramide von Kamelschädeln, und so schien das ganze Tal mit Knochen gepflastert zu sein - die alte Karawanenstraße, welche hier durch das Gebirge führte, das Tal der Verwirrung.
Es war ein schwieriger Abstieg, der Wüstenwanderer verwandelte sich in einen Gemsjäger, und als Nobody noch so wie eine Fliege an der Wand klebte, mit dem Gesicht gegen diese, ertönte ein lautes ›Inschallah!‹
Nobody taxierte die Tiefe unter sich, sprang die wenigen Meter hinab - es waren nur noch drei Meter! - und sah vor sich einen Beduinen, beritten auf einem edlen Roß.
Das braune Gesicht, von dem der Schleier hochgeschlagen war, drückte Staunen aus.
»Inschallah! Bist du ein Steinbock des Gebirges?« fragte er.
»Sallam aleikum!« begrüßte Nobody ihn zunächst, mit der Hand Mund, Stirn und Brust berührend.
»Aleikum!« wiederholte der Reiter, dieselben Bewegungen ausführend. »Sind deine Glieder von Stahl, daß du sie dir bei diesem Sprunge nicht gebrochen hast?«
»Du sagst es, sie sind von Stahl. Wer bist du, der meinen friedlichen Gruß eben so friedlich erwidert hat?«
»Hadschi Abu Hafu ben Imam vom Stamme der Beni Schammar,« war die stolze Antwort. Doch fast mit kriecherischer Freundlichkeit ward gleich hinzugesetzt: »Die Beni Schammar sind stets friedlich gewesen.«
Nobody hatte gerade das Gegenteil von dieser Behauptung gehört.
»Und wer bist du?« fuhr der Beduine fort.
»Ich heiße Brian Aston.«
»Du bist ein Franke?«
»Ein Anglesi.«
»Bist du ein Enginera?«
Ein Ingenieur? Wie kam der Beduine auf diese Frage?
Doch Nobody hatte überhaupt schon den gespannten Gesichtsausdruck des Beduinen studiert, und Nobody konnte ja seine Leute beobachten. Es war fast, als ob dem Beduinen diese Begegnung gar nicht so unerwartet käme.
Gut, Nobody konnte sich ja für einen Ingenieur ausgeben.
»Ja, ich bin ein Enginera.«
»Du sollst das Wasser des Bar el Dschennet untersuchen?«
Das Wasser des Paradiesbrunnens untersuchen? Doch Nobody war leicht von Begriffen, er wußte eigentlich schon alles, was hier vorlag, er hatte seine Kombination schon fertig, und so wollen wir uns nicht mit Erklärungen aufhalten, sondern nur wiedergeben, was er sprach und tat.
»Ist das Wasser gut?«
»Es ist süß wie das Zim, welches im Paradies die Huris den Gläubigen reichen, und deshalb haben wir recht getan, als wir den toten Brunnen des Deddschel jetzt, da er wieder lebendig geworden ist, den Brunnen des Paradieses genannt haben.«
Der Brunnen des Deddschel, das heißt des Teufels! Nobody fühlte plötzlich die Last seines Taucheranzugs gar nicht mehr!
»Seit wann hat der Bar el Deddschel wieder Wasser?«
»Seit vier Wochen, als uns die Fatme el Dschennet erschienen ist, welche dem Brunnen wieder süßes Wasser gegeben hat und ihn jetzt beschirmt, daß kein Deddschel wieder hinein kann.«
Die Fatme el Dschennet? Der bekannte Name Fatme bedeutet Fee, Fatme el Dschennet also Fee des Paradieses.
Hier lag etwas Mysteriöses vor, und wollte Nobody die Rolle des Mannes, der hier offenbar erwartet wurde, mit Glück spielen, so mußte er sehr vorsichtig sein.
»Hast du ein Barmet eines Wali?« forschte der Beduine weiter.
»Ich besitze sogar einen Ferman des Padischah,« entgegnete Nobody.
Der Beduine verbeugte sich im Sattel, die Hand vor die Stirn legend.
»Wo sind deine Diener, Sihdi?« fragte er weiter, jetzt aber durchaus nicht mehr im Tone des Examinierens, vielmehr mit tiefster Ehrfurcht.
»Ich komme allein.«
»Wo ist dein Hedjihn oder dein Pferd?«
»Es ist gestürzt, ich mußte es töten.«
Da fragte der Beduine nicht mehr, ob sich der Franke verirrt habe, wie er überhaupt vom Wege ab in das Gebirge gekommen sei - es genügte ihm, zu hören, daß der erwartete ›Enginera‹ kein Reittier habe, und sofort sprang er aus dem Sattel.
»Erlaube, Sihdi, daß ich dir mein Pferd anbiete; denn es schickt sich nicht, daß der Herr zu Fuß geht und der Diener reitet,« sagte er ehrerbietig.
Nobody trat denn auch als Sihdi, das heißt, als Herr auf, und der stolze Beduine nahm sogar sein Gepäck auf den Rücken.
»Wo steht das Zeltlager deines Scheichs?«
»Seit wir den Enginera des Wali erwarten, lagern wir am Bar el Dschennet.«
Ah, schon wieder eine wichtige Erklärung, aus der Nobody viel schließen konnte. Es war also nach einem Ingenieur der Regierung geschickt worden, der das Wasser untersuchen sollte, und auch den Grund hierzu konnte Nobody sich bereits denken.
»Wie weit ist der Bar el Dschennet von hier?«
»Nur eine halbe Stunde. Sieh, Klonweye, das edle Roß, wittert das frische Naß schon, das noch viele Karawanen tränken wird.«
»Haben auch die anderen Brunnen wieder Wasser bekommen?«
»O nein, Sihdi, nur der, welchen wir bisher den Bar el Deddschel nannten, bis ihm die Fee des Paradieses entstieg.«
Nobody fragte mit Vorsicht und mit jenem Geschick, das er in so etwas besaß, und er erfuhr alles, ohne daß der Beduine merkte, daß jener vorher noch gar nichts gewußt hatte.
Zunächst kam eine Sage in Betracht. Es ist begreiflich, daß bei den Wüstenbewohnern, bei denen das Wasser ein ganz besonderes Lebenselement ist, die Brunnengeister eine große Rolle spielen. Jeder Fluß, jeder Brunnen hat seinen Geist, dem das Wasser zu danken ist, und wenn aus einer Felsspalte aller Viertelstunden auch nur ein Tropfen fällt, so wohnt ein Geist drin, und je süßer das Wasser ist, desto besser ist der Geist, und je bitterer, desto böser - nein, desto weniger gut, und wenn das Wasser, wie bei den meisten Wüstenbrunnen der Fall, auch bittersalzig ist und den ärgsten Durchfall erzeugt, wenn es nur überhaupt trinkbar ist, so wird schon der erzeugende Geist, der auch weiblich sein kann, eifrig in das tägliche Gebet eingeschlossen.
Wenn nun einmal ein Brunnen versagt, so muß der gute Geist erzürnt worden sein, oder wahrscheinlicher ist er von einem bösen, welcher die Menschen haßt, vertrieben worden, und den muß man dann wieder wegbeten.
Daß in dem ganzen Gebiet hier, für diese Beduinen ihre Welt bedeutend, einmal alles Wasser gleichzeitig versiegt war, das konnte nur das Werk des Herrn der Hölle selbst gewesen sein, des el Deddschel, und da das Wasser auch niemals wiederkam, so mußte der Teufel auch noch hier wohnen, und aus irgendeinem Grunde wurde ihm gerade der eine Brunnen zur Wohnung angewiesen, der fernerhin nur der Teufelsbrunnen genannt wurde.
Vor etwa vier Wochen nun war Jussuf ben Hamok an dem Teufelsbrunnen vorübergeritten. Er kam nicht dazu, ein Gebet zu murmeln, denn einmal hatte er genug damit zu tun, sein Pferd im Zaume zu halten, welches durchaus auf den gefürchteten Brunnen zueilen wollte, und dann war es eine weibliche Gestalt, welche Jussufs höchstes Staunen und Mißtrauen erweckte.
Singend und tanzend, die Arme ausgestreckt, bewegte sie sich um den Brunnen herum, dem Reiter winkend, näherzukommen, und dann weiter singend, in einer Sprache, welche Jussuf nicht verstand.
»Und kein Mensch könnte sie verstehen: denn es ist die Sprache, welche die Gläubigen in Allahs Paradiese reden, und sie selbst ist eine delherrah Fatme aus der Dschennet. Mohammed, wenn nicht Allah selbst, hat sie geschickt, um den Deddschel aus dem Brunnen zu vertreiben, und es ist ihr gelungen, sie hat gesiegt, der Brunnen fließt über des süßesten Wassers, und nun werden wieder Karawanen ziehen von dem großen Strome nach dem salzigen Wasser, und die Beni Schammar werden glücklich sein.«
Nobody erfuhr weiter, daß der Scheich der Beni Schammar einige seiner Leute nach Edfu zum Wali, zum Vertreter der Regierung, geschickt hatte, mit der Meldung, im Tale der Verwirrung spende ein Brunnen wieder das beste Trinkwasser.
Was die Beduinen bezweckten oder erhofften, lag für den Kenner der Verhältnisse klar auf der Hand.
»Schicke einen deiner Engineras, daß er sich überzeugt, wie gut das Wasser ist, und wie aushaltend das Wasser ist, und so können wieder Karawanen durch unser Gebiet gehen.«
So hatte der Scheich dem Wali sagen lassen.
Daß hier einst eine frequentierte Handelsstraße gewesen ist, das wissen die Beduinen, die selbst Stammbäume über ihre Haustiere führen, natürlich ganz genau. Aber der Weg vom Nile bis zum Meere beträgt 40 Meilen, wozu ein vollbeladenes Lastkamel acht Tage braucht. Vier Tage kann es dursten, und so reichte dieser einzige Brunnen, auf der Mitte des Weges liegend, aus, um die ganze Straße wieder passierbar zu machen, und dann kämen die goldenen Zeiten wieder, da die Beduinen als Führer, als Beschützer und als Räuber Reichtümer erwarben.
Nun kamen diese Beduinen ja oft genug an den Nil, also in kultivierte Gegenden, und die Wasserfrage ist in Aegypten eine so wichtige, daß sie auch schon wußten, was ein Ingenieur ist, speziell ein Wasserbauingenieur.
Denn wie gesagt, die Wüstenbrunnen sind immer mehr und weniger salzig, die afrikanische Wüste ist einst Meeresboden gewesen, der noch salzhaltige Boden wird ausgelaugt, und entsteht ein neuer Brunnen, bricht eine Quelle hervor, oder liefert ein ausgetrockneter Brunnen nach langer Zeit wieder Wasser, so ist dieses während vieler Jahre gar nicht trinkbar, oder es erzeugt den schrecklichsten Durchfall - und schrecklich sieht es gewöhnlich in der Umgebung jener Oasen aus, die man sich immer so romantisch vorstellt - und ehe solch ein Brunnen dem öffentlichen Verkehr übergeben wird, ehe man gar eine Straße daran vorüberlegt, wird er von einem ›Wasseringenieur‹ untersucht, und in Aegypten sind alle staatlich angestellten Ingenieure entweder Engländer oder Deutsche. Nur langsam werden sie von geschulten Arabern und Türken verdrängt.
»Schicke einen deiner Engineras, daß er sich von der Güte unseres Wassers überzeugt.«
Daß die Beduinen meinten, die nach Arabien und Indien bestimmten Waren würden nun wieder hier diesen Weg durch die Wüste nehmen, der allerdings viel kürzer wäre als den ganzen Nil hinunter bis nach Alexandrien, das war ein verzeihlicher Irrtum. Sie hofften eben.
Nobody interessierte sich jetzt am meisten für jenes Weib.
»Ist sie eine Beduinin?«
»Sie ist eine delherrah Fatme aus dem Paradiese.«
Delherrah heißt heilig oder ... wahnsinnig!
Es ist merkwürdig, daß bei so vielen Völkern die Wahnsinnigen für heilig gelten. Bei den Indianern und bei anderen Wilden läßt man sich das noch gefallen, aber die europäischen Türken stehen doch schon etwas höher in der Kultur! Und auch in Konstantinopel laufen die Irrsinigen frei auf der Straße herum, werden gehegt und gepflegt, und nur wenn sie toben, gefährlich werden, sperrt man sie ein, aber nur, um ihnen erst recht die gebratenen Täubchen vorzusetzen. Und diese Sucht, Wahnsinnige als Heilige zu verehren, bricht auch mitten in unseren höchstentwickelten Kulturstaaten immer wieder einmal mit Macht hervor. Denn was sind denn die Gründer von jenen Sekten, wie sie an der Tagesordnung sind, die von den Mitgliedern als Propheten und Heilige angebetet werden? Sie gehören ins Irrenhaus.
»Wo befindet sie sich jetzt?«
»In unserem Lager.«
»Was tut sie da?«
»Sie tanzt und singt, und es klingt gar lieblich.«
»Was für Lieder singt sie?«
»Gesänge aus der Dschennet zur Ehre Allahs und seines Propheten.«
»Du sagtest doch vorhin, niemand könne sie verstehen.«
»Das kann auch niemand.«
»Woher weißt du da, daß sie Lieder zu Ehren Allahs singt?«
»Was für andere Lieder soll sie singen, Sihdi?« war die naive Gegenfrage.
»Sie spricht kein Arabisch?«
»Doch, Sihdi, so gut wie du und ich.«
»Was erzählt sie euch?«
»Sie ist delherrah, Sihdi.«
Diesmal hatte der Beduine ganz deutlich ausgedrückt, daß er mit dem ›delherrah‹ wahnsinnig meinte, ohne dazwischen einen Unterschied zu machen.
»Sie muß aber doch irgend etwas sprechen. Wiederhole mir irgendwelche Worte von ihr.«
»O, sie spricht gar viel, besonders zu den Kindern. Denen erzählt sie, wie schön es in el Dschennet ist, was dort die Gläubigen für eine selige Lust genießen, und wie sie mit den Huris scherzen.«
Also doch eine Beduinin, die sich wahrscheinlich hierher verirrt, in der einsamen Wüste den Verstand verloren hatte! Daß sie den Kindern so etwas erzählte, das sah einer Irrsinnigen, die selbst wieder zum Kinde geworden war, ja ganz ähnlich.
Doch sie redete noch eine andere Sprache, welche die Beduinen nicht verstanden? Das war für Nobody welcher die Beduinen-Verhältnisse durchaus kannte, sehr unverständlich. Es gibt keinen Beduinenstamm, welcher sich einer anderen Sprache bedient als der arabischen.
Da es sich um eine Heilige handelte, mußte Nobody sehr vorsichtig sein, durfte vor allen Dingen keinen Zweifel laut werden lassen.
»Sie sagte selbst, daß sie aus dem Brunnen gekommen ist?«
»Ja, das sagte sie selbst, und sie erzählte, wie sie dort unten mit dem Teufel gerungen und ihn besiegt hat, so daß der Brunnen den Beni Schammar, welche Allah liebt, jetzt wieder Wasser in Hülle und Fülle spendet.«
Nun kam für Nobody in bezug auf jenes Weib noch eine andere Mutmaßung in Betracht, mit der wir uns sogleich beschäftigen werden.
Gegenwärtig konnte er sich von seinem Begleiter auch nicht mehr die Erzählung der Wahnsinnigen wiedergeben lassen; denn als sie um eine Felsecke bogen, lag vor ihnen ein großes Zeltlager.
Noboby wurde vor den Scheich geführt, und keck gab er sich für den ›Enginera‹ aus, der nicht nur vom Stellvertreter der Regierung in Edfu, dem Wali, sondern gleich direkt von der obersten Behörde in Kairo geschickt wurde, um das Wasser des Brunnens auf seine Trinkbarkeit zu untersuchen.
Er durfte dies auch ohne Gefahr tun, er konnte nie einer Unwahrheit überführt werden. Gesetzt den Fall, jetzt wären die Abgesandten aus Edfu zurückgekommen, einen richtigen Ingenieur mitbringend, den Wali selbst, so hätten sie gegen den Fremden mit seiner Behauptung doch gar nichts machen können. Nobody war durch den Ferman des Vizekönigs allmächtig, sie hatten alle zusammen einfach den Mund zu halten, und damit basta!
Allerdings sind die Beduinen der Wüste ja ganz unabhängig; ihr Gehorsam gegen die Regierung, daß sie z. B. im Falle eines Krieges ihre Reiter stellen, ist ein freiwilliger, erzwungen könnte er nie werden. Aber sie gehorchen gern, denn die Beduinen sind strenggläubige Mohammedaner, und der Sultan oder Padischah ist als Nachfolger Mohammeds ihr Papst, und dessen Stellvertreter in Aegypten ist der Vizekönig oder Hekimel Missor, und so warf sich denn auch der Scheich, der sonst niemals seinen stolzen Nacken beugte, beim Anblick des Fermans gleich auf die Knie nieder und küßte den Boden.
Zunächst ließ sich Nobody den Brunnen zeigen, um den die Beduinen ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Er war ausgemauert und hatte auch noch eine meterhohe Umfassung. Früher, in jener ersten, glücklichen Periode, als es hier noch überall Wasser gab, erzählte der Scheich, und es ist schon gesagt worden, wie die Beduinen Ueberlieferungen erhalten, hatte das Wasserniveau des Brunnens ziemlich tief gestanden, man hatte es mit Strick und Gefäß herausbefördern müssen, die in einen langen Stein gehauene Rinne war noch vorhanden, in welche das Wasser gegossen wurde, um die Kamele und Pferde zu tränken.
Das war jetzt nicht mehr nötig, das Wasser stand bis zum Rande der Umfassungsmauer, quoll noch darüber hinaus, lief als kleiner Bach davon, der bald in einer Felsspalte verschwand.
So war es am ersten Tage vor ungefähr vier Wochen gewesen, erklärte der Scheich, da man das Wiedererwachen des Brunnens entdeckt hatte, oder, wie sich der Beduine ausdrückte, da die delherrah Fatme den Teufel besiegt hatte, und die Wasserfülle war bisher unverändert geblieben.
Das Wasser war ohne jeden Salzgeschmack, kalt und klar. Aber sehr tief konnte man in den dunklen Brunnen nicht hinabblicken.
Und was für ein Geheimnis würde nun Nobody dort unten entdecken, wenn er mit seinem Skaphander hinabtauchte?
»Der wievielte Brunnen im Tale der Verwirrung auf der rechten Seite, von Sonnenuntergang gerechnet, ist dies?«
»Der achte, Sihdi,« entgegnete der Scheich.
Der achte! Es war der Teufelsbrunnen, es war der gesuchte!
Wollen wir uns nun, während Nobody so mit starren Augen, seinen Gedanken nachhängend, in die feuchte, dunkle Tiefe hinabblickte, etwas wie von einer heiligen Scheu erfaßt, mit diesen seinen Gedanken beschäftigen.
Wer war jenes rätselhafte Wesen, der kleine, schwächliche, hinkende, mißgestaltete Mann, der über noch unbekannte Erfindungen verfügte, welche man für Zauberei hätte halten mögen, der sich nahe am Nordpol ein Laboratorium eingerichtet hatte und hier in diesem ägyptischen Wüstenbrunnen den Eingang zu einer unterirdischen Wohnung besaß?
Er konnte nicht sprechen. Seine Leiche lag in einem kühlen Keller von Nobodys Hause aufgebahrt, für alle Fälle so gut präpariert, vor Verwesung geschützt, wie Nobody es verstand. Freilich an solch eine Präparierung, wie es mit der Leiche jenes jungen Mädchens geschehen, war nicht zu denken, diese unheimliche Kunst war Nobody fremd; die Leiche würde sich mit der Zeit in eine ausgetrocknete Mumie verwandeln.
Nur etwas Schriftliches hatte der Selbstmörder hinterlassen, direkt an den gerichtet, der ihn in den freiwilligen Tod getrieben.
Viel war dabei gewesen, was Nobody zu denken gab. Jene Zeilen hatten dem scharfsinnigen Detektiven mehr erzählt, als manchem anderen Menschen.
Dieser Mann hatte also eine Sekte gegründet, die noch existierte, von der er sich als unsichtbaren Gott anbeten ließ. Das hatte ja ganz deutlich geschrieben gestanden. Für Nobody sagte das aber noch mehr. Hierdurch konnte er sich auch enträtseln, aus welchem Grunde sich der mißgestaltete Mann jener spanischen Tänzerin als schmutziger Bettler genähert hatte.
Nochmals: dieser Mann, der uns als Monsieur Sinclaire bekannt ist, hatte eine Sekte gegründet, von deren Mitgliedern er sich als unsichtbaren Gott anbeten ließ. Das konnte sich Nobody recht lebhaft vorstellen. Der Mensch, der sich ungesehen machen konnte, war überall und nirgends - geheime Zusammenkünfte, bei denen sich die unsichtbare ›Gottheit‹ manifestierte, allerhand Hokuspokus trieb usw. - da mußte ja jeder, der zur Aufnahme in die Sekte für würdig befunden wurde, daran glauben, mußte den gesunden Verstand verlieren, und Sinclaire hatte doch auch verächtlich von einer ›wahnsinnigen Gesellschaft‹ gesprochen.
Wo hatte diese Sekte, von deren Existenz Nobody noch niemals eine Spur bemerkt, ihren Sitz? In diesem Brunnenschachte sollte Nobody ja die Lösung finden, so hatte ihm Sinclaire schriftlich hinterlassen.
Nun aber etwas anderes: Es war doch ganz offenbar, daß Sinclaire noch nichts davon gewußt haben konnte, wie sich dieser Brunnen unterdessen wieder mit Wasser gefüllt hatte. War nun die Wahnsinnige vielleicht ein Mitglied dieser Sekte, hatte sie etwa in dem Brunnenschachte gehaust, stand ihr Erscheinen damit in Verbindung, daß sich der Brunnen wieder mit Wasser gefüllt hatte? War sie also daraus vertrieben worden?
Die Beantwortung dieser Fragen mußte Nobody der Zukunft überlassen, und auch der Scheich sollte ihm dann dabei behilflich sein.
»Hat damals hier vielleicht ein Erdbeben stattgefunden?« fragte er jetzt.
Der Sohn der Wüste, in der jede vulkanische Tätigkeit erloschen, für immer tot ist, wußte gar nicht, was ein Erdbeben sei. Aus diesem Grunde war aber auch mit Sicherheit anzunehmen, daß keine besondere Revolution im Erdinnern stattgefunden hatte, von einem Geräusch oder Erzittern begleitet; denn sonst hätten die Beduinen doch darüber berichtet, der leichteste Erdstoß hätte ihnen Entsetzen einflößen müssen.
So war eben doch immer noch eine Wasserader vorhanden gewesen, das Wasser hatte sich einen Zugang gerade zu diesem Brunnen durchgewaschen.
Nobody kehrte in das Zelt des Scheichs zurück, wo den beiden eine Mahlzeit aufgetragen wurde, nur bestehend aus Durramus und salziger Kamelsmilch. Der Scheich entschuldigte diese Armut, und Nobody fragte nicht, wo die Weidegründe des Stammes lägen, die doch gar nicht so arm sein könnten, denn Menschen wie Kamele und Pferde sahen recht wohlgenährt aus, sondern er zog vorsichtig weitere Erkundigungen über das wahnsinnige Weib ein.
Der Scheich erzählte ihm dasselbe, was Nobody schon von seinem Begleiter gehört hatte, und dann gab das Stammesoberhaupt noch die Erzählung wieder, wie die Delherrah von dem Propheten aus dem Paradies in den Brunnen geschickt worden sei, wie sie mit dem Teufel gerungen und ihn besiegt habe usw., so wie es die gütige Fee selbst berichtete.
Wir brauchen diese Erzählung nicht wiederzugeben, denn von allem Anfange an kam sie unserem Nobody gar nicht so recht glaubhaft vor, nämlich in bezug darauf, daß diese wohlgesetzten Worte aus dem Munde der Wahnsinnigen stammten, vorausgesetzt, daß sie wirklich wahnsinnig war. Das war ganz einfach ein arabisches Märchen, das sich jeder Beduine mit seiner lebhaften Phantasie aus dem Stegreif zusammendichten kann, wenn er des Abends vor seinem Zelte sitzt, das war alles so echt ›beduinisch‹!
Nein, das alles stammte gar nicht aus dem Munde jenes Weibes! Die Beduinen hatten ihre wirren Brocken zusammengesetzt, und eine Fee aus dem Paradiese mußte es doch unbedingt sein, und so war eben dieses Märchen entstanden, welches sie für den eigenen Bericht der Fee hielten.
Nobody hatte etwas anderes zu fragen, auch in anderer Weise, und als der Scheich eben eine Portion Durramus mit der Hand in den Mund löffeln wollte, verdrehte er plötzlich die Augen nach oben und sank gegen die Zeltstange zurück. Er war hypnotisiert.
»Ist in der Nähe dieses Brunnens schon früher einmal ein Fremder gesehen worden?« begann Nobody das Examen nach der üblichen Einleitung.
Der Scheich verneinte.
»Oder weißt du, daß der Brunnenschacht bewohnt worden ist?«
Auch in diesem willenlosen Zustande konnte der Scheich sein Staunen ob solch einer Frage nicht unterdrücken.
Und dabei blieb es. Der Scheich konnte auch in der Hypnose nichts erzählen, hier gab es kein anderes Geheimnis als das plötzliche Erscheinen des irrsinnigen Weibes am Brunnen, für das aber auch der Beduine eine Erklärung fand, indem er es eben mit gläubigem Gemüte für eine gütige Fee aus dem Paradiese hielt, von Mohammed geschickt, um den Beni Schammar wieder das langentbehrte Wasser zu geben.
Nobody ließ den Scheich erwachen, der sofort und ahnungslos sein Durramus weiter zum Munde führte.
»Ist die delherrah Fatme jung?«
»Sie ist eine Fee und schön wie eine Huri aus dem siebenten Paradiese.«
Freilich, eine Fee muß doch immer jung und schön sein, besonders wenn sie gütig ist; denn sonst wird das weibliche Wesen eine Hexe genannt.
»Hat sie schwarze Haare?«
Auch diese Frage Nobodys war eigentlich überflüssig. Eine schwarzäugige Huri mit blonden Haaren kann sich ein Araber wohl schwerlich vorstellen.
»Wo befindet sie sich jetzt?«
»Im Lager, sie wird im Zelte meines Weibes sein.«
»Kann ich sie nicht einmal sehen?«
Der Scheich wollte eine Antwort geben, kam aber nicht dazu, verstummte im ersten Wort, hob die Hand.
»Da!« flüsterte er. »Hörst du sie singen? Es ist ein Gesang aus dem Paradiese, in der Sprache, welche die Huris zu den seligen Gläubigen reden.«
Ja, Nobody hörte den Gesang, leise und süß, der draußen vor dem Zelte erscholl, und er versteinerte mitten in der Bewegung.
Allmächtiger Gott! Dieses Lied! Ein Lied seiner Heimat, seiner deutschen Muttersprache!!

    »Ein Vöglein sang im Lindenbaum
    In lauer Sommernacht,
    Den Tönen lauschend wie im Traum
    Hab' ich an sie gedacht.
    Und Blütenduft und Vogelsang,
    Die haben sich vereint,
    Mir wurde, ach, so weh, so bang,
    Ich habe leis geweint ...«
Nobody war aufgesprungen, aus dem Zelte gestürzt.
Und da sah er sie, wie eine Beduinin gekleidet. Die Arme ausgestreckt, drehte sie sich langsam im Kreise, mit leiser, süßer Stimme jenes deutsche Volkslied singend.
» ... ich habe leis' geweint,« wiederholte sie den Refrain, und tanzend war sie in einem Weiberzelte verschwunden, das als solches gekennzeichnet war, und in das ihr der Fremde nicht folgen durfte, kein anderer Mann.
Nobody hatte auch ihr Gesicht gesehen - ein blasses, schönes Mädchengesicht, so süß und traurig zugleich, wie ihr Lied geklungen hatte. Unter dem zurückgeschlagenen Schleier waren schwarze Flechten hervorgequollen.
Beduinin oder Deutsche? Nobody hätte es nicht sagen können, obgleich sich ihm dieses schöne, traurige Gesicht im ersten Augenblick unauslöschlich eingeprägt hatte.
»Delherrah Fatme, sie war es,« erklang es neben ihm flüsternd.
Nobody raffte sich empor. In jenes Zelt konnte er ihr nicht folgen. Es hatte auch noch Zeit. Sie konnte ihm ja nicht entgehen, und er würde sie schon noch auszuforschen wissen.
Jetzt zunächst in den geheimnisvollen Brunnen hinab, dorthin drängte es ihn mit aller Macht!
Er ließ sich sein Gepäck in das Zelt bringen, staunend betrachtete der Scheich den zum Vorschein kommenden Glockenhelm.
»Was ist das?«
»Ein Tauchapparat, in dem ich unter Wasser atmen kann. Denn zur Untersuchung des Brunnens muß ich in diesen hinabsteigen.«
Der Scheich verstand ihn gar nicht. Nobody übergab ihm alles das, was er nicht mit sich unter Wasser nehmen konnte, wie seine Waffen, den Sextanten, die Logarithmentafeln und anderes, dann legte er das Kostüm an.
Man kann sich denken, was für eine Aufregung die Erscheinung des Tauchers bei den Beduinen hervorrief, und dabei wußten sie noch nicht einmal, daß er wirklich in das Wasser hinabwollte.
»Ein ›Inschallah‹ und ›Allschallah‹ folgte dem andern, und als der Taucher nun gar auf den Brunnenrand trat und in das Wasser sprang, darin verschwand, da ertönte einstimmig der gellende Ruf:
»El Deddschel, el Deddschel!! Der Teufel, der Teufel!! Er will uns das Wasser wieder nehmen!!«
Nobody hatte es schon nicht mehr gehört, er sank bereits.
Hier unten im Schachte sah es ganz anders aus, als wenn man von oben hineinblickte. Das Wasser war klar, das Sonnenlicht drang in den engen Schacht als ein Strahl hinein, so herrschte hier fast Tageshelle.
Langsam, ganz langsam ließ sich Nobody hinabsinken, sich dabei immer im Kreise drehend, denn er spähte nach dem ihm bezeichneten Hebel - und richtig, sein nach der Erdoberfläche eingestelltes Manometer zeigte eine Tiefe von sieben Metern, als er unter sich aus der gemauerten Wand eine kurze Stange hervorragen sah.
Als er die Hand an den Griff legte, zuckte ihm ein Gedanke durch den Kopf: Wie nun, wenn dir jener Mann nur den Rat gegeben hat, den Hebel nach rechts zu drehen, um dich zu vernichten, um auch seinen heimlichen Bau von der Erde verschwinden zu lassen? Wenn nun das Wasser den Sprengstoff nicht verdorben hat und es erfolgt eine furchtbare Explosion?
Doch nein! Diesen Gedanken hatte Nobody ja auch nicht zum ersten Male gefaßt, das alles hatte er sich schon gar reiflich überlegt, und er traute dem Manne, der ihn zu seinem Erben eingesetzt hatte.
Also er drehte den eisernen Hebel soweit wie möglich nach rechts herum, und es ging ganz leicht zu bewerkstelligen. Dann ließ er sich tiefer sinken.
Das Manometer zeigte eine Tiefe von zwölf, dreizehn, vierzehn, fünfzehn Metern an - dann hatte Nobody weichen Boden unter den Füßen.
Wohl sah er von oben noch das Sonnenlicht hereinfallen, aber um ihn herum herrschte Dunkelheit. Er setzte mittels der magnet-elektrischen Zündung seine Taucherlaterne in Brand, welche gleichfalls aus der Luftbombe mit Sauerstoff gespeist wurde. Hier war der Brunnen nicht mehr mit Steinen ausgesetzt, ein natürlicher Schacht, und der Blendstrahl fiel in eine seitliche Spalte, breit genug, um einen Mann hindurchzulassen, auch etwas über Manneshöhe.
Nobody drang ein. Bald hörte der in den Schacht gefallene Flugsand, der den weichen Boden gebildet hatte, auf, die Bleisohlen schwebten über festen Stein dahin. Jetzt kam in dem schmalen Gange eine Biegung, und ...
Geblendet, fassungslos, sich von einem Traum befangen wähnend, so stand Nobody da!
Eine intensive Helligkeit war der erste Eindruck, den er empfing.
»Allmächtiger Gott! Elektrisches Licht! Eine Bogenlampe!« flüsterten in dem Taucherhelm bebende Lippen.
Ja, so war es. Vor ihm öffnete sich ein großer, hoher Saal, und an der Decke desselben hing eine Bogenlampe, das blendend weiße Licht, von Kohlenstiften erzeugt, von solchen Dimensionen, von solch blendender Helligkeit, wie man es damals wenigstens von Bogenlampen noch gar nicht kannte.
Wir sprachen von einer ›blendenden Beleuchtung‹. Dabei ist zu bedenken, daß der Taucher soeben durch eine Wendung aus dem völlig finsteren Gange herausgetreten war und solch ein Licht unmöglich hatte erwarten können.
Und trotzdem, wenn das Licht durch das Wasser, und wenn dieses noch so klar war, auch bedeutend geschwächt wurde, weil es die Lichtstrahlen eben mehr absorbiert als die atmosphärische Luft, so ließ es doch noch den kleinsten Gegenstand im fernsten Winkel deutlich erkennen, und so erkannte Nobody auf den ersten Blick, daß dieser Raum nicht etwa immer unter Wasser gewesen war, und daß der Mann, der diese unterirdische Höhle zur Wohnung einrichtete, auch niemals damit gerechnet hatte, hier könne noch einmal wieder Wasser eindringen.
Sehr viele der Möbel, besonders solche, welche aus einfachem Holze bestanden, wie Tische und Stühle, schwammen nämlich oben an der Decke, und hieraus also war jener Schluß doch ganz sicher zu ziehen.
Auch andere Möbel verrieten, daß sich nicht etwa ein Taucher oder sonst ein Wesen, das unter Wasser existieren konnte, hier häuslich niedergelassen hatte. Wenn ein Sofa und andere Polster nicht nach oben getrieben worden waren, so kam das einfach daher, weil sie sich zu sehr voll Wasser gesaugt hatten, und außerdem gingen solche Stoffe auch schon in Fäulnis über.
Als dies dem Detektiven zur Erkenntnis kam, ging ihm gleich eine böse Ahnung auf. Wo befand sich das Tagebuch? Wie, wenn nun dieses ...
Da sollte sich die böse Ahnung auch schon als Tatsache bestätigen.
Sein seitwärts gewendeter Blick wurde von einem brillanten Gefunkel gefesselt, das konnte nur derselbe rätselhafte Stein oder Stoff sein, der auch dem roten Ringe das überirdische Farbenspiel gab, dieses hier ging, aber in noch weit stärkerem Maße, von einem dicken Buche aus, welches zugeschlagen auf einem massiven Stehschreibtisch lag; schnell schwebte der Taucher darauf zu, jetzt achtete er nicht darauf, was für Buchstaben das waren, welche von der funkelnden Substanz gebildet wurden, seine Hand näherte sich dem Buche, schon diese leichte Bewegung genügte, um unter dem Deckel hervor eine breiige Masse aufwirbeln zu lassen, und als er den schweren Deckel aufschlug, da ... stieg eine weiße Wolke in die Höhe.
Papierbrei! Das Papier war von dem Wasser im Laufe der Wochen aufgeweicht, in die feinsten Teilchen zerlegt worden.
Hinter dem Taucherhelm erscholl ein leises Aechzen, ein Zähneknirschen und etwas wie ein unterdrückter Fluch.
Vorbei! Zu spät gekommen! Hier war die Lösung aller dieser Geheimnisse und Rätsel, und jetzt ... ja, jetzt quoll sie ihm als eine milchige Papierlösung davon!
Auch er war nur ein irdischer Mensch gewesen, der hier gehaust hatte, trotz aller seiner Erfindungen ein Mensch, der den Elementen gegenüber immer ohnmächtig gewesen ist und es immer bleiben wird. Er hatte seine Mitteilungen auf irdisches Papier niedergeschrieben, mit allen seinen Kenntnissen nicht ahnend, daß hier noch einmal das Wasser eindringen würde.
Doch lange hing Nobody solchen trüben Gedanken nicht nach. Was einmal nicht zu ändern war, darüber ärgerte sich Nobody auch nicht mehr.
»Da geht des Teufels Zauberbuch hin und singt nicht mehr,« sagte er, sich eines schon einmal erwähnten, beliebten Seemannsausdruckes bedienend, als er der sich zerteilenden weißen Wolke von Papierbrei nachblickte. »Auch gut, das sieht gerade wie Milch aus, und über vergossene Milch soll der Bauer nicht weinen - gut also, jetzt wird die Kuh frisch weitergemolken, jetzt werde ich alle diese Rätsel aus eigener Kraft lösen. Mir sogar ganz recht, daß die Geschichte nicht gleich so einfach ist.«
Mit nüchternem Auge ging Nobody an die nähere Untersuchung, die sich zunächst auf dieses Buch oder jetzt nur noch auf seine Einbanddecke erstreckte.
Er hatte noch zu Hause vor seiner Abreise durch das Mikroskop konstatiert, daß in den roten Rubinring doch ein winziges Körnchen einer Substanz eingelassen war, jedenfalls ein unbekanntes Metall, von dem jener wunderbare Glanz auch in der Finsternis ausging.
Hier nun, auf dem starken Deckel des Buches, bildete die Grundlage dieses selbstleuchtenden Stoffes, in die er eingefaßt war, starker Golddraht, der zu Buchstaben gebogen war. Sie stellten zwei Worte dar, welche lauteten: Snorre Sturluson.
Snorre Sturluson! Ein gar bekannter Name in der Geschichte Islands, damals, als Island noch eine Macht bedeutete und der skandinavischen Weltherrschaft - die damalige Welt - den Rang streitig machen konnte. Ein Mann, auf den die von Uhland auf den Troubadour Bertran de Born gedichteten Worte gepaßt hätten:

    » ... der sich gerühmet in vermessener Prahlerei,
    daß ihm nie mehr als die Hälfte seines Geistes nötig sei ...«
nämlich dazu, um mit einem Liede Fürstentöchter zu verführen und mit einem zweiten Liede die ihn ermorden wollenden Väter und Brüder mit sich wieder zu versöhnen, bei dem liederlichsten Lebenswandel doch zugleich ein strahlender Stern am Himmel der Gelehrsamkeit, ein Doktor Faust, im Rufe der Zauberei stehend, Bücher über Moral schreibend, seinem Vaterlande die gerechteste Verfassung gebend, und dann diese selbst hohnlachend mit Füßen tretend, indem er wegen Streites um ein kleines Landgut seinen eigenen Bruder mit eigener Hand ermordete ...
Mehr wußte Nobody auch nicht, nicht einmal, wann dieser mystische Held Islands gelebt hatte. Jedenfalls im Anfange des Mittelalters.
War Snorre Sturluson vielleicht der Mann, von dem Sinclaire gesagt, daß er seine wichtigsten Kenntnisse und Erfindungen einem anderen verdanke, den er nur beerbt habe? Das sah fast ganz so aus.
Doch jetzt zerbrach sich Nobody hierüber nicht den Kopf. Seine Gedanken galten dem kleinen, mißwachsenen Manne, der hier gehaust, den er persönlich gekannt hatte.
Ja, es war ein irdischer Mensch gewesen; aber was für ein Mensch mußte das gewesen sein! Seiner Spur weiter zu folgen, das war eines Lebens wert!
Nobody hob noch einmal den Einbanddeckel, er war sehr schwer, mußte eine Metallplatte enthalten, die mit Leder überkleidet war. Mit Leder? Was war denn das für ein eigentümliches Leder? Nobody brachte seinen Helm dicht auf den Deckel.
»Ich will dereinst gepökelt werden, wenn das nicht gegerbte Menschenhaut ist!« murmelte er.
Diese Entdeckung warf nun wieder ein ganz eigentümliches Licht auf den Charakter und die Tätigkeit jenes rätselhaften Mannes. Na ja, Nobody hatte ja schon Beweise genug, daß der niemals viel Federlesens mit seinen Mitmenschen gemacht, sie nur sozusagen als Versuchskaninchen betrachtet hatte.
Weiter wandte Nobody seine Aufmerksamkeit dem elektrischen Lichte zu. Hatten die Bogen- und Glühlampen schon immer gebrannt? Schwerlich. Jedenfalls war der Strom durch die Drehung jenes Hebels geschlossen worden. Wo war die Elektrizitätsquelle? Das Hauptkabel führte nach zwei meterhohen, kupfernen Zylindern, scheinbar nur mit gezupftem Asbest gefüllt, der eine einen Zinkstab, der andere einen Kohlenstab enthaltend.
Also wiederum dieselbe rätselhafte Batterie, und das Rätsel blieb vorläufig ungelöst, der Schlüssel dazu war vom Wasser zu Schlamm verwaschen worden.
Was den Zweck dieses unterirdischen Raumes anbetrifft, so war er wiederum zu einem chemischen Laboratorium eingerichtet. Alles war vorhanden, was der Experimentator und Analytiker braucht, alle Apparate, alle Chemikalien, die, so weit sie in Glasflaschen mit eingeschliffenen Stöpseln aufbewahrt wurden, unversehrt waren, während das meiste unter dem Wasser gelitten hatte.
Ferner aber war der Saal zu einer vollständigen mechanischen Werkstatt eingerichtet, mit Schraubstöcken, einer Drehbank, einer besonderen Schraubenschneidemaschine, Hobelmaschine, und nicht etwa nur so kleine Maschinchen für einen Mechaniker, sondern eine richtige Maschinenfabrik! Die Leitspindelbank drehte Achsen von sechs Meter Länge, der Schlitten konnte Panzerplatten hobeln!
Welche Kraft trieb diese großen Maschinen? Nobody sah an der Hobelbank einen Hebel, er drehte ihn, und mächtig holte der Schlitten aus. Elektrisch! Und nur jene beiden kleinen Zylinßer dort konnten diese Kraft von mindestens vier Pferden erzeugen!
Ja, wozu aber nur in aller Welt hier in diesem Brunnenschacht einer ägyptischen Wüste dieses Laboratorium und diese Werkzeugmaschinen?!
Nobody hatte sich diese Frage schon am Nordpol stellen können. Dort hatte er zwar nur ein Laboratorium gesehen, aber er war ja gar nicht in allen Räumen gewesen, auch dort oben im hohen Norden hatte der rätselhafte Mann vielleicht eine Maschinenfabrik angelegt.
Dort oben am Nordpol war ein Telephon in einen Schacht hinabgegangen, der jedenfalls mit dem Meere in Verbindung stand; hier hing ein Telephon an einem mächtigen Panzerschrank, der halb in die Felswand eingelassen war, und die beiden Drähte verliefen in den Schrank.
Wohin führte nun wieder dieses Telephon? Mit wem konnte man sich in Verbindung setzen?
Ein elektrischer Wecker war vorhanden, ebenso eine Kurbel. Nobody hatte Lust, einmal zu drehen. Er unterließ es. Er hätte unter seinem Taucherhelm weder sprechen noch hören können. Und was für geheimnisvolle Mächte konnten vielleicht durch den Weckruf herbeigelockt werden?
Wir können es sagen, daß es Nobody etwas unheimlich zumute war. Sonst wäre er ja auch gar kein Mensch gewesen.
Und was konnte der Panzerschrank enthalten? Der Selbstmörder hatte in seinem letzten Schriftstück von einem weit bequemeren Eingang gesprochen, den Nobody sofort finden würde.
Ganz gewiß, das hier war der Eingang. Die Panzertür war über manneshoch und ebenso breit, da wurden jedenfalls auch die Maschinenteile oder jenes ›Gott weiß was‹ hereingeschafft, das hier bearbeitet wurde.
Aber wie nun die Tür öffnen? Sie enthielt ein sogenanntes Vexierschloß. In einem kreisförmigen Ausschnitt befanden sich alle 25 Buchstaben des Alphabets, die man beliebig verschieben und ordnen konnte. Nun brauchte man bloß das Stichwort einzustellen, dann mußte die Tür auf- oder wahrscheinlicher nach innen gehen.
Welches aber war das Stichwort? Das schwamm dort in einer milchigen Wolke herum, es hatte sich in Wohlgefallen aufgelöst. Und das Stichwort ausprobieren? Da ist es noch viel einfacher, das große Los zu ziehen. Die fünfundzwanzig Buchstaben des Alphabets lassen einige Millionen Kombinationen zu!
Nobody probierte einmal die Federsäge seines Taschenmessers. Die Panzerplatten waren aus bestgehärtetem Stahl, da war nichts zu machen. In diesem Augenblick dachte Nobody lebhaft an seinen hellsehenden Freund. Ob der das Stichwort nicht eher herausfinden könnte? Nobody glaubte es bestimmt. Also abwarten! Der Wüstenbrunnen lief ja nicht davon.
Das nächste war, daß Nobody nach dem Wasserzufluß suchte, der den Brunnen speiste, und er hatte ihn bald gefunden. In einem Winkel des Saales dicht am Boden befand sich ein kleines Loch, durch das man eben die Hand stecken konnte. Daß es ganz frisch ausgewaschen oder durchbrochen war, konnte man an kleinen Trümmern und feinem Sande deutlich erkennen. Hier fand eine leichte Bewegung des Wassers statt, wie Nobody an einem Stückchen Holz konstatierte. Es strömte also ebensoviel Wasser ein, wie oben über den Brnnnenrand hinausfloß.
Nobody untersuchte weiter die ganze Einrichtung des Saales, die Maschinen und alles. Doch wir brauchen uns nicht mehr damit zu befassen.
Die wasserdichte Uhr sagte ihm, daß er nun bald schon vier Stunden sich unter Wasser befand. Die Luftbombe versorgte ihn für mindestens zehn Stunden mit Sauerstoff, aber vier Stunden im Taucheranzug stecken, das ist schon eine ansehnliche Leistung, zumal wenn auf dem Taucher ein Wassedruck von fünfzehn Metern lastet. Außerdem hatte Nobody hier unten eigentlich gar nichts mehr zu suchen. Was er hätte finden können, war von ihm gefunden.
Er trat den Rückweg an, hinter sich das elektrische Licht brennen lassend, in der festen Ueberzeugung, daß dieses verlöschen würde, sobald er wieder jenen Hebel drehte.
Oder sollte er diesen nicht wieder zurückdrehen? Das wollte überlegt sein. Von Sprengstoffen oder einer sonstigen Höllenmaschine hatte er nichts entdecken können. Nun, er konnte ja den Hebel genauer untersuchen, es mußte doch ein Mechanismus oder eine Leitung vorhanden sein, die er verfolgen wollte.
Als er um die Ecke bog, kam er wieder in den dunklen Gang. Seine Taucherlaterne hatte er nicht erst wieder angebrannt. Das Tageslicht mußte ja gleich von oben hereinfallen.
Er stieß gegen eine Wand, die nur die Mauer des eigentlichen Brunnenschachtes sein konnte, und ... der Schimmer des Tageslichtes war noch nicht da!
Wie war das möglich? Es war doch erst um fünf Uhr, oben noch taghell. Er setzte seine Laterne in Brand, leuchtete im Kreise - gewiß, das war der Brunnenschacht! Und nicht der geringste Lichtschimmer!
Der Taucher pumpte seinen Gummianzug voll Luft, stieg empor, kam an dem Hebel vorbei und - stieß mit dem Helm gegen etwas Festes.
Im Scheine seiner Laterne sah er, daß er sich tatsächlich am obersten Brunnenrande befand, aber über demselben lag eine große Steinplatte.
Das andere sich auszuklügeln, war keine Kunst.
Gefangen! Die Beduinen hatten den Brunnenausgang verbarrikadiert!
Wir können uns nicht dabei aufhalten, schildern zu wollen, was für Gedanken durch Nobodys Kopf gingen. Ebenso war ganz Nebensache, was die Beduinen eigentlich veranlaßt hatte, den ›Enginera‹ hier unten kaltzustellen.
Nur wieder heraus aus diesem fatalen Wasserloche! Das war jetzt die Hauptsache.
Mit den Händen konnte er nichts gegen die Steinplatte ausrichten. So ließ er sich wieder sinken, ging zurück. Freundlich strahlte ihm das elektrische Licht entgegen. Mit einer Brechstange stieg er wieder empor, donnerte gegen die Steinplatte, begann zu arbeiten, daß sich sein wasserdichtes Kautschukkostüm mit Schweiß füllte.
Kein einziger Stein gab nach! Dabei ist zu bedenken, daß der Taucher frei im Wasser schwebte, sich nur sehr wenig gegen die runde Wand stemmen konnte.
Wir wollen vier weitere Stunden überspringen. Noch zwei Stunden, dann war es aus mit der Luft.
Nobodys Empfindungen können wir nicht schildern, auch nicht, was er alles tat, um aus dem Wasserloche wieder herauszukommen, oben oder unten.
Wir lassen ihn einmal selbst sprechen in seinem Tagebuche:
»Hätte ich bestimmt gewußt, daß die ganze Bande dort oben mit in die Luft geflogen wäre, so hätte ich eine Explosion veranlaßt, vorausgesetzt, daß eine andere Drehung des Hebels eine solche auch noch herbeiführte. Ich war der Verzweiflung nahe.«
Das wäre wohl jeder andere Mensch auch gewesen. Nein, jeder andere Mensch wäre überhaupt schon verzweifelt, hätte gebetet und gewinselt und sich die Fingernägel an dem Malterwerk abgekratzt, wenn er es nicht vorgezogen hätte, lieber gleich den Taucherhelm abzuschrauben.
Nobody hingegen konnte der Verzweiflung noch gar nicht so nahe gewesen sein, denn er arbeitete unverdrossen weiter an seinem Rettungsversuch.
Es war nicht nur eine innere Stimme, die ihm zuflüsterte, daß seine Rettung nur aus dem Panzerschranke kommen konnte, sondern seine Ueberlegung sagte ihm das.
Aber dem Brecheisen und der Stahlsäge widerstand das Ungetüm.
Und nur noch eine Stunde, dann ging ihm die Luft aus.
Jetzt fing er an, in der Lotterie zu spielen, er wollte das große Los ziehen - deutlicher ausgedrückt: er begann die fünfundzwanig Buchstaben des Alphabets zu Worten zu ordnen.
Zuerst ganz planlos, er schob die Buchstaben durcheinander, sie brauchten gar keine Worte zu bilden, was ja auch bei solch einem Vexierschloß nicht nötig ist, auf irgendein Zeichen wartend, manchmal an der Tür rüttelnd.
Vergebens! Er hielt inne. Wie lange hatte er noch Zeit? Nur noch eine halbe Stunde. Und dann ... na, dann trat eben das ein, was bei jedem Menschen doch einmal eintritt.
Aber auch in das Lotteriespiel kann man Methode bringen.
Nobody überlegte, und dann begann er zu formieren:
Sinclaire - Viktor - Brunnen - Nordpol - Tarnkappe - Nebelmantel - Motorboot - Persepolis - Nobody - Teufel ...
Wieder hielt er inne, und er atmete tief. Noch zehn Minuten, dann war es alle mit ihm.
Jener rätselhafte Mann hatte sich Mephistopheles genannt. Könnte das nicht die Nummer sein, welche das große Los zog?
Also Nobody reihte aneinander:
M - E - P - H - I - S - T - O ...
Donnernd sprang die schwere Tür nach innen auf.
Aber Nobody blieb nicht vor der Oeffnung stehen, hatte keine Zeit, sich in dem Panzerschrank umzusehen, der übrigens gar keinen Boden hatte.
Denn auf ihm ruhte eine Wassersäule von fünfzehn Meter Höhe, und diese erfaßte ihn und stürzte ihn hinab in einen strudelnden Trichter.

5. Auf neuer Fährte.

Edward Scott hatte sich nicht getäuscht, die ›Wetterhexe‹ lag wirklich im Hafen von Smyrna, um Ladung einzunehmen - eine ganz seltsame Fracht.
Schon seit vielen Wochen waren Zwischenhändler und Agenten auf den Beinen gewesen, um alte Knochen aufzukaufen und aufzuhäufen, nicht weniger als 2000 Tonnen oder 40.000 Zentner, welche die ›Wetterhexe‹ demnächst als Fracht abholen wollte, und eine Smyrnaer Bank hatte für den Besteller gutgesagt.
Die Agenten hatten denn auch die 40.000 Zentner alter Knochen zusammengebracht - wobei bemerkt werden muß, daß Smyrna für Kleinasien der Hauptstapelplatz von Knochen, Hadern und Lumpen ist, hier werden alle Abfälle zusammengefahren - hochgetürmt lagen die vollgepfropften Säcke am Kai, zum Abholen bereit, schon um 10.000 Pfund Sterling oder 200.000 Mark bar bezahlt, und das riesige Torpedoschiff war angekommen, hatte angelegt, und auf der Kommandobrücke stand Kapitän Flederwisch und überblickte wie ein Feldherr seine Knochenarmee.
Einige der Säcke waren geplatzt. Hier steckte ein Kamel seine langen, gelben Zähne heraus, dort ein Pferd sein Vorderbein, dort ein Hund sein Schwänzchen, und aus dem einen Sackloche grinste ganz fidel ein menschlicher Totenschädel.
Was Kapitän Flederwisch mit den 40.000 Zentnern Knochen anfangen wollte?
Nun, alte Knochen sind gar kein schlechter Handelsartikel, damit ist schon mancher reich geworden. Und hätte Flederwisch nicht einen so hohen Preis dafür geboten, für den Zentner 5 Mark, er würde nicht so viele in solch kurzer Zeit zusammengebracht haben. Denn überall in der Welt, wo Leimsiedereien und Knochenmühlen existieren, da gehen die alten Gebeine ab wie die warmen Semmeln, und ob nun Kamelskinnbacken oder Pferdebeine oder Hundeschwänzchen oder Totenschädel, und ob dieser nun einem gottbegnadeten Dichter oder einem gehenkten Raubmörder angehörte - ganz egal, alles kommt rin in den Wurstkessel.
Aber Kapitän Flederwisch trieb doch keinen Handel! Noch weniger übernahm er eine Fracht auf Bestellung! Das war bei dem Kapitän der ›Wetterhexe‹ und Herrn der Schwefelinseln doch ganz ausgeschlossen!
Was er sonst mit den 40.000 Zentnern alter Knochen wollte? Ja, das wußte nur der liebe Gott und Kapitän Flederwisch selbst! Na, er hatte eben wieder einmal irgendeine geniale Idee!
Die Mannschaft freilich machte heimlich faule Witze, sie sprach etwas von ›Bouillonknochen‹ und dergleichen, und Kapitän Flederwisch selbst, wie er so dastand und seine fleischlosen Truppen musterte, die er noch heute als Passagiere an Bord seines Schiffes nehmen wollte, machte ein recht verdrießliches Gesicht, besonders als er jetzt witternd die Nase erhob.
»Hätte ich geahnt, daß das Luderzeug so stinken täte, hätte ich wenigstens nicht mein sauberes Schiff zur Fracht genommen,« murrte er.
Ja, stinken tat's, und zwar ganz tüchtig. Die Hafenbehörde hatte ihm nur drei Tage zur Uebernahme dieser Ladung gewährt, dann mußte das Zeug vom Kai verschwunden sein.
»Und überhaupt,« knurrte er weiter, »wenn ich keinen zu großen Schaden dabei hätte, würde ich das ganze Luderzeug gleich weiterverkaufen.«
Die türkischen und arabischen Lastträger kamen, die Uebernahme begann. Prasselnd entleerte sich der Inhalt des ersten Sackes durch die große Luke in den Kielraum des Schiffes.
Bei solch einer Uebernahme der Fracht, läßt sich ein Schiff niemals absperren. Da kommen und gehen ständig zu viele Schiffsmakler, Agenten, Schreiber, und nun gar erst Beamte in Uniform und Zivil die schwere Masse.
»Habe ich die Ehre, Herrn Kapitän Flederwisch zu sprechen?«
Der Angeredete drehte sich um, und zwei Männer standen sich gegenüber, beide gleich hoch und edel gewachsen wie die Zedern - aber auf der einen Seite die geniale Liederlichkeit, auf der anderen der schwermütige Ernst.
»Scott ist mein Name, Edward Scott.«
Kapitän Flederwisch war sonst ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, und einen erstklassigen Gentleman sah er doch vor sich stehen. Aber er befand sich eben gerade in einer überaus verdrießlichen Laune.
»Was wollen Sie?« fragte er kurz, fast schroff.
»Ein Herr, den Sie sehr gut kennen, gab mir dieses für Sie,« entgegnete Scott mit unberührter Höflichkeit, einen kleinen Zettel vorzeigend.
Flederwisch nahm ihn, und gleich als er die Zahlenreihen sah, ging es wie eitel Sonnenschein über sein erst so mürrisches Gesicht.
»No ...!« stieß er hervor, bei der ersten Silbe abbrechend, und es hatte doch wie ein Jauchzen geklungen.
Sich etwas abwendend, las er die Geheimschrift, er brauchte zur Uebersetzung keine Tabelle, und als er sich dem Fremden wieder zukehrte, war sein Gesicht erst recht zur lachenden Sonne geworden.
»Kommen Sie hier etwas abseits!«
Er zog Scott mit unter die Kommandobrücke, wo sie beide allein waren. Was Flederwisch dann weitersprach, sprudelte er nur immer so heraus.
»Nobody braucht mich?«
»Ich glaube so.«
»Sie sind der Mr. Edward Scott, dessen Anleitungen ich befolgen soll?«
»Ich bin es.«
»Es gibt ein Abenteuer?«
»Es wird wohl eins geben.«
»Na, endlich einmal!!!« jauchzte Flederwisch förmlich auf. »Endlich braucht mich Nobody wieder, und da gibt es immer etwas ganz Besonderes. Na also, was soll ich tun? Wohin soll die ›Wetterhexe‹ gehen?«
»Nach dem Suezkanal.«
»Jetzt sofort?«
»Ich habe gehört und sehe, daß Sie eine Fracht einneh ...«
»Sprechen Sie,« fiel ihm Flederwisch ins Wort, und merkwürdig war es, mit welch ängstlicher Spannung seine Augen am Munde des anderen hingen. »Drängt die Geschichte? Soll die ›Wetterhexe‹ sofort abdampfen? Nicht wahr, es drängt? Nobody braucht mich sofort?«
»Wenn es irgend möglich wäre, daß Sie noch heute ...«
In diesem Augenblick prasselte der dritte Sack Knochen in den Laderaum hinab, und da stürzte Flederwisch auf die Luke zu.
»Halt! Haaalt!!! Das Ganze haaaalt!!!« brüllte er. »Raus wieder mit den stinkigen Knochen, rraus, sage ich, raus, raus, rrrraus!!!«
Im nächsten Moment wandte er sich an einen Mann mit internationalem Gepräge - an einen Mann, der in Smyrna genau so aussieht wie in Berlin oder in New-York oder sonstwo in der Welt, wo es nur irgend etwas zu handeln gibt, und auch seine Sprache ist immer die gleiche.
»Hier, Sie haben mir doch schon einmal ein Angebot gemacht, Sie müssen etwas auf dem Rohre haben - na, was geben Sie mir für die 2000 Tonnen Knochen?«
Der Mann mit dem internationalen Gepräge machte seine krummen Beine noch krümmer, steckte die Daumen in die Westenärmel und reckte sein Bäuchlein möglichst weit heraus.
»Wie haißt, Gott der Gerechte,« begann er seine längere Rede.
Nach fünf Minuten schon hatte Flederwisch seine 40.000 Zentner Knochen wieder verklatscht, zur Hälfte des von ihm gezahlten Preises, oder, genau berechnet, das Pfund zu zweiundeinhalb Feng.
Ja, ein Handelsmann war Kapitän Flederwisch nicht. Dazu sah er ja auch viel zu genial aus. Beim Schmuggeln, da konnte er Geld verdienen, da konnte ihn niemand übers Ohr hauen! Aber in geschäftlichen Beziehungen war er naiv wie ein Kind.
Was hier sonst vorlag, liegt wohl ziemlich klar auf der Hand. Er hatte mit den 2000 Tonnen alter Knochen eben wieder einmal irgendeine geniale Idee vorgehabt. Vielleicht hatte er seine öden Schwefelinseln damit düngen wollen. Wie er aber nun die Knochen sah, da waren sie ihm in die Nase gestiegen.
Doch er genierte sich, das Geschäft, den ganzen Plan gleich wieder so ohne weiteres aufzugeben, genierte sich vor der Mannschaft, genierte sich vor sich selbst. Es ist doch auch unmännlich, etwas Großes zu beginnen und gleich im ersten Stadium wieder hinzuwerfen.
Da war ihm nun Nobodys Abgesandter wie gerufen gekommen. Also sofort? Sofort! Gut, weg damit! Jetzt konnte er diese Handlungsweise vor sich selber verantworten. Nobody brauchte ihn und sein Schiff, und damit basta! Und der Besitzer einer Perlenbank konnte sich ja auch solch ein Späßchen leisten.
Und wieder fünf Minuten später begann die Riesenzigarre, die bisher in beängstigender Höhe auf dem Wasser geschwommen hatte, zu sinken. Die Ventile waren geöffnet worden, als Ballast strömte Salzwasser ein.
»Soll sonst etwas mitgenommen werden?« wandte sich Flederwisch an Scott, der ja kaum erst das Deck betreten hatte.
»Nein. Haben Sie genug Kohlen an Bord?«
»Die Kohle gehört zu meinem täglichen Brot wie die Pulle Kognak,« versicherte Flederwisch mit tiefem Ernst.
Er wollte damit sagen, daß sein Schiff immer vollständig mit Kohlen ausgerüstet sei.
»Proviant, Wasser - alles im Ueberfluß vorhanden. Sie machen doch die Reise mit?«
»Gewiß. Auch mein Diener, der dort steht, er hat schon mein Gepäck bei sich.«
»Haben Sie sollst noch etwas an Land zu besorgen?«
»Gar nichts.«
»Dann bitte ich um Entschuldigung, ich muß auf die Kommandobrücke. Puttfarken, weise dem Gentleman die beste Kabine neben der Kajüte an und sorge für seinen Diener.«
Die Ordonnanz, das Faktotum des Kapitäns, Jochen Puttfarken, der unterdessen nicht gewachsen war, noch immer solch krumme Beine hatte und noch immer solch eine ungeheure Nase im Gesicht, auch noch immer mit seinen Elefantenohren wackeln konnte, nahm die beiden ins Schlepptau.
»Das war ein Empfang, so etwas wirkt wahrhaft herzerquickend!« sagte Scott zu seinem Diener, als sich die beiden allein in der luxuriös ausgestatteten Kabine befanden. »Hast du gesehen, Bruno, was für einen Eindruck es auf den Kapitän machte, als er las, daß Nobody etwas von ihm wünschte?«
»Ich sah es, und seine Handlungsweise spricht noch deutlicher.«
»Das erinnert mich an jene englischen Ritterzeiten, welche so - herrlich mein großer Namensvetter zu schildern wußte, Walter Scott, da der Lehnsmann auf einen Wink seines Königs sein Roß anspornte, um mit eingelegter Lanze in den Tod zu gehen, ohne erst nach einem Warum zu fragen.«
»Na, in unserem Nibelungenliede ist das noch viel schöner geschildert, da gibt es noch ganz andere Kerls drin,« meinte der Diener mit dem deutschen Namen. »Aber,« fuhr er dann fort, »haben Sie nicht schon ein Ziel angegeben?«
»Den Suezkanal.«
»Den Suezkanal?« wiederholte Bruno mit besorgter Miene. »Haben Sie denn das unterdessen schon bestimmt erfahren?«
»Nein, noch immer nicht. Es kommt nur immer noch von Süden. Wegen des Zieles muß ich erst noch einmal den Kapitän sprechen.«
»Dann aber bald, wir dampfen schon!«
So war es. Die Schiffsplanken begannen bereits zu zittern, die Schraube drehte sich schon, schneller und immer schneller.
Es klopfte, Zwergnase trat ein, auch der Nasenkönig genannt, also Jochen Puttfarken.
»Der Herr Kapitän läßt entschuldigen, er muß auf der Kommandobrücke bleiben, weil er das Schiff aus dem Hafen bugsiert - Mr. Scott möchten doch allein speisen,« meldete er.
Scott dankte, das merkwürdige Kerlchen betrachtend, welches nicht gleich wieder ging, sondern noch stehen blieb, vergnügt mit den verschwindenden Schweinsäuglein blinzelnd, mit den Elefantenohren wackelnd und sich mit der Hand, mit der er bekanntlich fast den Boden berühren konnte, am Fußgelenk kratzend.
»Wünschen Sie noch etwas?«
»Ja, nichts für ungut, aber ich dachte ...«
Puttfarken brachte aus seiner Hosentasche einen Porzellannapf zum Vorschein, und als er den Deckel hob, sah Scott eine rote Schmiere darin.
»Das ist die Seife, die immer der Master benutzt - der Kapitän hat's mir zwar nicht geheißen, sie Ihnen zu bringen, aber ich dachte, weil ...«
Er setzte den Napf mit der roten Schmierseife auf den Waschtisch.
»Wer ist das, der Master?« fragte Scott.
»Na, der Mr. Nobody!«
»Ah so. Ich danke Ihnen.«
Wenn Scott noch nicht durch diese Schmierseife gemerkt hatte, was für eine Rolle Nobody hier an Bord spielte, so sollte er es auf Schritt und Tritt und bei jeder Gelegenheit merken, und die Verehrung, die man dem ›Master‹ entgegenbrachte, wurde jetzt seitens der Mannschaft seinem Stellvertreter zuteil. Es lag wirklich etwas Rührendes darin, wie das die einfachen Matrosen auszudrücken wußten.
»Das Essen ist fertig, es ist in der Kajüte serviert,« meldete gleich darauf der Steward. »Wo soll Ihr Diener essen?«
»Wenn irgend möglich, ißt Bruno stets an meinem Tisch, und es wird dabei kein Unterschied gemacht.«
»Gerade wie der Master,« sagte der Steward in lobendem Tone.
Auf dem Kajütentische stand feines, chinesisches Porzellan.
»Es ist das Geschirr des Masters - nur für des Masters eigenen Gebrauch,« erklärte der Steward stolz.
Neben dem Teller lag ein silbernes Besteck, während die zum andern Teller gehörende Gabel ganz einfach und auffallend klein, das Messer dagegen sehr groß war und ebenfalls nur einen Holzgriff hatte, allerdings zierlich geschnitzt, eine Jagdszene darstellend.
»Nein, Sir, Sie sitzen hier, es ist das eigene Besteck des Masters, ich muß es ihm selbst aufheben und putzen, und ich putze es jeden Tag,« lautete wiederum die Erklärung. »Leider,« wurde traurig hinzugesetzt, »leider ganz umsonst, der Master kommt ja gar nicht mehr.«
Und so war es bei allem und jedem. Immer und immer der Master, also Nobody, und der Fremde war eben sein Stellvertreter.
Nach dem Essen zog sich Scott mit seinem Diener in die Kabine zurück, und es verging eine halbe Stunde, ehe ersterer wieder zum Vorschein kam. Er begab sich an Deck. Der Dampfer befand sich in voller Fahrt nach Süden, die Matrosen scheuerten das Deck.
Wiederum erfolgte solch ein Beweis ungewöhnlicher Hochachtung.
Als Scott auf die Kommandobrücke zuging, auf welcher der Kapitän stand, mußte er eine sehr nasse Stelle passieren.
Sofort sprang ein Matrose hin und trocknete schnell vor seinen Füßen auf.
»Ist der Herr Kapitän zu sprechen?«
»Der Kapitän ist für Sie überhaupt immer zu sprechen,« lautete die Antwort.
Scott ging bis zu der nach der Brücke hinaufführenden Treppe.
»Darf ich die Kommandobrücke einmal betreten?« rief er hinauf.
»Selbstverständlich. Ich bin überhaupt nur noch der nautische Lenker dieses Schiffes, der sonst aber Ihre Befehle auszuführen hat,« entgegnete Flederwisch so laut, daß es alle all Deck Befindlichen hören konnten.
Es mußte doch etwas ganz Besonderes auf dem Zettelchen gestanden haben.
Leichtfüßig sprang der junge Kanadier hinauf, während sein Gesicht im Gegensatz zu diesem leichten, elastischen Fuße höchst sorgenvoll aussah.
»Ich bitte um Entschuldigung, Herr Kapitän.«
»Inwiefern? Sie haben überhaupt nicht zu bitten, sondern über mich und über dieses Schiff zu befehlen,« lächelte Flederwisch, jenem die Hand entgegenstreckend, hatte er ihn doch auch noch gar nicht förmlich begrüßt.
»Doch, ich muß um Entschuldigung bitten. Sie steuern nach Süden. Das ist auch meine Schuld. Ich möchte Genua anlaufen.«
Ein erstaunter Blick traf den Sprecher, Flederwisch zog auch gleich seine Hand wieder zurück.
»Sie sagten doch, das Ziel wäre der Suezkanal!«
»Allerdings sagte ich das. Ich bitte eben deswegen um Entschuldigung.«
»Herr, wissen Sie denn nicht, daß Genua gerade in der entgegengesetzten Richtung liegt?!«
»Wohl weiß ich das, aber mein Plan hat sich unterdessen geändert.«
»Ihr Plan? Unterdessen hat er sich geändert? Was für ein Plan?«
»Ich handle im Auftrage eines ...«
Scott brach ab, um von neuem anzufangen.
»Ich bitte Sie, den Kurs nach Genua zu nehmen. Es ist unser nächstes Ziel!«
Noch ein erstaunter, wenn nicht mißtrauischer Blick, dann zuckte Flederwisch die Achseln und drehte den Signalapparat.
»Schön, also nach Genua. Hoffentlich ändert sich Ihr Plan nicht wieder.«
Der Dampfer wendete, nahm direkt entgegengesetzten Kurs.
Scott promenierte an Deck auf und ab, beobachtete durch das Oberlicht die gewaltigen Maschinen, wie sie arbeiteten, besichtigte in der Kajüte die auserlesene Bibliothek und beschäftigte sich in anderer Weise.
Unbedingt mußte er merken, daß im ganzen Schiffe ein Umschwung gegen ihn eingetreten war. Keine Aufmerksamkeit mehr, nur noch prompte Bedienung. Kurz meldete ihm die Ordonnanz, daß der Kaffee serviert sei, ohne wie zuvor den Kapitän zu entschuldigen, stumm bediente der Steward.
Bald erfuhr Scott, falls er es noch nicht wußte, den Grund zu diesem veränderten Benehmen. Ungesehen hörte er nämlich das Gespräch zweier Matrosen mit an.
»Na so was, läßt uns der erst zwei Stunden nach Süden dampfen. Ist er denn noch einmal an Land gewesen, nachdem er gesagt hatte, es ginge nach dem Suezkanal?«
»I wo, er hat es im ersten Augenblick gesagt, ich habe es selbst gehört, und zehn Minuten später lichteten wir ja die Anker.«
»Da hat er also hier an Bord das Reiseziel geändert? Na so was!«
»Der weiß wohl selber nicht, was er will.«
»Ja, da scheint Nobody einmal den Unrechten zu seinem Stellvertreter gewählt zu haben. Läßt der uns erst zwei Stunden nach Süden dampfen!«
»Na, noch einmal darf das bei unserm Kapitän nicht passieren! So läßt er sich nicht an der Nase herumspielen!«
Was Scott zu diesem erlauschten Gespräche dachte, wissen wir nicht.
Erst am Abend sah er den Kapitän wieder, der mit ihm zusammen in der Kajüte das Abendessen einnahm. Bei diesem merkte er nichts mehr davon, daß etwas geschehen war, Flederwisch war von vollendeter Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, und wenn er später kühl und reserviert wurde, so war dies wiederum Scotts Schuld, denn dieser kam ihm so entgegen, wobei allerdings zu bedenken ist, daß der junge Kanadier überhaupt einsilbig war, und dann hatte er auch noch besonderen Grund, so zurückhaltend zu sein.
»Wo haben Sie eigentlich meinen Freund kennen gelernt?« begann Flederwisch das Gespräch.
»In New-York!« war die einsilbige Antwort.
»Sind Sie schon lange mit ihm bekannt?«
»Nein.«
»Wo befindet sich Nobody denn jetzt?«
»In Aegypten.«
Bei solchen Antworten ist es begreiflich, daß Flederwisch sehr schnell das Fragen aufgab. Schweigend vertiefte er sich in seine Teller.
Nach dem Abendessen begab sich Scott sofort in seine Kabine.
Es war etwas nach Mitternacht, als er an Deck erschien.
»Ich höre unten, daß sich der Kapitän an Deck befindet,« wandte er sich an einen wachehabenden Matrosen.
»Der Kapitän ist immer in der Nacht auf der Brücke, er schläft auf dem Sofa im Kartenhaus.«
Ohne weiteres begab sich Scott hinauf. Oben stand ein Matrose am Ruder - d. h. am Steuerrad - Scott warf einen Blick auf den Kompaß, er zeigte nach Nordwesten.
In dem erleuchteten Kartenhaus, in dem die Seekarten und die nautischen Instrumente aufbewahrt werden, lag auf dem Sofa Flederwisch, vollständig angekleidet, an den Füßen die hohen Seestiefel, und schlummerte friedlich.
»Herr Kapitän!«
Eine Berührung war gar nicht nötig; im Nu saß Flederwisch aufrecht.
»Was gibt es? Ah, Sie sind es! Sie wünschen?«
»Ich muß Sie bitten, immer noch einmal den Kurs zu ändern.«
Zunächst begnügte sich Flederwisch nur damit, die Augen weit aufzureißen.
»Immer noch einmal? Wohin denn nun wieder?«
»Doch wieder südlich, doch nach dem Suezkanal.«
Jetzt stand Flederwisch langsam auf, musterte jenen von oben bis unten.
»Nach Suez?«
»Ich kann vorläufig nur sagen: nach dem Suezkanal.«
»Herr, Sie sind wohl ... was wollen Sie denn im Suezkanal?«
»Ich weiß es noch nicht.«
»Wollen Sie sich in die Kajüte begeben, ich komme gleich nach.«
»Ich kann Ihnen auch gleich hier eine Erklärung ...«
»Verlassen Sie die Kommandobrücke!« sagte Flederwisch in schärfstem Tone. »Begeben Sie sich in die Kajüte, warten Sie dort auf mich!«
Ganz gelassen wandte sich der junge Kanadier um, verließ die Kommandobrücke und begab sich in die Kajüte, und auch hier zeigte er nicht die geringste Spur von Aufregung über die ihm zuteil gewordene Behandlung; er griff sofort nach einem Buche und begann zu lesen.
Er brauchte nicht lange zu warten, da kam der Kapitän, jenen mit Zahlen bedeckten Zettel in der Hand, darunter der Abdruck eines Daumens.
»Ich weiß noch gar nicht, wer Sie eigentlich sind,« eröffnete Flederwisch die Auseinandersetzung.
Gleichmütig stellte Scott das Buch in die Bibliothek zurück.
»Edward Scott aus Quebek.«
»Das sagt mir noch gar nichts!«
»Mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen. Doch ich will Ihnen eine Erklärung ...«
»Keine Erklärung will ich haben, sondern anderes!« fiel ihm Flederwisch ins Wort. »Hat Ihnen der betreffende, der Ihnen dieses Geheimschreiben gab, nicht gesagt, daß Sie neben diesen Daumenabdruck hier den Ihrigen setzen sollen?«
»Dieses ist auch der meinige, und Mister Nobody sagte mir, daß Sie mir einen zweiten Daumenabdruck als Legitimation abfordern würden.«
Flederwisch stutzte etwas. Der Mann hatte recht. Das hätte er gleich fordern sollen. Doch deshalb war er ja eben hergekommen, um das nachzuholen.
Auch er zog aus seiner Tasche ein Stempelkissen.
»Bitte, wollen Sie Ihren rechten Daumen mit Farbe einreiben und hier daneben abdrücken?«
»Und wenn ich es nicht tue?« fragte Scott ganz gleichmütig.
Ein drohender Blick traf ihn.
»Dann muß ich annehmen, daß Sie ein ... Betrüger sind - jawohl, ein Betrüger, dem durch irgendeinen Zufall diese geheime Vollmacht in die Hände geraten ist, der sie zu enträtseln versteht, und der sie mißbrauchen will.«
»Wieso mißbrauchen?«
»Was weiß ich? Mir auch ganz egal, ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Wollen Sie also oder wollen Sie nicht ... freiwillig?«
»Und wenn nun mein Damnenabdruck mit dem übereinstimmt?«
»Dann sind Sie als der echte Besitzer dieser Vollmacht legitimiert.«
»Das gibt Ihnen aber doch noch keine Erklärung für mein Verhalten.«
»Mir ganz egal!« wiederholte Flederwisch. »Dann sind Sie legitimiert, dann hat Nobody Sie eben als seinen Stellvertreter zu mir geschickt, Sie haben zu befehlen, und ich gehorche Ihnen einfach.«
»Ja, aber ...«
»Kein aber. Hier drücken Sie Ihren Daumen ab!«
»So geben Sie her!«
Scott färbte seinen rechten Daumen ein und drückte ihn neben dem anderen ab. Flederwisch nahm den Zettel an sich, verglich die beiden Abdrücke prüfend und machte ein etwas verlegenes Gesicht, als er den Kanadier anblickte.
»Verzeihung - an Bord ist jemand, der so etwas noch besser unterscheiden kann als ich, ich komme sofort zurück.«
Er kam denn auch gleich wieder. Sein Verhalten war nicht gerade ein viel anderes, nur seine Worte waren merkwürdig.
»Ja, diese Vollmacht ist für Sie ausgestellt. Unter Millionen Fingerabdrücken gleicht keiner einen zweiten, so behauptete Nobody, und was Nobody sagt, ist endgültig richtig. Nun also, mein Herr, haben Sie einfach zu befehlen. Soll ich nochmals die Richtung wechseln? Wieder nach Süden? Dann eine Stunde später wieder nach Norden? Nach Westen, nach Osten? Befehlen Sie; ich soll mich ein Jahr lang hier im Kreise herumdrehen, ich gehorche, ohne eine Frage zu stellen. Nobody hat noch immer gewußt, was er tut, und wir haben ihn anfangs oft genug für einen Narren gehalten, der nicht weiß, was er will, und schließlich hat er doch immer recht behalten, und wir konnten nur das Maul aufsperren. Und Sie sind von Nobody als sein Stellvertreter geschickt worden, und Nobody weiß auch immer ganz genau, wen er zu so etwas wählt, der irrt sich in keinem Menschen, und wenn Sie jetzt befehlen, ich soll das Schiff anbohren und versenken - wird ausgeführt!«
Scott konnte nur staunen. Es war ein ehrfürchtiges Staunen. Was für eine Anbetung genoß jener Mann hier von diesen Leuten! Gab es denn solch ein Verhältnis sonst noch wo in der Welt? Nein. Dieses Schiff hier war ja auch eine kleine Welt für sich.
»So lassen Sie mich Ihnen jetzt eine Erklärung ...«
»Keine Erklärung!« unterbrach Flederwisch ihn abermals mit abwehrender Handbewegung. »Sie sind Nobodys Stellvertreter, Sie sprechen mit seinem Munde, Sie befehlen, wir gehorchen, und damit basta!«
»Ich möchte Ihnen freiwillig eine Erklärung geben, ich bitte Sie darum, sie anzuhören. Es liegt mir daran, die Freundschaft des Freundes meines Freundes zu gewinnen.«
»Das ist etwas anderes. Aber nötig haben Sie eine Erklärung jetzt nicht mehr. Uebrigens haben Sie da sehr schön gesprochen. Ich kann mir gar nicht drei Freunde vorstellen, von denen aber der eine den dritten gar nicht kennt.«
Flederwisch setzte sich; Scott ging erst noch einmal nach dem Ausgang und schloß die Schiebetür.
»Es kann uns hier doch niemand hören?«
»Niemand.«
»Ich offenbare es nur Ihnen, sonst weiß außer meinem Diener nur noch Nobody darum.«
»Dann will ich also, wenn Sie es verlangen, der Dritte im Bunde sein.«
»Nun denn: ich bin somnambul veranlagt.«
»Som-nam-bul?« wiederholte Flederwisch, und sein sonst so geistreiches Gesicht wurde dabei recht dämlich.
Dann lachte er herzlich.
»Ach so! Ich dachte im Augenblick, Sie wollten damit sagen. Sie wären so ein Medium, das in die Ferne und in die Zukunft schauen kann. Ich habe nämlich einmal solch ein Medium gesehen, ein hysterisches Frauenzimmer, das mit sämtlichen Gliedmaßen am Tatterich litt, besonders auf dem spindeldürren Halse wackelte der ausgemergelte Kopf in beängstigender Weise hin und her, und die ganze Geschichte war auch nichts weiter als handgreiflicher Schwindel. Ja, aber was meinen nun Sie mit Ihrem ›somnambul‹? Habe noch gar nicht gewußt, daß dieses Wort noch eine ganz andere Bedeutung hat.«
»Das wird wohl auch nicht der Fall sein. Und ich meine ganz dasselbe damit. Auch ich bin solch ein Medium, welches zeitweilig in die Ferne und sogar in die Zukunft schauen kann.«
Wieder machte Flederwisch ein unbeschreibliches Gesicht, und vielleicht noch unbeschreiblicher war der Blick, mit dem er von der Seite den jungen, hünenhaften Kanadier betrachtete.
»Ach - ach - ach nöööö!!« brachte er nur hervor.
Der lebenslustige Kapitän hatte sich noch niemals um solche übersinnliche Sachen gekümmert. Flederwisch gehörte zu jenen glücklichen Menschen die an nichts glauben, was sie nicht mit Händen fassen können - denn wirklich, solche Menschen sind glücklich zu nennen in ihrer Beschränkung - eben nur einmal hatte er solch ein schwindelhaftes Frauenzimmer kennen gelernt, wie er es beschrieben, ein hysterisches Frauenzimmer - - und nun hier dieser hünenhafte, von Gesundheit strotzende junge Mann - sein Unglaube war berechtigt.
»Mister Nobody hat genug Beweise bekommen, daß ich wirklich somnambule Eigenschaften besitze,« sagte Scott.
Da mit einent Male änderte sich die ganze Sache, Flederwisch beugte sich vor.
»Nobody glaubt daran, daß Sie in die Ferne und in die Zukunft blicken können?« erklang es überrascht.
»Gewiß. Wie gesagt, auch er ist davon überzeugt worden.«
»Jaaaa, dann ist es etwas anderes!« meinte Flederwisch langgedehnt. »Das hätten Sie gleich sagen sollen. Wenn Nobody daran glaubt, davon überzeugt ist, dann ist überhaupt gar nichts mehr dagegen zu machen, dann glaube ich auch daran. Uebrigens hätte ich gleich Ihren Worten Glauben schenken sollen; denn Nobody schreibt nur ja, ich solle Ihnen unbedingt vertrauen. Also Sie sind sozusagen ein Prophet? Famos!«
Scott mochte innerlich lächeln. Dieser Seemann hier zerbrach sich über nichts weiter den Kopf, stellte gar keine weiteren Fragen. Nobody glaubte, dann brachte auch er bedingungslosen Glauben entgegen, und damit basta! Nobody war hier eben unfehlbar.
Nun hatte aber Scott auch ein sehr leichtes Spiel, brauchte sich nicht erst bei einer langen Vorrede und bei weiteren Erklärungen aufzuhalten.
»Nobody - oder ich kann auch von mir sprechen - wir sind einem Verbrechen auf der Spur, einem Geheimnis, einem Rätsel. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich mich nicht näher darüber auslasse. Nobody hat mir keine Ermächtigung dazu gegeben, ich weiß nicht, ob ich es darf ...«
»Sicher nicht, ich will es gar nicht wissen,« wehrte Flederwisch ab.
»Die Spur führte nach Aegypten, dort befindet sich Nobody gegenwärtig. Ich selbst wurde beeinflußt - anders kann ich mich jetzt nicht ausdrücken - mich nach Smyrna zu begeben, wo ich Sie mit der ›Wetterhexe‹ liegen wußte.«
»Woher wußten Sie das?«
»Das ist eben meine ...«
»Ach so, ich verstehe schon. Ja, ja, wenn man hellsehend ist?« meinte Flederwisch, die Daumen der gefalteten Hände um sich drehen lassend. Aus dem Saulus war mit einem Male der gläubigste Paulus geworden.
»Nun befindet sich in der Welt ein Mann, eine Person,« fuhr Scott fort, »welche uns auf der einmal vorhandenen Spur noch viel weiter führen kann, und welche gerade jetzt und auch schon seit längerer Zeit lebhaft, mit aller Kraft der Sinne, an Nobody denkt, ihn wegen irgendeiner Sache aufsuchen und sprechen will.«
»Was für ein Mann ist das?«
»Ja, Herr Kapitän, das ist es eben! Ich bin nicht so viel Hellseher und Prophet, wie Sie wohl glauben. Ich empfinde nur fremde Einflüsse. Es sind Ahnungen. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Es ist irgendein menschliches Wesen, das sich seit einiger Zeit in allen seinen Gedanken mit Nobody beschäftigt, ihn aufsuchen will, um ihm etwas Wichtiges mitzuteilen. Und dieses menschliche Wesen befindet sich zur Zeit südlich von mir. Vom Süden her kommt der mir selbst unbegreifliche Einfluß.«
»O ja, Herr, auch ich glaube an solche beeinflussende Ahnungen,« stimmte Flederwisch bei, der jetzt also mit einem Male ganz anders dachte. »Sehen Sie, erst heute morgen habe ich so einen Beweis bekommen, daß es doch so etwas in der Welt gibt, von dem sich unsere Schulweisheit nichts träumen läßt. Sehen Sie, als ich heute früh aufwachte, hatte ich gleich das unbestimmte Gefühl: dir muß heute noch etwas schief gehen, und zwar bald, noch vor dem Kaffeetrinken. Und was meinen Sie, was nur passiert ist? Ich stehe auf, will gleich einmal aus der Kabine, bin noch barfuß, und ... wie ich aus der Tür komme, ist es mein erstes, daß ich mit dem nackten Fuße gerade in das Andenken trete, was mir da mein Cäsar, das Hundevieh, gerade vor meine Tür gesetzt hat. Na, was sagen Sie nun dazu? Sehen Sie, ich hatte schon so etwas geahnt. Das heißt,« setzte Flederwisch, der Prophet, bescheiden hinzu, »ich will damit nicht etwa sagen, daß ich somnambul veranlagt bin oder sonstwie in dieser Beziehung mich mit Ihnen vergleichen kann.«
»Wie gesagt,« fuhr Scott nach dieser Einschaltung fort, »die sich südlich von mir befindende Person will sich zu Nobody begeben. Nobody dürfte aber längere Zeit von London abwesend sein. So gab ich zuerst die Richtung nach dem Suezkanal an. Denn diesen passiert er auf seiner Reise, das weiß ich ganz bestimmt. Ebenso bestimmt weiß ich, daß ich mit der Person zusammentreffen werde. Wo und auf welche Weise, das ist mir freilich selbst noch unbekannt. Aber entgehen kann sie mir nicht. Irgendein Ziel mußte ich doch angeben, so nannte ich also den Suezkanal. Nun aber habe ich manchmal besonders hellsehende Augenblicke, und in einem solchen erfuhr ich, daß sich die Person auf einem Dampfer befindet, welcher bereits unterwegs nach Genua ist. Also hin nach Genua. Verstehen Sie, Herr Kapitän, wie unschlüssig ich sein muß, obgleich ich doch sonst meiner Sache todsicher bin?«
»Ich verstehe, verstehe vollkommen,« versicherte Flederwisch, obgleich er im Grunde genommen gar nichts verstand.
Aber Nobody, der Unfehlbare, glaubte ja an solch eine Hellseherei, und damit war auch für Flederwisch kein Zweifel mehr vorhanden.
»Am stärksten,« fuhr Scott fort, »kommt es über mich in der Nacht zwischen zwölf und eins - in der sogenannten Geisterstunde. Zufall oder nicht, es ist so. Da werde ich auch oft ohne Absicht hellsehend. So auch wieder vorhin. Und da sagte mir jenes geheimnisvolle Etwas, das für mich selbst ein Rätsel Detektiv ist, daß jener Dampfer, auf dem sich die Person befindet, Genua nicht erreichen würde, oder aber, ich würde der Person dort nicht begegnen. Südlich vom Suezkanal, im Roten Meere habe das Schicksal unsere Zusammenkunft bestimmt. Und so bin ich denn abermals zu Ihnen gegangen, um Sie zu bitten, nochmals den Kurs zu ändern. Jetzt weiß ich aber auch bestimmt, daß ich jene mir noch unbekannte Person im Roten Meere treffen werde, ganz unfehlbar.«
Flederwisch hatte sich erhoben.
»Sie haben überhaupt nicht zu bitten, sondern nur zu befehlen,« sagte er fast dieselben Worte, die vor kurzer Zeit Nobody zu seinem Freunde gesprochen hatte. »Also zurück nach Süden, und wenn Sie wollen, wird immer noch einmal gewendet, und immer wieder!«


Aber der Kurs sollte nicht wieder geändert werden, wenigstens nicht in den nächsten drei Tagen. Die ›Wetterhexe‹ passierte den Suezkanal und steuerte in das Rote Meer hinein. Wohin? Scott gab kein bestimmtes Ziel an, er wußte es wohl selbst noch nicht.
Doch ließ er sich hierüber dem Kapitän gegenüber gar nicht aus, wie er auch sonst der melancholische, schweigsame Mensch blieb, der sich am liebsten immer in seiner Kabine aufhielt und nur an Deck promenierte, wenn dieses am leersten war. Flederwisch hatte gewiß nichts verraten, und doch wurde der fremde und so geheimnisvoll auftretende Passagier von der Mannschaft bereits nur noch ›der Geisterseher‹ genannt.
Diese seine somnambule Eigenschaft war auch das einzige, worüber Scott den Kapitän eingeweiht hatte. Er erzählte nichts von jenem rätselhaften Fremden, noch weniger von dem, was man bereits alles entdeckt hatte, die präparierten Leichen usw., am allerwenigsten über die Tarnkleider.
Wollen wir hierbei gleich erledigen, was Nobody diesbezüglich schon getan und angeordnet hatte - etwas, was er nur seinem Tagebuch anvertraut hat.
Eine Untersuchung jener kleinen Batterie hatte nichts ergeben. Nobody durfte sich gar nicht an Koryphäen der Wissenschaft wenden, wollte er sich nicht lächerlich machen, das hatte ihm direkt sein eigener Elektrotechniker geraten. Denn das war einfach mit Wasser angefeuchteter Asbest, und niemand würde ihm glauben, daß dies ein Elektrizitätserzeuger sein könne.
Den selbstleuchtenden Ring hatte Nobody zur näheren Untersuchung dem Professor Cookes übergeben, in dessen Händen er sich zur Zeit noch befand. Der Engländer Cookes war damals der anerkannt erste Physiker der Welt, und er hatte Nobody sofort gesagt, daß es sich hier offenbar um ein bisher noch unbekanntes Element mit eigener Leuchtkraft handele, dessen Ergründung er jetzt seine ganze Zeit widmen wolle.
Professor Cookes sollte nicht mehr viel Zeit hierzu haben. Der alte Herr starb bald darauf, wohl ohne etwas Schriftliches über seine Untersuchungen hinterlassen zu haben. Nobody erhielt den Ring zurück, dieser mußte ihm zu anderen Zwecken als zu wissenschaftlichen Untersuchungen dienen, was in unseren Erzählungen ein nicht unwesentliches Kapitel bilden wird, bis ihm zuletzt der Ring auf eine geheimnisvolle Weise abhanden kam.
Wäre dies alles nicht geschehen, so wäre die Menschheit durch die Entdeckung einer selbstleuchtenden Substanz, die nun also Radium genannt worden ist, schon viel eher in Erstaunen gesetzt worden.
Was nun das unsichtbar machende Gewebe anbetrifft, so hatte Nobody seinem Freunde und dessen ebenfalls eingeweihtem Diener einfach das Ehrenwort abgenommen, hierüber zu keinem Menschen ein Wort zu sprechen. Also durfte er es doch selbst nicht tun, also übergab er das Gewebe auch keinem Gelehrten zur näheren Untersuchung.
Man bedenke doch nur: es sollte gelingen, den Ursprung dieser Substanz zu ergründen, sie herzustellen, fabrikationsweise - Himmel, was sollte denn daraus werden, wenn sich jeder Mensch unsichtbar machen könnte?! Da bräche ja für jeden Spitzbuben eine goldene Aera an, da wäre der hinterlistigsten Spionage ja Tor und Tür geöffnet, und nun denke man an einen Krieg, wenn sich unsichtbare Regimenter Schlachten liefern ... da käme ja die ganze Welt außer Rand und Band!!
Nein! Nobody hielt es nicht nur für das Beste, sondern geradezu für seine heilige Pflicht, diese von einem anderen gemachte Erfindung geheimzuhalten, sie vor einer Untersuchung zu schützen, die Lösung des Rätsels zu verhüten, auf daß diese Erfindung nicht zum Allgemeingut der Menschheit würde.
Uebrigens hatten Nobody und Scott eine ganz vernünftige Erklärung für dieses Phänomen gefunden, wie man solch eine unsichtbare Substanz herstellen könne - - freilich nur eine Hypothese, nur eine Annahme.
Gerade damals nämlich begannen sich alle Physiker damit zu beschäftigen, die einzelnen Gase daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie sich verdichten lassen. Man kam da zu ganz merkwürdigen Resultaten. Bisher war ein Gas eben ein Gas gewesen. Es gab für jedes Gas nur einen sogenannten Aggregatzustand: eben den gasförmigen. Und nun mit einem Male zeigte sich, daß man fast jedes Gas durch Druck und Kälte auch in einen zweiten Aggregatzustand überführen kann, in den flüssigen. Ja, die Kohlensäure konnte man sogar zu Eis erstarren lassen, das dann selbst eine ungeheure Kälte ausstrahlt!
Nun nehme man folgende Hypothese an: Wir kennen vom Wasser seit alters her drei Aggregatzustande: den gasförmigen (Dampf), den flüssigen (Wasser) und den festen (Eis). Könnte es nun nicht noch einen vierten Aggregatzustand geben? Sollte sich das Wasser unter einem kolossalen Drucke und bei einer furchtbaren Kälte nicht vielleicht in noch etwas anderes überführen lassen als nur in jenes Eis, wie wir es bisher gekannt haben, und wie es überall in der Natur vorkommt?
Nun hat jeder Aggregatzustand ein anderes Brechungsvermögen des Lichtes. Wasserdampf bricht den Lichtstrahl ganz anders als gewöhnliches Wasser, dieses wieder ganz anders als durchsichtiges Eis. Und könnte man nun nicht von jenem vierten Aggregatzustande des Wassers solch ein Brechungsvermögen erwarten, daß, wenn das ›Tarneis‹, wie wir es einmal nennen wollen, einen Gegenstand umhüllt, dieser für das menschliche Auge scheinbar verschwindet?
Wird also ein Seidengewebe mit solchem Tarneis imprägniert, läßt man das Gewebe unter kolossalem Drucke und furchtbarer Kälte in Wasser einfrieren, so wird es unsichtbar, und alles, was mit diesem Gewebe eingehüllt wird, wird wiederum unsichtbar. Nun ist das aber eben kein gewöhnliches Eis, ist überhaupt etwas vollständig anderes als Eis, ist gar nicht mehr kalt, schmilzt auch nie wieder, ist wohl schmiegsam, aber nicht eigentlich fest, nicht starr, läßt sich aber auch nicht zerreißen, nur mit der Schere schneiden ...
Dies alles ist zwar nur eine Hypothese, schon mehr Phantasie, aber entbehrt sie etwa der Logik? Sicher nicht! Solch eine Substanz, die alles, was sie einhüllt, unsichtbar macht, kann - ja, wird schon noch einmal erfunden werden!!
Und dann? Ist dann nicht jener gefährliche Zeitpunkt eingetreten, da sich jeder Spitzbube unsichtbar machen, da jeder Bösewicht ungesehen seinen Verbrechen nachgehen kann?
O nein! Der liebe Gott sorgt stets dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Sobald so etwas erfunden würde, so daß es sich jedermann verschaffen könnte, dann würde es nicht lange dauern und auch eine andere Kappe oder eine Brille wäre entdeckt, durch die man den unsichtbaren Geist sehen kann, ebenso wie, als jenes Präparat entdeckt wurde, durch welches man jede Stahlplatte durchschmelzen kann, ein wahrhafter Schmelzofen in der Westentasche, alsbald auch ein anderes Präparat da war, mit dem man die Geldschränke füttert, auf daß es die Einbrecher nicht etwa so leicht haben, jeden Panzerschrank auf diese Weise zu öffnen.
Was für einen Zweck also hat dieser ›Schmelzofen in der Westentasche‹? Absolut keinen, wenigstens nicht für die gesamte Menschheit. Und ebensowenig würde die allgemeine Einführung von unsichtbar machenden Tarnkappen von Nutzen sein. Wer freilich allein um das Geheimnis weiß, in dessen Hand mußte solch eine Tarnkappe ein furchtbares Werkzeug werden, und hier handelte es sich doch offenbar um die Erfindung eines Menschengeistes, der seiner Mitwelt um Jahrhunderte voraus war, und in Anbetracht alles dessen also hielt es Nobody geradezu für seine Pflicht, diesen seinen Besitz als strengstes Geheimnis zu bewahren.
Hiermit sei diese Angelegenheit erledigt.


Es war am Morgen des vierten Tages, und die mit 16 Knoten fahrende ›Wetterhexe‹ hatte Suez schon gar weit hinter sich.
Das Rote Meer ist ein gar gefährliches Gewässer, weniger wegen der darauf vorkommenden Stürme, die schließlich überall zu erwarten sind, als vielmehr wegen seiner zahllosen Untiefen und Sandbänke. Deswegen nimmt während der Fahrt durch das Rote Meer jedes Schiff einen arabischen Lotsen an Bord, der hier zu Hause ist. Die ›Wetterhexe‹ hatte keinen besonderen zu nehmen brauchen, Flederwisch hatte unter seiner Mannschaft einen arabischen Matrosen, der hier an der Küste geboren war.
Um nun den gefährlichsten Stellen auszuweichen, ging es immer von der ägyptischen Küste hinüber nach der arabischen und so weiter im Zickzack, aber das war kein auf der Seekarte vorgezeichneter Weg, den auch alle anderen Schiffe einhalten, sondern da hat eben jeder Lotse seine eigenen Kurse, die er steuert.
Schon seit einigen Stunden fuhr die ›Wetterhexe‹ ziemlich dicht an der arabischen Küste entlang, als ihr ein großer Dampfer entgegenkam, der im Gegensatz zu anderen Fahrzeugen, welche man im Westen sah, ebenfalls dieses Fahrwasser für das beste hielt.
Während der Fahrt auf offenem Meere hat niemals ein Schiff irgendeine Flagge gehißt. Aber sobald sich zwei Schiffe in Sicht bekommen oder auf belebterem Wasser sich näher begegnen, begrüßen sie sich durch Hissen und mehrmaliges Senken der am Heck geführten Nationalflagge und nennen außerdem durch Flaggensignale ihren Namen, Heimatshafen und ihr Ziel. Es ist dies nicht gerade vorgeschrieben, aber das gehört nun einmal zur ›Routine‹, wie man an Bord die Höflichkeit nennt, und dann weiß ja kein Kapitän, ob dies nicht das letztemal gewesen ist, da sein Schiff über der Meeresoberfläche gesehen worden ist.
So ließ auch Kapitän Flederwisch seine Flaggen hissen und beobachtete die anderen, die ihm jener Dampfer zeigte, das gesamte Signal dann in dem Buche nachschlagend, welches jedes Schiff in der Welt namentlich unter diesem Signal aufführt.
Hinten am Heck standen Scott und Bruno. Auch sie beobachteten, wie drüben auf dem anderen Dampfer die bunten Läppchen hochgingen. Daß es ein englischer Dampfer war, erkannten sie natürlich aus der Heckflagge. Aber das Signal konnten sie nicht so ohne weiteres enträtseln, und der Dampfer war so weit entfernt, daß der am Heck stehende Name nicht einmal durch ein Fernrohr zu lesen war.
Schon seit einiger Zeit zeigte sich der junge Kanadier sehr unruhig, was allerdings nur für den Diener bemerkbar war, der seinen Herrn doch zur Genüge kannte.
»Das ist er, das ist der Dampfer, den ich aufsuchen wollte, dessentwegen ich mich ins Rote Meer begab!« stieß Scott plötzlich hervor.
»Nun, und der betreffende Mann?« fragte Bruno.
»Der ist nicht mehr darauf. Heute früh, vielleicht gegen vier Uhr war es, als ich ganz deutlich fühlte, wie wieder irgendein Wendepunkt eintrat. Kein Zweifel, der betreffende Mann hat diesen Dampfer heute früh um vier Uhr aus irgendeinem Grunde verlassen.«
Bruno fragte nichts weiter. Der kannte ja seinen Herrn besser als alle anderen. Bei ihm war schon im voraus alles Tatsache, auch das Wunderbarste.
Scott ging nach vorn, nach der Kommandobrücke.
»Bitte, Herr Kapitän, was für ein Dampfer ist das?«
»Die ›Helvetia‹ von Liverpool,« entgegnets Flederwisch.
»Und was meldet er sonst?«
»Kommt von Bombay, hat zuletzt Aden angelaufen, nach Durchquerung des Suezkanals ist sein nächstes Ziel Genua.«
Scott begab sich zu seinem Diener zurück und teilte ihm das Erfahrene mit.
»Kein Zweifel, das ist der Dampfer, auf dem sich jene Person befunden hat, aber sie hat ihn schon wieder verlassen.«
»Und wo befindet er sich jetzt? Können Sie es nicht sehen?«
»Noch weiß ich es nicht, es mag noch nicht die rechte Zeit dazu sein,« murmelte Scott, während er mit gerunzelter Stirn in das Meer hinabblickte.
Dann warf er den Kopf zurück.
»Ich werde einmal in die Kabine gehen und alle meine Kraft auf diese Frage konzentrieren, ich fühle mich gerade jetzt recht aufgelegt dazu.«
Er ging unter Deck. Nach kaum fünf Minuten kam er wieder zum Vorschein und begab sich abermals nach der Kommandobrücke, bestieg sie.
»Herr Kapitän, wo befinden wir uns jetzt genau?«
»Ich werde sofort eine Sonnenaufnahme machen lassen.«
Bald war dies geschehen.
»26 Grad 43 Minuten 9 Sekunden nördliche Breite, 37 Grad 2 Minuten 11 Sekunden westliche Länge,« meldete der Steuermann.
»Vortrefflich!« rief Scott. »Dann brauchen wir wenigstens nicht wieder direkt umzukehren. Herr Kapitän, jetzt weiß ich unser bestimmtes Ziel: 26 Grad 38 Minuten 14 Sekunden, es liegt also noch auf demselben Breitengrade, nur ein wenig südlicher, aber auf dem 35. Längengrade, und ganz genau noch: 25 Minuten und 32 Sekunden.«
Scott hatte diese geographische Ortsbestimmung auch schon auf ein Stück Papier geschrieben, er gab es dem Kapitän.
»Das wäre drüben auf der Seite von Aegypten,« sagte dieser, nur einen flüchtigen Blick auf die Seekarte werfend.
»Bitte, steuern Sie hinüber!«
»Sofort,« entgegnete Flederwisch und ließ augenblicklich das Steuerrad drehen; schäumend beschrieb der Torpedodampfer einen engen Halbkreis, fuhr jetzt direkt nach Westen.
Es war dies das erstemal, daß Scott, wenn er auch mit einem ›Bitte‹ begonnen, direkt, befohlen hatte, ebenso einfach, ohne jede Frage, hatte Flederwisch gehorcht, und wir selbst wollen von jetzt ab, wenn Scott seinen somnambulen Eingaben folgt, keine Einleitungen mehr vorausschicken, etwa wie er sich vorher mit seinem Diener beriet, wie er vor sich hingrübelte, sich erst in die Einsamkeit zurückzog und dergleichen, sondern wir lassen ihn fernerhin stets als Befehlshaber auftreten, der schon im voraus weiß, wie die Zukunft die Würfel fallen lassen wird. Und so war es auch in der Tat - von jetzt an gab sich der junge Kanadier niemals mehr erst einem grübelnden Zögern hin, ob man ihm auch Glauben schenken würde oder nicht.
Fragen sind allerdings erlaubt. Doch war es Scott selbst, welcher das Fragen begann, während er auf der Kommandobrücke blieb.
»Wie weit sind wir von dem angegebenen Punkte entfernt?«
»Vierundsechzig Seemeilen.«
»Wie schnell fährt die ›Wetterhexe‹?«
»Gegenwärtig sechzehn Knoten in der Stunde.«
»Kann die Schnelligkeit noch beschleunigt werden?«
»Bis zu zweiundzwanzig Knoten.«
»Dann Dampf auf, Dampf auf, damit wir in drei Stunden dort sind!« rief Scott, daß es fast befehlerisch klang.
Es geschah, die Kurbeln und Exzenter der gewaltigen Maschinen begannen wie toll zu jagen, und unaufhörlich goß sich das Wasser über Deck - ein Seegang, der nur durch diese rasende Schnelligkeit erzeugt wurde.
Scheu blickten die Matrosen zur Kommandobrücke empor, auf welcher der ihnen noch immer gänzlich fremde Passagier stand, das Fernrohr vor dem Auge.
Was sollte dies alles nur bedeuten? Erst nach dem Suezkanal, dann nach Genua, wieder nach dem Suezkanal - das Ziel also innerhalb eines Tages, eines halben Tages dreimal geändert - und nun plötzlich wie ein Hase einen Haken geschlagen und dem Westen zu geschossen, als ob man das in allen Planken zitternde Schiff direkt in das ägyptische Festland hineinjagen wollte.
Ja, auch Flederwisch hätte sehr gern etwas Näheres erfahren mögen. Nun, gewisse Fragen waren doch erlaubt.
»Dort auf dem bezeichneten Punkte werden Sie den Mann finden, der sich seit einiger Zeit so mit Nobody beschäftigt?«
»Ich weiß nicht, ob es ein Mann ist - es ist eine Person, ein Mensch - ja, dort werde ich ihn finden, jetzt weiß ich es bestimmt.«
Scott behielt immer das nach Westen gerichtete Fernrohr vorm Auge, während Flederwisch die Seekarte studierte.
»Dieser Punkt liegt noch im Meere.«
»Das mag wohl sein.«
»Aber ganz dicht an der Küste, kaum eine halbe Seemeile davon entfernt, und das ist eine gar gefährliche Gegend, mit lauter Kreuzen warnt die Karte vor dieser Gegend, dahin kommt also kein Schiff.«
»Dann liegt oder schwimmt die betreffende Person dort auf diesem Punkte eben im Wasser,« entgegnete Scott gleichmütig.
Was sollte Flederwisch zu solch einer Sicherheit in Behauptungen sagen? Er konnte nur wünschen, daß die drei Stunden schon vergangen seien, wonach sich ja zeigen würde, was Wahres daran sei.
Scott wurde bald von seiner Gleichmütigkeit verlassen, heftig schob er das Fernrohr zusammen und wandte sich gegen Flederwisch.
»Wieviel Knoten machen wir?«
»Einundzwanzig!« las Flederwisch von einem Apparate ab, der ständig die Schnelligkeit des Schiffes anzeigte.
»Ich denke, es können zweiundzwanzig Knoten gemacht werden.«
»Hierfür sind die Maschinen indiziert und garantiert, die Schnelligkeit läßt sich aber auch noch steigern, ich bin schon oft genug mit vierundzwanzig Knoten gefahren, ich dachte nur ...«
»Dampf auf, Dampf auf!!« rief Scott nochmals mit Heftigkeit. »Jene Person befindet sich in einer großen Gefahr!«
»In einer Gefahr? In welcher?«
»Das weiß ich selbst nicht, ich ahne nur, ich fühle, daß ihm eine furchtbare Gefahr droht, und sind wir nicht rechtzeitig zur Stelle, so ist er verloren und damit auch für uns!«
Flederwisch fragte nicht weiter, er erteilte durch den Signalapparat Befehle, alles wurde getan, um die Schnelligkeit noch mehr zu beschleunigen, die Ventile wurden beschwert, so weit dies bis zum äußersten Grade zulässig war, und mit der Geschwindigkeit eines Schnellzuges schoß die lange Riesenzigarre dem Westen zu, mit Leichtigkeit selbst einen Schnelldampfer überholend.
Zwei Stunden währte diese rasende Fahrt, während welcher Scott unausgesetzt durch das Fernrohr nach Westen spähte, ohne daß sich die Küste noch sonst etwas Auffallendes zeigen wollte.
Dann trat ein Hindernis ein, welches diese schnelle Fahrt unmöglich machte, oder dieses Schiff selbst geriet in die größte Gefahr.
Schon seit einiger Zeit zeigte der blaue Wasserspiegel eine fleckige Beschaffenheit. Dunkelblaue Stellen wechselten mit hellblauen ab, die letzteren zeigten Untiefen an, und immer heller wurden diese Stellen und immer mehr nahmen sie zu, schon mußte sich der Dampfer hindurchwinden.
»Dort ist die Küste!« rief der Kanadier, auf ein wie aus einem Nebel aufsteigendes Gebirge deutend.
»Und wir müssen die rasende Jagd einstellen,« ergänzte Flederwisch, »oder wir laufen Gefahr, einmal festzurennen, mein arabischer Lotse hat schon immer gewarnt.«
Er erklärte die drohende Gefahr, es wurde auf halbe Kraft gestellt.
»Wo befinden wir uns?«
Die Berechnung ergab, daß sie sich nur noch vier Seemeilen oder eine geographische von der von Scott bezeichneten Stelle befanden.
So weit das Auge reichte, war kein Dampfer, kein Segel zu bemerken. Hierher wagte sich eben kein größeres Schiff, dieses Wasser gerade hier in der Nähe der Küste war auf jeder Karte genugsam als ›gefährlich‹ markiert. Die flachgehenden arabischen Sambuts allerdings konnten noch über diese Untiefen hinweggleiten, aber wenn sie tieferes Fahrwasser haben, so ziehen sie dieses natürlich vor, und hier an der menschenverlassenen Küste der Libyschen Wüste hat doch kein Fahrzeug etwas zu suchen, und so war also auch kein Sambuk zu sehen.
»Dort vor uns,« meinte Flederwisch besorgt, obgleich Aengstlichkeit doch auch nicht gerade seine schwächste Seite war, »scheint das Wasser verdammt knapp zu werden, mir kommt es sogar vor, als ob dort manchmal der Sand zum Vorschein ...«
»Still!« rief Scott. »Das war ein Schuß!«
Niemand wollte so etwas gehört haben
Der Dampfer stoppte, mußte es tun, denn er befand sich offenbar vor einer Sandbank, wenn diese auch noch unter Wasser war. Die hellblaue Farbe verriet sie.
»Bei Gott, das sind Schüsse!!«
Jetzt konnten sie alle das schwache Geknatter vernehmen, und nun entdeckte auch das Fernrohr in westlicher Ferne auf dem Wasser dunkle Punkte.
»Das sind Fahrzeuge, Boote,« sagte Scott. »Gibt es hier Seeräuber?«
Rhaikal, der arabische Matrose, erklärte, daß er noch nie von Seeräubern gehört habe, die in dieser Gegend hausten. Auf wen sollten denn die auch lauern und Jagd machen? Hierher verirrte sich doch niemals ein Schiff.
Da aber hatte Flederwisch, der ehemalige Schmugglerkapitän, eine ganz andere Ansicht, er traf gleich das Richtige.
»Welches ist hier der nächste Hafen auf ägyptischer Seite?«
»Kosseir.«
»Aha, richtig, und ein ganz bedeutender Hafen. Ist da nicht eine Zollabfertigung? Natürlich ist eine da, und in Aegypten ist genug zollpflichtig, und Schmuggler riskieren alles. Da könnte es schon Piraten geben, welche wiederum auf Schmuggler Jagd machen.«
Diese Erklärung leuchtete allen ein.
»Vorwärts, wir müssen unbedingt mit hin!« rief Scott ungeduldig. »Gerade dort ist die Stelle, wohin wir gerufen werden!«
Dies freilich war für die Zuhörer nun ganz unverständlich, mit Ausnahme von Flederwisch. Er tat sein möglichstes, die Sandbank wurde umfahren, mit halber Kraft ging es weiter der Küste zu, bis eine Sandbarriere dem tief gehenden Dampfer ein für allemal Halt gebot.
Jetzt aber konnte man auch deutlich unterscheiden, was dort vor sich gegangen war und noch vor sich ging.
Es war ein arabischer Sambuk, ein großes, aber offenes Segelfahrzeug, welches tatsächlich von Piraten angegriffen wurde. Sie hatten die Beute von ihrem Schlupfwinkel an der Küste erspäht und sich ihm in Ruderbooten genähert. Man zählte deren vier, doch es konnten noch mehr gewesen sein, denn das angegriffene verteidigte sich ganz energisch, es konnte ja schon eines oder mehrere der feindlichen zum Sinken gebracht haben. Geschütze schien der Sambuk allerdings nicht zu führen, was solch einem arabischen Schoner auch ganz unähnlich gesehen hätte, man hörte nur Gewehrfeuer. Noch kann man ja auch mit kleinen Kugeln ein Boot zum Sinken bringen.
Offenbar schickten sich die Boote, in denen man blanke Waffen blitzen sah, soeben zum Angriff an, um den Sambuk zu entern, als die Piraten den Dampfer erblickten, dessen Näherkommen sie im Eifer des Gefechts nicht bemerkt hatten. Der Anblick des kriegsschiffähnlichen Fahrzeuges mußte auf die Piraten wie das Erscheinen des jüngsten Gerichtes wirken, zumal hier in diesem Gewässer, in welches sich wahrscheinlich seit Menschengedenken kein größeres Schiff gewagt hatte.
Die Mannschaft des ersten Bootes hatte schon die hohe Bordwand des Sambuks erklettert, man konnte sogar sehen, wie die braunen, halbnackten Gesellen den krummen Dolch zwischen den Zähnen hatten - plötzlich stürzten sie unter einem wütenden Geheul Hals über Kopf zurück in ihr Boot, welches sich den anderen drei anschloß, die bereits in wahnsinniger Flucht wieder der Küste zustrebten.
Scott brauchte nicht zu bitten, nicht zu befehlen. Schon donnerten aus Flederwischs Munde die Kommandos, und als die Anker herabrasselten, um die ›Wetterhexe‹ hier einstweilen festzulegen, wurde auch schon ein großes Boot ausgeschwenkt, durch einen mit Petroleum geheizten Motor getrieben, und wie es hinabgelassen wurde, fiel auch schon die Hülle von einer Revolverkanone, die am Bug montiert war, daneben der Munitionskasten mit Hartkugeln und kleinen Granaten.
Scott mußte sich beeilen, noch in das Boot hineinzukommen, denn auf dieser Torpedojacht ging alles militärisch zu, hier brauchten nicht erst Leute abgeteilt zu werden, jeder saß schon auf seinem Platze, die Riemen wurden durchgeholt, nur wenige Schläge, dann begann der Motor zu arbeiten, und wie ein Pfeil schoß das Fahrzeug durchs Wasser.
»Die muß ich haben, die muß ich haben!!« jauchzte Flederwisch, der plötzlich einen ganz roten Kopf bekommen hatte.
»Sie wollen die Piraten verfolgen?« fragte Scott.
»Na sicher!«
»Ich möchte erst an Bord des Sambuks gesetzt werden.«
»Sollen Sie auch. Auch ich muß dort erst einige Erkundigungen einziehen, die Boote können uns deshalb doch nicht entgehen. Ich muß wissen, wo sie ihr Versteck haben, wie sie sich dort eingerichtet haben, und was sie sonst treiben. Hei, Seeräuber - na, endlich einmal!«
»Sie werden sie überwältigen und den Gerichten zur Bestrafung ausliefern?«
Ein erstaunter Blick traf den Frager, als hätte Flederwisch ihn gar nicht verstanden.
»Ich? Nee! Seepiraten den Gerichten ausliefern, daß sie gehangen werden? Nee, so was gibt's nicht bei mir. Wie gesagt, ich will nur sehen, in was für einem Schlupfwinkel die sich häuslich eingerichtet haben, und wie sie sonst ihr Geschäft betreiben. Na, und wenn's dabei zu einer kleinen Katzbalgerei kommen sollte, desto angenehmer wäre mir das nur. Und dann suche ich mir die tüchtigsten Kerle 'raus und nehme sie mit nach meinen Schwefelinseln, dressiere sie mir dort weiter.«
Natürlich, es war ja Kapitän Flederwisch, der so sprach, derselbe Flederwisch, welcher, als er als Kind den Entschluß gefaßt hatte, zur See zu gehen, nicht ein gewöhnlicher Seemann, sondern Seeräuber hatte werden wollen. Nun, bis zum berühmtesten Schmugglerkapitän seiner Zeit hatte er es ja auch gebracht - bis Nobodys Dazwischenkunft eben seinem ganzen Leben eine andere Richtung gegeben hatte. Aber ein bißchen Piratenblut steckte doch noch in ihm und kam bei jeder Gelegenheit zum Durchbruch. Jedenfalls war ihm ein Seeräuber immer noch sympathischer als ein Zollbeamter.
Das große Segelboot, welches auf dem bewegten Wasser schaukelte, war erreicht. Ueber die sehr hohe Bordwand blickte der weißhaarige Kopf eines Europäers, um die Stirn einen blutigen Verband.
»Hip hip hurra, das war Hilfe zur rechten Zeit!« erklang es freudig auf englisch. »Wenn ich nicht gewesen wäre, diese braunen Schufte hier hätten sich den Halunken ohne einen Flintenschuß ergeben, obgleich sie Waffen genug an Bord haben, hätten sich einfach wie die Hammel abschlachten lassen, und schließlich hätte ich das Boot doch nicht halten können, die Ueberzahl hätte uns überwältigt. Ein englisches Schiff, wie?«
Flederwisch hatte stoppen lassen und sich aufgerichtet. Ihm war es erst um eine andere Erklärung zu tun. Im Wasser sah er kein zerschossenes Boot, keinen schwimmenden Menschen treiben.
»Habt Ihr ein Boot zum Sinken gebracht?« fragte er hastig.
»Nein.«
»Einen Gefangenen gemacht? Keinen aus dem Boot herausgeschossen?«
»Auch nicht. Getroffen mögen genug worden sein, ich allein nehme mindestens ein halbes Dutzend auf meine Rechnung; aber die Toten und Verwundeten sind alle in den Booten geblieben, und an Deck ist keiner gekommen. Sie sahen das englische Kriegsschiff und stürzten wieder hinab.«
Flederwisch hatte genug gehört. Hier konnte er also keine Auskunft erhalten, wo sich das Versteck der Piraten befand. Und dort trennten sich die vier fliehenden Boote, wenn nicht auf Verabredung, so doch instinktiv wissend, daß das schnelle Kriegsboot nur ein einziges verfolgen konnte, und nun kam es darauf an, wer die einzige Niete ziehen würde.
Von dem Sambuk ward ein Tau herabgeworfen. Scott ergriff es, und während das Motorboot die Verfolgung fortsetzte, schwang er sich an Deck.
Er stand vor einem alten Manne, der ein weißes, orientalisches Kostüm trug. Aber das Gesicht war und blieb ein europäisches, und zwar gehörte es unverkennbar einem Germanen an, mochte es auch noch so von Furchen durchzogen sein. Es waren energische Züge und kluge Augen.
Und da ereignete sich auf dieser arabischen Barke im Roten Meere eine gar merkwürdige, eine denkwürdige Szene, und sie soll wiedergegeben werden, wie sie in Nobodys Tagebuch nach Scotts mündlichem Berichte erzählt ist.
»Edward Scott ist mein Name,« stellte sich der junge Kanadier vor, der auch in den schwierigsten Verhältnissen nie die formelle Höflichkeit außer acht ließ.
Der alte Mann neigte würdevoll das verbundene Haupt.
»Es freut mich, den Namen meines Retters zu hören. Ich bin der Ras Saglu Kasai von ...«
Er brach ab, etwas wie Verlegenheit verbreitere sich über das tiefgebräunte Greisengesicht.
»Nein, nein, ich befinde mich ja einem Europäer gegenüber, doch jedenfalls einem Engländer. Mein Name ist Em ... Em ... Emma ... Ema ...«
Was war denn das? Wußte der seinen Namen nicht? Und warum nahmen seine Züge plötzlich solch einen verstörten Ausdruck an?
»Em ...« begann er nochmals in hilflosem Stammeln, »mein Name ist Em ... Em ... Emma ...«
Vergebens, er fand das Wort nicht, und da breitete der Alte beide Arme aus, und aus dem linken Aermel sickerte Blut hervor; so blickte er zum Himmel empor, und während Tränen seinen Augen entstürzten, erklang es in jammervollstem Tone, in tiefstem Seelenschmerze.
»Ach, ich habe meinen Namen vergessen! Meinen Namen habe ich vergessen!! Ach, wenn Sie einmal Deutsch mit mir sprechen könnten, dann würde er mir gleich wieder einfallen.«
»Gewiß, ich kann Deutsch,« sagte Scott in dieser Sprache. »Sollten Sie vielleicht Emanuel meinen?«
Da versiegten die Tränen, wie Sonnenschein flog es über das runzlige Gesicht, und jetzt erklang es jauchzend, während der Alte eine Bewegung machte, als wollte er jenem um den Hals fallen.
»Emanuel Kreuzbacher, Emanuel Kreuzbacher aus Zürich, Emanuel, Emanuel, Emanuel ...«
Er konnte den Namen nicht genug wiederholen, er sang ihn, jauchzte ihn, jubelte ihn hinaus über das blaue Meer.
Nun vergegenwärtige man sich diese Szene - fürwahr, Edward Scott brauchte nicht solch ein empfindsames Herz zu besitzen, um tief erschüttert zu sein.
An Deck schnatterten gegen zwanzig Araber herum, die einander ihre Heldentaten erzählten, alte Luntenflinten und Schwerter und Dolche schwenkend. Jetzt wäre es natürlich gar nicht mehr nötig gewesen, daß das Kriegsschiff gekommen wäre, sie wären ganz allein mit den Piraten fertig geworden, und der Schiffseigentümer und Kapitän, ein Dreckfink mit einer Galgenphysiognomie, drängte sich auch schon dem fremden Sihdi auf, und er schien kein reines Gewissen zu haben, weil er gleich versicherte, daß er ein Ehrenmann durch und durch sei.
Eine rühmliche Ausnahme von diesen Maulhelden machte ein herkulischer Neger, der einem anderen Araber mit kühnen Zügen den Arm verband, obgleich ihm selbst zwei Finger an der Hand weggeschossen waren.
»Wie kommen Sie auf diesen Sambuk, Mr. Kreuzbacher, wenn ich fragen darf?«
»Kommen Sie mit in die Kajüte, dort werde ich Ihnen alles erzählen.«
Zunächst bestimmte Scott den arabischen Kapitän in dessen Muttersprache, die der Weitgereiste geläufig beherrschte, daß er den Anker auswerfen ließ, was alsbald geschah. Der Motorkutter hatte unterdessen das erste Boot eingeholt und festgenommen, die Piraten schienen sich ohne Widerstand zu ergeben, dem Anscheine nach fand ein Verhör statt, dann wurde das Boot ins Schlepptau genommen, Flederwisch verschwand mit seinen Gefangenen hinter einem Vorgebirge, das jedenfalls eine Bucht umschloß, während die anderen drei Boote ihre Flucht nach der weiteren Küste fortsetzten, sich auch schon zum Teil hinter Klippen versteckt hatten.
Nachdem Scott dies noch beobachtet hatte, folgte er dem alten Mann in den Raum hinab, dessen ursprünglich schmutziges Aussehen durch neue, sehr kostbare Teppiche verändert worden war.
Kreuzbacher erzählte, allerdings ohne zunächst Aufschluß über seine orientalisch gekleidete Person zu geben, und wie er seinen Namen vergessen konnte.
Vorgestern hatte er sich mit seinen drei Dienern in Aden an Nord des englischen Dampfers ›Helvetia‹ begeben, um nach Genua zu gehen. In der vergangenen Nacht war einer seiner Diener bedenklich erkrankt. Jedenfalls war es Dysenterie, es konnte aber auch Cholera sein oder noch daraus werden.
Es ist schrecklich, wenn an Bord eines Schiffes nur ein einziger Fall von Cholera oder einer anderen epidemischen Krankheit vorkommt. Dann darf kein Passagier mehr irgendwo an Land, vor jedem Hafen muß das Schiff mindestens vierzehn Tage erst in Quarantäne liegen, auch der Suezkanal darf nicht passiert werden, es braucht nur irgendein kleiner Verdacht vorzuliegen - der Schaden, den die Reederei hat, ist unberechenbar.
Kurz und gut, der Kapitän bat den Herrn des kranken Dieners fast fußfällig, er möchte doch um Gottes willen sein Schiff verlassen. Auf einen anderen Dampfer konnte er natürlich nicht, aber es gab ja hier arabische Barken genug, man rief eine an, und, der Mann war ja überhaupt gar nicht cholerakrank, er hatte nur eine schlechte Verdauung, aber wenn ...
Gut, Kreuzbacher war sofort damit einverstanden. Es war ja nur sein eigener Vorteil. Sonst mußte er dann selbst in Quarantäne liegen bleiben.
So wurde noch in derselben Nacht ein Sambuk angerufen, den der Dampfer überholte.
Wohin? - Nach Suez. - Nehmt ihr vier Passagiere mit? - Gewiß, wenn sie genügend bezahlen.
Vortrefflich! Bei diesem günstigen Winde brauchte die Barke auch nur noch zwei Tage nach Suez, und dann wär allen geholfen.
Noch vor Tagesanbruch, gegen vier Uhr, gingen sie von Bord zu Bord, und niemand hatte auch nur erfahren, daß einer der Passagiere so erkrankt gewesen sei.
»Mein treuer Sukkha befindet sich bereits auf dem Wege zur Besserung. Am Kampfe hat er freilich nicht teilnehmen können, er liegt noch dort drüben in einem kleinen Raume für sich. Aber kein Gedanke an Cholera.«
Hierauf erzählte der alte Herr weiter, wie ihm das Gebaren der arabischen Mannschaft dieser Barke von allem Anfange an Mißtrauen eingeflößt habe, er verstände auch gar nicht, was sie hier in diesem gefährlichen Gewässer zu suchen hätten - vielleicht Schmuggler? - Und dann schilderte er ausführlich, wie die vier Piratenboote dort um die Ecke des Vorgebirges gebogen waren, und wie die arabischen Seeleute bei ihrem Anblick gleich die Segel gestrichen hätten, um sich zu ergeben, was es ihn für Mühe gekostet hatte, sie zu bewegen, den Kampf aufzunehmen.
»Ich ging mit gutem Beispiele voran, meine beiden Diener standen mir bei, und als der erste Angriff abgeschlagen worden war, griffen die Feiglinge doch endlich zu ihren alten Luntenflinten. Aber wären Sie nicht gekommen, so wäre unser Schicksal dennoch besiegelt gewesen.«
Nur mit halbem Ohre hatte Scott dieser Schilderung zugehört. Es läßt sich denken, was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen.
Auf der ›Helvetia‹ nach Genua, den Dampfer heute früh um vier verlassen - - er war es, und die Barke befand sich doch auch gerade an der Stelle, die von Scott angegeben worden war!
Das Wunder hatte sich erfüllt! Für den Geisterseher freilich war es kein Wunder, sondern etwas ganz Selbstverständliches.
Ja, aber inwiefern stand dieser alte Mann mit Nobody in irgendeiner Beziehung? Sollte Scott direkt fragen? Das wäre sehr auffallend gewesen.
Da zeigte sich, daß der junge Mann mit den träumenden Augen auch ein recht gewandter Diplomat sein konnte.
»Bitte, Sie nannten vorhin zwei Namen, die mir nicht so unbekannt sind. Ras Saglu - ist dies nicht der Titel in Abessinien, den der erste Minister führt?«
Etwas wie Verlegenheit huschte über das kluge Gesicht des Alten. Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt.
»Sie sagen es,« entgegnete er würdevoll, doch keineswegs stolz, »ich bin der erste Minister des Negus Menelik. Als solcher führe ich den Namen Kasai.«
»Ach, wie seltsam!« rief Scott. »Da könnten Sie mir vielleicht einen großen Gegendienst erweisen. Ich beabsichtige nämlich mit meinem Freunde Nobody einen Abstecher nach Abessinien zu machen und ... was haben Sie denn?«
Der Name Nobody hatte wie ein Stichwort gewirkt. Der nach orientalischer Sitte mit untergeschlagenen Beinen niedergekauerte Alte warf plötzlich den Oberkörper weit vor und betrachtete den Sprecher mir großen Augen.
»No ... body?!« stieß er in größter Ueberraschung hervor.
»Jawohl, mit Nobody. Kennen Sie diesen Detektiv? Na ja, natürlich kennen Sie ihn, wer kennt heutzutage den berühmten Nobody nicht ...«
»Nein, nein,« fiel ihm der andere ins Wort, »es ist doch nicht so einfach, daß ich, der ich seit achtundreißig Jahren nicht aus Abessinien herausgekommen bin, diesen Detektiv kenne. Vor allen Dingen staune ich darüber, daß Sie diesen Nobody Ihren Freund nennen.«
»Gewiß, er ist mein bester Freund. Allerdings bin ich hierauf sehr stolz - aber ich verstehe nicht recht, weshalb Sie darüber staunen.«
»Weil ich ... weil ich ... mein Gott, wenn Sie sein Freund sind, kann ich's Ihnen ja ganz ruhig sagen, es ist überhaupt nichts weiter dabei ... weil ich gerade auf dem Wege bin, mich nach England zu Mr. Nobody zu begeben!«
Da war es wiederum! Doch das schöne Gesicht des jungen Kanadiers zuckte mit keiner Muskel.
»Was Sie nicht sagen! Doch nicht etwa gar ein Auftrag des Negus für ihn?«
»Jawohl! Jawohl! Wo befindet sich Mr. Nobody denn jetzt?«
»Gegenwärtig hält er sich in Aegypten auf. Dürfte ich nicht etwas Näheres über den Auftrag erfahren? Es ist nicht etwa bloße Neugier ...«
»Warum nicht? Sie sind ja sein Freund, und ist es doch eine Fügung des Himmels, daß gerade Nobodys Freund als mein Retter kommt! Kennen Sie die Verhältnisse von Abessinien genauer?«
»Nicht so ganz genau. Aus den sehr spärlichen Reiseberichten. Dort gewesen bin ich noch nicht.«
»Sie wissen doch, was ein Hawal ist, ein ... ein ...«
»Ein Albino, im Volksmund auch Kakerlak genannt,« kam Scott dem Stockenden zu Hilfe, dadurch verratend, daß er sogar im Aethiopischen, welches in Abessinien zumeist gesprochen wird, recht gut bewandert war, wenn er es nicht vollkommen beherrschte. »Das ist ein Mensch, welcher aus noch nicht ergründeten Ursachen von Kindheit an weiße Haare hat, während seine Augen rot sind, der überhaupt in gewissen Beziehungen von einem normalen Menschen abweicht. Im Tierreich kommen Albinos viel häufiger vor - weiße Mäuse, weiße Raben, weiße Elefanten, auch die Isabellenpferde sind Albinos oder Kakerlaken. Bei den Menschen kommt diese Spielart viel seltener vor.«
»Richtig! Diese Menschen heißen bei uns Hawalis. Hawal der Mann, Hawalan die Frau. Das ist Aethiopisch oder, wie wir sagen, Muronisch. Wissen Sie, daß alle Albinos dem Kaiser von Abessinien gehören?«
»Daß bei den Negern Albinos am häufigsten vorkommen, wenn auch immer noch spärlich genug, das weiß ich wohl, aber was Sie mir da sagen, ist mir neu.«
»So ist es. Jedes Kind, das in Abessinien als Albino geboren wird, Knabe oder Mädchen, kommt alsbald an den Hof des Negus, wird dort großgebracht, als Diener oder Dienerin, sagen wir gleich als Sklave ... doch nein, das ist nicht der richtige Ausdruck - diese stets schwächlichen Geschöpfe sind ja zu keiner anstrengenden Arbeit zu gebrauchen, sie sind mehr menschliche Prunkstücke, der Negus verschenkt sie auch als Gunstzeichen. Das mag Ihnen sehr merkwürdig vorkommen, aber ...«
»O, nicht doch,« kam Scott dem Alten zu Hilfe, der nämlich wiederum etwas verlegen wurde. »So etwas ist auch in Europa nicht ohne Seitenstück. Es ist noch gar nicht so lange her, da alle in Spanien vorkommenden Isabellenpferde dem Könige gehörten, sie wurden dem Besitzer einfach weggenommen, wurden nur als Gunstbezeugung verliehen. Hier handelt es sich aber nun freilich um Menschen, die es aber jedenfalls nicht schlecht haben, und dann ist es eben das afrikanische Abessinien. Außerdem wurden noch nach jener spanischen Zeit in Deutschland, speziell in Preußen, besondere Menschen als königliches Eigentum behandelt, nämlich recht große, schöngewachsene Männer, die sich zu Grenadieren eigneten. Sie mußten als militärisches Prunkstück dienen.«
»Sie haben recht,« sagte der Alte bewegt. »Wir wollen die schwarzen Leutchen deshalb nicht verurteilen, und ich bin Ihnen dankbar für Ihre Worte, die Sie da sprachen; denn Sie entschuldigen mich noch mehr, daß es mir nicht gelungen ist, diese Unsitte am Hofe des Negus Menelik aufzuheben. Ja, der Besitz von Albinos ist der Stolz in Abessinien, mehr als der von zahlreichen Herden und Gold und Kleinodien jeder Art. Die Eltern, welche ein Albino erzeugen, genießen hohes Ansehen und große Vorrechte; aus den Nachbarländern werden tadellose Albinos mit tausend und mehr Rindern gekauft, die einem Werte von 2000 Pfund Sterling entsprechen. Aber wenn diese Spielart auch gerade unter den Negern häufiger vorkommt als unter anderen Völkerrassen, und wenn sie auch in Abessinien angesammelt werden, so sind sie doch nicht allzuhäufig. In ganz Abessinien gibt es 143 Albinos, 108 davon befinden sich am Hofe des Negus. Hieran ist einmal die große Sterblichkeit dieser schwächlichen Geschöpfe schuld, und zweitens ... ist Ihnen bekannt, daß Albinos unfruchtbar sind?«
»Wenigstens die menschlichen. Weiße Mäuse, Elefanten und Isabellenpferde vermehren sich, bei menschlichen Albinos ist noch kein Fall konstatiert worden, woraus man den Schluß gezogen hat, daß deren Albinismus doch noch eine ganz andere Ursache hat.«
»Und bei uns ist dieser Fall dennoch vorgekommen.«
»Daß eine Albino Mutter geworden ist? Oder ein Albino Vater?«
»Beides. Zum Heiraten sind die Albinos ja befähigt. Dem steht nichts im Wege. Und nicht etwa, daß die weiblichen Albinos unserem Herrscher zum Spielzeug seiner Lüste dienen. Ganz im Gegenteil. Die Albinos heiraten untereinander und müssen es tun, ganz ehrbar. Dabei kommt nämlich eine uralte Sage in Betracht, deren Entstehung sich nicht mehr verfolgen läßt. Wenn eine Hawalan ein Kind gebiert, dann soll über das schwergeprüfte Abessinien eine glückliche Zeit hereinbrechen. Dieser Fall ist vor sechs Wochen eingetreten. Zanaide, eine junge, echte Albino, genas eines kerngesunden Mädchens mit weißen Haaren und roten Augen, dessen Vater ebenfalls ein ausgeprägter Albino ist.«
»Das ist in der Tat ein ganz außerordentlicher Fall!!«
»Ja. Dieses Ereignis ward denn auch mit ungeheurem Jubel begrüßt. Aber die Freude wähne nicht lange. Vor vier Wochen ist Zanaide mit ihrem Kinde verschwunden, ist entführt worden.«
Kreuzbacher schilderte das Verschwinden von Mutter und Kind ganz ausführlich. Doch wir wollen diese Erzählung erst wiedergeben, wenn Nobody dabei ins Spiel kommt, wenn er selbst es erfährt und seine Fragen stellt.
»Was für Anstrengungen gemacht wurden, der beiden wieder habhaft zu werden, kann ich Ihnen gar nicht schildern,« fuhr der Alte fort. »Alles, alles war vergebens. Wie vom Erdboden verschwunden. Hier lief die Spur der Mutter, hier mußte sie vor wenigen Minuten noch gestanden haben - weg war sie plötzlich, samt ihrem Kinde. Der Negus trauerte, mit ihm das ganze Land. Da kam ihm ein Gedanke. Doch ich will mich kurz fassen. Die letzte italienische Gesandtschaft, die in der Residenz Gondar gewesen war, hatte illustrierte Zeitungen zurückgelassen, die natürlich dem Negus gehörten. Darunter auch ein Blatt, welches sich ›Worlds Magazine‹ nannte. In diesem wurde von einem Detektiven Nobody erzählt, der infolge seiner Taten zum Ehrendoktor und zum englischen Baronet ernannt worden war und noch andere Auszeichnungen erhalten hatte, alle seine Taten und Erfolge wurden noch einmal summarisch angeführt. Der Negus liest und spricht perfekt Englisch. Er ließ mich zu sich kommen. Noch ein Hoffnungsgedanke war in ihm erwacht ...«
Wir brauchen nicht so ausführlich zu werden.
Der geneigte Leser kann sich wohl denken, wie alles weiter gekommen war.
Der junge Kanadier aber dachte: Donnerwetter, hat der Name dieses Nobodys aber einen weiten Verbreitungskreis!!
Und ferner dachte er: Wie nun hängt dieser Alte oder Negus Menelik mit jenem rätselhaften Fremden zusammen, der sich Sinclaire nannte? Sollte vielleicht die verschwundene Albino das Verbindungsglied sein?
»Es hätte keinen Zweck gehabt,« fuhr der Alte fort, »die schwarze Majestät von ihrem Vorhaben abzubringen, ihr begreiflich zu machen, daß jener Mann wohl schwerlich schon in Abessinien gewesen sein und trotz aller seiner sonstigen Fertigkeiten hier etwas erreichen könne. Es war des Negus' letzter Rettungsanker. Nun treiben bei uns die Priester ja auch noch viel Zauberei, so sehr ich auch dagegen gekämpft habe, und das befragte Orakel hatte den Entschluß doppelt gutgeheißen. Schön! Abessinien ist ja kein unbekanntes Barbarenland mehr, und nicht lange, so wird es wohl auch in der internationalen Politik eine Rolle mitspielen, und sollte es vorläufig auch nur zum Zankapfel der europäischen Mächte werden. Eine Gesandtschaft sollte nach England geschickt werden. Da dachte ich an etwas ... mich packte das Heimweh. Wie ich, ein geborener Schweizer, vor 38 Jahren nach Abessinien gekommen bin, wie ich der erste Minister des Negus wurde, das werde ich Ihnen dann erzählen. Ich bat, diese Mission mir zu überlassen. Es wurde mir gewährt und ich ...«
Ein harter Stoß erschütterte das Schiff. Scott sprang an Deck. Neben der Barke lag das zurückgekehrte Motorboot, aber nur noch mit zwei Matrosen bemannt, welche den Motor bedienten, während Jochen Puttfarken am Steuer saß.
»Ob Sie mit wollen, soll ich im Vorbeifahren fragen.«
»Wohin?«
»Erst einmal nach der ›Wetterhexe‹.«
»Wo ist denn der Kapitän, wo sind die anderen?«
»Die sind in der Höhle, wo die Piraten ihre Frauen und Kinder und den ganzen Kram haben, und ich soll vom Schiffe einen Taucheranzug holen.«
»Wozu einen Taucheranzug?«
»Weil der Kapitän seinen gold'gen Bleistift hat ins Wasser fallen lassen, und der gold'ge Bleistift ist von seiner Olschen ... von von der gnäd'gen Prinzeß, wollt ick sagen, was seine Frau ist, von der hat er den gold'gen Bleistift geschenkt gekriegt, und wenn er den nicht mehr hat, dann ist der Deiwel los, und da muß eben jemand hinunter ins Wasser, und 's ist ja auch keine zehn Meter tief.«
Sinnend ließ Scott seine träumenden Augen zur nahen gebirgigen Küste hinüberschweifen.
»In einer Höhle halten sich die Piraten verborgen?«
»Jawohl, in einer vom Meere ausgewaschenen Höhle, 's ist ganz gemütlich drin, wenn's nur nicht so stinken täte. Und nicht weit davon - man kann's aber von hier aus nicht sehen - ist ein ganzer Trümmerhaufen von einer zusammengestürzten Stadt.«
»Ruinen?«
»Allemal. Der Kapitän sagt, 's wäre das alte Berenice.«
Berenice!! Scott hatte sich noch gar nicht darüber orientiert, wo sie sich eigentlich befanden. Und nun mit einem Male sah er vor seinen geistigen Augen die Landkarte, Edfu bis Berenice, das war die Tour, welche Nobody einschlagen wollte oder sollte, auch er hatte ein Taucherkostüm bei sich, hier wurde ein Taucherkostüm geholt ...
»Na, wollen Sie mit an Bord?«
»Ich komme mit,« rief Scott, ins Boot springend, »aber nicht nur an Bord, sondern auch nach jener Höhle!«


Flederwischs Freude war verfrüht gewesen. Es war eben auch gar nichts mehr in der Welt, es gab gar keine echten Piraten mehr.
Als das letzte Boot sah, daß jene es gerade auf dieses abgesehen hatten und man dem pfeilschnellen Fahrzeug doch nicht entgehen konnte, zogen die braunen Burschen die Ruder ein und erwarteten die Verfolger in kniender Stellung und mit erhobenen Händen.
»Kitagazi, Kitagazi! - Gnade, Gnade!« erklang es zwölfstimmig in wimmerndem Tone, und dazwischen wurden Allah und der Prophet angerufen.
»Ihr Lumpenhunde,« zürnte Flederwisch, der den ganzen erhofften Spaß verdorben sah. »Könnt ihr denn nicht wenigstens eine Flinte nach uns abschießen?«
»Ja, seht, Kapitän,« meinte Zwergnase, »ich hab's mir gleich denkt, wir hätten die Revolverkanone verdeckt lassen sollen.«
»Kitagazi, Kitagazi!« jammerte es weiter im Chor.
Was nun anfangen mit den halbnackten Burschen, die trotz ihrer muskulösen Glieder und ihres verwogenen Aussehens Feiglinge ersten Ranges waren? Freilich darf man den Anblick des großen Kriegsschiffes nicht vergessen, und selbst das armierte Motorboot war ein kleines. Das lahmte so, daß nicht einmal jemand daran dachte, seine Rettung im Schwimmen zu versuchen.
»Sollen wir nicht noch die anderen Boote haschen?«
»Ach, laßt das Lumpenpack laufen! Nach ihrem Schlupfwinkel fliehen sie ja doch nicht! - Wo ist euer Hafen, eure Station? Wohin bringt ihr die geraubten Güter?« wandte er sich an den ihm nächsten in reinstem Arabisch.
»Kitagazi, Kitagazi! Wir sind ehrliche Fischer und ...«
Flederwisch verabreichte dem Sprecher das, was man eine Backpfeife nennt.
»Na? Wo haltet ihr euch für gewöhnlich verborgen?«
Es war nicht nötig, dem Manne erst die Pistole vor die Stirn zu setzen oder zu sonstigen Hilfsmitteln zu greifen.
»Dort, dort! Kitagazi, Kitagazi!«
»Dort hinter dem Gebirge, das wohl eine Bai einschließt?«
»Ja, Sihdi, in einer Höhle. Gnade, Gnade, Erbarmen!«
»Marsch ins Boot. Die anderen werden ins Schlepptau genommen. O, du Hund, daß du auch noch das Versteck deiner Kameraden verrätst! Nee, Junge, mit dir kann man keine Pferde stehlen, du kommst mir nicht auf meine Schwefelinseln.«
Im Schlepptau das Boot, die Piraten nur durch einen einzigen Revolver in Schach gehalten, steuerte das Motorfahrzeug weiter der Küste zu. Das Fahrwasser ward immer flacher und gefährlicher, selbst für solch ein kleines Boot, aber der herübergenommene Araber war ein williger Lotse, der auch keine Hinterlist wagte.
Als sie um das Vorgebirge bogen, zeigten sich im Hintergrunde der nicht allzugroßen Bai die Ruinen einer einst umfangreichen Stadt. Flederwisch hatte bereits gewußt, daß hier das einstige Berenice läge, er hatte ja immer sorgfältig die Seekarte studiert, hatte aber davon Scott keine Mitteilung gemacht, so wenig ihm dieser etwas davon gesagt, in welcher besonderen Gegend Aegyptens Nobody mutmaßlich sich zur Zeit befand.
Es ging quer über die Bucht hinüber, auch noch ein mit Sandbänken erfülltes Wasser, und dann wunderten sich die erfahrenen Seeleute, daß dicht neben der Küste ein wohl kilometerbreiter Streifen sehr tiefen Wassers hinlief, an der dunkelblauen Färbung erkennbar.
Die Küste war erreicht, dort, wo der erzwungene Lotse angab, nun noch um die Ecke, und vor ihnen eröffnete sich eine hohe und tiefe Höhle, welche im Laufe der Jahrhunderte die Brandung ausgewaschen hatte.
Solche Wasserhöhlen zeigen stets Galerien, von Ebbe und Flut herrührend. Da aber Ebbe und Flut nicht immer dieselben gewesen sind, da Erdrevolutionen in den Gezeiten immer scharfe Abschnitte gemacht haben, so sind fast stets mehrere solcher Galerien übereinander vorhanden.
So auch hier, und außer Kisten und Kasten, die auf den Galerien aufgespeichert waren, führten Frauen und Kinder darauf ein idyllisches Familienleben.
Erst hatten die Zurückgelassenen Lust, die Ankommenden mit kreischendem Jubel zu begrüßen. Denn wer konnte es anders sein als die Männer und Brüder und Väter, die den Sambuk erspäht und ausgenommen hatten und nun mit der Beute zurückkehrten? Denn daß die Sache auch einmal schief gehen konnte, daran dachten die guten Leutchen gar nicht, so etwas war eben noch nie passiert. Als aber nun das Motorboot mit den ›Blaßgesichtern‹ auftauchte, da blieb freilich den Frauen und Kindern die Freude im Halse stecken.
Flederwisch machte kurzen Prozeß. Hierhergestellt und stillgestanden! Wer sich auch nur rührt, wird niedergeschossen! Er hielt es nicht einmal für nötig, den Männern die Waffen abzunehmen!
Dann machte er sich daran, die aufgestapelten Waren zu besichtigen. Kaffee, Tee, Zucker, etwas Tabak und anderen Krimskram.
»Nicht einmal einen Elefantenzahn, mit dem man renommieren kann, daß man ihn arabischen Seeräubern abgenommen hat,« schimpfte Flederwisch, der diese Beute jetzt ganz selbstverständlich als sein Eigentum betrachtete.
Für alle Fälle wollte er doch ein Verzeichnis anlegen. Als er hiermit beschäftigt war, entfiel ihm der goldene Bleistift und verschwand im Wasser.
»Gott ver ..., Turandots Bleistift, nu och dat noch!!«
Das Wasser in der Höhle maß elf Meter, wie ausgepeilt wurde. In solch eine Tiefe tauchte kein Mensch ohne Apparat, und wenn man's liest, soll man's nicht glauben. Das Fischen mit einem rechenartigen Instrument hatte keinen Erfolg.
Verlegen kratzte sich der lange Flederwisch hinter den Ohren. Er hatte den goldenen Bleistift von seiner Frau geschenkt bekommen, und er war so baumlang - nicht der Bleistift, sondern Flederwisch - und seine Frau war nur so klein, aber, aber ... der baumlange Flederwisch hatte vor der kleinen Frau einen höllischen Dampf, und wenn die den Bleistift vermißte, dann ..., ›nicht wahr, den hast du wieder so einem Mädel geschenkt?!‹
»Ihr habt doch alle gesehen, daß mein goldener Bleistift hier ins Wasser gefallen ist?« wandte er sich an seine Leute.
»Jawohl, Herr Kapitän - nu allemal, Kapitän!« antworteten sämtliche Matrosen prompt, auch diejenigen, welche es nicht gesehen hatten.
Aber Flederwisch fuhr fort, sich verlegen hinter dem Ohre zu kratzen. Nee, nee, seine Matrosen durfte er der kleinen Turandot nicht als Zeugen der Wahrheit vorführen. Von diesen legte auch der frömmste zugunsten seines geliebten Kapitäns einen Meineid ab, das wußte Turandot nur zu gut.
»Es hilft nichts, der Malefizbleistift muß wieder heraus. Jochen, fahre zurück, hole einen Skaphander. Sprich auch bei dem Sambuk vor, ob Mr. Scott an Bord gebracht sein will.«
Der Nasenkönig ging mit zwei Matrosen ab. Auch Flederwisch war von Nobody mit einigen jener Tauchapparate ausgestattet worden, denen er den Namen Skaphander gegeben hatte, zu Ehren eines prophetischen Dichters.
Unterdessen fuhr Flederwisch fort, die aufgestapelten Waren zu untersuchen. Kaffee und Zucker waren noch das Beste gewesen, was er zuerst gefunden, die übrigen Säcke enthielten Salz und nichts als Salz.
Offenbar hatte man es hier mit Piraten zu tun, die es nur auf Schmugglerschiffe absahen, und mit Salz läßt sich in Aegypten in dieser Beziehung ein gutes Geschäft machen, das Pfund Salz kostet dort 25 Pfennig, so hoch ist der Zoll darauf. Aber Flederwisch stellte keine Fragen, wie und wohin das Salz gepascht würde, obgleich er sich doch sonst so für diese Profession interessierte, er ärgerte sich, daß es überhaupt Salz war, und bangte für seinen ›gold'gen Malefizbleistift‹.
Das Motorboot kam zurück, den Kanadier mitbringend.
»Nun, wen haben Sie an Bord des Sambuks gefunden?«
Während ein Matrose, der im Tauchen mit dem Skaphander besonders ausgebildet worden war, das Kostüm anlegte, teilte Scott, etwas seitwärts von den anderen, dem Kapitän seine Unterhaltung mit dem schweizerischen Minister des abessinischen Kaisers mit.
»Wunderbar, wunderbar!« murmelte Flederwisch nur immer, schüttelte dabei immer den Kopf, und wie er den Erzähler von der Seite anschielte, hatten seine sonst so verwogenen Züge einen wahrhaft ängstlichen Ausdruck angenommen. Ja, solch eine Hellseherei, das war ihm aber auch zu neu, das ging über seine Hutschnur, und dann dachte er erschrocken: »Herrgott, wenn Turandot einmal hellsehend würde! Dann wäre es vorbei mit dem lustigen Leben!«
Der Taucher verschwand mit brennender Lampe in dem dunklen Wasser. Die Minuten vergingen. Er blieb sehr lange unten, schien den Bleistift nicht gleich finden zu können, obgleich das Senkblei harten Boden berührt hatte.
»Wenn er ihn nicht finden sollte,« dachte Flederwisch, der in manchen Fällen so ängstlich sein konnte, »dann muß ich meiner Frau vorlügen, daß ...«
Er brach in seinen Gedanken ab. Sein Blick war auf den Kanadier gefallen, der mit auf der Brust verschränkten Armen dicht am Rande der Galerie stand und in das Wasser hinabblickte.
Um Gottes willen, wie blaß der junge Mann plötzlich aussah! Nein, nicht blaß, sondern wie eine Leiche!
»Mr. Scott, ist Ihnen unwohl?!«
Der Angerufene zuckte zusammen, machte eine seitliche Bewegung, und im nächsten Moment hatte er wieder Farbe bekommen.
»Doch, mir ist ganz wohl,« lächelte er, auffallend genug, da ihn sonst wohl selten ein Mensch lächeln sah.
Flederwisch achtete nicht weiter darauf. Er glaubte, nur die Beleuchtung sei daran schuld gewesen.
Fünf Minuten waren nun schon vergangen, und das ist für den, der auf eine Stelle blickt und darauf wartet, daß dort etwas erscheint, eine kleine Ewigkeit, und der Taucherhelm war noch immer nicht da.
»Wo bleibt denn der Kerl nur? Der botanisiert wohl da unten oder hat mit einer Seejungfer ein Stelldichein? Aber das - sage ich euch,« wandte sich Flederwisch grimmig an die Araber, die von dem Anblick des Tauchers ganz gelähmt worden waren, »wenn meinem Anok etwas zugestoßen ist, dann nehme ich euch doch noch mit nach den Schwefelinseln, und dann sollt ihr ...«
Flederwisch brauchte seine Drohung nicht zu vollenden, denn da tauchte bereits aus dem dunklen Wasser eine menschliche Hand auf, triumphierend den gold'gen Malefizbleistift schwenkend, und dann erst erschien der Helm, und ebenso nahm Flederwisch ihm erst dieses Kleinod ab und dann packte er den Taucher beim Kripse und hob ihn wie eine Puppe aufs Trockene.
»Was hast du denn da unten so lange gemacht, Anok?« fragte er, als der Helm abgeschraubt war. »Der leuchtende Bleistift konnte doch gar nicht so schwer zu finden sein.«
»Ja ja, nee nee, Kapitän, die Sache war gar nicht so einfach. Der Stift lag gar nicht hier dicht am Rande, dort unten ist eine starke Strömung, der Stift war ganz nach dort vorn gekollert und kollerte noch immer weiter, ich mußte ihn haschen.«
Flederwisch blickte noch einmal hinab auf das spiegelglatte Wasser.
»Eine starke Strömung? I, Anok, erzähle mir doch keine Märchen. Woher soll denn dort unten eine Strömung kommen? Du hast ganz einfach dort unten ein Nickchen gemacht.«
»Ja ja, nee nee, Kapitän, dort unten ist ein großes Loch, da quillt's Wasser raus. Ich war selber neugierig, bin ein gutes Stück hineingekrochen. Ja ja, nee nee.«
»Zum Teufel, wo soll denn aber hier eine Strömung ...«
Er wurde dadurch unterbrochen, weil er hörte, wie sich Scott an einen der Piraten mit einer Frage wendete, und diese Frage machte ihn stutzig.
»Woher bekommt ihr denn das Trinkwasser?«
Eigentlich seltsam, daß an diese Frage noch niemand gedacht hatte. Denn daß die Piraten hier existieren konnten, war ein Rätsel.
Der Araber deutete auf den dunklen Wasserspiegel.
»Süß,« sagte er lakonisch.
»Nicht möglich!« staunte Flederwisch.
Scott sah einen Holzeimer liegen, an den ein Seil gebunden war, nahm ihn, schöpfte, kostete - das Wasser war vollkommen trinkbar, hatte auch nicht den leisesten Salzgeschmack.
»Hier unten bricht ein unterirdischer Fluß hervor,« erklärte Scott, »das Süßwasser ist bedeutend leichter als das salzige Meerwasser, es treibt nach oben, bleibt auch obenauf schwimmen, wenigstens in dieser Höhle.«
Diese Erklärung freilich hätte nun auch jeder Matrose gefunden, dem es keine unbekannte Erscheinung ist, daß mitten im Meere süße Quellen hervorbrechen, so vielfach an der Küste von Mexiko, man kann mitten im salzigen Meere trinkbares Wasser schöpfen.
Aber für einen Geologen wäre der unterirdische Fluß, der aus der Libyschen Wüste herauskam, von höchstem Interesse gewesen. Und noch ein anderer zeigte dasselbe Interesse.
Scott besichtigte das Taucherkostüm, welches Anok abgelegt hatte.
»Ob das Kostüm für mich passen wird?«
»Nein, der Anzug ist zu klein für Sie,« entgegnete Flederwisch. »Aber an Bord befindet sich noch ein anderer, für mich gefertigt, der paßt auch Ihnen. Soll ich ihn holen lassen?«
»Ich bitte darum. Ich möchte diesen unterseeischen Fluß selbst einmal untersuchen. - - Halt!!«
Zwergnase und die beiden Matrosen waren schon wieder ins Boot gesprungen, als der letzte Ruf sie zurückhielt, und da gewahrten sie alle jene Veränderung, die mit dem jungen Manne vor sich ging, wie schon Flederwisch vorhin beobachtet hatte.
Der sonst so gesund aussehende junge Mann wurde plötzlich ganz bleich, leichenfarben, sein Auge begann zu stieren, er legte die Hand davor, das währte eine Minute, während welcher er regungslos dastand, und es war eine Situation, daß niemand auch nur ein Wort zu sprechen, kaum jemand zu atmen wagte. Weshalb nicht, das läßt sich nicht beschreiben. Jeder fühlte eben, daß mit dem jungen Manne irgend etwas Unnatürliches, Geheimnisvolles vor sich ging.
Als er die Hand wieder von dem Gesicht entfernte, sah dieses wie gewöhnlich aus. Sofort, und ohne ein Wort zu sagen, ergriff Scott eine am Boden liegende Brechstange, ging in den Hintergrund der Höhle, das heißt, schien hinter gehen zu wollen, tat wenige Schritte, blieb stehen, drehte sich um, sein träumendes Auge überflog die Piraten und Matrosen, er warf die Brechstange wieder weg und kehrte zurück.
»Herr Kapitän!«
Er führte Flederwisch seitwärts von den anderen. »Ihren Leuten ist doch selbstverständlich zu trauen?«
»Unbedingt.«
»Sie können auch alle schweigen?«
»Wie das Grab, wie ich selbst, wenn meine Frau nicht wissen soll, daß ich ... nevermind. Die plaudern nichts aus.«
»Dann können sie bleiben. Ich werde sie auch sehr nötig brauchen. Aber die arabischen Piraten mit Frauen und Kindern möchte ich von hier entfernt haben.«
»Weshalb?«
»Ich habe eine Endeckung gemacht - - ich sah etwas ... im Geiste. Sie werden gleich Augenzeuge davon werden. Haben Sie mit den Piraten etwas vor?«
»Gar nichts. Die armseligen Schlingel sind zu nichts nutze.«
»Sie lassen sie einfach laufen?«
»Jawohl.«
»Dann sofort, und sie sollen Frauen und Kinder mitnehmen. Boote haben sie ja noch. Nur einen Mann möchte ich zurückbehalten.«
Scott ging hin zu den Piraten und musterte sie. Am längsten ruhte sein Auge auf einem Manne mittleren Alters mit recht intelligenten Gesichtszügen.
»Wie heißt du?«
»Selek ben Eski, Sihdi.«
»Bist du der Scheich, das Oberhaupt dieser Räuber?«
»Nein Sihdi, Barbarek, unser Scheich, ist nicht hier, er ist geflüchtet, aber ich bin sein Bruder und ein Unterscheich.«
Also das träumende Auge des Kanadiers hatte sich doch nicht getäuscht.
»Bist du verheiratet?«
»Sehenna, die Freude meiner späten Tage, starb voriges Jahr.«
»Dann eignest du dich am besten. Du bleibst hier. Ihr anderen seid frei.«
Es dauerte einige Zeit, ehe die Piraten begriffen, daß sie wirklich die Boote besteigen, die im Hintergründe der Höhle lagen, und fahren durften, wohin sie wollten, auch Frauen und Kinder mitnehmen durften. Nur Selek solle hierbleiben. Dann aber war der Jubel groß, sofort brachen sie auf, in Fässern Trinkwasser und Durramehl, sowie Hartbrot mitnehmend, was ihnen gestattet wurde. Nur die Waffen mußten sie abliefern.
»Und ich, Sihdi? Was willst du mit mir machen?« fragte Selek.
»Dir wird kein Haar gekrümmt, auch du wirst noch freigelassen werden und wirst dein Volk wiederzufinden wissen. Unternimm keinen Fluchtversuch, dann hast du nichts zu bereuen.«
Die Boote entfernten sich unter taktmäßigem Ruderschlag und verschwanden um die Ecke. Die Besatzung des Motorfahrzeuges und der Scheich befanden sich allein in der Höhle. Das tiefste Schweigen herrschte, auch der empfindungsloseste Matrose fühlte, daß jetzt irgend etwas Besonderes, Mysteriöses kommen müsse, aller Augen waren erwartungsvoll auf den jungen Kanadier gerichtet.
Dieser trat wieder vor Selek hin.
»Antworte mir der Wahrheit gemäß, verhehle wir nichts.«
»Ich habe nichts zu verhehlen, Sihdi.«
»Was weißt du davon, woher hier das Wasser in dieser Höhle, welche doch mit dem offenen Meere in Verbindung steht, trinkbar sein kann?«
»Allah ist groß, und er liebt die Wunder - er läßt auf dem Grunde dieser Höhle einen süßen Quell hervorbrechen, so stark, daß er das bittere Wasser ganz aus der Höhle verdrängt.«
»Könnte es nicht auch ein Fluß sein, der hier unten herauskommt?«
Mit ungläubigem Lächeln schüttelte der Araber den Kopf.
»Hier aus dieser Wüste, welche nach Sonnenuntergang liegt? Nein, Sihdi, da gibt es kein Wasser, da sind alle Brunnen vertrocknet.«
Es war nämlich vorhin Englisch gesprochen worden, der Araber hatte also nicht die verschiedenen Erklärungen gehört.
Scott sah den Mann scharf an und erkannte, daß er die Wahrheit sprach. Von einem unterirdischen Flusse war dem nichts bekannt, er glaubte an eine Quelle auf dem Meeresgrunde. Uebrigens mußte Anoks Aussage erst auf ihre Richtigkeit geprüft werden, auch er konnte sich geirrt haben, dann wäre der Scheich mit seiner Quelle im Recht gewesen.
So wenigstens sagten sich Flederwisch und die anderen Zuhörer, welche hierfür Interesse hatten und selbständig denken konnten.
»Wie lange haust ihr schon in dieser Höhle?« fragte Scott weiter.
Seit fünf Jahren. Die Bande hatte sich schon früher zusammengefunden, um die nach Kosseir gehenden Schmugglerschiffe zu plündern - hier hackte einmal eine Krähe der anderen das Auge aus, oder vielmehr: der größere Räuber nahm dem kleineren die Beute ab, und das kommt im Leben schließlich überall vor. Zuerst hatten die Piraten ihr Versteck viel weiter südlich gehabt, wo aus einer Felsenspalte Wasser tropfte, kaum genug, um den Durst zu löschen, da sah man es auch hauptsächlich auf die Wasserfässer der gekaperten Schiffe ab.
Dann hatte der Zufall - oder vielmehr Allah - einen Piraten entdecken lassen, daß hier in dieser Höhle süßes Wasser vorhanden war, die ganze Bande war hierher übergesiedelt.
War denn das nun immer so gewesen? Der Araber konnte hierüber natürlich keine Auskunft geben. Jedenfalls nicht. Bestimmt nicht, als hier noch die Stadt Berenice blühte. Die Einwohner hätten ihr Trinkwasser sonst von hier geholt, das war gar nicht so weit, und einmal hätte die Entdeckung dieses Phänomens, daß im Meer trinkbares Wasser war, wohl erfolgen müssen.
Der Leser wird es schon wissen: Die Verödung von Berenice, das Versagen aller Brunnen in der Libyschen Wüste östlich vom Nil, hing ganz offenbar mit dieser Küstenhöhle zusammen, hier hatte die unterirdische Wasserader, die bisher alle Brunnen gespeist, einen Durchbruch gefunden.
Doch mit solchen Kalkulationen hielt man sich jetzt nicht auf.
»Es ist gut. Nun, Leute, bewaffnet euch mit den Brechstangen, die dort liegen. Folgt mir. Auch Selek kommt mit.«
Ohne eine Ahnung zu haben, was er beabsichtigte, folgten die Matrosen seinem Geheiß. Die Höhle, gegen zwanzig Meter breit, drang ebenso tief in den Felsen hinein, gleichmäßig von den Galerien begleitet, die an den Wänden entlangliefen.
An der hinteren Wand blieb Scott stehen, und obgleich das Tageslicht noch bis hierherdrang, zündete er eine Kerze an und beleuchtete eine Stelle, die nicht mit Kisten und Säcken bedeckt war, kratzte mit dem Nagel daran.
»Was für ein Gestein ist das?« wandte er sich an Flederwisch.
»Das wird ... die dunkelgraue Farbe? Hm! Das mag Basalt sein.«
»Basalt? Alle die anderen Wände bestehen doch aus geflecktem Granit.«
»Hm. Das stimmt allerdings. Hier hinten geht eben eine andere Gesteinsader, wie man es oft im Gebirge findet.«
»Das ist Zement! Künstlicher Zement!«
»Wer soll denn den aufgetragen haben? Aha, jetzt verstehe ich Sie! Die Piraten haben hier etwas vermauert. Aber woher wissen Sie denn ...?«
Flederwisch dachte daran, daß er mit diesem Kanadier schon viel wunderbarere Dinge erlebt hatte, hier waren solche Fragen überflüssig. Merkwürdig war es ja schon, daß Scott überhaupt noch gar nicht hier hinten gewesen war, und nun rückte er gleich mit Brechstangen los.
»Selek,« wandte sich Scott an diesen, »was weißt du davon, was hier hinten gemauert worden ist?«
Die Bedeutung des Wortes ›mauern‹ - im Arabischen filere - verstand der Araber recht wohl. In Aegypten ist seit uralter Zeit schon genug gemauert worden. Aber auf diese Frage hin schaute der Pirat jenen verständnislos an, und das war auch eine Antwort. Er wußte von nichts.
»Räumt die Kisten und Ballen fort,« befahl Scott.
Schnell war dies geschehen. Die Brechstange des kanadischen Hünen war die erste, welche mit Wucht gegen die Wand sauste. Der Zement brach nicht in Stücken los, er mußte abgemeißelt werden, aber es ging, und die Schicht war auch nur dünn, dann zeigte sich Granit, und dann ... kamen Fugen zum Vorschein! Hier waren kleine Quader eingemauert worden, und so überall, wo die sechs Matrosen die Brechstangen auch arbeiten ließen.
Aber Granit ist ein gar harter Stein, und wer wußte, wie tief die Quader hineingingen?
»Ich habe an Bord eine Bohrmaschine mit elektrischem Antrieb,« meinte Flederwisch, »oder wir können es auch mit Sprengung versuchen.«
In diesem Augenblick hatte Scott zu einem mächtigen Stoße ausgeholt, die Brechstange fuhr gleich durch und durch, drei der Quader auf einmal nach innen stoßend, und man hörte sie noch ins Wasser platschen.
Aber das ging nicht immer so, und die Brechstangen waren zu kurz, als daß zwei Männer ihre Kraft daran vereinen konnten, und einen größeren Baum, den man als Widder hätte verwenden können, gab es hier nicht.
Das Motorboot ging zurück, um einen solchen zu holen, der einfach im Wasser nachgeschleift wurde, auch andere Hilfsmittel, und Flederwisch selbst ging mit, ohne zu sagen, was er noch Besonderes beabsichtigte.
Unterdessen vergrößerte Scott die von ihm schon geschaffene Oeffnung, bis er den ganzen Oberkörper hindurchstecken konnte. Er blickte in eine Finsternis, und die Taucherlaterne mit ihrem Blendstrahl beleuchtete dann nur Granitwände und unten einen träge fließenden Wasserspiegel.
Das Motorboot kam zurück, außer dem Hebebaum auch das große Taucherkostüm und Sprengstoffe mitbringend. Flederwisch war an Bord geblieben. Er wolle versuchen, die ›Wetterhexe‹ in den dicht an der Küste entlanggehenden, tiefen Kanal zu bringen, dann könne sie bis dicht vor die Höhle fahren. Auch der alte Herr habe sich mit seinen drei Dienern an Bord der ›Wetterhexe‹ begeben, der ›Sambuk‹ sei schon weitergesegelt.
Scott sagte zu alledem nichts. Er ließ sich den Skaphander erklären, wie alles funktionierte, legte ihn an und stieg so gelassen in das dunkle Wasser mit seinen Rätseln hinab, wie in eine Badewanne, und nicht, als ob in der nächsten Minute eine Wasserlast von zehn Metern auf ihm ruhen würde.
Der Strom unten war doch nicht so stark, um den goldenen Bleistift allein fortzutreiben. Aber der Grund senkte sich nach dem Meere zu, so war er leicht fortgerollt worden.
Zunächst kam es Scott darauf an, zu konstatieren, wie weit die hintere Wand ins Wasser hinabreichte. Nur knappe vier Meter, und das genügte, um die Oeffnung auch bei tiefster Ebbe nicht zum Vorschein kommen zu lassen. Sie war durchweg mit quadratischen Granitsteinen gemauert worden, eine Arbeit, die nur Taucher hatten bewerkstelligen können, und zwar war das keine so einfache Arbeit gewesen; denn wenn die untere Kante auch gewölbt war, so hatte sie beim Aufführen doch gestützt werden müssen. Also eine regelrechte Maurerarbeit, nur unter Wasser beginnend.
Unterhalb dieser Mauer war also immer noch eine Oeffnung von sieben Meter Höhe, der unterirdische Fluß füllte sie vollkommen aus, er preßte sich auch hier, daher die stärkere Strömung, welche sofort aufhörte, als Scott weiter eindrang.
In diesem unterirdischen Torwege noch fesselte etwas an der Wand seine Aufmerksamkeit. Es war nichts weiter als ein tiefer Riß oder eine Riefe an der sonst glattgewaschenen Granitwand, etwa zwei Meter über dem Boden. Diese Riefe konnte nur von irgendeinem harten Gegenstand gezogen worden sein, wozu aber eine außerordentliche Kraft gehört hatte.
Scott bückte sich und zog unter seiner Bleisohle etwas hervor. Es war ein Stück flaches Eisen, die Bruchstelle noch deutlich erkennbar. Und das konnte nicht etwa von oben aus der Höhle hier herabgefallen sein, diese Stelle hier befand sich schon weiter drin im Felsen, und die Strömung trieb ja gerade entgegengesetzt, nach dem Meere zu.
Scott verfolgte den Flußlauf weiter ins Innere. Er kam in einen Steinregen. Das waren die Trümmer, welche oben mit dem Widder losgerammt wurden. Aber so groß die Blöcke auch sein mochten, und wenn sie den Taucher auch direkt auf den Helm trafen, schaden konnten sie ihm nichts, im Wasser wird das Gewicht zu sehr vermindert - natürlich immer bis zu einer gewissen Grenze, ein Block von vielen Zentnern könnte einen auch unter Wasser totdrücken.
Da fiel der Strahl seiner Laterne auf einen zylindrischen Gegenstand, der auf dem felsigen Boden lag. Es war ein Eimer. Aus was für einem Metall, das sich unter Wasser so blank erhielt? Prüfend betastete ihn die unbekleidete Hand des Tauchers, der Nagel ritzte.
Es konnte nur Aluminium sein. Aluminium wurde allerdings damals schon verarbeitet, stand aber noch immer sehr hoch im Preise, wenn auch nicht so hoch wie zur Zeit seiner Entdeckung, wo es das Gold bei weitem übertraf. Man fertigte schon Luxusgegenstände daraus - Eimer freilich noch lange nicht. Solch ein Eimer hätte noch immer seine hundert Mark gekostet.
Wie kam dieser Aluminiumeimer hierher? Nun, Scott hatte bereits seine eigenen Gedanken. Besonders jene gewaltsam erzeugte Riefe dort an der Granitwand erzählte ihm eine lange Geschichte.
Als Scott nach einer Viertelstunde wieder emporstieg, lag die ›Wetterhexe‹ bereits vor dem Eingange zur Höhle. Wir wollen es kurz machen. Es wurde unterseeisch gesprengt, und als die Dämmerung anbrach, war die ganze hintere Wand verschwunden, frei floß der Strom ins Meer hinein, und auch die Höhe dieses unterirdischen Bettes war hoch genug, um gleich die ganze ›Wetterhexe‹ hineinfahren zu lassen, allerdings mit umgelegten Masten.
»Herr Kapitän, Sie stellen mir doch Ihr Motorboot und einige Leute zur Verfügung? Ich möchte noch heute nacht in dieses geheimnisvolle Dunkel dringen, in dem ja auch am Tage Finsternis herrscht.«
Ach, was waren heute im Laufe des Tages unter den Matrosen, Unteroffizieren und Steuerleuten nicht schon für Theorien aufgestellt worden, was dies eigentlich hier alles zu bedeuten hatte!
Wenn man sich über ein Rätsel wirklich den Kopf zerbrechen könnte - keiner hätte mehr einen ganzen Schädel gehabt, auch Flederwisch nicht mehr.
Nur der junge Kanadier wollte gar nichts mehr sagen. Er hatte die Lippen zusammengepreßt und arbeitete rastlos, und es war etwas an diesem seinem Benehmen, etwas Undefinierbares, was selbst Flederwisch mit einer geheimen Scheu abhielt, auch nur eine Frage an ihn zu richten.
Uebrigens war Flederwisch, wenn er sich auch in diesem Falle gern einen Schädelbruch geholt hätte, nur um gleich dieses Rätsel zu ergründen, sonst nicht der Mann, der sich mit vielem Grübeln aufhielt, dazu war er viel zu leichtlebig oder auch viel zu energisch. Der hielt sich nicht lange mit Knüpfen auf, er hieb den gordischen Knoten lieber mit dem Schwerte durch.
»Ich komme selbstverständlich mit!!« rief er jetzt. »Nu, das lasse ich mir doch nicht nehmen, unterhalb der Libyschen Wüste eine Gondelpartie zu machen?! Ach, wenn doch jetzt Nobody hier wäre! Das ist nämlich so ein Felsenmaulwurf, wie er sich selbst immer nennt, und überall, wohin er nur kommt, da findet er auch so ein unterirdisches Labyrinth oder so etwas Aehnliches, und wenn er so zwischen Steinen und im Drecke herumpaddeln kann, das ist sein höchstes Glück. Nee, wird der ärgerlich sein, daß er nicht hier dabeigewesen ist.«
»Er wird es schon noch zu erfahren bekommen und selbst mit untersuchen.«
»Ja, aber daß wir ihm die Entdeckung dieses unterirdischen Wasserweges vorneweggenommen haben, das wird er uns nicht verzeihen können.«
Die Fahrt sollte sofort angetreten werden. Außer Flederwisch und Scott kamen nur noch zwei Matrosen mit, der Nasenkönig und Anok, ferner der Schiffsarzt der ›Wetterhexe‹, Dr. Wolfram, ein hochgebildeter Mann von fast allumfassenden Kenntnissen, der sich unter das abenteuerliche Regiment von Kapitän Flederwisch nur deshalb gestellt hatte, weil er bei dessen vielen Reisen die beste Gelegenheit hatte, seine Kenntnisse zu bereichern und dorthin zu kommen, wohin sonst vernünftige Menschen nicht so leicht kommen, wie dieser Fall hier denn auch wieder einmal bewies.
Da das große Motorboot für viel mehr Menschen bestimmt war, außerdem zur Mitnahme von Trinkwasser, so brauchte es wegen der Stabilität Ballast, und als solcher wurden, außer einigen Fässern Petroleum als Heizmaterial, große Quantitäten Nahrungsmittel mitgenommen.
»Als wollten wir unter der Erde quer durch Afrika fahren,« meinte Jochen Puttfarken, welcher Ansicht Anok mit einem ›ja ja, nee nee‹ beistimmte.
Nachdem Flederwisch Instruktionen für die ›Wetterhexe‹ zurückgelassen hatte, ging die Fahrt ab, dem sich verbreiternden Blendstrahle nach, den eine riesige Petroleumlampe mit Reflexspiegel vorausschickte.
Ueber diese Fahrt ist nichts zu erzählen. Links eine Granitwand, rechts eine Granitwand und oben eine Granitdecke. Hierbei schien es bleiben zu wollen. Auch Dr. Wolframs wissenschaftliche Theorien über das Wie, Wo und Warum dieses unterirdischen Wasserlaufes wollen wir hier nicht wiedergeben.
Es galt, den Wasserlauf bis an sein Ende zu verfolgen, dann würde man vielleicht weitere Aufschlüsse erhalten. Das heißt, wenn die Hälfte der Lebensmittel und des Petroleums verbraucht waren, dann freilich mußte man umkehren. Aber da konnte man getrost eine Woche geradeausfahren.
Eine Woche lang diesen Strom unter der Erde verfolgen!! Nein, mit solchen Gedanken durfte man sich nicht befassen, da blieb des Kopfes Räderwerk gleich vor scheuem Grausen stehen.
Die Hauptsache war, daß man immer frische Luft hatte, obgleich die glatten Felswände nichts von Rissen und Löchern zeigten, die etwa eine Ventilation nach der Oberwelt ermöglicht hätten. Für Dr. Wolfram war das gar kein Rätsel, ganz einfach, das Wasser gab diese atmosphärische Luft von sich, die es vorher an der Oberwelt absorbiert hatte.
Man ließ das Boot in der Stunde nur zwei Seemeilen machen, es bewegte sich also nicht schneller als ein langsamer Spaziergänger. Denn das Licht der Blendlaterne war doch ein sehr unsicheres, man konnte ja nicht wissen, welche Hindernisse im Wege waren, jede scharfe Ecke, ein Felsengrat unter Wasser konnte das Boot zum Sinken bringen, und auf diesem unterirdischen Strome wären die Schiffbrüchigen rettungsloser verloren gewesen als mitten im Weltmeer, welches doch wenigstens offen ist.
Ja, wenn es auch keiner dem anderen sagte, jeder rechnete im stillen mit einem künstlichen, verderbenbringenden Hindernis! Denn wer hatte die Höhle vermauert? Wozu hatte er es getan? Jeder hielt die Augen mit doppelter Wachsamkeit offen.
So war man gegen Mitternacht zwölf Meilen tief in das Erdinnere Aegyptens eingedrungen. Allerdings waren da die zahlreichen Krümmungen abzurechnen, was sich aber der Kontrolle entzog. Flederwisch, welcher der tüchtigste Nautiker war, der es an mathematischen Kenntnissen mit jedem Astronomen aufnahm, hatte erst versucht, die einzelnen Winkel, welche man machte, mit Hilfe des Kompasses zu berechnen und so die ganze Fahrlinie zu Papier zu bringen.
Bald mußte er indes diesen Versuch aufgeben. Hier unten gab es solch eine Berechnung nicht mehr. Es geht wohl, aber da gehören ganz andere Hilfsmittel dazu, ein Winkelmesser und vor allen Dingen ein Maßband.
Bisher war der Strom immer gleich breit gewesen, achtzehn bis zwanzig Meter, auch die Höhe des ganzen Tunnels blieb dieselbe.
Da plötzlich teilte sich der Strom. Die Hauptmasse des Wassers beschrieb einen großen Bogen nach links, also nach Süden, während geradeaus die Felswände viel enger zusammentraten, ohne daß das Wasser dazwischen reißender geworden wäre.
So konnte man den Weg geradeaus als einen Nebenfluß betrachten.
Es fand keine Beratung statt, ob man links oder rechts einbiegen solle. Wer konnte hier einen Rat erteilen?
»Wollen Sie geradeaus oder den breiten Weg einschlagen.«
»Wie Sie wollen - wie Sie wollen.«
Flederwisch steuerte links in den breiten Strom hinein, der also nach Süden führte.
Es änderte sich nichts an der eintönigen Szenerie. Granit, nichts als Granit und unten das schwarze, träge fließende Wasser.
Man aß zusammen und legte sich wachenweise zum Schlafen nieder.
Früh um drei Uhr wurde Flederwisch geweckt, obgleich er hätte bis um vier schlafen können. Er blickte in das aufgeregte Gesicht des Arztes.
»Wir kommen in eine Goldregion,« flüsterte dieser atemlos. »Wir haben schon mehrere goldhaltige Quarzadern passiert, sie treten immer häufiger auf, werden immer reicher, ich wollte Sie wecken.«
Flederwisch, als der Besitzer einer Perlenbank und von noch manch anderem, hatte kein Gold nötig, aber das Wort ›Gold‹ hat nun einmal für den Menschen einen ganz besonderen Klang, Flederwisch zürnte nicht, daß man ihn nicht lieber die Stunde noch hatte schlafen lassen.
Soeben passierte man wieder solch eine goldhaltige Quarzader, die sich in Meterbreite von der Decke auf beiden Seiten im Granit herabschlängelte. Es glänzte und gleißte, als wenn es pures Gold wäre, was nun freilich nicht der Fall war, wie überhaupt über das Vorkommen des Goldes sehr falsche Begriffe verbreitet sind.
Gewiß, gediegenes Gold kommt vor; in Kalifornien hat man ja Blöcke von vielen Kilogrammen gefunden, ebenso in Australien, in Alaska kratzt man es ja noch heute aus der aufgetauten Erde, aber das sind alles doch nur Ausnahmen. Wenn der Quarz nur drei Prozent Gold enthält, so ist der Minenbesitzer schon sehr zufrieden, dann lohnt es sich noch, den Quarz im Pochwerk zu zerstampfen und das Gold auszuwaschen oder mit Quecksilber auszuziehen, oder, nach der neusten Methode, mit Cyankali.
Diese Quarzader hier mochte zehn Prozent enthalten. Es war sehr schwer, eine Probe loszuschlagen; denn inzwischen hatte sich der Strom bedeutend verengt, das Wasser floß schneller, man mußte vier Knoten dampfen, um zwei vorwärts zu kommen, und an der glatten Felswand war absolut kein Halt zu bekommen, so wenig wie der Anker auf dem glatten Boden einen fand.
Und immer enger traten die Felswände zusammen, immer reißender ward der Strom, kaum kam das Motorboot noch dagegen an, aber desto mehr nahmen auch die Quarzadern zu, bis die Granitformation nach und nach ganz in Quarz überging, überall mit Gold durchsetzt, allerdings sehr spärlich, wahrscheinlich kaum wert, daß er zerpocht würde. Die Arbeit hätte mehr gekostet, als man Gold gewann. Trotzdem war dieses zu sehen, weniger wenn man das Auge dicht daran brachte, als wenn der Blendstrahl schnell darüberhuschte. Das war dann wie ein leuchtender Kometenschweif.
Schon wollte man den Kampf gegen das reißende Wasser aufgeben, den Rückweg antreten, als Anok den Arm ausstreckte.
»Ja ja, ne ne, dort ist eine Leiter!!«
Es waren deren sogar zwei, links und rechts, an jeder Wand eine eiserne Leiter, welche ins Wasser hinabführte. Dorthin kämpfte man sich noch durch, das Boot brauchte nicht an der Leiter festgebunden werden, dazu war ein eiserner Ring eingelassen, und auf beiden Seiten waren sogar geräumige Nischen eingehauen worden.
»Die Leitern führen hier nicht umsonst hinab,« sagte Flederwisch, »da muß ich hinunter. Oder wollen Sie zuerst, Mr. Scott?«
Der junge Kanadier träumte wieder einmal mit offenen Augen, hatte die Frage gar nicht gehört.
Flederwisch legte das größere Kostüm an, Dr. Wolfram das kleinere, welches Anok getragen hatte, beide ließen sich zur Vorsicht noch ein Seil unter die Arme binden, obgleich sie zum Abstieg die Leitern benutzten.
Die Lust, den Boden unter die Füße zu bekommen, wäre ihnen bald vergangen. Das Manometer zeigte schon eine Tiefe von 18 Metern an, und noch immer wollten die Leitern nicht aufhören. Aber der nach unten geschickte Blendstrahl zeigte eine goldene Linie, welche von der einen Wand nach der anderen lief, das mußten sie doch untersuchen, und nur wenige Meter noch, so hatten sie den Boden erreicht.
Ueber diesen hinweg, zwischen den beiden Wänden, führte eine Barriere, offenbar künstlich gemauert, aus Zement, und vor dieser Erhöhung hatte sich feiner Goldstaub angehäuft, genau so hoch wie die Barriere, etwa einen Viertelmeter hoch, nach unten etwas grobkörnig werdend, aber doch immer noch Staub zu nennen.
Wenn man solch ein fließendes Wasser direkt zum Auswaschen benutzen kann, da freilich ist das Gold sehr billig zu gewinnen!
Doch wer war es, der hier diese natürliche Goldquelle künstlich eingefaßt hatte? Er mußte sie schon seit längerer Zeit nicht mehr angezapft haben, die Goldquelle lief über, wenn man sich so ausdrücken darf, übrigens ganz mit Recht. Denn das Gold, welches das reißende Wasser von den Wänden losspülte, mußte sich hier vor dieser Barriere ansammeln.
Erreichte aber der Goldstaub die Höhe der Barriere, dann wurde er natürlich darüber hinweggeschwemmt, so wie es auch jetzt schon der Fall war.
Mit solchen Untersuchungen waren die beiden noch beschäftigt, als plötzlich gleichzeitig heftig an ihren Leinen gezogen wurde, die sie mit dem Motorboot verbanden. Ganz einheimisch wird man unter dem Wasser doch nie, es ist immer ein unheimliches Gefühl dabei, und so machten die beiden schleunigst, daß sie wieder an den Leitern hinaufkamen. Durch die eigene Luft konnten sie sich nicht heben lassen, sie wären dabei zu weit fortgerissen worden.
Oben sahen sie schon durch den Taucherhelm, daß die Ventile des Motors aus voller Kraft zischten, und kaum waren sie im Boote, als dieses auch schon unter Scotts Hand mit voller Fahrt davonschoß, den Weg zurück.
»Was haben Sie denn, was ist denn los?« fragte Flederwisch erstaunt, sobald er den Helm abgenommen hatte.
»Ich habe ein anderes Ziel im Auge.«
»Welches?«
»Ich kenne es selbst noch nicht genau.«
»Ja, aber ...«
»Gehorcht!!!« erklang es da in schärfstem Tone.
Hallo! Hier unter der Erde konnte der sonst so bescheidene junge Mann mit einem Male ganz anders sprechen!
Doch Flederwisch fügte sich. Er hatte von seinem Gastfreund schon zu viel Merkwürdiges zu erfahren bekommen.
Außerdem fügte Scott mit leiser Stimme gleich noch etwas hinzu.
»Sie wissen ... es treibt mich etwas, in jenen anderen Kanal einzufahren. Was, weiß ich selbst nicht. Wir werden es erfahren, wenn es so weit ist, wenn es das eiserne Schicksal bestimmt hat.«
Diese Bemerkung wäre nicht nötig gewesen, Flederwisch war auch so mit allem einverstanden.
Freilich forderte der junge Mann von seinen Begleitern eine starke Prüfung der Geduld. Jetzt war er es, der als unnahbarer Kapitän auftrat, welcher über nichts Rechenschaft zu geben braucht, welcher nicht einmal das Ziel nennt.
Und als Kapitän trat Scott auch vollkommen auf, er ließ das Steuer nicht mehr aus der einen, den Motorhebel nicht mehr aus der anderen Hand, und immer volle Kraft voraus, zwölf Meilen in der Stunde, jeder Punkt an der Wand, an dem das Auge einen Halt fand, huschte nur so vorüber, und das in einem Wasserkanal unter der Erde, der sich in zahlreichen, scharfen Krümmungen erging, jede Gefahr dem Führer gänzlich unbekannt!
Es war eine haarsträubende Fahrt! Wir wollen über dieselbe nur sagen, daß keiner ans Essen dachte, daß Dr. Wolfram seine Hände nicht mehr von der Bordwand losließ, daß der Nasenkönig seine Elefantenohren hängen ließ, daß seinem Kameraden einmal das ›ne ne‹ in der Kehle stecken blieb, und daß Flederwisch später ganz offen erklärte, er habe damals bei dieser wahnsinnigen Tunnelfahrt bereits das Zeitliche gesegnet gehabt.
Der junge Kanadier selbst aber saß unbeweglich am Steuer, keine Muskel zuckte in dem schönen, bronzefarbenen Antlitz, und verschwunden war mit einem Male der melancholische Ausdruck der Augen, welche fest dem vorausgeschickten Blendstrahl folgten, es lag jetzt vielmehr etwas Kühnes, Trotziges darin.
Als das Boot um die Ecke in jenen zweiten, nach Westen führenden Kanal bog, legte es sich auf die Seite, als ob es kentern wollte. In diesem zweiten Kanal, den wir als Nebenfluß bezeichneten, war aber die Fahrt viel ungefährlicher. Er lief fast schnurgerade aus, verengte sich auch nicht, obgleich er weniger Wasserfülle haben mochte.
Fast neun Stunden hatte diese rasende Fahrt gewährt, als das Petroleumbassin wieder nachgefüllt werden mußte, und da man dies zu spät bemerkt hatte, war eine Fahrtunterbrechung nötig.
»Na, nun sind wir doch etwas weitergekommen als bei dem vorigen Schneckengang!« meinte Scott gemütlich.
»Himmelbombenelement noch einmal!« atmete Flederwisch auf. »Mensch, müssen Sie aber Nerven haben! Sind Sie Seemann?«
»Nein, aber außer Rennmotorbooten habe ich auf den kanadischen Seen auch Segelschlitten gesteuert, und da pfeift es noch ganz anders, und wenn es beim Eissegeln auch keine Hindernisse gibt, an die man stoßen kann, so ist beim windschnellen Eissegeln doch noch eine ganz andere Sicherheit von Auge und Hand nötig.«
»Eissegeln, ja ja, ne ne,« meinte Anok nachdenklich. »Tut man das auch unter der Erde?«
Auch Scott mußte diesmal in das allgemeine Gelächter einstimmen.
Wie weit befanden sie sich wohl schon im Innern? Man rechnete nach - vielleicht 80 Seemeilen, 20 geographische.
»Heiliger Klüverbaum,« ächzte der Nasenkönig und wackelte mit seinen Elefantenohren, »da müssen wir ja bald auf der anderen Seite von Afrika wieder herauskommen?!«
Es wurde ihm erklärt, daß man so weit noch nicht war. Noch einmal so weit, dann kam erst der Nil.
Man sah sich um. Noch immer alles Granit, hier aber zeigte die Decke Spalten und hin und wieder auch ein großes Loch.
»Wie mögen diese Löcher entstanden sein, Herr Doktor?« fragte Scott. »Sind das Kanäle, welche das Regenwasser oder doch der angesammelte Tau der Wüste im Laufe der Jahrtausende durchgewaschen hat?«
»Das will ich Ihnen erklären.«
Mit diesen Worten stand der Gelehrte auf, deutete nach oben, und während das Boot noch immer langsam fuhr, begann er im Schulmeisterton:
»Nein. Mit Wasser hat die Entstehung dieser vertikalen Schächte gar nichts zu tun. Sehen Sie zum Beispiel dieses Loch hier an, unter dem wir soeben hinwegfahren - aus diesem Loche ist noch niemals ein Tropfen Wasser herausgesickert und wird auch niemals ein Tropfen Wasser herauskom ...«
Pardauz, klatsch, kladderadatsch!!!
Der nach oben blickende Gelehrte bekam aus dem Loche nicht nur einen Tropfen ins Gesicht, sondern einen ganzen Wasserfall auf den Kopf, mit einer Wucht, daß er sofort zu Boden geschleudert wurde.
Wenn das Boot sich nicht noch in Fahrt befunden hätte, es wäre sein Untergang gewesen. So traf der anhaltende Wasserstrahl nur das Hinterteil, dann war es darunter hinweg.
Aber es war nicht bei dem einfachen Wassersturz geblieben.
»War da nicht noch etwas anderes herausgeschossen?« flüsterte Scott. »Etwas wie - wie - wie eine menschliche Gestalt? Da, da, da, da, da ...«
Seitwärts von dem Wasserfall, welcher noch immer anhielt, tauchte plötzlich aus dem dunklen Strome etwas Blankes, Rundes auf, gerade wie ein Taucherhelm aussehend.
Während die anderen ihren Augen noch nicht trauten, ließ Scott schon das Boot rückwärts gehen, er griff ins Wasser, hatte etwas gepackt, hob es mit Riesenkraft ins Boot ...
Flederwisch rieb sich die Stirn.
»Ja - träume ich denn?« murmelte er. »Das ist - doch - ein Mensch - ein Mann - im - im Skaphander?!«
Gewiß, es war ein Mann, der ein Skaphanderkostüm trug.
Scott nahm die Laterne und ließ den Strahl in das Helmglas hineinfallen, so daß er das Gesicht des regungslos Daliegenden sehen konnte.
»Allmächtiger Gott! Nobody!!!«

6. In einem unbekannten Lande.

»Nobody!« echote es mit ungläubigem Staunen im Chor.
Schnell schraubte Scott den Helm ab. Da mußte jeder Unglaube schwinden. Er war es. Mit geschlossenen Augen lag er da. Doch im nächsten Moment schlug er sie auf, erhob sich auch gleich, und daß er dann mit verwirrten Blicken um sich schaute, das war begreiflich.
»Wo bin ich? Wer seid ihr?«
»Ich bin es - Edward Scott - und das ist Kapitän Flederwisch - Sie befinden sich auf einem unterirdischen Flusse, zu dem wir an der Küste des Roten Meeres zufällig den Zugang gefunden haben, und bei seiner Untersuchung sind wir hierhergekommen, gerade als Sie dort durch den Wasserfall, der aus dem Loche kommt, herabstürzten.«
Nobody legte beide Hände gegen seine Schläfen, so blickte er zur Decke empor, die hier die Stelle des Himmels vertrat.
»Zufall! Zufall!!« rief er, weiter nichts. Es war die einzige Aeußerung seines Staunens gewesen, dann war er wieder der Nobody, der sich durch nichts aus der Fassung bringen ließ, und dem entsprach auch seine erste Frage.
»Habt ihr nicht etwas zu essen hier? Seit bald zehn Stunden hat mein Magen nichts bekommen, und da ist es kein Wunder, daß er seit vier Stunden knurrt. Und erst einmal trinken, trinken!!«
Er wurde wirklich vom heftigsten Durst geplagt, obgleich er zehn Stunden lang im Brunnenwasser gesteckt hatte. Man sagte ihm, daß neben ihm süßes Wasser flösse, man reichte ihm einen Becher, er brauchte nur zu schöpfen. Nobody tat es denn auch; aber wenn Nobody es sein konnte, so war er ein ganz raffinierter Gourmand; trotz des ihn peinigenden Durstes kostete er nur einmal von dem Wasser, dabei schielte er nach den goldgekapselten Flaschenhälsen, die aus einer Kiste lugten, und erst, nachdem er den Geschmack des Wassers zur Hälfte mit Rotwein verbessert hatte, löschte er seinen Durst.
Dies also war noch in derselben Minute geschehen, da er aus dem Wasserloche geschossen war, und in der nächsten Minute machte er sich mit Heißhunger über die konservierten Speisen her, dabei die Freunde auffordernd, ihm Bericht abzustatten, wie sie hierhergekommen seien.
Es geschah. Scott übernahm den Bericht, so kurz wie möglich, und doch nicht das geringste vergessend. Nobody erfuhr alles, sogar, daß er, wenn er den verschwundenen Kakerlak mit dem Kinde wieder herbeischaffe, als Belohnung Kaiser Meneliks jüngste Schwester mit der üblichen Mitgift zur Frau erhalten solle, wodurch er zugleich zu einem abessinischen Prinzen avancieren würde, und zwar nicht nur zu einem Prinzen ohne Land. An der Hand von Meneliks Schwester baumelte eine ganze Provinz, in die man etwa das Königreich Sachsen ein paarmal hineinsetzen konnte.
»Hm, das wäre gar nicht so ohne - die schwarze Prinzessin an meine linke Vorderhand - da würde sich besonders meine Frau freuen,« brummte Nobody, während er im Scheine der Laterne ein menschliches Gesicht zeichnete.
Es waren die Züge jener wahnsinnigen Frau, die das deutsche Lied gesungen hatte, welche er aus dem Gedächtnis dem Papier anvertraute. Er hatte dieses Gesicht zwar nur einen Augenblick gesehen, und Nobody war kein besonders talentvoller Maler, aber ein vortrefflicher Skizzierer, und besonders im Porträtieren, nur so mit flüchtigen Bleistiftstrichen, suchte er seinesgleichen, wobei ihm sein fabelhaftes Gedächtnis für Physiognomien zustatten kam. Wen er einmal im Leben gesehen hatte, dessen Gesicht vergaß er niemals wieder, konnte zu jeder Zeit sein Porträt wiedergeben. Es kamen ja Ausnahmen und Irrtümer vor, wie wir es zum Beispiel bei Gretchen gesehen haben, die er als die letzte Cherokesin auch nicht wiedererkannt hatte, aber Ausnahmen bestätigen ja nur die Regel.
Während er so mit kauendem Munde skizzierte, wobei er sein Gedächtnis ganz gehörig anstrengen mußte, hörte er doch aufmerksam zu; kein Wort des Berichtes ging ihm verloren, und dabei hatte er noch immer Zeit, über etwas anderes nachzudenken.
Von dem großen Cäsar erzählt man sich ja auch, daß er gleichzeitig einen Bericht anhören, einen Brief diktieren und einen ganz anderen selbst schreiben konnte. Es mag noch andere Menschen geben, die so etwas können, und zu diesen gehörte auch Nobody. Der konnte nebenbei auch noch seinen Hunger stillen und ab und zu einen Witz machen.
Zum dritten war nämlich sein Kopf mit den Beduinen beschäftigt, die sich jetzt über ihm an der Erdoberfläche befanden, die ihn hinterlistig in den Brunnen eingesperrt hatten.
Das wäre ja vortrefflich gewesen, wenn er jetzt, vielleicht ein anderes Loch benutzend, wieder dort oben erschienen wäre, um die guten Leutchen wegen ihrer Hinterlist zur Rechenschaft zu ziehen. Da konnte er sich auch gleich mit dem Rätsel beschäftigen, welches mit dem wahnsinnigen, deutschsprechenden Weibe zusammenhing.
Aber ... das wollte doch sehr überlegt sein, ob er gleich jetzt diese Untersuchung aufnahm. Jetzt hatte er in Wirklichkeit den Beduinen das kaum gefundene Wasser wieder geraubt, und ... es gab auch noch andere Bedenken dabei. Hatte er überhaupt die Möglichkeit, wieder an die Erdoberfläche zu kommen? Das war ebenfalls sehr die Frage.
Scott war mit seinem Bericht fertig, und Nobody mit seiner Skizze, die er in seiner Brieftasche barg, ohne sie jemandem gezeigt zu haben.
Seines Taucheranzuges aus Gummistoff hatte er sich bereits im Anfange entledigt. Unter demselben trug er ein dunkles, zwar nur dünnes und enganschließendes Kostüm, in dem er sich schließlich aber auch in jeder Gesellschaft hätte sehen lassen können. Auf seinem Wüstenritt war es von dem Beduinenburnus verborgen worden.
An der Erdoberfläche hatte er nur seine Schußwaffen mit Munition, und ferner Sextant und Logarithmentafeln zurückgelassen, alles andere hatte er bei sich gehabt, als er in den Brunnen gestiegen war, der Gummianzug schützte ja vor Nässe.
»Nun erzähle mal erst, wie du eigentlich hier aus diesem Wasserloche herauskommst,« begann Flederwisch.
»Wie ich herausgekommen bin, hast du selbst gesehen, und alles andere, mein lieber Flederwisch, brauchst du gar nicht zu wissen,« entgegnete Nobody mit der ihm eigenen Rücksichtslosigkeit, die ihm aber niemand übelnehmen konnte, am wenigsten, wenn man mit ihm befreundet war. »Das werde ich dir später einmal erzählen, wenn ich Zeit dazu habe, und sollte etwas dazwischenkommen, so wirst du dies alles dereinst in meinem Tagebuche lesen können, wenn das erst veröffentlicht wird - natürlich mußt du es dir kaufen, Freiexemplare gibt's nicht, verschenkt wird nischt. Sonst will ich dir nur noch sagen, um deine kindliche Neugier zu befriedigen, daß ich in der Libyschen Wüste einen mit Wasser gefüllten Brunnen untersucht habe, in demselben war ein Deckel, ich hob ihn, da preßte mich der Wasserdruck durch das Loch, und wenn du dich nicht beeilt hättest, darunter wegzukommen, so wäre ich dir gerade auf den Kopf gefallen. So, nun weißt du alles. Und nun wollen wir erst ein bißchen Umschau halten.«
Das Boot hatte in seiner Fahrt, vom letzten Schraubenschlage erzeugt, schon seit längerer Zeit eingehalten, es trieb wieder zurück, aber ganz langsam, die Strömung war nur sehr schwach.
So näherte man sich wieder jenem Loche, aus dem das Wasser noch immer floß, aber jetzt nicht mehr zu vergleichen mit dem ersten Erguß, als der Wasserstrahl die ganze Oeffnung ausgefüllt hatte, als es ein richtiger Sturzbach gewesen war, ein Wasserfall von über einen Meter Durchmesser. Jetzt floß es nicht stärker als etwa, um einen Vergleich herbeizuziehen, eine aufgedrehte Wasserleitung.
Das war also die Menge Wasser, welche oben dem Teufelsbrunnen zufloß, aber aus einem anderen Reservoir. Denn hierdurch wurde es Nobody klar, daß der Teufelsbrunnen wie auch alle anderen Brunnen der Libyschen Wüste gar nichts mit diesem unterirdischen Strome zu tun hatten. Das heißt, dieser hatte wohl die Wassermenge des ursprünglichen Reservoirs, das einmal ausgelaufen war, aufgenommen, aber gespeist konnte er die Brunnen niemals haben.
Es waren Nobodys Augen, welche jetzt Umschau hielten. Alle vier Insassen des Bootes hatten doch das Loch gemustert, dessen Entstehung der Gelehrte erklären wollte, und sie hatten nicht die beiden grünen Drähte bemerkt, welche dort oben herauskamen, über die Decke hin und an einer Wand herabliefen, um dann in dem dunklen Wasser zu verschwinden.
Nobody mußte sie erst darauf aufmerksam machen.
»Nanu!« rief Flederwisch staunend. »Wozu sind denn diese Drähte da?!«
»Das wirst du alles dereinst in meinem Tagebuche lesen, wenn es erst gedruckt ist,« wiederholte Nobody in seiner gemütlichen Weise. »Nun muß ich aber doch noch einmal in meinen Skaphander kriechen.«
Er tat es, seine verbrauchte Luftbombe ward durch eine neue ersetzt; denn zu jedem der beiden Taucherkostüme waren mehrere zur Reserve mitgenommen worden. Er ließ sich in das Wasser hinab, den an der Wand befestigten Drähten folgend.
Schon bei sechs Meter Tiefe hatte er Grund. Die Drähte endeten in einem kleinen, eisernen Kasten - wenn es nicht Aluminium war - der in Kopfhöhe an der Wand angebracht war.
Obgleich der Kasten nicht einem unserer modernen Telephons glich, wie ein solches auch oben an dem Panzerschrank angebracht gewesen, wie Nobody es auch in dem Vulkan nahe dem Nordpol gefunden, so war es doch offenbar ein Telephon, ein elektrischer Sprechapparat, war doch auch ein Trichter und eine Kurbel vorhanden, nur sonst ganz anders konstruiert, eben zum Gebrauch unter Wasser bestimmt.
Ja, jener rätselhafte Mann, wenn er auch zu seiner Zeit in einem ausgetrockneten Brunnen gehaust hatte, mußte sich überhaupt unter Wasser ganz einheimisch fühlen, der hatte wohl noch ganz andere Apparate als nur solch einen Skaphander zu seiner Verfügung.
Sonst entdeckte Nobody nichts weiter. Ja, doch noch etwas. Auf dem schlammfreien Granitboden des Flußbettes zogen sich Riefen hin, ungefähr jenen Wagenspuren ähnelnd, welche die Räder im Laufe der Jahre auch in die härtesten Felsen eingraben. Besonders auf felsigen Gebirgspfaden, wo der Wagen angeschleift werden muß, findet man sie häufig. Die Führer wollen einem dann immer etwas von Kanonen erzählen, die Anno dazumal hier heraufgebracht worden sind, aber das ist Schwindel, hier sind niemals Kanonen, niemals Soldaten gewesen, das sind einfach die von angeschleiften Wagen hinterlassenen Spuren, auch so schon interessant genug.
Solche ähnliche Spuren zeigten sich hier, wenn auch nicht wie von Rädern herrührend, mehr dreikantig eingegraben, und am schärfsten in der Nähe dieses Telephons, das also oben mit dem Brunnen verbunden war.
Wie Nobody noch dastand, empfand er etwas, von dem er sich nicht sogleich eine Rechenschaft abgeben konnte. Eine gewaltige Erschütterung traf ihn, die nur von dem ihn umgebenden Wasser ausgehen konnte. Anders ist es nicht zu beschreiben. Sein ganzer Körper wurde durch Vibrationen erschüttert, nur für einen Augenblick, dann war es wieder vorbei.
Böses ahnend, stieg Nobody sofort empor. Da trieb das Motorboot, und die vier Insassen saßen nicht mehr in demselben, sondern sie lagen am Boden, alle das Gesicht gegen die Planken gepreßt, zwei von ihnen die Hände gegen die Ohren.
Von einer noch fürchterlicheren Ahnung gepackt, schraubte Nobody schnell seinen Helm los, noch ehe er sich in das Boot geschwungen hatte, sich nur daran mit einer Hand festhaltend. Zur augenblicklichen Beruhigung diente es ihm, daß jene wenigstens noch sprechen konnten.
»O Gott, o Gott!« stöhnte Dr. Wolfram.
»Verflucht und zugenäht!« ächzte Flederwisch.
»Nee, so 'ne Gemeenheet!« winselte Jochen Puttfarken.
»Ja ja, ne ne,« stimmte Anok bei.
Der erste, der sich aufrichtete, war Scott, und jetzt ließ auch er sich als letzter vernehmen:
»Das war eine Explosion.«
Nobody hatte es bereits erkannt. Gewiß, auch er hatte den Donnerschlag unter Wasser vernommen, leitet doch das Wasser den Schall noch viel besser fort als die Luft, aber unter Wasser klingt es doch ganz anders, dazu der Taucherhelm - kurz und gut, es war ihm gar nicht zum Bewußtsein gekommen, einen Donnerschlag gehört zu haben, nur die Erschütterung hatte er bemerkt.
Jetzt sah er sofort die Folgen der Explosion hier unten.
In dem betreffenden Loche an der Decke klemmte ein großer Steinblock, das Wasser quoll nur noch zwischen den Fugen hervor, sehr getrübt, ab und zu kleine Felstrümmer mit sich führend.
In dem wieder wasserlos gewordenen Brunnenschachte hatte eine Explosion stattgefunden. Daß Nobody sie nicht veranlaßt hatte, dessen war er sich bewußt. Er hatte eine Erklärung dafür, und sie war ohne Zweifel die richtige. Wenn nicht ein Beduine, so war der unterdessen angekommene, von Assuan geschickte Wasserbauingenieur in den wieder leergewordenen Brunnen gestiegen, die Höllenmaschine hatte funktioniert.
»Vortrefflich,« dachte Nobody zufrieden, »jetzt kann niemand mehr hinter mein Geheimnis kommen; denn wenn jener geniale Mann Vorkehrungen getroffen hat, daß sein Geheimnis kein Unbefugter zu schauen bekommt, dann hat die Explosion alles, auch alles vernichtet; denn dieser Monsieur Sinclaire hat sicher niemals etwas nur halb getan. Wenn dabei Menschen ums Leben gekommen sind, so ist das sehr bedauerlich, aber mein Gewissen spricht mich frei von jeder Schuld.«
Nun war aber Nobody auch jede Möglichkeit abgeschnitten, von hier aus wieder an die Erdoberfläche zu kommen. Dieser Schacht hier war jedenfalls in einer Höhe von fünfzehn Metern mit Felsblöcken und Trümmern angefüllt, und die anderen Löcher an der Decke führten gar nicht nach oben. Wenn man den Blendstrahl hineinschickte, sah man, wie sie sich nach oben zu immer mehr verengten, bis sie ganz aufhörten. Solche vertikale Trichteröffnungen findet man im Granit sehr häufig. Doch wir wollen Dr. Wolframs langatmiger Erklärung, die er dann später hierfür gab, nicht lauschen. Jedenfalls war der aus dem Brunnenschacht führende Tunnel von Menschenhänden gemeißelt worden, wenn auch unter Zuhilfenahme solch eines Trichters, das sah man der Oeffnung bei genauerer Besichtigung überhaupt auch an.
Nur der Luftdruck hatte die vier Männer zu Boden geworfen, eine Verletzung hatte keiner von ihnen davongetragen, auch kein Trommelfell war geplatzt, wie vor allen der elefantenohrige Nasenkönig konstatierte.
Um irgendeine Erklärung für die Explosion zu geben, sagte Nobody nur, er selbst habe in dem mit Wasser gefüllten Brunnen eine Dynamitbombe hinterlassen gehabt, die ja ihren Zweck erfüllt zu haben scheine. Alles andere würde er später einmal erzählen.
»Nun kommt es darauf an, wohin wir uns wenden, rückwärts oder vorwärts, und das hängt von der Ausrüstung des Bootes, vom Proviant ab.«
»Proviant für vierzehn Tage,« versicherte Flederwisch, »du kannst auch noch mitessen, freilich nicht so viel wie vorhin.«
Nobody war mit dieser Versicherung noch nicht zufrieden, er untersuchte den Proviant persönlich und kam zu dem Resultat, daß er sogar für drei Wochen reiche, und dasselbe galt von dem Petroleumvorrat.
»Und hast du etwas hinterlassen, wann du spätestens zurück sein willst?«
»Ja, dem Proviant entsprechend. Sind wir in vierzehn Tagen noch nicht zurück, dann soll man an Bord annehmen, daß uns etwas zugestoßen ist, dann wird das zweite Motorboot ausgeschickt, um uns zu suchen.«
»Wußtet oder ahntet ihr denn schon, daß dieser unterirdische Flußlauf so unendlich lang sein könnte?«
»Ich nicht. Ich gab, wie schon gesagt, diesen Zeitraum nur mit bezug auf den mitgenommenen Proviant an. Wenn der alle ist, und wir sind noch nicht zurück, na, dann haben wir doch auch mindestens nichts mehr zu essen, dann muß uns sowieso Sukkurs geschickt werden. Sonst ahnte ich für mein Teil nichts, wenn nicht ein anderer schon etwas geahnt hat ...«
Bei diesen Worten warf Flederwisch einen Blick auf den Kanadier, und dieser Blick erzählte Nobody sehr viel, vor allen Dingen, daß Scott dem Freunde von seinen somnambulen Eigenschaften mitgeteilt hatte.
Doch Nobody achtete jetzt nicht weiter hierauf.
»Dann also vorwärts!« rief er. »Und zwar wirklich vorwärts, stromaufwärts! Dieser unterirdische Wüstenfluß muß doch eine Quelle haben oder irgendwo von der Erdoberfläche nach unten eintreten, und diesen Ursprung muß ich finden, sogar zehn Tage halten wir es aus, ehe wir umkehren müssen, und wenn die Zurückgebliebenen auch in Sorge sind - mögen sie uns dann mit dem zweiten Motorboot entgegenfahren!«
Die abenteuerliche Fahrt wurde fortgesetzt, und mit Nobodys Dazwischenkunft sollte sie alsbald eine Wendung erhalten, eine Wendung zum Besseren.
In der nächsten Viertelstunde beschrieb der Fluß noch einige scharfe Krümmungen, einmal hatte er sich sogar wieder ostwärts gewandt, also als wollte er zurückgehen, was ja bei jedem Flusse ab und zu vorkommt, dann aber verlief das Flußbett schnurgerade, wie ein künstlicher Kanal oder Tunnel, und zwar, wie der Kompaß zeigte, immer direkt nach Westen, und dabei sollte es bleiben, bis ... bis zum Ende dieser Fahrt, deren Dauer wir noch erfahren werden. Wir dürfen der Erzählung nicht vorgreifen.
Dieses gerade Fahrwasser hatte natürlich einen Vorteil, daß man bedeutend schneller fahren konnte, und unbekümmert um alle natürlichen oder künstlichen Hindernisse, die unter Wasser mit Verderben hätten drohen können, ließ Nobody das Motorboot bis zu acht Knoten in der Sekunde machen.
Also gegen Mitternacht hatte sich Nobody zu ihnen gesellt. Denn nachmittags gegen zwei Uhr war er in den Brunnen gestiegen und hatte fast zehn Stunden darin zugebracht. An Schlaf dachte jetzt niemand, und hier unten gab es ja keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
In den nächsten Stunden nun fanden drei verschiedene Unterredungen statt, welche hier wiedergegeben werden müssen. Die erste knüpfte Nobody gleich nach der Wiederaufnahme der Fahrt mit dem Matrosen an, welcher den Namen Anok führte, ein kleiner, untersetzter Kerl mit semmelblondem Haar und blauen Augen, die Züge nicht gerade besondere Intelligenz verratend, dafür aber die sonnenklarste Ehrlichkeit.
Wer etwas von Namen versteht, hat schon gewußt, welcher Nationalität Anok war, wenigstens ungefähr.
»Du bist doch ein Isländer, Anok,« begann Nobody.
»Ja ja, ne ne,« war die unvermeidliche Antwort.
»Na, meinst du nun ja ja, oder meinst du ne ne? Bist du ein Isländer?«
»Ja ja, ne ne, Master, ich bin wirklich ein geborener Isländer, gar nicht weit von Reikholt her, was die größte Fischerstadt ist.«
»Du bist dort nur geboren, aber nicht immer auf Island gewesen.«
»Immer, Master, immer. Ich bin Fischer gewesen bis vor zwei Jahren, als Kapitän Flederwisch einmal nach Reikholt kam und mich für die ›Wetterhexe‹ anmusterte.«
Nobody kannte die Geschichte dieser Anmusterung. Etwas Besonderes mußte ja stets dabei sein, wenn Flederwisch einen neuen Mann für sein Schiff oder für seine Inseln annahm oder ihn nun gar seiner Leibgarde einreihte. Dieser Isländer hatte sich bei Gelegenheit einmal als tüchtiger Kerl vom Scheitel bis zur Sohle bewiesen.
»Hast du da etwas von Snorri Sturluson gehört?« fragte Nobody weiter.
Wie elektrisiert schnellte der Isländer von seinem Sitze auf, nahm aber auch gleich eine beleidigte Miene an.
»Ob ich den Snorri Sturluson kenne?« rief er in gekränktem Tone. »Alles habe ich von ihm gelesen, die Heimskringla, was den ›Weltkreis‹ bedeutet, die Snorra-Edda, die Weltgeschichte, die Snorri geschrieben hat, die Skallda, die Gylfa-Ginning, den Hattalykill, was der Schlüssel zur Weisheit ist - alles habe ich gelesen, alles!«
Auf Island, wo selbst die begüterten Bauern noch in Erdhütten mit Kühen und Schweinen zusammenwohnen, ist eine Volksbildung zu Hause, wovon sich der Uneingeweihte nichts träumen läßt. Dasselbe gilt aber z. B. auch vom nördlichsten Norwegen.
Doch darf man nicht gleich allzuhoch davon denken. Es hängt mit den langen, einsamen Winternächten und auch Wintertagen zusammen, da man durch Eis und Schnee abgeschlossen ist, selbst von seinem nächsten Nachbar. Da wird gelesen. Und zwar immer die alten Volkssagen, die in Büchern, von Gesellschaften verbreitet, von Haus zu Haus wandern. Sehr viel weiter als auf diese Volkssagen und was sonst mit dem Lokalpatriotismus zusammenhängt, geht die Bildung allerdings nicht.
Immerhin, das ist schon genug, aller Achtung wert! Wie viele ältere Leute, und vielleicht auch jüngere, mögen in Frankreich nicht schreiben und lesen können, weil sie keine Schule besucht haben.
In der Wüste gibt es auch keine Schule, doch kann jeder Beduine ohne Ausnahme lesen und schreiben. Der Vater lehrt es dem Sohne, das ist seine heilige Pflicht, und dasselbe gilt von vielen nördlichen Völkerschaften, wie z. B. von den Norwegern und Isländern.
Soll man einen Isländer suchen, der das Heldenepos ›die Edda‹ nicht gelesen hat! Sie können es alle auswendig. Nun soll man einmal konstatieren, wie viele aus dem deutschen Volke unser größtes, nationales Heldenwerk, ›die Nibelungensage‹, noch nicht gelesen, überhaupt noch gar nichts davon gehört haben! Das ist traurig, aber wahr.
»Na na, entschuldige nur,« meinte Nobody. »Wann hat Snorri Sturluson denn gelebt?«
»Das wissen Sie nicht?« fing aber jetzt Anok zu examinieren an.
»Ja ja, ne ne, und diesmal gilt das letztere,« gestand Nobody.
»Der ist im Jahre 1178 auf dem Hofe Hvamm geboren worden.«
»Hhhhvvvamm - soll der Teufel dieses Wort aussprechen. Und wann ist er gestorben?«
»Der ist gar nicht gestorben.«
»Ich weiß schon, er ist ermordet worden. Aber wann war das?«
»Der und ermordet worden!« machte Anok verächtlich. »Snorri Sturluson war gerade der rechte, der sich von jemandem ermorden ließ! Seine beiden Schwiegersöhne, Kolbein und Chisseur, glaubten wohl, daß sie ihn ermordet hätten, aber da hatte Snorri doch nur ihre Augen geblendet, daß sie etwas anderes für ihn hielten. Gegen Snorri Sturluson sind wir doch alle zusammen Hanswürschte.«
So sprach der patriotische Anok stolz und verächtlich. Aber hinterher erschrak er.
»Dadadadas heißt - Sie - Sie sind natürlich ausgenommen, Master - ja ja, ne ne - u-u-u-u-und der Kapitän natürlich auch - - u-u-u-u-und Doktor ...«
»Schon gut, schon gut. Du brauchst mich gar nicht auszunehmen. Ich selbst bin schon zur Erkenntnis gekommen, daß ich gegen Snorri Sturluson nur ein Hanswurscht bin ...«
»Nicht wahr?« frohlockte Anok. »Ja, das ist ein tüchtiger Kerl, ja ja, ne ne.«
»Na, wenn er aber nun nicht ermordet worden ist - auf irgendeine Weise muß er doch tot gegangen sein.«
»Snorri Sturluson? Der ist nicht tot,« erklang es ganz einfach.
»Der wäre gar nicht gestorben?«
»I wo. Der lebt noch. Der lebt noch heute im Hekla. Ja ja, ne ne.«
»In dem noch heute so furchtbar tätigen Vulkan auf Island?«
»Nu sicher. Da lebt er mit seinen Gefährten noch heute drin.«
Mit der allgemeinen Bildung war es bei diesem Isländer also doch nicht so weit her. Man konnte die Sache aber auch noch von einer anderen Seite aus betrachten. Hier handelte es sich eben um eine alte Volkssage. Man denke z. B. nur an unseren Kaiser Rotbart im Kyffhäuser.
»Sehen Sie,« nahm Anok von selbst wieder das Wort, »die Sache ist ganz einfach so. Sie wissen doch, daß Snorri Sturluson einmal zwölf Jahre lang auf Reisen gewesen ist.«
»Ja, das weiß ich, da hat er ja wohl Skandinavien bereist und die alten Runen studiert und Handschriften gesammelt.«
»Nee, das ist eben nicht wahr. Das war im Jahre 1218, da hat Snorri einmal den Hekla erstiegen, er hat hineingucken wollen, und da ist er hineingefallen oder vielleicht mit Absicht, der hat schon etwas vorher gewußt, der ist in den feuerspeienden Hekla geklettert, und da hat er irgend etwas gefunden, und von hier aus hat er nun seine Reisen gemacht, immer unter der Erde, so wie wir jetzt, überallhin ist er gereist, alle Länder hat er besucht, aber egal unter der Erde, auch unterm Meer unten durch, bis nach Amerika und noch weiter ...«
»Hallo, hallo, hallo, Amerika war ja damals noch gar nicht entdeckt!!«
Nicht etwa Nobody war es, sondern Flederwisch, der diesen Zwischenruf machte. Nobody saß ganz still da.
»Entdeckt, entdeckt!« echote Anok verächtlich, der bei Verteidigung seines Nationalhelden allen Respekt vor seinem Kapitän vergaß. »Ist es nicht erwiesen, daß wir Isländer schon weit vor Kolumbus in Amerika gewesen sind und sogar Kolonien dort gegründet hatten? Und hat man im Felsengebirge nicht chinesische Inschriften gefunden, welche beweisen, daß chinesische Seefahrer schon vor tausend Jahren nach Amerika verschlagen worden sind?«
Anok sprach die Wahrheit, und Flederwisch bereute, nicht lieber seinen Mund gehalten zu haben.
»Ja ja, ne ne, so ist es. Und so ist Snorri Sturluson egal in aller Welt herumgereist, aber egal unter der Erde, in Tunneln und unterirdischen Flußläufen, die alle vom Innern des Hekla ausgehen, denn dort ist der Mittelpunkt der Welt - ich will's nicht behaupten, aber so steht's in der Edda, und da steht doch viel Wahres drin. Nach den zwölf Jahren kam nun Snorri wieder heraus, aber weil er da in der Politik so viele eklige Geschichten gehabt hat, man hat ihn ja auch geächtet, trachtete ihm nach dem Leben, da ist er wieder in den Hekla gegangen, dafür sorgend, daß man glaubte, man hätte ihn ermordet. Und da treibt er nun im Hekla sein Wesen. Manchmal trifft er unter der Erde einen anderen Menschen, und wenn das ein heller Kopf ist und er ihm sonst gefällt, den nimmt er mit, und da machen sie nun Erfindungen zusammen - Erfindungen, ich weiß gar nicht, was für welche - so was gibt's heutzutage immer noch nicht, und Snorri hat sie schon vor achthundert Jahren gehabt - aber er verrät sie nicht, denn so heimlich ist der Snorri immer gewesen. Ja ja, der Snorri Sturluson! Ja ja, ne ne!«
An seines Nationalhelden Unsterblichkeit schien Anok gar nicht zu denken. Das mochte ihm als ganz selbstverständlich erscheinen.
Und Nobody saß noch immer ganz still da.
Es war ja nichts weiter als eine lebendig erhaltene Volkssage, die er da zu hören bekam, Snorri Sturluson war der Doktor Faust der Isländer, die einst erobernde Seefahrer gewesen sind, danach hatten sie ihren Doktor Faust umgemodelt, mit dem Hekla in Verbindung gebracht, aber ...
War Nobody nicht Zeuge geworden, daß es Erfindungen gibt, von denen die Welt noch nicht einmal etwas ahnt? Wollte jener Mann, der sich Sinclaire genannt, an sich schon ein geheimnisvolles Rätsel, diese Erfindungen nicht von einem anderen Manne erst geerbt haben? Und hatte auf dem Deckel des Tagebuches nicht der Name Snorri Sturluson gestanden? Und aus dem Brunnenschacht ging es direkt in diesen unterirdischen Fluß, dessen Aus- und Eingang vermauert war, und auch dort oben nahe dem Nordpol hatten elektrische Drähte in einen mit Wasser gefüllten Schacht geführt ...
Nobody hatte viel, viel zu denken!
»Nun, haben Sie unterwegs etwas gefunden?« fragte neben ihm Scott leise.
Nobody erwachte aus seinem Grübeln. Er wußte sofort, was jener meinte, und er erzählte laut, alle konnten es hören, denn er erzählte vorläufig ja nur seinen Wüstenritt von Edfu nach dem Tale der Verwirrung, wo er einen Brunnen untersuchen wollte, eben jenen, der ihn vorhin nach unten ausgespuckt hatte, und wie er nach dem Verluste seines Kamels die menschliche Hand aus dem Sande hatte ragen sehen und dieses Pennal hier mit dieser Zeichnung gefunden hatte.
Das Pergamentpapier ging von Hand zu Hand, Nobody sorgte dafür, daß es auch von den beiden Matrosen besichtigt wurde.
»Das ist ein Situationsplan,« sagte Dr. Wolfram, »auf den Punkt, wo sich die beiden Linien kreuzen, kommt es an.«
»Das ist ganz offenbar. Mit der Kirche und der Fichte werden wir auch schnell fertig. Aber was bedeutet die Frau, was der Stiefel mit der Strippe?«
Darauf, daß dort einmal eine Frau gestanden, ihr gegenüber ein alter Stiefel gelegen, von dessen Strippe aus man die Verbindungslinie gezogen hatte, auf diese Vermutung kam niemand.
»Das ist ein Berg oder ein Felsen, der entweder wie eine Frau aussieht oder doch solch einen Namen führt, und dasselbe gilt von dem Stiefel. Von diesem aber, wenn es ein Felsgebilde ist, kann man mit Sicherheit annehmen, daß er eine deutlich erkennbare Strippe hat, und daraus wiederum läßt sich schließen, daß der Felsen wirklich wie ein Stiefel aussieht.«
So lautete das allgemeine Urteil, nacheinander abgegeben. Nobody, der sehr gern in gewissen Fällen das Urteil von ganz einfachen Leuten hörte, hatte sogar die beiden Matrosen zuerst sprechen lassen, beide hatten dies gesagt, nur mit weniger gewählten Worten.
Flederwisch und Dr. Wolfram hatten dem nur noch beistimmen können.
»Kennt jemand von euch eine Gegend, auf welche dieser Situationsplan paßte? Es wäre ja ein sehr großer Zufall; denn wo auf der Erde kann denn das sein, aber immerhin, der Zufall ist möglich.«
Kirche, Fichte, Stiefel, Frau oder Weib oder Jungfrau oder so etwas Aehnliches? Nein, unbekannt.
»Sie, Edward?« wandte sich Nobody an den Kanadier, und ein besonderer Augenaufschlag sagte noch mehr.
»Nicht jetzt, aber wenn es so weit ist, wenn es im Buche des Schicksals verzeichnet ist, daß Sie es erfahren dürfen und sollen und müssen - dann kann ich es Ihnen sagen, nicht eher,« entgegnete Scott bedeutungsvoll, dunkel für die anderen, selbst für Flederwisch, völlig verständlich aber für Nobody.
»Trotzdem werde ich aus eigner Kraft tun, was ich kann. Es ist selbstverständlich, daß Sie alle Stillschweigen hierüber beobachten, und dennoch wollen wir unter der Hand Erkundigungen einziehen, wo in der Welt sich diese vier Bilder zusammenreimen. Auch ihr beide könnt dabei behilflich sein, Jochen und Anok. Daß ihr nicht überall mit der Tür ins Haus fallt, weiß ich von euch. Wegen der Kirche kann wohl nur eine zivilisierte Gegend in Betracht kommen, in der das Christentum herrscht, und auch nur eine nördliche, wo Fichten wachsen, die im heißen Süden nicht gedeihen.«
Wir werden aber später sehen, daß sich auch Nobody manchmal sehr irren konnte. Hier lag etwas ganz anderes vor, was er freilich jetzt nicht ahnen konnte.
Ehe Nobody das Pergament einsteckte, machte der Nasenkönig noch eine Bemerkung, die seinem Verstande sehr zu Ehren gereichte.
»Aber vergraben liegt da nichts.«
»Weshalb denn nicht?«
»Nehmen Sie doch nur an - so ganz dicht werden die vier angegebenen Punkte doch nicht zusammenliegen - und dann kann man doch auch nur so visieren, die Linien durch die Luft ziehen - und wenn man sich da nur um eine Idee irrt - Herr du meine Güte, wo soll man denn da überall paddeln, wenn da etwa eine Kriegskasse vergraben ist, da kann man doch gleich ein ganzes Feld umackern, und die Kriegskasse liegt - nun vielleicht gerade daneben.«
»Ja ja, ne ne, so ist es,« stimmte Anok seinem Kollegen bei.
Jetzt begriffen auch gleich die beiden anderen, daß Jochen Puttfarken ganz recht hatte. Nein, vergraben konnte dort nichts sein. Hier handelte es sich um etwas anderes. Aber allein wären sie nicht sogleich darauf gekommen.
Nobody hatte dies selbst schon in Erwähnung gezogen, und er wiederum konnte Puttfarken nicht so ohne weiteres recht geben. Er wußte doch etwas, zu dessen Vergraben man ein ganzes Feld und noch mehr Land braucht. Aber er sprach jetzt nicht darüber.
Dann erzählte er weiter, wie er an den Teufelsbrunnen gekommen war, den er untersuchen wollte, ohne vorläufig einen Grund hierfür anzugeben, schilderte, wie die Beduinen die neue Wasserfülle einer ›delherrah Fatme‹ zuschrieben, einer Fee aus dem Paradiese, offenbar einer Wahnsinnigen, die aber außer Arabisch noch eine andere Sprache sprechen mußte.
»Ich war begierig, das Weib zu sehen. Wie ich nun mit dem Scheich im Zelte sitze, fängt draußen plötzlich eine Mädchenstimme zu singen an: Ein Vöglein singt im Fliederstrauch ...«
Nobody hatte es wirklich gesungen, auf deutsch, seine schmiegsame Stimme etwas hoch schraubend und dabei leicht tremulierend.
Hätte er auch weitersingen wollen, er hätte es nicht getan, wäre sofort verstummt, um sich mit Scott zu beschäftigen.
Denn bleich wie der Tod war dieser zurückgefahren.
»Was - was - hat sie - gesungen?« stammelte er mühsam hervor.
Noch ehe Nobody eine Antwort geben konnte, ließ jener noch ein ›Ach!‹ hören und machte eine Handbewegung, als sei die Sache hiermit erledigt.
Jetzt war Nobody aber nun einmal stutzig gemacht worden.
»Es war offenbar eine Deutsche.«
»So? Haben Sie sie gesehen?«
»Gewiß! Hier ist ihr Konterfei.«
Nobody zog die Skizze hervor; nur einen Blick daraufgeworfen, und Scott schlug die Hände vor die Augen und sank schwer in das Boot zurück.
»Agathe!«
Solche Situationen sind schwer zu beschreiben. Man schreibt einfach das Wort ›Agathe‹ hin und macht dahinter ein Ausrufungszeichen.
Nobody ließ das Motorboot stoppen.
Eine Totenstille herrschte über dem dunklen Wasser unter der Erde.
Der ächzende Laut kam aus Nobodys Brust, und dann fand er auch Worte.
»O, Edward, Edward, warum bist du nicht mit mir gegangen?«
Der junge Mann benahm sich gefaßter als man erwartet hätte. Als er die Hände abnahm, zeigte er wieder ein ganz ruhiges Gesicht.
»Weil es nicht bestimmt war, daß ich Agathe wiederfinden sollte,« sagte er ebenso ruhig.
Da aber war es Nobody, welcher wild auffuhr.
»Und ich glaube nicht an diesen verdammten Fatalismus, ich glaube nicht daran, daß des Menschen Schicksal unwiderruflich bestimmt ist, daß er sich nicht dagegen auflehnen kann!!!«
»Aber ich glaube daran.«
»Magst du! Ich nicht! Der direkte Weg nach oben ist uns versperrt - also zurück!!«
Und schon drehte Nobody das Steuer, um das Boot zu wenden, da legte sich eine andere Hand auf den Steuerhebel, mit Riesenkraft wurde er festgehalten.
»Narr!!« zischte es in Nobodys Ohr. »Was mischest du dich in mein Schicksal ein? Weißt du denn, ob ich jenes Weib überhaupt wiedersehen will?! Ob ich nicht vielleicht Gott danke, daß ich nicht mit dir gegangen bin, weil ich ihr sonst begegnet wäre?!«
Da ließ Nobody das Steuer los, er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn - - und die Fahrt stromaufwärts ward fortgesetzt.


Granit, nichts als Granit, und westlich, westlich, immer westlich!
»Jetzt sind wir unbedingt schon unter dem Niltal hinweggefahren, jetzt geht es schon in die Wüste Sahara hinein,« sagte Nobody zwölf Stunden später.
»Es ist doch haaahnebüchen,« meinte Flederwisch langgedehnt.
»Mir bleibt der Verstand stehen,« fügte der geologische Gelehrte hinzu.
»Ich kann schon gar nicht mehr mit den Ohren wackeln,« mußte sich nun auch Jochen Puttfarken vernehmen lassen, und dann durfte auch sein Kollege nicht schweigen.
»Ja ja, ne ne, so was kommt nicht alle Tage nor.«
Es war gar nicht so hahnebüchen, und dem Doktor als Geologen sollte der Verstand eigentlich nicht stillstehen bleiben.
Daß die Sahara mit unterirdischen Wasserläufen durchzogen ist, das haben die Beduinen schon seit uralterszeiten her gewußt. Man hat es so lange nicht geglaubt, bis die Franzosen jetzt endlich in Algier anfangen, artesische Brunnen zu bohren. Tief müssen sie allerdings bohren, aber Wasser kommt überall hervor. Und wenn die Wüste dadurch auch nicht gleich fruchtbar gemacht werden kann, weil sich das Wasser gleich wieder im sterilen Sande verläuft, so ist doch eben wenigstens Trinkwasser vorhanden.
Die Männer aßen, sie tranken und schliefen abwechselnd. Sonst konnten sie sich gegenseitig oder die Granitwände ansehen. Diese zeigten jetzt auch keine Risse und Löcher mehr.
Am dritten Tage, nach der Abfahrt vom Eingänge aus, nachmittags in der zweiten Stunde, streckte Anok seinen Arm aus und sagte:
»Ja ja, ne ne, da schwimmt enne Mitze.«
Sie wurde aufgefischt. Es war zwar keine ›Mitze‹, wohl aber ein Turban aus weißer Baumwolle, die letzte Windung mit einer kupfernen Nadel zu sammengesteckt. Sonst nichts weiter.
»Eine Kupfernadel? Das sieht schon ganz saharanisch aus. Solche Kupfernadeln bekommen die Beduinen und Oasenbewohner von den Stämmen Innerafrikas, die als einziges Metall Kupfer verarbeiten.«
Ein Schluß, wie lange der Turban schon im Wasser gelegen hatte, war nicht zu ziehen. Obgleich voll Wasser gesaugt, schwamm das sehr poröse Gewebe noch.
Am Abend desselben Tages, gegen sieben Uhr, wurde Nobody aus dem Schlafe geweckt. Schon allen Gesichtern sah er an, daß etwas Außergewöhnliches passiert sein mußte, und er selbst sah auch noch die ziemlich hochgehende Welle, welche dort hinten stromabwärts rollte und auf deren Nachläufern das Motorboot jetzt tüchtig schaukelte.
Ein Phänomen, für welches auch Dr. Wolfram mit all seiner Weisheit keine Erklärung fand.
Im Scheine der Blendlaterne war die meterhohe Woge angerollt gekommen, war unter dem Boot hinweggegangen - dort hinten verschwand sie, um nicht wiederzukommen, sich nicht zu wiederholen. Das Wasser beruhigte sich wieder, und vorbei war alles.
»Das war am Ende gar so ein unterirdischer Walfisch oder so ein ähnliches Ungeheuer,« meinte Jochen Puttfarken.
Vielleicht hatte er recht. Wenigstens widersprach ihm niemand.
Am Tage darauf kam etwas anderes getrieben, nichts so Harmloses wie ein Turban oder eine ›Mitze‹ - ein menschlicher Leichnam!
Auch er wurde aufgefischt, sogar ins Boot gezogen, um ihn näher zu untersuchen. Es war ein Mann, ein Neger, völlig unbekleidet, ohne jede Verletzung, wahrscheinlich ertrunken.
Er zeigte verschiedene Tätowierungen, aber keiner der fünf Bootsinsassen war in der Völkerkunde Afrikas so bewandert, um sagen zu können, welchem großen Stamme der Mann angehöre. Das ist auch eine gar schwierige Sache.
Lange konnte die Leiche noch nicht im Wasser gelegen haben, sie zeigte kaum den ersten Grad der Verwesung, und diese Erkenntnis war schließlich die Hauptsache. Dann konnte der Mann also doch auch noch nicht vor langer Zett von der Erdoberfläche verschwunden sein, also mußte man sich nahe der Stelle befinden, wo dieser Fluß unter die Erde trat.
»Vorwärts, diese Stelle müssen wir noch erreichen!« rief Nobody.
Gleich darauf aber wurde er tiefsinnig, und Dr. Wolfram sprach die Gedanken aus, die ihn plötzlich tiefsinnig gemacht hatten.
»Was soll denn das für ein Fluß sein, schon mehr Strom, so breit und tief wie dieser hier, der in der Wüste Sahara unter die Erde tritt?«
Nobody blickte auf, er hatte eine Erklärung gefunden.
»Der Neger ist in einen Schacht gestürzt, welcher von der Erdoberfläche hier hinabführt.«
»Sollte es solch einen Schacht in der Sandwüste geben?« meinte Wolfram, der immer etwas Spöttisches an sich hatte.
»Zum Teufel, irgendwoher muß der Kerl doch gekommen sein, und das will ich ergründen!« rief Nobody ungeduldig und gab Volldampf.
Die Leiche war wieder über Bord geworfen worden.
Und weiter ging es westwärts, immer westwärts, direkt in die Sahara hinein!
»Wie lange dauert es denn noch, bis wir auf der anderen Seite von Afrika wieder herauskommen?« fragte Puttfarken einmal.
»Wenn es immer so schnurgerade weiterginge, noch elf Tage, denn wir machen innerhalb vierundzwanzig Stunden zweihundert Seemeilen. Achthundert Meilen haben wir schon hinter uns, sind schon zum dritten Teil drin in Afrika. Doch sollte es denn nur wirklich solch einen unterirdischen Kanal geben, mit Süßwasser gefüllt, der quer durch Afrika läuft? Nein, ich kann es nicht fassen!«
Am anderen Tage, am fünften der unterirdischen Fahrt, änderte sich das Aussehen der Granitdecke. Es zeigten sich Risse, Spalten und ganze Löcher.
»Die sind vom Wasser ausgewaschen,« erklärte Dr. Wolfram, nachdem er solch ein Loch genügend beäugt hatte.
»Doktor,« meinte Flederwisch, »Sie haben offenbar Ihre unglücklichen Tage, oder Sie passen nicht unter die Erde. Bei dem einen Loche erklären Sie, daß da niemals ein Tropfen Wasser herausgekommen ist und niemals einer herauskommen wird, und in demselben Augenblick, da Sie das sagen, kriegen Sie aus demselben Loche gleich eine ganze Dusche über den Kopf, und hier nun sagen Sie wieder, diese Löcher könnten nur von Wasser ausgewaschen sein. Woher soll denn in der Wüste Sahara das Regenwasser kommen?«
Der Schiffsarzt zuckte die Schultern und blieb bei seiner Behauptung, sprach etwas von angesammeltem Tau und warf mit Millionen von Jahren um sich.
Das war am frühen Morgen gewesen. Gegen Mittag begann es zu regnen. Nämlich von der Decke. Erst tröpfelte es, dann begann es aus den Rissen und Spalten und Löchern zu gießen.
»Ich denke, in der Wüste Sahara regnet's überhaupt niemals?« meinte Jochen.
»Ja ja, ne ne.«
Die anderen drei Männer, die gebildeten, sagten überhaupt nichts. Sie erwähnten dieses Rätsel lieber mit keinem Worte.
Das Regnen hörte bald wieder auf. Aber geregnet an der Erdoberfläche mußte es doch haben, mitten drin in der Sahara, und ... es war einfach unfaßlich.
Wieder hatte Anok die Petroleumlampe zu bedienen, und daher auch das Amt, scharf vorauszuspähen, auf alles, was er sah, rechtzeitig aufmerksam zu machen, und auf die blauen Augen dieses Isländers konnte man sich verlassen.
»Ja ja, ne ne, da hängt enn Emmer!!« erscholl sein Ruf.
Nobody stoppte ab und brachte das Boot durch Rückwärtsdrehen der Schraube zum augenblicklichen Stillstand.
Tatsache! Dicht vor dem Boote hing an einem Seile ein ›Emmer‹, ein Eimer aus Leder. Er hing nicht still, sondern er ward aus einem Loche durch die Decke herabgelassen. Nobody konnte gerade hineinblicken und sah darin zwei ziemlich große Steine liegen, dazu berechnet, den ungefüllten Eimer in das Wasser hinabzudrücken, und so geschah es denn auch.
Es läßt sich begreifen, daß sich der unterirdischen Schiffer keine geringe Erregung bemächtigte. Ueber ihnen befanden sich Menschen, welche durch einen Schacht aus diesem Flusse Wasser schöpften!
»Sollen wir den Eimer festhalten? Sollen wir eine Mitteilung mit nach oben gehen lassen?« erklang es flüsternd.
Nobodys Handbewegung hielt vor jedem Eingreifen zurück. Der gefüllte Eimer ging wieder hoch, Nobody betrachtete ihn aufs aufmerksamste.
»Roh gegerbtes Antilopenleder, das Seil ist von Bast,« lautete sein Urteil, und dann war der Eimer in dem Schachte verschwunden.
Das Boot wurde direkt darunter gelenkt, jetzt konnte man ihn wieder sehen, wie er in dem von oben erleuchteten, schnurgeraden Schachte, der etwa drei Viertelmeter im Durchmesser hatte, hin und her schwankte. Nobody beobachtete ihn mit der Uhr in der Hand.
Endlich hatte der Eimer das obere Ende des Schachtes erreicht, wie ein offenes Rohr lag dieser vor dem Auge des Beschauers, und obgleich es heller Mittag war, konnte man am blauen Himmel mehrere Sterne deutlich erblicken. Es ist dies eine Merkwürdigkeit, welche jeder Fabrikschornsteinmaurer kennt. Durch solch einen langen Schornstein kann man von unten aus auch am hellen Tage die Sterne sehen, welche vor der Oeffnung stehen. Es hängt dies mit einem physikalischen Gesetze der Optik zusammen.
Wie hoch der Schacht war, das von hier unten aus zu bestimmen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Da konnte man sich gleich um hundert Meter irren.
»Ich schätze die Schnelligkeit des Emporgehens auf einen Viertelmeter in der Sekunde,« sagte Nobody. »Vier Minuten zweiunddreißig Sekunden befand er sich im Schacht, das habe ich genau konstatiert. Angenommen, die Schnelligkeit bliebe dieselbe, so wäre der Schacht ungefähr siebzig Meter lang.«
»Ach wo, das sind doch wenigstens zweihundert Meter!« meinte Flederwisch.
»Irrtum, optische Täuschung. Meine Berechnung kommt der Wahrheit näher. Und die dort oben würden es wohl bleiben lassen, einen mit Wasser gefüllten Eimer an einem zweihundert Meter langen Bastseile von dieser Stärke so weit heraufzuziehen. Da gehörten ganz besondere Maschinerien dazu.«
Was war das nun dort oben für eine Stelle? Man konnte nur an eine Oase denken, oder eigentlich nur an eine Brunnenstation, wo das Wasser eben mittels eines Eimers auf langwierige Weise aus der Tiefe geschöpft wurde. Eine Vegetation gab es dort oben jedenfalls nicht.
Nobody bedauerte, im Boote keine Landkarte von Afrika mit Höhenangaben des Terrains zu haben. Keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, welche Niveauunterschiede die Wüste Sahara zeigt. War die tiefste Stelle einen oder hundert oder fünfhundert Meter über dem Meere, ohne dabei an Gebirge zu denken? Wer kümmert sich um so etwas, wenn er nicht gerade ein Geograph ist, der sich speziell mit Nordafrika beschäftigt?
Der Eimer kam nicht wieder.
»Wir müssen uns die Stelle merken, dann weiter.«
Sich diese Stelle zu merken, daß man sie wiederfand, war nicht allzu schwer, zumal nicht für Nobody. Er betrachtete aufmerksam die Risse an der Decke, dann ging es weiter.
Uebrigens war es ja auch die erste Oeffnung gewesen, durch welche man den Himmel gesehen hatte. Doch man konnte solch ein Loch schon passiert haben, ohne darauf geachtet zu haben. Jetzt schenkte man der Decke doppelte Aufmerksamkeit, fuhr manchmal im Zickzack, um in jedes Loch zu blicken, doch kam solch ein Lichtschacht nicht wieder - bis nachmittags gegen fünf.
»Ja ja, ne ne, hier hängt enne Letter!«
Richtig, eine Leiter, welche aus einem Loche herabhing und bis ins Wasser ging, halb fest, halb schlaff wie eine Strickleiter, nämlich aus starkem Kupferdraht. Die Sprossen waren stark nach unten gebogen, ein Zeichen, daß sie benutzt wurde. Auch durch diesen Schacht konnte man blicken, allerdings war die Beleuchtung schon schwach, aber doch konnte man noch erkennen, daß die Leiter bis oben hinaufführte.
Es war ein großer Moment, unvergeßlich in dem Leben dieser fünf Männer, wie sie so schweigend an der Leiter hinaufblickten. Was war dort oben?
»Na, dann mal los,« brach Nobody das Schweigen. »Alle kommen mit, wir wollen uns in diesem Falle nicht trennen, ich mag auch niemanden hier unten allein beim Boot lassen.«
»Wird uns die Leiter alle zusammen tragen?«
»Sicher. Sie hängt nicht frei, sie ist, wie ich bemerke, etwa aller fünf Meter mit Eisen in der Granitwand befestigt. Jede Abteilung trägt für sich. Wir können uns ja auch einmal alle zusammen daranhängen.«
Sie taten es. Schon das frei herabhängende Ende trug alle sechs Männer zusammen, es war gar kein Nachgeben des Kupferdrahtes zu bemerken.
Nobody bestimmte die Ausrüstung. Jeder hatte bei der Abfahrt ein Repetiergewehr und einen Revolver mitgenommen. Da Nobody seine Waffen bei den Beduinen zurückgelassen hatte, wurden ihm zwei Revolver abgegeben. In der Erwägung, daß man oben Eingeborene finden würde, deren Freundschaft zu gewinnen war, wurden die Tabaksbeutel vollgestopft.
»Wo ist der Sextant und die Logarithmentafel?«
»Ich habe keinen Sextanten mitgenommen,« entgegnete Flederwisch kleinlaut.
»Was, du bist abgefahren, ohne dafür gesorgt zu haben, eine Ortsbestimmung machen zu können?!« fragte Nobody vorwurfsvoll.
»Der erste Steuermann hatte den Sextanten von diesem Motorboot gerade benutzt, die Abfahrt ging auch so schnell, und es ging doch in einen unterirdischen Tunnel, wo keine Gestirne zu sehen sind ...«
»Na, egal,« unterbrach Nobody leichthin diese Entschuldigungen, »wir werden das ›Wo bin‹ oben schon erfahren. Ich steige voran, dann du, dann Anok, dann Mr. Scott, dann der Doktor, den Schluß bildet Jochen. Einer hinter dem anderen in drei Meter Abstand. Vorwärts!«
Aus dem an der Leiter angebundenen Boote ging die Karawane in die Höhe. Diesen Schacht schätzte Nobody ebenso wie den vorigen auf rund 70 Meter, und es zeigte sich, daß er recht gehabt.
Der Aufstieg war sehr bequem. Dieser Schacht, von der Natur geschaffen, doch offenbar nachgemeißelt, hatte im Durchmesser drei Viertelmeter; zum Ausruhen hätte man sich gegen die Wand lehnen können, nirgends war die Leiter defekt. Aber Nobody glaubte konstatieren zu dürfen, daß sie schon seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden war.
Nur der Doktor keuchte. Der gutmütige Nasenkönig nahm es mit der vorgeschriebenen Entfernung nicht so genau, er stemmte seinen dicken Schädel gegen das Hinterteil des Gelehrten und half so nach.
In fünf Minuten hatte Nobody das Ende des Schachtes erreicht. Hier oben war er mit Quadersteinen ausgesetzt, die einen Rand bildeten.
»Alle Wetter, hier sieht es ja nett aus!« flüsterte er, als er nur den Kopf oben herausgesteckt hatte.
In dieser Stellung verharrte er. Die Kletterkarawane stockte. Flederwisch hatte die erste Bemerkung gehört.
»Was gibt es?«
»Eine schöne Aussicht!«
»Was siehst du?«
»Köpfe, nichts als Köpfe.«
»Menschen?«
»Ja, Menschen genug, aber gewesene - Totenschädel und Knochen.«
Trotz dieser wenig angenehmen Entdeckung kletterte Nobody hinaus und winkte, daß ihm die anderen folgen sollten.
Es herrschte Dämmerung, welche in der heißen Zone nie lange währt. Gleich mußte die Nacht anbrechen. Noch aber war alles zu erkennen.
Ja, hier oben sah es nett aus! Zuerst wagte keiner zu sprechen.
Die ganze Umgegend sah aus wie etwa ein Hopfenfeld, auf dem nur noch die Stangen stehen, und auf jeder Stange grinste ein Totenschädel. Ebenso war der Boden über und über mit menschlichen Knochen bedeckt, daß man nur hier und da seine sandige Beschaffenheit erkennen konnte.
Die Stangen standen nicht allzu nahe zusammen, aber ihre Masse hinderte die Aussicht. Doch trat man auf die Umfassungsmauer des Brunnens, so konnte man über sie hinwegschauen, und da sah man, daß dieses Totenfeld etwa einen Quadratkilometer einnahm, in der Mitte befand sich dieser Brunnen. Darüber hinaus gewahrte man Vegetation, eine sehr üppige, auch viel hohe Bäume, und noch weiter nach allen Seiten wurde die Szenerie von Bergen abgeschlossen, die sich ohne Uebergang eines Hügellandes jäh aus dem ebenen Boden erhoben, von jener quadratischen, tafelähnlichen Struktur, wie man sie bei deutschen Gebirgen, am ausgeprägtesten in der Sächsischen Schweiz findet, nur daß die Tafelberge hier viel mächtigere Dimensionen hatten.
Vor allen Dingen natürlich wurde das Auge von diesen Totenschädeln und Knochen gebannt, weiter sah man zunächst nichts. Nur Nobody war schon einmal auf den Brunnenrand gestiegen.
»Sapperlot, wir sind zwischen Menschenfresser geraten!«
»Das ist nicht unbedingt notwendig, es können auch Siegestrophäen sein, erschlagene Feinde, es kann auch eine ehrliche Begräbnisstelle sein.«
»Ja, aber wo befinden wir uns?«
»In einer großen Oase der Wüste Sahara. Ringsumher ist alles grün.«
»Eine große Oase in der Sahara, wo mit menschlichen Knochen solch ein Kultus getrieben wird?« meinte Doktor Wolfram. »Davon ist mir nichts bekannt.«
»In der Sahara mag es genug ungeheure Gebiete geben, die noch kein Fuß eines Europäers betreten hat.«
»Aber dieses Gebirge, das könnte sich doch nicht der Beachtung entziehen.«
»Leicht genug. Besehen Sie sich nur die genaueste Spezialkarte, die wir bisher von Nordafrika besitzen.«
Zweifelt auch der geneigte Leser daran, daß es in der Sahara solch ein Gebirge geben kann, von dem man noch gar nichts weiß, so nehme auch er einmal die Landkarte zur Hand - und den Zirkel!
In der Gegend der Libyschen Wüste, in der sich Nobody zu befinden glaubte, sehen wir zum Beispiel die Oasen Tibesti und Bilma liegen. Wie groß ist die scheinbar so kleine Entfernung zwischen beiden? Allein schon sechshundert Meilen! Und ringsumher in einem Umkreis von einigen tausend Meilen ist auf der Karte einfach gar nichts angegeben!
Da darf man wohl glauben, daß es in der Sahara noch ganze Gebirge geben kann, von denen absolut gar nichts bekannt ist. Eine Karawane verfolgt genau denselben Weg wie die andere, und was links und rechts davon liegt, entzieht sich der Kenntnis. Und jeder Forschungsreisende kann doch auch immer nur die Wüste durchqueren und nicht weiter sehen, als sein Auge reicht, und ist die Straße so groß, daß das Kamel nicht einmal seinen eigenen Wasserbedarf mitschleppen kann, dann hört das Durchqueren überhaupt auf.
Dies sagte jetzt auch Nobody zu seinen Gefährten, und alle stimmten ihm bei. Dr. Wolfram äußerte sich noch ausführlicher darüber, wie wenig wir bisher von der Wüste Sahara wissen, besonders von diesem östlichen Teil.
Die Nacht brach an, nur die Sterne verbreiteten ein unsicheres Zwielicht. Schon vorhin war nichts Lebendiges zu sehen gewesen, auch die Stille der Nacht wurde durch keinen Laut unterbrochen. Selbst kein Feuer war zu sehen.
Wie sehr bedauerte jetzt Nobody, die Instrumente nicht zu haben, mit denen er nach den Sternbildern die Lage dieses Ortes hätte bestimmen können! Aber mit wiederholten Vorwürfen gab sich Nobody nicht ab.
»In einer bewohnten Gegend befinden wir uns trotzdem,« sagte er, »dieser Ort hier ist offenbar ein geheiligter, darf wahrscheinlich nur zu gewissen Zeiten von Menschen betreten werden.«
»Dort - dort - ein Feuer!« flüsterte Flederwisch mit ausgestreckter Hand.
Er hatte es zuerst gesehen, das zwischen den Stangen flackernde Lichtchen. Es konnte soeben erst angezündet worden sein, sonst hätte man es schon eher erblickt. Es konnte sich nur außerhalb des Pfahlkreises befinden, aber in dessen dichter Nähe.
Nobodys Entschluß war schnell gefaßt.
»Ich werde dieses Feuer untersuchen. Ihr wartet hier auf mich. Wie lange ihr wartet, falls mir etwas Menschliches zustoßen sollte, bleibt eurer Beratung überlassen.«
Aufrechten Ganges schritt er zwischen den Stangen hindurch, die ihn mit ihren Totenschädeln nur wenig überragten. Schon sein dunkles Kostüm schützte ihn davor, so leicht gesehen zu werden. Erst nahe dem Rande des Totenfeldes, als er an einem Feuerchen, das schon im Gebüsch brannte, zwei Gestalten unterscheiden konnte, warf er sich zu Boden und näherte sich in schlangenähnlichen Bewegungen seinem Ziele.
Das Totenfeld um den Brunnen herum schien künstlich in eine kleine Sandwüste verwandelt worden zu sein und als solche erhalten zu werden, denn gleich hinter den letzten Pfählen prangte die Gegend in üppigster Vegetation. Doch solche scharfe Grenzen kommen in der Natur auch oft genug vor, man findet sie schon sehr häufig in Aegypten. Ringsumher das fruchtbarste Land, in der Mitte eine kleine Sandfläche, die jeder Urbarmachung spottet.
Mit Leichtigkeit schlängelte sich Nobody durch das Laubwerk bis dicht heran an das Feuer. Kein Zweig hatte geknackt, kein trockenes Blatt raschelte unter seinem Leibe. Dieser Detektiv konnte sich in einen wesenlosen Schatten verwandeln.
An dem von trockenen Zweigen genährten Feuerchen kauerten zwei Männer. Der eine war ein bis auf den Schurz nackter Neger, der andere, schon älter, hatte ein gelbbraunes, arabisches Gesicht und war in einen dunkelbraunen Kaftan gehüllt. In seinem Gürtel steckte als einzige Waffe ein krummer Dolch, dessen Scheide reich mit Goldverzierungen ausgelegt war.
Die beiden sprachen eifrig zusammen unter lebhasten Gestikulationen. Es war eine für Nobody unbekannte Sprache, ihm gänzlich fremd, hatte mit dem Arabischen nicht die geringste Aehnlichkeit.
Jede Sprache hat ihren besonderen Klanglaut, ihre Eigentümlichkeit. Man mag kein Wort eines Sängers verstehen - man hört doch heraus, in welcher Sprache er singt. Man kann auch jede Sprache charakterisieren. Kolotti bumbano frikantessa - - das ist nicht etwa Italienisch, das ist gar nichts, aber es klingt wie Italienisch. Und wenn man dreimal ausspuckt und einmal niest, das ist Polnisch.
Bei dieser Sprache hier herrschte neben dem a das s und ein schnarrendes r vor. Es klang immer wie: sarrsarra sarrss sarrarra.
Ein Weile hörte Nobody diesem Zischen und Schnarren zu.
Jetzt schien sich das Gespräch um den kostbaren Dolch zu drehen, der Neger deutete darauf, der Araber nahm ihn aus dem Gürtel.
Mit einem Male horchte Nobody doch auf. Hatte er denn wirklich recht gehört? Wurde da nicht sein ... jawohl, da abermals!
»Sarrassa sarrasa Nobody sarrsarrassa ...«
An Gehörshalluzinationen litt Nobody nicht. Sein Name wurde hier ganz deutlich ausgesprochen. Oder konnte das Wort ›Nobody‹ in dieser Sprache irgend etwas bedeuten? Sicher nicht. Es war in dieser zischenden Sprache ein Fremdwort. Nein, hier wurde das Wort ›Nobody‹ als Name gebraucht, und zwar immer wieder, das ganze Gespräch drehte sich um Nobody, der wertvolle Dolch schien ein Kaufpreis zu sein.
Himmel, hier in der unbekannten Oase, fast im Zentrum der Wüste Sahara, hier hörte Nobody seinen Namen nennen, hier sprach man von ihm!
Er konnte stolz sein. Vor allen Dingen aber war er jetzt wißbegierig, um nicht gleich zu sagen neugierig. Was die beiden sich von ihm zu erzählen hatten, das mußte er wissen.
Jetzt, im Eifer des Gesprächs, fingen die beiden einmal Arabisch an.
»Allah will es.«
»Und ich sage: Nobody ist gar kein Mensch, sondern ein unsichtbares Wesen, welches die Anglisi anbeten. Er ist überall und nirgends.«
Daraufhin begannen sie wieder zu schnarren und zu zischen.
Nobody hatte genug gehört. Sie sprachen Arabisch und wirklich von ihm.
»Salam aaleikum. Wenn ihr von Nobody sprecht ...«
Die dunkle Gestalt sehen, aufspringen und mit einem gellenden Schrei ins Gebüsch stürzen, das war für die beiden ein Werk des Augenblicks.
Nobody hatte diese Flucht nicht erwartet, hatte er sich doch mit höflichem, friedlichem Gruße genähert. Nun aber dachte er auch an keine Verfolgung, die zudem in dem finsteren Walde sehr schwierig gewesen wäre.
Der Araber hatte seinen Dolch aus der Hand fallen lassen. Nobody hob ihn auf, betrachtete ihn und steckte ihn zu sich. Dann blickte er noch einmal um sich, betrachtete prüfend die Blüten eines Busches, hob ein Baumblatt auf, dann trat er das Feuer aus und machte sich auf den Rückweg. In zehn Minuten war er wieder bei seinen Gefährten.
»Wir sind in einer noch unentdeckten Oase der Wüste Sahara, in der aber der Detektiv Nobody bereits einen berühmten Namen hat.«
So begann Nobody scherzhaft, und dann erzählte er sachlich.
»Unglaublich!« sagte Flederwisch.
»Laß dein Unglaublich. Denkst du etwa, ich erzähle Märchen?«
»Ja, da weiß man aber nicht mehr, was man dazu sagen soll.«
»Wir werden das Rätsel schon noch lösen.«
»Konntest du nicht wenigstens einen der beiden festhalten?«
»Schwerlich. Diese erschrockene Flucht hatte ich nicht erwartet, außerdem wollte ich mich durchaus friedlich verhalten, und ich hätte ihn doch nur mit Gewalt festhalten können. Schadet nichts, entgehen können sie uns doch nicht. Morgen werde ich ihre Spur verfolgen. Kennen Sie den Baum, Herr Doktor, zu dem dieses Blatt gehört?«
Helles Licht wollte man nicht machen, ein Streichholz mußte genügen.
Nein, dem Gelehrten war dieses Blatt unbekannt.
»Ich bin leider zu wenig Botaniker,« sagte auch Nobody. »Mir kommt die Vegetation recht tropisch vor, tropischer, als ich sie in einer Oase der nördlichen Sahara erwartet hätte.«
Es wurde beschlossen, die Nacht im Boote zu verbringen. Als der Abstieg schon ziemlich beendet war, vertrat sich Dr. Wolfram den Fuß, daß er ihn gar nicht mehr gebrauchen konnte. Die Lampen wurden wieder angezündet, der Stiefel mußte ihm aufgeschnitten werden, Nobody konstatierte eine Flechsendehnung.
»Ja, das ist schlimm. Ich hatte für morgen ein Expedition vor.«
»Ich bleibe eben im Boot.«
»Und ich leiste Ihnen Gesellschaft,« sagte Scott sofort, und ein dankbarer Blick traf ihn.
Hier unten allein sein zu müssen - entsetzlicher Gedanke! Nobody hätte dies auch gar nicht zugelassen.
»Dann wird die ganze Bootsbesatzung überhaupt in zwei Hälften geteilt. Jochen und Anok, wer von euch will hierbleiben?«
Freiwillig keiner! Oben war es doch jedenfalls interessanter. Das Los mußte entscheiden, es fiel auf Jochen Puttfarken. Nun gab es aber auch kein Murren weiter, kein verdrießliches Gesicht.
Man setzte sich zum Abendessen nieder. Anstatt sich in Erwägungen zu ergehen, die doch gar keinen Zweck hatten, erzählte Nobody ein humoristisches Abenteuer aus seinem Leben, in Paris spielend, und er erzählte es in einer Weise, daß auch der junge Kanadier lachen mußte, während besonders Anok brüllte, daß die Felswände widertönten, und Nobody mahnte ihn nicht zur Mäßigung. Hier unten konnten sie Spektakel machen, wie sie wollten.
Da aber, als Anok noch so unbändig brüllte, hob Nobody plötzlich mit verändertem Gesichtsausdruck den Finger, augenblicklich trat lautlose Stille ein, und da hörten sie es alle.
»Hilfeee!« erklang es langgedehnt in weiter Ferne, und zwar auf deutsch.
Schon war das Motorboot im Gange, es steuerte stromaufwärts, von wo der röchelnde Hilferuf gekommen war, der Blendstrahl suchte das Wasser ab.
»Dort, dort schwimmt er!«
Der Schwimmer machte die letzten schwachen Bewegungen, das Boot hatte ihn erreicht, Nobody packte ihn beim Kragen und hob ihn herein.
Ein neues Wunder, ein neues Rätsel! Ein junger Mann oder vielmehr Herr, das Haar hatte auch im Wasser noch den sorgfältigen Scheitel in der Mitte behalten, das Kinn glattrasiert, Oberhemd, hoher Stehkragen, weiße Halsbinde, Manschetten, tadelloser Frackanzug, Lackschuhe.
»Nun brate mir jemand 'nen Stroch, aber die Beene recht knusprig!«
Er brach etwas Wasser aus, stöhnte - dann blickte er mit wirren Augen um sich, nach den Granitwänden, und starrte dann seine Retter an.
»Wer - wer seid ihr? Wie kommt ihr denn hierher?«
Jetzt bediente er sich des Englischen, aber mit einem österreichischen Akzent. Es war überhaupt unverkennbar ein Oesterreicher, wahrscheinlich sogar ein ›Weaner‹.
»Er sah aus wie ein Wiener Zahlkellner,« sagt nämlich Nobody in seinem Tagebuch.
»Diese Frage darf ich wohl erst an Sie richten. Wer sind Sie?«
»Ich - ich ...,« der junge Mann kreuzte die Arme über der Brust, »ich sage nichts.«
»So! Sind Sie über Bord irgendeines Fahrzeugs gefallen?«
»Ich sage nichts.«
»Wie lange sind Sie im Wasser gewesen?«
Der Gerettete gab gar keine Antwort mehr, er blickte zur Decke empor.
»So! Nun aber, mein Herr, muß ich Ihnen eine sehr überraschende Mitteilung machen. Kennen Sie mich vielleicht?«
Selbstverständlich blickte der Gefragte Nobody sofort wieder an, und das hatte dieser nur gewollt, um seine Augen fest in die des anderen versenken zu können.
Vergebens, das Hypnotisieren gelang nicht.
»Kennen Sie mich?«
»Nein.«
»Desto besser. Aber diesen hier werden Sie wohl kennen?«
Es war das Porträt von Monsieur Sinclaire, welches Nobody jenem entgegenhielt, und mochte er auch noch so ruhig verneinen - kannte er dieses Gesicht, Nodody hätte es sofort gemerkt.
»Nein.«
Er hatte die Wahrheit gesprochen, Nobody wußte es ganz bestimmt.
»Dann kennen Sie vielleicht diese junge Dame hier.«
Die letzte Skizze war es, die Nobody gezeichnet, die des wahnsinnigen Weibes, das Scott als seine Jugendgeliebte erkannt hatte.
»Nein.«
Ruhig hatte er es gesagt, ruhig hatte er das Bild betrachtet.
Und doch kannte er dieses Weib! Nobody hatte es gemerkt! Er war erschrocken zusammengefahren, und wenn sich dieser junge Mensch auch noch so außerordentlich in seiner Gewalt hatte, und wenn es auch sonst für das Auge keines anderen Menschen bemerkbar gewesen wäre - dem Blicke dieses Detektivs war der tödliche Schrecken nicht entgangen!
»Sie kennen dieses Weib aus dem Teufelsbrunnen also nicht?«
Wieder hatte es gewirkt, diesmal das Wort ›Teufelsbrunnen‹. Und mochte das Gesicht dieses Mannes auch mit keiner Muskel zucken, Nobodys Auge ließ sich nicht täuschen.
»Nein, mir gänzlich unbekannt, von jetzt an sage ich aber überhaupt kein Wort mehr.«
»Haben Sie Hunger?«
Der Fremde hielt sein Wort, er antwortete nicht - aber er nickte.
»Dann teilen Sie mit uns das Abendessen.«
Zweimal ließ sich der Fremde nicht dazu auffordern, er setzte sich hin und langte mit Appetit zu, als ob er zu der Gesellschaft gehöre.
Der erst nachträglich bereitete Tee war fertig, er wurde mit Rum getrunken.
»Bitte!« sagte Nobody, dem unfreiwilligen Gaste die Tasse präsentierend.
Mit einem leichten Kopfneigen wurde sie angenommen, der Fremde führte den ersten Schluck mit dem Löffel zum Munde und ... ließ Löffel und Tasse gleich fallen, sank schwer zurück und blieb regungslos liegen.
»Betäubt. Jetzt mache ich den letzten Versuch, den Störrischen zum Sprechen zu bringen, und wenn der mißlingt, dann ... ist meine Kunst zu Ende.«
Wir haben schon bei Monsieur Sinclaire gesehen, wie Nobody es machte. Er hypnotisierte den Bewußtlosen, und dieser war tatsächlich im hypnotischen Zustande. Aber hier dasselbe Resultat wie damals. Auch in der willenlosen Hypnose verweigerte der Mann den Gehorsam, jede Auskunft, war überhaupt nicht zum Sprechen zu bringen.
»Sie wollen mir nicht antworten?«
Der Hypnotisierte schüttelte den Kopf.
Nobody atmete schwer.
»Jener Mephistopheles,« murmelte er, »verstand sich selbst und seine ihm untergebenen Geister in einen Zustand zu versetzen, der mir noch viel rätselhafter ist als die Hypnose, obgleich ich sie doch selbst handhabe. Ja, der verstand überhaupt etwas mehr als ich. Schade, jammerschade, daß ich ihn in den Tod treiben mußte.«
Während seines bewußtlosen Zustandes wurden die Taschen des Fremden visitiert. Man fand absolut nichts weiter als ein Schnupftuch, ein Taschenmesser mit Korkzieher und eine silberne Uhr.
Dann suchte Nobodys fragender Blick den jungen Kanadier auf.
»Edward, dürfte ich dich jetzt einmal bitten, mir mit deiner Gabe behilflich zu sein?«
»Nein!« entgegnete Scott kurz, fast schroff. »Nein,« setzte er sanfter hinzu, »es würde mir auch gar nicht gelingen. Wenn dir dieser Mann etwas genommen hätte, dessen Verlust dir großen Schmerz verursachte - dann sofort, dann könnte ich dir helfen. Aber in diesem Falle - nein. Ich habe nicht genug Interesse daran. Da mußt du dich auf deine eigene Kraft verlassen.«
»Auf meine eigene Kraft,« wiederholte Nobody, und ein Zug von wahrhaft furchtbarer Energie trat in seinem Gesicht hervor. »Well - und Kraft und zarte Rücksicht reimen sich nicht zusammen.«
Er zog aus der Westentasche ein winziges Kristallfläschchen, entfernte den eingeschliffenen Stöpsel, brachte die Oeffnung unter die Nase des Bewußtlosen, und fast sofort schlug dieser die Augen auf, er richtete sich empor.
Er merkte, daß etwas mit ihm vorgegangen war.
»Wa ...!«
»Was haben Sie mit mir getan?« hatte er jedenfalls fragen wollen. Doch sofort erinnerte er sich seines Versprechens, er war ganz genau wieder derselbe, und dabei mußte er wissen, was man mit ihm versucht hatte, und er kannte die Fruchtlosigkeit dieses Versuchs; denn Nobody sah ein spöttisches Lächeln und wurde auch von solch einem Blicke getroffen.
»Warten Sie, das Lächeln soll Ihnen gleich vergehen.«
Mit diesen Worten hatte Nobody schnell beide Hände des ihm Gegenübersitzenden ergriffen, er schaute ihm fest in die Augen.
»Wollen Sie mir Antwort geben? - Nun? - Oder vielleicht so? - Wollen Sie mir jetzt endlich antworten? - Noch etwas?«
Wer Nobodys Methode nicht kannte, der hätte gar nicht gewußt, was er eigentlich wollte, was er tat. Denn scheinbar hatte er nur des Mannes beide Hände fest ergriffen, eine Kraftanstrengung war ihm nicht anzumerken, und bei dem anderen sah man nur, daß er plötzlich einen ganz roten Kopf bekam, und dann begann er spöttisch zu lächeln, und dann wurde er mit einem Male ganz bleich, aber noch immer sah er Nobody an und lächelte dabei, und Nobody hatte ihm doch eben dieses Lächeln vertreiben wollen.
Nobody fühlte es: noch einen Druck, dann hatte er nur zermalmte Knochen in der Hand. Und dieser Mensch lächelte ihn noch immer so höhnisch an!
Er gab ihn wieder frei, dabei etwas murmelnd, was fast wie ein Fluch klang.
Der junge Mann im Frackanzug machte seine zusammengeklebten Finger wieder auseinander, und plötzlich hielt er den rechten Zeigefinger über die große Petroleumlampe, neben welcher er saß und augenblicklich machte sich ein brenzlicher Geruch bemerkbar, und immer noch so spöttisch lächelnd, blickte er nach dem Manne, der ihm die Hände hatte zerquetschen wollen.
»Martere mich, wie du willst - von mir bekommst du nichts zu hören.«
Das sagte er aber nicht mit dem Munde, sondern eben durch diese Tat.
Im nächsten Moment hatte ihm Nobody den Arm von der Flamme geschlagen, und doch zeigte sich schon eine böse Brandwunde.
»Dieser Beweis von Standhaftigkeit ist nicht mehr nötig. Glauben Sie aber nicht etwa, daß ich Sie deshalb bewundere. Sie stehen offenbar unter dem Einflusse eines fremden Willens. Lassen Sie sich verbinden.«
Ruhig ließ der Fremde geschehen, daß Nobody ihm die Brandwunde wusch und mit Heftpflaster verklebte.
»Geht schlafen, ich werde wachen. Nein, ganz allein. Wenn mich jemand ablösen soll, werde ich ihn wecken.«
Aber Nobody weckte niemanden, er wachte die ganze Nacht allein. Flederwisch hatte sich auch mit Zigarren versehen, und Nobody rauchte, in Gedanken versunken, eine Zigarre nach der anderen, seinen Blick immer auf den Fremden gerichtet, welcher gleichfalls in friedlichem Schlummer dalag, und erst als Nobody die zehnte Zigarre geraucht hatte, den Stummel nicht über Bord, sondern ins Boot werfend, da weckte er sie alle, und da war es früh um fünf Uhr. In solch acht Stunden, wenn man so allein auf der Wache sitzt, kann man gar viel grübeln - besonders, wenn man zehn Zigarren dazu raucht.
»Ans Tagewerk! Die Sonne muß bald aufgehen. Jochen, dir übergebe ich diesen Gefangenen. Binde ihn oder binde ihn nicht, wie du willst. Ich überlasse dir alles. Aber wenn ich zurückkomme, und ich finde dich noch lebend, dann will ich auch noch diesen Fremden bei dir finden. Verstanden?«
»Zu Befehl, Master!«
Nobody, Flederwisch und Anok stiegen empor, mit schweren Sorgen um die Zurückbleibenden. Als sie die Oberwelt erreichten, rötete soeben die Morgensonne den östlichen Horizont, und als sie den ersten Blick über die Erde warf, befanden sich die drei bereits an jener Stelle, wo gestern abend das Lagerfeuer gebrannt hatte.
Die Spur der Flüchtlinge war für den erprobten Fährtensucher deutlich erkennbar, zuerst aber fesselte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
Affen und Kakadus - sieht denn das einer Oase in der Sahara ähnlich?
»Es muß eine sehr große Oase sein, vielleicht viele Quadratmeilen groß, welche eine eigene Tierwelt ernähren kann.«
»Merkwürdig, daß wir gestern, als es doch noch hell war, gar nichts von Affengeschrei und Papageiengekreisch gehört haben!« meinte Flederwisch.
»Das ist gar nicht merkwürdig,« entgegnete Nobody. »Wenn das lebenspendende Himmelslicht sich verabschiedet, schweigt stets die ganze Schöpfung in ängstlichem Schauern, bis sich die Tiere der Nacht wieder bemerkbar machen. Wir aber haben uns ja alsbald wieder unter die Erde begeben.«
Die Verfolgung der einen Fährte begann. Bald hatten sich die beiden, zuerst auseinandergesprengt, wieder zusammengefunden, und nicht lange währte es, so stieß Nobody auf einen gut angelegten und sorgsam erhaltenen Weg, welcher durch den von Schlingpflanzen durchwucherten Wald führte.
Diesen hatten die beiden Männer eingeschlagen, auch auf dem harten Wege konnte Nobody noch immer ihre Spuren ab und zu erkennen. Dann aber, als der Boden gar zu hart wurde, hörte das doch auf, da hätte nur noch die Nase eines Jagdhundes spüren können.
Mit solch einem Wege hatte Nobody freilich nicht gerechnet. Nun, so wurde eben dieser nach Südwesten führende Weg verfolgt, einmal mußte er doch nach einer menschlichen Behausung führen.
Aber so bald sollte dies nicht werden. Drei Stunden marschierten sie nun schon mit weitausgreifenden Schritten, und keine Hütte war zu sehen, kein menschliches Wesen wollte ihnen begegnen.
Da vernahmen sie in der Ferne ein mißtönendes Geschrei, sie näherten sich ihm, immer lauter erklang es.
»Das sind die Stimmen von Schakalen und Geiern,« sagte der lauschende Nobody, sie streiten sich um eine Beute, ich kenne das.«
Als sie weiter gingen, kam das Geschrei von der Seite.
»Wir wollen einmal untersuchen, um was sich die Raubtiere streiten.«
Sie drangen wieder in das Gebüsch. Mit einem Male standen sie vor einer Felswand. Sie drängten sich durch die Büsche an ihr entlang, und als sie eine Waldblöße erreichten, sahen sie vor sich einen himmelhohen Felsen aufsteigen, hundert Meter sicherlich, die Wand vollständig glatt, dabei wie aus dem Boden gewachsen. Den Umfang konnte man von hier aus gar nicht ermessen.
»Das ist ein seltsames Naturspiel,« meinte Flederwisch, »mitten aus dem Urwald steigt so plötzlich ein ganzes Gebirge empor, als hätte ein Riesenkind es als Spielzeug hingesetzt.«
»Ich kenne ein Land,« entgegnete Nobody sinnend, »wo derartige Gebirgsbildungen zum Charakter der ganzen Gegend gehören, einzig in der Welt vorkommend ... aber nein,« unterbrach er sich selbst, »wir sind ja immer direkt nach Westen gefahren. Nun wollen wir erst einmal die Streitursache dieser vierbeinigen und geflügelten Aasjäger ergründen.«
Sie verfolgten die Felswand weiter, welche zwar durchaus glatt war, aber doch pfeilerartige Vorsprünge hatte, und als sie um solch einen Pfeiler bogen, flüchteten von einem grasigen Platze Schakale und Geier, letztere erst nach einem Anlaufe sich zum Fluge aufschwingend. Andere, von Heißhunger geplagt, zeigten sich nicht so furchtsam, sie ließen die Menschen erst dicht herankommen, ehe sie die Flucht ergriffen, einige mußten fast mit Gewalt vertrieben werden.
»Ein Mensch!!«
Der Anblick war ein so schrecklicher, daß wir ihn lieber mit keinem Worte beschreiben wollen. Und dies allein war noch nicht einmal das Schrecklichste.
»Um Gottes willen, er lebt noch!«
Ja, der formlose Fleischklumpen bewegte sich, röchelte auch noch.
Hier war der Mensch vor die furchtbare Alternative gestellt, wenn er nicht feige entfliehen wollte, entweder tatenlos zuzusehen oder aus Mitleid einen Mord zu begehen.
Einen Mord? Ist es denn wirklich ein Mord, wenn der Arzt einem unheilbar Kranken oder gar einem rettungslos Verbrühten, der sich in seinen namenlosen Schmerzen windet, ein erlösendes Tränklein gibt?
Flederwisch konnte nicht mehr hinsehen, auch der Matrose mußte sich abwenden. Nur Nobody beugte sich hinab.
»Er hat bereits ausgelitten,« sagte er eine Minute später, und als er sich wieder aufrichtete, sah er totenbleich aus.
»Woher mag der ...«
Ein furchtbares Geprassel erfolgte in den Zweigen der Bäume; instinktartig wußten alle drei, daß etwas von oben käme, sie duckten sich und hielten die Arme schützend über den Kopf, eine Reflexbewegung, im nächsten Augenblick wußten sie, daß die Gefahr vorbei war, sie blickten in die Höhe - dort oben in den Zweigen eines hohen Baumes lag die Gestalt eines Menschen, der Sturz war noch nicht beendet, ein Zweig gab nach, die um sich greifenden Hände fanden keinen Halt, kopfüber stürzte der Körper noch zehn Meter tiefer und schlug so auf den harten Boden auf.
»Sarrsarrassasassas ...«
Er streckte sich und war tot. Es war ein Neger, mit einem Stück Kattun umwickelt.
»Da da da da da!« kreischte Anok förmlich auf.
Die beiden anderen folgten seinem entsetzten Blick, von hoch oben her aus der Luft kam eine menschliche Gestalt herabgesaust, umschlug sich mehrmals und verschwand im Walde. Man hörte noch den dumpfen Aufschlag.
Und da kam schon ein zweiter, ein dritter Mann von dem himmelhohen Felsen herabgesaust, der aber in horizontaler Richtung durch die Luft wirbelte, und die menschliche Gestalt, die ihm nachfolgte, war offenbar ein Weib, und jetzt kam ein Kind ...
»Wache oder träume ich denn nur?« flüsterte Flederwisch geistesabwesend.
»Dort oben auf dem Felsen wütet ein Kampf!« schrie Nobody. »Die Gegner schleudern einander herab!«
Es konnte nicht anders sein, wenn auch von einem Kampfgeschrei nichts zu hören war. Hundert Meter sind auch eine ganz bedeutende Höhe, und vielleicht war der Felsen noch viel höher.
»Da muß ich hinauf!!«
Sie eilten die Felswand entlang. Irgendwo mußte doch ein Aufstieg sein. Sie fanden keinen. Glatt wie gemauert stieg überall die Wand empor. Aber wer wußte denn, welchen Umfang dieser Felsen hatte? Vielleicht war auf der anderen Seite ein ganz bequemer Aufstieg.
Ueberall stießen sie auf Opfer des oben herrschenden Kampfes um Leben und Tod, schrecklich anzuschauen, und das Ringen dort oben, wer den anderen in den Abgrund hinabstieß, hielt noch immer an.
Entsetzt prallten die drei zurück. Dicht vor ihnen war wiederum eine menschliche Gestalt aufgeschlagen, ein Weib, und es hatte noch ein kleines Kind im Arme. Also auch Frauen und Kinder wurden dort oben nicht verschont.
Die Frau war eine formlose Masse, ihr Blut und Gehirn hatte die drei Männer bespritzt - das Kind streckte die schwarzen Aermchen nach den Männern aus.
»O Wunder, o Wunder!« schluchzte Nobody plötzlich, als er das Kind aufhob und es mit zitternder Hand untersuchte. Dem kleinen Jungen fehlte offenbar nichts, der zerschmetterte Leib der Mutter hatte es vor Schaden bewahrt.
»Nein, sein Schutzengel!« schluchzte Nobody noch immer.
Da erschollen langgedehnte Hörnersignale, nicht von oben kommend, sondern aus südlicher Ferne.
»Dort sind endlich Menschen, mit denen ich mich wohl verständigen kann. Nimm das Kind, Paul, ich will zuerst allein auskundschaften, ihr bleibt hier, stellt euch unter einen Baum oder schmiegt euch dicht an die Felswand, da seid ihr noch sicherer vor allem, was von oben gestürzt kommt.«
Nobody gab den kleinen Negerjungen seinem Freunde und eilte nach Süden. Zuerst hatte er noch etwas Wald, dann kam Steppe mit übermannshohem Grase.
Die Hornsignale währten fort. Dieser Richtung folgte er. In seiner Phantasie malte er sich aus, wie diese Hornsignale jetzt braune und schwarze Krieger zusammenriefen, um zum Sturm gegen den vom Feinde besetzten Felsen vorzugehen, und er sah schon die wilden Truppen angerückt kommen.
Allein das blieb nur in seiner Phantasie bestehen.
Was war denn das für ein fröhliches Lachen? Was waren das für helle Menschenstimmen, welche wie Hunde bellten?
Plötzlich hörte das hohe Gras auf, und Nobody sah ein Bild, so friedlich, daß es gegen jene Gräuelszenen, die er soeben geschaut, gar keinen größeren Kontrast geben konnte.
Durch die Steppe floß ein krystallklares Wasser. Auf dieser Seite, wo Nobody stand, war im hohen Grase ein Viereck herausgemäht worden, das zum Badeplatz von einem halben Dutzend schwarzer Mädchen diente.
Sie spielten. Ein Spiel, das wohl auch unsere Kinder beim Baden machen. Das eine Mädchen stand am Ufer und warf immer einen Stock ins Wasser, die anderen fünf Mädchen waren die Hunde, welche jauchzend und bellend ins Wasser dem Stocke nachsprangen, und wer ihn schwimmend zuerst erreicht hatte, nahm ihn zwischen die schneeweißen Zähne und schwamm ans Ufer zurück, brachte ihn, als Hund natürlich auf allen vieren laufend, der Herrin wieder, die sich jedesmal bückte, aus einem Körbchen etwas nahm und es dem braven Hundemädchen in den Mund steckte, worauf das Spiel von neuem begann, bellend, jubelnd, lachend, kreischend vor Lust.
Es waren nicht etwa kleine Mädchen. Es waren junge Weiber. Und sie trugen kein Badekostüm, weder mit noch ohne Spitzen, sondern sie gingen so, wie seinerzeit Eva im Paradiese, sie prangten in ihrer völligen schwarzen Unschuld, ohne sich vor den Männern zu genieren, welche dem Spiele zuschauten, wenn sie nicht eine andere Beschäftigung trieben.
So blies der eine auf einem kleinen Horn, übte sich in Signalen, und der hohe Ton des Instrumentes war ein derartiger, daß Nobody geglaubt hatte, in weiter Ferne ein tiefgestimmtes Büffelhorn zu vernehmen.
Und diese Zuschauer waren nicht etwa die Männer der badenden Frauen. Es wäre nicht nötig gewesen, daß Nobody zwei von ihnen mit Fistelstimme sich unterhalten hörte, Nobody hatte schon zu tiefen Einblick in das orientalische Leben bekommen, um hier nicht gleich das Richtige zu treffen - das waren Eunuchen, Haremswächter!
Solche Wächter, deren Augen getrost auch der eifersüchtigste Gatte die Reize seiner Frau preisgeben kann, werden natürlich nur von vornehmen und reichen Personen gehalten, und daß Nobody hier solche vor sich hatte, erkannte er auch an den abgeworfenen Gewändern der Weiber. Die feinste indische Seide aus der Provinz Lahore, welche das kostbarste Gespinst liefert, das gar nicht nach Europa kommt - solch einen Unterschied zwischen indischer und chinesischer Seide machte das Auge dieses Detektives sogar auf so weite Entfernung! - und die abgelegten Korallenschnuren, Arm- und Fußspangen und andere Schmuckgegenstände, alles Gold und von Juwelen schimmernd, bildeten ein ganzes Arsenal.
Am meisten aber wurde Nobodys bewundernder Blick von jenem Weibe gefesselt, welches immer am Ufer stand und den Hunden gegenüber die Herrin spielte, wohl auch wirklich die Herrin war.
Was für ein herrlicher Wuchs! Diese Pracht der schwellenden Glieder! Wie von einem gottbegnadeten Künstler aus tiefschwarzem Ebenholz geschnitzt! Nobody konnte sich nicht sattsehen an diesen edlen Linien. Dabei diese Kraft und Sicherheit jeder Bewegung, verbunden mit der Geschmeidigkeit einer Katze, obgleich sie doch nichts weiter tat, als daß sie ab und zu den Stock fortschleuderte und dann sich bückte, um dem Körbchen ein Stück Zucker zu entnehmen. Schon diese einfachen Bewegungen waren von einer kraftvollen Grazie, welche das künstlerlich blickende Auge des Kenners von Frauenschönheit entzückte.
Dazu kam nun noch die ganze Fremdartigkeit, es war doch eine pechschwarze Negerin, nun auch dieses kindliche Spiel in paradiesischer Unschuld - kurz, Nobody konnte keinen Blick von ihr wenden, er war wie geblendet, nur nicht von einer schneeweißen, sondern von einer tiefschwarzen Haut, die aber wie Samt glänzte, die sich auch wie Samt anfühlen mußte.
Auch ihr Gesicht bekam er hin und wieder zu sehen. Nicht die geringste Spur von jener charakteristischen Physiognomie, welche uns das Gesicht der Neger und vielleicht mehr noch der Negerinnen fast immer abstoßend macht. Das Gesicht nicht eckig sondern oval; der Mund nicht breit und aufgeworfen, sondern klein und nur mit vollen Lippen, hinter denen zierliche Perlenzähnchen blitzten; die Nase nun gar stolz und edel.
Eigentümlich war es auch, wie Nobody noch nie bei Negern gesehen hatte, daß ihr schwarzes Haar nicht wollig, sondern lang, schlicht und jedenfalls sehr weich war.
Wie alt sie war, konnte auch Nobody nicht taxieren. Es war ein gereiftes, vollbusiges Weib, aber eben da ihre Formen durch nichts verhüllt waren, hielt Nobody sie eher noch für ein Mädchen. Nach unseren Begriffen mochte sie vierundzwanzig Jahre alt sein, als Aethioperin vielleicht achtzehn, und dann hatte sie als solche das Alter, da sie heiratsfähig geworden, schon um sechs Jahre überschritten.
Où est la femme, sagt der Franzose, wenn irgendein Verbrechen geschehen oder auch nur ein Kassierer durchgebrannt ist. Wo ist die Frau. Der Franzose nimmt an, daß stets eine Frau dahinterstecken muß. An allem Unglück ist die Frau schuld. Und zum guten Teil hat der Franzose da ja auch recht.
Hier bei unserem Nobody traf es zu. Er war in den Anblick dieser schwarzen, nackten Schönheit so vertieft gewesen, daß auch sein Ohr nichts mehr hörte. Nobody hatte sich einmal von hinten beschleichen lassen.
Er merkte es erst, als er von zwei muskulösen Armen umschlungen wurde.
»Ich habe den weißen Hund gefangen, ich, ich, Ateff ben Labil,« quäkte zugleich eine hohe Stimme, die eher einem Weibe anzugehören schien denn einem Manne, der solche Arme besaß, »ich, Ateff ben Labil, und die Gnade der Fadinah wird mir leuchten!«
Bei diesen Worten war Nobody zugleich etwas vorgedrängt worden, aus dem Grase heraus, so daß er jetzt allen sichtbar war.
So sehr groß war das Unglück ja nicht, welches diesmal ›la femme‹ angerichtet hatte, nicht für Nobody. Der Kerl, dem diese Fistelstimme angehörte, sollte ihn nicht lange so von hinten festhalten können, und wenn er auch noch so muskulöse Arme besaß. Da wußte Nobody noch andere Kniffe, und es lag nur an ihm, so wäre er Herr der ganzen Situation gewesen.
Aber dann hätte er sich alles entgehen lassen, was nun weiter geschah. Nein, er ließ sich ruhig festhalten von Ateff ben Labil, der seinen Namen zweimal als Retter des Vaterlandes oder doch der Tugend seiner Herrin so hervorgehoben hatte, um in aller Bequemlichkeit Zeuge der weiteren Szenen zu werden.
Die Aufregung beim Anblicke des weißen Fremdlings war eine ungeheuere.
Die fünf Mädchen, welche die Hunde spielten, hatten sich eben wieder auf dem Lande befunden, kreischend stürzten sie sofort wieder in das Wasser und versteckten sich darin bis an die Nasenspitze, was nun freilich nicht viel von ihren schwarzen Leibern verhüllte, denn das Wasser war kristallklar.
Die vier Eunuchen hingegen waren aufgesprungen und schon in vollem Laufe, um sich auf den Frevler zu stürzen, der eine hatte auch bereits seinen Dolch gezogen. Stechen wollte sich Nobody nun freilich nicht lassen, auch nicht mißhandeln, und er berechnete schon, welchem der Angreifer er den ersten Fußtritt verabreichen solle, um sich doch lieber schnellstens seiner Klammer zu entledigen, als dieses Vorhaben schon von anderer Seite prompt ausgeführt wurde.
Hinter seinem Körper kam ein schwarzes Bein zum Vorschein, welches dem Eunuchen mit dem Dolche einen wohlgezielten Fußtritt in den Bauch gab, daß der Kerl sich gleich überschlug.
»Ich, ich habe ihn gefangen, ich, Ateff ben Labil,« quäkte wieder die Fistelstimme in Nobodys Ohr, »und wehe dem, der ihn anfaßt, bis die Fadinah über ihn entschieden hat!«
»Muskee!! Halt!!«
Hier wurde sich der arabischen Sprache bedient, und die Negerin, welche Fadinah genannt wurde, war es, die dieses ›Halt‹ gerufen hatte, worauf die Eunuchen wie die Mauern standen, nur der eine sich stöhnend den Bauch reibend.
Diese hatte sich anders benommen. Sie war ihren keuschen Kolleginnen nicht nachgesprungen, sondern hatte sich schnell gebückt und ein langes, seidenes Tuch umgeworfen, das ihren Körper völlig einhüllte, und so war sie vor den Augen des Fremden schneller und besser geschützt als ihre Gespielinnen.
Dann freilich waren es furchtbar drohende Augen, welche sich auf den vermessenen Frevler richteten.
»Mensch, wer bist du, daß du es wagst, mich und meine Gespielinnen beim Baden zu überraschen!?« begann die Fadinah mit unheilvoller Stimme.
Nobody hatte dieses schwarze Gesicht nun schon studiert, das war keine gewöhnliche Negerin, das waren hochintelligente Züge, das war ein Weib, das sich bewußt war, ein Weib zu sein, und Nobodys Plan war fertig.
»Der Zufall, ein Hörnerklang, dem ich folgte, führte mich hierher, da sah ich dich, und lange, lange Zeit habe ich dort im hohen Grase verborgen gestanden und habe dich angeschaut.«
Als habe sie nicht recht gehört, so beugte sie sich vor.
»Du hast - mich - und meine Freundinnen - heimlich - beobachtet?!«
»Nicht deine Freundinnen - ich sah keine anderen - ich sah nur dich - und ich konnte den Blick nicht von dir wenden.«
Das schwarze Gesicht der Negerin wurde noch dunkler - ein Zeichen, daß ihr das Blut in die Wangen stieg. Aber die drohende Haltung behielt sie bei.
»Mensch, Mensch, und das wagst du mir auch noch zu gestehen!?«
»Eben, weil ich ein Mensch bin, wußte ich nicht, was ich tat, dein Anblick betäubte mich.«
Das schöne Gesicht wurde noch dunkler, offenbar wurde sie jetzt auch verlegen, und Nobody weidete sich an dieser ihrer Verlegenheit. Aber aus ihrer Rolle fiel sie doch nicht.
»Weißt du, wer ich bin?«
»Du bist ein schönes Weib.«
»Ich bin die Fadinah von Godscham!«
»Für mich bist du das schönste Weib, das ich je geschaut habe, und ich bin die ganze Welt durchreist und habe schon viele schöne Frauen gesehen, aber keine kann sich mit dir vergleichen.«
Die Verlegenheit wurde noch größer, und doch wollte sie zürnen.
»Mensch, du bist des Todes!!«
»Nachdem ich dich geschaut habe, hat der Tod keine Schrecken mehr für mich.«
»Du wirst eines martervollen Todes sterben!«
»Wenn du dabei zugegen bist, so werde ich dich anblicken und alle Martern mit freudigem Lächeln ertragen, denn dann darf ich doch wenigstens zu deinen Füßen sterben.«
Hastig wandte sich das Weib, welches sich selbst die Fadinah nannte, von dem Gefangenen ab.
Sie rief etwas in jener zischenden Sprache, und alsbald plätscherten die fünf schwarzen Jungfrauen im Evakostüm davon, während die vier Eunuchen die Kleider und die Schmucksachen ergriffen und in dem hohen Grase verschwanden. Dort mochten die Mädchen Toilette machen. Niemand kam wieder.
Nobody hatte gesiegt, nur durch Worte, vielleicht auch schon durch seine Stimme, der er einen solch schmeichelnden Klang verleihen konnte.
In diesem Augenblick hatte er einen eigentümlichen Gedanken: ob mir das jener Monsieur Sinclaire, der die spanische Tänzerin gebändigt hatte, wohl auch nachmachen könnte?
Doch noch immer wurde er von dem einen der Eunuchen von hinten festgehalten, und gerade deswegen konnte Nobody stolz auf seinen Sieg sein, denn gerade sehr edel war diese seine Stellung nun nicht, die er vor dem Weibe einnahm.
Diese hatte ihn, während sich die anderen entfernten, heimlich von der Seite beobachtet. Dann trat sie wieder auf ihn zu.
»Wer bist du? Wie kommst du in mein Land, dessen Grenzen so eng mit Wachen besetzt sind?«
»Ich bin ein Mann, den keine Wachen aufhalten können.«
»Oho! Wer bist du denn?«
»Ich bin ein Mann, dessen Name in deinem Reiche schon sehr bekannt ist.«
Die Negerin stutzte. Dann machte sie ein sehr ungläubiges Gesicht.
»Ich sehe dich zum ersten Male.«
»Das mag wohl sein. Und trotzdem ist mein Name in deinem Lande schon bekannt, die Leute deines Volkes sprechen ihn schon geläufig aus.«
»Wie ist denn da dein Name? So nenne ihn doch.«
»Nobody!«
»Du lügst!« fuhr da das Weib wild auf. »Du kannst nicht Nobody sein!«
Also doch! Nobody war unterdessen zu der Ansicht gekommen, daß mit dem ›nobody‹, das er gestern abend aus dem Munde der beiden vernommen hatte, er doch nicht gemeint sein könne. Wie sollte sein Name denn hier in der weltentrückten Oase bekannt sein! Jetzt hatte er nur einmal auf den Busch klopfen wollen - und siehe da, es war wirklich so, auch dieses Weib mußte mindestens schon von dem anglo-amerikanischen Detektiven gehört haben!
Dadurch mehrten sich die Rätsel nur noch. Nun, Nobody war ja jetzt auf dem besten Wege, sie zu lösen.
»Weshalb soll ich lügen? Weshalb könnte ich denn nicht Nobody sein?«
»Weil Nobody kein gewöhnlicher Mensch ist. Nobody ist ein unsichtbares Wesen, und Nobody ließe sich nicht von einem Eunuchen gefangennehmen und wie ein Kind festhalten,« erklang es verächtlich zurück.
»Du meinst, dieser Eunuche könnte mich festhalten, wenn ich nicht wollte?«
»Beweise, daß es anders ist!«
»So sage dem Manne, daß er mich recht fest packen soll.«
Eine Aufforderung dazu war nicht nötig, der Eunuche hatte die arabisch geführte Unterhaltung verstanden, und der riesenhafte Mann packte mit seinen muskulösen Fäusten, die Nobodys Handgelenke umspannten, während er ihm zugleich die Arme an den Leib preßte, erst recht fest zu.
»Paß auf, im nächsten Augenblick wird sich das Blatt gewendet haben.«
Es war nur ein kleiner Kniff, den Nobody anwendete. Freilich muß er gelernt sein, wenn so etwas überhaupt zu lernen geht.
Blitzschnell hatte er seine Füße nach hinten um die Beine seines Gegners geschlungen, und indem er seinen Oberkörper mit Macht nach rückwärts warf, zog er jenem die Füße vom Boden weg, mit einem gewaltigen Plauz schlug der Riese auf den Rücken, Nobody lag auf seinem Leibe, und ob es nun Absicht war oder nicht, Nobodys Hinterkopf schlug jenem ins Gesicht, daß das Blut gleich aus der Nase spritzte und der Eunuche nicht mehr daran dachte, seinen Gefangenen festzuhalten.
Es ging dies alles schneller, als es sich hier erzählen läßt, im nächsten Augenblick stand Nobody schon wieder auf den Füßen, man hatte ihn eigentlich gar nicht stürzen sehen - und damit nicht genug, er bückte sich noch einmal mit einem blitzschnellen Griffe, und da sauste auch schon der Eunuche trotz seiner Schwere wie ein Federball durch die Luft und verschwand in dem hochaufspritzenden Wasser des Flusses.
Ruhig, als ob nichts geschehen wäre, stand Nobody da.
»Wenn du glaubst, daß sich nur Nobody von diesem Manne hätte befreien können - genügt dir da dieser Beweis, daß ich es wirklich bin?«
Die Negerin kämpfte mit der furchtbarsten Aufregung, was sich besonders durch das Wogen des Busens unter dem dünnen Gewände verriet, während sie Nobody mit glühenden Blicken betrachtete, die ihn zu verschlingen drohten.
Dann streckte sie den Arm aus, er deutete flußabwärts.
»Geh - geh jetzt,« stieß sie atemlos hervor, »dort wirst du eine Brücke finden - dort warte, bis ich dich abholen lasse!«
»Du gestattest wohl, daß ich erst meine Gefährten hole.«
»Du hast Gefährten?«
»Zwei.«
»Wo sind diese?«
»Sie warten auf mich dort an jenem Felsen, auf welchem ein Kampf tobt.«
Die Aufregung des Weibes verwandelte sich sofort in Bestürzung.
»Ein Kampf - ein Kampf sagst du!?«
Sie spähte in die Ferne, Nobody drehte sich um. Zum ersten Male sah er jenen Felsen in einiger Entfernung, so daß er einen Gesamteindruck bekam.
Es war solch ein Tafelberg, wie er sie schon von dem Brunnen aus gesehen hatte. Das Wort ›Tafelberg‹ sagt alles. Nur seltsam war es, wie er sich so plötzlich jäh aus der Ebene erhob.
Doch von dem oberen, flachen Teile war auch von hier aus nichts zu sehen, und selbst wenn sich die Kämpfenden dicht am Rande befunden hätten, wären sie kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen gewesen. So groß war die Höhe des Tafelberges.
»Ein Kampf findet dort oben statt?« wiederholte die Negerin.
»Ich vermute so. Ich kam vorhin vorbei, es stürzten Menschen herab, sie wurden mit Gewalt herabgeschleudert, Männer und Frauen und Kinder ...«
»Wehe, wehe, die Udlindschis haben auch meinen Rassamharra besetzt!!«
Mit diesem Rufe des Entsetzens stürzte das Weib davon, verschwand in dem hohen Grase. Nobody blickte ihr nach, folgte ihr, weniger um ihr nachzugehen, als erst einmal die Brücke zu sehen, denn in dieser angedeuteten Richtung war auch sie davongestürzt.
Er brauchte nur wenige Schritte zu gehen, so hörte das hohe Gras auf, es war abgemäht, und richtig, dort befand sich eine Brücke, sehr primitiv aus Bambusstäben gebaut.
Auf der anderen Seite des Flusses war im Gegensatz zu dieser dichter Wald. Nobody glaubte zwischen den Stämmen etwas wie Hütten zu sehen, genauer unterscheiden konnte er es nicht. Von der Brücke aus mußte er einen freieren Blick haben. So begab er sich dorthin.
Richtig, der Wald bestand, wenigstens auf der Flußseite, nur aus einem dichten Saum von Bäumen, meist Akazien, deren eigentliche Heimat Afrika ist; sie umschlossen ein Hüttendorf, schon mehr eine Stadt, es waren recht ansehnliche Gebäude darunter.
Der festgestampfte und von allem Gras befreite Weg führte aus dem Dorfe heraus über diese Brücke und weiter nach Norden, von wo Nobody gekommen war, er hatte ihn vorhin nur nicht gesehen.
Jetzt verfolgte er ihn rückwärts, und er führte denn auch direkt auf jenen Felsen zu, den das Weib in der schnarrenden Sprache, die hier die des Volkes zu sein schien, während das Arabische von den Gebildeten gesprochen wurde, Rassamharra genannt hatte - ›mein‹ Rassamharra.
Dann aber, wollte er zu seinen Freunden stoßen, mußte er den Weg doch wieder verlassen. Er kam an mehreren zerschmetterten Leichen vorbei, er glaubte indes in der Nähe des Felsens, wo er schon einmal gegangen war, konstatieren zu können, daß keine weiteren Opfer hinzugekommen waren.
Dort, wo er sie verlassen, waren Flederwisch und Anok nicht zu sehen. Aber da lag auf einem Felsblock ein Stück Papier, mit einem Stein beschwert.
»Wir marschieren einmal um den Felsen herum und kommen hierher zurück,« stand mit Bleistift darauf geschrieben.
Nobody fand es nur lobenswert, daß Flederwisch hier nicht tatenlos gewartet hatte. Manch anderer hätte sich doch lieber an die Wand geschmiegt oder gar unter einem Busche verkrochen.
Da kamen die beiden schon wieder. Flederwisch hatte noch immer das Kind auf dem Arm, wiegte es nach allen Regeln der Kunst hin und her.
»Fünfhundert Meter im Durchmesser hat dieser Berg mindestens,« rief er schon von weitem, »wir haben zu seiner Umgehung eine gute halbe Stunde gebraucht. Auf der anderen Seite liegt noch ein ganzer Haufen Leichen, dort sind sie summarisch heruntergeworfen worden, und zwar auch schon Tote und Verwundete. Du, nun verschaffe aber mal erst mit deiner Weisheit diesem kleinen Schreihals Milch, ich kann ihm keine geben.«
Das Entsetzen über die herabgeschleuderten Menschen hatte nicht lange gewährt. Flederwisch sprach schon ganz gleichgültig darüber; denn auch er hatte so wie Nobody schon zu viele Schlachtfelder und Blut und Leichen in anderer Weise gesehen, um noch vor dem Tode in irgendwelcher Gestalt zurückzuschrecken, wenn deswegen auch durchaus von keiner Gefühllosigkeit die Rede zu sein brauchte. Nur gerade diese Art des Todes, wie die lebenden Menschen von oben herabgesaust kamen, wie man sie sich erst noch in der Luft überschlagen sah, um dann vor ihren Augen am Boden jählings zu zerschmettern, das war ihnen neu gewesen, so etwas hatten sie noch nicht erlebt, und daher auch zuerst ihr namenloses Entsetzen. Nun war das schon wieder vorbei.
»Welcher Art sind die Verwundungen?« fragte Nobody zunächst.
»Ja, das wollte ich dir auch gleich sagen. Außer Hieb- und Stichwunden, die man nicht weiter beurteilen kann, auch viele Schüsse. Nun sieh hier diese Kugel. Sie lag am Boden neben einem Kerl, der eine Wunde in der Brust hatte, die schwere Kugel hat sich wahrscheinlich herausgesenkt.«
Nobody nahm das ihm gereichte Geschoß.
»Hm. Das ist eine neunmillimetrige Spitzkugel aus dem modernsten Hinterlader.«
»Das denke ich auch, und eben das wollte ich dir mitteilen.«
Nobody blickte an der steilen Felswand empor.
»Hast du Schüsse gehört?«
»Keinen einzigen.«
»Hm. So hoch ist das nicht, daß man keinen Schuß hören sollte, und der Kampf hat offenbar gerade zu der Zeit stattgefunden, als wir vorhin an den Felsen kamen. Sehr merkwürdig! Hast du einen Aufstieg gefunden?«
»Nichts derartiges. Die Wand ist überall glatt wie eine Mauer.«
»Nun, wir wissen wohl, wie jene Leute, welche diese Spitzkugeln verschießen, dort oben hinaufgekommen sind, wie?«
»Das denke ich auch. Unten vom Flusse aus, und der Oesterreicher gehört mit zu der Schwefelbande, die ihre Eroberungszüge im Frack und in Lackschuhen zu machen scheinen. Hast du jemanden getroffen? Weißt du denn nun, wo wir uns eigentlich befinden?«
»Komm mit, ich erzähle es dir unterwegs.«
Nobody nahm das Kind auf den Arm, betrachtete es noch einmal.
Auch dieser etwa einjährige Junge war ein Neger mit pechschwarzer Haut, zeigte aber nicht das den Negern sonst eigentümliche wollige Haar, das richtig wie bei den Schafen in Büscheln zusammensteht, sondern es war schlicht und weich. Am Körper war das Kind nicht tätowiert, dagegen sehr reichlich im Gesicht, doch nur mit einfachen Strichen und Punkten.
Nobody suchte den Weg wieder auf und erzählte sein Abenteuer.
»Ach, wäre ich doch nur dabeigewesen!« rief Flederwisch ein Mal übers andre. Denn die badenden Frauen, das war ja nun so etwas für den!
»Im übrigen habe ich bisher weiter nichts erfahren, als daß diese große Oase Godscham heißt und daß das Weib oder die Tochter des Scheichs, welcher über die Oase herrscht, den Titel Fadinah führt, wenn hier nicht gar ein weibliches Regiment herrscht und ich die verheiratete oder wahrscheinlich jungfräuliche Königin im Bade gesehen habe. Seltsam dünkt es mich, daß die dort noch gar nicht gewußt haben, daß hier oben auf dem Felsen ein Massaker stattfindet, obgleich man wohl im Lande Feinde weiß, welche den Namen ›Udlindschis‹ führen.«
Flederwisch interessierte sich im Augenblick wenig für alles dies, der hatte jetzt nur die badende Königin im Kopfe.
»Paß auf, Alfred, die hat sich in dich verliebt!«
»Am wunderbarsten aber ist es, mir noch immer ein vollkommenes Rätsel, daß man hier in der weltverlassenen Oase schon so gut meinen Namen kennt. Ja, ich komme immer mehr zur Ueberzeugung, daß man mich hier schon erwartet hat.«
»Paß auf, Alfred,« fing Flederwisch wiederum an, »die will dich heiraten! Würdest du darauf eingehen? Das heißt nur so nebenbei? Sonst könntest du sie mir überlassen. War sie denn nur wirklich so hübsch? Stramm?«
»Himmelbombenelement noch einmal!« wurde Nobody jetzt wild. »Mensch, du bist doch kein Jüngling mehr, bist ein verheirateter ...«
Um die Ecke des hohen Grases, welches den Weg eingrenzte, bog ein langer Zug, aber nicht ein solcher von Kriegern, welche sich zur Erstürmung des Felsens anschicken wollten, wenigstens zeigten sie keine Waffen, dagegen trugen die Männer zwischen sich Bahren.
Für Nobody war sofort alles klar. Es war ein trauriges, ein unrühmliches Geschäft, welches diese Männer vorhatten. Sie wollten nur die zerschmetterten Leichen ihrer vom Feinde herabgeschleuderten Kameraden abholen. Sonst dachten sie an keine Wehr, an keine Rache. Das sah man schon diesen niedergeschlagenen Gesichtern an.
Doch mit einem Male sollte sich das Bild ändern.
Erst hatte es ausgesehen, als wolle der Zug stumm an den drei weißen Fremdlingen vorbeipassieren. Deren Hiersein mochte nun schon bekannt geworden sein, sie wurden in jenem Dorfe erwartet, sie waren geschützt, als Gäste der Königin verschonte man sie auch mit jeder Neugier.
Aber kaum hatte der Erste des Zuges, ein alter, kostbar gekleideter Mann, das Kind auf Nobodys Arm erblickt, als er daraufzustürzte, noch ein prüfender Blick in das Gesicht des Kindes, und jauchzend erklang es:
»Der Fadin ist gerettet!! Gelobt sei Allah und Esau, sein Prophet - der Ras Fadin ist gerettet!!«
Nobody hatte sich das Kind vom Arme nehmen lassen. Er war zur Statue erstarrt. Was hörte er da? Allah und Esau sein Prophet?
Esau bedeutet im Arabischen genau dasselbe wie Jesus. Unseren Jesus Christus aus Nazareth nennen die Araber Esau.
Und auch die Mohammedaner verehren unseren Jesus, auch er ist ihnen ein Prophet, deshalb ist ihnen auch Jerusalem als die Begräbnisstätte dieses Propheten heilig.
Aber Jesus oder Esau kommt bei den Mohammedanern erst an zweiter und dritter Stelle. Ueber Mohammed geht nichts, und ja nur deswegen hassen uns die Mohammedaner, weil wir ihren ersten Propheten nicht anerkennen.
Niemals wird man von einem Mohammedaner so etwas hören wie ›gelobt sei Allah und sein Prophet Esau.‹
In Nobodys Kopfe begann es mit einem Mal zu dämmern. Er kannte ein afrikanisches Volk, welches Gott Allah nennt, nicht aber Mohammed, sondern Jesus als ihren ersten Propheten anerkennen, von Mohammed überhaupt gar nichts wissen wollen, weshalb man sie Christen nennt, allerdings ganz fälschlicherweise, obgleich sie sogar unsere Bibel haben.
Nobody konnte den Gedanken, der sich ihm aufdrängte, nicht fassen, und doch ... er hatte auch schon einen anderen Namen gehört!
»Wie heißt dieses Land hier?« wandte er sich an den Alten.
»Godscham.«
»Ist das ein ganzes Land für sich oder nur ein Teil davon?«
»Nur ein Teil davon, das ganze Land heißt Muran,« erklärte der Alte, machte aber ein sehr erstauntes Gesicht, daß die nicht einmal wußten, wo sie sich befanden.
»Muran, Muran ... den Namen kenne ich nicht,« murmelte Nobody, und dann fuhr er mit Fragen fort:
»Wie heißt die Herrscherin über diesen Bezirk?«
»Fadinah Theodora.«
Flederwisch schnellte wie eine Feder auf. Diesen Namen hatte er nämlich schon in anderer Verbindung gehört.
»Und wie heißt der Herrscher über dieses ganze Land?«
»Negus Menelik, und das hier ist der Ras Fadin, sein Sohn, und Fadinah Theodora ist des Negus jüngste Schwester.«
Da machte Nobody eine Bewegung, als wolle er die Hände über dem Kopfe zusammenschlagen.
»Flederwisch, meine Ahnung! Der Kompaß hat uns getäuscht! Wir sind nicht westlich, sondern immer südlich gefahren! Wir befinden uns nicht in einer Oase der Sahara, sondern in Abessinien!!«

7. Der Herr der Erde.

Unsere drei Freunde befanden sich in einem Zimmer, dessen Wände mit kostbaren Teppichen tapeziert waren, und dessen Möbel ausschließlich aus Polstern und Kissen bestand. Sie saßen mit untergeschlagenen Beinen um einen runden Tisch, der kaum drei Zoll hoch vom Boden abstand, und der von schwarzen Dienern gleich mit Speisen besetzt hereingetragen worden war.
Die Mahlzeit bestand hauptsächlich aus Reis, Hammel- und Rindfleisch, auf verschiedene Art zubereitet, und die Stelle des Tischtuches vertrat ein großer Fladen aus Durramehl, von dem man nach Belieben abriß, so daß hier also auch das Tischtuch aufgegessen wurde.
Es muß besonders erwähnt werden, daß dieses merkwürdige Tischtuch aus Brotteig gebacken, sowie der Reis und das Hammelfleisch gekocht oder gebacken war. Bei dem Rindfleisch war dies nämlich nicht der Fall. Das Rindfleisch wird in Abessinien ausschließlich roh verzehrt, geklopft oder geschabt oder auch gleich so, wie es vom geschlachteten Tiere kommt. Daß man Rindfleisch kocht und bratet, ist in Abessinien gänzlich unbekannt - so unbekannt wie bei uns in Deutschland, daß man den Salzhering erst bratet, was wiederum in England allgemein üblich ist. Ländlich, sittlich!
An dieser Mahlzeit nahm noch ein vierter teil, ein alter, würdiger Negerherr, der sich den in dem steinernen, recht ansehnlichen Palast aufgenommenen Gästen als Rasol Harrot ben Imam vorgestellt hatte. Ras bedeutete Fürst, Rasol kleiner Fürst oder Graf. Nicht nur vorgestellt hatte er sich, sondern sich auf höheren Befehl den Gästen auch zur Verfügung gestellt, als Auskunftsbuch, in dem man nach Belieben nachschlagen möchte, und zwar konnte man sich mit diesem Negergrafen, wie man wünschte, in arabischer, englischer oder französischer Sprache unterhalten.
Nobody machte denn auch von dieser Auskunftei ausgiebigen Gebrauch.
Wir wollen hier über Abessinien nur das sagen, was wir für unsere Erzählung unbedingt wissen müssen. Alles andere kann man ja in jedem Konversationslexikon nachlesen.
Es ist eben kein christlicher Wunsch, den der Schreiber dieses hier ausspricht: ›Ich möchte einmal einen Krieg zwischen Abessinien und einer europäischen Macht erleben. Der muß interessant werden!‹
Kommen wird es ja noch einmal dazu. Wenn nicht in diesem Jahrhundert, dann im nächsten. Denn Abessinien ist der Schlüssel zu Aegypten und ganz Ostafrika. Die Kriegsmacht, die sich einmal in Abessinien festgesetzt hat, diktiert von hier aus die Gesetze für ganz Afrika. Deshalb wird es dereinst der Zankapfel für die europäischen Mächte werden. Es geht übrigens schon los. Dieses fortwährende Hinschicken von Gesandtschaften mit Geschenken an den Negus und so weiter, das ist allemal der Anfang von so etwas.
Wer wird der einstige Herr von Abessinien sein? Der Italiener hat schon immer dort unten herumgeschnüffelt und vor dem Negus Komplimente gemacht, hat auch später den erfolglosen Krieg geführt. Aber Italien ist kaum noch ernst zu nehmen. Natürlich wird es wieder der Engländer sein, nachdem er erst den Franzosen kaltgestellt hat.
Erst aber haben! Und wie Abessinien eigentlich erobert werden soll, das ist für den, der die Verhältnisse näher kennt, noch ein Rätsel.
Abessinien ist, mit Ausnahme der Küsten, durchweg ein Gebirgsland. Mag es auch noch so große Ebenen geben, so sind diese doch nur als Hochplateaus zu betrachten. Die Gebirgsformation ist eine ganz eigentümliche, wie man sie sonst nirgends wieder auf der Erde findet, wenigstens nicht in solchem Maßstabe.
Sanft oder auch schroff abfallende Berge gibt es gar nicht. Alles steigt terrassenartig an - Stufen, die man nur auf Leitern überwinden kann. Oder aber Berge, bei denen es überhaupt gar keinen Aufstieg gibt, weil die Wände eben glatt wie die Mauern sind, und oben befindet sich dann stets ein flaches Plateau.
Ein Russe, welcher das Reich des Negus bereist hat, sagte zu dem Schreiber dieses, daß er, als er auf der Elbe zwischen Lilienstein und Königstein hindurchfuhr, sich nach Abessinien zurückversetzt gefühlt habe. Nur daß eben dort noch ganz andere Dimensionen sind, und diese isolierten Tafelberge zählen nach vielen tausenden, das ganze Land ist damit durchsetzt, obgleich selten zwei so nahe zusammenliegen, daß ein modernes Geschütz hinüberträgt, und es gibt solche Tafelberge, deren Plateau einige englische Quadratmeilen umfaßt, während andere nur eine kleine Familie ernähren können.
Denn diese Tafelberge, von den Eingeborenen, Arbas oder Ambas genannt, sind bewohnt. Auf dem einen hausen einige tausend Menschen, auf dem anderen hat, wie schon gesagt, nur eine Familie Platz.
Hier ist dem wissenschaftlichen Forscher ein Problem gegeben. Wie ist auf jeden der himmelhohen Felsen das erste Menschenpaar gekommen? Zu erklimmen oder mit Leitern zu ersteigen gibt es da nichts, es müßten denn ab und zu Eisen eingeschlagen werden, und hiervon ist keine Spur zu bemerken.
Da könnte man fast auf den Gedanken kommen, daß sich auf jedem dieser Felsen die ganze Schöpfungsgeschichte wiederholt hat, sowohl bei den Tieren, welche sich oben befinden, wie bei den Menschen.
Doch wir wollen uns nicht mit solchen Problemen befassen. Es ist auch gar kein selbständiges Menschengeschlecht, welches dort oben haust, sondern es sind dieselben Aethiopier, welche auch unten wohnen. Sie sind eben auf irgendeine Weise dort oben hinaufgekommen.
In Abessinien gibt es eine ganze Menge von Völkerrassen. Die herrschende nennt sich Itjopjavan, woraus wir durch Verdrehung Aethiopier gemacht haben. Nach ihrem eigenen Glauben sind die Itjopjavan direkte Abkömmlinge von König Salomo und der Königin von Saba. Diese soll nämlich jenem jüdischen Don Juan im grauen Barte zwölf Söhne geboren haben, welche erobernd in das ehemalige Muran oder jetzige Abessinien einfielen, wo sie ein schwarzes Volk fanden, welches sie Gallas nannten. Diese Gallas, echte, wollköpfige Neger, bilden noch jetzt die Hauptmasse des unteren Volkes.
Die arabischen Eroberer, welche gar keine Frauen mitbrachten, vermischten sich mit den Gallas, d. h., nahmen Weiber von ihnen zu Frauen, und bemächtigten sich vor allen Dingen dieser unbesteigbaren Tafelfelsen - hier existiert wieder eine Sage von beflügelten Menschen - von wo aus sie das ganze Land beherrschten.
Durch die Vermischung mit den Negerfrauen wurden die Nachkommen der hellbraunen Araber dunkler, und eigentümlich ist es, ganz im Gegensatz zu anderen Völkern, daß das Blut der Aethiopier um so edler gilt, je schwärzer die Hautfarbe ist. Freilich gehört dazu, daß das Haar nicht wollig, sondern schlicht und weich sein muß.
So hausen die herrschenden Itjopjavans noch heute auf den isolierten Tafelfelsen, kommen niemals wieder herunter, brauchen es auch nicht, denn sie haben dort oben alles, was sie zu des Lebens Nahrung und Notdurft bedürfen. Sie züchten dort oben Rinder und Hammel, auf den meilengroßen Plateaus sogar Pferde und Kamele, bauen Weizen, Gerste, Mais, Hirse und Durra, sogar ihren eigenen Tabak, als Gespinstpflanzen Hanf und Flachs, außerdem liefern ihnen ja auch Schaf und Kamel Wolle und Haare, die sie auf primitiven Webstühlen verarbeiten.
Nur eines fehlt ihnen: Salz. Das wird den Herren des Landes auf Strickleitern hinaufgebracht, welche von oben herabgelassen werden. Der Merkwürdigkeit wegen sei erwähnt, daß dieses Salz in ganz Abessinien in Tafeln von bestimmter, vorschriftsmäßiger Größe gepreßt wird; diese Tafeln heißen Taltas - weil das Salz besonders in der Provinz Talta gewonnen wird - und gelten in ganz Abessinien zugleich als Münzen. Geringe Summen werden mit solchen Salztafeln bezahlt, deren jede einen Wert von ungefähr zwei Pfennig hat.
Was aber nun, wenn die Bevölkerung auf einem Tafelberg so wächst, daß das Plateau sie nicht mehr ernährt? Dann müssen die überzähligen Esser herunter. Doch so weit läßt man es gar nicht kommen. Schon alle Kinder, wenn sie geboren werden, und sie versprechen dereinst nicht starke, gesunde Menschen zu werden, werden nach unten gebracht. Ebenso werden jedes Jahr die älteren Männer und Frauen ausgemerzt.
Diese, wie die Kinder wohnen dann im Tiefland unter den anderen gewöhnlichen Sterblichen, allerdings noch immer über den Gallas und den anderen Stämmen stehend, während auf den Tafelbergen nur immer die Elite der Menschheit thront, die stärksten Männer und die schönsten Frauen, und jeder von ihnen ist mindestens ein Rasol, ein Graf, jedes Weib eine Gräfin, und über jeden dieser Tafelberge oder Arbas steht der Ras, der Fürst, so ist jeder dieser isolierten Felsen eine Ritterburg, eine Fürstenburg, und das sagt auch der Name, den wir schon einmal gehört haben - Rassamharra.
Nur eine Ausnahme gibt es, daß der Fürst und der Graf seine Burg verläßt und zum Volke herabsteigt, und das für immer.
Wer das Volk regieren soll, muß auch unter dem Volke wohnen. Der Negus ist der erste Fürst aller Fürsten, ihm stehen alle Samharras unter, aber er selbst kommt niemals wieder auf eine solche hinauf, er residiert in der Hauptstadt seines Landes, sozusagen auf ebener Erde, und dasselbe gilt für die Fürsten der Provinzen und für die Träger aller hohen Würden.
Es ist dies eigentlich eine sehr schöne, gerechte Regierungsform. Denn schließlich könnte doch auch der König auf solch einer unnahbaren Ritterburg hausen, eben in unnahbarer Majestät. Nein, will er König über ein Volk sein, so muß er auch unter diesem Volk wohnen, auf daß jede Stimme sein Ohr erreichen kann.
Denn jeder neue König, jeder Provinzregent wie jeder Graf, der im Tiefland irgendein Amt übernimmt, stammt ursprünglich doch von solch einer Ritterburg, weil die Kinder dieser Würdenträger, gleich in den ersten Wochen ihrer Geburt, wieder auf solch eine Rassamharra zur Erziehung kommen.
Hier werden sie unter sachgemäßer Leitung in allen ritterlichen Künsten ausgebildet. Denn hier oben herrschen noch ganz die Zustände, wie wir sie aus dem mittelalterlichen Ritterleben Europas kennen, haben diese Bewohner der Samharras doch auch sogar noch Schuppen- und Kettenpanzer.
Bedroht Krieg das Land, so steigen die schwarzen Ritter an Strickleitern herab und rücken dem Feinde zu Leibe, sie sind die Anführer des im Tieflande hausenden Kriegsvolkes. Werden sie zurückgedrängt, dann steigt alles, auch die sonst unten wohnenden Menschen, auf die Terrassen hinauf und auch auf diese Tafelfelsen, Frauen und Kinder mitnehmend, sie ziehen die Strickleitern hoch, und ... nun soll einmal eine europäische Kriegsmacht sehen, wie denen dort oben beizukommen ist.
Wie gesagt, mit Kanonen ist da nichts auszurichten. Kein Geschütz reicht von einem Arba zum anderen, außerdem sind die dort oben meist auf Regenwasser angewiesen, wozu in das Plateau zahlreiche Zisternen eingemeißelt sind, welche bombensichere Kasematten abgeben.
Aushungern? Die ernähren sich dort oben von selbst, sie säen und ernten. Wenn aber nun beim Rückzug zu viel hinaufgekommen sind?
Da kommt etwas Fürchterliches in Betracht.
Die Abessinier sind Christen. Jesus oder Esau ist der Sohn Gottes, und sie haben unsere Bibel. Das ist aber auch alles. Die Bibel ist in einer ausgestorbenen Sprache geschrieben, welche selbst die Priester nur noch lesen, aber nicht mehr verstehen können. Jeder hält sich so viel Frauen, wie er ernähren kann - ihr Großvater Salomo hat es doch ebenso gemacht, und ... zeitweilig können diese christlichen Abessinier sogar zu Menschenfressern werden.
Wenn im Kriegsfalle auf solch einem Tafelberge zu viel Menschen vorhanden sind, dann gelten die Kriegsunfähigen als Schlachtvieh! Das ist im 16. Jahrhundert, als die Araber Abessinien erobern wollten, bereits vorgekommen, das ist ein Faktum!
Und das ist eine heilige Tradition, und jeder Abessinier hält es noch heute für seine Pflicht, lieber seine Frau und sein eigenes Kind aufzufressen, ehe er aus Hunger seine Burg dem Feinde freigibt!
So, nun soll einmal eine europäische Armee in Abessinien einrücken! Es sind schon über 2000 solcher Tafelberge gezählt worden, es mögen aber noch viel, viel mehr sein, und dann kommen noch die Terrassenberge in Betracht, und dann gegen 500 Klöster, ebenfalls auf Stellen gelegen, die nur mit Strickleitern zu ersteigen sind, sich selbständig ernährend, die Mönche zu Kriegern ausbildend - und nun sollen einmal alle diese unersteigbaren Festungen eingeschlossen und nach und nach erobert werden!
Wie das ausgeführt werden soll, ist vorläufig noch ein Rätsel. Da muß wirklich erst das lenkbare Luftschiff erfunden werden. Jede dieser zahllosen Festungen braucht eine Belagerungsmannschaft, sonn fallen die Besatzungen dem Feinde immer wieder in den Rücken, und dreht man sich um, so sind sie schon wieder oben und ziehen die Strickleitern nach sich. -
Und doch waren jetzt zwei solcher uneinnehmbarer Tafelberge von unbekannten Männern erobert worden.
Denn dieser Fall hier, von dem Nobody nur eigenen Augen Zeuge geworden, war schon der zweite.
Nobody befand sich, wie er jetzt erfuhr, in dem nördlichsten Fürstentum des Kaiserreiches, Godscham genannt, der jüngsten, noch unverheirateten Schwester des Negus, also einer Fadinah oder Prinzessin untertan.
Der erste Fall hatte sich vor acht Tagen in der Nähe von Gondar zugetragen, der Residenz des Negus, einer Stadt mit 40.000 Einwohnern, ziemlich in der Mitte des Reiches liegend.
Dort in der Nähe liegt die Rassamharra, aus welcher von jeher die Könige oder richtiger Kaiser von Abessinien hergekommen sind, ihr Stammsitz, so eine Art von Burg Hohenzollern. Als solche führte sie den Namen Negussamharra, die Königsburg.
Es war kurz nach der Abreise des ersten Ministers gewesen, des Ras Saglu Kasai, welcher also Nobody holen sollte, auf daß dieser die aus dem Palaste zu Gondar verschwundene Albino wiederbeschaffe, als sich bei jener Königsburg dasselbe ereignet hatte, wie soeben hier.
Eines Morgens waren plötzlich von allen Seiten Menschen herabgestürzt gekommen, die Bewohner des Negussamharras, Männer, Frauen und Kinder, deren Anzahl man genau kannte, siebenundvierzig waren es; denn das Plateau der Königsburg war nur klein, und da man die Leichen zählte, waren es genau siebenundvierzig. Kein einziger war dem Tode entgangen, und wer nicht erst durch den furchtbaren Sturz sein Leben ausgehaucht, der hatte schon oben durch irgendeine Waffe seinen Tod gefunden und war dann als Leiche noch herabgeworfen worden.
»Auf dem Negussamharras hausen jetzt uns unbekannte Männer,« schloß der Rasol, »wir nennen sie Udlindschis, was nichts weiter bedeutet als Fremdlinge; denn wir wissen nicht, woher sie sind, woher sie gekommen, noch weniger, wie sie auf den unersteigbaren Tafelberg gelangt sind. Und nun also haben sie auch den Samharra der Fadinah besetzt. Wehe uns, wie soll das noch enden?«
Für Nobody war da noch sehr viel Unverständliches dabei.
»Ihr habt gar keine Ahnung, was für ein Feind das sein kann?«
»Es ist ein uns unbekannter Negerstamm. Es sind überhaupt Neger.«
»Woher weißt du das? Konnte einer der Herabgestürzten noch sprechen? Oder hat sich der Feind oben gezeigt?«
»Nein. Wer von dem Negussamharra herabstürzt, der kann nicht mehr sprechen, denn jener Tafelberg ist noch viel, viel höher als dieser hier. Aber es wurden achtundvierzig Leichen aufgesammelt. Ein Fremder war dabei. Naddir, der Fürst dieses Tafelberges, hatte, obgleich schon eine tödliche Wunde in der Brust, ihn mit sich hinabgenommen. Es war ein Neger, in ein baumwollenes Gewand gekleidet, wie es hierzulande gar nicht getragen wird - ein Neger, zu einer Rasse gehörend, die hier auch gar nicht bekannt ist.«
»Ah, das ist schon etwas anderes!« rief Nobody. »Wie war der Neger gekleidet?«
Er hatte einfach eine lange Hose aus Baumwolle getragen, und dieses Bekleidungsstück ist nun allerdings in Abessinien gar nicht gebräuchlich.
Rasol Harrot selbst war nicht dort gewesen, er kannte alles nur durch Meldungen von Boten. Aber er konnte das Aussehen des fremden Negers doch beschreiben, dessen Körperbeschaffenheit wie nicht minder die Haartracht eben eine ganz besondere, hierzulande auffallende gewesen war, und daraus glaubte Nobody mit Bestimmtheit entnehmen zu dürfen, daß es ein hochgewachsener, herkulischer Zulukaffer gewesen sein müsse.
»Hat der fremde Neger noch Waffen bei sich gehabt?«
»Nein.«
»Oder hat man sonst irgendwelche fremde Waffen gefunden, die während des Kampfes herabgefallen sein können?«
»Auch nicht.«
»Hat man Schüsse gehört?«
»Keinen einzigen.«
»Haben sich denn oben die Feinde nicht gezeigt?«
»Ja, man hat dunkle Punkte sich am Rande bewegen sehen, und durch Fernrohre, wie wir solche ja besitzen, konnte man auch Menschen unterscheiden.«
»Sind die Feinde denn nicht mit dem Negus in Verhandlung getreten?«
»Die Boten meldeten nichts davon, und sobald dies geschähe, würden wir hier wohl in Kenntnis davon gesetzt worden sein. Allerdings braucht ein schneller Reiter von Gondar bis hierher drei Tage, wenn er sein Pferd dabei zu Tode hetzt, denn die Entfernung beträgt zweihundert englische Meilen.«
»Wie denkt man nun über dies alles?«
»Die Aufregung in Gondar ist natürlich eine ungeheure. Was man darüber denkt? Niemand findet eine Erklärung, wie die fremden Neger dort hinaufgekommen sind. Die Priester sprechen von einem Strafgericht Gottes, das Volk hält die fremden Neger für Dämonen. Dort ist schon alles Leben erstorben, keiner wagt sein Haus zu verlassen.«
»Ich habe doch hier gar nichts davon bemerkt. Auch hier müßte doch wenigstens einige Aufregung über jenes Vorkommnis herrschen, daß Feinde mitten im Lande sind.«
»Hier ist gar nichts davon bekannt.«
»Nichts bekannt? Wie ist das möglich? Boten brachten doch die Meldung.«
»Eine geheime. Der Negus sorgte dafür, daß sich die Kunde von dem Geschehenen nicht über den Bezirk hinaus verbreitete, in welchem jeder davon erfahren mußte, wenn er nicht gar Augenzeuge davon geworden war. Denn wozu im ganzen Volke eine furchtbare Bestürzung hervorrufen, wenn man noch gar nicht weiß, woran man eigentlich ist? Und diese Geheimhaltung ist sehr leicht durchführbar, da bei uns das Paßwesen streng gehandhabt wird, keiner darf ohne besondere Erlaubnis die engeren Grenzen seines Bezirkes überschreiten, darauf steht Todesstrafe. Nur die Provinzregenten und ihre Regierungen wurden von den Boten eingeweiht, mit der Aufforderung, wohl auf der Hut zu sein, sonst aber das strengste Stillschweigen zu beobachten. So gehen wir alle nach wie vor unsern Beschäftigungen nach.«
»Ah, ich verstehe. Und die Fadinah geht nach wie vor jeden Morgen mit ihren Gefährtinnen sorglos baden.«
»So ist es.«
»Und inzwischen macht sich jener geheimnisvolle Feind in allernächster Nähe bemerkbar.«
»Es ist furchtbar!« stöhnte der alte Mann.
»Nun, ich werde diesem rätselhaften Feinde bald das Handwerk gelegt haben.«
Mit ungläubigem Staunen und doch hoffnungsfreudig blickte Rasol den Sprecher an.
»Du willst uns von diesem Feinde befreien?!«
»Ich hoffe, es bestimmt zu können. Doch laß mich erst weiter fragen. Sind die Bewohner der verschiedenen Samharras, wie du die Tafelberge nennst, benachrichtigt worden, was geschehen ist, und daß sie auf der Hut sein sollen?«
»Ja, aber wohl nicht alle. Es sind ihrer gar zu viele, und einige liegen zu weit entfernt, als daß die Bewohner in wenigen Tagen in Kenntnis gesetzt werden könnten.«
»Wußten es die Leute jenes Tafelberges dort, die heute von dem Feinde überrascht worden sind?«
»Der Ras ist in Kenntnis gesetzt worden, hat man in seine Obhut doch den Rasfadin gegeben.«
»Der Rasfadin, das ist der Kronprinz, der Sohn des Negus und Thronfolger, nicht wahr?«
»Ja. Der Negus hat sonst nur Töchter.«
»Wie kommt es, daß der Kronprinz nicht auf der Negussamharra erzogen wird? Deinen vorigen Schilderungen nach mußte ich das annehmen.«
»So ist es auch eigentlich. Vor einem halben Jahre aber brach auf Negussamharra eine ansteckende Kinderkrankheit aus, die noch jetzt dort nicht ganz erloschen ist, und so wurde der Rasfadin einstweilen auf die Samharra gebracht, welche der Lieblingsschwester des Negus gehört, auf jene dort, über welche Ras Tefwick gebietet.«
»Aha! Sieht das nicht bald so aus, als ob es die Udlindschis, wie du die unbekannten Fremdlinge nennst, hauptsächlich auf die Festnahme des jungen Thronfolgers abgesehen gehabt hätten?«
»Allerdings,« bestätigte der alte Mann, »auf dem Negussamharra mögen die Udlindschis erfahren haben, daß sich der Rasfadin jetzt auf jenem Tafelberge dort befindet, und sofort haben sie von diesem Besitz ergriffen. Diese Vermutung liegt wirklich sehr nahe. Nur durch einen Zufall ist ihnen der Rasfadin entgangen, die Unholde haben versehentlich auch ihn mit in die Tiefe geschleudert, oder seine treue Amme, der er anvertraut gewesen, wollte ihn lieber mit sich in den Tod nehmen als ihn lebendig in den Händen der Feinde lassen, sie tat freiwillig den furchtbaren Sprung, und ein gnädiger Gott hat über das Leben des Knaben gewacht. - Ja, aber wie sind die Fremdlinge überhaupt dahinaufgekommen?«
»Diese Frage sollte ich doch eigentlich an dich richten.«
»Das ist für uns alle ein unlösbares Rätsel. Die Udlindschis müssen geradezu Flügel haben und ihren Aufflug in der Nacht gemacht haben, wenn sie sich nicht auch unsichtbar zu machen wissen.«
»Wie gelangen denn die Bewohner der Felsen hinauf und hinab?«
»An Strickleitern.«
»Hängen denn diese ständig herab?«
»O nein. Nur für den Boten des Negus wird die Strickleiter einmal hinabgelassen, sonst kommt kein Talbewohner hinauf.«
Der Ras erklärte weiter, wie die Möglichkeit ganz ausgeschlossen sei, die Fremdlinge hätten zum Aufstieg eine herabhängende Strickleiter benutzt, und Nobody sah die Richtigkeit dieser Erklärung sofort ein.
Hierauf ließ sich Nobody näher die Lebensweise dieser Felsenbewohner schildern, wie wir es zum Teil schon getan haben.
»Woher bekommen sie das Trinkwasser?«
»Das Regenwasser wird in Zisternen gesammelt.«
»Reicht denn das für den Bedarf der Menschen und Tiere?«
»Vollkommen. Die jährliche Regenmenge beträgt hierzulande zwei Ellen.«
»So gibt es auf diesen Samharras keine Brunnen?«
»Brunnen? Nein,« lautete die Antwort, und schon klang sie verwundert.
»Auch auf dem Negussamharra und auf jenem dort ist kein Brunnenschacht vorhanden?«
»O, wo denkst du hin!« rief jetzt der Rasol lebhaft. »Dann wäre es ja sehr leicht erklärlich, woher die Udlindschis gekommen sind. Eben aus solch einem Brunnenschachte, wobei freilich noch vorausgesetzt werden müßte, daß es auch einen unterirdischen Weg dazu gäbe. Nein, solche Brunnen gibt es auf den Samharras nicht, auf keinem einzigen, wer sollte die denn in den festen Stein gegraben haben, und dann müßten wir doch auch etwas davon wissen, und dann könntest du dir wohl auch denken, daß solche Brunnenschächte genügend bewacht würden.«
Trotzdem wurde Nobody in seiner einmal gefaßten Meinung nicht irre. Die geheimnisvollen Fremdlinge hatten die Tafelberge in Brunnenschächten erstiegen, anders war es nicht!
Daß die Eingeborenen selbst, und sogar die Felsenbewohner nichts von diesen Brunnenschächten wußten? Auch hierfür hatte Nobody schnell eine Erklärung gefunden.
Der Rasol hatte ihm also ausführlich erzählt, wie es dort oben aussähe. Nobody hatte diese Schilderungen immer durch geschickte Fragen unterstützt, und da hatte er erfahren, daß es auf jedem Samharra ein Gebäude oder einen Ort gab, wo man sich die Gottheit wohnend dachte, also etwa eine Kirche, und doch wieder etwas ganz anderes, wie man eben die Religion der Abessinier gar nicht mit der christlichen vergleichen darf, wenn sie sich auch selbst Christen nennen - und diese Orte, welche wir, wenn es so weit ist, näher beschreiben werden, waren natürlich geheiligt, keines Menschen Fuß durfte sie betreten, das Allerheiligste nicht einmal der des Abbanas oder Priesters, - und da war es sehr wohl möglich - für Nobody überhaupt ganz bestimmt - daß sich hier die Mündung eines Brunnenschachtes befand, von dessen Existenz nicht einmal die Felsenbewohner etwas ahnten.
»Auf meinem Wege hierher,« begann Nobody ein neues Thema, »bin ich an einem freien Platze vorübergekommen, der mit Stangen bespickt war, und auf jede war ein Totenschädel gesteckt. Was für ein Ort war das?«
»Weißt du das nicht?«
»Wohl weiß ich es, doch ich möchte die Erklärung nochmals aus deinem Munde haben,« entgegnete Nobody in etwas scharfem Tone.
Und Nobody hatte sich nicht getäuscht, sofort kreuzte der Alte beide Arme über der Brust und machte eine tiefe Verbeugung.
Es war ja seltsam, daß der Rasol gar nicht fragte, wie dieser Mann, wenn er auch von dem abgesandten Minister getroffen und hier schon erwartet worden, eigentlich hierhergekommen war.
Aber Nodody hatte unterdessen schon mit Sicherheit konstatiert, was hier vorlag. Er war eben der Detektiv, über den sich sogar hier im fernen, noch halbwilden Abessinien bereits mystische Sagen gebildet hatten - dank seiner Zeitung, die auch hierher schon ihren Weg gefunden hatte - er hatte ja selbst gehört, wie er hier mehr als ein unsichtbarer Geist galt, denn als ein Mensch, oder doch wenigstens mit überirdischen Kräften ausgestattet, so war er eben durch die Luft geflogen oder am Ende gar direkt vom Himmel gefallen, und außerdem hatte der alte Rasol offenbar von seiner Herrin die strikte Order bekommen, die Gäste mit keiner einzigen Frage zu belästigen, sondern nur selbst immer Antwort zu geben. Dabei war es sehr wahrscheinlich, daß die Fadinah dieses Gespräch heimlich belauschte. Nobody mit seinem feinen Gefühl hatte die ganz bestimmte Empfindung, daß sie dort hinter dem vor einer Ecke hängenden Teppich stand.
»Verzeihe deinem gehorsamen Diener, o Herr, daß er eine Frage an dich zu richten wagte,« entgegnete der Abessinier aufs demütigste. »Es ist der Ort, nach welchem die Köpfe und Gebeine der Namwis gebracht werden.«
»Der Namwis, was ist das?«
»Das sind verfluchte Zauberer, welche wegen ihrer Vergehen durch die Hand des Henkers den Tod erlitten haben.«
Nobody hatte schon genug über Abessinien gehört und gelesen. Wie bei allen Negerstämmen Afrikas, so steht auch in dem ›christlichen‹ Abessinien die Zauberei wie überhaupt der schrecklichste, blutigste Aberglaube noch in höchster Blüte, noch extra gehegt und gepflegt von den Abbanas, den christlichen Priestern.
Schließlich braucht man ja nicht gerade nach Abessinien zu gehen, man kann auch in Europa bleiben, um noch dasselbe zu finden, aber hier in Abessinien wird auch jede Krankheit von einem Zauberer oder einer Hexe verschuldet, der Priester, als ein guter Zauberer, macht durch allerhand Hokuspokus den bösen Zauberer ausfindig, dieser erleidet die fürchterlichsten Martern, zuletzt, gewöhnlich, wenn er schon tot ist, wird er noch geköpft, sein Leichnam den Hunden vorgeworfen ...
» ... und seine Gebeine werden an den Teufelsbrunnen gebracht,« schloß Rasol seinen längeren Bericht.
Der alte Herr, der außer seiner Muttersprache noch Englisch und Französisch beherrschte und sich überhaupt sonst als ein recht gebildeter Mann erwies, der über Europa besser orientiert war, als die meisten Europäer über Abessinien, zeigte sich in dieser Hinsicht, was die Zauberei und dergleichen betraf, als die gläubigste Seele.
Also wiederum ein Teufelsbrunnen! Nun, dabei war nichts Auffälliges. Gibt es doch auch in Deutschland wenig Gegenden, wo man nicht einen Teufelsbrunnen oder eine Teufelsbrücke oder einen Teufelssee oder einen Teufelssumpf oder sonst etwas, was dem Teufel geweiht ist, findet, und nicht nur im Volksmunde, sondern auch auf der Land- oder doch Generalstabskarte.
»Es ist kein Brunnen,« setzte der Rasol erläuternd hinzu, »es ist ein Schacht, welcher bis nach dem Mittelpunkte der Erde führt, wo bekanntlich der Teufel haust. Durch diesen Schacht fährt er heraus, wenn er sich die Seele eines Zauberers holt, und so bringt man dann auch die dazu gehörigen Gebeine hin.«
»Da klettert der Teufel also an einer Leiter herauf?« fragte Nobody.
»An einer Leiter?« wiederholte der alte Abessinier verwundert, und im nächsten Moment war es Nobody, welcher stutzte.
Wie, hatte das nicht fast geradeso geklungen, als ob hier gar nicht bekannt sei, daß sich in dem Schachte eine kupferne Leiter befand?!
Da mußte Nobody aber sehr vorsichtig weiterfragen.
»Ist in dem Schachte denn keine Leiter?«
»Eine Leiter?« erklang es ebenso erstaunt wie vorhin. »Wer soll denn da eine Leiter hinabgelegt haben?«
»Nun, der Teufel muß doch auf irgendeine Weise aus dem Schachte heraufkommen, an die Oberfläche der Erde heraufklettern.«
»Der Teufel? Was braucht der denn zu klettern? Auch der Teufel ist doch fast so gut wie allmächtig, nur, daß sein Reich bloß diese Erde ist.«
Also wahrhaftig, von der Existenz dieser Leiter war diesem hohen Beamten gar nichts bekannt, dann aber jedenfalls doch auch keinem anderen Abessinier, auch keinem Priester, durfte Nobody mit Sicherheit vermuten.
»Wer bringt denn die Gebeine der Zauberer immer dorthin?«
»Sklaven, welche dazu bestimmt sind. Sie werfen die Knochen und Schädel hin, und machen, daß sie von dem gefährlichen Orte schnellstens wieder fortkommen.«
»Der Ort scheint aber doch gepflegt zu werden. Wer zum Beispiel hängt die Totenköpfe auf die Stangen?«
»Das ist Sache des Matschantas, des Wächters des Totenfeldes.«
»Ist das ein freiwilliges Amt?«
»Ja und nein. Das ist stets ein zum Tode verurteilter Verbrecher. Wenn ein Matschanta stirbt oder sonst auf eine unheimliche Weise ums Leben kommt, muß natürlich ein neuer geschafft werden. Das Amt wird einem zum Tode verurteilten Verbrecher angetragen. Nimmt er es an, so hat er sein Leben gerettet, aber nur, um einem noch schrecklicheren Schicksale zu verfallen. Er muß dicht an der Grenze des Totenfeldes wohnen, und wenn sich die Knochen der Zauberer zum nächtlichen Tanze wieder zusammenfügen, so muß er sich diesem Tanze anschließen, und über kurz oder lang holt ihn doch einmal der Teufel bei lebendigem Leibe.«
Wir wollen uns nicht weiter bei diesem wahnsinnigen Aberglauben aufhalten, sondern nur noch hinzufügen, daß nach der Ansicht der Abessinier kein Mensch in solch einen Brunnen hinabblicken kann, er würde das Feuer der Hölle schauen und, von den Schwefeldünsten betäubt, sofort hineinstürzen.
Nun aber war es für Nobody auch erklärt, wie die Existenz jener Leiter so gänzlich unbekannt war. Es hatte eben noch kein Mensch hineingeblickt.
Weiter erfuhr Nobody, daß sich in jeder Provinz solch ein Teufelsschacht befand, wohin die Gebeine der Zauberer gebracht wurden, und jeder dieser Schächte sei oben mit einer Mauer eingefaßt. Das aber sei nicht etwa das Werk von Menschenhänden, sondern dafür, daß der Schacht nicht einmal verschüttet werden könnte, hätte der Teufel selbst gesorgt.
Durch diese Angaben war für Nobody der Beweis erbracht, daß in dem Lande noch vor den Abessiniern ein schon auf ziemlich hoher Kulturstufe stehendes Volk geherrscht haben mußte, dem die unterirdischen Gewässer Abessiniens bekannt gewesen, und welches sie als Wege oder zu sonstigen Zwecken benutzt hatte. Die Ureinwohner hatten Schächte mit Leitern angelegt, um hinabgelangen zu können, während den jetzigen Bewohnern von Abessinien von diesem unterirdischen Wasserlaufe und seinen Zugängen gar nichts mehr bekannt war.
Nobody hatte es nicht so eilig, hierüber Belehrung zu geben. Erst wollte er selbst noch mehr wissen. Soeben wollte er fragen, was für eine Stellung jenes Weib hier einnehme, welches die Fadinah genannt wurde, die Schwester des Kaisers, als auf dem Hofe, welcher das palastähnliche Gebäude einschloß, sich ein lautes Geschrei von Menschenstimmen bemerkbar machte.
Alle sprangen auf, doch noch bevor der erste an das Fenster gekommen war, stürmte durch die Tür, die nur mit einem Teppich behängen war, ein schwarzer Diener.
Nobody verstand die in arabischer Sprache gegebene Meldung.
Von dem Tafelberge war eine Strickleiter herabgelassen worden, ein Weißer und zwei Neger waren daran herabgeklettert, das war beobachtet worden, und jetzt befanden sich alle drei bereits auf dem Wege nach hier; offenbar wollten sie der auf einer Flußinsel liegenden Residenz der abessinischen Prinzessin, eine ganz ansehnliche Stadt mit fast 10.000 Bewohnern, wovon Nobody vorhin von der Brücke aus nur nichts gesehen hatte, einen Besuch abstatten.
Im nächsten Augenblick entpuppte sich der schwarze Kerl, den Nobody erst für einen Diener gehalten hatte, als ein Krieger, der wahrscheinlich einen hohen Offiziersrang einnahm, und zugleich als ein Mann von großem Mut.
»Soll ich die drei Udlindschis, welche den Frieden deines Landes zu brechen wagten, überwältigen lassen und sie dir nur als Gefangene vorführen?« rief er mit blitzenden Augen.
Die Frage konnte nur an eine Person gerichtet gewesen sein, die sich bisher noch nicht im Zimmer befunden hatte. Nobody hatte auch schon hinter sich ein Geräusch gehört, er drehte sich um - vor ihm stand die Fadinah, noch immer die geborene Königin, ihr herrlicher Leib jetzt nur in mehr Seidengewänder gehüllt, als da sie den Badeplatz verlassen hatte.
Sie befand sich in einer furchtbaren Aufregung, ihr Busen drohte die leichte Seidenhülle zu sprengen, doch nicht auf den die Meldung bringenden Boten war ihr großes, sprechendes Auge gerichtet, sondern auf Nobody, und dieser verstand sofort, was der Blick von ihm verlangte.
»Soll ich die fremden Männer für dich empfangen?« fragte er hastig.
Sie war nur eines Nickens fähig, und jetzt wandte sich Nobody wieder an den kriegerischen Boten.
»Sind die fremden Männer bewaffnet?«
»Nein, wenigstens zeigen sie keine offenen Waffen.«
»Dann kann von einer Gefangennahme erst recht keine Rede sein. Rasol Harrot, triff Vorbereitungen zu ihrem Empfang, wie es sich für die Abgesandten eines Feindes schickt, der in friedliche Unterhandlungen treten will!


Wir befinden uns in einem Lande, in welchem sich wie zu Pharaos Zeiten die Königstochter offen in einem Flusse badet, wohl durch Haremswächter, aber nicht einmal durch eine Bretterwand vor neugierigen Augen geschützt, und danach war auch der Empfang der fremden Männer beschaffen.
Wenige Minuten hatten genügt, die Vorbereitungen zu treffen, und inzwischen hatte Nobody mit der Fadinah und einigen ihrer Berater auch schon alles andere verabredet.
In einem weiten Saale saß die junge Herrscherin dieses Landes in einem erhöhten, thronartigen Lehnsessel, an dem Gold und Elfenbein reichlich verschwendet worden war, das Elfenbein aber nicht in Form von kunstreichen Schnitzereien, sondern in Gestalt von natürlichen Elefantenzähnen, die nur poliert worden waren, und so war es mit all dem überreichen Schmuck beschaffen, der hier zu sehen war.
Links und rechts von dem Thronsessel in weitem Halbkreise hockten auf Kissen die Minister, hinter diesen standen die Kriegshauptleute, sämtlich in Schuppenpanzer gehüllt, zum Teil auch mit Arm- und Beinschienen, mit phantastischen Helmen, überhaupt so phantastisch wie möglich und dennoch mit grimmiger Ritterlichkeit herausgeputzt, recht an indische Kriegertypen erinnernd, wie sie noch heute dort zu finden sind, in der dichtesten Nähe des Thrones einige mit Lanzen und ungeheuren Schwertern bewaffnete Schutzwachen, und alle diese Männer so schwarz wie ihre Fürstin, und ihrer so viele, daß sich Flederwisch und Anok mit Leichtigkeit unter ihnen unsichtbar machen konnten.
Gerade das Gegenteil tat Nobody. Kaum hier in einem fremden Lande angekommen, dessen Namen er zuerst noch nicht einmal gekannt, hatte er sich sofort zur Hauptperson aufgeschwungen.
Ueber seinen dunklen Anzug hatte er nur einen weißen Burnus geworfen und um seinen blonden Lockenkopf einen Turban geschlungen, sonst zeigte er sich als Europäer, und so saß er mit würdevollem Anstand auf der untersten Stufe des Thrones und wartete als Sprecher und Stellvertreter Ihrer schwarzen Majestät auf die Ankunft der Fremden.
Wie diese ihren Einzug in die Residenz hielten, darüber war diese Versammlung zweimal durch Boten unterrichtet worden, der dritte Bote brachte sie schon selbst, und wolle man dabei, um ein Beispiel im Auge zu behalten, immer daran denken, daß also hierzulande die Königstochter noch ganz harmlos am Rande eines Flusses ihr Gewand abwarf, um ein Bad zu nehmen, und daß die Hauptbrücke, welche über den Fluß zur Residenz führte, nur aus primitiven Bambusstäben bestand, und da darf man auch keinen Empfang erwarten, wie er an einem europäischen Fürstenhofe üblich ist.
Die drei fremden Männer hatten furchtlos diese Brücke überschritten, der Europäer hatte den ersten besten Eingeborenen, der ihm zufällig über den Weg lief, angehalten oder ihn vielmehr mit Gewalt festgehalten und auf arabisch gefragt, wo hier die Fadinah Theodora wohne; der Weg war ihnen gewiesen worden, dann hatte sich zu ihnen ein Abgesandter gesellt, und ... jetzt wurde der mächtige Teppich von dem Torbogen zurückgeschlagen, die drei Männer traten ein.
Mit einem einzigen Blicke hatte Detektiv Nobody alles erfaßt.
Zunächst die beiden Neger, welche neben der Tür stehen blieben. Das waren echte, wollköpfige Neger, riesige, herkulische Kerls, jedenfalls Kaffern, Zulukaffern, die Elite der ganzen Negerrasse.
Aber solche Zulukaffern, die noch vor kurzem den Schild und den Assagai geschwungen und den Elefanten nur mit dem Schwerte gejagt hatten, dem ermüdeten Tiere die Achillessehne durchschlagend, waren das nicht. Die waren nicht nur schon von der Kultur beleckt, sondern die waren schon völlig kultiviert und zivilisiert.
Nicht etwa deshalb, weil sie weiße Tropenkostüme und hohe Schaftstiefel trugen, weil sich der eine in seinem voll Oel geschmierten Wollhaar den Poposcheitel bis in den Nacken hineingezogen hatte - - Gott bewahre, durch solche Kleinigkeiten ließ sich Nobody nicht beeinflussen.
Er sah es aus der ganzen Haltung, wie sie an der Türe standen, wie sie so kriecherisch demütig ihrem weiterschreitenden Herrn nachblickten, und doch dabei ihre Blicke mit so herausforderndem Spott und Hohn über die schwarze Versammlung schweifen ließen - bah, was seid ihr trotz allen euren Goldes doch für ein ungebildetes Lumpengesindel! Hier seht uns an, wir sind Gentlemen vom Scheitel bis zur Sohle, auf der Straße tragen wir sogar einen Klemmer, wenn wir nur unsere schwarze Haut weißbleichen könnten!« - solche schwarze Diener waren das, wohl echte Zulukaffern, aber bereits zu menschlichen Hunden degradiert, wobei allerdings der Hund als ein Muster der Treue gelten soll.
Nun aber ihr Herr, der nicht an der Tür stehen geblieben war.
Donnerwetter, ist das ein schöner Kerl! So sagte sich Nobody, der auch unter den schwierigsten Verhältnissen immer ganz unparteiisch urteilte, auch über seinen Todfeind.
Es war ein Europäer, unverkennbar ein Germane, Nobody taxierte ihn für einen Schweden oder für einen Holländer. Er mochte vierzig Jahre sein, war aber doch noch jung zu nennen, stand in seiner vollen Manneskraft.
Auffallend war, daß er sein in der Mitte gescheiteltes, gelocktes Haar sehr lang trug, es wallte ihm bis auf die Schultern hinab, dabei ziemlich tief in der Stirn, und so rahmte es ein volles, schönes Männergesicht ein, in dem große, blaue Augen kühn blitzten, unten abgeschlossen von einem starken Schnurrbart und spitzen Kinnbart.
Kennt der Leser den Trompeter von Rubens, wie er sich die Kalkpfeife anbrennt? So eine Art von verwogenem Landsknecht, als Trompeter noch höher stehend, wenn auch kein Offizier, der Kavalier unter den Landsknechten, der Don Juan, dem kein Frauenherz widersteht? Das hier war er. Die Aehnlichkeit mit dem Rubensschen Bilde war auffallend. Nur daß der hier rotblondes Haar hatte.
Dazu kam nun noch das Ritterliche der ganzen Erscheinung, obschon auch er nur einfaches Tropenkostüm aus weißer Baumwolle trug und keine Waffen zeigte. Der athletische Wuchs machte es aus, den der prallsitzende Anzug in voller Deutlichkeit hervortreten ließ, dazu kamen vielleicht noch die mächtigen Reiterstiefel, an denen, obgleich er doch wohl schwerlich den Tafelberg hinaufgeritten sein konnte, riesige Silbersporen klirrten, und zu diesem Kostüm gehörte auch noch der Tropenhelm, den er beim Eintritt langsam abgenommen hatte.
Aber auch noch etwas anderes empfand Nobody beim ersten Anblick. Diese edlen Züge und das stolze Auge konnten diesen Menschenkenner nicht täuschen, das war nicht der echte Edelmut und der echte Stolz, der einen Mann ziert, sondern aus diesem ganzen Wesen sprach zugleich ...
Hinter Nobody hatte es geraschelt, er warf einen Blick zurück, das Gesicht der schwarzen Prinzessin wollte er sehen, und richtig ... halb abgewendet hatte die Sitzende ihr seidenes Gewand an sich gerafft, wie zur Flucht bereit, mit angstvollen Augen stierte sie nach dem schönen Manne ...
Ja, mochte sie auch eine Schwarze sein, eine Halbwilde, sie war dennoch ein Weib, hoch über ihren schwarzen Mitschwestern stehend, und als Weib empfand auch sie sofort, was Nobody im Augenblick herausgefühlt hatte, und mit weiblichem Instinkte schauderte sie davor zurück: vor der furchtbaren Brutalität, welche aus dem ganzen Wesen dieses Mannes mit den edlen Zügen sprach!
Sporenklirrend, den weißen Helm im linken Arm, war er bis dicht vor den Thron geschritten. Hier blieb er stehen.
»Bist du die Fadinah oder Prinzessin oder Fürstin dieses Landes, welches Godscham heißt und ein Teil von Abessinien ist?« fragte er kurz und mit rauher Stimme, sich des Arabischen bedienend.
Er hatte es sogar nur so von oben herab gefragt, obgleich er die höhersitzende Fürstin anblickte, und in diesem Moment konstatierte Nobody weiter, daß das, was aus dieses Mannes Augen blitzte, nur ein zum Tode entschlossener Mut war, sonst war er keiner Leidenschaft fähig. Dieser blitzende Mut paarte sich zugleich mit Eiseskälte, was aber jedem Beobachter so unsäglich unnatürlich vorkommen mußte.
Ein willenloses Werkzeug in der Hand eines Mächtigen, dessen Name dereinst Monsieur Sinclaire gewesen ist.
So dachte Nobody, als er sich erhob, während alle anderen regungslos dasaßen oder dastanden, den Fremden wie eine gespenstische Erscheinung anstierend, wahrscheinlich glaubend, ihren Ohren nicht trauen zu dürfen, daß jemand es wage, ihre Fürstin so ... anzuschnauzen.
»Es ist die Fadinah Theodora, die Fürstin von Godscham.«
Die großen, runden Augen wanderten von der erhöht Sitzenden hinab zu dem Antwortgeber, musterten ihn von unten bis oben, und Nobody machte in seinem schlichten Burnus einen sehr einfachen Eindruck, hatte auch ein recht alltägliches Gesicht aufgesetzt.
»Wer bist du?«
»Ich bin von der Fadinah ermächtigt, in ihrem Namen zu sprechen.«
»Was für einen Rang nimmst du hier ein?«
»Gar keinen.«
»Gar keinen? Was soll das heißen?«
»Ich bin der Freund der Fadinah.«
»Freund, so!« erklang es verächtlich. »Das sagt mir sehr wenig. Du bist doch ein Europäer.«
»Ja. Im übrigen aber geht dich das gar nichts an, zumal ich dich noch nicht gefragt habe, wer du bist, während ich dir bereits erklärt habe, daß ich von der Herrscherin dieses Landes ermächtigt bin, in ihrem Namen zu sprechen.«
Nobody hatte nicht anders erwartet, als jener würde sofort aufbrausen. Allein dem war nicht so. Er musterte den freien Sprecher nur mit einem verächtlichen Blicke.
Aber auch die Zuhörer hatten die Antwort und ihren Inhalt verstanden, auch sie fürchteten einen Ausbruch, eine Unruhe entstand, die Kettenpanzer klirrten zusammen, die Krieger legten die Hand an die Schwerter, als sich die Stimme der Fadinah angstvoll vernehmen ließ:
»Es ist mein Saban, der so zu dir spricht, und ich bin seine Sabana.«
Im Augenblick trat wieder Ruhe ein, es lag etwas von Staunen in dieser Ruhe. Doch Nobody merkte hiervon nichts, er beobachtete nur den Fremden, und dieser musterte ihn von neuem.
»Du bist der Saban der Fadinah von Godscham?« fragte er.
Hierzu muß etwas bemerkt werden. Es war doch nicht ausgeschlossen gewesen, daß der abgesandte Fremde Abessinisch oder richtiger Aethiopisch verstand und sich dieser Sprache bedient hätte. Eben deswegen aber konnte sich Nobody, weil er diese Sprache nicht verstand, auch nicht für einen Minister oder sonst für einen Würdenträger der Fadinah ausgeben.
So hatte er mit dieser ausgemacht, sich einfach für ihren Freund auszugeben. Das Wort ›Freund‹ ist doch ein sehr weiter Begriff, und sonst wollte Nobody schon fertig werden.
Nun hatte der Fremde aber die Unterhaltung gleich in der arabischen Sprache begonnen, und in dieser war Nobody sattelfest.
Sattelfest? Man mag in einer Sprache auch noch so perfekt sein, es läuft einem ab und zu doch ein Wort unter, dessen Bedeutung man nicht kennt, das man nicht wiederzugeben weiß, und das braucht gar kein so außergewöhnliches Wort zu sein.
Freund ist im Arabischen Aschab. Was aber war Saban, weibliche Form Sabana? Nobody konnte im Augenblick absolut nicht darauf kommen, vielleicht auch hatte er es überhaupt noch niemals gehört, obgleich es doch der Fremde so geläufig wiederholte.
Doch Nobody zerbrach sich nicht weiter den Kopf. Aschab, Saban - es ist einige Aehnlichkeit zwischen den beiden Worten - es war jedenfalls nur eine Verstärkung des Wortes Freund.
»Ich bin der Saban der Fadinah, sie ist meine Sabana,« wiederholte er also ohne Zögern.
Der andere warf nur noch einen Blick auf ihn, dann griff er in seinen rechten Stiefelschaft, zog ein zusammengerolltes Pergament hervor, rollte es auf und las mit trockener Stimme vor:
»Im Namen des Padischah el Kore: hiermit ergreife ich Besitz von Abessinien; allen Befehlen meines Abgesandten, des Shidi Kornelius, ist unbedingter Gehorsam zu leisten. - Der Shidi Kornelius bin ich,« setzte der Fremde noch hinzu, und als er das gesprochen hatte, rollte er das Pergament wieder zusammen und steckte es in den Stiefelschaft zurück.
Der Padischah el Kore - der Herr der Erde!
Diesmal trat keine Unruhe unter der schwarzen Versammlung ein. Sie waren alle gar zu sehr erstarrt ob des Gehörten.
»Großartig! Solch eine Unverschämtheit ist mir denn doch noch nicht vorgekommen - das geht denn doch wirklich über die Hutschnur!!«
Nobody war es gewesen, der dies gerufen hatte, die letzten Worte auf englisch. Er hatte sich beim besten Willen nicht beherrschen können.
Jetzt brach es los. Jetzt blieb es nicht mehr dabei, daß nur die Hand an den Schwertknauf gelegt wurde, schon drängten sich die Krieger vor, um sich auf den vermessenen Fremdling zu stürzen.
Doch dieser stand unbeweglich, hatte nur ein verächtliches Gesicht wie die beiden Schwarzen an der Tür, er hob die Hand, deutete nach dem Bogenfenster.
»Blickt dorthin!!« rief er mit starker Stimme, und wie in einem Banne befindlich, so folgten aller Augen der bezeichneten Richtung, und augenblicklich trat wieder eine unheimliche Stille ein.
»Wenn ihr nicht wißt, was das dort oben ist,« fuhr Kornelius fort, »so laßt es euch erklären: ein Geschütz, eine große Kanone, und wenn ich will, so ist diese Stadt innerhalb fünf Minuten in Trümmer geschossen, euch und eure Frauen und Kinder unter ihnen begrabend - so weiß der Herr der Erde seinen Befehlen Nachdruck zu verschaffen!«
Durch das weite Bogenfenster sah man in nicht allzu weiter Ferne jäh den Tafelfelsen aufsteigen, und wirklich war an seinem Rande eine Maschine aufgestellt, welche diese Abessinier recht wohl kannten, denn auch sie besitzen Kanonen, wenn diese auch nicht auf der Höhe der Zeit stehen - aber gerade deshalb, sie wußten, daß die Europäer Kanonen mit noch ganz anderer Wirkung haben. Abessinien hat Häfen und dort hatten sie schon die furchtbaren Feuerschlünde sprechen hören, und sie verstummten, ihre schwarze Gesichtsfarbe verwandelte sich in Aschgrau, denn schon sahen sie diese Stadt in Trümmern liegen.
Nobody freilich dachte hierüber etwas anders. Er konnte mit bloßen Augen sogar die kleinen Figuren unterscheiden, welche dort oben an der Kanone hantierten, und so konnte er sie auch für ein großes Feldgeschütz taxieren. Gewiß, diese Feuerschlange reichte bis hierher, die konnte gar viel Schaden anrichten, aber ... und wenn die auch noch ein Dutzend solcher Dinger da oben hatten, die weitgebaute Inselstadt gleich in fünf Minuten in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, so schnell ging das denn doch nicht.
Er war indes froh, eine Gelegenheit zu haben, einlenken zu können, und er spreizte hinter seinem Rücken die Finger aus und ballte sie wieder zur Faust zusammen, ein Zeichen, zu schweigen und ihn allein sprechen zu lassen, und man verstand ihn, und hoffnungsvoll hefteten sich aller Augen auf ihn, nicht nur das der Fadinah.
»Dann allerdings. Wenn schon Kanonen oben sind, welche die ganze Stadt beherrschen - dann allerdings. Da ist nichts mehr zu machen. Wollen wir unterhandeln? Was verlangt dein Herr von uns?«
»Keine Unterhandlung! Er verlangt, daß ihr ihm bedingungslos gehorcht!«
»Und was befiehlt er uns denn, das wir ausführen sollen?«
»Das werdet ihr schon noch erfahren.«
Nobody kam es vor, als ob Mister Kornelius selbst nicht recht wisse, was er oder sein Herr noch befehlen würde.
Ja freilich, Monsieur Sinclaire war tot, jetzt fehlte der Leiter des Ganzen! Der hier hatte nur einen Befehl ausgeführt, der jedenfalls nur die Besitzergreifung von Tafelfelsen in Abessinien betraf, und nun wußte er vorläufig nicht weiter. Allerdings konnte sich Nobody auch irren.
»Und wer ist es denn, dem die Abessinier fernerhin zu gehorchen haben?«
»Wie ich schon sagte - er ist der Herr der Erde.«
»Hat er sonst keinen Namen?«
»Doch - Nemo.«
Hoho! Nemo, Nobody - alles beides bedeutet Niemand, nur daß das eine lateinisch, das andere englisch ist, und unser Nobody kannte noch einen anderen Mann, der sich schon einmal diesen Namen angemaßt hatte, und es wandelte ihn etwas wie Lachlust an; denn plötzlich sah er vor seinen geistigen Augen einen kleinen, dicken Stöpsel mit aufgesperrtem Rachen stehen - am Ende war der geheimnisvolle Herr der Erde doch nicht etwa gar der Mr. Cerberus Mojan? - Wirklich, diese Idee wirkte humoristisch, und weiter dachte Nobody für sich:
Lieber Mann, wenn du wüßtest, daß auch ich ein Nemo bin, nur in englischer Ausgabe, daß ich der Detektiv Nobody bin, der euch schon ganz gehörig auf der Spur ist!
Und laut fuhr er fort:
»Nemo heißt Niemand, und wie kann denn ein Niemand dein und unser Herr sein?«
»Wir nennen den Herrn der Erde Nemo, weil er gar kein Mensch ist, sondern ein unsichtbares Wesen, welches wir als unseren ...«
Der Mann brach ab und machte eine Handbewegung, als ob er schon zu viel gesagt habe.
... welches wir als unseren Gott anbeten. Das hatte er sagen wollen, das war für Nobody ganz klar. Hier hatte er eben schon ein Mitglied, oder die beiden Diener mit eingerechnet, gleich drei jener Sekte vor sich, welche jener geheimnisvolle Unbekannte, der sich Sinclaire und Mephistopheles genannt, ins Leben gerufen hatte.
»Ein unsichtbares Wesen? Also ein Geist? Oder gar ein Gott?«
Diesmal sagte eine abwehrende Handbewegung, daß der Fremde nicht mehr gefragt zu werden wünschte.
»Ihr werdet alles erfahren, wenn es so weit ist. Jetzt fordere ich als erstes von euerm Gehorsam, daß ihr sofort dort neben dem Tafelberg, wo die Strickleiter emporgewunden wird, genügend trockenes Feuerholz aufstapelt. Verstanden?«
Aha, den siegreichen Fremden dort oben machte sich bereits der Mangel von Feuerholz bemerkbar! Denn diese Felsenbewohner verzehren nicht nur wie unten im Tale das Rindfleisch, sondern auch das Hammelfleisch roh, und ebenso wird das gemahlene Korn ungebacken und ungekocht mit Milch genossen. Die Felsenbewohner hatten sich daran gewöhnt, die kannten es nicht anders, aber die ›Udlindschis‹ mochten an so etwas keinen Geschmack finden.
»Ich habe verstanden, und es wird geschehen,« entgegnete Nobody.
Er hatte noch mehr sagen wollen, aber der Fremde wartete nicht darauf, verlor selbst kein Wort mehr, er wandte sich und verließ ohne weiteres mit den beiden Schwarzen den Saal, um sich direkt wieder nach dem Tafelfelsen zu begeben und an der Strickleiter hinaufzuklettern, welche alsbald wieder hochgezogen wurde. -
Wir geben keine ausführliche Beschreibung von der tumultartigen Szene, welche nach Entfernung der Fremden in dem Saale ausbrach. Nobody wußte schnell zu beschwichtigen mit der Versicherung, daß er das Land gar bald wieder von diesen anmaßenden Fremdlingen befreit haben würde, nur müsse man vor allen Dingen jetzt diesem ersten Befehle gehorchen. Und so geschah es denn auch. Man ließ die drei Männer ungehindert den Tafelberg wieder erreichen und hinaufklettern, dann erhielten Sklaven den Befehl, Brennholz nach dem Tafelberge zu tragen.
Nobody sah nur noch zufällig, daß es meist kurze, aber sehr dicke Baumstämme waren, welche hinaufgewunden werden sollten, sonst kümmerte er sich nicht mehr um diese Angelegenheit.
Die Fadinah bekam er nicht mehr zu sehen, auch den Rasol nicht; so hatte er nur noch mit Flederwisch eine längere Unterredung, dieser und Anok sollten einstweilen hier im Palast bleiben und die weiteren Vorgänge beobachten, während sich Nobody allein auf den Rückweg nach dem Brunnen machte, natürlich ohne jemandem etwas von seinem Ziele erzählt zu haben. Bei der allgemein herrschenden Aufregung war es auch sehr leicht, ungesehen zu verschwinden, besonders für unsern Nobody, ohne daß er dabei sein Tarnkleid benutzen mußte.
Schon nach wenigen Schritten verschwand er ja in dem hohen Grase, dann nahm ihn der noch dichtere Wald auf, und die Sonne stand noch immer hoch am Himmel, als er den Zauberbrunnen wieder erreicht hatte, ohne auf diesem Gange von irgendeinem Menschen beobachtet worden zu sein, und ebenso konstatierte Nobody, daß er hier auch von jenem Tafelberg aus nicht gesehen werden konnte, dazu waren die hohen Bäume des Waldes zu nahe.
Er selbst aber bemerkte Leben darauf, indem nämlich in jener Gegend Rauchwolken aufstiegen, die nur von Feuern herrühren konnten, welche auf diesem Felsen brannten. Hatten die Udlindschis noch kein Feuerholz nach oben bekommen, so nahmen sie wahrscheinlich zunächst hölzerne Zeltstangen und dergleichen, was sie oben vorfanden, um ihre erste Mahlzeit zu kochen. Lange freilich würden solche Gegenstände aus Holz wohl nicht vorhalten, und daher eben war ihre erste Sorge gewesen, sich genügend Brennholz von unten zu verschaffen.
Und auch Nobody wurde schon seit vielen Stunden von einer schweren, schweren Sorge erfüllt. Was war unterdessen aus seinen Gefährten in dem Motorboot geworden? Sollte es wirklich noch unten liegen? Nobody hatte seine erste Exkursion nicht so lange ausdehnen wollen. Und er mußte ja immer daran denken, daß die Udlindschis - wie wir sie ruhig weiter nennen wollen - doch denselben unterirdischen Wasserweg benutzten, um von einem Tafelfelsen zum andern zu gelangen, daran war doch gar kein Zweifel! Bisher war man zwar keinem Fahrzeug begegnet, wenn es aber nun inzwischen geschehen, wenn das Motorboot bemerkt worden war?
Nun, in fünf Minuten mußte Nobody ja Gewißheit haben!
Aber auch noch mit etwas anderem beschäftigte sich sein rastloser Kopf, noch einen anderen Beweis wollte er schaffen.
Er nahm einen Totenschädel von der Stange, zog diese aus der Erde und legte sie, seinen großen Taschenkompaß dabei beobachtend, quer über den gemauerten Rand des Brunnens. Erst dann stieg er hinab, und so tief er auch kam, immer noch konnte er den querliegenden, ziemlich starken Stock erkennen, der sich scharf gegen die helle Oeffnung abhob.
Und wie sah es unter ihm aus? Ach, schon von oben hatte er vergebens nach einem hellen Lichtschimmer ausgespäht, der von der Laterne des Bootes ausgehen und sich bemerkbar machen mußte, auch wenn die Laterne sich nicht direkt unter dem Schachte befand - aber vergebens, unter ihm wollte sich die schwarze Finsternis nicht lichten, und wenn es sich um das Wohl und Wehe seiner Freunde handelte, so konnte sich auch das Herz dieses eisernen Mannes ängstlich zusammenziehen.
Doch da, waren das nicht Stimmen? Gewiß, das war Dr. Wolfram, welcher leise flüsterte, und die letzten Sprossen glitt Nobody mehr hinab, als er stieg, und er befand sich im Boot.
»Ich bin's. Alles wohl?«
»Gelobt sei Gott, daß Sie zurück sind!« erklang es mehrstimmig im Tone der tiefsten Erleichterung.
»Gelobt sei Gott!« wiederholte Nobody.
Die noch brennende Laterne war nur verdeckt, und Nobody ließ es dabei. »Was hat sich unterdessen hier zugetragen?«
»Nichts, absolut nichts, und auch über den Gefangenen ist nichts weiter zu melden, als daß er bisher noch kein Sterbenswörtchen von sich gegeben hat. Wo sind Kapitän Flederwisch und Anok?«
»In Sicherheit. Nun, meine Herren, wo meinen Sie wohl, daß wir uns befinden?«
»Das hoffen wir von Ihnen zu erfahren, und wir sind gespannt darauf.«
»Was vermuten Sie?«
»Wo anders sollen wir sein, als mitten in der Wüste Sahara?«
»Wissen Sie das bestimmt?«
»Es kann doch nicht anders sein, wir sind immer direkt nach Westen gefahren.«
Nobody hatte unterdessen seinen Taschenkompaß mit dem großen des Bootes verglichen, wozu ein kleiner Strahl aus der verhüllten Laterne genügte. Beide Kompasse stimmten überein, der Fluß ging auch hier direkt nach Westen.
»Blicken Sie in den Schacht hinein. Können Sie den Stab unterscheiden, der quer über dem Rande des Brunnens liegt?«
Scott und Puttfarken konnten wenigstens noch einen dünnen Faden unterscheiden, nur Dr. Wolfram mußte ein Fernrohr zu Hilfo nehmen.
»Ich sehe ihn.«
»In welcher Richtung liegt dieser Stab?«
»Direkt von Süden nach Norden,« lautete die mehrstimmige Antwort nach Befragen des Kompasses.
»Und ich sage Ihnen: dieser Stab liegt direkt von Westen nach Osten.«
»Nicht möglich! Der Kompaß sagt gerade das Gegenteil!«
»Der Kompaß hat uns getäuscht, wir sind nicht nach Westen, sondern immer direkt nach Süden gefahren - wir befinden uns in Abessinien!«
Die Ungläubigkeit konnte nicht lange anhalten.
Hier auf diesem unterirdischen Flußlaufe wurde die Magnetnadel eben ständig nach Westen abgelenkt - richtiger nach Osten - wozu die hypothetische Erklärung genügte, daß rechts neben dem Flusse in der Granitwand eine Eisenader entlanglief.
Größer als über dieses Phänomen war das Staunen natürlich über Nobodys Erzählung, was er in dieser kurzen Zeit alles an der Oberwelt erlebt hatte. Er hatte nichts verschwiegen, hatte es nicht nötig - nur seine eigenen Gedanken hatte er für sich behalten.
Auf welche Weise die ›Udlindschis‹ auf den sonst unersteiglichen Tafelberg gekommen waren, das wußten sich ja nun auch die im übrigen Uneingeweihten zu erklären, und von den sonstigen Fragen und Antworten wollen wir nur eins hervorheben.
»Was für ein Mann mag das sein, der sich den Herrn der Welt oder Erde nennt und seine Eroberungen mit Abessinien beginnt?« fragte der Arzt.
»Kein Mensch, kein Mann - der Kerl sprach doch von einem unsichtbaren Wesen, dem er diene.«
»Na ja, den abergläubischen Abessiniern gegenüber will er nun um seinen Herrn und Gebieter gleich etwas Nimbus ...«
»O, wo denken Sie hin!« fiel Nobody jenem ins Wort. »Verstehen Sie nicht, was hier vorliegt? Der Herr, mein Gott - - darauf kommt es hierbei an - - um eine schon existierende Welt, aber eine bisher noch unbekannte Religionssekte, die nur noch nicht in die Oeffentlichkeit getreten ist. Jawohl, so ist es! Sie staunen darüber, Herr Doktor? Ist so etwas in der Weltgeschichte nicht schon dagewesen? Was war es denn anderes, als Moses - ein gar gewaltiger Kerl! - die Kinder Israels aus Aegypten führte? Gab er dem jüdischen Volke nicht auch einen neuen Gott, den er Jehova nannte? Und er zeigte den aus der Wüste Kommenden das Land Kanaan und sprach: ›das ist das gelobte Land, welches Jehova euch geschenkt, ihr also seid die Herren dieses gesegneten Landes‹ ... und da waren die Kananiter und die anderen rechtmäßigen Besitzer dieses Landes in den Augen der frommgläubigen Juden die unrechtmäßigen Besitzer, und da fielen sie sengend und mordend und plündernd in dieses Land und sangen dazu Psalmen zu Ehren dieses ihres Gottes, den wir Christen noch jetzt als den unsrigen verehren und anbeten und ...«
Nobody sprach noch weiter, und er sprach mit Wucht! Aber wir wollen lieber abbrechen. Und doch ist es so! So sind Götter und Religionen von jeher gemacht worden und werden neue gemacht werden in alle Ewigkeit! Der furchtbare Kampf zwischen Mohammedanismus und Buddhismus, zwischen Mohammedanismus und Christentum - die männerwürgenden Kreuzzüge - Gustav Adolf und Tilly ... es gehört alles in ein und denselben Topf! Religionen entstehen, Religionen vergehen, und immer wieder werden neue kommen, und jede bringt ihren neuen Gott mit, und wenn man diesem den Namen des alten gibt, so ist das nur ein Akt der berechnenden Schlauheit des Siegers!
Oder kann jemand noch glauben, daß der Gott des alten Testamentes derselbe wie der des neuen ist? Dann glaube man, und der Glaube macht ja selig!«
Schweigen herrschte in dem finsteren Tunnel unter der Erde. Der Schiffsarzt, der erst hatte widersprechen wollen, war tief erschüttert, mit solcher Ueberzeugungskraft hatte Nobody gesprochen, Edward Scott suchte die Hand des Freundes und drückte sie leise, zum Zeichen, daß jener aus seiner eigenen Seele gesprochen hatte, Jochen Puttfarken ließ seine Elefantenohren hängen, und aus der Brust des Gefangenen, der von Jochen gebunden worden war, kam ein stöhnender Laut.
»Nemo, mein Gott, du wirst mich nicht verlassen,« erklang es murmelnd.
»Hörten Sie es?« fragte Nobody.
»Entsetzlich!« flüsterte Dr. Wolfram.
»Entsetzlich? Was? Daß dieser Mann an einen Gott glaubt, von dem wir noch gar nichts gehört baden? O, da mag es noch viele solche unbekannte Götter geben - Götter, die auch von uns Christen angebetet werden - vielleicht haben Sie schon von Gott Mammon gehört, das ist nicht der geringste und schließlich auch gar nicht der schlechteste.«
Leichthin hatte Nobody gesprochen, dann aber kam es in feierlichstem Tone aus seinem Munde:
»Es gibt nur einen Gott, und dieser sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und ...« hier fiel er wieder in seinen gewöhnlichen, leichten Ton, » ... und um sie abzusägen, dazu gebraucht er ein Werkzeug - und das ist manchmal eine Säge, manchmal ein Mensch. Diesmal wird dieser Gott Nemo wohl von dem Menschen Nobody abgesägt werden.«


Auch an der Oberwelt mußte finstere Nacht herrschen, als der Motor wieder zu arbeiten begann. Nobody gab die Richtung an - stromaufwärts.
Nur ab und zu wurde vorsichtig ein Blendstrahl vorausgeschickt. Wie nun, wenn ihnen doch noch ein Boot begegnete? Nobody glaubte einen guten Grund dafür zu haben, daß die ›Udlindschis‹ gar keins mehr besaßen, wenigstens gegenwärtig nicht - und bald sollte sich zeigen, daß er recht gehabt - aber dennoch durfte keine Vorsicht außer acht gelassen werden.
»Wieviel Meter haben wir schon hinter uns?« fragte er nach einer Viertelstunde.
»1227,« las Scott von dem Apparate ab, der an einer Schnur im Wasser nachschleifte; durch die Fortbewegung des Fahrzeuges wird eine Schraube in Bewegung gesetzt, sie teilt ihre Umdrehungen einem Uhrwerk mit, die Stromgeschwindigkeit des Wassers kann dabei berechnet werden.
»Dann aufgepaßt, der Schacht muß bald kommen. Weiter war der Tafelberg von dem Brunnen nicht entfernt.«
»Da ist er schon,« meldete der an der Lampe postierte Puttfarken.
Wiederum hing aus einem großen Loche an der Decke eine kupferne Leiter ins Wasser herab, und kein Fahrzeug war daran befestigt.
Das Motorboot hielt, Nobody betrachtete aufmerksam die Leiter und die Wände des Schachtes, und sein scharfes Auge erkannte doch Verschiedenes.
»Es ist der gesuchte Schacht - diese Leiter in erst vor kurzem benutzt worden - der Grünspan ist an vielen Stellen ab - und hier an der Granitwand der rotbraune Strich - der rührt von Messing oder Rotguß her - hier ist auch die Kanone hinausbefördert worden.«
Eine Beratung fand nicht mehr statt, Nobody handelte. Das Boot sollte hier liegen bleiben; ohne weiteres begann er die Leiter zu erklimmen.
Schon nach den ersten Sprossen entschwand er den Augen der Nachblickenden. In diesen Schacht schimmerte von oben kein Licht herab, auch kein Stern war zu sehen, und das hatte seinen guten Grund; denn Nobody hatte erst zwanzig Meter erklommen, als er mit dem Kopfe plötzlich gegen eine Decke stieß. Aber der Schacht hörte nicht auf, jetzt ging er nur horizontal weiter. Als Brunnenschacht, in den man einen Eimer hinabläßt, hätte er also überhaupt gar nicht dienen können.
Der horizontale Tunnel war so hoch, daß Nobody bequem aufrecht stehen konnte. Er tastete sich weiter, mit den ausgestreckten Händen beide Wände berührend.
»Aber auch ein Fünfunddreißigzentimetergeschütz könnte man ganz bequem hindurchschaffen, dachte er dabei.
Da plötzlich - tauchte da vor ihm nicht ein Lichtschimmer auf?
Nobody konnte es nicht bestimmt sagen, in solcher Stockfinsternis ist das Auge, wenn es angestrengt wird, großen optischen Täuschungen ausgesetzt.
Da auch Stimmen! Englisch! Und sie mußten ganz nahe sein, Nobody konnte jedes Wort deutlich verstehen.
»Zweifle nicht immer, Tom.«
»Und ich behaupte: wir sitzen hier in einer ganz ekligen Patsche.«
»Wenn Nemo will, wird er uns wieder heraushelfen.«
»Aber allmächtig ist er doch auch nicht ...«
»Mensch, frevle nicht!« wurde der zweifelnde Sprecher erschrocken unterbrochen. »Nemo ist überall und hört uns jetzt sprechen!«
»Na ja, wenn er will, kann er uns wohl helfen,« lenkte der andere ein; »aber er will eben nicht immer. Sonst hätte er doch auch nicht die ganze Besatzung des ›Luzifers‹ verhungern und erfrieren lassen, und daß Nemo heute früh unten das Boot hat scheitern lassen, das war auch nicht gerade nötig.«
»Mensch, frevle nicht!« wiederholte der erste. »Sind wir nicht alle gerettet worden bis auf den Steward? Hatten wir nicht vorher schon alles glücklich an Land oder vielmehr in diesen Schacht gebracht, ehe die Katastrophe erfolgte? Und da sollten wir Nemo nicht dankbar sein?«
»Du sprichst gerade wie jener Matrose,« knurrte der zweite, trotz der Gegenwart ihres allgegenwärtigen Gottes, »der von der Raa gestürzt ist, und wie man ihm sagt, daß ihm das gebrochene Bein abgeschnitten werden muß, da jauchzt er voller Freude: ›Gott, ich danke dir, daß ich mir nicht das Genick gebrochen habe, sonst würden sie mir jetzt den Kopf abschneiden!‹ - Nee, die Tatsache bleibt bestehen, daß wir in einer ganz ekligen Patsche sitzen. Unter vierzehn Tagen kommt der ›Walfisch‹ nicht zurück, und unser ganzer Proviant war in dem untergegangenen Boote, und die Kanone, auf deren Rettung du so pochst, geht nicht zu essen, und mit dem kleinen Dinge ist auch nicht viel auszurichten. Kurz und gut, wir fünfzehn Mann sitzen hier ganz einfach in einer Mausefalle, da kann uns vorläufig auch nicht Cornelius' Verwogenheit und Levys Schlauheit wieder heraushelfen, wir müssen warten, bis das Unterseeboot zurückkommt, einstweilen sind wir von aller Welt abgeschnitten, und was in diesen vierzehn Tagen alles passieren kann ... du, den Abessiniern ist nicht zu trauen, die haben Haare auf den Zähnen, und die werden das verdammt übelgenommen haben. Die sinnen jetzt nicht schlecht auf Rache.«
»Ach, daß wir aber auch nicht auf dem anderen Bergplateau geblieben sind, auf dem Negussamharra,« seufzte der andere, »dort hätten wir Holz und alles im Ueberfluß gehabt.«
»Na, ich danke, dort hausten ja die Pocken!«
»Nein, das war nur ein Ausschlag, den die Kinder hatten.«
»Levy behauptet, es waren die Pocken, und Levy muß es wissen,« entgegnete der andere, der auf Levys Allwissenheit mehr zu geben schien als auf Nemos Allmacht. »Außerdem hätten wir von dem Negussamharra aus gar nichts ausrichten können, weil Gondar viel zu weit abliegt; das scheint Cornelius nicht gewußt zu haben, unser Geschütz erreichte nicht einmal das nächste Dorf, dort ist ja ringsherum nichts weiter als Wüste. Wir hätten ganz tatenlos dort oben gesessen. Hier ist es etwas anderes, von hier aus können wir die Residenz der Fürstin beschießen, und durch diese Drohung halten wir die ganze Provinz Godscham, wenn nicht ganz Abessinien in Schach. Ja, wenn nur erst der ›Walfisch‹ wieder hier wäre!«
In der Unterhaltung trat eine Pause ein. Es begann nach Tabak zu riechen. Die beiden zündeten ihre Pfeifen an.
Nobody hatte auch schon genug gehört, um sich ein Bild von der ganzen Sache zu machen. Nun wollte er erst sich einmal diese beiden persönlich ansehen und dann Cornelius, Levy und Kompanie.
Das erstere war bald geschehen. Nobody brauchte nur noch einige Schritte zu tun, dann schmiegte er sich an die Wand und lugte vorsichtig um die scharfe Ecke, welche der horizontale Schacht hier bildete.
Keine zehn Schritte von ihm entfernt befanden sich die beiden. Es waren bärtige Männer germanischer Rasse, wie Seeleute gekleidet, d. h. nicht in Uniform, sondern wie Arbeiter. Jeder war mit einem kurzen Gewehr bewaffnet, an dem Nobody auch aus dieser Ferne die eigentümliche Konstruktion auffiel, ebenso wie an dem Revolver oder vielmehr der Pistole, die jeder außer einem Messer im Gürtel stecken hatte.
»Wenn ich nicht wüßte,« dachte Nobody, »daß Luftbüchsen nur Kinderspielzeuge sind oder höchstens dazu brauchbar, um Spatzen zu schießen, würde ich diese Waffen für solche halten.«
Nobody irrte. Schon um das Jahr 1850 herum ist einmal eine Abteilung preußischer Dragoner versuchsweise mit Luftbüchsen ausgerüstet worden, und sie bewährten sich ganz vorzüglich, sie gaben den damaligen Feuerwaffen an Durchschlagskraft nichts nach, diese Luftbüchsen waren eben keine Kinderspielzeuge. Aber es kamen in der Hand des Schützen zu häufig lebensgefährliche Explosionen vor, d. h., die Luft mußte durch einen Hebel zu stark zusammengepreßt werden, die Wandungen des Luftreservoirs hielten den Druck oftmals nicht aus.
Dies zu vermeiden, so weit war man damals eben noch nicht. Heute, da dies geschrieben wird, probiert man in Amerika ein mächtiges Geschütz, welches durch komprimierte Luft Dynamitgranaten wirft, von Dimensionen und mit einer Flugbahn, die alles, was man bisher von den besten Geschützen verlangt hat, weit in den Schatten stellen.
Aber wenn Nobody dies alles auch noch nicht wußte, so kannte er doch einen Mann, den er wohl für befähigt hielt, ein Luftgewehr und eine Luftpistole konstruiert zu haben, welche nichts zu wünschen übrig ließen.
»Warum wir hier Wache stehen müssen, weiß ich auch nicht,« brummte der eine, als er seine Pfeife in Brand gesetzt hatte.
Wollte Nobody seinen Weg fortsetzen, so mußte er entweder über sie hinweg, sie nämlich mit aller Lautlosigkeit überwältigen, oder ... ungesehen an ihnen vorbei.
Nach kurzer Ueberlegung zog er das letztere vor. Was er dazu brauchte, hatte er bei sich, sogar doppelt. Zum ersten Male wollte er Gebrauch von dem Vermächtnis jenes geheimnisvollen Mannes machen, den er in den Tod getrieben hatte.
Nobody hatte das unsichtbarmachende Tarnkleid noch nie benutzt, weder aus Notwendigkeit noch zu ... noch sozusagen zu seinem Amüsement. Etwa einmal so als unsichtbarer Geist in den Straßen Londons spazieren zu gehen, davon hatte ihn immer eine gewisse Scheu abgehalten, die er selbst nicht recht definieren konnte. Das war eben kein Spielzeug, und auch sonst hätte er sich lieber immer auf seine eigene Kraft und Gewandtheit verlassen, ehe er zu solch einem schier unnatürlichen Mittel griff - - oder er mußte sich erst daran gewöhnen. Jetzt ging es ihm ungefähr noch so, wie dem Jäger der Pyrenäen, der es verächtlich findet, dem Bären anders als mit dem Messer gegenüberzutreten - besonders solange er kein brauchbares Gewehr hat. Hat er erst ein solches, dann benutzt er es auch.
Außerdem hatte Nobody fast noch gar keine Zeit zu solch einem Experiment gehabt. Man wolle bedenken, daß er gleich nach Sinclaires Tod abgereist war und sich bisher immer an Bord oder in der Wüste befunden hatte.
Aber geübt im Anlegen des Kostüms, das er in einem ledernen Etui in der Tasche bei sich trug, hatte er sich schon genug, und Uebung gehörte auch dazu, um sich in die unsichtbaren Hosenbeine und Aermel hineinzufinden, und wenn es auch nach langer Uebung so schnell ging, so kam dies nur daher, weil Nobody, der nie untätig sein konnte, sich auf der langweiligen Seereise das Etui selbst gefertigt hatte, mit verschiedenen Abteilungen und Täschchen versehen, in denen jedes Stück für sich untergebracht war, und dann gehörte doch noch immer eine überaus feinfühlige Hand dazu, über welche der unvergleichliche Taschenspieler ja nun auch verfügte.
So war das Anlegen des Kostüms in kaum einer halben Minute geschehen. Es war also, was nochmals betont sein mag, das einem Anzuge ähnliche Kostüm, welches auch Nobodys leichte Schuhe gleich mit einhüllte. Dann hatte er noch immer das aus einem ganzen Stücke bestehende Gewebe bei sich.
Nochmals beugte er sich um die Ecke. Er sah die beiden Männer. Vorsichtig streckte er seine Hand hinter der Ecke hervor, daß sie in den Bereich der Laterne kam, welche die beiden bei sich hatten - das rätselhafte Gewebe hatte noch nichts von seiner Zauberkraft verloren, er sah seine Hand nicht. Nun trat er langsam ganz hervor - unsichtbar!
Auf lautlosen Sohlen setzte er seinen Weg forr. Der Tunnel war breit genug, um an den beiden vorüberzukommen, ohne einen zu streifen, wobei er sich allerdings gegen die Wand schmiegen mußte.
Das wollte er schon fertig bringen. Aber ehe er dies tat, blieb er noch einmal vor den beiden stehen. Nobody sagt in seinem Tagebuche, es wäre ein unbeschreibliches Gefühl gewesen, damals, das erstemal, wie er so vor den beiden geradeaussehenden Männern stand, sie blickten ihn direkt an, und er sah sie deutlich vor sich stehen, sie aber blickten durch ihn wie durch Luft. Ein wahres Grauen habe ihn überkommen.
Man stelle sich nur diese Situation vor, und man wird das begreiflich finden.
Und gerade dieses erstemal passierte ihm etwas, was ihm auf einer belebten Straße jeden Augenblick passieren konnte.
Unvermutet, mit einer schnellen Bewegung, streckte der eine seinen Arm aus, Nobody hatte der Hand nicht mehr ausweichen können, diese traf ihn gegen die Brust, fand also in der wesenlosen Luft einen Widerstand, der alsbald zurückwich.
Und der Erfolg? Wie vom Blitz getroffen sank der betreffende Mann, sein Gewehr fallen lassend, auf die Knie nieder, anbetend die Arme hochhebend.
»Nemo - Nemo befindet sich hier!« flüsterte er, halb zum Tode erschrocken, halb mit überströmender Freude, und der andere hatte schon etwas bemerkt, im nächsten Augenblick lag auch er anbetend auf den Knien.
»Dann sind wir gerettet - Nemo befindet sich unter uns - gelobt sei Nemo, in alle Ewigkeit. Amen!«
So erklang es hinter Nobody; denn dieser befand sich schon auf der anderen Seite, und seine Entfernung war ein fluchtähnliche.
Eine ungeheure Erregung hatte sich seiner bemächtigt, die Ahnung von etwas Ungeheuerlichem, für welche der Mensch keine Worte findet.
Lag hier Gotteslästerung vor? Was ist Gotteslästerung? Ein Garnichts gegen das, was hier getrieben wurde! Hier trieb ein einzelner Mensch einen Frevel, für den es eben gar keine Worte gibt! Und doch, und doch - und es war dennoch ein genialer Kopf gewesen, der diesen Frevel ausgeheckt und inszeniert hatte!
Es war ein eigentümlicher Gedanke, der unserem Nobody die Ruhe wiedergab.
»Wenn ich einen Soldaten auf Wachtposten stellte, und er würde sein Gewehr hinlegen, um einen Gott anzubeten - ich würde den Kerl füsilieren lassen!«
Es war ein Gedanke, eines Soldaten würdig - über Frömmigkeit und alles andere geht noch etwas anderes, die unerschrockene Pflichttreue!
Der Gang machte abermals eine Biegung, und dann ging es wieder eine Leiter hinauf, hoch, sehr hoch, war doch außer der Erdoberfläche auch das Plateau des Felsens zu erreichen, und Nobody klomm unverdrossen, ohne noch auf eine Sicherheitswache zu stoßen.
Da wurde es hell über ihm! Es war ein flackernder Lichtschein.
Noch einige Meter höher, und Nobody befand sich in einem kleinen, niedlichen Raume, dessen Wände aus roh zusammengesetzten Quadern bestanden.
Nobody hätte ruhig den Schacht verlassen können; denn kein Mensch war zu sehen. Am Boden stand eine brennende Petroleumlampe, doch das Hauptlicht, welches so flackerte, drang durch eine Maueröffnung, welche aber kein Tor, keine regelrechte Tür war, sondern in die Mauer war mit Gewalt eine Bresche gelegt worden.
Nobody hatte sich im Palaste der Residenz zu gut über alles orientiert, um nicht sofort zu wissen, wo er sich befand.
Die Abessinier sind also Christen. Sie haben Kirchen und Tempel, welche sie Banas nennen, ihre Priester daher Abbanas oder Tempeldiener, Tempelwächter.
Das alles haben sie aus der Bibel herübergenommen; sie haben noch dieselben Kirchengebräuche, wie sie im alten Testamente beschrieben und vorgeschrieben sind, freilich alles nach ihren rohen Begriffen, einem afrikanischen Negervolke entsprechend, und wenn sie ihre Kirche nach dem Muster von Salomos Tempel gebaut haben, so ist denn auch etwas Nettes daraus geworden!
Der salomonische Tempel hatte doch einen Vorhof, einen heiligen Raum und einen allerheiligsten, welch letzterer jährlich nur einmal vom Hohenpriester betreten werden durfte.
Das alles hat in Abessinien gleich jede Kirche. Aber nun wie! Edelmetall, Juwelen und Elfenbein sind in den Hauptkirchen des Landes wohl reichlich vorhanden, aber von jener Kunst, die am salomonischen Tempel so reich verschwendet war, keine Spur. Alles plump, roh, und die Gottheit muß in einem Kellerloche wohnen.
Auch jeder Samharra hat seinen Bana und seinen eigenen Abbana oder Priester. In der Mitte des Felsplateaus ist ein Gewölbe gemauert oder vielmehr nur aus Steinen zusammengesetzt - das ist das Allerheiligste, in dem man sich den Geist Gottes wohnend denkt - durch eine Ringmauer wird die eigentliche Kirche gebildet, aber oben offen - wenn es beim Gottesdienst regnet, werden nur Felle und Decken darübergespannt - und dann eine zweite Ringmauer, über die man aber gleich mit einem Beine steigen kann, welche den Vorhof bildet oder vielmehr bilden soll.
Nur der in Gondar residierende Rasabbana oder Erzbischof, der abessinische Papst, darf das Allerheiligste jeder Kirche betreten, um mit Gott persönlich zu verkehren. Deshalb reist er im Lande herum, besucht die einzelnen Kirchen. Aber in Abessinien sind sie schon so weit, daß sie die weltliche Macht von der kirchlichen getrennt haben. Auf keine jener Ritterburgen, den Sitz der weltlichen Macht, darf der Rasabbana kommen. Jede Ritterburg hat einen eigenen Priester. Trotzdem steht dieser unter dem Erzbischof; nie würde er wagen, das Allerheiligste seiner eigenen Kirche zu betreten. Da hat dieser Raum einfach gar keinen Eingang, man hat ihn gleich ganz zugemauert.
Daher ist es erklärlich, wie es kommen kann, daß nicht einmal die Priester, noch viel weniger die anderen Felsenbewohner, um den mit einer Leiter versehenen Schacht wissen konnten, der in das zugemauerte Allerheiligste führte.
Ein Rätsel bleibt freilich bestehen. Wer waren die Erbauer dieser Schächte? Wer hatte die Leitern angelegt? War dies vielleicht schon in vorchristlicher Zeit geschehen? Hatten diese jetzt als Kirchen dienenden Gebäude einst anderen Zwecken gedient? Oder war den Abessiniern und auch den Priestern nur im Laufe der Zeit die Erinnerung an alles dies verloren gegangen, was ihre Ahnen einst geschaffen hatten?
Nobody zerbrach sich hierüber nicht den Kopf. Er hielt sich an die Tatsachen, und da war ihm alles erklärlich. Die ›Udlindschis‹ hatten darum gewußt oder hatten die Schächte mit den Leitern entdeckt, hatten sie erklommen, die Mauer des Allerheiligsten wurde von innen durchstoßen, so waren die völlig ahnungslosen Felsenbewohner, die nicht einmal mehr Zeit hatten, nach den Waffen zu greifen, überrumpelt worden. Auf sie selbst mußte das Auftauchen der Fremdlinge aus der Kirche wie eine Gespenstererscheinung gewirkt haben.
Nobody ging durch die Bresche und befand sich in der eigentlichen Kirche. Das war also nichts weiter als ein offener Rundgang, und auf diesem Plateau, das seine Bewohner selbständig ernährte, mußte man mit dem Raume geizen. Der Rundgang, der beim Gottesdienst ja auch bloß zwei Dutzend Menschen aufzunehmen hatte, war von Mauer zu Mauer kaum drei Meter breit.
Nicht weit von der Bresche entfernt waren über die Mauern Stangen gelegt worden, darüber Decken, und darunter saßen, so gegen den Nachttau geschützt, zwei Männer.
In dem einen erkannte Nobody den Mr. Cornelius wieder, der andere, der stark jüdisch aussah, war offenbar der Levy. Seltsam mutete es Nobody an, daß dieser einen ganz modernen Jackettanzug trug, Stehkragen und Manschetten - und nun einen Klemmer auf der krummen Nase, die Hände in den Hosentaschen - ganz wie ein auf der Straße einer europäischen Stadt feilschender Jude modernsten Kalibers.
Aber hier wurde nicht gefeilscht. Oder aber doch! Um Menschenleben!
Himmel, wo hatte Nodoy denn dieses jüdische, geistreiche Gesicht mit den scharfmarkierten Zügen schon einmal gesehen?
Diesmal brauchte Nobody nicht lange zu grübeln.
Mr. Harris Levy, vor sechs Jahren, im New-Yorker Schachklub, der alle amerikanischen Schachspieler zu einem Turnier eingeladen hatte, dieser ausgemergelte Judenjunge gewann den ersten Preis und wurde dadurch Meisterschaftsspieler von Amerika; dann machte er noch acht blinde Spiele zugleich und gewann sie sämtlich. Im nächsten Jahre wollte der New-Yorker Schachklub ihn als Vertreter Amerikas zum internationalen Wettkampf nach England schicken, aber Mr. Harris Levy war nicht zu finden gewesen ...
Also hier! Ein Werkzeug jenes Mannes, der sich als böses Prinzip Mephistopheles, als gutes oder doch gottähnliches Nemo genannt hatte!
Jawohl, hier wurde ebenfalls Schach gespielt, nur kein so harmloses!
Die beiden saßen auf Ochsenschädeln, zwischen sich eine Kiste, auf der eine Landkarte ausgebreitet war. Nobody erkannte einen Riß von Abessinien, selbst gezeichnet, nicht den wirklichen Dimensionen entsprechend, vielfach verkürzt, anderes wieder weit auseinandergezogen, ein Plan, wie der Offizier ihn sich selbst verfertigt, wenn er seine Aufmerksamkeit auf ein gewisses Gelände richtet und dabei doch die Umgegend, das ganze Land im Auge behalten muß.
Deutlich konnte Nobody, der sich ja ungeniert nähern durfte, erkennen, daß der eine runde Kreis, um den sich eine blaue Linie schlängelte, die auf der Flußinsel liegende Residenz der Fadinah bedeuten sollte, dann war der schwarze Fleck nebenan dieser Felsen hier. Und dort der kleine Kreis, weswegen war daneben ein Totenknochen gemalt?
Auf der Karte befanden sich kleine Stückchen von weißem und schwarzem Glas, sie wurden von den beiden Schachspielern hin und her gezogen, sie berieten, konnten sich auch streiten.
»Nein, wir müssen vom Knochenbrunnen ausgehen, dann marschieren wir auf Godscham los. - Hier, Mr. Cornelius, setzen Sie sich fest, während Mr. Haddok auf Gondar losmarschiert ...«
Das Schachspiel war ein Feldzugsplan, vorläufig auf der Karte ausgeführt. Der Teufels- oder Zauberbrunnen, von jenen Knochenbrunnen genannt, war das Zentrum der einen Armee, von dem sie ausgingen, während es eine zweite Armee zu geben schien, von einem Mr. Haddok befehligt, welcher unterdessen sich eines Tafelfelsens nach dem anderen bemächtigte.
Nobodys Interesse erlahmte sehr schnell.
»Ja,« dachte er, »jener Sinclaire war nicht so dumm, als er sich den genialsten Schachspieler zum Chef des Generalstabs erkor, ich glaube schon, daß dieser Mr. Levy ein ganz tüchtiger Feldherr der Theorie ist, Moltke soll ja auch auf dem Schachbrett ein ausgezeichneter Schlachtenlenker sein - nur schade, daß ihr vorläufig in einer ekligen Patsche sitzt, wie vorhin der Mann ganz richtig sagte, es dürfte doch noch einige Zeit währen, ehe eure Armeen zur Stelle sind, mindestens also dauert es noch vierzehn Tage, ehe das Unterseeboot wieder hier ist, und gleich zwei Armeen wird das wohl nicht mitbringen, und bis dahin denke ich euch den Garaus gemacht zu haben - wenn es nicht noch diese Nacht geschieht!«
Es hatte also gar keinen Zweck, daß Nobody diesen Feldzugsplan, wie man sich nach und nach ganz Abessiniens bemächtigen wolle, weiter verfolgte - er würde ja doch nie zur Ausführung kommen.
Bedauerlich war nur, daß er nicht heraushören konnte, über wieviel Mann hier disponiert wurde - man sprach gleich von zwei Armeen? - und da zog er es eben vor, auf eigene Faust wenigstens hier oben Recherchen anzustellen.
Rings um die äußere Mauer dieses elenden Gebäudes, das die Abessinier eine Kirche nannten, standen die mit Häuten gedeckten Hütten der Felsbewohner. Sie waren von den siegreichen ›Udlindschis‹ nicht bezogen worden, um sich vor dem reichlich fallenden Nachttau zu schützen, und den Grund hierzu konnte sich Nobody lebhaft denken. Er bekam ihn auch zu hören.
Ein weißer, wie ein Arbeiter gekleideter Mann, kam soeben aus solch einer Hütte gekrochen, er hatte einen Tonkrug herausgeholt, und sich kratzend, schimpfte der Mann in französischer Sprache über das Ungeziefer, welches einem hier von allen Seiten anspränge.
So zogen die Leute vor, im Freien zu kampieren. Die Nacht war ja auch warm genug, auch der Tau nicht kalt, und zum Schlafen würden sie sich wohl Dächer herzustellen wissen.
In einiger Entfernung von den gefährlichen Hütten loderten Feuer auf, an denen große Fleischstücke von frischgeschlachteten Hammeln gebraten wurden. Hier zählte Nobody neun Männer, Europäer verschiedener Nationen und zwei Neger. Aber das waren nicht alle. Dort vorn, wo der Rand des Plateaus sein mußte, loderten ebenfalls Feuer, in dessen Scheine ein Dutzend Männer arbeiteten, sie drehten unter Gesang eine Winde, andere türmten Baumstämme auf oder zersägten und zerhackten sie gleich. Das Heraufwinden des Holzes war also noch in vollem Gange. Dann konnten sich ja auch noch Leute auf dem finsteren Plateau, auf welchem doch Herden weideten, zerstreut haben. Man stelle sich ein Gut von siebzig Ackern vor. So groß war dieses Plateau, auf dem ja auch hauptsächlich Landwirtschaft betrieben wurde.
Als Nobody an den ersten Feuern von den Leuten kein ihn besonders interessierendes Gespräch erlauschen konnte, begab er sich nach jenen anderen, wo das Holz aufgewunden wurde.
Auf dem Wege dorthin glaubte er trotz seiner Unsichtbarkeit einer Entdeckung ausgesetzt zu sein. Ein großer Hund kam ihm entgegen, auch dieses Tier sah ihn nicht, aber es sah durch die Nase, wenn man sich so ausdrücken darf; denn plötzlich stutzte der Hund, hob die Nase, beschrieb um Nobody, der schon zu allem bereit war, einen Kreis, dann aber stieß das Tier ein jämmerliches Geheul aus und floh mit eingekniffenem Schwanze davon.
Einen Menschen zu riechen und ihn nicht zu sehen, das war für einen Hundeverstand zu viel!
Eine weitere Folge hatte dieses Intermezzo nicht. Nur die Sterne verbreiteten ein schwaches Licht, der Hund war von niemandem beobachtet worden, man hatte nur sein Geheul gehört, das sich aber nicht wiederholte, und so mochte man eben glauben, das Tier sei von irgend jemandem getreten oder geschlagen worden.
An dem Rande des Plateaus zählte Nobody fünfzehn Mann, wiederum teils Europäer, teils Schwarze und andere Farbige. Das Boot, welches gesunken war, mußte sehr groß gewesen sein, um so viel Menschen aufnehmen zu können, und wie gesagt, die achtundzwanzig Menschen, die Nobody bis jetzt gezählt hatte, brauchten noch immer nicht alle zu sein.
Hier wurde nur darüber geschimpft, daß die Kerls dort unten ausschließlich solche große, schwere Baumstämme an das Seil banden, die man kaum heraufwinden konnte und dann noch zersägen und spalten mußte.
»Der Kapitän hätte fordern sollen, daß die Schufte das gleich dort unten machten,« wurde gemurrt.
»Er war überhaupt sehr fix wieder hier oben, viel verlangt kann er von der Fürstin nicht haben.«
»Es war keck genug von ihm, daß er sich überhaupt hinunterwagte.«
»Ja, aber auch der Kapitän Cornelius! Der bringt noch etwas ganz anderes fertig, der ist ein Teufel von Verwogenheit.«
»Aber wir könnten nun bald aufhören, es ist schon genug Holz, um eine Woche lang jeden Tag einen Ochsen braten zu können.«
»Und womit braten wir die anderen Tage, bis der ›Walfisch‹ wiederkommt?«
»Morgen ist auch noch ein Tag, heute könnten wir Schicht machen.«
»Es wird gearbeitet, bis der Tee fertig ist!« entschied der die Arbeit leitende Aufseher.
Nobody wandte seine Aufmerksamkeit dem Geschütz zu, welches nicht weit von dieser Arbeitsstelle placiert war. Es ruhte auf einer Lafette, Sechzehnzentimeterkaliber, daneben war ein großer Haufen von Granaten und Hartgußkugeln aufgestapelt, ein eherner Kasten mochte die Pulverkartuschen bergen.
Dieser große Vorrat von Munition war sehr schlimm für die Residenz Godscham und seine Bewohner; dieses Geschütz mußte vernagelt oder noch wirksamer unschädlich gemacht werden, ehe Nobody das Plateau wieder verließ, um selbst gegen die Udlindschis als Angreifer vorzugehen.
Zunächst wollte er untersuchen, was für ein Feuer dort in der Ferne brannte. Er kam über fette Weidegründe, Wege führten durch mit Weizen und Durra bestellte Felder.
Auf diesem Wege begegnete er noch vier anderen Männern, welche Krüge trugen, aus denen beim Gehen Milch hervorspritzte. Sie hatten Kühe gemolken.
Das im Absterben begriffene Feuer war verlassen, Nobody kehrte zurück, schon von weitem bemerkend, daß jetzt die neben der Winde brennenden Feuer ausgelöscht, mit Füßen ausgetreten wurden. Man wollte soviel Holz wie möglich sparen, auch noch die Holzkohle benutzen.
So war dieser Platz schon verlassen, als ihn Nobody wieder erreichte, die Arbeiter hatten sich nach dem mittleren Teile des Plateaus zu den anderen Feuern begeben, um dort die Abendmahlzeit einzunehmen.
Nobody sah sich um. Niemand war in der Nähe. Warum sollte er mit der Ausführung seines Vorhabens zögern? Die ganze Nacht konnte oder wollte er doch nicht hier oben bleiben, seine zurückgebliebenen Gefährten warteten jetzt noch in ganz anderer Sorge auf ihn, als da er heute früh jenen ersten Schacht bestiegen hatte, und ob man nun sogleich oder erst morgen früh merkte, was eine unsichtbare Hand getan, das blieb sich gleich; die Hauptsache war, daß es ausgeführt war, und dann wurde der Schacht für die Udlindschis versperrt, dann waren es seine Gefangenen.
Gedacht, getan. Noch einmal spähte Nobody um sich, und dann ging er ans Werk. Er schraubte von dem Geschütze das Verschlußstück ab. Freilich war hierzu eine kundige Hand nötig. Nicht jede hätte die vielen Schrauben und Schräubchen gefunden und die anderen Griffe gewußt, die dazu gehörten.
Es war geschehen. Und nun warf Nobody diesen Verschlußkopf einfach über den Rand des Plateaus hinaus. Hoffentlich fiel das schwere Stahlstück unten keinem Abessinier auf den Kopf. Es mußte schon längst unten aufgeschlagen sein, und kein Ton war hier heraufgedrungen.
So, dieses Geschütz war ein für allemal unbrauchbar gemacht worden, und ein anderes besaßen die neuen Felsenbewohner nicht.
Schon wollte sich Nobody zum Gehen wenden, als ein Ton sein Ohr traf, der ihn zusammenzucken ließ.
Dicht neben ihm war ein hoher Stoß von Baumstämmen, und in diesem hatte es geraschelt, gekratzt, gepocht.
Das war keine Maus oder irgendein Baumtier, das mit den Baumstämmen zufällig hierheraufbefördert worden war.
Das war eine menschliche Hand, welche vorsichtig in dem Holzstoß arbeitete!
Die Sterne verbreiteteten für das Auge dieses Detektivs genug Helligkeit, um noch deutlich alle die Enden der einzelnen Baumstämme erkennen zu können, noch deutlicher die dunklen Zwischenräume zwischen den einzelnen: denn nur ein solcher konnte doch als Versteck eines Menschen dienen.
Da, was war das? Plötzlich hob sich das Endstück eines in der Mitte liegenden Baumstammes wie ein Deckel ab, ein schwarzer Kopf kam zum Vorschein, zwei leuchtende Augen spähten heraus.
Nobody dachte nicht daran, daß hier ein Wächter postiert worden sein könnte, sondern wie ein Blitz schoß es ihm durch den Kopf:
Unten die Abessinier haben sich selbst zu helfen gewußt! Krieger haben sich in hohlen Baumstämmen heraufgeschmuggelt, um unter den Udlindschis ein Blutbad anzurichten!
Es war die größte Hochachtung, welche Nobody während dieses Gedankens für die Eingeborenen dieses Landes empfand, und mit dem Bewußtsein, selbst unsichtbar zu sein, beobachtete er mit Spannung, wie sich die Sache weiter entwickelte.
Zunächst sei darauf aufmerksam gemacht, daß das Auftauchen dieses versteckten Mannes bewies, mit welcher Geräuschlosigkeit Nobody sich seiner eigenen Arbeit entledigt hatte. Denn dieser schwarze Mann hatte doch natürlich aufs angestrengteste gelauscht, ehe er wagte, den Pfropfen von dem hohlen Baumstamm zu entfernen und herauszublicken. Aber das Abnehmen des Verschlußstückes vom Geschütz hatte trotz seiner Schwierigkeit auch nicht das geringste Geräusch verursacht.
Dem Kopfe folgten die Brust, der Leib, die Beine, und Nobody als Sachverständiger bewunderte, wie schlangengleich sich diese Bewegungen vollzogen.
Wie ein indischer Gaukler, dachte er, der selbst mehr Schlange denn Mensch ist, gar keine Knochen im Leibe zu haben scheint.
Langausgestreckt lag der Spion, wie wir ihn nennen wollen, nur den Kopf etwas erhoben, im Schatten des Holzstoßes, selbst ein Holzklotz. Es hätte jemand dicht an ihm vorübergehen können, mit einer Laterne, er hätte ihn nicht von einem Baumstamm unterscheiden können.
Unseres Champion-Detektivs Augen sahen schärfer, ihm genügte das schwache Sternenlicht, um alles deutlich unterscheiden zu können.
Der bis auf den Schurz nackte, tiefschwarze Mann, war außergewöhnlich klein, man hätte ihn eher für einen halbwüchsigen Knaben halten können, hätte Nobody nicht auch die Züge zu unterscheiden vermocht, welche die eines sogar alten Mannes waren. Um die Hüften trug er einen Riemen, in dem ein Scheidemesser steckte und an dem ein Beutel hing.
Nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war, kroch er wie eine Schlange weiter - wirklich wie eine Schlange, auch Nobody konnte sich gar nicht erklären, wie er sich so, auf dem Bauche liegend, scheinbar ohne jede Bewegung fortschieben konnte. Er verschwand hinter dem Holzstoß.
Sollte Nobody ihm folgen und ihn weiter beobachten? Das war wohl an sich schon schwierig, und dann wollte Nobody erst abwarten, ob nicht noch mehr hohle Baumstämme vorhanden waren, aus denen noch andere hervorkrochen.
So verging eine Viertelstunde. Nichts geschah. Der Spion kam nicht zurück, etwaige Kollegen aus ihrem Versteck hervorzuholen, und nun war es erst recht schwierig, ihn wieder aufzufinden.
Was tat er wohl unterdessen? Kundschaftete er nur aus? Damit würde er sich wohl schwerlich begnügen. Nobody war überzeugt, daß jener gleich aktiv vorging. Es genügte ja, wenn nur ein einziger der Abessinier hierheraufgelangte und die Strickleiter hinabließ.
Aber so einfach war das denn doch nicht! Die über hundert Meter lange Strickleiter war über eine Art von Trommel gewickelt, welche sich neben der Winde befand, die jetzt zu einem anderen Zwecke diente. Einmal nun quietschte die Winde außerordentlich, das hätte die Udlindschis sofort herbeigerufen, und dann glaubte Nobody nicht, daß diese Last von einem einzigen Menschen beherrscht werden konnte.
Eine weitere Viertelstunde verging. Nichts regte sich. Dort in der Mitte des Plateaus begannen die Feuer zu verlöschen, die Leute trafen Vorbereitungen zur Nachtruhe.
Da plötzlich schlug ein Hund an, ein zweiter, aus dem warnenden Bellen wurde ein wütendes Geheul.
»O weh, der Retter des Vaterlandes hat nicht an die Hunde gedacht, sie haben ihn aufgestöbert, er ist verloren, und ich kann ihm nicht helfen!«
Die folgende Szene spielte sich auf der Strecke zwischen Nobody und den Lagerfeuern ab. Ein menschlicher Schatten flog über die Ebene, doch schneller war ein vierbeiniger, ein Kampf zwischen Mann und Hund, das röchelnde Geheul des letzteren verriet, daß ihn das Messer tödlich getroffen hatte, doch auch der Mensch war gestürzt, und da unter wütendem Gekläff ein zweiter Hund - und nun Alarm im Lager und herbeieilende Fackelträger.
»Ein fremder Neger! Verrat!!!«
»Er ist schon tot, Neptun hat ihm die Kehle durchgebissen.«
»Wie ist der hierheraufgekommen?«
»Zu den Waffen!!! Auf die Posten!!! Licht!!!«
Nobody mußte an seinen eiligen Rückzug denken. Wenn es denen jetzt einfiel, auch den Schacht wieder zu verbarrikadieren, dann half ihm seine Unsichtbarkeit nichts mehr, dann war er hier oben ein Gefangener.
Er bekam auf seinem fluchtähnlichen Rückzuge noch einige Ausrufe zu hören. Man hatte schon alles entdeckt.
»Hier ist ein hohler Baumstamm!«
»Hier liegt ein Holzkeil, mit dem war er zugestöpselt!«
»Reißt die Baumstämme auseinander, untersucht sie alle!«
Ein Wutschrei übertönte alle anderen, ein entsetzlicher Fluch folgte.
»Von dem Geschütz ist der Verschlußkopf abgeschraubt!!!«
Mehr hörte Nobody nicht, er befand sich bereits tief im Schacht.
Ungesehen und lautlos schlüpfte er wieder an den beiden Wachtposten vorbei, welche sich zu tief unter der Erde befanden, um irgend etwas hören zu können.
Dann war Nobody, der sich nach Passieren der Posten seines Tarnkleides entledigt hatte, wieder bei seinen Gefährten. Nachdem er das Motorboot etwas hatte zurückgehen lassen, stattete er Bericht ab.
Wir brauchen die Erwägungen nicht zu hören, in denen sich die anderen ergingen, während der Gefangene mit weitaufgerissenen Augen den Erzähler anstierte. Wir vernehmen nur Nobodys Plan:
»Wir bleiben hier liegen und beobachten den unteren Ausgang des Schachtes; denn die Vermutung liegt nahe, daß die Udlindschis jetzt daran denken, mit den vorhandenen Baumstämmen Flöße zu bauen und so aus der Klemme zu kommen, was natürlich von uns verhindert wird. Hierheraus kann ja niemand, wenn wir nicht wollen. Geschieht nichts, so werde ich morgen früh mit ihnen in Unterhandlung treten. Was für Bedingungen ich stelle, weiß ich noch nicht. Jedenfalls sind sie unsere Gefangenen auf Gnade und Ungnade. Der aufsteigende Schacht wird oben horizontal, beschreibt zwei scharfe Ecken, und ein einziger von uns, der hinter solch einer Ecke steht, kann die ganze Gesellschaft in Schach halten, während das Motorboot unterdessen nach dem Zauberbrunnen fährt und einer die Abessinier von dem Vorgefallenen benachrichtigt. Alle Einzelheiten werde ich mir noch diese Nacht überlegen.« -
Die Nacht verlief ohne jede Störung. Früh um fünf erstieg Nobody zum zweiten Male die kupferne Leiter, gefolgt von dem bis an die Zähne bewaffneten Puttfarken.
Noch vor der ersten Ecke hörte er abermals ein Gespräch, also noch immer waren zwei Wachtposten ausgestellt, aber es waren andere Stimmen als gestern.
»Ich freue mich auf den Kaffee,« gähnte der eine.
»Bloß noch eine Stunde, dann werden wir abgelöst.«
»Den könnten sie uns eigentlich auch herunterbringen, er sollte schon um drei fertig sein.«
»So was gibt's bei Kapitän Cornelius nicht.«
»Ob wir dann schlafen können?«
»Schwerlich, jetzt muß alles mit Hand anlegen. Sofort nach dem Kaffeetrinken werden die Baumstämme, die einstweilen bis an den Schacht geschleppt werden, herabgelassen, und da muß alles schon fix und fertig sein, hier unten am Wasser brauchen dis Flöße bloß noch zusammengebunden zu werden, und dann kom ...«
Ein Griff, zwei Köpfe schmetterten zusammen, und als die Betäubten wieder zu sich kamen, waren ihnen schon Hände und Füße gebunden und in jedem Munde steckte ein Knebel.
»Master, das habt Ihr wieder einmal fein gemacht,« lobte der Nasenkönig, der sich nur an dem Binden hatte zu beteiligen brauchen.
Weitere Instruktionen hatte Nobody dem geriebenen Matrosen, den er als Schutzwache in seinem Rücken zurückließ, nicht zu erteilen, er bezeichnete ihm nur den Platz, wo er mit schußbereitem Revolver zu stehen habe, jeden niederstreckend, der das Losungswort nicht geben konnte, und Nobody setzte seine Klettertour fort, diesmal in sichtbarer Person, und er würde das Tarngewand auch nicht noch nachträglich anlegen. Denn er unterhandelte bereits mit Gefangenen, die sich auf Gnade und Ungnade in seinen Händen befanden, und wenn sie ihn nicht als gefeiten Parlamentär anerkannten, dann ... war Nobody noch immer der Mann, aus eigener Kraft den Rückweg zu finden. Jetzt jedenfalls verachtete er das Tarnkleid.
Nun die letzten Sprossen, und er steckte den Kopf zur Schachtöffnung heraus.
Das Mauerwerk, welches das ›Allerheiligste‹ eingeschlossen hatte, war über Nacht abgetragen, ganz beseitigt worden. Statt der Steine lagen Baumstämme aufgetürmt, welche dann also hinabbefördert werden sollten, um erst auf dem unterirdischen Wasser von ihnen ein Floß zu bauen. Sie zeigten schon die Einschnitte, wo sie mit Stricken verbunden werden sollten.
Ein Mensch war nicht zu sehen, die Baumstämme verdeckten fast alle Aussicht. Auch kein Laut war zu hören. Besonders fiel das Nobody nicht auf. Die Leute mochten an einer entfernten Stelle arbeiten, oder sie nahmen das Frühstück ein.
»Hallo!! Ein Parlamentär!«
Keine Antwort. Das war eigentlich merkwürdig, Nobody hatte laut genug geschrien. Auch ein zweiter Ruf und ein gellender Pfiff lockte keinen Wächter, keinen Menschen herbei, auch nicht den Hund.
Nobody stieg vollends heraus - und stand betroffen da!
Vor ihm, seinen Blicken bisher von einem Baumstamm verborgen, lag am Boden langausgestreckt ein Mann, ein blondhaariger Weißer, mit dem Gesicht gegen den Steinboden.
Schlief denn der Mann hier?
»He!«
Die erste Berührung am Arm genügte für Nobody, um zu wissen, wen er vor sich habe. Einen Toten! Er wendete ihn um - und schrak vor dem furchtbar verzerrten Gesicht zurück.
Und da lag noch einer! Den brauchte Nobody nicht erst umzukehren, und dessen Gesicht war ebenso fürchterlich verzerrt!
Und dort noch einer, und da wieder einer, und da lag ein großer Hund, und an der Feuerstelle, wo zwei Dutzend Menschen Kaffee getrunken hatten ... tot, alles tot!!
Wohl war Nobody beim ersten Anblick zurückgeschreckt, aber Furcht kannte er nicht, auch nicht vor solch einem Massentod. Er hielt auf dem Plateau weiter Umschau. Es ist darüber nichts weiter zu sagen als nochmals: alles tot!
Auch einige Dutzend Rinder, eine ansehnliche Herde Schafe - alles krepiert.
Die Felsenbewohner hatten für ihre Herden eine besondere Salzlecke errichtet, und neben dieser lagen die sämtlichen Tiere. Das Salz war vergiftet, und andere Zuchttiere, welche kein Salz lecken, gab es hier oben gar nicht.
Und die Menschen? Der Hund? Da nahm Nobody vergiftetes Wasser an.
Wie man schon mit bloßem Auge erkennen konnte, neigte sich das Plateau von allen Seiten etwas nach der Mitte zu, so war hier nur eine einzige Zisterne angelegt worden, eben an dieser tiefsten Stelle. Alles Regenwasser mußte in dieses in den Felsboden gemeißelte Bassin fließen, etwa acht Meter im Quadrat und drei Meter tief, das gibt zusammen einen Raum von fast zweihundert Kubikmetern, und das war für die Felsenbewohner überreichlich genug. Staub gab es hier oben nicht, ringsherum war harter Felsboden, und so brauchte die Zisterne gar nicht zugedeckt zu sein. Die Tiere wurden entweder mit Eimern getränkt, oder für sie konnte dort, wo der Boden lehmig war, ja auch noch eine andere vorhanden sein.
Diese hier war noch zur Hälfte mit Wasser gefüllt. Schwamm da nicht etwas Gelbes darauf, etwa wie Schwefelstaub? Ein anderer Mensch freilich hätte es gar nicht bemerkt.
Nobody dachte an den kleinen Lederbeutel, den der Abessinier am Gürtel getragen hatte. Er fand seine Leiche nicht. Sie mußte wohl von dem Felsen herabgestürzt worden sein.
Keine Beratung erst mit seinen Gefährten! Nobody schrieb längere Zeit auf seinen Notizblock, riß die Blätter heraus, begab sich an den Schacht und stieß einen gellenden Pfiff hinein, welcher alsbald Puttfarken erscheinen ließ. Zu sehen bekam er nichts, er blieb noch im Schacht, als Nobody ihm die Blätter übergab.
»Bringe das Mister Scott. Dann weiß er, was er zu tun hat. Darauf kehrst du zu den Gefangenen zurück. Was tun diese?«
»Gar nichts, sie sagen keinen Mucks. Was ist denn nun hier oben geschehen? Ihr habt sie wohl alle dingfest gemacht?«
»Ich wollte, ich hätte noch die Möglichkeit gehabt, auf die Gefahr hin, dabei selbst zu unterliegen,« entgegnete Nobody erschüttert. »Geh jetzt, laß es dir von Mister Scott erzählen. Oder meinetwegen denn: alles ist bereits tot.«
»Tot?!« wiederholte der Nasenkönig staunend.
»Vergiftet! Geh!«
Puttfarken verschwand, und Nobody begab sich nach der Winde und ließ die Strickleiter hinab. Die Vorrichtung, so primitiv sie auch war, wirkte entgegen Nobodys Annahme vorzüglich, ein Kind hätte das riesige Tauwerk von mehreren Zentnern Gewicht hinablassen können.
Als sie erst zur Hälfte unten war, hielt Nobody noch einmal inne. Er hatte eine dünne, weiße Decke liegen sehen, diese holte er und hißte sie an dem Baume der Winde empor. Durch sein Taschenfernrohr beobachtete er, daß in dem Städtchen auf der Flußinsel schon reges Leben war, dort würde man natürlich auch den Tafelberg beobachten, und dann setzte er seine Arbeit fort, bis die Strickleiter ganz abgewickelt war, also mit ihrem unteren Ende den Boden erreicht hatte.
Er brauchte nicht lange zu warten, so sah er unten ein Menschlein die Strickleiter emporklimmen, eine zweite Gestalt folgte, eine dritte - dort unten begann es von Menschen zu wimmeln. Sie mußten sich dicht in der Nähe des Felsens aufgehalten haben und hatten das weiße Flaggenzeichen sofort richtig zu deuten gewußt.
Mit einiger Verwunderung erkannte Nobody in dem ersten Manne den Rasol Harrot. Er hätte dem schon bejahrten Manne gar nicht so etwas zugetraut. Aber die Söhne des gebirgigen Abessiniens sind eben von Jugend auf an die halsbrecherischsten Klettertouren gewöhnt, für den Alten war die Strickleiter eine ganz bequeme Treppe.
Nicht einen Schrei des Schreckens, sondern einen Schrei der Freude stieß der alte Mann beim Anblick der vielen Leichen aus, und er fand ein zahlloses Echo von den Lippen der Nachkommenden.
»Du hast sie getötet, du hast uns von den Udlindschis befreit!«
»Mitnichten, ein anderer hat es getan, und du mußt doch darum wissen,« entgegnete Nobody.
»Was soll ich wissen?«
»Wer die Udlindschis vergiftet hat.«
»Vergiftet? Wer?« fragte der Rasol staunend.
»Einer von euch hat sich doch gestern nacht in einem hohlen Baumstamme heraufwinden lassen.«
»Heraufwinden lassen? Wer soll denn das gewesen sein? Da müßte ich doch auch etwas davon wissen.«
»Das denke ich eben auch.«
Trotzdem erzählte Nobody ausführlich, der Wahrheit die Ehre gebend. Sich mit fremden Federn schmücken, das war das letzte, dessen Nobody fähig war.
Ueberall nur ein verwundertes Kopfschütteln.
»Habt ihr unten nicht die Leiche eines sehr kleinen Mannes gefunden?«
»Nein, nur einen Teil des Geschützes, das auch wir kennen, und wenn es an der Kanone fehlt, kann man nicht mehr damit schießen, das Feuer würde hinten herauskommen. Wir hörten einen schweren Fall, und als wir das Eisenstück fanden, da wußten wir gleich, daß du schon oben wärst und wenigstens zunächst die Kanone unbrauchbar gemacht hattest.«
Nobody ließ diese rätselhafte Angelegenheit vorläufig bei sich bewenden. Man hatte ihn noch gar nicht gefragt, wie er eigentlich hierheraufgekommen war, die guten Leute mochten wirklich glauben, der weiße Mann könne fliegen, und Nobodys Entschluß war von vornherein gefaßt gewesen.
Er führte den Rasol, dem sich immer mehr zugesellten, nach dem Eingange des Schachtes. Hier sprach er wohl eine halbe Stunde lang, er berichtete alles, was die Abessinier verstanden und was sie wissen mußten, um fernerhin ihr Land oder doch ihre Samharras gegen solche fremde Eingriffe zu schützen.
Es dauerte lange, ehe die Zuhörer überhaupt begriffen, und dann war ihr Staunen und ihr Schreck groß.
»Daß sich auf dem Negussamharra noch Udlindschis befinden, bezweifle ich. Vor allen Dingen müßt ihr sämtliche Samharras des ganzen Landes daraufhin untersuchen, ob die Banas solche Schächte mit oder ohne Leitern verdecken. Vorkehrungen zu treffen, daß so etwas nicht wieder vorkommt, das ist dann eure Sache. Ferner gebt euren Zauberglauben auf. Auch diese Brunnen müssen untersucht und unschädlich gemacht werden.«
Der Rasol hatte sich zuerst wieder gefaßt.
»Es soll geschehen. So bist also auch du durch diesen Brunnen in unser Land gekommen?«
»Ich habe es dir doch ausführlich genug erzählt, wie ich in dem Meere, welches eure Küste bespült und welches wir das Rote Meer nennen, den unterirdischen Fluß gefunden und ihn verfolgt habe - alles habe ich dir erzählt.«
»Aber du kannst doch durch die Luft fliegen, wenn du willst,« fuhr der Alte treuherzig weiter fort.
»Ich kann gar nicht fliegen,« lachte Nobody.
»Aber unsichtbar machen kannst du dich.«
Dies zu verneinen hatte Nobody erst recht seinen Grund.
»Ja, dann bist du doch auch ein Mensch.«
»Natürlich bin ich genau so ein Mensch wie du und ihr alle,« mußte Nobody noch immer lachen.
»Auch du bist ein Mensch wie ich - gelobt sei Gott!« erklang da eine helle Stimme, die nur einem Weibe angehören konnte.
Vor Nobody stand die Fadinah. Auch sie hatte die Klettertour gemacht, war hier oben doch ihre Heimat. Mit leuchtenden Augen schaute sie Nobody an.
»Gelobt sei Gott, auch du bist nur ein Mensch!« wiederholte sie aus vollem Herzen.
Prüfend blickte der unvergleichliche Menschenkenner in diese so wundersam strahlenden Augen. Er las noch etwas ganz Besonderes darin.
»Du hast mein Land von den furchtbaren Udlindschis befreit!« fuhr sie mit eigentümlich zitternder Stimme fort.
»Du irrst, Fadinah Theodora. Hörtest du nicht, wie ich erzählte, daß diese Nacht hier oben einer deiner Leute ...«
»Wohl hörte ich es, aber ich glaube dir nicht, du bist nur demütig, wie es ein Christ sein soll; aber du bist es zu sehr, du willst deinen Sieg nur verkleinern.«
»Bei Gott, ich ...«
»Schwöre nicht, ich weiß es besser. Komm, alles ist zum Empfange des Siegers bereit, zum Empfange meines Sabans.«
Mit verklärtem Antlitz streckte sie ihm die Hand entgegen. Nobody nahm sie nicht. Jetzt hatte er unter den schwarzen Gestalten auch Flederwisch und Anok erblickt. Der erstere schnitt immer ganz eigentümliche Grimassen.
»Saban? Dein Saban bin ich?« wiederholte Nobody träumend. »Was ist das, ein Saban?«
Sie selbst konnte keine rechte Erklärung geben.
»Nu, ihr Verlobter,« ließ sich da Flederwisch vernehmen, »eigentlich noch mehr, und zwar von einer Fürstin, du bist sozusagen der Prinzgemahl!«
»Ja ja, ne ne, der Prinzgemahl,« gab auch Anok sein Teil dazu.
Und plötzlich fiel es Nobody wie Schuppen von den Augen, und abwehrend streckte er die Hand aus.
»Ich weiß, Fadinah, was du meinst. Du bist die jüngste Schwester des Negus, und wenn ich diesem die verschwundene Albino, die Hawalan mit ihrem Kinde wiederbrächte, so warst du mir zum Weibe versprochen. Aber einmal habe ich diese Hawalan ...«
Die Fadinah machte eine verächtliche Handbewegung.
»Was geht mich diese Hawalan meines Bruders an! Du hast mein Land von den Udlindschis befreit!«
» ... und dann bin ich bereits verheiratet.«
»Was schadet das?«
»Unsere Religion schreibt uns vor, nur ein Weib zu haben, und auch du gehörst dieser Religion an.«
»Es ist nicht wahr. Auch Salomo hat viele Frauen gehabt.«
»Das gilt mir nicht zur Richtung. Genug!«
Drohend rückten die kühngeschwungenen Brauen der Negerin zusammen.
»Was willst du mit diesem Genug sagen?«
»Daß du niemals mein Weib werden kannst!« entgegnete Nobody mit Festigkeit; denn hier halfen doch alle Ausreden nichts.
»Du hast mich bereits öffentlich deine Sabana genannt!« fuhr sie jetzt wild mit hervorbrechender Leidenschaft empor.
»Du tatest es, du bezeichnetest mich als deinen Saban, und ich kannte die Bedeutung dieses Wortes nicht.«
»Du lügst! Du sprichst Arabisch so gut wie ich!«
»Und ich versichere dir, daß ich nicht wußte, was dieses Wort bedeutet.«
»Du hast mich, die Fadinah von Godscham, die Schwester des Königs, im Bade gesehen, und du wagst jetzt ...«
»Aufgepaßt!« sagte Nobody auf deutsch, der hier kein Auskommen mehr sah. »Hier hilft nur schleunigste Flucht, mit der ist nicht zu spaßen. Hinunter in den Schacht, unten liegt das Motorboot. Vorwärts!«
Flederwisch schien eine Einrede machen zu wollen, doch er gehorchte, und auch er wußte, was hier vorlag, er gab Anok einen Stoß und war mit einem Satze in dem Schacht verschwunden, ihm nach Anok.
Aber auch die Fadinah wußte nun, was hier beabsichtigt wurde.
»Haltet ihn! Er will entfliehen! Haltet ihn, auch er ist nur ein Mensch!!«
Sie selbst hatte sich auf ihn gestürzt, doch Nobody entwich dem Griff unter ihrem ausgestreckten Arm und war gleichfalls in dem Schachte verschwunden.
»Vorwärts, vorwärts, immer hinunter und dann gerade aus, bis ihr auf Jochen stoßt, der euch weiter führen wird!!«
»Na, warum willst du sie denn nicht heiraten, Alfred?!« gröhlte einige Meter tiefer Flederwisch.
»Ja ja, ne ne, eigentlich ist die doch gar nicht so ohne,« mußte Anok dazuselzen.
»Vorwärts, vorwärts!« schrie Nobody und trat dem Matrosen auf die Hände. »Wir werden verfolgt!«
So war es. Der Lichtschacht hatte sich oben verdunkelt, die weibliche Stimme, zum Festhalten der Flüchtlinge auffordernd, wollte sich nicht entfernen.
Doch einzuholen waren sie nicht mehr. Nur eines mußten sie im Stich lassen.
»Hier steht Jochen!«
»Und zwei gebundene Menschen liegen daneben!«
Auch die Fadinah schien jetzt den wagerechten Gang erreicht zu haben, und wer wußte, wessen dieses schwarze Weib alles fähig war, und wen sie noch hinter sich hatte.
»Vorwärts, vorwärts, laßt die Gefangenen liegen!«
So mußten die beiden zurückgelassen werden. Es war undenkbar, sie so schnell mitzuschleppen, und ihretwegen sich in einen Kampf mit den Verfolgern oder gar mit dem Weibe einzulassen, daran dachte Nobody gar nicht. Es war ja auch noch ein anderer Ueberlebender der Udlindschis vorhanden.
Jochen schloß sich den Flüchtlingen an, sie gelangten ins Boot, dieses dampfte davon, von Nobody stromabwärts gesteuert.


Hiermit schließt dieses Abenteuer aus Nobodys Leben.
Nach vier Tagen erreichte das Motorboot wieder das offene Meer, vor der Höhle lag noch immer die ›Wetterhexe‹, wo man sich gerade anschickte, das Motorboot auszurüsten.
Von einem Unterseeboote hatten weder Nobody noch die vor der Flußmündung Liegenden etwas gemerkt. Es konnte ja auch sein, daß jene geheimnisvollen Fremdlinge für ihr unter Wasser gehendes Fahrzeug, welches sie ›Walfisch‹ nannten, noch einen anderen Weg nach dem offenen Meere kannten. Jedenfalls war es sehr gut, daß man ihm nicht begegnet war.
Nobody hatte noch eine längere Unterredung mit dem Ras Saglu Kasai, worauf sich dieser unverzüglich nach Abessinien zurückbegab.
Wenn aber Nobody glaubte, hiermit sei das abessinische Abenteuer für ihn beendet, so hatte er sich geirrt. Er sollte noch einmal dieser Fadinah von Godscham begegnen, als er es am wenigsten erwartete. -
Die ›Wetterhexe‹ hatte Dampf aufgemacht.
»Wohin?« fragte Kapitän Flederwisch.
Nobodys Entschluß war bereits reiflich überlegt gewesen.
»Zurück nach Suez, und von dort gehe ich wieder zu den Beni Schammars. Ich will von diesen Teufelssöhnen wenigstens meine Winchesterbüchse wiederhaben. Und du, Edward? Begleitest du mich nicht?«
»Auch ich komme mit!« war die leise gegebene Antwort.
Nur ein Blick in sein Gesicht, und Nobody wußte alles. Es war nicht wahr gewesen, daß er von seiner Jugendgeliebten nichts mehr wissen wolle! Er hatte nur die unterirdische Expedition nicht aufhalten wollen.
Und wirklich, was wäre wohl geschehen, wenn sie nicht gerade zu dem Zeitpunkte die Oberfläche der Erde wieder betreten hätten, da sie es getan? Jedenfalls wäre alles, alles ganz anders gekommen, und wahrscheinlich nicht zum Bessern.
In Suez war für Nobody das erste, daß er nach Hause ein Telegramm aufgab, in dem er seine gute Gesundheit meldete.
Die beiden hatten noch nicht einmal den neuen Reiseplan entworfen, als für Brian Aston, zur Zeit an Bord der ›Wetterhexe‹, Suez, eine Depesche aus London ankam.
Nobody hatte sie dem braunen Postboten aus der Hand genommen, diesen entlohnt, den Stempel noch nicht zerrissen, als er durch Scotts Benehmen stutzig wurde.
Dieser hatte sich schnell von seinem Stuhle erhoben und deutete mit der ausgestreckten Hand auf die Depesche.
»Das mußt du tun, Alfred!« rief er leidenschaftlich.
»Was denn?«
»Das, was in diesem Telegramm steht.«
»Werden wir gleich sehen.«
Er erbrach das Telegramm und las es.
»Hier steht nichts weiter drin, als daß für mich ein Brief unterwegs ist, den ich hier erwarten soll.«
»Ja, eben, auf den mußt du warten.«
»Darüber aber vergehen fünf Tage, wenn er gleichzeitig mit dem Telegramm abgegangen ist.«
»Und wenn du noch so lange warten müßtest - was dir jener Brief erzählt, das ist für dich, für dein ganzes Leben von größter Wichtigkeit, das mußt du befolgen, es führt dich der Lösung des Geheimnisses wieder um einen großen Schritt näher! Ich weiß es!«
Was sollte Nobody dazu sagen? Er zweifelte nicht mehr an der Sehergabe seines Freundes.
Trotzdem wurden die Vorbereitungen zur Wüstenreise fortgesetzt, nur daß sie sich jetzt Zeit nehmen konnten.
Am fünften Tage traf ein eingeschriebener Brief ein. Ein Befehl seiner Königin - zwar in Form einer Bitte gekleidet, für den Champion aber doch ein Befehl.
Eine russische Großfürstin, mit dem englischen Hofe verwandt, die sich unter dem Namen Viktoria Juvenal nach Paris gewandt hatte, sollte aus näher angegebenen Gründen heimlich beobachtet werden. Eine ganz delikate Sache, der sich nur ein Mann wie Nobody glücklich entledigen könne. Bitte!
»Teufel, was soll ich hinter diesem Weibsbilde her spionieren?!«
»Du mußt! Sie führt dich auf eine neue Fährte, welche dich der Lösung des Rätsels noch näher bringt!«
»Und du?«
»Ich gehe in die Wüste, die mir nicht fremd ist. Du aber eilst nach Paris!«
Nobody gehorchte, nicht seiner Königin, nicht seiner eigenen Vernunft, sondern seinem prophetischen Freunde.
Auf dem nächsten Dampfer, der nach Marseille ging, befand er sich an Bord.

8. Nur eine Nacht.

Um zehn Uhr abends traf Nobody in Paris ein. Sein erster Gang war nach der Hauptpolizeiwache, wo er sich das Verzeichnis der zuletzt angemeldeten Fremden vorlegen ließ.
Irgendein gewöhnlicher Sterblicher hätte dieses Verlangen natürlich nicht äußern dürfen, zumal nicht in so später Nachtstunde. Der Herr aber, der sich als englischer Staatsdetektiv legitimiert hatte, erhielt das Anmeldebuch sofort, doch nicht etwa, daß sich dieser Detektiv als der berühmte Nobody zu erkennen gegeben hätte!
Das Verzeichnis war so übersichtlich angelegr, daß Nobody nach wenigen Minuten konstatieren konnte, daß sich eine Viktoria Juvenal noch nicht angemeldet hatte, und das Paßwesen wird in Frankreich bekanntlich sehr streng gehandhabt, und wenn die ihm zugegangenen Mitteilungen richtig waren, so besaß jene Dame keinen anderen Paß. Unter diesem Namen mußte sie sich unter allen Umständen anmelden, ob sie nun in einem Hotel oder in einer Pension oder bei einer ihr bekannten Familie wohnte.
Vielleicht war sie noch gar nicht angekommen. Nobody mußte eben warten.
Er entfernte sich von dem Polizeiamt, um sich ein Hotel zu suchen, wohin er dann vom Bahnhof seine Sachen bringen ließ. Ein bestimmtes hatte er nicht im Auge. Das überließ er dem Zufall, der ihm hoffentlich auch noch ein Abenteuer in den Weg führte.
Als er so durch die Straßen schlenderte, kam ihm eine Idee. Der Champion-Detektiv, dessen Verbindungen ja die ganze Welt umspannten, hatte natürlich auch in der französischen Hauptstadt seine dienstbaren Geister. Einer von ihnen war Redakteur bei einer der größten Pariser Zeitungen. Ein famoser Kerl, der Paris durch und durch kannte, zumal bei Nacht. Nobody wußte, daß er täglich bis Mitternacht Dienst hatte. Er war mehr Nobodys Freund als Untergebener ... gedacht, getan. Er wurde in seiner Redaktionsstube aufgesucht.
Die beiden hatten sich viel zu erzählen, die Zeit bis Mitternacht würde schnell vergehen, dann wollten sie losziehen.
Ein Bureaudiener brachte druckfeuchte Korrekturabzüge. Der Redakteur mußte sie durchsehen. Es waren Seiten mit Annoncen.
»Ach, hier ist ja das Ding! Hier, lesen Sie einmal - was das für ein verrücktes Frauenzimmer sein muß - was die eigentlich will.«
Nobody nahm das Blatt, überflog die bezeichnete Annonce bis zum Schluß - und wenn nicht äußerlich, so zuckte er doch innerlich zusammen - gefunden! Die Gesuchte war schon in Paris!
Es war eine außerordentlich auffallende Annonce, ein Gesuch, alles fettgedruckt, und einige Worte immer noch hervorgehoben.
             »Sofort gesucht
von einer jungen Dame ein Reisebegleiter, welcher folgenden Bedingungen entsprechen muß: jung, gesund, sympathisch; sprachgewandt: mindestens Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch; muß mit einem Arm wenigstens einen Zentner stemmen können; darf sich nie betrinken; Reinlichkeit selbstverständlich; guter Fußläufer und Reiter; Ehrlichkeit erwünscht, aber nicht Bedingung; Verheiratete ganz ausgeschlossen. - Hoher Tageslohn, gute Behandlung, keine demütigenden Dienste wie Stiefelputzen und dergl. - Zu jeder Zeit persönlich vorzustellen bei Miß Viktoria Juvenal, St. Barbara-Hotel, Paris.«
Nobody lächelte. Der Redakteur schüttelte sich vor lautlosem Lachen.
»Wissen Sie, wer das ist?«
»Nun?« stutzte Nodody, glaubend, jener wisse schon etwas Näheres.
Aber dem war nicht so.
»Das ist eine Russin. Ich lasse mich doch gleich hängen, wenn sich hinter diesem englischen Namen in Wirklichkeit nicht eine Russin versteckt. Ein Reisebegleiter, der mindestens vier Sprachen beherrschen muß - und die Stiefel braucht er nicht etwa zu putzen - und besaufen darf er sich nicht - hoher Tagelohn - gute Behandlung zugesichert, das heißt, es gibt keine Knute - auf unbestechliche Ehrlichkeit wird gleich gar nicht ernsthaft reflektiert, das ist von einem Menschen zu viel verlangt ... alles so echt russisch!«
Ja, insofern hatte er recht. Die Verfasserin dieser Annonce hatte sich als Russin verraten. Aber sonst hatte er keine Ahnung.
»Haben Sie die Dame gesehen?«
»Nein. Ein Dienstmann brachte die Annonce, heute abend um acht erst, und die sollte morgen schon drin stehen. Das geht noch zu machen, aber das kostet die Zeile einen Franc extra. Macht nichts, der Mann hatte eine Tausendfrancsnote mitbekommen. Bei uns kostet die einfache Zeile drei Francs, von diesen fettgedruckten hier zehn Francs, ein Franc bevorzugte Einrückungsgebühr - macht zusammen hundertvierundfünfzig Francs. Alles ganz egal. Na, Geld wird die wohl auch haben, das scheint das wenigste zu sein, was der fehlt. Bei der fehlt's mehr im Kopfe. Und wie die nun gerade ins Sankt Barbara-Hotel gekommen ist!«
»Was ist mit diesem Hotel?«
»Kennen Sie es nicht?«
»Nein.«
»Gleich neben Notre Dame. Es wird fast ausschließlich von Damen benutzt, höchstens Geistliche steigen darin noch ab, durchaus solid, um zwölf ist Schluß, es wird kein Gast mehr angenommen - im Volksmunde heißt es nur das Betschwestern-Hotel. Und daß nun so eine Russin dahineinpaßt, das kann ich mir nicht recht vorstellen.«
»Diese Annonce erscheint morgen?«
»Morgen früh um sechs Uhr kommt das Blatt heraus. Na, das wird ein Gelaufe ins Sankt Barbara-Hotel geben! Denn daß es in dieser Weltstadt genug junge Leute gibt, die allen diesen Bedingungen entsprechen, das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen. Verlorene Existenzen - Abenteurer - ganz tüchtige Kerle ... nur stillsitzen können sie nicht.«
Das Telephon klingelte. Der Redakteur ging hin und lauschte.
»O weh! Ich soll den Chefredakteur noch in eine Versammlung begleiten! Und das gerade heute! Was soll ich tun? Soll ich eine Entschuldigung ...«
»Auf keinen Fall!« unterbrach Nobody lebhaft. »Wenn Sie ertappt werden, sind Sie Ihre Stelle los, und der Posten, auf dem Sie sitzen, ist für uns ja unbezahlbar! Dann ein andermal.«
Es war ein Viertel vor zwölf, als sich die beiden verabschiedeten, und die Glocke der Kirche von Notre Dame verkündete die Mitternachtsstunde, als Nobody seine Droschke vor dem St. Barbara-Hotel verließ.
Dieses Hotel führt im Pariser Volksmunde noch einen ganz anderen Namen, als den, den der Redakteur genannt hatte. Er kann hier gar nicht wiedergegeben werden. Es hängt damit zusammen, daß in diesem Hotels das von alten Jungfern bevorzugt wird, kein männlicher Angestellter unter fünfzig Jahre alt sein darf; ehe er engagiert wird, soll er sich, heißt es, sogar noch einer ärztlichen Operation unterwerfen müssen, damit die ängstlichen Jungfrauen absolut sicher vor ihm sind - und nun kann sich der gewitzigte Leser wohl ungefähr denken, wie man das St. Barbara-Hotel umgetauft hat.
In dem Augenblick, als Nobody aus dem Wagen sprang, wurde gerade das Portal geschlossen. Er konnte noch eben den Fuß zwischen die Türspalte setzen, und er tat es wirklich.
»Halt! Verzeihung! Ich möchte noch jemanden sprechen!«
Nun, es war ja nicht direkt ein Kloster. Die Tür wurde wieder etwas geöffnet, ein vor Altersschwäche mit dem Kopfe wackelnder Portier zeigte sich, und er durfte solchen Mut haben, einem Fremden nach Mitternacht noch einmal zu öffnen; denn in dem Portal standen nicht nur einige Kellner, alle mit einem weißumrahmten Heiligenscheine auf dem Haupte, sondern auch ein bewaffneter Polizeiwachtmeister, der wahrscheinlich die letzten Meldescheine entgegennahm.
»Wir nehmen nach Mitternacht keine Gäste mehr auf.«
»Ich will auch nur jemanden sprechen. Wohnt in diesem Hotel Miß Viktoria Juvenal?«
»Ja, das wohl, aber ... was wünschen Sie, Monsieur?«
»Ich möchte Miß Juvenal sprechen.«
»Um Mitternacht? Wo denken Sie hin! Das geht auf keinen Fall!«
»Ich bin von der Dame bestellt worden.«
Der Portier schob seine Augenbrauen hinauf, daß seine Glatze wieder Haare bekam, und ebensolche Gesichter machten die Kellner.
»Be ... stellt hat Sie die Dame? Hierher in dieses Hotel?« erklang es im Tone des höchsten Mißtrauens.
Von der Annonce wollte Nobody nicht anfangen, da hätte er doch keinen Eintritt bekommen.
»Es handelt sich um ein Geschäft.«
»Um was für ein Geschäft?«
»Privatsache.«
»Nein, Monsieur, so etwas gibt es hier nicht, kommen Sie morgen ...«
»Ich muß die Dame unbedingt sofort sprechen, nur fünf Minuten, nur eine Minute, habe ihr nur eine Karte abzugeben.«
Das war etwas anderes. Nobody durfte zunächst ins Heiligtum eintreten, und Nobody war auf derartiges vorbereitet gewesen, er hatte vor Besteigen der Droschke wirklich eine Karte geschrieben und sie in ein Kuvert gesteckt, welches er jetzt hervorzog.
Aber damit war für ihn der Weg noch längst nicht frei.
»Die Sache ist nur die,« begann der Portier wieder, nachdem er sich überzeugt hatte, daß der fremde Mann ein junger Herr in tadellosem Winterüberzieher war, »daß Miß Juvenal bereits - äh - bereits geruht hat, sich - äh - wie soll ich doch gleich sagen ...«
»Sie ist wohl schon im Bett,« kam ihm Nobody zu Hilfe.
»Ooooohhh,« erklang es einstimmig aus dem Munde der Kellnerschar mit entsprechenden Bewegungen.
»Mademoiselle Juvenal geruht bereits zu ruhen,« verbesserte der eine mit sittlicher Entrüstung.
»Macht nichts. Die Dame wird sofort aus dem Bett ... wollte sagen: wird sofort ausgeruht zu haben geruhen, wenn sie hört, daß ich ihr die langersehnte Karte bringe.«
Portier und Kellner steckten die Köpfe zusammen, auch der dicke Wachtmeister mußte seinen dazwischenstecken, worauf man zu dem Entschluß kam, daß man der Dame, welche in der ersten Etage die drei teuersten Zimmer innehatte, obgleich sie ohne Bedienung gekommen war, und welche gleich bei ihrem Antritt immer nur so mit Trinkgeldern um sich geworfen hatte, eine sehnlichst erwartete Karte nicht vorenthalten dürfe - auch wenn sie schon zu ruhen geruhe.
»Wie ist Ihr werter Name?«
»Bernard.«
»Bitte, folgen Sie mir, mein Herr.«
Nobody ging hinter dem Zimmerkellner die Treppe hinauf.
Es dauerte einige Zeit, ehe der dienstbare Geist den moralischen Mut fand, an eine Tür zu klopfen, hinter welcher eine Dame zu ruhen geruhte - um nicht gar den schrecklichsten Ausdruck zu gebrauchen, hinter welcher eine junge Dame im Be ... doch nein, wir befinden uns im St. Barbara-Hotel, und da wollen auch wir solche obszöne Ausdrücke lieber nicht gebrauchen.
Ganz, ganz leise klopfte der Greisenfinger.
Und dann lauschte er.
Und dann flüsterte er unhörbar:
»Sie schläft.«
»Na, dieses Klopfen kann sie ja auch gar nicht gehört haben!«
Der dienstbare Geisterfinger klopfte ein ganz, ganz klein wenig lauter - und da sackte der dienstbare Geist gleich in die Knie zusammen; denn Nobodys Faust hatte ganz gehörig gegen die Tür des Heiligtums getrommelt.
»Um Gottes willen, Monsieur, was ...«
»Haaaooouuuhhh!« gähnte es drin. »Petrowitsch, was gibt's? Ach so, ich bin ja ... na, wer ist draußen?«
»Hier ist ein Herr,« begann der Oberkellner mit unterwürfiger Fistelstimme, »welcher ...
»Ich wollte mir erlauben, mich der Dame als eventuellen Reisebegleiter vorzustellen,« wurde der Kellner von Nobodys Stentorstimme unterbrochen.
»Als ... was?« fragte es drinnen weiter, wie erstaunt, und es war eine sonore Frauenstimme. Aus dem Schlafe geweckt, mußte sie sich erst besinnen.
»Auf Ihre Annonce hin.«
»Ach so. Ja, jetzt ist aber doch Nacht! Welch Zeit ist es denn?«
»Acht dreiviertel Minuten nach Zwölf,« entgegnete Nobody prompt, ohne erst nach der Uhr gesehen zu haben, »und in der Annonce stand, die Dame sei jeder Zeit zu sprechen - jeder Zeit.«
»Richtig, sehr richtig, à la bonheur. Warten Sie einen Augenblick, ich schließe die Tür auf.«
Drinnen raschelte es, der Schlüssel wurde umgedreht.
»Nun warten Sie immer noch einen Augenblick, ich muß mich erst wieder ins Bett legen. Wenn ich rufe, können Sie hereinkommen ... so, kommen Sie!«
Draußen auf dem erleuchteten Korridor stand der Kellner - leider hatte er keine Haare mehr, die sich noch sträuben konnten - und drinnen in dem stockfinsteren Zimmer stand Nobody.
Eine Bettstelle knarrte, das Rascheln stammte von einer seidenen Oberbettdecke her, und der phantasievolle Nobody konnte wenigstens im Geiste ganz deutlich sehen, wie sich jetzt das Weib darin einwickelte, welches eine so sonore und doch überaus melodische Stimme besaß, und welches zum Suchen eines Reisebegleiters solch eine Annonce aufgesetzt hatte.
Danach eben hatte der unübertreffliche Menschenkenner sein ganzes Benehmen eingerichtet, sonst wäre es ihm ja nicht eingefallen, seinen Besuch mitten in der Nacht zu machen; aber er hatte sich nicht geirrt, er wurde empfangen, und da sie ihn nun noch dazu gleich im Bett empfing, so wußte er auch alles, oder doch, wie er sich weiter zu verhalten hatte.
»Ich mag mich nicht erst anziehen. Vielleicht gefallen Sie mir gleich von vornherein nicht, nicht einmal im Finstern, und dann wäre die Anzieherei verschwendet gewesen. Von vornherein mache ich Sie darauf aufmerksam, daß ich hier bei mir einen geladenen Revolver und eine Hundepeitsche habe.«
Oho!! Aber das paßte ja alles genau zu dem Bilde, das sich Nobody bereits gemacht hatte.
»Mademoiselle können Revolver und Hundepeitsche ruhig beiseite legen.«
»Lieber nicht. So ähnlich hat schon mancher Kavalier gesprochen, und dann hat er sich der Wehrlosen gegenüber doch als Schuft bewiesen.«
»Wenn Sie mir so etwas zutrauen, dann ist es besser, daß ich gleich wieder gehe. So etwas vertrage ich nicht. Ich empfehle mich.«
»Halt!!« erklang es gebieterisch und doch wie bittend. »Bleiben Sie! Wenn wir gute Freunde werden wollen, so schicke ich gleich voraus, daß Sie mir niemals etwas übelnehmen dürfen.«
Es lag etwas in dieser Stimme, in der burschikosen Ausdrucksweise, was ungemein zum Herzen sprach.
»Ich bin durchaus nicht übelnehmisch.«
»Sie haben recht, wenn Sie nicht gleich sagen: ich werde Ihnen niemals etwas übelnehmen. Alles hat seine Grenzen. Doch so weit, daß wir schon gute Freunde sind, ist es noch lange nicht. Da müssen Sie erst einmal engagiert sein, und ich denke, ich werde eine reiche Auswahl haben. Sie sind zufällig nur der erste, der sich vorstellt. Apropos, haben Sie meine Annonce denn schon gelesen? Ich denke, die Zeitung kommt erst morgen früh heraus?«
»Ein Freund von mir ist auf der Redaktion dieser Zeitung beschäftigt, und da ich gerade eine Stellung suche, und diese für mich passen würde, da ich allen Anforderungen entspreche, so teilte er mir den Inhalt der noch nicht gedruckten Annonce mit.«
»Wann war das?«
»Vor einer halben Stunde, wir trafen uns zufällig.«
»Und Sie begaben sich sofort hierher?«
»Sofort.«
»Um Mitternacht wollten Sie sich mir vorstellen?«
»Es stand darin, die persönliche Vorstellung sei zu jeder Zeit angenehm, und da morgen früh doch jedenfalls sehr viele Bewerber ...«
»Schon gut - à la bonheur. Ihre schnelle Entschlossenheit imponiert mir. Nüchtern scheinen Sie doch zu sein.«
»Können Mademoiselle wirklich glauben, ich würde mich in angetrunkenem Zustande vorstellen?«
»Alles schon vorgekommen. Wie ist Ihr Name?«
»Bernard.«
»Der Name gefällt mir, läßt sich leicht aussprechen. Vorname?«
»Eugen.«
»Auch gut! Setzen Sie sich, Monsieur Bern ... Halt, setzen Sie sich noch nicht! Sie sind doch nicht etwa mit der Schauspielerin Sarah Bernhard verwandt?«
»Ganz und gar nicht, ich schreibe mich ganz anders.«
»Dann nehmen Sie Platz, Monsieur Bernard.«
Die schien mit der berühmten französischen Tragödin auf keinem guten Fuß zu stehen, und wenn Nobody mit ihr verwandt gewesen wäre, hätte er sich wahrscheinlich nicht setzen dürfen. Aber mit dem Platznehmen hatte es in dem stockfinsteren Raume seine Schwierigkeit, die Mademoiselle dachte selbst daran.
»Es stehen eine ganze Menge Stühle im Zimmer. Tasten Sie. Fühlen Sie nicht einen?«
»Ich habe einen. Es liegt etwas darauf.«
»Was?«
»Ein ... Korsett.«
»Werfen Sie es herunter.«
Nobody tat es und setzte sich.
»Sind Sie verheiratet?« fuhr es vom Bett her fort.
Nobody verleugnete seine Frau.
»Wie alt sind Sie?«
»Achtundzwanzig.«
So alt sah Nobody, wenn er sich so gab, wie jetzt, noch nicht einmal aus.
»Sind Sie verlobt?«
»Nein.«
»Aber verliebt?«
»Nein, Mademoiselle, mein Herz ist noch ganz frei.«
»Na, hören Sie mal, wenn ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren noch nicht verliebt gewesen wäre, sterblich verliebt, dann wäre er ja gar kein Mensch.«
»Ich habe auch nicht gesagt, daß ich noch niemals verliebt gewesen wäre.«
»Sie waren es also schon?«
Nobodys Antwort war bereits fertig gewesen, noch ehe diese verfängliche Frage gestellt worden; denn nun wußte er immer sicherer, was für einen weiblichen Charakter er vor sich hatte.
»Schon wiederholt.«
»Haben sich aber immer wieder freigemacht.«
»Immer.«
»Das ist recht. Sonst interessiert mich das nicht weiter. Nur das eine sage ich Ihnen gleich: wenn ich Sie vielleicht engagieren sollte - mit mir dürfen Sie nicht etwa eine Liebelei anfangen wollen.«
»O, Mademoiselle, was ...«
»Schon gut, schon gut! Alles schon ixmal dagewesen. Also: sobald ich merke, daß Sie sich in mich verlieben - sofort sind Sie entlassen. Verstanden?«
»Sehr wohl, Mademoiselle!«
»Ich für mein Teil habe diese Geschichte schon hinter mir, und wenn Sie sich aus unglücklicher Liebe dann eine Kugel durch den Kopf schössen, so wäre mir das nur angenehm.«
Nobody hatte sich schon wiederholt auf die Lippen beißen müssen. Das war alles ganz ernsthaft gesprochen, und doch wirkte es drollig - gerade dadurch, weil diese Stimme unmöglich einem Weibe angehören konnte, das diese ›Geschichte‹ schon hinter sich habe.
»Sie fühlen sich in dieser Hinsicht also fest?«
»Durchaus.«
»Wollen's abwarten. Nun erzählen Sie mir, wer Sie sind. Aber kurz und bündig. Los!«
»Studiert, Erbschaft, in fünf Jahren ebensoviel Millionen Francs durchgebracht.«
»Bravo!« lachte es vom Bett her. »Das war wirklich kurz und bündig - à la bonheur! Das imponiert mir. Und das genügt mir wirklich. Nur Kleinigkeiten möchte ich noch wissen. Wann war das Geld alle?«
»Vor vierzehn Tagen wechselte ich den letzten Hundertfrancschein.«
»Wovon lebten Sie unterdessen?«
»Eben von diesem gewechselten Hundertfrancschein. Ich speise jetzt Mittag für sechs Sous.«
»Dann haben Sie große Energie. Sie haben die Millionen doch natürlich mit liederlichen Frauenzimmern durchgebracht?«
»Nur zum allerkleinsten Teil.«
»Wie ist das Geld sonst so schnell alle geworden?«
»Durch kostspielige Reisen.«
»Sie sind gereist?«
»Unausgesetzt.«
»Das Reisen allein kann doch nicht so viel kosten.«
»Habe immer ganze Karawanen ausgerüstet.«
»Karawanen? Wo?«
»Afrika, Asien, Nord- und Südamerika.«
»Soooo? Was für einen Zweck verfolgten Sie dabei?«
»Ich bin leidenschaftlicher Jäger. Also Jagdexpeditionen, und die kosten Geld. Außerdem setzte ich dabei meine Studien fort.«
»Was haben Sie studiert?«
»Philologie. Orientalische Sprachen und Indianerdialekte.«
»Monsieur Bernard, wenn Sie mir bei Licht ebenso gefallen, wie im Finstern, dann könnte ich Sie vielleicht engagieren. Stecken Sie mal Licht an!«
Nobody riß ein Streichholz an und entzündete eine Flamme des Gaskronleuchters.
Himmel, sah es in diesem Schlafzimmer aus! Der Inhalt einiger großer Damenkoffer hatte auf Tischen, Stühlen, einem Sofa und einem zweiten Bett noch nicht Platz gehabt, die Sachen waren auch über den Boden gestreut worden. Nobody bekam die diskretesten Dinge zu sehen! Dabei war sie vorhin erst angekommen.
Das Bett, in dem sie lag, befand sich hinter seinem Rücken.
»Na, was bleiben Sie denn so stehen?«
»Ich warte erst auf die Erlaubnis, daß ich mich umdrehen darf.«
»Quatsch! Solche Zimperlichkeiten kenne ich nicht! Ich selbst will doch Ihr Gesicht sehen. Herum!«
Nobody drehte sich um. Er sah nur ihren Kopf. Ein mehr interessantes als schönes Gesicht, etwas männlich und doch anmutig, ein äußerst üppiges, tiefschwarzes Haar, und sie schien überhaupt sehr ... haarig zu sein, wie man wohl zu sagen pflegt. Ihre Oberlippe schmückte ein Bärtchen, um das sie mancher Leutnant beneidet hatte, und auf der linken Backe als Schönheitspflästerchen einen Büschel von langen Haaren. Daß sie sechsundzwanzig Jahre alt war, wußte Nobody bereits! Er hätte sie aber für jünger geschätzt, trotzdem sie tiefbrünett war und solche Frauen schneller altern. Er hätte sie höchstens auf zweiundzwanzig taxiert.
Sie hatte sich bis zum Kinn eingewickelt, zeigte sonst keine Fingerspitze. Daran mochte aber weniger mädchenhafte Schüchternheit schuld sein, als vielmehr, weil es in dem Zimmer sehr kalt war. Denn bisher hatte sie nicht gerade schüchtern gesprochen, schüchtern sah die auch nicht aus, und was dann alles noch kam, das sprach noch weniger von mädchenhafter Schüchternheit.
Auch sie hatte den drei Schritt vor ihrem Bett Stehenden zur Genüge gemustert.
»Bon. Sehr gut! O ja, sympathisch, o ja. Wenigstens das Gesicht. Ziehen Sie mal Ihren Ueberrock aus.«
Nobody gehorchte. Was er dabei innerlich dachte, war seine Sache. Aeußerlich war ihm nichts anzumerken. Er war der Mann, der gern engagiert werden wollte.
»Auch gut,« erklärte zufrieden der in Kissen gebettete Frauenkopf. »Nun drehen Sie sich herum - jawohl, tadellos gewachsen. Ihretwegen lohnt's sich, daß man noch einmal aufsteht. Geben Sie mir mal dort die Strümpfe her.«
Nobody legte die langen, seidenen Strümpfe aufs Bett. Aber weitere Kammerzofendienste brauchte er nicht zu verrichten, ob er es nun gefürchtet oder gehofft hatte.
»Gehen Sie hinüber ins Nebenzimmer, dort ist geheizt, zünden Sie den Kronleuchter an, ich komme gleich nach.«
Nobody folgte der Aufforderung. Er brauchte nur eine Minute zu warten, so kam sie schon, in einen überaus kostbaren Pelz gehüllt, aber nicht etwa ein Damenpelz, sondern ein noch über die Knie reichender Herrenpelz war es - obschon es nicht ausgeschlossen ist, daß nicht auch eine Dame einen solchen auf der Straße tragen kann, ein Pelz ist eben ein ganz besonderes Kleidungsstück, der Mode sehr wenig unterworfen - und an den Füßen Stiefel.
Als sich beim Eintreten der Mantel etwas auseinanderschlug, sah Nobody, daß es hohe Schaftstiefel waren, mit Pelz verbrämt, wahrscheinlich ganz mit Pelz gefüttert - weiter aber hatte Nobody bei dieser Indiskretion des Mantels gesehen, daß sie außer diesem und den Schaftstiefeln auch mit weiter gar nichts bekleidet war, höchstens noch mit einem Hemd. Das im Bett aufgelöste Haar war jetzt in einem flüchtigen Knoten zusammengeschlungen.
Es war eine hohe, starke, vollbusige Gestalt, dabei die Hand mit den rosigen Fingernägeln so schlank wie der Fuß klein, der doch so sicher aufzutreten wußte. Ueber das Gesicht hatte Nobody schon vorher kein abstoßendes Urteil gefällt gehabt. Jetzt aber entdeckte er erst, welch bestrickenden Liebreiz das Bärtchen und das haarige Schönheitspflästerchen den brünetten Zügen verlieh, obgleich diese doch immer noch sehr energische blieben, und dann vor allen Dingen ... dieses Weib hatte Geist!
Auch in der Hand hatte sie Geist - d. h. eine Weinflasche, schon entkorkt.
»Geben Sie dort von dem Tischchen zwei Gläser her - Portweingläser.«
Die Gläser hätten noch kleiner sein können, denn Nobody roch gleich, daß es Schnaps war, den sie aus der etikettelosen Weinflasche verzapfte.
»Prost!«
»Auf Ihr Wohl, Mademoiselle!«
»Nennen Sie mich Miß Juvenal, es ist mir lieber,« sagte sie, die französische Sprache mit der englischen wechselnd.
»Auf Ihre Gesundheit, Miß Juvenal!«
Es war Benediktiner, den die einfache Flasche barg, und sie leerte das große Glas mit einem Zuge. Dann mußte auch Nobody dasselbe tun.
»Bitte, nehmen Sie Platz, Mister Bernard!«
Sie setzte sich ihm dicht gegenüber, schlug die Beine übereinander, wußte aber dabei eine ganz dezente Stellung zu wahren.
»Was für Sprachen können Sie?«
»Englisch, Deutsch und alle sogenannten Mittelmeersprachen.«
»Alle?«
Sie fragte ihn auf russisch, woher er diese Sprachkenntnisse habe, und er antwortete auf russisch, daß er eben ein großes Sprachtalent habe, er habe sie theoretisch studiert, und ein Vierteljahr in jedem Lande genüge für ihn, die betreffende Sprache auch in der Konversation zu beherrschen.
»Sie sprechen das Russische tadellos. Und orientalische Sprachen?«
»Vor allen Dingen Arabisch und Hindostanisch.«
Sie sah sich im Zimmer um, fragte nicht weiter wegen seiner Indianerdialekte, sondern sie sprang schnell von einem Gegenstand zum andern über, was sie auch schon in ihrem Inserat verraten hatte.
»Sie wissen, daß ich einen Mann verlange, der mit einer Hand einen Zentner heben kann - ich sehe keinen geigneten Gegenstand - zeigen Sie Ihren Arm her.«
Auch hierdurch verriet sie sich als echte Russin, als große Landbesitzerin vom alten Schlage. Das mit der Kraftprobe braucht man nämlich nicht merkwürdig zu finden. Noch heute müssen in vielen Gegenden Rußlands neue Arbeiter, besonders solche, welche ständig zu heben und zu tragen haben, Mehlsäcke, Holz usw., vor dem Arbeitgeber eine Kraftprobe ablegen, und je mehr Pud einer stemmen kann, desto mehr Tagelohn bekommt er. Das wird gleich von vornherein festgesetzt, und das ist garnicht so dumm. Denn manch kleiner, sehniger Kerl kann doch ganz andere Lasten heben und tragen, als ein fetter Riese Goliath. Nun allerdings könnte man sagen, daß der Aufseher doch bald genug bemerkt, wer viel schafft und wer wenig, und danach soll der Lohn verbessert oder verringert werden. Da kommen aber russische Verhältnisse in Betracht. Der Arbeitgeber, ein großer Gutsherr, bekommt die Leute vielleicht gar nicht wieder zu sehen, und da werden Freundschaften angeknüpft, da spielt die Wutkiflasche eine große Rolle ... kurz und gut, der Gutsherr prüft die Leute stets selbst auf ihre Leistungsfähigkeit, danach setzt er den Lohn fest, und damit basta! Sonst würde er vorn und hinten betrogen werden.
Hier war das nun freilich etwas anderes. Doch willig hielt Nobody seinen rechten, leicht gekrümmten Arm hin, und die Russin betastete ihn mit Kennermiene und Kennergriff.
»Heiliger Dunstan! Ziehen Sie mal Ihren Rock aus.«
Gut, Nobody präsentierte sich in Hemdsärmeln, mußte auch noch den rechten bis zur Achsel hochkrempeln.
»Heiliger Sebastian! Mann, wie kommen Sie zu solchen Muskeln?«
»Ich habe von Jugend auf Sport und Athletik aller Art getrieben.«
»Und die sind mit den fünf Millionen nicht auch alle geworden? A la bonheur. Zeigen Sie mal Ihr Bein her.«
Sie betastete das dargereichte Bein so ungeniert, wie sie in ihrer halbwilden Heimat ein Pferd geprüft haben mochte. Aber die Hose auszuziehen, das hatte Nobody doch nicht nötig.
»Wunderbar. Prost!«
»Auf Ihre Gesundheit, Miß Juvenal!«
Während Nobody wieder seinen Gehrock anzog, schenkte sie das dritte Portweinglas voll Likör.
»Reiten können Sie doch?«
»Sehr gut.«
»Schwimmen?«
»Bin ich Meister.«
»Fechten?«
»Säbel, Rapier, Florett.«
»Wirklich? Ich hoffe, daß Sie nicht nur renommieren. Ich habe leider keine Fechtwaffen da, sonst müßten Sie gleich eine Probe ablegen. Ich kann nämlich auch fechten.«
»Ich renommiere nicht, wenn ich behaupte, daß Sie mich jedem professionellen Fechtmeister gegenüberstellen können.«
»Das wäre vortrefflich. Dann würde ich bei Ihnen fleißig Unterricht nehmen; denn mit meinem Fechten ist es nicht weit her. Aber ob Sie es können, würde ich doch gleich merken.«
»Sie können sich darauf verlassen.«
»Na, dann prost!«
Das dritte Glas mit dem sehr starken Schnaps wurde hintergekippt und das vierte eingeschenkt.
»Und wie steht es mit dem Schießen?«
»Ich bin ein sehr guter Schütze.«
»Das können Sie gleich beweisen.«
Sie brachte aus der Manteltasche eine kleine Teschingpistole zum Vorschein.
»Sie ist geladen. Sehen Sie dort an dem Büfett an der sonst glatten Seite in der Mitte das kleine, viereckige Feld?«
Das Büfett stand auf der anderen Seite des Zimmers, ein sehr kostbares Möbel.
»Ich sehe es.«
»Das treffen Sie.«
Nobody ließ sich nicht zweimal auffordern, er schoß frisch und munter in das Büfett hinein. Der Knall war nicht lauter, als wenn man wuchtig ein Buch zuklappt.
Miß Juvenal sprang auf und eilte hin.
»Nicht getroffen! Na, Sie! Einen halben Meter drüber weg.«
»Natürlich, die Kugel steigt, ich muß die Pistole doch erst kennen lernen. Haben Sie eine zweite Patrone?«
Sie hatte die ganze Tasche voll, und Nobody schoß zum zweiten Male in das Büfett hinein.
»Diesmal haben Sie getroffen. Und wie! Mitten hinein! Genauer konnte es gar nicht sein. Bravo. Prost!«
Das vierte Glas wurde gekippt und das fünfte eingeschenkt. Die Flasche mußte bald leer sein.
»Herrgott, kann die saufen!« dachte Nobody.
Sie hatte sich wieder gesetzt. Nobody vertrug einen Stiefel, und auch ihr war durchaus nichts anzumerken.
»Gut, ich werde Sie engagieren. Viel riskiere ich dabei nicht. Ich engagiere nämlich, wie auch in der Annonce schon gesagt, nur tageweise. Das bedeutet aber auch, daß es keine Kündigung gibt. Sie erhalten Ihren Lohn jeden Tag, pränumerando, und wenn ich sage: weg - dann sind Sie entlassen, dann müssen Sie gehen.«
»Einverstanden.«
»Dagegen können auch Sie jederzeit ohne Kündigung gehen.«
»O, dieser Fall wird wohl schwerlich eintreten.«
»Und weshalb nicht?«
»Weil ... weil ich glaube, daß es mir bei Ihnen gefallen wird.«
»Das haben schon viele gesagt, und sie sind doch eines Tages Knall und Fall davongegangen.«
»Da haben Sie schon wiederholt Reisebegleiter gehabt, wenn ich fragen darf?«
»In solcher Stellung wie diese? Nein. Ich spreche von anderen Posten. Ich engagiere stets so. Ich bin noch gar nicht viel gereist, will erst jetzt damit anfangen.«
Sie zog aus der Tasche ein goldenes, mit Juwelen besetztes Etui und entnahm ihm eine Zigarette. Schnell hatte Nobody ein Streichholz angezündet und hielt es ihr hin.
Sie machte eine abwehrende Bewegung, zog eine eigene Zündholzschachtel hervor.
»Das haben Sie nicht nötig. Sie sind mein Gesellschafter, nicht mein Diener. Das habe ich auch in der Annonce betont.«
»Bitte sehr, das ist eine einfache Pflicht der Höflichkeit, nicht nur einer Dame gegenüber, und außerdem stehe ich noch gar nicht in Ihren Diensten.«
»Wieso nicht? Sie sind angenommen - wenn auch nur für heute.«
»Ehe ich selbst zusage, muß ich doch wissen, was für Dienste ich zu leisten habe, und wie ich dafür honoriert werde.«
»Richtig!«
Sie brannte ihre Zigarette doch noch an dem vorgehaltenen Streichholz an, präsentierte ihm das Etui und wartete, bis auch die seine brannte.
»Freie Kost und Logis und alles, was Sie sonst noch brauchen, alles so wie ich und aufs beste. Und was für einen Gehalt beanspruchen Sie?«
»Das möchte ich Ihnen überlassen.«
»Zwei Francs pro Tag.«
»Sie scherzen.«
»Scherzen? Wenn Sie alles frei haben? Na, zwei Francs fünfzig will ich geben; aber höher gehe ich auf keinen Fall.«
»Dann müßte ich bedauern. Ich schätze meine Fähigkeiten höher ein. Das Mindeste, was ich beanspruche, sind pro Tag zehn Francs.«
»Zehn Francs den Tag?« stellte sie sich, als habe sie nicht recht gehört. Und dann lachte sie hell auf: »I, keine Spur!«
»Sie finden das zu viel?«
»Viel, viel zu viel!«
»Dann ist jedes weitere Wort verloren. Es war ja auch nur eine Vorstellung, und ich bedauere, Ihre Nachtruhe gestört zu haben. Ich empfehle mich.«
Nobody stand auf, verbeugte sich, griff nach seinem Ueberrock, den er vorhin mit herübergenommen hatte, und schritt der Türe zu.
»Halt!« ertönte es da, als er schon die Klinke in der Hand hatte, und Nobody drehte sich noch einmal um.
»Lassen Sie doch mit sich sprechen. Es soll mir auf einen Franc mehr nicht ankommen. Sie gefallen mir und ...«
»Ich empfehle mich.«
»Halt! Kommen Sie. Sie sollen pro Tag zwanzig Francs haben. Es war ja nur ein Scherz von mir,« lachte sie.
Nobody hatte ganz, ganz genau gewußt, daß es so kommen würde, daß sie nur scherzte. Ein anderer freilich hätte es schwerlich gemerkt. Es war eine ausgezeichnete Schauspielerin.
Kaltblütig legte Nobody den Mantel wieder hin und setzte sich auf seinen Stuhl.
»Denken Sie, mir kommt es auf die paar Francs an? Wissen Sie, weshalb ich dieses Manöver mit Ihnen gemacht habe?«
»Ja.«
»Nun?«
»Es werden sich Ihnen morgen früh genug Herren vorstellen, welche schon mit einem Franc zufrieden sind, aber wenn sie ...«
»Eine bessere Stellung angeboten bekommen, lassen sie mich sofort im Stich. So ist es. Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und wenn er mit weniger zufrieden ist, als er selbst seine Arbeit einschätzt, ohne zwingende Gründe, so ist er ein Lump. Es gibt Ausnahmen, aber diese bestätigen nur die Regel.«
»Ganz meine Ansicht. Also zehn Francs pro Tag.«
»Zwanzig Francs. So viel sind Sie mir wert. Abgemacht?«
»Abgemacht!«
»Na, dann prost!«
Der Kontrakt, der immer nur auf einen Tag band, wurde mit dem fünften Glase Benediktiner besiegelt. Zum sechsten Male machte die Flasche die beiden ansehnlichen Portweingläser nicht mehr ganz voll, die Dame teilte redlich und stieß gleich noch einmal an, wiederum das ihre leerend.
»Warten Sie, ich hole eine andere. Ich möchte doch auch lieber etwas Toilette machen.«
Sie ging in das Schlafzimmer hinüber, die leere Flasche mitnehmend.
Himmel Herrgott, kann die saufen! dachte Nobody nochmals. Ihm selbst ward nach den sechs Glas durchaus noch nicht schwül zumute, aber dieses Mädel - eine halbe Flasche Schnaps im Magen ... na ja, eine Russin! Und doch, es mußte auch für eine Russin mit dem ausgepichtesten Magen schon zu viel sein!
Diesmal ließ sie ziemlich lange auf sich warten. Doch Nobody wußte sich unterdessen die Zeit mit seinen Gedanken zu vertreiben.
Die Tür ging auf - und auch Nobody konnte einmal geblendet werden. Er hatte so etwas eben gar nicht vermutet.
Sie hatte nicht nur kleine, sondern große Toilette gemacht, Ball- oder doch große Gesellschaftstoilette. Eine prachtvolle Robe, tief dekolletiert. Nur das Haar hatte sie nicht weiter frisiert. Und die Pulle brachte sie wieder mit.
»Nun bin ich bloß gespannt, wie das noch enden wird,« dachte Nobody. »Das wäre so etwas für meinen Freund Flederwisch.«
Sie schenkte gleich die Gläser wieder voll, in der anderen Hand hatte sie ein Pack Zigaretten gehabt, schob ihm die Hälfte hin.
»Da, bedienen Sie sich. Wofür halten Sie mich eigentlich?«
»Für eine sehr emanzipierte Dame.«
»Bravo! Das war offen und treffend gesprochen. Doch bin ich es noch nicht so recht, ich will mich erst emanzipieren. Apropos, Sie sagten vorhin, Sie hielten sich noch nicht für in meinen Diensten stehend, da Sie noch nicht wüßten, was für Dienste Sie mir zu leisten hätten. Die Honorarfrage ist erledigt, aber dieses noch nicht. Sie wissen doch noch gar nicht, was Sie mir für Kost und Logis und täglich zwanzig Francs zu leisten haben. Wie konnten Sie da so schnell zusagen?«
»Weil ich weiß, daß Sie nichts Ehrenrühriges von mir verlangen werden, und das genügt mir. Sonst werde ich wohl jeden Posten ausfüllen können.«
»Woher wissen Sie, daß ich nichts Ehrenrühriges von Ihnen verlange?«
»Weil ich Ihnen das ansehe. Und da bin ich Menschenkenner genug.«
Ein scharfer Blick traf ihn, der aber auch in demselben Moment recht freundlich wurde.
»Sie haben recht. Ich brauche, solange ich mich nicht selbst beschützen kann, einen männlichen Beschützer. Haben Sie von dem berühmten amerikanischen Detektiv Nobody gehört, der jetzt Champion-Detektiv der englischen Königin geworden ist?«
Nanu, was will die denn jetzt von dem? dachte Nobody, indem er sich selbst verleugnete.
»Nicht persönlich, aber gehört habe ich schon genug von ihm.«
»So ist es auch bei mir. Ich halte Nobody für den trefflichsten Menschen, für den trefflichsten Mann unserer Zeit, die an Romantik so arm ist. Das ist ein Mann, der einige Jahrhunderte zu spät geboren ist. Das ist noch ein letzter Klang aus den Zeiten der gepanzerten Ritter und Troubadoure, mir klingt sein Name stets wie Schwerterklang und Saitenspiel. Wollen wir anstoßen auf das Wohl dieses Mannes! Wollen Sie mir Bescheid geben?«
Mit plötzlicher Begeisterung hatte das schöne Weib gesprochen, und natürlich stieß Nobody sehr gern auf sein eigenes Wohl an, wenn auch nur in Schnaps, es war ja der edelste Benediktiner, und es wurden sogar gleich zwei Glas dieses Stoffes geleert.
»Ich bin nur gespannt, wann die endlich untern Tisch fällt,« dachte der unverbesserliche Nobody.
»Warum ich jetzt von Nobody anfange?« fuhr sie fort. »Weil ich einmal die Absicht hatte, diesen Mann als meinen Reisebegleiter zum Ausführen meiner Pläne zu engagieren. Doch rechtzeitig noch kam ich zu der Erkenntnis, daß ein Nobody, der Champion-Detektiv einer Majestät, wohl anderes zu tun hat, als ein emanzipiertes Frauenzimmer zu beschützen und auf ihre exzentrischen Pläne einzugehen. Und einen Korb wollte ich mir nicht holen. So versuchte ich es mit jener Annonce.«
»Und wenn ich mich auch nicht mit diesem Nobody vergleichen kann, so hoffe ich doch bestimmt, daß Sie mit mir durchaus zufrieden sein werden. Gestatten Sie mir eine Frage: Da Sie gerade einen Detektiv engagieren wollten - sind Sie vielleicht Verfolgungen von irgendeiner Seite ausgesetzt?«
»Ja und nein. Ich habe nicht gefragt, wer Sie sind, ich will keine Papiere von Ihnen sehen, Sie könnten mir irgend etwas erzählen, ich würde es Ihnen glauben. Sie haben mir nur eine Andeutung über Ihre Vergangenheit gemacht - mehr verlangte ich ja auch gar nicht - und so will auch ich nur etwas über mich andeuten. Hören Sie: Ich will frei sein wie der Vogel in der Luft. Hat nicht jeder Mensch Anspruch auf Freiheit?«
»Gewiß doch. Des Menschen Freiheit ist sein höchstes Gut.«
»Nun, man hat mich bisher in einem Käfig gefangengehalten - und wenn es auch ein goldener war, es war doch ein Käfig. Ich habe das Gitter durchbrochen. Jetzt bin ich wirklich frei wie der Vogel in der Luft. Aber es könnte sein, daß man diesen Vogel wieder fangen und ihn in den Käfig zurückstecken will.«
»Miß Juvenal, befehlen Sie über mich,« sagte Nobody einfach, »ich bin ein Verteidiger der Freiheit, bin es immer gewesen.«
»Angenommen! Jetzt genug hierüber. Was Sie zu tun haben, um mich zu schützen, werden Sie erfahren, wenn es so weit ist.«
»Sie sprachen auch von Plänen, welche Sie vorhaben, und bei deren Ausführung ich Sie unterstützen soll.«
»Auch das werden Sie später oder nach und nach durch eigene Erkenntnis erfahren. Ich möchte jetzt mit Ihnen über etwas anderes sprechen.«
Sie nötigte ihn noch einmal, zu trinken, dann trat erst eine längere Pause ein, indem sie sich zurücklehnte und sinnend dem Rauche ihrer sechsten Zigarette nachblickte.
So hatte Nobody Zeit, sie mit Muße zu betrachten.
Gewiß, wenn nicht ein schönes, so war es doch ein reizvolles, ein berückendes Weib. Das Kostüm trug ja viel mit dazu bei, welches die Reize des Oberkörpers fast gar nicht verhüllte. Die tiefausgeschnittene Taille aus weißem Atlas wurde nur durch zwei schmale Bändchen gehalten, und wunderbar gegen dieses Weiß stach der braune Samt der vollen Büste ab, und ebenso berauschend wirkte der Anblick der vollen Arme, welche wie mit einem braunen Flaum besetzt waren, so schimmerten die samtweichen Härchen.
Da bemerkte Nobody, daß sie ihn unter den gesenkten Lidern hervor beobachtete, und nicht genug damit, jetzt schlug sie die Beine übereinander und begann, das zierliche Saffianpantöffelchen, das sie gegen den Schaftstiefel vertauscht hatte, zu wippen, es nur auf der Spitze des mit einem fleischfarbenen Strumpfe bekleideten Füßchens balancierend.
»Sie kokettiert mit dir,« dachte Nobody, »kein Zweifel, bei der fängt der Benediktiner zu wirken an, sie will dich reizen. Sie will dich überhaupt betrunken machen. Ha, wenn die wüßte, was ich saufen kann! Aber wie wird das noch enden?«
Mit einem Ruck warf sie den Oberkörper wieder vor. Erst aber schenkte sie nochmals ein, erst mußte getrunken werden. Und auch diese zweite Flasche mußte bald ihrem Ende entgegengehen.
»Glauben Sie, daß ich eine anständige Frau bin?« fragte sie plötzlich.
»O, Miß, wie können Sie ...«
»Antworten Sie. Sie wollen doch Menschenkenner sein, und die Frauen werden Sie wohl auch gründlich studiert haben. Mache ich Ihnen den Eindruck einer anständigen Frau?«
»Ja,« sagte Nobody kurz, und er wußte in dieses Wort den Ton der ehrlichsten Ueberzeugung zu legen.
»Darin irren Sie sich auch nicht. Ich bin wirklich eine durchaus anständige Frau.«
»Aber Miß, ich ...«
»Schon gut. Darüber wären wir also einig. Nun weiter. Finden Sie es nicht merkwürdig, daß ich mich Ihnen in solch einem Kostüm präsentiere?«
»Wieso merkwürdig?«
»Verstellen Sie sich nicht! Sonst sind wir geschieden, denn dann passen wir nicht zusammen. Sie wissen ganz genau, was ich meine. Es ist ein ausgeschnittenes Ballkleid, was ich mitten in der Nacht angelegt habe, um mich mit Ihnen, einem mir gänzlich unbekannten Menschen, zu unterhalten.«
»So hören Sie meine offene Meinung: Sie sind nicht nur emanzipiert, sondern höchst exzentrisch. Was Sie sonst damit bezwecken, weiß ich nicht.«
»Sie irren, wenn Sie mich für exzentrisch halten, und auch emanzipiert bin ich bisher noch nicht gewesen, ich will es erst werden. Halten Sie das aber für unanständig, daß ich mich Ihnen hier in solch einem dekolletierten Kostüm präsentiere?«
»Wieso? Ist das nicht sogar eine hochanständige Toilette? Ist eine solche nicht auf jedem Hofballe vorgeschrieben?«
»Ja, auf einem Hofballe, auf jedem anderen Balle. Aber jetzt so vor Ihnen - oder würde ich mich so auf der Straße zeigen - man würde mich sofort wegen eines unzüchtigen Anzuges abführen.«
»Geehrte Miß, Sie kommen da auf ein Thema, welches der Schraube ohne Ende gleicht. Da werden wir nie fertig. Was Sie meinen, weiß ich ganz genau, und da stimme ich Ihnen auch vollkommen bei - jawohl, da bin ich vollkommen Ihrer Ansicht. Aber da kommen Sitten und Gewohnheiten in Betracht, gegen die man vergebens ankämpfen wird, und da kommt auch die Aesthetik in Betracht. Lassen Sie mich ganz offen sprechen: Wenn ein Mädchen auf der Straße im Unterrock und im Korsett herumläuft, so ist das eigentlich nichts anderes, als wenn sich eine Dame auf dem Ballsaal in tiefdekolletierter Taille zeigt. Ja, das Tanzen berechtigt den Mann sogar noch zu großen Freiheiten. Und doch ist ein gewaltiger Unterschied dabei, und diesen Unterschied hat man eigentlich nicht künstlich gemacht, sondern das Empfinden dafür liegt dem Menschen im Fleisch und Blut, und eben deswegen kann ich Ihnen diesen Unterschied nicht weiter definieren - ich wenigstens kann es nicht.«
Sinnend hatte sie den Ellbogen auf die Armlehne des Stuhles gestützt und das Kinn in die Hand.
»Ja. Sie haben recht, ganz recht,« sagte sie dann lebhaft. »Es ist ein großer Unterschied dabei. Nun aber weiter: Finden Sie es unanständig, wenn sich eine Dame auf der Straße in Herrenkleidern zeigt?«
»Nein, durchaus nicht. Das ist wieder etwas ganz anderes. Jeder mag sich so anziehen, wie es ihm behagt, wie es seinem Geschmacke entspricht. Vorausgesetzt, daß es nicht darauf angelegt ist, Lüsternheit zu erwecken.«
Eine Blutwelle huschte über das brünette Gesicht. Doch schnell war sie wieder verflogen.
»Würden Sie mit mir über die Straße gehen, wenn ich ein Herrenkostüm trage?«
»Ohne Scheu.«
»Sie würden mich gegen Beleidigungen und Angriffe des Pöbels schützen?«
»Selbstverständlich. Es wäre nicht nötig, daß ich dazu von Ihnen angestellt bin. Wenn ich solch eine Dame im Herrenkostüm sehe, und sie würde insultiert, so würde ich mit aller Kraft für sie Partei ergreifen.«
»Brav gesprochen! Sie gefallen mir immer besser. Dann noch etwas anderes. Doch trinken wir erst.«
Mehr als noch ein Gläschen war aber nicht mehr in der Flasche.
»Ich werde viel reisen.«
»Nichts erwünschte ich mir sehnlicher, als die Stelle eines Reisebegleiters.«
»Auch in wilde Gegenden.«
»Da kann ich Ihnen mit meinen Erfahrungen zur Seite stehen.«
»Wir werden oft unter einem Dache, in einem Raume zusammen schlafen müssen.«
»Not kennt kein Gebot.«
Sie legte die Hand vor den Mund und gähnte.
»Ich werde sehr müde.«
Das glaubte Nobody. Nur wunderte er sich, daß ihre Augen nicht gläsern wurden, ihr auch sonst absolut nichts anzumerken war.
Sie zog aus ihrem Busen ein Geldtäschchen und entnahm ihm ein Zwanzigfrancsstück.
»Das ist Ihr erster Gehalt. Welch Zeit ist es? Schon zwei Uhr. Doch wir wollen es von Mittag zu Mittag machen.«
Dankend steckte Nobody ohne Zögern das Goldstück ein.
»Sie stehen also bis morgen mittag in meinen Diensten.«
»Ich bin Ihr gehorsamer Diener.«
»Nicht Diener, sondern mein Begleiter, Gesellschafter - sagen wir doch gleich Freund.«
»Ich weiß genau, welche Stellung ich Ihnen gegenüber einnehme.«
»So wollen wir schlafen gehen.«
Mit diesen Worten stand sie auf und ging einfach in das Bettzimmer hinüber.
Wir? Was sollte das heißen? Es hatte so merkwürdig geklungen.
»Kommen Sie doch herüber!« erklang es drüben.
Nobody trat wenigstens in die offene Tür. Sie war soeben damit beschäftigt, von dem zweiten Bett die Kleidungsstücke wegzuräumen.
»Sie befehlen, daß ich gleich in diesem Hotel übernachte?«
»Ganz gewiß. Sie stehen schon als mein Reisebegleiter in meinen Diensten, und da ist es doch selbstverständlich, daß Sie in keinem anderen Hotel logieren.«
»Ich habe mein Gepäck noch auf dem Bahnhofe.«
»O, wenn es weiter nichts ist! Wir werden auf unseren Reisen manchmal nichts anderes bei uns haben, als was wir auf dem Leibe tragen.«
»O, solche Kleinigkeiten genieren mich auch nicht. Dann werde ich mir also vom Kellner ein Zimmer anweisen lassen.«
»Nein, Sie werden vielmehr in meinem Zimmer schlafen, in diesem zweiten Bett hier.«
Sie hatte sich ihm zugewandt, sie sahen sich beide an. Und Nobody wußte im Augenblick alles, was sie beabsichtigte.
»Sie machen die Dauer meiner Stellung davon abhängig, daß ich in Ihrem Zimmer schlafe?«
»Unbedingt.«
Nobody sagte und fragte nichts mehr. Er half ihr das Bett abzuräumen. Er hatte ihre Absicht erkannt. Von einer Frivolität war keine Rede. Sie hatte ihm ja gesagt, daß es eine Liebelei mit ihr nicht gebe, sonst sei er sofort entlassen, sie wollte ihn also auf die Probe stellen, hatte ihm zu diesem Zwecke noch extra eine Flasche Benediktiner einfiltriert - freilich eine etwas starke Probe. Na ja, es war eben ein emanzipiertes Weib.
»Helfen Sie mich entkleiden. Hefteln Sie mir die Taille auf.«
Ohne weiteres war Nobody bereit dazu. Entweder sollte sie sich in ihm täuschen, oder auch, wenn sie wirklich solch ein Dame von Maxim war, sollte sie mit ihm zufrieden sein.
Zum ersten Male bekam er ihren Nacken zu sehen. Das Kleid war auf dem Rücken noch tiefer ausgeschnitten als vorn - und beim ersten Blick auf diesen Rücken erlahmten die Händen der männlichen Kammerzofe. Nobody bekam etwas zu sehen, was er bei dieser Dame, deren Stellung im gesellschaftlichen Leben er doch kannte, nimmermehr zu sehen erwartet hatte. Er glaubte zu träumen, er war entsetzt.
Doch nur einen Moment, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. Kaltblütig mit geschickten Fingern löste er die Heftel und kalkulierte dabei, daß diese Taille auch von vorn zu schließen sein müsse. Diese Heftel konnte sie vorhin nicht allein geschlossen haben.
Die Taille war geöffnet. Das noch tiefer ausgeschnittene Damenhemd zeigte sich.
»Fällt Ihnen nichts auf?«
»Doch. Ich gestehe sogar, daß ich beim ersten Anblick tödlich erschrocken gewesen bin.«
»Weswegen? Was sehen Sie?«
Was Nobody sah? Der schöne Frauenrücken war über und über mit Narben bedeckt, von einer Schulter zur anderen zogen sie sich hin, einst waren es furchtbare Schwielen gewesen, sie konnten seit noch gar nicht so langer Zeit verheilt sein, und hierin war Nobody Sachverständiger genug, um sich ausmalen zu können, wie gräßlich zerfleischt dieser Rücken gewesen sein mußte.
Und bei ihrer letzten Frage fiel er aus seiner Rolle.
»Um Gott, wer hat Ihnen das getan?« hauchte er erschüttert.
»Ein Mann.«
»Ein Mann? Ein Mann hat Sie so geschlagen? Weswegen? Was für ein Unhold war das? Nennen Sie mir ihn, und ich ...«
»Mein Mann.«
Schlaff ließ Nobody die Arme sinken.
»Ihr Mann - Ihr eigener Mann - hat Sie - so - geschlagen?!«
»Geschlagen?«
Wild fuhr sie gegen ihn herum.
»Geschlagen? Kardätscht hat er mich, mit der Knute kardätscht!! Und glauben Sie nun etwa noch, daß ich mich jemals einem anderen Manne hingeben werde?!«
Mehr mit einem furchtbaren Hohn denn mit Haß hatte es das schöne Weib hervorgestoßen. Nobody aber schien es noch immer nicht fassen zu können.
»Ihr eigener Gatte - der Großfürst Karamsin hat Sie so fürchterlich geschlagen?!« flüsterte er mit stieren Augen.
Nobody hatte einen anderen Namen genannt. Es gibt gar keinen Großfürst Karamsin. Aber wir haben einen leichtbegreiflichen Grund, den richtigen Namen dieses Mannes zu verschweigen, und so wollen wir auch seine Gattin die Großfürstin Margot nennen, welche unter diesem Namen ebenfalls nicht in der russischen Adelsliste zu finden ist, wohl aber der Person nach in Wirklichkeit existiert.
Doch diese Frau hatte ihres Gatten wirklichen Namen gehört, und mit einem unterdrückten Schrei prallte sie vor dem Sprecher zurück.
»Mann, wer sind Sie, daß Sie mich kennen?!« stieß sie in furchtbarer Aufregung hervor.
Nobody dagegen hatte sich schnell wieder gefaßt. Hochaufgerichtet stand er da, er konnte sogar lächeln, und doch sah er dabei tiefernst aus.
»Wer ich bin? Sie hatten einst vor, zu Ihrem Beschützer den Detektiv Nobody zu wählen, den Champion Ihrer Majestät der englischen Königin - nun, dieser Nobody stellt sich Ihnen als Beschützer zur Verfügung.«
Die Wirkung dieser Worte war nicht so, wie sie Nobody erwartet hatte.
Der Schreck war sofort von ihr gewichen, mit großen Augen betrachtete sie den vor ihr Stehenden, und dann schüttelte sie langsam den Kopf.
»Meine Ahnung!«
Dieses erste Wort war schließlich einer Frau ganz entsprechend, für Nobody aber mußte es natürlich doch sehr überraschend kommen.
»Wie, Sie wußten, daß ich dieser Nobody sei?«
»Nein, ich wußte gar nichts, aber - aber ...«
»So ahnten Sie es wenigstens?«
»Auch das nicht, aber - aber - ich sagte Ihnen doch, wie ich schon einmal auf den Detektiv Nobody reflektiert hätte - mit welcher Hochachtung ich über diesen Mann denke - und Sie - Sie - auch Sie waren mir von allem Anfang an so sympathisch ...«
Erst jetzt fiel ihr ein, daß diese Begegnung doch kein Zufall sein konnte.
»Sie sind wirklich dieser Nobody?« fragte sie, und jetzt brach offenes Mißtrauen hervor.
»Ich bin es.«
»Sir Doktor Alfred Willcox?«
»Derselbe.«
»Der Champion der englischen Königin?«
»Ich bin es wirklich.«
»Ja, aber ...« mit drohend gerunzelten Brauen richtete sie sich plötzlich empor. »Dann ist das auch kein Zufall - Sie sind auf meiner Spur!«
»Bitte, Miß Juvenal! Lassen Sie uns doch wieder hinübergehen, drüben ist es wärmer, und ich werde Ihnen eine Erklärung geben, die Ihre vollständige Zufriedenheit finden wird. Vorausschicken will ich zu Ihrer Beruhigung gleich, daß ich nach wie vor Ihr gehorsamer Diener bin, oder meinetwegen auch Ihr Reisebegleiter - jedenfalls Ihr Freund, Ihnen ergeben in Not und Tod.«
Nach diesen wohlgesetzten Worten machte Nobody eine ebenso wohlgesetzte Verbeugung und begab sich wieder in das Nebenzimmer.
Auf dem Tische stand noch die Flasche. Nach dieser war sein erster Griff. Wie er sie in die Höhe hob, bemerkte er am Boden einen gläsernen Knopf, er drückte darauf, schenkte ein, nicht sein Glas, sondern das seiner Zechgenossin, kostete und nickte zufrieden.
»Merken Sie jetzt etwas?« erklang es heiter im Türrahmen.
Sie hatte wieder den Herrenpelz umgeworfen, nur daß sie jetzt unter diesem noch die Robe trug, mit oder ohne Taille, und auch die dünnen Pantöffelchen hatte sie wieder mit den warmen Pelzstiefeln vertauscht, die aber ihre Füßchen durchaus nicht entstellten.
Am auffallendsten war es, daß sie gleich diese heitere Frage stellte.
»Jawohl. Eine Vexierflasche. Eine kleine Ahnung hatte ich doch schon. Sie haben immer nur gefärbtes Wasser getrunken.«
»Aber Ihr Benediktiner war echt.«
»Ich hätte auch nicht mit so zufriedener Miene zwei Flaschen mit gefärbtem Wasser ausgetrunken.«
»Und an dieser Ihrer Trinkfestigkeit erkenne ich eben, daß Sie wirklich der Detektiv Nobody sind. Ich habe nämlich ein Geschichtchen von Ihnen gelesen, wie einmal ein paar Detektivs, die Ihnen Konkurrenz machten. Sie unter den Tisch trinken wollten. - Gottvoll!«
Lachend hatte sie es gesagt, als sie sich wieder auf ihren früheren Stuhl setzte.
Ihr Benehmen war so ganz anders, als Nobody es nach dem Vorhergeschehenen erwartet hatte, und er sprach es aus.
»Ich wundere mich, geehrte Miß, daß Sie so gelassen, so heiter sind, nachdem Sie nun wissen, wen Sie vor sich haben. Sie waren doch zuerst so erschrocken, als ich mich Ihnen zu erkennen gab.«
»Im ersten Augenblick, ja. Doch ich sagte Ihnen, wie ich über Nobody denke, und das kam mir rasch in Erinnerung. Ich fragte Sie, ob Sie mir etwas Ehrenrühriges zutrauten, und Sie verneinten mit aller Entschiedenheit, und ich sage Ihnen, daß mein Vertrauen zu Nobody unerschütterlich ist, und es wäre auch zu Ihnen gewesen, selbst wenn ich nicht erfahren hätte, wer Sie in Wirklichkeit sind. Darin bin ich Menschenkennerin.«
Nobody erwiderte mit einer dankenden Verbeugung.
»Doch Sie haben recht,« fuhr sie ernst fort, »lassen Sie uns über die Hauptsache sprechen. Sie sind auf meiner Spur?«
»Man weiß, daß Sie sich unter dem Namen Miß Viktoria Juvenal nach Paris gewendet haben, hier jeden Tag eintreffen müssen.«
»In wessen Auftrag verfolgen Sie mich?«
»Nicht verfolgen, ich soll Sie nur beobachten. Den Auftrag hierzu gab mir meine Gebieterin, deren Champion ich bin, und welche doch sehr nahe mit dem russischen Hofe verwandt ist. Ob sich dieser erst an die englische Königin gewandt hat, weiß ich nicht, aber jedenfalls ist es so.«
»Aber Sie wissen doch wenigstens, was ich verbrochen habe?«
»Sie sind Ihrem hohen Gemahl ent ...«
»Durchgebrannt! Ja. Was weiter?«
»Sie haben Ihr ganzes mütterliches Vermögen, gegen fünfzehn Millionen Rubel, flüssig zu machen gewußt.«
Sie klopfte sich lächelnd gegen den Busen.
»Die habe ich hier bei mir, allerdings nicht in Gold, auch nicht in Tausendrubelnoten, auch dies gäbe noch ein zu großes Paket - aber doch in Objekten, die mir jede Bank der Welt anstandslos in bares Geld umwandelt, und keine Polizei der Welt kann mich daran hindern, denn es ist mein redliches Eigentum, und ich bin mündig. Sind Sie vielleicht dazu abgesandt, mir mein Eigentum wieder abzunehmen?«
»Madame, Sie sagten doch, Sie hätten vor jenem Nobody solche Hochachtung, Sie hielten ihn für einen ...«
»Richtig, richtig! Verzeihen Sie mir. Nein, Ihnen traue ich so etwas am allerwenigsten zu. Und doch! Weshalb sind Sie da auf meine Spur gesetzt worden?«
»Da muß ich zunächst von etwas anderem sprechen, noch für eine andere Person Partei ergreifen. Meine Auftraggeberin in dieser Sache ist die englische Königin. Trauen Sie dieser zu, daß sie deshalb ihren Champion auf die Verfolgung ausschickt?«
»Ich habe vor dem Charakter der englischen Königin die größte Hochachtung.«
»Und das mit Recht.«
»Weshalb hat sie sonst ihre Hilfe zugesagt?«
»Sie stehen im Verdachte der anarchistischen Umtriebe, und das ist allerdings eine internationale Angelegenheit, zu der jeder Souverän, jedes Land gern seine Hilfe zusagt.«
Sie machte eine verächtliche Handbewegung.
»Bah! Ich und Anarchistin! Aber ja, ich glaube schon, daß mein Mann mich als staatsgefährliche Anarchistin hingestellt hat, um mich - nein, um mein Geld wieder in seine Gewalt zu bekommen. Ich werde ausgeliefert - ich verschwinde in Sibirien. Und Großfürst Karamsin zittert auch noch vor anderem. Es ist mein Eigentum, meines, auf dem er residiert - es sind die Güter meines Vaters! Aber als Anarchistin gehe ich ja aller Rechte verlustig.«
»Madame, ich bin nur beauftragt, Sie als Anarchistin zu beobachten. Sobald ich erkenne, daß Sie es nicht sind, habe ich mich meines Auftrags entledigt.«
»Halt! Sie bleiben natürlich! Sie wollen ja auch gar nicht gehen. Was wissen Sie denn sonst von unseren Eheverhältnissen?«
»Nichts, absolut gar nichts.«
»Hat Großfürst Karamsin der Welt nicht mitgeteilt, aus welchem wahren Grunde ihm seine Frau davongelaufen ist?«
Nobody war keiner Antwort fähig, so mußte er wieder mit einer Erschütterung kämpfen, während sie im Gegensatz zu vorhin, da sie das erste Geständnis gemacht hatte, ganz ruhig blieb.
»Nun ja,« sagte sie in gleichgültigstem Tone, »mein Mann hat ja auch nichts zu fürchten, sobald ich einmal im Verdacht stehe, ich, eine Großfürstin, eine Anarchistin zu sein, gilt meine Aussage überhaupt nichts mehr.«
»Ist es denn nur wirklich wahr,« fragte Nobody mit leiser, zitternder Stimme, »was - was Sie mir vorhin erzählten?«
»Erzählt habe ich es Ihnen ja noch gar nicht. Nur gesagt habe ich Ihnen etwas, und ich gab eine Erklärung dazu. Aber Sie sollen es hören.«
Und sie behielt den gleichgültigen Gesprächston bei, als sie fortfuhr:
»Ich schicke voraus, daß ich die treueste Gattin gewesen bin. Niemand, niemand kann mir etwas vorwerfen. Meine Heirat mit Großfürst Karamsin war zwar eine politische, ein Ukas des Zaren - aber trotzdem, ich liebte ihn mit aller Glut meines Herzens. Er war mir das Ideal eines ritterlichen Mannes. Im Laufe von vier Jahren kam ich freilich zu anderer Ansicht - na ja, das bringen wohl die meisten Ehen mit sich. Meine Ideale wurden zerstört, ich habe viel, viel gelitten, aber trotzdem - ich sah mit ernüchterten Augen, daß es unter dem russischen Adel überall nicht anders zuging als bei uns, ich ließ ihn seinen Neigungen nachgehen, die zwischen Wein und Weibern hin und her schwankten - ich blieb ihm treu, obgleich es mir an Versuchungen nicht fehlte. Er war der Vater meines Kindes!«
»Sie haben Kinder?« fragte Nobody leise.
»Warten Sie nur. Ich will mich kurz fassen. Es ist erst ein Vierteljahr her. Unser Gutsnachbar, auch so ein Ehrenmann, hatte eine Sklavin. Das heißt, eigentlich war's die französische Erzieherin seiner Kinder, eine hochgebildete Dame, aber in Wirklichkeit - na, Sie weitgereister Mann wissen wohl, wie's auf den Gütern in Ostrußland zugeht. Also seine Sklavin. Und mein Mann wollte sie gern haben. O ja, warum denn nicht - aber der Gutsnachbar wollte mich dafür. Nicht für immer, nur so zeitweilig! Ich bekam's zu hören, und als mein edler Gemahl mir so von hintenherum den Antrag machte, mich seinem Freunde zuführen wollte, da sagte ich ihm, daß ich alles wisse. Ob er sich nicht schäme. Nein, warum denn? Ob ich denn mehr wäre als seine Sklavin? Und um mir das begreiflich zu machen, und um meinen Widerstand zu brechen, hat er sich einen angetrunken und mich kardätscht. Die Spuren sehen Sie noch auf meinem Rücken.«
»Entsetzlich!« hauchte Nobody.
Gerade durch diesen gleichgültigen Ton, mit dem es vorgetragen wurde, wirkte es vielleicht um so entsetzlicher.
»Und Sie?«
»Und ich?«
»Was taten Sie?«
»Was sollte ich tun? Er war stärker als ich. Darum ließ ich es mir auch ganz ruhig gefallen, daß er mir den Rücken zerfleischte. Habe nicht dabei geschrien - aber gedacht habe ich dabei sehr viel - ja, sehr viel!«
Es war fürchterlich, wie sie das so gelassen hervorbrachte. Es war unnatürlich.
»Und dann?«
»Und dann? Mein Kind war todkrank, das mußte ich pflegen. Während man meinen Rücken mit Oel und Salbe behandelte, saß ich Tag und Nacht an Leos Bettchen - und dabei dachte ich - dachte - dachte.«
Noch immer kein Zeichen der Aufregung, der Wehmut, auch nicht, als sie jetzt beide Hände gegen die Schläfen preßte, als wollte sie die Gedanken bannen, die ihr damals durch den schmerzenden Kopf gegangen waren.
Da plötzlich glitt sie vom Stuhle herab, auf die Knie nieder, sie beugte den Oberkörper vor, bis ihre Stirn die auf dem Boden liegenden Hände berührte, und in dieser Stellung erklang es in unsäglich klagendem, in herzzerreißendem Tone:
»Fern an der Newa Strande wölbt sich ein kleiner Hügel ...«
Der Mensch in Nobody, der ein so gefühlvolles Herz in der Brust hatte, kam nicht zum Ausbruch: denn mit einem Sprunge war sie wieder auf, und nichts war ihr anzusehen, ja, in ihrem Auge zeigte sich sogar etwas wie ein freudiger Glanz, und so klang auch ihre Stimme:
»Sehen Sie, da war es mit mir vorbei! Aber ganz anders, als Sie vielleicht denken. Da hatte ich es hinter mir, da hatte ich es überstanden! Mit mir ist nämlich etwas ganz Merkwürdiges vor sich gegangen! Ach, wenn Sie wüßten, was für ein heiteres Geschöpf ich gewesen bin! Und noch in den ersten Jahren der Ehe - und dann lernte ich meinen Mann immer mehr in seiner wahren Gestalt kennen - und da wurde ich so traurig, wurde verbittert - und dann wurde ich Mutter - und da faßte mich des Weibes ganze Seligkeit - da konnte ich wieder singen und jauchzen - aber mit einem ganz anderen Gefühl, als da ich Mädchen gewesen war - da hatte ich meinem Manne alles, alles verziehen, was er mir angetan - und unter meines Mannes Knute wurde ich ein wildes Tier - aber der menschliche Geist behielt die Oberhand - und dann, als ich mein Kind begrub, tränenlos begrub - ein Schneegestöber - da sah ich plötzlich dennoch die Sonne aufgehen - eine neue Sonne - die Sonne der Freiheit - und ich war wieder dasselbe heitere Geschöpf ...«
Mit ehrfürchtigem Staunen blickte Nobody auf das Weib, das mit blitzenden Augen und lachendem Munde so sprach. Und er verstand sie! Nobody wußte, was sie meinte, was sie durchgemacht und was diese Umwandlung zustande gebracht hatte! Mit Worten ist das nicht weiter zu erklären, das muß eben verstanden, gefühlt werden.
»Ach,« begann sie nochmals mit denselben Worten, »wenn Sie wüßten, was für ein heiteres, übermütiges, tolles Ding ich früher gewesen bin! Auf unsern unermeßlichen Steppengütern, in Petersburg, in Moskau, auch hier in Paris bin ich schon gewesen - in einem Pensionat - wie wir es da getrieben haben - wir vier Mädels - die Irma, die Clarence - diese kennen Sie wohl nicht ... aber sollten Sie nicht schon vom Kosaken gehört haben?«
»Vom Kosaken?« wiederholte Nobody staunend, im ersten Augenblick nicht glauben könnend, daß hier eine beiderseitige Bekanntschaft vorliegen sollte.
»Prinzeß Turandot - Sie haben vielleicht davon gehört, wie sie seinerzeit aus dem Pariser Pensionat nach Monte Carlo durchgebrannt ist.«
Und ob Nobody davon gehört hatte! Doch sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, daß dem Publikum nicht bekannt war, daß Nobody mit den Schwefelinseln in irgendwelcher Beziehung stand.
So bejahte Nobody, daß er jene Geschichte, die sich damals in Monte Carlo abgespielt hatte, recht wohl kenne.
»Auch sie ist die Tochter eines russischen Fürsten,« fuhr Miß Juvenal fort. »Wir lernten uns in einem Petersburger Pensionat kennen. Es war eine ideale Freundschaft, die wir schlossen, ein Schutz- und Trutzbündnis. Da hatten sich vier revolutionäre Geister zusammengefunden. Ach, was für weltumstürzende Pläne haben wir Mädels ausgesponnen. Vor allen Dingen gab's kein Heiraten. Krieg allen Männern, welche uns Frauen beherrschen wollen!«
Sie lachte, als sie sich wieder setzte, um nach einer der noch daliegenden Zigaretten zu greifen, und so war sie ganz dieselbe wie zuvor.
»Turandot war die jüngste unter uns, ganz bedeutend jünger. Trotzdem war sie die erste, welche ihre exzentrischen Pläne in Taten umsetzte. Ich will Ihnen nicht erzählen, wie alles gekommen ist - kurz und gut, der kleine Kosak, Prinzeß Turandot meine ich, wagte es, mit allen Adelstraditionen zu brechen. Auch sie war schon für einen russischen Edelmann bestimmt, sollte in Paris noch den letzten Schliff erhalten - sie brannte durch und heiratete frischweg einen Mann, der sich einen berüchtigten Namen als Schmugglerkapitän gemacht hatte.«
Ach ja, dies alles kannte Nobody recht gut! Zum Glück wurde die Erzählerin nicht ausführlicher.
»Der Kapitän, unter den Seeleuten als Flederwisch bekannt, war zwar ein Abenteurer, aber sonst ein Ehrenmann. Die beiden haben sich dort unten bei China auf einer Insel angesiedelt, führen ein äußerst idyllisches, glückliches Leben. Ich stand mit Turandot immer im Briefwechsel. Als sich nun am Grabe meines Kindes eine neue Welt vor mir öffnete, da sah ich ganz deutlich die liebreizende Gestalt des wilden Kosakenmädels vor mir stehen. Und sie winkte mir. Zu ihr, so rief mein Herz, dort findest du alles, was du bisher vermißt hast, wonach du schmachtest: Liebe, Freundschaft, Freiheit!
»Mit einem Raffinement, dessen ich mich bis dahin gar nicht für fähig gehalten hatte, wußte ich mein mütterliches Vermögen zu erheben und mir einen Paß zu verschaffen. Ich floh. Doch gleich auf der ersten Station merkte ich, daß man mir schon auf der Spur war. Man kannte eben meinen Briefwechsel mit Turandot, man ahnte wohl, daß ich mich zu ihr wenden würde, man verlegte mir den Weg. Und nun will ich Ihnen etwas sagen.«
Sie stand auf und legte plötzlich ihre Hand auf Nobodys Schulter, ihn mit blitzenden Augen anschauend.
»Was in mir vorgegangen ist, weiß ich selbst nicht, aber das eine ist mir plötzlich bewußt geworden: daß ich ein freier Mensch bin! Und diese neugewonnene Freiheit, die mir auch meinen alten Jugendmut wiedergegeben hat, werde ich mir zu wahren wissen! Ehe ich mich zurückschleppen lasse, lieber ... mit einem Wort: ich habe Gift bei mir.«
»Aber Madame,« rief Nobody erstaunt, »warum sagen Sie denn das mir?!«
Sie setzte sich wieder.
»Gut. Wenn Sie nicht Nobody wären, hätte ich es Ihnen nicht gesagt. Ich hätte immer nur gehandelt. Schon auf der Fahrt von Rußland nach hier hatte ich als alleinreisende Dame mit allerlei Widerwärtigkeiten zu kämpfen. Nicht etwa als Verfolgte, sondern auch sonst. Ich brauchte einen Begleiter. In Paris wollte ich einen durch Annonce suchen. Ich tat es; heute abend, gleich nach meiner Ankunft, gab ich die Annonce auf. Was für einen Mann ich suchte, haben Sie wohl durch die Prüfungen gemerkt, die ich Ihnen auferlegte. Ich hätte Ihnen morgen auch eine große Summe Geldes anvertraut, Ihnen etwa einen Pfandbrief zum Wechseln gegeben, und wären Sie mit dem Gelde nicht wiedergekommen, so wäre mir das nur lieb gewesen. Verstehen Sie, weshalb?«
»Natürlich verstehe ich das. Es ist besser, er wird Ihnen bei einer Geldsumme untreu, als daß er Sie später verrät. Sie wollten eben durchaus seinen Charakter prüfen.«
»So ist es. Bei Nobody habe ich das alles nicht mehr nötig. Wird mich aber nun der Champion der englischen Königin auch weiter begleiten?«
»Wohin?«
»In Sicherheit.«
»Sie wollen mir vorläufig noch Ihr Ziel verschweigen? So hören Sie denn, ich brauche es auch nur zu wiederholen: als Ihr treuer Freund in Not und Tod bis ans Ende der Welt!«
Zum ersten Male fanden sich ihre Hände, ein herzlicher Druck, und sie fuhr fort:
»Ich habe schon die Vornamen von zwei anderen Freundinnen erwähnt. Die eine hieß Irma Janowitsch, die Tochter eines russischen Barons, die andere Clarence Laboche, die Tochter eines sehr reichen Franzosen, der sein Geschäft in Petersburg hatte. Exzentrische Ideen, wie junge Mädchen sie haben, führten uns zusammen. Und wirklich, gleiche Seelen finden sich immer. Wir schwuren hoch und heilig, niemals zu heiraten, wir waren schon Mädchen von achtzehn Jahren und wußten alle vier noch gar nicht, was das Heiraten eigentlich zu bedeuten hat. So grundnaiv waren wir noch. Andere Pensionärinnen, viel jünger als wir, wagten das Wort Heirat gar nicht in den Mund zu nehmen, und waren dabei schon grundverdorben. Verstehen Sie?«
»Ich verstehe schon. Ihren Schwur haben Sie aber doch nicht gehalten.«
»Eben darum, weil wir noch gar nicht wußten, was wir schwuren. Baroneß Irma heiratete zuerst, einen Amerikaner von der Gesandschaft in Petersburg, folgte ihm nach Amerika, wo Mr. Bellow im wildesten Teile des Staates Kolorado eine große Farm besaß. Clarence, die damals gerade elternlos geworden war, begleitete die Freundin. Wir hatten einander natürlich Briefwechsel versprochen, ich habe auch oft genug hingeschrieben - nie eine Antwort erhalten. Gott weiß auch, wie dort die Post beschaffen sein mag. Bis zuletzt. Es hat wohl so sein müssen. Am letzten Tage, als ich mich zu meiner Flucht vorbereitete, erhielt ich diesen Brief. Er machte mich zuerst nicht in meinem Entschlusse irre, mich zu Turandot zu begeben, erst dann, als die Notwendigkeit eintrat, dachte ich daran. Hier, lesen Sie ihn!«
Sie hatte aus ihrem Busen einen vielseitigen Brief gezogen, schon mehr ein kleines Aktenbündel: Nobody begann Seite um Seite zu lesen.
Dabei zuckte keine Muskel in seinem Gesicht, es schien ihn gar nicht zu interessieren. Bis zum Schluß, da lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und brach in ein unauslöschliches Gelächter aus, nur daß dieses ganz geräuschlos war, und dann schlug er sich klatschend auf den Schenkel.
»Das ist ja köstlich! Da gehen wir beide hin!«
Zum Schluß dieses Kapitels sei nur noch bemerkt, daß die beiden noch vor Tagesanbruch das Hotel verließen, und daß Nobody seine Begleiterin sicher nach Havre und auf ein Schiff brachte, aber vergebens darüber nachgrübelnd, wie diese oder ihre Freundinnen dazu beitragen könnten, ihn auf eine Spur zu führen, welche ihn der Lösung des geheimnisvollen Rätsels, das mit jenem Sinclaire und den ›Udlindschis‹ zusammenhing, näherbrachte.

9. Im Koloradotal.

Auch Nordamerika hat in seinem Innern eine große Wüste - direkt genannt die große amerikanische Wüste, great American desert, einen Flächenraum von 4000 deutschen Quadratmeilen bedeckend.
Sie ist etwas anders als die afrikanischen und asiatischen Wüsten. Vor allen Dingen sieht man schon auf einer kleineren Landkarte, daß sich ziemlich viel Flüsse hindurchziehen. Aber diese können den sterilen Boden auch nicht fruchtbar machen, der nur hier und da einen kümmerlichen Graswuchs, etwas Buschwerk und Gehölz hervorbringt, und trotz der vielen Flüsse ist darin schon mancher verschmachtet. Da kommen eben die gewaltigen Entfernungen in Betracht.
Im Westen wird dieses Gebiet von dem mächtigen Koloradogebirge begrenzt, dessen ausgezeichnete Pässe wohl niemals vom menschlichen Verkehr benutzt werden, weil sie eben in die Wüste führen, aus der nichts zu holen ist, und man hat auch nicht nötig, sie zu durchqueren, sie wird nördlich und südlich von der Eisenbahn auf ganz bequemem Wege umgangen.
Die Morgensonne hatte sich noch nicht hoch über die Bergspitzen erhoben, als ein Reiter sein Roß durch solch einen Paß dem Osten zulenkte.
Tags zuvor in aller Frühe hatte Nobody Denver City, die letzte Stadt, welche durch eine Zweigbahn mit der nördlichen Pacific in Verbindung steht, verlassen. Seine Gefährtin war aus einem Grunde, den wir später erfahren werden, zurückgeblieben.
Amerika ist groß. Ueberall konnte Nobody nicht gewesen sein. So kam er auch zum ersten Male in diese Gegend, und er hatte doch schon oft vorgehabt, sie zu besuchen, hauptsächlich, um den Indianerstamm der Arrapahos, der Beduinen Amerikas, kennen zu lernen. Sein Abenteuer mit der Russin führte nun endlich diese Gelegenheit herbei.
In Denver hatte er nicht viel über die Farm der Mrs. Bowell, der natürlich sein erster Besuch gelten sollte, erfahren können. Der Amerikaner ist gegen alles, was nicht Geld bringt, zu teilnahmlos, er mochte auch nicht an die rechte Quelle gekommen sein.
Er hätte einen Führer bekommen können, doch er schlug ihn ab, ließ sich nur den Weg beschreiben.
»Den könnt Ihr auch gar nicht verfehlen. Es gibt nur einen Paß, der von Norden nach Süden führt, den reist Ihr den ganzen Tag entlang, bis Ihr zu dem Felsen kommt, der gerade wie ein Ochsenkopf aussieht, dort links ab, und in drei Stunden seid Ihr im Koloradotale und auf der Trowsers-Farm.«
Die Beschreibung war noch etwas ausführlicher - für Nobody genügte sie.
»Trowsers-Farm? Warum heißt die denn Hosenfarm?«
»Weil sie ... danke, Jim, ich trinke Brandy mit Zucker.«
Nobody, der sich wieder einmal in den Wildwestmann verwandelt hatte, ritt ab, hinter sich auf dem Sattel außer seinem eigenen Proviant den schweren Hafersack.
Gleich nachdem er den engen Felderdistrikt, der Denver umgrenzt, verlassen hatte, trat das Koloradogebirge mit seiner ganzen fürchterlichen Nacktheit an ihn heran, und wenn er auch ständig einem wasserreichen Bache folgte, so konnte dieser doch nichts an der vegetationslosen Oede ändern. Nur hier und da fristete eine Fichte ein kümmerliches Dasein, die sich in einer Felsspalte festgeklemmt hatte. Regengüsse waschen alle sich bildende Erde von den glatten Felswänden ab und lassen nichts aufkommen.
Sonst ist von dem Ritt nichts weiter zu sagen. Bei Sonnenuntergang erreichte Nobody den bezeichneten Felsen, von dem eine Schlucht ostwärts führte, ebenfalls von einem Gebirgsbach begleitet, hier übernachtete er, um am anderen Morgen seine Reise fortzusetzen.
Die drei Stunden waren vorüber, nun hätte die Farm kommen können. Aber wie die hier zwischen den engen Felswänden beschaffen sein sollte, das konnte sich auch Nobody mit seiner Phantasie nicht recht vorstellen. Trostlos, alles trostlos!
So dachte er, als er seinen braven Gaul, der aber auch schon ganz trostlos den Kopf hängen ließ, einen ziemlich steilen Abhang hinauftrieb. Dann war er oben, und dann stand der Gaul da und ließ mit geblähten Nüstern ein freudiges Wiehern hören. Nobody war zu sehr bezaubert, um mitwiehern zu können.
Auf der anderen Seite senkte sich der Hügel ganz sanft hinab, und dort, wo die Felswände noch mehr zusammenrückten, leuchtete es in frischem Grün, und die amerikanische Eiche mit ihren eßbaren Früchten war es, welche vorherrschte.
Es war der Eingang zum Paradiese! Vor dem himmlischen Paradiese steht der Erzengel Gabriel mit einem Flammenschwerte. Vor diesem hier stand, die Mündung gegen die Schlucht gerichtet, eine ungeheure Kanone.
Nobody grübelte jetzt nicht darüber, wie man das riesige Geschütz hierhergeschafft haben konnte - sein scharfes Auge hatte auch sofort etwas anderes entdeckt - jetzt zunächst wurde sein Blick von dem Häuschen gefesselt, welches dort neben dem Bache stand, nicht weit vom Eingange entfernt, aber noch in der Schlucht selbst.
Niedlich, sauber, weiß gestrichen, mit grünen Fensterläden, weißumsponnen, am Bache ein Mühlrad, ein Gemüsegärtchen, an den Abhängen grüne Wiesen, gegen den spülenden Regen durch Terrassen geschützt, auf diesen wieder Wein - - ein Anblick, der auch das Herz des poesielosesten Wandersmannes erfrischen muß - und nun gar erst, wenn man noch etwas mehr in der Brust hat und anderthalb Tag durch solch eine trostlose Schlucht geritten ist!
Bald hielt Nobody vor der Haustür, und da erblickte er etwas anderes, was ihm tief ans Herz griff.
Ueber der Tür war ein Schild mit der üblichen Bezeichnung angebracht: Hotel and Publichouse.
Aber unter diesem war noch ein Schild, ein noch viel größeres, und da las Nobody etwas, was ihn plötzlich zurückversetzte nach Deutschland, an einen feuchtfröhlichen Stammtisch, und auch an ihn kam die Reihe, sein Teil beizutragen an dem Liede - ein Lied, nicht gerade sinnig, aber ... schön ist es doch!

    Das Wirtshaus an der Lahn.
Hier war kein Zweifel, was es bedeuten sollte. Dieses vorausgesetzte ›Das‹ sagte alles.
Nobody war vom deutschen Stammtisch zurückgekehrt ins wilde Koloradogebirge, er sprang aus dem Sattel.
Da kam aus der offenen Tür heraus eine kleine, dicke Frau.
»Good morning, Sir, good morning,« begann sie den fremden Reitersmann zu komplimentieren, dabei sich einer tiefen Baßstimme bedienend, und ... diese kleine, dicke Frau, hatte auch nicht nur einen weißen Schnauzbart, sondern auch einen weißen Backenbart - diese kleine, dicke Frau war nämlich in Wirklichkeit ein kleiner, dicker Mann, der sich in Frauenröcke gesteckt hatte.
Nobody schaute sich das komische Gewächs mit seinen Detektivaugen an. Ganz ohne Zweifel, der Kerl hatte sich mit Absicht richtig zu einem Weibe herausstaffiert.
Nochmals blickte Nobody traumverloren nach der deutschen Ueberschrift, und dann wanderte sein Auge zurück nach dem Mannweibe.
»Das Wirtshaus an der Lahn,« wiederholte er sinnend. »Sind Sie der Wirt?«
Er hatte sich der deutschen Sprache bedient. Ach, diese Freude!
»Sie sind wohl gar auch ein Deutscher?!«
»So ziemlich. Ich bin als Engländer in Deutschland geboren und habe viele Jahre dort gelebt.«
»Dann kennen Sie doch auch das Wirtshaus an der Lahn?«
»Die Lahn ist ein Nebenfluß des Rheins.«
»Das ist hier die Lahn,« sagte das Mannweib mit Nachdruck, auf den Bach deutend. »Oben mag er Arrapaho heißen, die Bergarbeiter mögen ihn meinetwegen Goldcreek nennen - hier aber habe ich zu befehlen und Namen zu geben, und hier heißt der Bach eben die Lahn.«
»Dann allerdings. Und Sie sind der Wirt?«
»Ich? Nee, ich bin die Wirtin. Ich bin die Wirtin vom Wirtshaus an der Lahn. Kennen Sie denn nicht das berühmte Lied?«
Und plötzlich begann das dicke Kerlchen zu tanzen, die Beine hochwerfend, daß die Röcke flogen, und dazu sang er:

    »Es steht ein Wirtshaus an der Lahn,
    Da halten viele Fuhrleut' an.
    Die Wirtin sitzt am Ofen,
    Die Gäste um den Tisch herum,
    Das Bier kann niemand so-o-ofen.«
»Das bin ich!« setzte er noch hinzu, und dann rannte er nach dem Mühlenrad und zog zu Ehren des Gastes an der hölzernen Schleuse den Schützen, so daß das Rad sich zu drehen begann, es setzte eine Klapper in Bewegung, weiter nichts, und daß ein Mühlenrad klappert, das ist ja auch die Hauptsache.
Nobody führte nach Westmannsweise sein Pferd selbst in den Stall und versorgte es, dann betrat er die Wirtsstube.
Halb amerikanisch, halb deutsch eingerichtet, halb bäuerisch und halb hinterwäldlerisch, eine Bar mit vielen Flaschen, und auf einem Sims die in Amerika ganz unbekannten Stammgläser, an der Wand die Schwarzwälder Kuckucksuhr und viele Waffen und Geweihe und ausgestopfte Vögel, und alles so sauber wie die schneeweiß gescheuerten Tische und Stühle, welche aus keiner Möbelfabrik hervorgegangen waren.
Zunächst interessierte sich Nobody am meisten für die Plakate, welche Speisen und Getränke der verschiedensten Art ankündigten, darunter sogar Delikatessen wie ›selbstgeräucherten Bärenschinken‹. Auch ›Beefsteak frisch von der Pfanne‹ war gar nicht so ohne, darauf hatte Nobody augenblicklich den größten Appetit, und das ging auch am schnellsten.
Der Wirt in Frauenkleidern kam wieder herein. Einen besonderen Reiz übte diese Harlekinade auf Nobody nicht aus, da hatte er schon zu viel gesehen.
»Kann ich ein Beefsteak frisch von der Pfanne bekommen?«
»Jawohl. Erst gestern ist ein Ochse geschlachtet worden, und meine Frau kocht ausgezeichnet.«
»Ich denke, Ihr selbst seid die Wirtin?«
Wenn der Kauz, der orginell sein wollte, in seiner Rolle verunglückt war, so wußte er sich nicht einmal in geschickter Weise aus der Klemme zu helfen.
»Na, Ihr wißt doch, wie es hier zugeht,« meinte er leichthin. »Hier laufen alle Weiber in Hosen herum, und da muß ich als einziger Mann doch Frauenröcke tragen.«
»So so. Nun, lassen Sie mir also ein Beefsteak braten, ein recht zartes, saftiges Stück, nur halb durch, aber auch nicht zu roh. Bitte, bestellen Sie erst, ehe wir über das Trinken sprechen.«
Aber der Wirt ging noch nicht. Breitbeinig stellte er sich vor den Gast hin, reckte den Bauch heraus und legte den Mittelfinger so an den Daumen, als wenn er schnalzen wolle.
»Also ein recht saftiges Stück, nichtwahr?« fragte er augenblinzelnd.
»Jawohl, recht saftig.«
»Und recht zart?«
»Recht zart.«
»Daß es so wie Butter auf der Zunge zerschmilzt.«
O, das war ja ein Ideal von einem Wirt! Dann konnte man auf seine Eigentümlichkeit, alles noch einmal zu fragen, schon eingehen.
»Und natürlich in frischer Butter gebraten?«
»Selbstverständlich, nicht etwa in Fett.«
»Und nicht gar zu scharf?«
»Nein, ja nicht!«
»Und vielleicht gebratene Zwiebelchen dazu?«
»Können Sie auch machen.«
»Und vielleicht noch ein knusprig gebratenes Ei darübergeschlagen?«
»Mann, Ihr macht einem ja den Mund wässerig!«
Das lag hauptsächlich in der Art und Weise, wie der Wirt fragte, wie er dabei schmunzelte, wie er dabei die Finger hielt!
»Und vielleicht noch Champignons dazu?«
»Habt Ihr Champignons? Natürlich, natürlich!« rief Nobody mit förmlicher Begeisterung.
Da legte der Wirt dem Gaste vertraulich die Hand auf die Schulter und sagte:
»Heern Se, wenn ich so'n Bäffschtäck hätte, das würd'ch selber fressen.«
Das allerdings war ein guter Witz von dem Rockträger gewesen, das war auch für Nobody etwas, da mußte er herzlich lachen.
Anerkennenswert war es auch von dem Manne, dann gleich zu sagen, daß das Fleisch jenes Ochsen zäh wie Leder sei, der Gast solle lieber Hirschrücken essen, dann wurde auch die Trinkfrage besprochen, und bald war Nobody versorgt, während der zum Mittrinken eingeladene Wirt, der den Namen Hans Schuster führte, auf dem Tische eine Reihe Bierflaschen aufbaute.
Bald war das Gespräch im Gange. Der Wirt gab willig über alles Auskunft.
Einfach das Koloradotal hieß geographisch das Gebiet, welches sich dort hinten eröffnete, zirka vierzig deutsche Quadratmeilen groß, in der Stein- und Sandwüste eine Oase zu nennen.
Westlich wurde es also vom Koloradogebirge begrenzt, nur hier diese Schlucht führte hinein, von diesem schoben sich zwei Ausläufer vor und schlossen es so ein; und östlich wurde es vor dem Flugsande durch einen großen Wall von Hügeln geschützt.
Hier nun waren alle Bedingungen geboten, um das fruchtbarste Land zu erzeugen. Der Boden mußte sogar auch bei starker Ausnützung immer besser werden, weil jeder Regenguß und besonders die Schneeschmelze jedes Jahr allen Humus von dem benachbarten Gebirge hereinschwemmte, und hinaus konnte er nicht wieder, er mußte sich hier ablagern. Denn die vielen Flüßchen, welche das Gebiet durchkreuzten, mündeten sämtlich in einem großen, in der Mitte liegenden See, und trat dieser bei der Schneeschmelze über, so entstand dennoch keine jener Ueberschwemmungen, unter denen so viele Gebiete Amerikas so furchtbar zu leiden haben, sondern das überschüssige Wasser, das der See nicht schlucken konnte, lief harmlos nach der Wüste ab, sich dort schnell im Sande verlierend.
Der Wirt konnte nicht genug preisen, was für ein Paradies das sei.
Und dieses vierzig deutsche Quadratmeilen große Paradies war zu einer Zeit, als der Staat Kolorado schon stark bevölkert war, noch gänzlich unbekannt gewesen!
Doch das ist für den Kenner der Verhältnisse durchaus nicht wunderbar. So etwas, daß man in Nordamerika, in den Vereinigten Staaten, die wir Europäer doch selbstverständlich geographisch für vollkommen erforscht halten, ein meilengroßes, bisher noch nicht bekanntes Gebiet ›entdeckt‹, das kommt noch heutzutage in Amerika fortwährend vor.
Wenn der Yankee immer so stolz bei den verschiedensten Gelegenheiten sagt: ›Amerika ist groß‹ - so meint er eben etwas ganz Besonderes damit. Heute ist einer Straßenkehrer, morgen durch eine Spekulation Millionär - ›Amerika ist groß!‹ - - Edison erfindet die lebenden Photographien, den Phonographen - ›Amerika ist groß!‹ - - ›Der erste Beamte im Schatzamt zu Washington wird dabei erwischt, daß er selber falsches Papiergeld macht, und stolz sagt der Yankee: ›Ja, unser Amerika ist groß!‹
Asien ist noch größer, aber so etwas kommt dort nicht vor, und so ist es auch in Amerika mit der geographischen Entdeckung von ganzen Ländern, was in Asien auch kaum noch vorkommen kann. Heute hat man hierfür ein treffenderes Schlagwort erfunden: Amerika ist das Land der Ueberraschungen, der unbegrenzten Möglichkeiten.
Der Wirt zeigte eine Karte vom Staate Kolorado, wie sich dieses fruchtbare Gebiet in der Sandwüste so langgestreckt am Gebirge hinschmiegte, die Grenzen schon markiert. Ja, freilich, was waren denn auch diese vierzig Quadratmeilen auf einer Karte von Amerika! Mit der Fingerspitze konnte man sie verdecken, und daß zwischen der Stein- und der Sandwüste solch ein fruchtbares Land lag, das hatte eben niemand ahnen können!
Der alte Senator Bowell, der viel im Koloradogebirge auf Steinböcke gejagt, hatte es zufällig entdeckt.
Entdeckt? Nun, das Gebiet war schon bewohnt gewesen, nicht nur von Indianern, sondern auch schon von Weißen in Besitz genommen. Mehrere Ansiedlerfamilien, sowie viele Trapper und Jäger hausten darauf. Aber wenn die einmal heraus unter andere Menschen kamen, so sprachen sie natürlich nicht von ihrem Geheimnis, das sie so gut ernährte.
Und genau so machte es Senator Bowell. Nur daß dieser die Verhältnisse besser kannte und sie ausnützte. Der ging nach Washington und bezeichnete auf der Karte das Stück Land, welches er zu kaufen wünschte. Er bekam das Stück Sandwüste - Regierungsland - natürlich für ein Butterbrot. Und als dann die Geometer kamen und das Paradies sahen, war an dem Handel nichts mehr zu ändern.
Nun hätte der rechtmäßige Besitzer verlangen können, daß die Ansiedler und Jäger sein Gebiet sofort verließen. Aber der alte Senator Bowell war ein guter Mann. Er jagte jedes Jahr ein paar Wochen in den von Wild aller Art wimmelnden Wäldern, sonst ließ er alles beim alten. Grundbriefe stellte er freilich auch nicht aus.
Dann brach der große Indianeraufstand aus, dem sich auch der kleine Stamm der Arratanen in diesem ihrem weltverlassenen Gebiet anschlossen; sie überfielen die paar Ansiedlungen, weshalb auch sie nach dem Indianerterritorium verpflanzt wurden.
Der Erbe des alten Bowell war sein einziger Sohn Donald.
»Jawohl, derselbe, der dann in Petersburg bei der Gesandtschaft war und von dort die Russin mitbrachte, eine Baronin, Irma Janowitsch hieß sie.«
Der Wirt war über alles orientiert. Viel mehr freilich wurde ja auch nicht in den Kreis seiner Interessen gezogen. Doch auch sonst war er ein ganz intelligenter Mensch.
»Donald, auch nicht mehr jung, wollte aus dem Tale mehr machen als sein Vater. Er ließ eine Menge Arbeiter kommen, zuerst wurde ein Jagdschloß gebaut, fix und fertig eingerichtet, wie es heute noch ist, dann sollte wohl auch eine Farm angelegt werden, aber so weit kam es nicht. Nur ein paar Monate wohnte Donald mit seiner Frau - er war schon einmal verheiratet - in dem Schlosse, dann mußte er fort, nach Petersburg. Er war nämlich Diplomat.
»Nun war das ganze Gebiet wieder lange, lange Zeit ganz leer. Nur die Familie Brisly wohnte noch darauf und bestellte ihre Felder. Andere Ansiedler durften ja nun nicht mehr daraufkommen, und die alten Fallensteller und Waldläufer starben nach und nach aus, und bei den Brislys gab es immer nur Mädels.
»Fünf Jahre ist es her, da kommt Donald wieder. Bringt sich der alte Knasterbart weiß Gott schon wieder eine blutjunge Frau mit, die er eben erst in Rußland geheiratet hatte! Und die beiden wollten nun immer und ewig hier wohnen bleiben, sogar im Winter! Na, dachte ich, da bin ich doch gespannt, wie lange es die beiden jungen Ladies hier in dieser Einsamkeit aushalten werden. Mrs. Bowell brachte nämlich auch eine Freundin mit, eine Französin, ein schneidiges Frauenzimmer. Clarence Laboche heißt sie, und Mademoiselle tun sie zu ihr sagen. Und wie die beiden nun ankamen, trotz des beschwerlichen Rittes durch die Schluchten, in Samt und Seide, meilenweit nach Parfüm stinkend, und was die nun alles für Pläne hatten, was die mir hier vorschwatzten, was die alles anlegen wollten, sogar die Kühe wollten sie selber melken. Kurz und gut, Farmersfrauen wollten sie werden, nie, nie wieder in eine Stadt gehen. Na, dachte ich, laßt nur erst mal den Winter kommen!«
Der Wirt nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glase und sah nachdenklich vor sich hin.
»Ja, ja,« fuhr er dann fort, »wie sich der Mensch nur irren kann. Der alte Donald genoß seine Ruhe nicht lange mehr, kam gar nicht dazu, erst die Arbeiter zu bestellen. Schoß sich in den Fuß, starb an Blutvergiftung. Beim Ladyfelsen liegt er begraben. Und die Missis Irma und die Miß Clarence, die sind alle beide heute noch hier.«
»Sind gar nicht wieder aus dem Tale herausgekommen?«
»Na, das schon. Jedes Jahr geht eine auf ein Vierteljahr fort, immer nur eine auf einmal, die andere bleibt inzwischen da. Aber das sind doch nur Ferien.«
»Was machen sie denn sonst hier immer?«
»Na, Kühe melken sie gerade nicht. Sie vertreiben sich so die Zeit. Die Mademoiselle malt viel. Aber sonst schafft auch die tüchtig mit, geradeso wie die anderen, und wenn sie auch nur jagen, so versorgen sie doch die Küche mit Fleisch. Und die Mrs. Bowell kocht auch für alle.«
»Haben sie denn Bedienung?«
»O ja, das ganze Haus ist doch in Ordnung zu halten. Aber nur Chinesinnen und zwei Negerinnen, im ganzen acht Weiber. Keine Weiße. Mit denen haben sie's auch probiert, aber keine einzige, hat in der Einsamkeit ausgehalten. Unsere Mädchens können nun einmal ohne Männer nicht auskommen.«
»Also gar kein Mann?«
»Nicht ein einziger.«
»Und die Familie Brisly, von der Ihr vorhin spracht?«
»Da habe ich Euch auch schon gesagt, daß da nur Mädels sind. Ja freilich, wenn die nicht wären, da könnten die Herrschaften oder vielmehr Damenschaften hier auch nicht so leben. Aber die Polly und Molly und die Dolly und Lizzy und die Mary und Maggy und die Susy, das sind gar tüchtige Mädels!«
»Nanu!« rief Nobody lachend, als der Wirt diese sieben Namen so geläufig herunterdeklamiert hatte. »Was ist denn das für eine weibliche Gesellschaft?!«
»Ich habe Euch doch schon erzählt, daß, als Donald zum ersten Male als Besitzer zurückkam, nur noch eine Ansiedlerfamilie hier war, und der alte Brisly war auch schon tot, und der hatte nur Mädels gehabt. Damals lebte die älteste Tochter noch, die Folly, schon achtzehn Jahre alt. Der Vater tot und die Mutter krank - was sollte getan werden? Die Folly war ein tüchtiges Mädel - wie die anderen auch solche geworden sind. Das Bestellen der Felder wurde aufgegeben, aber die Rinderzucht weitergetrieben. Die Folly zog Hosen an und setzte sich in den Sattel. So hat sie ihre ganzen sieben Schwestern durchgebracht. Schade um sie! Ein Stier schlug sie vor Jahren vor die Brust, da ist sie gestorben. O, Ihr sollt diese sieben Prachtmädels einmal zusammenstehen sehen, alle wie die ...« - der Wirt machte einen schrägen Strich durch die Luft - »wie die Orgelpfeifen.«
»Wie alt ist denn die älteste?«
»Die Polly? Die wird jetzt zwanzig.«
»Und die jüngste?«
»Die Susy? Die wird im August dreizehn. Und die hilft auch schon brav mit.«
»Was hilft sie mit?«
»Nun, die Rinder hüten! Und da gibt's gar viel zu tun! Auf jedes Mädel kommen mindestens hundert Stück. Und das ist doch kein Gütchen, das ist ein ganzes Territorium, und die Rinder laufen so gut wie wild darauf herum, und da gibt's meilenweite Prärien drauf, wo im Winter der eisige Blizzard genau so bläst wie etwa oben in Nebraska! Und da haben sich die sieben Mädels mit Lasso und Peitsche der durchgehenden Herde entgegenzuwerfen! Jawohl, kommt mal hin!«
Die sieben Mädchen als Cowboys! Doch Nobody bekam nicht etwa etwas Außerordentliches zu hören.
Es sei hier etwas eingeschaltet. Bei St. Louis findet alljährlich ein Wett-Pferdebändigen statt. Farmer schicken ihre besten Cowboys von weither, Sportsleute wetteifern mit diesen professionellen Zureitern, auch der jetzige Präsident Roosevelt, der bekanntlich ehemals Anführer der sogenannten Rough-Riders war, so im kubanischen Kriege, hat sich früher daran beteiligt.
Das wild eingefangene Pferd, das noch nie einen Sattel getragen, hat an jeder Fessel, also über dem Huf, eine Schlinge, alle vier laufen in einer einzigen Lederschnur zusammen, diese bekommt der Betreffende in die Hand, und kann er dem Tiere sonst nicht beikommen, so bringt er es durch Zusammenziehen der Schlinge zum Sturz; er muß es satteln, zäumen, einen durch Stangen abgesteckten, vielgewundenen Weg reiten, und es auf Kommando zum Stillstand bringen. Wieviel Zeit der Bändiger hierzu braucht? Daß so ein professioneller Cowboy nur wenige Minuten zu alledem braucht, das muß man gesehen haben, um es glauben zu können. Wer aber schwache Nerven hat, darf es sich nicht ansehen.
Vor zwei Jahren nun beschäftigten sich auch einmal die deutschen Zeitungen mit dieser Angelegenheit, weil es ein junges Mädchen gewesen war, eine Miß Helman, die den Rekord auf zweiundeinehalbe Minute herabgedrückt hatte. Und das war keine professionelle Kunstreiterin oder dergleichen, sondern die älteste von zwei Schwestern, welche auf eigene Faust die Farm des verstorbenen Vaters betrieben, und um Arbeitskräfte zu sparen von früh bis abends im Sattel saßen, hinter den Rindern her waren und in der Saison auch Pferde bändigten, worin es die eine zu außerordentlicher Geschicklichkeit gebracht hatte.
Das wurde damals als etwas ganz Außerordentliches, als etwas Heroisches besprochen. Wenn man sich aber näher auf den amerikanischen Farmen umschauen wollte, so würde man gar viele solche Töchter und auch Frauen finden, welche dem Vater und Gatten auch im Sattel beistehen, und sie geben keinem Cowboy etwas nach.
Auch Nobody war einmal auf einer großen Hazienda gewesen, und die Hausfrau, eine feine Gesellschaftsdame, war, als die Rinder durch die Fenz brachen, mit den anderen Herren vom Tisch aufgestanden und hatte sich auf dem Pferd ebenfalls mitten unter die rasenden Tiere geworfen, und das war nichts anderes gewesen, als wenn bei uns die Gutsfrau, wenn die Knechte und Mägde zum Tanz sind, einmal mit hilft, die Kühe in den Stall zu treiben und anzuketten. Würde sich das eine Städterin wagen? Und jene Farmersfrauen dort drüben spielen mit den wildesten Stieren wie mit zahmen Ziegen.
Aber nun diese sieben Mädels im Sattel, wie die Orgelpfeifen - Nobody konnte sie im Geiste vor sich sehen! Nun, er würde sie ja auch persönlich kennen lernen.
»Da kommt eine, die Dolly, die dritte - von oben herunter.«
Nobody hatte es durch das Fenster bereits gesehen. Zwischen den Bäumen hervor kam in die Schlucht ein Reiter gesprengt. Man muß wohl erst ›Reiter‹ sagen, denn die Gestalt saß rittlings im Sattel und zeigte auch keinen Ansatz von einem Röckchen.
Es war ein prächtiges Pferd, aber es gehorchte noch nicht dem Zügel, mitten im Galopp tänzelte und bockte und schlug es nach allen Seiten aus, am meisten Mühe hatte der Reiter, es an der Kanone vorbeizubringen, und daß dies überhaupt gelang, das zeigte dem sachverständigen Nobody, was für eine Faust und für kraftvolle Schenkel dieser Reiter haben mußte.
Dann ein mächtiger Satz, wie ein Pfeil schoß das Roß davon, im Nu war es vor der Tür, um in demselben Augenblicke auch zusammenzubrechen, sich auf dem Rücken zu wälzen und so mit den Beinen furchtbar um sich zu schlagen, bis es mit einem Male ganz still dalag, die Hufe eng aneinander - denn diese waren gebunden! Das Pferd hatte, an jeder Fessel jene schon oben erwähnten Schlingen, für gewöhnlich so gelockert, daß sie das Tier beim Laufen nicht hinderten.
Die Reiterin hatte die Schlingen mitten im gestreckten Galopp zusammengezogen und das Pferd so zum Sturz gebracht, in demselben Moment war sie aus dem Sattel, noch ein Griff, und es war geschehen, und ruhig schritt sie der Tür zu.
Es war ein Stückchen gewesen, das jeden Zuschauer, der so etwas noch nicht gesehen, vor Entsetzen das Herz hätte stillstehen lassen. Roß und Reiter mußten sich doch gleich das Genick gebrochen haben! In umso größerem Kontrast dazu stand die augenblicklich eintretende Ruhe, diese Gleichgültigkeit.
Sie war nicht außer Atem; auch nicht die leiseste Spur von Aufregung.
Der Wirt hatte den Gruß erwidert und dann gleich das Zimmer verlassen. Sie warf dem fremden Gaste nur einen Blick zu und griff nach einer Zeitung, begann im Stehen zu lesen.
Wenn es die dritte war, so mußte sie also siebzehn Jahre alt sein, und so sah sie auch aus, wenigstens der Figur nach, und der enganliegende Lederanzug, sehr abgenutzt, verriet ja alles. Es war ein schlankes, aber sehr kräftig gebautes Mädchen. Das Gesicht war hinter der Zeitung verborgen. Bisher hatte Nobody nur blonde Locken gesehen, die bis auf die Schultern herabfielen.
»Bravo, das war ein Meisterstück der Reitkunst!«
»O, das gehört zu unserem Beruf,« sagte die helle Stimme hinter der Zeitung hervor.
»Ich hätte nimmermehr geglaubt, daß solch eine kleine Hand eine derartige Kraft besitzt,« sagte Nobody in aufrichtigem Staunen; denn wirklich, es war eine sehr kleine Hand, welche die Zeitung hielt - freilich nicht etwa zierlich, und dann auch schmutzig genug.
Diesmal würdigte sie ihn gar keiner Antwort.
»Trinken Sie ein Glas Bier mit, Miß Dolly?«
Jetzt ließ sie die Zeitung sinken. Nobody sah ein hübsches, trotziges Mädchengesicht - aber auch mit Schmutz bedeckt, der Schweiß tropfte ihr von der Stirn.
Die blauen Augen sahen recht böse auf den Sprecher.
»Woher kennen Sie mich denn?«
»Der Wirt erzählte mir schon von Ihnen.«
»So. Ich danke, Sir, ich trinke kein Bier.«
Sie wollte sich wieder hinter der Zeitung vergraben. Dabei bekam das scharfe Auge des Detektivs ihre innere Handfläche zu sehen.
Himmel, was für furchtbare Schwielen hatte diese kleine Hand! Das arme Mädchen!
»Komm her, mein Kind, setz dich zu mir, ich möchte gern ...«
O weh! Ein Blick der Vernichtung traf Nobody, daß ihm gleich das Wort im Halse stecken blieb.
»Herr, für wen halten Sie mich eigentlich?« erklang es in schneidendem Tone. »Sie scheinen ein Gentleman sein zu wollen, ich aber bin in Wirklichkeit eine Lady!«
Sprach's und ging sporenklirrend hinaus. Draußen traf sie gleich mit dem Wirte zusammen, der ihr ein blaues Büchelchen gab. Sie ging nach dem Pferd, ein Ruck am Lasso, es sprang auf, sie saß schon im Sattel - und Roß und Reiterin waren verschwunden.
Und drinnen in der Gaststube saß Nobody wie vom Donner gerührt. Er hatte sich einmal eine Schlappe geholt.
»Na, Ihr habt sie wohl beleidigt?« fragte lächelnd der Wirt. »Ich hörte so etwas.«
»Ich bot ihr nur ein Glas Bier an und sagte, sie solle sich doch einstweilen hierhersetzen,« meinte Nobody, immer noch ganz kleinlaut.
»Ja, das dürft Ihr nicht. Ei, die wollen alle mit Handschuhen angefaßt werden! Und das können sie auch verlangen, das sind gebildete Mädels, wenn sie auch Arbeitshände haben.«
»Gebildet?«
»Ihr denkt wohl, ich weiß nicht, was gebildet ist? Ich habe auch einmal eine lateinische Schule besucht, jawohl! Primus heißt der erste und ultimus der letzte. Ich war immer der ultimus. Aber Tatsache, diese sieben Mädels könnten sich, wenn sie danach angezogen sind und ihre Hände pflegen, in jeder Gesellschaft sehen lassen. Ihr Vater war nämlich so'n durchgebrannter Student oder so was Aehnliches, verirrte sich hierher und heiratete in die Ansiedlerfamilie hinein. Hatte auch Lust zum Farmerleben, griff tüchtig mit zu. Und dabei ein grundgescheiter Kopf, hatte auch immer noch mit Büchern zu tun. Das hat sich auf seine Töchter vererbt, die er jeden Abend vornahm. Die unterhalten sich mit Euch genau so gut auf deutsch wie ich, und mit der Mademoiselle sprechen sie Französisch.«
»Von wem haben sie das Deutsche gelernt? Von Ihnen?«
»Nee, von der Frau Hackerle.«
»Wer ist das?«
»Die lebt auch im Schlosse.«
»Eine Dienerin?«
»Nee, die gehört mit zu den Herrschaften.«
»Da sind also auch noch andere Damen im Schlosse?«
»Nur noch eine, die Miß Field. Es waren ja schon genug da, alle hatten sie schon Hosen angezogen, aber keine hat's länger ausgehalten als höchstens einen Monat. Nur die Frau Hackerle und die Miß Field sind bei der Stange geblieben.«
»Nun sagt mal offen, Mann, was haben diese Damen denn nur eigentlich vor?«
Nobody wußte ja schon alles, er hatte doch den ausführlichen Brief gelesen, wollte hier von dem Wirt, der als Wächter des Paradieses an erster Quelle saß, nur noch Einzelheiten erfahren, ehe er selbst in dieses Paradies eindrang.
Was im Grunde genommen vorlag, ist wohl leicht zu erkennen: die Gründung eines kommunistischen Frauenstaates.
Der Wirt, der mit jedem Glase gesprächiger wurde, kam nicht zum Erzählen.
Klappernde Hufschläge näherten sich; vor dem Wirtshause hielten ein Reiter und eine Reiterin.
»Ein Pfaffe!« rief der Wirt erstaunt. »Was will denn der hier?«
Er eilte hinaus, die neuen Gäste in seiner Weise zu bewillkommen.
Wenigstens trug der Mann, der langsam abstieg, um dann seiner Begleiterin behilflich zu sein, einen bis an die Knie reichenden, schwarzen Gehrock, und da nun ein breitkrempiger Filzhut hinzukam, eine weiße Halsbinde, so konnte man in Wirklichkeit einen Geistlichen vermuten. Das sah man auch gleich dem bartlosen Gesicht und den würdevollen Bewegungen an.
Gewandt hatte sich die Dame, die ein graues, kurzes Reitkleid trug, aus dem Sattel geschwungen. Sie kamen eine kurze Zeit aus Nobodys Gesicht, bis beide die Gaststube betraten.
Nobody brauchte niemals lange Zeit, um eine Person gründlich zu mustern und über sie ein Urteil zu fällen.
Der Geistliche blieb ein Geistlicher. Er war noch jung, vielleicht fünfunddreißig Jahre. Ein charaktervolles Gesicht, kluge, strenge Augen.
»Der weiß, was er will, läßt sich nicht hypnotisieren, übt vielmehr selbst auf schwächere Menschen eine große Macht aus,« lautete Nobodys schnell gefälltes Urteil, in dem er sich nie irrte.
Aber nun die Dame! Schwarze Haare und grüne Augen! Und wie diese grünen Augen schillerten! Darüber vergaß man ganz, daß es eine stattliche und recht hübsche Dame war. Sie konnte die dreißig schon hinter sich haben.
»Das Haar ist gefärbt. Ursprünglich war es rot. Läßt sich auch nicht hypnotisieren. Und die hat irgend etwas auf dem Gewissen, und wenn dasselbe nicht von dem Pfaffen gilt, so ist dem doch wenigstens alles zuzutrauen.«
Weiter fing Nobody einen feindseligen Blick gleich aus zwei Augenpaaren auf, aus einem grünen und aus einem schwarzen. Die Anwesenheit eines dritten Gastes war den beiden nicht angenehm. Warum nicht?
»Nicht wahr, mein lieber Mann, hier ist der Eingang zum Koloradotale?« wandte sich der Schwarzrock mit tiefer, angenehmer, aber auch mit erkünstelt salbungsvoller Stimme an den Wirt.
»Jawohl, Ehrwürden.«
»Hochehrwürden,« verbesserte der Schwarzrock.
Aha, dachte Nobody, so ist es richtig, der läßt die Bescheidenheit für die Dummen.
»Jawohl, Hochehrwürden, gleich dort hinter der Kanone.«
»Wissen Sie, ob sich Mrs. Bowell auf ihrem Besitz befindet?«
»Jawohl, Hochehrwürden.«
»Ist sie da zu sprechen?«
»Immer.«
»So hat man ohne weiteres Zutritt auf ihrer Farm?«
»Zu jeder Zeit, Hochehrwürden.«
»Hat sie gegenwärtig Besuch?«
»Nein, Hochehrwürden.«
»Dann bringen Sie uns zwei Glas Wasser.«
Der Wirt machte ein unbeschreibliches Gesicht, als er ging, das Verlangte zu holen.
Die beiden setzten sich, von dem anderen Gaste so entfernt wie möglich, und flüsterten zusammen, bis der Wirt das Wasser gebracht hatte.
»Nicht wahr, Mrs. Bowell will ihren ganzen Besitz verkaufen?« nahm der Schwarzrock in seinem salbungsvollen Tone das Wort.
»Verkaufen? Davon ist mir absolut nichts bekannt, und das ist wohl auch ganz ausgeschlossen.«
»Allerdings,« ließ sich zum ersten Male die Dame vernehmen. »Sie ist doch eigentlich gar nicht die Besitzerin.«
Der Wirt machte große Augen, und jetzt spitzte auch Nobody seine Ohren noch mehr.
»Nun, Mr. Donald Bowell hat doch auch noch einen Sohn gehabt.«
Da bekam selbst Nobody etwas zu hören, was er noch nicht gewußt.
»Den Charles, ja, das stimmt. Aber der ist tot.«
»Wann ist er gestorben?«
»Hm! Sie scheinen auch etwas davon zu wissen. Der ist verschollen, im November waren es gerade fünf Jahre, und da ist die Witwe von Mr. Donald Bowell regelrecht als Grundbesitzerin vom Koloradotale eingetragen worden, und daran ist nicht mehr zu wackeln.«
Nobody bemerkte den stechenden Blick, den der Schwarzrock der Dame zuwarf, ihr Schweigen befehlend, und gleich darauf nahm er selbst wieder das Wort:
»Befindet sich auf der Farm auch eine Kirche?«
»Eine Kirche? Nee, wozu denn?«
»Keine Kirche?!« kam es gleichzeitig über zwei Lippenpaare, nur aus dem einen ruhig, während in dem anderen Rufe eine grenzenlose Enttäuschung gelegen hatte.
»Auf der Farm oder überhaupt im Koloradotale muß sich doch eine Kirche befinden?«
»Nee, wozu denn nur?«
»Oder es hat einmal eine darin gestanden, sie ist abgerissen worden.«
»Niemals.«
»Wir wissen es aber ganz bestimmt!«
»Da sind die Herrschaften falsch berichtet worden.«
»Oder vielleicht nur eine kleine Kapelle?«
»Eine kleine Kapelle noch viel weniger als eine große Kirche.«
Was wollten denn die beiden nur mit der Kirche? Und warum blickten sie sich jetzt so grenzenlos enttäuscht an?
»Halt, da fällt mir etwas ein,« meinte mit einem Male der Wirt, den Finger an die Nase legend. »Mein Vorgänger, dem ich die Wirtschaft hier abkaufte, gerade vor zehn Jahren, das war ein Katholik, ein Erzkatholik, und der hatte das Haus hier, obgleich es schon damals eine Kneipe war, ›Zur Kapelle‹ getauft. Meinen die Herrschaften vielleicht das damit?«
»Aaaahh!« kam es mit freudigem Staunen aus beider Munde.
»War es dasselbe Haus hier?«
»Ganz genau dasselbe.«
»Da ist aber doch kein Kirchturm drauf.«
»Auf einer Kneipe kann doch auch kein Kirchturm sein.«
»Es stimmt schon,« bemerkte die Dame, »dann ist der Schornstein gemeint.«
Der Schwarzrock ging hinaus, um sich das Haus von draußen zu besehen.
»Was haben die nur mit der Kirche oder mit der Kapelle oder mit diesem Wirtshaus?« dachte Nobody.
Der Schwarzrock kam wieder herein.
»Den Stiefelfelsen kann man wohl von hier aus nicht sehen?« meinte er.
Da plötzlich fiel es wie Schuppen von Nobodys Augen! Und er erkannte die Vorsehung, personifiziert in Edward Scott, die ihn hierhergeführt hatte!
Wie oft während der langen Seereise und auf der Pacificbahn hatte er nicht schon darüber nachgegrübelt, weshalb er eigentlich die Russin begleite, was er bei den verrückten Frauenzimmern solle, zu denen er jene brachte. Was für einen Zweck hatte dies alles? Mit dem Auftrage seiner Gebieterin hatte das nicht einmal mehr etwas zu tun, der war bereits erledigt.
Nun mit einem Male wußte er es. Er konnte nur staunen. Und er fühlte in seiner Tasche das Pennal brennen, das er stets bei sich getragen hatte, mit der Skizze auf Pergament darin, und er sah vor seinen geistigen Augen die Knochen des Mannes mit dem gespaltenen Schädel, wie sich ihm die Totenhand aus dem Sande der Libyschen Wüste entgegengestreckt hatte!
Hier im Tale des Koloradogebirges also war jener Situationsplan aufgenommen worden!
Eine Kirche - gegenüber ein Stiefel - und auch von einem Ladyfelsen hatte Nobody schon sprechen hören - gar kein Zweifel, die Vorsehung hatte ihn die Gegend finden lassen, auf die sich jener Situationsplan bezog!
Was aber wußten diese beiden davon?
Zunächst mußte er der Antwort des Wirtes lauschen, auf die Frage, ob von hier aus nicht der Stiefelfelsen zu sehen wäre.
»Den Stiefelberg meinen Hochehrwürden wohl? Ei gewiß, gleich vom Hinterfenster aus. Dort hinten der Berg, der rechts ganz steil abfällt, das ist er. Und die Jacke rechts drauf, das soll die Strippe sein, die hinten herausguckt.«
Es gehörte viel Einbildungskraft dazu, um aus diesem Berge, der in weiter, weiter Ferne lag, einen Stiefel zu machen. Ebensogut konnte es ein Teetopf oder ein menschliches Gesicht mit einer Nase oder sonst etwas sein.
Jetzt bei dem schönen Wetter trat der Berg wohl scharf hervor, aber es brauchte nur etwas trübe zu sein, so mußte er verschwinden.
»Verdammt - so weit!«
So hatte der fromme Hochehrwürden gemurmelt, den einleitenden Fluch allerdings so leise, daß nur das unglaublich feine Ohr dieses Detektivs ihn vernommen hatte. Der Wirt hatte bloß das letztere gehört.
»Ja, das ist dort die Grenze vom Koloradotal, das der Mrs. Bowell gehört,« erklärte er, »und das ist acht Meilen - ach, was sage ich denn, ich rechne immer noch nach deutschen Meilen! - und das ist an die dreißig Meilen lang und an die zwanzig Meilen breit.«
»Dreißig Meilen,« murmelte Hochehrwürden wieder, und Nobody konstatierte, daß er dabei ein äußerst niedergeschlagenes Gesicht machte.
Nun aber wollte Nobody auch weiter beobachten, welchen Eindruck wohl eine an den Wirt gerichtete Frage auf den Schwarzen hervorbringen würde. Er gab sich dadurch zwar als Mitwisser des Geheimnisses kund, aber das schadete nichts.
»Ist hier nicht ein Berg oder ein Felsen, aus dem man eine Jungfrau machen kann, ich meine, der ungefähr so aussieht und daher diesen Namen führt?«
»Jungfrau? Nee. Hier gibt's keine Jungfrau. Aber einen Ladyfelsen haben wir. Dort werden sie begraben, wenn wer stirbt. Der ist nun wieder auf der anderen Seite. Früher konnte man ihn auch von hier aus sehen, aber jetzt sind ein paar Fichten zu hoch gewachsen, die verdecken ihn. Er ist gar nicht so groß.«
Ladyfelsen - Fichte.
Mindestens mußten das für den Wissenden, der den Situationsplan kannte, doch Stichworte sein! Aber vergebens, auf den Schwarzrock brachten sie nicht den geringsten Eindruck hervor.
Das war nun wieder etwas, was Nobody sehr merkwürdig fand.
»Denken Sie sich, der Stiefelfelsen ist von hier dreißig Meilen ...«
Der Schwarzrock hatte sich umgewandt, um diese Worte an die Dame zu richten. Er brach ab, wollte auf sie zuspringen - Nobody kam ihm zuvor, fing sie auf, die soeben seitlich vom Stuhle fallen wollte.
Nobody hatte schon vorhin bemerkt, daß sie auf dem Stuhle eingeschlafen war, wie sie überhaupt recht abgespannt ausgesehen hatte.
Er hielt sie in seinen Armen, richtete sie wieder auf, ohne daß die Dame davon aufgewacht wäre.
Mit Hast übernahm der Schwarzrock das Amt des Helfers, stieß den anderen sogar mit einiger Rücksichtslosigkeit zurück.
Dabei ist zu bedenken, daß in Amerika eine Dame es jedem Straßenbahnschaffner höchst übelnehmen würde, wollte er ihr beim Einsteigen behilflich sein, dabei auch nur ihre Arme berühren. Natürlich gibt es Ausnahmen, in der Gefahr hört alles auf, Not kennt kein Gebot, und wenn's brennt, springt bekanntlich sogar die Frau Bürgermeisterin im Hemd zum Fenster heraus.
»Verzeihung. Die Dame wäre gestürzt. Mein Name ist Bernard.«
So hatte Nobody wenigstens gleich einen Grund, sich vorzustellen. Nun mußte auch der Pfaffe seinen Namen nennen.
»Lindol,« sagte der Schwarzrock kurz, und das genügte Nobody nicht.
»Ah, so habe ich die Ehre, den berühmten Methodisten-Prediger zu sprechen?«
Richtig, der Schwarzrock, der nur seinen Namen, nicht seinen Titel nennen wollte, ließ sich reizen. Er machte ein unendlich verächtliches Gesicht.
»Einen berühmten Methodisten-Prediger? Kenne ich nicht, gibt es gar keinen. Da Sie aber einen englischen Namen führen, mein Herr, so wundert es mich, daß Sie den Bischof Lindol von der anglikanischen Kirche zu Philadelphia nicht kennen. - Wirt, die Dame ist durch den langen Ritt ermüdet. Sie haben doch Fremdenzimmer?«
»Gewiß, Hochehrwürden,« entgegnete der Wirt mit einer tiefen Verbeugung, und jetzt schien seine Ehrfurcht aufrichtig zu sein.
»Geben Sie uns die beiden besten.«
Erst beim Hinausführen wachte die Dame richtig wieder auf.
Also der anglikanische Bischof von Philadelphia! Ja, von dem hatte Nobody schon gehört. Der redegewaltige Mann sollte über seine Gemeinde eine außerordentliche Macht ausüben, wie ein Heiliger wurde er angebetet.
Aber so aufzutreten, zu verlangen, daß jeder ihn kennen müsse, dazu hatte der gute Mann nicht den geringsten Grund. Nur weil er seine Macht einmal zu politischen Zwecken hatte mißbrauchen wollen, wofür er von der Regierung Fingerklopfe bekommen hatte, war sein Name etwas über die Grenzen von Philadelphia hinausgekommen. Vor allen Dingen ist dabei auch zu bemerken, daß so ein Bischof der anglikanischen Hochkirche nicht etwa mit einem katholischen zu vergleichen ist! Religion ist in Amerika vollständig Privatsache, Klubangelegenheit. In Nordamerika gibt es gegenwärtig zweihundertachtzehn Sekten, und fast jede hat ihren eigenen Bischof, und wenn sich drei zusammentun, um auf Grund einer neugedeuteten Bibelstelle eine neue Sekte zu gründen, so ist der eine von ihnen der Erzbischof, der andere der Bischof, und der dritte ist der Pastor, läßt sich Ehrwürden nennen - und dann gehen alle drei auf die Walze, fechten für eine Kirche zusammen.
Bei diesem ›Bischof‹ hier war es nun freilich etwas anderes, der hatte schon viele Kirchen unter sich, durfte trauen und andere Zeremonien vollziehen; aber immerhin darf man solch einen amerikanisch-evangelischen Bischof niemals mit einem katholischen vergleichen wollen, so gern sie selbst das auch tun.
Der Wirt kam wieder.
»Die ganze Nacht nicht geschlafen vor Ungeziefer und dann sechs Stunden im Sattel, da muß ja sogar ein Mann umfallen.«
»Kommen die beiden denn von Denver? Da müssen sie doch auch im Freien übernachtet haben?«
Nein. Nobody erfuhr, daß es noch eine nähere Stadt gab als Denver City, oder doch einen Flecken, in dem Bergleute wohnten. Der lag südlich von hier. Aber Denver war die nächste Eisenbahnstation. Kam man über Goldcreek, so mußte man zwei Tage lang von Stadt zu Stadt oder doch von Farm zu Farm reiten, hatte allerdings jede Nacht ein Bett, aber was für eins, davon konnten jetzt die beiden erzählen.
»Wird dort Gold gegraben?«
»Hier gibt's im ganzen Umkreise keins. Das sieht jeder, der nur einmal mit Gold zu tun gehabt hat, gleich den Felsen an. Das ist Sandstein, da gibt's kein Gold. Goldcreek, wie unten der Bach und auch das Dorf heißt, ist nur ein Spottname. Nur Pfeifenton wird dort aus der Erde geholt, und damit ist manchmal auch etwas zu verdienen.«
»Auch im Koloradotal gibt es kein Gold?«
»Gold, ja. Gemünztes. Diese Ladies haben Geld, und das haufenweise. Aber wenn Ihr sonst hier eine Unze Gold findet, dann könnt Ihr mir den Hals abschneiden.«
Nobody bezahlte seine ziemlich umfangreiche Rechnung.
»Man kann also ohne weiteres das Tal betreten?«
»Ohne weiteres. Die Damen freuen sich stets, wenn sie Besuch bekommen.«
»Kommen denn da nicht recht viele?«
»Wer soll denn kommen? Etwa Handwerksburschen? Die haben bequemere Farmen, die sie abfechten und wo sie die Gastfreundschaft ausnützen können. Das ist hier viel zu entlegen. Ihr seid wohl Reporter?«
Ohne Zögern bejahte Nobody.
»In fünf Jahren sind zwei Zeitungsschreiber hier gewesen. Alle beide haben geflucht, den Weg umsonst gemacht zu haben.«
»Ist der Besuch denn so uninteressant?«
Der Wirt zuckte die Achseln.
»Das ist Geschmacksache. Jene beiden haben nichts Interessantes darin gefunden.«
»Werden die Damen nicht von anderen Seiten belästigt? Zum Beispiel von den Bergwerksarbeitern?«
»Wo denkt Ihr hin! Das sollte einmal jemand wagen! Vor drei Jahren brannte Goldcreek total ab, vierhundert Männer und Frauen und Kinder waren obdachlos, vor den Hungertod gestellt - und es ist eine Aktiengesellschaft, für welche die Leute arbeiten, und die tat nichts - da hat Mrs. Bowell gleich zehntausend Dollar gegeben. Sie kann's ja ... aber immerhin, hier dürfte nichts passieren. Und dann sind ja auch die Mädels da, und drüben auf der anderen Seite sind die Arrapahos, mit denen sind die Damen auch gut Freund. Nee, die sind hier sicher wie in Abrahams Schoß.«
Nobody erkundigte sich weiter nach dem Weg.
»Nur immer geradeaus, es gibt gar keinen anderen Weg. In zehn Minuten seht Ihr schon das Schlößchen auf einem Hügel liegen.«
Nobody ließ sein Pferd zurück und ging auf die ungeheure Kanone zu, welche das Tor des Paradieses verteidigte. Es war ein schwarzangemalter Baumstamm, der auf zwei Wagenrädern ruhte, jedenfalls ein Werk des Wirtes, ganz hübsch gemacht - zumal von weitem gesehen.
Der hohe Eichenwald nahm ihn auf, durch den ein festgestampfter Weg führte. Gleich hinter der Felswand stand ein Häuschen, an dem zwei in lederne Männerkostüme gekleidete Mädchen frische Hirschfelle zum Trocknen anpflöckten. Dolly war nicht dabei, aber sicher waren es Schwestern von ihr, und zwar solche von der schon gereiften Sorte.
Sie bemerkten den Fremden nicht, und Nobody war Zeuge des Gesprächs. Oder doch zwei Sätze hörte er, und es genügte, um den Inhalt ihres Gesprächs zu charakterisieren.
»Ich nehme einmal nur einen mit einem schwarzen Schnurrbart.«
»Nein, meiner muß blond sein.«
O, du ewig Weibliches!! Hier allerdings in einem anderen Sinne gemeint. In jedem Mädchenkopf steckt doch immer dasselbe: der Zukünftige! Also auch hier in dieser Wildnis des Koloradotales, wo sich Mädchen und Frauen zusammengetan hatten, um der Welt zu beweisen, daß sie keiner Männer bedürfen!
Da sahen sie den Fremden, und die beiden wurden rot wie die Klatschrosen. Doch sie flohen nicht. Die Begegnung ward überhaupt ganz anders, als Nobody nach seinem ersten Gespräch mit Fräulein Dolly erwartet hätte.
»Good morning, Ladies.«
»Good morning, Sir,« klang es freundlich zurück.
Die Verlegenheit hatte nicht lange angehalten, und noch ehe Nobody nach dem Wege fragen konnte, ergriff schon die eine das Wort.
»Bist du der Mann, der vorn im Wirtshaus gesessen hat?«
Sie sprach Englisch, und der Engländer gebraucht das ›du‹ niemals, nur im Gebet und in der Poesie, sonst redet er auch jedes Tier mit ›Sie‹ an, und das Mädchen hatte es nicht anders getan. Aber im Deutschen muß hier das ›du‹ gebraucht werden, um die Vertraulichkeit zu bezeichnen, mit der ihn das Mädchen anredete. Nobody war ganz überrascht.
»Ja. Woher wissen Sie das?«
»Dolly erzählte es uns. Sie hat dich dort gesehen.«
»Miß Dolly ist wohl recht böse auf mich?«
»Weshalb denn?« erklang es gleichzeitig ganz erschrocken.
»Nun, ich bot ihr ein Glas Bier an und ...«
»Ach, das hat sie nicht so gemeint, und sie hat sich furchtbar über sich selbst geärgert, daß sie gleich so gewesen ist. Gehen Sie nur, die Ladies im Schlosse werden sich freuen, Sie zu sehen.«
Auch das hatte zwar äußerst freundlich geklungen, aber Nobody war doch entlassen.
Er war noch keine fünf Minuten weitergegangen, als er wiederum ein Gespräch hörte. Auch das mußten zwei Frauenspersonen sein. Jedenfalls saßen sie auf einer Bank, deren eines Ende noch hinter einer dicken Eiche hervorsah. Die eine Stimme war schnarrend und konnte in Nobodys Phantasie kein sympathisches Bild von ihrer Besitzerin hervorbringen, die andere war sehr hoch und dabei doch volltönend, und wenn die keiner sehr dicken Person angehörte, dann war Nobody ebenfalls bereit, sich den Hals durchschneiden zu lassen.
Und sie sprachen Deutsch!
» ... wie ick nu komm zu das Merrr, da sackt mein Frend zu mi: sickann, sickann ...«
»Was hat er gesagt?« wurde die schnarrende Stimme von der hellen unterbrochen.
»Sickann hat er gesackt, sickann.«
»Sickann?«
»Yes, sickann. Err meinte, ick soll mir sehn an das beautiful Merrr.«
»Ach so! Sich emal ahn. Das heißt auf deutsch: sich - emal - aahhn. Wie heißt es?«
»Sich emal oahn,« wiederholte die Engländerin.
»So war'sch gut,« lobte die Lehrerin, die der anderen Deutsch beibringen wollte. »Ihre Aussprache wird immer besser, Miß Field. Nun, weiter?«
Deutsch konnte die Engländerin schon ganz gut, die andere brachte ihr nur noch die andere Aussprache bei. Und sie fuhr fort:
»Da sackt mein Freundbusen zu mir - zu mich - zu mir: sich emal oahn ...!«
»Halt, halt! Es heißt nicht Freundbusen, sondern Busenfreund.«
»Ahso. Da sackt mein Busenfreund zu mir: sich emal oahn, was ist das für ein schönes Busenmerrr ...«
»Nicht Busenmeer, sondern Meerbusen.«
»Busenmerrr.«
»Nein, Meerbusen.«
»Aberrr es heißt dock Busenfreund.«
»Ja, es heißt Busenfreund, aber es heißt Meerbusen.«
Eine kleine Pause trat ein, und dann schnarrte die Stimme, wozu Nobody das Kopfschütteln sah:
»Wuas seid ihrrr Deutschen dock für merkwürdige Leut. Einmal habt ihr den Busen vorn und einmal habt ihr den Busen hinten.«
Nobody konnte seine Lachlust beherrschen, und es war gut, daß er auch sein Gesicht so in der Gewalt hatte; denn die beiden waren unterdessen aufgestanden, in diesem Augenblicke traten sie hinter dem Baume hervor und ... vor Nobody stand das seltsamste Paar, das er je in seinem Leben gesehen hatte.
Vorausgeschickt sei, daß beide als Herren gekleidet waren, beide trugen genau dieselben Kostüme aus gelbem Stoff, sehr kurze Jacke, Pumphosen und Schnürstiefel - aber nun welcher Unterschied zwischen den beiden!
Die eine mochte ziemlich zwei Meter lang sein, dürr wie eine Hopfenstange, eckig nur das Gesicht, auf dessen spitzer Nase eine Brille saß, sonst nichts von Eckigkeit, hier herrschte die schlanke Linie vor, besonders auch bei den Schultern, die so jäh herabfielen, wie es Nobody noch bei keinem Menschen gesehen hatte, am wenigsten bei einem Weibe, und zu dieser unmenschlich langen Hagerkeit paßten Hals und Arme und Hände und Beine und Füße und alles.
Ganz das Gegenteil war die andere. Was bei jener in die Länge, das ging bei der in die Breite. Dem mittelgroßen Nobody reichte sie nur bis zur Schulter, jener kaum bis an die Brust, und nun ein Obergestell und ein Untergestell und ein paar Beine und Waden - Barnum hätte die beiden sofort ausgestellt. Schon in Frauenkleidern wäre es an Dicke und Dürre ein unvergleichliches Paar gewesen, aber nun in den Männersachen, dazu auch noch die Jäckchen so kurz, und dabei hochfrisiert und mit Simpelfransen - - es war eben ein unbeschreiblicher Anblick.
Sonst sei nur noch bemerkt, daß die Hopfenstange vielleicht noch nicht so sehr alt war, wie es durch ihr eckiges Gesicht, wozu noch die Brille kam, erschien, während der aus dem Leime gegangene Hefenkloß die vierzig wohl schon hinter sich hatte, aber ein frisches, rosiges Gesichtchen besaß.
Nobody wollte seinen Sombrero ziehen, kam nicht dazu.
»Sich emal ahn!«
»So'n hübscher junger Mann!«
»Wirklich ein netter Junge!«
»Wie schüchtern!«
»Er fürchtet sich!«
»Er geniert sich nur!«
»I, das braucht er ja nicht!«
Auf der einen Seite drei kleine, getrippelte Schritte, auf der anderen mit den langen Spazierhölzern nur einen einzigen, und die beiden standen dicht vor Nobody, der noch immer die Hand am Hute hatte.
Da reckte sich auch noch die Kleine und griff dem völlig Verblüfften unters Kinn.
»Wie heißt du denn, mein schönes Kind?«
»Ich - ich - ich ...«
»Na, fürchte dich nur nicht, wir tun dir nichts,« schnarrte beruhigend die Lange.
»Bernard ist mein Name.«
»Bernard - Bernhardchen - ach, wie reizend!!« erklang es zweistimmig.
Nobody hatte sich bei der Vorstellung aufraffen wollen - es gelang ihm nicht. Gegen so etwas war auch er machtlos.
»Wie alt bist du denn, mein liebes Bernhardchen?«
»Ich - ich ...«
»Na, du brauchst nicht deine Jugend zu verraten. Wir wissen schon, daß sich die Männer immer älter machen, als sie sind.«
»Wirklich ein reizender junger Mann!«
»Parole d'honneur - ein netter Käfer,« schnarrte die andere, an ihrer Brille rückend.
»Wo willst du denn hin, mein kleiner Liebling?«
»Ich - ich - wollte - wollte ... na, Donnerwetter noch einmal, meine Damen!« probierte Nobody es jetzt auf diese Weise, sich aus der Klemme zu befreien. Aber es gelang ihm nicht.
»Ach, wie reizend das klingt! Fluche doch noch einmal so, du kleiner Schelm.«
»Du wolltest zu uns, nicht wahr?«
»Komm, ziere dich nicht - komm auf mein Schloß mit mir.«
»Erlaube, daß ich dein Gewehr trage.«
»Und ich dir deinen Hut.«
»Gegen Herren muß man immer höflich sein.«
Nobody konnte es nicht hindern, die Kleine nahm ihm das Gewehr ab und hing es sich selbst um, die Lange stülpte sich seinen Sombrero auf, und dann nahmen sie ihn links und rechts untern Arm, was nun erst recht ein komisches Bild abgeben mußte.
Nun wußte Nobody aber auch, wie er sich zu verhalten hatte. Er drängte nach rückwärts und steckte den kleinen Finger in den Mund.
»Ach nein - ach nein - Sie wollen mir etwas tun.«
Es war ganz der Situation gemäß hervorgebracht, und die beiden brachen denn auch in ein schallendes Gelächter aus. Aber lange hielt das nicht an.
»Sie denken wohl, wir treiben nur einmal etwas Harlekinade? Nein, o nein, so müssen doch die Herren der Schöpfung behandelt werden.«
»Komm nur, kleines Püppchen, ziere dich nicht, wir tun dir nichts.«
»Du, Therese, was der für Muskeln hat!«
»Himmelbombenelement ja!«
»Der muß der Clarence Modell stehen, ob er will oder nicht.«
»Und folgst du nicht willig, so brauch' ich Gewalt!«
Nobody wurde unter den Armen fortgeschleppt. Links räkelte es sich zu ihm empor, rechts neigte es sich zu ihm herab. Auf dieser Seite wurde er mehr getragen.
Es ging um eine Biegung, und da tauchte auch schon das Jagdschloß auf, recht stattlich, in demselben bizarren Stile gebaut, in welchem die Amerikaner die deutschen Jagdschlösser immer nachzuahmen versuchen, ohne es zu können. Besonders das Alleghanygebirge, von New-York aus das nächste größere Gebirge, wo es noch etwas zu schießen gibt, wimmelt von solchen Jagdschlössern.
»Mein süßes Kind, so liebenswert du auch bist - dich könnt' ich nicht das ganze Leben lang auf meinen Händen tragen,« schnarrte die Lange und ließ Nobodys rechten Fuß wieder den Boden gewinnen. »Wieviel wiegst du denn, mein Schatz?«
»Aber, Maud, darf man denn einen Herrn nach seinem Gewichte fragen?«
»Ach, da können wir ja gleich die Streitfrage erledigen, die wir vorhin hatten.«
»Richtig! Paris soll der Schönsten den Apfel geben. Wer von uns beiden ist die schönste?«
Sie hatten sich wieder beide vor ihn hingestellt.
»Bin ich es nicht?« fragte die Lange, reckte sich noch höher empor und legte den Kopf zurück, daß die lange Gurgel aus dem Halse quoll.
»Bin ich es nicht?« echote das Monstrum von Dicke und zog die weiten Pumphosen noch weiter auseinander.
Na, wenn die beiden menschlichen Abnormitäten über sich selbst spotteten, dann war es ja gut. Das zeigte auch, daß alle beide echten Witz besaßen - nämlich Geist.
»Meine Damen, ich ziehe vor, meinen Apfel selber zu essen.«
»Bravo, bravo!!« wurde gejubelt und Nobody wieder ins Schlepptau genommen.
Nun eine kleine Anhöhe und die Stufen einer Veranda hinauf.
»Weiber, Weiber, was macht ihr denn da schon wieder?« erklang eine vorwurfsvolle Frauenstimme.
Auf der Veranda stand eine junge Frau, welche die Arme bis an die Ellbogen in einem großen Backtroge voll weichen Teige hatte.
»Wir bringen einen schüchternen Jüngling, der uns besuchen will!« wurde wieder gejubelt.
Die junge Dame - denn wenn sie auch am Backtrog arbeitete, Nobody erkannte doch immer in ihr die geborene Dame - trug jedenfalls auch ein Herrenkostüm, das nur von einer großen Schürze verdeckt war. Es waren auch noch zwei Chinesinnen und eine Negerin zugegen - sämtlich in Männersachen.
Auf den Gefangenen, den die beiden noch immer nicht losließen, wurde nur ein flüchtiger Blick geworfen, dann walkten die Arme weiter in der Schmiere.
»Ich stehe gleich zur Verfügung. Nun her mit der Düte da, dann ist der Glockenguß fertig.«
Eine Chinesin nahm vom Nebentisch einen mächtigen Papiersack und ließ seinen weißen Inhalt auf das Geheiß der Bäckerin langsam auf den Teig laufen, der dabei immer tüchtig geknetet wurde.
»Darf ich fragen, was das werden soll?« brach Nobody das feierliche Schweigen, welches diese Handlung begleitete.
Wie in komischem Entsetzen hielt die Bäckerin die ausgestreckten Arme vor sich hin, daß an den Fingerspitzen lange Nudeln hingen.
»Weiß der Mensch nicht einmal, was das werden soll. Und das will nun ein Herr der Schöpfung sein! Pudding wird das, Pudding!!«
»Das war aber Salz, was Sie da hineinschütten ließen.«
»Zucker war's. Ich habe den Papiersack doch selbst aus dem Zuckerfasse gefüllt.«
»Nein, das war Salz.«
Die Hand fuhr noch einmal hinein, schmierte sich von dem Kleister eine Portion in den Mund, und nun eine Grimasse ...
»Pfui Deiwel, ja, 's war Salz. Das kann kein Mensch mehr genießen. Na, dann kriegen's die Schweine. Einen anderen Backtrog her! Einen anderen Sack mit Mehl her!«
Die Dienerinnen sprangen, und die beiden konnten ihren Gefangenen nicht mehr halten, sie wollten sich vor Lachen wälzen, und Nobody lachte aus vollem Halse mit. Besonders ihre letzten Worte waren es gewesen, die urkomisch gewirkt hatten.
Unterdessen stand die Dame mit der großen Schürze, mit ausgestreckten Armen da, an den Fingern lange Nudeln, und ihr hübsches Gesicht sah recht böse aus.
»Na, was lachen Sie denn?!« herrschte sie Nobody an.
Dessen Lachen verstummte sofort.
»Verzeihung, ich ...«
»Hier wird gar nichts verziehen. Wer sind Sie denn eigentlich? Was wollen Sie denn hier?«
Nobody sah sofort, daß dieser Unmut nur erkünstelt war. Sie hätte lieber selbst mitgelacht.
»Sind Sie ein Zeitungsschreiber?«
»Nein, ich will ...«
»Wollen Sie jemanden von uns heiraten? Keine Hoffnung, gibt's nicht!«
»Ich bin nur auf der Durchreise ...«
»Also ein armer Reisender?«
»Ich will den Indianerstamm der Arrapahos besuchen, möchte diese Indianer kennen lernen, der Weg führt mich durch Ihren Besitz.«
»Das ist etwas anderes. Da können Sie Ihre ersten Studien gleich hier machen. Drinnen sitzt ein Häuptling der Arrapahos Modell. Therese, Maud, führt den Herrn ins Atelier. Und seid vernünftig mit ihm.«
Die beiden Weiber, die das Backfischalter schon seit dreißig Jahren hinter sich hatten, packten ihr Opfer wieder unter den Armen und schleppten es weiter.
Hinter sich hörte Nobody noch etwas anderes.
»Na, wo ist denn der Backtrog?«
»Es ist kein anderer da, Missis.«
»Natürlich ist noch ein anderer da! Der große!«
»Da schläft Fanny drin.«
»Was?«
»Da schläft Fanny schon seit acht Tagen drin, und sie will ihn nicht hergeben, sie sagt, sie paßte grad so gut hinein.«
»Den Backtrog, meinen Backtrog will ich haben!! - Oder halt, bringt die kleine Badewanne her, die ist noch besser.«
Hier schien ja eine nette Zigeunerwirtschaft zu herrschen! Aber sonst sah es in dem reichmöblierten Hause sehr sauber aus.
Die beiden Weiber, die immer noch wie toll lachten, schoben ihr Opfer in ein Gemach hinein, dessen Wände fast nur aus Fenstern bestanden - in diesem Augenblicke schrillte eine Klingel, und sofort ließen sie Nobody los und schlossen hinter ihm die Tür.
Nobody sah sich in einem geräumigen Atelier. Viele Gipsfiguren, Gelenkpuppen, auch viele Staffeleien und wohl auch Bilder an der Wand und sonstwo postiert, aber diese Bilder sämtlich mit Tüchern und Portieren verhangen.
In der Mitte des Raumes hockte auf einem Kissen mit untergeschlagenen Beinen ein Indianer, ein federgeschmücktes Kalumet rauchend, während nahe dem Fenster an einer Staffelei die Malerin saß, die ihn konterfeite.
Der an der Tür stehende Nobody hatte Zeit genug, alles mit Muße zu betrachten. Denn obwohl sein Eintritt doch lärmend genug vor sich gegangen war, würdigte ihn der Indianer keines Blickes - das war ja für einen Indianer begreiflich - aber auch die Dame tat es nicht, und sie hätte doch nur den Kopf ein klein wenig zu drehen brauchen.
Die Frau am Backtrog war offenbar Mrs. Bowell gewesen. Denn bei der hatte Nobody sofort den ausgeprägt russischen Typus erkannt.
Dann konnte diese hier nur die Mademoiselle Clarence Laboche sein. Eine Französin? Der Typus der Französinnen ist ein ganz anderer, als diese hier zeigte. Doch Ausnahmen gibt es überall.
Sie ist einer näheren Beschreibung wert. Es ist auch unbedingt notwendig, sie wenigstens eine Viertelstunde zu beobachten, ehe man sich von diesem Weibe ein Bild machen kann. Nobody widmete dieser Beschreibung in seinem Tagebuch neun enggeschriebene Seiten. Etwas kürzer müssen wir es doch machen.
Auch sie trug ein Herrenkostüm. Doch welcher Unterschied zu den beiden Karrikaturen, die Nobody bisher gesehen hatte!
Der Hauptunterschied bestand darin, daß es aus feinem, hellblauem Tuche war, statt der Pumphosen schlichte Beinkleider, kurz unter den Knien zugeknöpft, und statt der kurzen Jacke einen langen Schoßrock mit schwarzen Knöpfen. Weiter schwarze Strümpfe und Schnallenschuhe, um den Hals eine weiße Krause mit sehr gebauschter Busenschleife, aus den Aermeln lugten anstatt Manschetten herabfallende Spitzen heraus.
Sie saß. Aber Nobody konnte sie sich lebhaft stehend, gehend denken, und nun brauchte sie nur noch einen zierlichen Galanteriedegen an der Seite zu tragen, so war der Kavalier aus der Mitte des 18. Jahrhunderts fertig.
Noch einen anderen Gedanken hatte Nobody im ersten Augenblick:
»Goethe! Goethe in seinen jungen Jahren! Ein Goethe in weiblicher Ausgabe!«
Ja, so war es. Es war ein Goethekopf. Das nußbraune, kurzgelockte Haar, die hohe Stirn, die edlen, sinnenden Züge, die braunen, tiefernsten Augen - ob schön, ob häßlich, davon konnte man hier gar nicht sprechen. Man sah nur diese ernsten Augen, und man war gefesselt - so wie auch von dem jungen Goethe erzählt wird. Viel mochte zu dieser Aehnlichkeit ja auch die bauschige Halskrause, wie überhaupt das ganze Kostüm beitragen - aber immerhin, es war ein weiblicher Goethekopf.
Olympische Ruhe! Wer hat diesen Ausdruck für Goethe zuerst gebraucht? Treffender ließ sich der Charakter des unnahbaren Goethe gar nicht kennzeichnen.
Sie saß hinter der Staffelei, dessen Leinwand Nobody nicht sehen konnte, auf einem einfachen Rohrstuhl, das rechte Bein über das linke gelegt, handhabte Pinsel und Palette.
Handhabte sie? Ja, sie bewegte die rechte Hand, welche den Pinsel führte, sie bewegte die Palette, sie lehnte sich manchmal zurück, um ihr Bild, um den Indianer zu betrachten - und doch glaubte Nobody, auch sie wäre eine regungslose Statue. Es waren ihre so überaus langsamen Bewegungen, diese Ruhe, die über ihre ganze Erscheinung ausgegossen war, die diesen Eindruck erzeugten - gar nicht zu beschreiben.
Fast ganz dasselbe galt für den auf dem Kissen lauernden Indianer. Sicher war es ein noch junger Mann. Doch um das zu erkennen, dazu gehörte Nobodys Erfahrung. Sonst war sein Gesicht das eines alten Weibes. Das ist überhaupt die Physiognomie aller nordamerikanischen Indianer. Illustrierte Zeitungen bringen oft genug Bilder von ihnen, Photographien, man sieht sie auf Schaustellungen, man sehe sie sich daraufhin an - ob die nördlichsten Krähenindianer, oder Sioux aus dem Territorium, oder die südlichen Apachen - trotz des Adlerblickes, den alle nordamerikanischen Indianer besitzen, sind es lauter Altweibergesichter.
Bei diesem jungen Krieger hier kam noch hinzu, daß er außerordentlich mager war. Kein Fleisch, alles nur Knochen und Sehnen. Und dennoch war er wohl wert, einem Künstler als Modell zu sitzen! Der Oberkörper war völlig nackt, und wenn auch die Rippen hervortraten, so war es doch ein idealer Knochenbau, der sich dem Auge zeigte.
Sonst sei über sein Aeußeres nur noch bemerkt, daß seine Hautfarbe außerordentlich dunkel, fast schwarz war, weder Gesicht noch Körper tätowiert, den Kopf zierte die übliche Skalplocke. Bekleidet war er nur mit ledernen Leggins und Mokassins, die aber nicht mit den sonst so beliebten Fransen und Stickereien besetzt waren. Das also war ein Arrapaho, ein Beduine der amerikanischen Wüste.
Wer noch nicht selbst ›gesessen‹ und auch noch niemals zugesehen hat, glaubt gewöhnlich, man muß da stundenlang stillsitzen, immer auf einen Punkt oder nach einer Richtung blicken. Ganz im Gegenteil. Der Maler spricht mit einem, und so fix geht das auch nicht, ein Künstler, der kein Pfuschwerk abliefern will, braucht zu einem Oelporträt mindestens eine Woche, und da beobachtet er einen bei den verschiedensten Gelegenheiten, ohne daß man es weiß, er studiert jeden einzelnen Gesichtsausdruck, und danach korrigiert er ständig an seinem Bilde, und mit einem Kleckschen am Augenwinkel weiß er immer noch etwas mehr von der Seele des Menschen hineinzulegen. Das eben ist ja der Unterschied zwischen Photographie und Malerei, und der Oelfarben bedient man sich nur deshalb, weil sie den höchsten Grad der Verbesserung zulassen - abgesehen von einigen anderen Gründen, wie Haltbarkeit und dergleichen.
Nun, gesprochen wurde hier nicht. Dieser Krieger hier stierte wirklich mit seinem glänzenden Auge unentwegt nach ein und demselben Punkte des Teppichmusters, nur in regelmäßigen Zwischenpausen die federgeschmückte Steinpfeife mit langem Rohre zum Munde führend, deren bitterlich riechender Rauch, erzeugt von der Weidenrinde, mit welcher alle Indianer ihren Tabak mischen, das Zimmer erfüllte - und da dieses Verhalten eben das eines ruhenden Indianers war, so durfte er sich auch gar nicht anders benehmen.
Nobody befand sich in einer äußerst fatalen Situation. Wie er so stürmisch hereingeschoben worden war, hatte er gar keine Gelegenheit gehabt, einen Gruß zu sagen. Es war doch selbstverständlich, daß die Dame wußte, wie er so an der Tür stand. Wenn sie nach dem Indianer blickte, mußte sie doch auch ihn sehen, ihr Blick ging doch dicht an ihm vorüber.
Ja, aber Nobody konnte sich auch nicht durch ein Räuspern bemerkbar machen! Er durfte es nicht! Es war genau dasselbe, als wenn ein Fremder in eine betende Gemeinde tritt. So war ihm zumute. Er mußte geduldig warten, bis man ihm einen Platz anwies.
Wie lange stand er nun schon so da? Er glaubte, es sei eine Viertelstunde. Es mochte weniger sein, vielleicht nur fünf Minuten, aber das ist bei solch einer Situation schon eine kleine Ewigkeit.
»Bitte, mein Herr, nehmen Sie doch Platz!« kam da endlich von der Staffelei her das Wort der Erlösung.
Es war eine melodische Altstimme gewesen. Ganz auffallend war, wie langsam sie sprach. Dabei keinen Blick für den, dem die Aufforderung galt.
Nobody machte zwei Schritte in das Zimmer hinein und ließ sich auf einem Polsterstuhl nieder. Erst hinterher fiel es ihm ein, daß er doch wenigstens ein ›Danke‹ hätte sagen sollen. Dann war es aber schon zu spät. Er kam sich plötzlich wie in eine ganz andere Welt versetzt vor.
»Ihr Name?«
»Bernard.«
»Laboche - Miß.«
Wieder eine lange Pause. Es wurde weitergemalt. Nobody imponierte es schon mächtig, daß diese hier einmal gleich bei der Vorstellung gesagt hatte, ob sie Frau oder Fräulein sei, so daß man sich wegen der Anrede nicht immer den Kopf zu zerbrechen brauchte.
Endlich nahm sie wieder das Wort, aber immer, ohne dabei den Blick von der Staffelei zu wenden, immer in der seltsamen, so überaus langsamen Sprechweise, wobei sie auch noch manchmal lange Pausen eintreten ließ.
»Die beiden Damen haben Ihnen arg zugesetzt ... verzeihen Sie ihnen.«
»Was soll ich ihnen denn verzeihen?« wollte Nobody abwehren.
»Doch. Ihr Betragen muß einem Fremden auffallen, unschicklich erscheinen. Aber die beiden haben ...«
Sie wendete den Kopf, doch nicht dem Besuch, sondern dem Fenster zu, und erst nach einer langen, langen Pause kam der Schluß des Satzes:
» ... sehr viel durchgemacht.«
Daß sie so plötzlich mitten im Satze abbrach, zum Fenster hinausschaute und dann erst, wenn sich ihr Blick wieder der Staffelei oder dem Modell zuwandte, beim letzten Worte fortfuhr, kam sehr häufig vor. Und gerade das machte auf Nobody einen ganz, ganz seltsamen Eindruck. Es kam ihm vor, als ob die junge Malerin noch in einer anderen Welt lebe, in der sie sich dann während dieser Pause mit sich selber unterhalte. Jedenfalls war ihm so etwas in seinem Leben, das ihn mit so unzählig vielen Menschen zusammenbrachte, noch gar nicht vorgekommen. Hier konnte er einmal einen gänzlich neuen Charakter studieren.
»Es sind aber doch zwei so überaus heitere Naturen,« versuchte er nochmals die beiden zu verteidigen, obgleich er es gar nicht nötig hatte.
»Heiter? Es sind ...« wieder der lange, sinnende Blick zum Fenster hinaus, » ... Abnormitäten der Menschheit. Stellen Sie sich die beiden ... auf der Straße vor ... unter anderen Menschen ... in Frauenkleidern ... die eine so unförmlich dick wie sie lang ist ... die andere menschliches Maß weit überschreitend ... die ganze Figur ein Zerrbild, das sich durch keine Toilettenkünste mildern läßt ... Glauben Sie nicht, daß die beiden viel Spott und Hohn über sich haben ergehen lassen müssen?«
»O, wer wird über so etwas spotten!«
Zum ersten Male wandte die Malerin ihm das Gesicht zu, und da nahmen die tiefernsten Augen, die so forschend auf ihn gerichtet waren, plötzlich einen Ausdruck der Ueberraschung an.
»Sind Sie nicht ... der Detektiv Nobody?«
Im Gegensatz zu den überraschten Augen hatte es ganz gleichgültig geklungen - Nobody aber fühlte sich plötzlich wie aus den Wolken gefallen.
Er hatte ja sein Gesicht durch keinen falschen Bart, durch keine Perücke verstellt; aber trotzdem, wie er hier im Koloradogebirge von einer dieser Damen erkannt werden konnte, die von seiner Herreise unmöglich etwas wußten, etwas ahnten - es war ihm ein unfaßbares Rätsel!
»Woher wissen Sie ...«
»Ich habe Ihr Bild wiederholt in ›Worlds Magazine‹ gesehen.«
Trotzdem, für Nobody war es immer noch ein Rätsel. Man weiß ja, wie weit die Aehnlichkeit solcher Holzschnitte gewöhnlich geht. Ein Gesicht mit einer Nase und einem Lippenpaar, links und rechts ein Auge und ein Ohr - weiter geht die Aehnlichkeit gewöhnlich nicht. Oder aber hier war das Auge einer Malerin, einer genialen Künstlerin, das sich durch nichts täuschen läßt.
»Sind Sie nicht der Detektiv Nobody?«
»Ich bin es.«
Sie wandte ihren Blick wieder der Staffelei zu, und hiermit schien diese Angelegenheit für sie ein für allemal erledigt zu sein. Was nun der Detektiv Nobody eigentlich hier wolle, was der Zweck seines Besuches sei - nicht das geringste Interesse dafür!
»Wenn Sie der Detektiv Nobody sind, dann müssen Sie doch auch die Menschen zu gut kennen, als daß Sie zweifeln, zwei so gestaltete Frauen würden von ihren Mitmenschen nicht ...« wieder der lange Blick zum Fenster hinaus, » ... mit Spott und Hohn überschüttet.«
»Sie haben recht - so sind die Menschen,« entgegnete Nobody leise.
»Nun, und da haben sich die beiden zu uns in die Einsamkeit geflüchtet.«
Als Nobody keine Antwort gab, die sie auch nicht zu erwarten schien, fuhr sie nach einer längeren Pause von selbst fort:
»Um sich für später vorzubereiten - um zu lernen, wie sie sich später unter den Menschen benehmen werden.«
Nobody verstand sofort, was sie hiermit meinte. Es war eben Nobody. Wir selbst werden später aus Beispielen ersehen, was die beiden vorhatten.
»Sie werden diese Einsamkeit wieder verlassen?«
»Sogar sehr bald.«
»Auch Mrs. Bowell?«
»Wir alle. Kennen Sie Mrs. Bowell von früher her?«
»Ich habe von ihr viel erzählen hören.«
Diese Antwort genügte ihr vollkommen. Keine einzige neugierige Frage mehr. Sie kam immer gleich auf die Hauptsache zu sprechen.
»Auch Mrs. Bowell hat viel durchgemacht.«
»Davon ist mir allerdings nichts bekannt. Oder Sie meinen, weil sie nach so kurzer Ehe ihren Gatten verlor?«
»Ganz das Gegenteil meine ich. Das war gerade ...« dem Fenster wurde ein sehr langer Blick gewidmet, » ... ihr Glück. Denken Sie sich doch ein junges, lebenslustiges Mädchen, das einen alten Mann heiraten muß, der schon mit einem Fuß im Grabe steht. Kann das Glück sein?«
»So war ihre Ehe mit Mr. Bowell eine erzwungene?«
Langsam hob sie die Schultern.
»Nein. Das nicht. Aber ... sie war noch ein vollständiges Kind. Sie wußte noch gar nicht, was die Ehe bedeutet, was die Ehe vom Weibe verlangt ... und vom Manne. So gehorchte sie freudig den Eltern. Und dann war es ein Greis, an den man meine Freundin ... verkauft hatte.«
»Ich verstehe Sie,« sagte Nobody leise.
Ihre ganze Sprechweise machte einen immer größeren Eindruck auf ihn. Es war so wunderbar, wie sie ihn, den ihr gänzlich Fremden, in dies alles einzuweihen wußte.
»Auch ich habe viel durchgemacht,« fuhr sie fort, immer mit ihrem Pinsel beschäftigt.
»Das glaube ich Ihnen,« kam es aus Nobodys tiefster Brust hervor.
»Und doch nicht so, wie Sie wohl denken. Wohl ist der Ernst des Lebens an mich herangetreten, aber die rauhe Hand des Schicksals selbst habe ich nie zu fühlen bekommen. Ich habe immer nur mit anderen Herzen gefühlt.«
So undeutlich das auch sein mochte - Nobody hatte sie doch sofort verstanden.
»Dafür sind Sie Künstlerin.«
»Ja. Ich sehe die Welt mit ganz anderen Augen an. Ich habe gesehen, was meine Freundin durchgemacht, was andere Menschen, besonders andere Frauen durchgemacht haben, und ... für mich hat das genügt. Eine praktische Lehre des Schicksals, eigene Erfahrung brauche ich nicht. Auch ich war einst ein heiteres, naives Kind - war es noch als erwachsenes Mädchen - noch vor fünf Jahren ... hier in dieser Einsamkeit habe ich mich verwandelt. Unser Entschluß ist gefaßt. Nur einige Wochen noch, dann treten wir in die Welt hinaus, um ... unseren Mitschwestern, welche noch in Sklavenketten liegen, welche inmitten aller Zivilisation noch wie die Sklavinnen verkauft werden, helfend beizustehen.«
Nach allem Vorangegangenen hatte Nobody nichts anderes mehr zu hören erwartet. Und er wußte solch ein Vorhaben zu schätzen. War doch seine eigene Devise, die er in dem ihm verliehenen Ritterschilde führte: ›Ich helfe den Schwachen‹. Und gerade er wußte am allerbesten, was für eine Sklaverei in unseren modernen Verhältnissen noch unter dem weiblichen Geschlecht herrschte, und diese Damen hielt er recht wohl für befähigt dazu, hier tatkräftig einzugreifen. Denn das war hier kein phantastischer Entschluß, der einem emanzipierten, exzentrischen Weibe so einmal in der Laune plötzlich einfällt - fünf ganze Jahre hatten sie sich dazu in der Einsamkeit vorbereitet!
»Sie wollen die Arrapahos kennen lernen?« sprang sie auf ein anderes Thema über.
Nobody bejahte. Den eigentlichen Grund seines Hierseins anzugeben, dazu hatte er noch immer Zeit.
»Das ist einer der ersten Häuptlinge der vielen Stämme der Arrapahos. Unser nächster Nachbar und unser bester Freund. Die Sandeidechse. Ispanje klingt besser.«
Der Indianer, der in der englischen Unterhaltung wenigstens seinen Namen gehört haben mußte, zuckte mit keiner Wimper. Wie ein Automat führte er das Kalumet zum Munde.
»Er ist mein Mann.«
Jetzt war es Nobody, der große Augen machte. Doch er hatte natürlich mißverstanden. Sie hatte gemeint, wie man so zu sagen pflegt: ›Das ist mein Mann - das ist ein Kerl, den ich bewundere‹.
»Verheiratet sind wir natürlich nicht. Ich werde mich nie binden. Er ist mein Freund, mein Liebhaber.«
Jetzt aber hatte Nobody doch recht gehört! Himmeldonnerwetter!
»Ihr ... Ihr ... Liebhaber? Ihr Geliebter?«
»Ja,« erklang es ganz gleichmütig zurück.
Und der sprachlos gewordene Nobody betrachtete sich den halbnackten, schwarzen, so überaus mageren Kerl, und sein Blick kehrte zurück zu der vornehmen, eleganten Gestalt der jungen Malerin, über deren ganzes Wesen die Unnahbarkeit gebreitet war.
War es denn nur menschenmöglich?!
»Es wäre lächerlich von uns,« fuhr sie da fort, »wollten wir etwa behaupten, das ganze männliche Geschlecht sei überflüssig auf der Erde. Sofort, wenn wir so etwas behaupten, es uns auch nur einbilden wollten, wäre unserem ganzen Vorhaben von vornherein der Todesstoß gegeben. Denn das wäre unnatürlich, und etwas Unnatürliches gibt es auf der Erde nicht. Weshalb ich gerade diesen Indianer zu meinem Geliebten gewählt habe? Mit einem einzigen Wort: weil er mir am besten gefällt. Uebrigens müssen Sie ihn erst näher kennen lernen, ehe Sie über ihn ein Urteil fällen können. - Sehen Sie hier, wie ich ihn getroffen habe.«
Noch ganz kopfscheu, erhob sich Nobody, trat hinter die Staffelei und ... erstarrte vor Schreck zur Statue!
Beschreiben wir das Bild, welches in Oelfarbe gemalt, schon ziemlich fertig war, etwas näher.
Es stellte diesen Indianer nicht etwa so hier im Zimmer auf einem Kissen sitzend dar, sondern auf einem Pferde, umgeben von der Szenerie einer Wildnis, in der die Wüste vorherrschte.
Nun vor allen Dingen dieses Pferd. Schön sind die Indianerpferde überhaupt nicht, das stimmt; mit unseren edlen, aus langer Zucht hervorgegangenen Rennern lassen sich auch die Mustangs bei weitem nicht vergleichen, von den indianischen Ponys gar nicht zu sprechen ... aber solch ein Luder von einem Gaul, auf dem der magere Indianerhäuptling da paradierte, hatte Nobody auch in Wirklichkeit überhaupt noch nie gesehen!
So mager wie sein Reiter, die Rippen und alle anderen Knochen aus dem Leibe stehend, den Kopf mit den Eselsohren trübselig gesenkt, der Schwanz nur noch aus wenigen Haaren bestehend, die unförmlichen Beine mit den dickangeschwollenen Fesseln geknickt ... ein auf dem letzten Loche pfeifender Droschkengaul, der sich nach der Ruhe des Wurstkessels sehnt, war noch Gold gegen dieses Streitroß eines Indianerhäuptlings!
Aber noch etwas anderes war dabei, was Nobody wirklich vor Schreck erstarren ließ.
Sie korrigierte offenbar nur noch an dem Gesichtsausdruck des Indianerhäuptlings. Und dessen fast pechschwarzes Gesicht hatte sie mit grasgrüner Farbe gemalt; eine Farbe, die bei ihm weiß hervortrat, hatte sie rot gemacht, die rote Feder in der Skalplocke in Blau wiedergegeben - und so war es bei allem und jedem auf dem Bilde! Der Himmel olivgrün, Gras und Bäume azurblau, eine Tanne hatte zur Abwechslung orangerote Nadeln, und rot wie eine Klatschrose war auch das edle Roß, übersät mit blauen und grünen Flecken!
»Mein Gott, farbenblind!« stöhnte Nobody innerlich. »Nein, bei einer Malerin, die ihre Kunst ernst nimmt, grenzt das schon mehr an Wahnsinn!«
»Wie finden Sie die Aehnlichkeit?«
Wir wissen, wie empfindsam unser Held bei gewissen Gelegenheiten sein konnte. Er mußte erst die ihm plötzlich aufsteigenden Tränen hinterschlucken, ehe er eine Antwort zu geben vermochte.
Ja, und was sollte er dann sagen? Mit den Farbentönen hat die Aehnlichkeit doch eigentlich nichts zu tun! Und dieser Indianer war sonst sprechend getroffen! Und auch im übrigen - so viel verstand Nobody auch davon - der Schatten, die Perspektive - das war das Gemälde eines gottbegnadeten Künstlers, eines Akademikers, aufs sorgfältigste in allen Details ausgeführt! Nur daß er sich eben bei jeder Farbe vergriffen hatte! Farbenblind - oder wohl richtig wahnsinnig!!
Langsam stand sie auf, zum ersten Male sah Nobody sie stehen und gehen, und trotz des wehmutsvollen Gefühls, unter dessen Banne er sich befand, mußte er diese edle Nonchalance, die sich in jeder Bewegung mit einer unnachahmlichen Grazie verband, bewundern, womit nun auch das ganze Kostüm so geradezu bezaubernd harmonierte.
Sie zog von einer anderen Staffelei das verhüllende Tuch weg, ein Oelgemälde zeigte sich, eine Gebirgslandschaft darstellend - und wieder ganz genau dasselbe, wieder mit einer wunderbaren Fertigkeit gemalt, mit der Perspektive kolossale Wirkung erzielt - aber die Felspartien in Farben gehalten, wie die Natur sie niemals zeigt, ein Bach rosarot, grünes Gebüsch blau - und die Sonne nun gar am grasgrünen Himmel dunkelblau!
»Es ist die schönste Felsenlandschaft, die ich im Koloradogebirge gefunden habe - und ich selbst halte es für mein bestes Bild.«
Mit Gewalt mußte sich Nobody zusammenraffen, um einer Antwort fähig zu sein.
»Herrlich!« sagte er, so natürlich es ihm möglich war, und dabei dachte er, förmlich zerknirscht: »Armes, armes Weib!«
»Ein Amerikaner, ein New-Yorker, der uns hier einmal besuchte, bot mir für dieses Bild hunderttausend Dollar.«
Na ja, so ein Yankee, dem ist alles zuzutrauen, für den war das vielleicht gerade so etwas.
»Aber es ist mir unverkäuflich.«
Nobody murmelte etwas vor sich hin.
»Ich verkaufe kein Bild von mir, ich stelle auch nicht aus.«
Wohl ihr!
»Ich male für mich selbst und für die Unsterblichkeit.«
Jetzt kam auch noch der Größenwahnsinn dazu! Armes, unglückliches Weib!
»Sagen Sie mir ganz offen, wie denken Sie über meine Gemälde?«
»Herrlich!« murmelte Nobody.
»Wie finden Sie meine Farbeneffekte?«
»Großartig!«
Da wandte sie sich ihm in ihrer langsamen Weise zu, wie drohend rückten ihre geschwungenen Augenbrauen zusammen.
»Warum sind Sie nicht offen?«
»Ich bin ganz offen, und ich versichere Ihnen, daß ...«
»Warum sagen Sie mir lieber nicht gleich, daß Sie mich für wahnsinnig halten?«
Wieder kam eine so furchtbar fatale Situation. Sie wußte also selbst, daß sie wahnsinnig sei - das findet man bei Irrsinnigen ja so häufig - aber was sollte Nobody dazu sagen?
»O, Mademoiselle, wie können Sie ...«
»Nein, ich nehme es Ihnen nicht übel, daß Sie mir nicht die ungeschminkte Wahrheit sagen,« wurde er abermals unterbrochen. »Ich will Ihnen eine Erklärung geben. Ich sagte, ich male für die Unsterblichkeit. Das dürfte auch stimmen, bei aller Bescheidenheit. Nach hundert Jahren nämlich wird kein Oelbild eines unserer heutigen Meister mehr existieren - oder es ist doch nicht mehr des Ansehens wert - die Farben sind verblaßt - das Bild ist überhaupt hin! Das macht, weil wir verlernt haben, uns die Oelfarben selbst anzureiben. Und unsere modernen Farbefabriken kennen nicht mehr die Rezepte zu jenen Farben, mit denen die alten holländischen und italienischen Meister gemalt haben und deren Farbenpracht wir heute noch anstaunen. Ich aber habe so ein Rezept dazu - selbst gefunden. Ich quetsche die Nußkerne selbst, destilliere das Oel selbst an der Sonne, reibe die trockenen Farben selbst an - die richtige Tönung der Farben freilich wird erst nach hundert und mehr Jahren zum Vorschein kommen, dafür aber auch Jahrhunderte lang anhalten. Durch ein eigentümliches Brennverfahren kann ich die Umwandlung der Farben beschleunigen, in einem Tage erzeugen - aber den richtigen Effekt kann nur die Länge der Zeit hervorbringen.«
Sie hatte von einer anderen Staffelei das Tuch fortgezogen. Da freilich bekam Nobody etwas ganz anderes zu sehen, aber er brauchte gar nicht hinzublicken, er hatte schon genug zu hören bekommen, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte er, wie weiland Mister Cerberus Mojan, den Mund so weit wie möglich aufgesperrt.
Erst vor kurzem hatte Nobody einen Artikel über dieses Thema gelesen, wie schade es doch ist, daß die Oelgemälde unserer heutigen Künstler so vergänglich sind. Es gibt berühmte Gemälde von noch lebenden Malern, welche schon jetzt nichts mehr taugen. Die Farben verblassen, sie verändern sich, und da hilft kein Nachpinseln, dagegen gibt es kein Mittel. Das ist wieder einmal so ein Beweis, daß es Gebiete gibt, auf denen wir trotz aller unserer sonst so großartigen Erfindungen, trotz aller Chemie und Technik nicht vorwärtsschreiten, sondern zurückgehen. Früher war die ganze Malerei eine Zunft! Wer für würdig zur Aufnahme befunden wurde, der mußte erst die Schürze vorbinden und lernen, die Farben mit Oel anzurühren - reiben, immer reiben! Damals gab's noch keine Farbenfabriken! Außerdem ist schon oft darauf hingewiesen worden, daß die alten Meister, Raphael, Rubens und wie sie alle heißen, ganz andere Farbtöne angewendet haben, als sie der Natur entsprachen, die Umwandlung brachte erst die Zeit mit sich, und dann erst wurden die Farben unveränderlich, und daher jene Bilder, deren Farbenpracht wir noch nach Jahrhunderten bewundern.
Ganz offenbar sind uns hier Kenntnisse, Zunftgeheimnisse verloren gegangen, und schon oft ist unseren heutigen Künstlern geraten worden, lieber die ganze Oelmalerei an den Nagel zu hängen und zum Pastellstift zu greifen.
Einen Augenblick war Nobody außer sich.
»Verzeihen Sie, daß ich Sie im Verdachte hatte ...«
»Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich Ihnen deswegen nichts zu verzeihen habe.«
»Sie werden Ihr Geheimnis für sich behalten?«
»Vorläufig, ja,« entgegnete sie kurz und zog die Portieren wieder zu.
Ein Glockenton hallte durch das Haus.
»Es ist das erste Zeichen zum Mittagessen. Sie sind natürlich unser Gast. Ich habe Sie zufällig als den Detektiv Nobody erkannt, und ich habe keinen Grund ... wollen Sie inkognito bleiben?«
»O Mademoiselle, ich habe mich so furchtbar in Ihnen getäuscht - wenn Sie mir noch vor der gemeinsamen Tafel eine Unterredung unter vier Augen gewähren könnten!«
»Gewiß! Wir haben noch eine Viertelstunde Zeit, das war erst das Zeichen, daß die Mädchen geholt werden sollen.«
»Sind wir hier ungestört, unbelauscht?«
Sie sagte einige Worte zu dem Indianer in dessen Dialekt, dieser erhob sich sofort und verließ schweigend das Atelier.
»Nirgends sind wir ungestörter als hier. Nun, was verschafft uns einsamen Frauen den Besuch des Detektivs Nobody?«
»Kennen Mademoiselle die Großfürstin Margot?« fragte Nobody ohne weitere Umschweife.
Die junge Französin war doch nicht so für alles abgestorben, wie es zuerst den Eindruck machte. Sie zeigte ein freudig erstauntes Gesicht.
»Auch Sie kennen meine Freundin?! Also sie hat doch unsere vielen Briefe empfangen? Und sie hat Ihnen von uns erzählt, und nun kommen Sie hierher, um die Wahrheit zu prüfen?«
»Ich habe Ihnen bei weitem mehr mitzuteilen. Die Großfürstin liegt krank in Denver City.«
Diesmal ein freudiger Schreck, und dann eine Bewegung, als wolle sie nach der Türe zueilen. Mit warnend erhobener Hand vertrat Nobody ihr den Weg.
»Wüßte ich nicht, daß Sie eine durchaus besonnene Dame sind, so hätte ich es Ihnen gar nicht mitgeteilt - wenigstens jetzt noch nicht. Ich hätte erst einige Tage vergehen lassen. Nun machen Sie meinen guten Glauben an Ihre Besonnenheit nicht zuschanden. Die Großfürstin hat sich auf der Reise ein Fieber zugezogen. Sie liegt in guter Pflege im Hospital. Es ist ein siebentägiges Wechselfieber daraus geworden, an sich ganz unbedeutend - aber die kleinste Aufregung könnte den Zustand lebensgefährlich machen.«
Sofort hatte sich die Französin völlig wieder gefaßt.
»Sie haben recht, und Sie taten gut, nur mir davon mitzuteilen. Irma - ich meine Mrs. Bowell - würde sich um keinen Preis zurückhalten lassen, sofort an das Krankenlager der Freundin zu eilen. Also sprechen Sie nicht darüber. Ich habe gelernt, mich in Geduld zu fassen. Und die Kranke?«
»Sie weiß, daß, sobald ihr Zustand es erlaubt, die Freundinnen bei ihr sein werden, und auch sie wird geduldig warten. Wenn es so weit ist, reitet ein schneller Bote hierher.«
»Und wie kommt sie überhaupt hierher?«
»Das möchte sie den Freundinnen persönlich erzählen.«
»Sie ist ihrem Gatten entflohen.«
»Sie möchte das Ihnen selbst erzählen,« wich Nobody nochmals aus.
»Gut. Daß Großfürst Karamsin sie schlecht behandeln wird, habe ich im voraus gewußt. Gut, ich warte. Und sonst noch ein Grund, daß der Detektiv Nobody uns mit seinem Besuche beehrt?«
»Ja. Ich muß mich kurz fassen, denn ich möchte diese Angelegenheit noch erledigen, ehe ich wieder mit den anderen Damen zusammenkomme. Mademoiselle Laboche, sind Ihnen alle Verhältnisse über dieses Besitztum des verstorbenen Mr. Bowell bekannt?«
»Alle.«
»Ist mit diesem Koloradotale ein Geheimnis verbunden?«
»Nicht daß ich wüßte.«
Sie sagte es ganz gleichgültig, so unbefangen schaute sie den Frager dabei an, über jede Neugier erhaben, und nur um desto glaubwürdiger klang es.
»Liegt in diesem Tale etwas vergraben, was man vergeblich gesucht hat oder noch sucht?«
»Habe niemals etwas davon gehört.«
»Könnte Mrs. Bowell etwas davon wissen?«
»Was Mrs. Bowell weiß, weiß auch ich. Zwischen uns gibt es nicht das geringste Geheimnis. Wir sind auch gleichzeitig hierhergekommen.«
»Aber die Familie Brisby ist schon viel länger hier.«
»Für diese sieben Mädchen gilt genau dasselbe. Zwischen uns gibt es kein Geheimnis.«
»Oder ist Ihnen ein Situationsplan, eine Zeichnung bekannt, auf dem eine Kirche, eine Fichte, ein Weib und ein Stiefel wiedergegeben sind, kreuzweise miteinander durch Striche verbunden?«
Die Französin machte ein verwundertes Gesicht.
»Das paßte recht gut auf unsere Gegend hier. Wir haben einen Stiefelberg, einen Ladyfelsen, dort der Hügel, auf dem Sie die drei einzelnen Fichten sehen, das ist der Fichtenfelsen - und die Kirche? Nun, das alte Wirtshaus hat früher ›Zur Kapelle‹ geheißen.«
»Ganz richtig. Können Sie solch einem Situationsplan mit diesen Figuren eine Bedeutung beimessen?«
Sinnend schüttelte sie den Kopf.
»Nein, ich wüßte nicht im geringsten, was ...«
»Still!« unterbrach Nobody sie flüsternd, auch schnell vom Fenster zurücktretend. »Dort kommen sie!«
Es waren der Schwarzrock und die Dame im Reitkleid, welche um das Haus herumkamen, und wenn sie auch zu Fuß waren, so erkannte das Auge des Detektivs doch sofort, daß sie zu Pferde gekommen waren, sie mußten soeben erst abgestiegen sein, er erkannte es gleich am Gange.
»Wieder ein fremder Besuch. Was ist mit den beiden?«
»Bitte, nicht jetzt! Das sind die beiden, welche ebenfalls etwas von dem Situationsplane wissen, wenn auch nicht so viel wie ich.«
Wieder schrillte ein Klingelton durch das Haus.
»Das ist das Zeichen, daß wir uns alle im Speisesaal versammeln sollen.«
»Aber Mrs. Bowell wird die beiden doch erst empfangen, und da möchte ich auf alle Fälle zugegen sein.«
»Auch die fremden Gäste werden im Speisesaal empfangen. Wir haben zwar ebenfalls unsere Zeremonien, doch ganz andere als draußen in der Gesellschaftswelt. Wenn Sie dabeisein wollen, so kommen Sie schnell.«
Sie verließen das Atelier. Nobody wurde von seiner Begleiterin in einen sogenannten angelsächsischen Speisesaal geführt, wie ihn die alten Angelsachsen früher in ihren Schlössern gehabt haben, und wie ihn die Engländer noch heute auf ihren Landsitzen nachahmen.
Ein langgestreckter Saal, in der Mitte eine Erhöhung, auf welcher die Herrschaften mit ihren Gästen sitzen, während die eine untere Hälfte für die männlichen, die andere für die weiblichen Dienstboten bestimmt ist.
Fehlten hier die Herolde und dergleichen, womit der Engländer seinen Speisesaal noch stilgemäßer zu machen sucht, so ging es hier desto mehr wirklich patriarchalisch zu, nur daß es hier ausschließlich weibliche Dienstboten gab.
Links unten saßen die farbigen Dienerinnen, soweit sie nicht bei der Tafel bedienen mußten oder in der Küche zu tun hatten, rechts fünf als Cowboys gekleidete Mädchen, also fehlten zwei von den Brisbys, und in der erhöhten Mitte hatten an einer langen Tafel bereits die Hausherrin, die beiden weiblichen Karrikaturengestalten und auch schon der Indianerhäuptling Platz genommen, letzterer ebenfalls ganz zivilisiert auf einem Stuhle sitzend, der Suppe harrend, die in einer großen Schüssel dampfte.
So sah es aus, als Nobody mit seiner Begleiterin eintrat, und nicht nur für diese beiden waren noch Teller und Bestecke vorhanden, sondern die sehr lange Tafel war ganz gedeckt, als erwarte man noch zwei Dutzend Gäste.
Vergebens erwartete Nobody eine förmliche Vorstellung. Er brauchte sich aber nur an die angelsächsischen Sitten zu erinnern, wie sie z. B. Walter Scott beschreibt, er konnte auch an die arabische Gastfreundschaft denken, um das begreiflich zu finden, und nicht anders geht es ja auf den amerikanischen Farmen zu. Erst wird der fremde Gast gespeist, ehe man etwas von ihm wissen will, und stellt es sich dabei heraus, daß es der Todfeind ist, so hat man doch die Gastfreundschaft nicht verletzt, die dann auch noch weitergeht.
»Es kommen noch zwei Gäste, ein Herr und eine Dame,« sagte die Französin, als sie durch eine Handbewegung ihrem Begleiter den Stuhl neben sich anwies.
»Ich weiß es,« entgegnete Mrs. Bowell. »Lizzy nahm sie in Empfang, sie wollten sich durchaus anmelden lassen, wollten mich allein sprechen, aber es wurde ihnen bedeutet, daß jetzt Mittagszeit ist, und daß ich sie nur im Speisesaal an der Tafel empfangen werde. Schließlich waren sie damit einverstanden, sie müssen gleich kommen; so lange können wir ja noch warten.«
Da traten sie schon durch die große Tür, der Schwarzrock und die Dame mit den grünen Augen. Während die anderen sitzen blieben, stand Mrs. Bowell noch einmal auf und ging ihnen bis zu den auf die Plattform hinaufführenden Stufen entgegen.
»Seien Sie mir als meine Gäste herzlich willkommen. Wollen Sie an meinem Tische Platz nehmen und fürlieb nehmen mit dem, was ich Ihnen bieten kann.«
Zögernd war der Bischof auf der ersten Stufe stehen geblieben.
»Madam, ich muß Sie wirklich bitten, uns erst ...«
Eine höflich einladende, aber auch sehr bestimmte Handbewegung schnitt ihm das Wort ab. Die beiden folgten, nur Winke wiesen ihnen die Plätze an.
»Bischof Lindol,« stellte sich der Schwarzrock vor, ehe er sich niederließ.
Aber er mußte, dem Beispiele der anderen folgend, gleich wieder aufstehen.
Unterdessen war der Tisch, wie es in Amerika allgemein üblich ist, gleich mit sämtlichen Speisen besetzt worden, von denen sich jeder ohne Reihenfolge nach Belieben zulangt. Die Hauptrolle spielten zwei mächtige Stapel von gekochtem und gebratenem Rindfleisch, andere Schüsseln enthielten meist Wild. Nur eines fehlte noch, um mit dem Essen beginnen zu können.
»Mrs. Hackerle, heute ist an Ihnen die Reihe.«
Es mutete Nobody seltsam an, aus diesem Munde, der vorhin ganz anders zu ihm gesprochen hatte, den Mittagssegen zu hören. Es war ein altenglisches Tischgebet, so derb und kernig, wie man es damals mit der Frömmigkeit nahm, als der Christenglaube noch mit Feuer und Schwert verbreitet wurde, und welches in den Worten ausklang:
» ... und wenn es nicht mein rechtmäßiges Brot ist, das ich mit Ehren verzehren darf, so soll es sich in meinem Munde zu hartem Stein verwandeln. Amen.«
»Amen!« erklang es schallend im Chor, und augenblicklich begann links und rechts und oben in der Mitte ein Klappern von Löffeln und Messern und Gabeln.
Nur der Schwarzrock hatte sich nicht wieder gesetzt.
»In dieses Amen kann ich leider nicht mit einstimmen.«
Seine volle Bruststimme hatte es laut genug gesprochen, um das ganze Lärmen zu übertönen, und eine Totenstille entstand plötzlich, aller Augen waren auf den Frevler gerichtet.
Besonders Mrs. Bowell war plötzlich ganz bleich geworden.
»Was - was sagten Sie da?«
»Ich bedauere, in dieses Amen nicht mit einstimmen zu können.«
»Sie - ein - doch offenbar ein Geistlicher? Und weshalb nicht?«
»Weil dieses Amen bedeutet: es soll also geschehen - und ich möchte nicht, daß sich diese Speisen in Ihrem Munde zu hartem Stein verwandeln.«
Mrs. Bowell wurde noch blasser.
»Das heißt - das heißt - mit anderen Worten - daß ich hier unrechtmäßiges Brot äße?«
»Ich bedauere, das Ihnen hier öffentlich sagen zu müssen. Ich habe Sie ja genug bitten lassen, mich unter vier Augen zu empfangen - oder unter sechs, denn auch diese meine Begleiterin muß dabeisein. Da es aber nun einmal so weit gekommen ist, schenken Sie vielleicht jetzt meiner Bitte Gehör. Kommen Sie, Missis, die Dame dieses Hauses wird für uns ein anderes Zimmer haben, und dann werden wir noch immer in Frieden essen können.«
Auch seine Begleiterin hatte sich erhoben, beide wollten die Tafel verlassen.
»Halt, Sie bleiben!!!« erklang es da aus Mrs. Bowells Munde in einem Tone, dem niemand Widerstand zu leisten gewagt hätte. »Was Sie mir mitzuteilen haben, werden Sie hier an diesem Tische in Gegenwart aller sagen!!«
Sie klatschte in die Hände.
»Räumt die Speisen wieder ab!«
Und es geschah. Alles wurde wieder abgeräumt. Es war eine hochdramatische Szene, wie sich die Speisetafel, auf der schon die Teller gefüllt gewesen waren, so schnell in einen Gerichtstisch verwandelte.
Die beiden hatten denn auch wieder Platz genommen, und wenn an diesem erhöhten Tische die Richter saßen, mit Mrs. Bowell als Oberhaupt, so konnte man sich links und rechts unten, wo ebenfalls sofort abgeräumt worden war, die Geschworenen und die Zeugen denken.
»Sie werden mir eine Erklärung geben,« begann Mrs. Bowell, »hier so gut wie öffentlich zu behaupten, daß es gestohlenes Brot sei, welches ich hier esse und meinen Dienern und Gästen gebe.«
»Von gestohlenem Brote habe ich nichts gesagt,« entgegnete der Schwarzrock, »nur von unrechtmäßigem. Sie wissen doch natürlich, daß Ihr seliger Gatte, Mr. Donald Bowell, noch einen Sohn gehabt hat.«
»Wie - Charly - lebt noch?!!«
Mrs. Bowell war es gewesen, die es abgebrochen gerufen hatte. Und nun, wie sie es gerufen hatte! Plötzlich ganz rot werdend, wie von Seligkeit verklärt!
Nobody brauchte sie nicht so scharf zu beobachten, um sofort zu wissen, wie glücklich sie gewesen wäre, wenn der Verschollene jetzt zurückgekehrt wäre, auch wenn sie ihm dann ihr Erbe abtreten mußte.
Der Schwarzrock aber machte ein recht höhnisches Gesicht, und ebenso klang seine Entgegnung:
»Nein, gnädige Frau brauchen nichts zu fürchten, Mister Charles Bowell ist wirklich tot.«
In diesem Augenblick hatte Nobody das starke Verlangen, sich über den Tisch zu beugen und dem Schwarzrock eine herunterzuknallen. Denn der mußte doch auch bemerkt haben, daß seine Worte in der Brust der Hausherrin eine ganz andere Hoffnung geweckt hatte. Auch jetzt war es wieder zu sehen.
»Wirklich tot!« hauchte sie, und die Seligkeit aus ihrem rosigen Gesicht verschwand.
»Weiß man denn endlich, wie und wo er sein Ende gefunden hat?«
»Diese Dame,« der Bischof machte eine Handbewegung nach seiner Begleiterin, »kann es Ihnen ausführlich erzählen.«
»Diese - Dame?«
»Mrs. Harriet Bowell, die Gattin von Mr. Charles Bowell.«
Das Schweigen des Todes herrschte in der weiten Halle. Aller Augen waren auf die Dame mit den schwarzen Haaren und den grünen Augen gerichtet, die jetzt einen Fächer zum Vorschein gebracht hatte und sich damit Kühlung zufächelte, dabei nicht nur ruhig, sondern sogar lächelnd die Blicke aller erwidernd, auch den stieren der Hausherrin, die mit todblassem Antlitz in ihren Stuhl zurückgesunken war.
»Das - ist - nicht - möglich!« kam es hauchend von ihren bebenden Lippen.
»Was ist nicht möglich?«
»Charles war gar nicht verheiratet.«
»Ich selbst, der Bischof von Philadelphia, habe in der Petrikirche die Trauung Charles Bowells mit Miß Harriet Short vollzogen.«
»Es - ist - nicht - möglich!« hauchte es wiederum.
»Bitte, Madam, ich bin der Bischof von Philadelphia, und das könnte Ihnen genügen,« erklang es würdevoll. »Aber ich kann ja auch Zeugen bringen, das Kirchenbuch steht Ihnen offen. Warum die Dame nicht erst geschrieben hat? Warum ich selbst gleich komme? Um eben die Sache in aller Einfachheit und ohne Aufsehen zu erledigen. Lassen Sie mich einen Ueberblick geben. Es ist jetzt fünf Jahre und einige Monate her, als Mr. Charles Bowell auf Reisen ging und dann auch gleich verschwand. Wie wir jetzt wissen, hat er das nördliche und mittlere Afrika bereist und sich dann nach Asien gewandt, wo er vor einem halben Jahre in Tibet seinen Tod gefunden hat ...«
»Woher wissen Sie denn das alles?« fiel ihm Mademoiselle Laboche ins Wort.
»Eben durch diese Dame hier, welche nämlich ihren Gatten auf seinen Reisen immer mit heroischem Mute begleitet hat ...«
»Schon als seine Gattin?«
»Gewiß doch. Schon vor fünf Jahren, eben als Mr. Bowell seine Auslandsreisen antrat, fand die Trauung in Philadelphia statt ...«
»Wissen Sie nicht, wo sich Charles Bowell damals zuletzt aufgehalten hat?« wurde er abermals von der Französin unterbrochen, die überhaupt jetzt für die Freundin das Wort führte. Diese schien auch keines Wortes mehr fähig zu sein.
»Eben hier war er zuletzt gewesen, in diesem Tale, wo er gejagt hatte.«
»Allein gejagt?«
»Ob in Gesellschaft, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß damals gerade sein Vater, Mr. Donald Bowell, mit seiner jungen Gattin aus Rußland zurückgekehrt war.«
»Hierher?«
»Jawohl, eben hierher, um dieses Jagdschloß zu beziehen.«
»Da war ich auch mit dabei. Und da ist Charles Bowell sofort von hier nach Philadelphia gefahren und hat sich mit dieser Dame da trauen lassen?«
»Gewiß, das stimnt alles der Zeit nach, wenn wir die Daten vergleichen werden. Ich vermute, hier hat es zwischen Vater und Sohn eine Szene gegeben, darauf ist Charles sofort nach Philadelphia gefahren und hat, dem Vater zum Trotz, seine Heimlichgeliebte geheiratet.«
Da fuhr Mrs. Bowell in einer furchtbaren Erregung empor.
»Das ist nicht wahr - das ist eine infame Lüge!!« rief sie außer sich. »Charles hat niemals eine andere Jugendliebe gehabt als - als - als ...«
Sie vollendete den Satz nicht, sie brach wieder auf ihrem Stuhl zusammen.
Was Noboby schon längst geahnt, merkte nun aber auch der Schwarzrock. Dieser Charles Bowell war jedenfalls ein amerikanischer Hamlet gewesen. Vater und Sohn sehen sich wieder, da hat der Vater des Sohnes Jugendgeliebte geheiratet, deshalb auch sofort die Abreise ins Ausland ... mögen diese Andeutungen genügen.
Dies wußte denn auch der Bischof sofort zugunsten seiner Klientin auszunützen.
»Dann hat Mr. Charles eben, um jemandem einen Hieb zu versetzen, einen Trumpf ausgespielt, hat ohne weiteres eine andere geheiratet, und diese andere war hier die ehemalige Miß Harriet Short.«
»O nein,« lächelte die Genannte malitiös, »wir haben uns schon vordem gut gekannt, sehr, sehr gut gekannt.«
»Und es ist eine infame Lüge!!!« fuhr abermals die Hausherrin jäh empor.
Diesmal brach sie nicht wieder vor eigener Erschöpfung zusammen, sondern die Französin legte in ihrer ruhigen Weise ihr die Hand auf die Schulter und drückte sie mit kräftigem Arm nieder.
»Laß mich für dich sprechen, Irma, du bist zu aufgeregt. - Nein, Herr Bischof, Sie sind im Irrtum. Doch das ist ja jetzt ganz gleichgültig. Jedenfalls aber haben wir einen triftigen Grund, zu bezweifeln, daß Mr. Charles Bowell verheiratet gewesen ist.«
»Das werden wir beweisen!« lächelte die Dame.
»Ja, das erwarten wir eben. In Amerika ist es doch nicht nötig, bei der Trauung Papiere vorzulegen. Oder hat er das getan, Herr Bischof?«
»Wie mir vorgeschrieben ist, darf ich überhaupt niemals Papiere verlangen.«
»Na also. Nun könnten Sie, Madam, also doch vor fünf Jahren einen ganz anderen Mann geheiratet haben, welcher ebenfalls den Namen Charles Bowell führte ...«
»Ich werde doch meinen Freund gekannt haben! Es war der Sohn von Mr. Donald Bowell, welcher dann als Gesandtschaftsattaché nach Petersburg ging, dem hier das Koloradotal gehörte ...«
»Hat er Ihnen das gesagt?«
»Unzählige Male hat er mir das gesagt!«
»Und wenn er es noch einige Male mehr gesagt hätte, so kann er Ihnen immer noch etwas vorgeflunkert haben ...«
»Er hat mir doch seine Papiere gezeigt!« wurde die Grünäugige jetzt gereizt.
»Die können auch gefälscht gewesen sein!«
»Ja, freilich, wenn Sie so anfangen, dann ist es besser, wenn wir die Sache gleich den Gerichten übergeben.«
»O nein, wir wollen uns in aller Güte einigen, d. h., die ganze Sache gleich hier regeln, und wenn Sie im Rechte sind - gut, meine Freundin ist die allererste, welche sofort dieses Terrain räumt. Denn nach amerikanischem Gesetz gehört ja alles unbewegliche Erbe dem Sohne, selbst die Gattin des Verstorbenen hat nicht den geringsten Anspruch darauf. Erlauben Sie also einige Fragen. Wie alt war Charles, als er Sie ehelichte?«
Die Gefragte nannte gleich den Geburtstag, und Nobody erkannte aus aller Mienen, daß es stimmte.
»Wie pflegte er gewöhnlich seinen schwarzen Bart zu tragen?«
»Solche verfängliche Fragen verbitte ich mir!« fuhr die andere heftig auf. »Charles war blond, und solange ich ihn kannte, hat er überhaupt niemals einen Bart getragen!«
»Stimmt,« entgegnete die junge Französin ungerührt, ihre schlanken Hände in die Rocktaschen versenkend. »Nun weiter. Es hat jeder Mensch aus seiner Jugendzeit irgend etwas Besonderes zu erzählen. Hat Ihnen da Mr. Charles nichts mitgeteilt?«
»O ja, verschiedenes.«
»Nennen Sie uns ein Beispiel.«
»Nun, zum Beispiel ist er einmal als zwölfjähriger Knabe in New-York zwei Stock hoch aus dem Fenster gestürzt und hat sich dabei doch nur den linken Arm gebrochen.«
»Hm. Können Sie uns sonst etwas sein Aeußeres beschreiben?«
»Auffallend waren seine schönen Zähne. Und doch, wenn man genauer hinsah, so bemerkte man, daß sie gar nicht gut gewachsen waren, die Vorderzähne standen ziemlich weit auseinander.«
Diesmal erfolgte keine Gegenrede, auch keine Frage wollte mehr kommen.
»Von Intimitäten will ich nur anführen,« fuhr die Dame von selbst fort, »daß sein linker dritter Backzahn plombiert war.«
Wieder eine stumme Pause.
Und Nobody wurde plötzlich tiefsinnig. Auf dem Tisch war vorhin ein Stückchen Brot zurückgeblieben, schon immer hatte er damit herumgeknetet, und jetzt begann er, aus der Brotkrume mit wunderbarer Fertigkeit ein Menschlein zu formen, mit Kopf und mit Armen und Beinen, und als seine Schöpfung fertig war, riß er dem Männchen Kopf und Arme und Beine wieder ab.
»Und hier sind sämtliche Papiere, welche mein Gatte immer bei sich trug. Es sind überzeugende Dokumente darunter. Bitte zu prüfen.«
Sie hatte eine Anzahl vergilbter Papiere aus dem Busen gezogen und auf den Tisch gelegt. Keiner griff danach. Nur verstörte Augen hafteten darauf.
»Und hier mein Trauschein.«
Ein besser erhaltenes Papier, nicht so die Spuren des Alters zeigend, folgte nach.
»Jawohl, das ist der von mir vor fünf Jahren ausgestellte Trauschein,« bestätigte der Bischof, »ich habe ihn bereits geprüft!«
»Und hier ein Ring, den mein Gatte nie ablegte. Er nannte ihn oft ein Familienkleinod.«
Auch diesen Ring hatte sie aus einer Tasche hervorgezogen, und schon von weitem erkannte Nobody an dem Goldreif die eigentümliche Gruppierung von Rubinen um einen Smaragden.
Nach diesem Ringe aber griff diesmal eine Hand, eine zitternde, und sie gehörte Mrs. Bowell an.
»Gestatten Sie ...«
Es mußte innen etwas graviert sein, und das wußte sie sofort, sie las es.
»Mein Ring!« ächzte sie und fiel schwer in ihren Stuhl zurück.
Doch nicht lange dauerte es, so raffte sie sich wieder empor. In ihrer Ruhe lag etwas Unnatürliches.
»Sie sind im Recht. Ich befinde mich auf Ihrem Grund und Boden. Wenn ich von hier etwas mitnehmen darf, so bitte ich nur um diesen Ring ...«
»Er ist zwar ein teures Andenken von meinem Gatten, aber ich überlasse ihn Ihnen,« unterbrach sie die Rivalin hochmütig.
»So sind wir fertig - hier wenigstens. Ueber die andere Erbschaft wird ja das Gericht entscheiden. Nur über diesen Besitz hier habe ich nicht mehr zu verfügen. Dann aber werden auch die Brisbys nicht mehr hierbleiben wollen. Kommt,« fuhr sie mit erhobener Stimme fort, und jetzt war diese wirklich fest, »wir haben hier eine Heimat verloren - wir wollen uns eine andere suchen!«
Gleichzeitig standen die vier Damen auf, und auch alle die Weiber und Mädchen links und rechts, die den ganzen Vorgang mit gespanntester Aufmerksamkeit verfolgt hatten, standen auf.
Sah das nicht fast gerade so aus, als solle der Auszug augenblicklich stattfinden? Aber wenn man einen Prozeß verloren hat, oder wenn man freiwillig nachgibt, geht man denn so Knall und Fall von hinnen?
O ja, Frauen sieht das ganz ähnlich! Besonders wenn zwei Rivalinnen zusammengeraten. Wenn die eine auch nur merkt, daß sie unterliegen wird, dann ... nimmt sie ihr Bett und geht heim.
Ganz sicher, die Kinder Israels rüsteten sich zum Auszug! Und das ging fix bei denen. In fünf Minuten wahrscheinlich würde die ganze Gesellschaft schon jenseits der Grenzen sein, ohne daß auch nur ein einziges der Papiere geprüft worden war. Das konnte ja schließlich noch später vor Gericht geschehen, aber ...
Kurz und gut, mit der Frauenrepublik war es vorbei, und der Auszug sollte augenblicklich erfolgen. Danach sah alles aus. Höflicherweise rückte man noch die Stühle, die man verlassen, an den Tisch zurück.
Nur der magere Indianerhäuptling saß noch da, als ob er mit seinem Stuhle verwachsen wäre, und auch Nobody stand erst jetzt langsam auf.
»Gestatten Sie mir, daß ich erst noch ein Wort an diese Dame richte!«
In die Bewegung des Fortgehens kam ein allgemeines Stocken.
»An mich?« fragte Mrs. Charles Bowell gleich herausfordernd, aber doch sichtlich unangenehm überrascht, vielleicht noch einmal Widerstand zu finden.
»Ja, an Sie.«
»Was wollen Sie noch? Ich kenne Sie nicht.«
»Vielleicht doch - wenigstens dem Namen nach.«
»Wer sind Sie denn?«
»Vielleicht haben Sie doch schon von dem Detektiven Nobody gehört?« stellte sich der ›Unbekannte‹ mit seinem verbindlichsten Lächeln vor.
Unter Umständen nannte Nobody sehr gern seinen Namen. Dann beobachtete er stets die Wirkung. So tat er auch hier - und siehe da, die Dame riß ihre grünen Augen weit auf und stierte den Lächelnden wie ein Gespenst an.
Aber auch der Herr Bischof hatte kein gutes Gewissen, und mochte er sich auch noch so in der Gewalt haben, der plötzliche Schrecken war dem scharfsichtigen Detektiven nicht entgangen.
Doch am meisten entsetzt war Mr. Charles Bowells Gattin.
»No - No - No ...«
» ... body,« ergänzte der noch immer Lächelnde. »Also ich scheine Ihnen doch bekannt zu sein.«
Mit aller Macht wurde die Grünäugige wieder Herrin über sich selbst.
»Herr, was habe ich mit Ihnen zu schaffen?!« stieß sie schroff hervor.
»Gestatten Sie mir nur noch einige Fragen.«
»Mit welchem Rechte haben Sie hier Fragen an mich zu stellen?«
»O, es ist nur von allgemeinem Interesse - wir möchten doch gern erfahren, wie und wo und wann Ihr Herr Gemahl eigentlich seinen Tod gefunden hat.«
Wirklich, das hatte man ganz vergessen. Einige setzten sich schon wieder, zuerst die phlegmatische Französin.
Mrs. Harriet, wie wir sie zum Unterschied von der anderen Mrs. Bowell, die also ihre Stiefschwiegermutter war, nennen wollen, war auch bereit dazu. Doch es sollte zu keiner langen Erzählung kommen. Ein Wort gab schnell das andere.
»Vier Jahre waren wir in Afrika gewesen. Es ist ein Jahr her, als wir von dort nach Indien gingen, wir überstiegen den Himalaja, um ins Hochland von Tibet vorzudringen. Eines Nachts wurde unsere kleine Karawane von einer Bande Tibetaner überfallen und auseinandergesprengt. Auch ich suchte mein Heil in der Flucht, in der festen Gewißheit, mein Gatte befände sich dicht neben mir. Als ich merkte, daß dem nicht so war, sammelte ich schnell die sonst getreuen und tapferen Sikhs, wir kehrten zurück, wir vertrieben die Räuber - zu spät! Ich fand meinen Mann schon als Leiche. Als der Morgen anbrach, konnte ich ihm nur noch ein Grab schaufeln. Das ist in Kürze die ganze Geschichte. Wünschen Sie nähere Einzelheiten zu hören?«
»An was für einer Wunde ist Ihr Gatte gestorben?«
»An einem Lanzenstich ins Herz.«
»Die Tibetaner haben ja gar keine Lanzen!«
»Herr, wollen Sie das besser wissen als ich, die ich in Tibet gewesen bin?«
»I keine Spur, in ganz Tibet ist keine Lanze zu finden und wenn ...«
»Es kann auch ein Messerstich gewesen sein.«
»Oder auch ein Axthieb übern Kopf, nicht wahr?«
Wieder wurden die grünen Augen mit einem Male ganz groß.
»Mr. Charles Bowell ist ja überhaupt gar nicht in Tibet gewesen.«
»Wenn ich Ihnen ...«
»Was brauchten Sie überhaupt zu schaufeln?« fuhr der unerbittliche Nobody fort, der jetzt seiner Sache sicher war. »In der Libyschen Wüste gibt's nichts zu schaufeln, da kann man im lockeren Sande ein Grab gleich mit den Händen machen. Jaja, nicht in Tibet, sondern in der Libyschen Wüste, im Tale der Verwirrung, zwischen Edfu und den Ruinen von Berenice hat Ihr Herr Gemahl sein Grab gefunden.«
Jetzt war die Dame selbst zu einem Gespenst geworden. Ihr Mund hatte sich ganz verzerrt.
»Was - was ...«
»Alles haben Sie bei dem Ermordeten gefunden und ihm abgenommen, seine Papiere, diesen Ring hier und was er sonst bei sich trug, nur eins ist Ihnen entgangen, gerade das, worauf es Ihnen hauptsächlich ankam - nur diese hölzerne Büchse hier haben Sie im Sande nicht finden können.«
Mit einer schnellen Bewegung hatte Nobody das hölzerne Pennal, welches jene Skizze barg, aus der Brusttasche gezogen.
Ein gellender Schrei, und das Weib wandte sich zur Flucht, es wäre in seiner Sinnlosigkeit die ziemlich hohe Treppe hinabgestürzt, wäre es nicht von gewandten Armen aufgefangen worden.
Mit gleichen Füßen war Nobody über den Tisch, der ihn von ihr trennte, gesprungen, er war schneller wie sie die Stufen hinab und fing sie unten auf.
Nur leicht hatte er dabei ihre Handgelenke gefaßt, sie riß sich noch einmal los, ein Dolch funkelte in ihrer Hand, der blaue Stahl berührte schon Nobodys Brust, da klirrte er auf die Steinfliesen nieder, noch rechtzeitig hatte Nobody ihn ihr aus der Hand gerungen, und dann ein zweiter Griff, ihre Hände lagen auf dem Rücken, es knackte, sie waren mit blanken Handschellen zusammengekettet.
»Im Namen des Gesetzes der Vereinigten Staaten, ich verhafte Sie wegen Mordes!«

10. Verloren und gefunden.

Die Szene hatte sich total verändert. Doch war es weniger Bestürzung als vielmehr freudiges Staunen, das sich aller bemächtigt hatte.
Nur der Indianer machte eine Ausnahme, der ließ sich durch so etwas nicht aus seinem Gleichmut bringen - und dann der Bischof!
Und so sehr Nobody auch mit der Gefangennahme der Ausreißerin beschäftigt gewesen war, so hatte er doch dabei den Schwarzrock nicht aus den Augen gelassen, und er hatte beobachtet, was für ein gewaltiger Schreck diesem in die Glieder gefahren war, und wenn er sich auch äußerst schnell wieder gefaßt hatte, so verrieten doch gleich seine ersten Worte, wie wenig einverstanden er mit dieser Verhaftung war.
»Herr, wie können Sie wagen, diese Dame, eine freie Amerikanerin, auf amerikanischem Boden zu verhaften?« wollte er aufbrausen.
»Ich wage gar nichts,« entgegnete Nobody, den Schluß der Handschellen untersuchend, »sondern ich handle kraft meines Amtes!«
»Sie haben kein Recht dazu, hier eine Verhaftung vorzunehmen! Sie sind doch nur ein englischer Detektiv, bis hierher reicht Ihre Macht nicht!«
»Pardon - seitdem ich Champion-Detektiv der englischen Königin bin, betrete ich nie ein fremdes Land, ohne mir sofort die Vollmacht auszuwirken, auch in diesem Lande einen Haftbefehl aussprechen zu dürfen.«
So sehr sich dieser Schwarzrock auch in der Gewalt haben mochte, so konnte er doch nicht verhindern, daß er bei diesen Worten förmlich zusammenknickte.
Nicht anders erging es der gefangenen Dame. Zuerst hatte sie Anstrengungen gemacht, sich ihrer Fesseln zu entledigen, was freilich nur kindliche Bemühungen sein konnten. Jetzt zog sie es vor, einen Ohnmachtsanfall zu heucheln. Denn daß sie wirklich bewußtlos wurde, daran zweifelte Nobody. Er ließ sie mit geschlossenen Augen zu Boden gleiten, hielt nur ihren Oberkörper aufrecht.
»Ehe ich eine Erklärung abgebe, muß ich die Verhaftete in einem sicheren Gewahrsam wissen. Ist ein solcher Raum in diesem Hause?«
»Im Fliegenturm, das ist ein perfektes Gefängnis,« sagte Mademoiselle Laboche, die am schnellsten begriffen hatte, was für eine angenehme Wendung die ganze Sache genommen hatte.
»Gut, also in den Fliegenturm mit ihr! Bitte, zeigen Sie mir den Weg.«
Nobody hob die Regungslose wie ein Kind auf seine Arme. Die Französin ging, ein Schlüsselbund in der Hand, voraus, alle anderen folgten nach.
Die Wirtschaftsgebäude bildeten mit der hinteren Front des Schlosses einen Hof. In der einen Ecke desselben erhob sich ein runder Turm, dem man die Dicke der Mauern schon von außen ansah. Auch die eiserne Tür machte einen soliden Eindruck, und nur ein einziges, starkvergittertes Fensterchen war in der mittleren Höhe des Turmes zu bemerken.
Die Französin schloß auf. Nobody konstatierte sofort, daß der Turm unten völlig massiv war, also gar kein Parterregeschoß hatte. Er stieg eine steinerne Treppe hinauf. Auf einem Absatz war eine ebensolche schwere, eiserne Tür, die aber nicht etwa eine düstere, mit Spinnweben durchzogene Kerterzelle verschloß - vielmehr sah es in diesem Raume äußerst einladend aus, besonders appetitreizend.
Zwischen den runden Wänden waren Stäbe eingeklemmt, von denen herab Speckseiten, Schinken und Würste in Hülle und Fülle herabhingen, und die aufgestapelten Kisten und Kasten enthielten ganz sicher ebenfalls nur ›Fressalien‹.
So sehr Nobody auch mit anderen Gedanken beschäftigt war, hatte er doch noch immer Zeit zu besonderen Betrachtungen.
»Hm,« brummte er, als er die scheinbar Ohnmächtige auf eine Käsekiste gleiten ließ, »das ist wohl die Speisekammer?«
»Das ist unsere Speise- und Vorratskammer,« bestätigte die Französin. »Früher, vor unseren Zeiten, als man hier noch in fortwährendem Kampfe mit den Indianern lebte, war es der Pulverturm. Dieser Raum, der einzige im ganzen Turm, kann nämlich auch unter Wasser gesetzt werden. Oben befindet sich das Reservoir für unsere Wasserleitung. Solche Pulvermengen haben wir jetzt nicht mehr nötig. Durch Zufall bemerkten wir nun einmal, daß dieser Turm von keiner Maus und von keiner Fliege heimgesucht wird, überhaupt von keinem Insekt, so zum Beispiel auch nicht von Ameisen, unter denen wir sonst im Sommer viel zu leiden haben. Die Wände müssen mit irgend etwas gestrichen sein, was den Insekten zuwider ist, und da haben wir den Pulverturm zu unserer Speisekammer eingerichtet. Die Mädchen nennen ihn jetzt immer den Fliegen- oder Insektenturm.«
»Hm, also sozusagen der Insektenpulverturm. Und Sie sperren Ihre Gefangenen immer in Ihre Speisekammer?«
»Immer,« versicherte die mitgekommene Hopfenstange mit ernstem Gesicht. »Wir haben hier einmal einen Indianer, der uns bestehlen wollte, acht Tage gefangengehalten. Es war ein ganz schlanker Bursche, und dann, als wir ihn freilassen wollten, ging er nicht mehr durch die Tür. Er ist hier drin an der Fettsucht gestorben.«
Nobody unterdrückte seine Bemerkung, daß sich dann doch auch die dünne Engländerin einmal acht Tage lang hier drin aufhalten sollte.
Die Hauptsache war ihm, wovon er sich auch selbst überzeugte, daß es aus diesem Raume kein Entkommen gab. Das Fensterchen, welches allein Licht spendete, hätte gar nicht vergittert zu sein brauchen. Durch dieses konnte sich kein Mensch zwängen.
»Jetzt bitte ich die Damen, die Gefangene zu visitieren, bis auf die Haut. Auf Ihren scharfen Künstlerblick, Mademoiselle, darf ich mich wohl verlassen, daß ihm nichts entgeht. Kommen Sie, Herr Bischof.«
Es war ersichtlich, wie gern der Schwarzrock bei der Visitation zugegen gewesen wäre. Aber es half nichts, er mußte der Aufforderung Folge leisten.
Nobody gab noch den Schlüssel, damit die Gefangene dann, wenn ihr alles abgenommen, von den Handschellen befreit werden konnte, und beide Männer gingen.
»Nun sagen Sie, geehrter Herr,« begann der Schwarzrock, sobald sie wieder das Freie erreicht hatten, »wie kommen Sie eigentlich ...«
»Bitte,« fiel Nobody ihm sofort ins Wort, »ich werde die Erklärung geben, wenn wir wieder alle beisammen sind.«
Er ließ ihn einfach stehen und ging einmal um den Turm herum, um dessen Sicherheit auch von außen zu mustern. Hierbei sollte er noch ein kleines Abenteuer erleben.
Wie schon gesagt, stand der Turm nicht ganz frei, sondern auch an ihn grenzten Wirtschaftsgebäude, so an der einen Seite ein niedriger, hölzerner Stall. Die Tür dazu war offen, auch die hintere, so daß man hindurchblicken konnte, auf eine Wiese. In dem Stalle selbst war nichts weiter zu sehen. Nobody schritt hindurch, um von der Wiese aus den Turm von hinten in Augenschein zu nehmen.
Doch er sollte hierzu nicht viel Gelegenheit bekommen. Da sah er auf der Wiese jenes Geschöpf stehen, dessen Existenz er nicht für möglich gehalten, jenes Pferd, das die Malerin auf der Leinwand wiedergegeben hatte. Nur, daß es nicht ziegelrot mit blauen und grünen Flecken war, sondern ein Schimmel, etwas gelb und schwarz gesprenkelt, sonst aber genau dasselbe Jammerbild von einem schlachtreifen Gaul: dürr bis auf die Knochen, der unschöne Kopf mit langen Eselsohren geziert. Statt eines Schweifes nur spärliche Haare, so ein abgebrauchter Pinsel, die plumpen Beine mit unförmig geschwollenen Fesseln, vor Altersschwäche sich kaum noch darauf halten könnend ...
Also dieses Monstrum hatte nicht nur in der Phantasie einer Malerin existiert, sondern es lebte wirklich! Und es mußte wirklich das ›Schlachtroß‹ des Indianerhäuptlings sein, denn der Zügel war um eine federgeschmückte Lanze geschlungen, die in den weichen Boden gerammt war - auch eine vollkommene Sicherheit, um solch ein altersschwaches Geschöpf festzuhalten - und da wirkte es eher komisch, daß es auf dem ausgebogenen Rücken statt eines Sattels ein prachtvolles Leopardenfell trug.
Nobody ging hin, sich dieses Zerrbild der Schöpfung näher zu besichtigen.
Das Pferd hörte auf zu grasen, hob den häßlichen Kopf und ... nein, so etwas von schielenden Augen hatte Nobody noch bei keinem Tiere beobachtet!
Das heißt, es schielte nicht etwa, die Augen gingen nicht nach verschiedenen Richtungen auseinander, sondern es wendete nur nicht, wie es doch jedes andere Pferd tut, dem Näherkommenden den Kopf zu, es begnügte sich, ihm die Augen zuzudrehen, was einen überaus merkwürdigen Eindruck machte, der sich gar nicht weiter beschreiben läßt.
Jetzt aber wendete es ihm wirklich den Kopf zu und zeigte ihm unter einem nicht wiederzugebenden Laut, der halb ein Zischen, halb ein Knurren war, die langen, gelben Zähne.
»Das Luder beißt! Jetzt muß ich erst recht nähere Bekanntschaft mit ihm machen.«
Er ging also hin, seine Augen fest in die des Gaules versenkend. Wir wissen, welche Macht der Blick dieses Mannes auch auf die Tiere ausübte. Hier aber sollte seine Kunst einmal zuschanden werden.
Langsam hatte er die Hand ausgestreckt, um den Hals zu streicheln - da eine blitzschnelle Bewegung des Kopfes, und Nobodys ausgestreckter Arm befand sich zwischen den langen Zähnen, wie in einen Schraubstock eingespannt.
In diesem Augenblicke stand einmal Nobodys Herz still, in der Erkenntnis, daß im nächsten Moment etwas Fürchterliches passieren müsse.
Man braucht nichts mit Pferden zu tun zu haben, es braucht einem so etwas nicht schon einmal passiert zu sein, um zu wissen oder sich doch denken zu können, was für eine Kraft ein Pferd im Gebiß und in den Halsmuskeln hat. Wenn ein Pferd einmal aus seiner Rolle fällt, die es dem Menschen gegenüber für gewöhnlich spielt, wenn es einmal einen Arm mit seinen gewaltigen Zähnen gepackt hat, dann ist nichts mehr zu machen, und sei es auch der älteste Droschkengaul. Nur ein paar Kopfbewegungen genügen, es stampft das Menschlein auf den Boden, und der Arm ist zermalmt, und alle Knochen im Leibe sind gebrochen.
Blitzartig zuckte es durch Nobodys Kopf, ob er jetzt seine freie, linke Hand dazu gebrauchen solle, um schnell den Revolver herauszureißen und dem Biest eine Kugel hinters Ohr zu knallen, oder ob er die freie Hand lieber zur Besänftigung brauchen solle.
Er kam zu keiner Ausführung.
»Um Gottes willen, rühren Sie sich nicht!!« erklang eine helle Stimme, und Dolly, deren nähere Bekanntschaft Nobody schon einmal gemacht, kam aus dem Stalle mit einem Eimer über die Wiese gerannt.
Nobody stand wie eine Statue, und der Gaul glücklicherweise auch.
Einige freundliche Worte seitens des Mädchens, einige wohlmeinende Klatsche aufs Kreuz, und der Gaul gab sein Opfer frei, begann gleich wieder zu grasen.
»Himmelsapperment, so etwas ist mir in meinem Leben auch noch nicht passiert,« sagte Nobody, ärgerlich lachend, als er sich den Arm rieb, auf dem sämtliche Pferdezähne zu sehen sein mußten.
»Wie können Sie aber auch Parole angreifen!« sagte Dolly vorwurfsvoll.
»Warum sollte ich denn nicht? Wo ist denn der Westmann, der nicht jeden Gaul klopft, und wenn ihn auch ein noch so bösartiger Blick bedroht?«
»Ja, aber hat Ihnen Parole nicht erst drohend die Zähne gewiesen?«
Das mußte Nobody zugeben, und bei solcher Warnung greift überhaupt kein vernünftiger Mensch irgendein Tier an, besonders nicht, wenn es solche Zähne hat.
»Parole heißt es?«
»Ja, aber das hat nichts mit der Parole zu tun, welches Wort wir kennen. Das ist nur ein zufälliger Gleichklang. Parole heißt bei den Arrapahos der wirbelnde Sandsturm, also der Orkan oder Hurrikan.«
»Das soll doch nicht etwa heißen, daß dieses Pferd so schnell wie der Sturm ist?«
»Gewiß. Wenigstens dürfte es an Schnelligkeit und Ausdauer seinesgleichen suchen.«
»Vielleicht früher einmal, aber jetzt - wie alt ist denn der Gaul?«
»Noch keine vier Jahre.«
»Nicht möglich!«
Doch Nobody erfuhr weiter, daß dies eben der Typus der arrapahotischen Pferde sei, und wenn alles auf Wahrheit beruhte, was Dolly da erzählte, so konnten die edlen Wüstenrenner der Beduinen ja nur Schatten gegen diese mißgestalteten Reitgäule der großen amerikanischen Wüste sein.
Hierbei zeigte sich auch, wie gediegen die Bildung dieses weiblichen, in der Wildnis aufgewachsenen Cowboys beschaffen war. Auch sie wußte über die arabischen Verhältnisse Bescheid.
»Wissen Sie, daß die Beduinen in Afrika und Asien von ihren Pferden Stammbäume haben?«
»Jawohl, sie leiten sie von den fünf Stuten des Propheten ab.«
»I, woher wissen Sie denn das?« fragte Dolly plötzlich erstaunt.
»Ich bin schon selber in Afrika und Asien gewesen.«
»Doch nicht auch schon zwischen Beduinen?«
»Lange Jahre sogar.«
»Ach, da müssen Sie uns dann davon erzählen!« rief das Mädchen mit leuchtenden Augen. »Ja, der Prophet hatte fünf Stuten namens Tayes, Manekeye, Koheye, Saklawy und Djulf ...«
»Nun sagen Sie aber mal in aller Welt, woher wissen Sie denn das?!« rief Nobody jetzt in grenzenlosem Staunen.
»Der Vater hat uns davon viel erzählt, wir haben doch auch Bücher darüber. Ja, Mohammed hat aber von 570 bis 632 gelebt, so ist der Stammbaum dieser arabischen Rosse also nur 1200 Jahr alt - die Reittiere der Arrapahos aber haben mit unseren jetzigen Pferden eigentlich gar nichts zu tun, das ist eine ganz andere Rasse, ein ganz anderes Tier, die stammen auch nicht, wie die Mustangs, von den Andalusiern ab, welche die Spanier in Amerika einführten und verwildern ließen. Sie wissen doch, wie sich die Indianer, als sie die ersten Pferde erblickten, gefürchtet haben. Wissen Sie aber auch, daß in der Urzeit schon einmal ein amerikanisches Pferd existiert hat, welches nur ausgestorben ist?«
Nobodys Staunen wuchs ins Grenzenlose. Dieses Kuhmädchen war besser beschlagen als mancher Gentleman in New-York, der sich für hochgebildet hielt.
Und er erfuhr noch mehr von diesem Mädchen in schmieriger, lederner Männerkleidung und mit schwieligen Händchen. Wie die Arrapahos die einzigen Indianer seien, welche etwas davon wüßten, daß in Amerika schon früher einmal ein Pferd existiert habe, das sogenannte Urpferd, wie sie von diesem den Stammbaum ihrer Rosse ableiteten, und je häßlicher - häßlich nach unserem modernen Begriffe über Pferdeschönheit! - ein Tier sei, als desto reiner gelte sein Blut, und wenn man das Gerippe von solch einem fossilen Pferde betrachte, wie Dolly eins in einer illustrierten Zeitung gesehen, so könne man auch gar nicht daran zweifeln.
Woher man niemals etwas von diesen edlen Nachkommen eines sonst ausgestorbenen Pferdes vernehme? Da kommen eben die Verhältnisse in Betracht. Die große, amerikanische Wüste gelte für erforscht, und damit basta. Und wenn ein Reisender einmal hineinkommt und er sieht die elenden Pferde der Arrapahos, dann hat er die Nase gleich voll. Nur spottend erzählt er später davon. Aber kennen lernen muß man sie erst! Einmal eins zwischen den Schenkeln gehabt haben! Was freilich sehr schwierig ist, denn solch ein Roß läßt keine Fremden aufsteigen, und da hört auch die Reitkunst des geschicktesten Cowboys auf, und so wenig wie der Araber wird auch der Arrapaho jemals eines seiner Pferde veräußern.
Die Unterhaltung wurde unterbrochen, zum Bedauern Nobodys.
»Sir, Sie werden von den Damen gesucht!« ließ sich eine von Dollys Schwestern aus der Stalltür vernehmen.
Eilig kehrte Nobody nach dem Schloßhofe zurück und traf dort mit den vier Freundinnen zusammen, denen sich auch bereits der Bischof angeschlossen hatte. Er sprach lebhaft auf die Damen ein, immer die Hand auf dem Herzen. Jedenfalls waren es Unschuldsbeteuerungen, die durch Nobodys Ankunft unterbrochen wurden.
»Hier ist alles, was wir bei ihr gefunden haben,« sagte Mademoiselle Clarence, ihm ein aus einem Tuche gebildetes Säckchen reichend.
Nobody nahm die Untersuchung auf der Stelle vor.
Einige tausend Dollar bares Geld, jene Papiere, auch noch andere, aber ganz belanglos, und darunter kein einziger Brief. Ein scharfgeladener Revolver, ein Taschennecessaire und andere Gegenstände, die jeder zivilisierte Mensch und insbesondere eine Dame, bei sich trägt - weiter nichts.
»Ich hoffe, daß Sie gründlich visitiert haben, Mademoiselle.«
»Bis aufs Hemd,« war die unbefangene Antwort, »und wenn Sie sonst noch etwas bei der Dame finden, etwa irgendwo eingenäht, oder in den Haaren oder sonstwo versteckt, dann ... will ich heute noch in den heiligen Stand der Ehe treten.«
»So handelt es sich nur noch um eine Wache.«
»Ist bereits besorgt. Ich habe Ispanje vor der oberen Tür postiert.«
»Ich sehe die untere Tür offenstehen.«
»Ja, einsperren läßt sich dieser Indianerhäuptling freilich nicht.«
»Und wegen seiner sonstigen Sicherheit brauche ich wohl nicht erst zu fragen?«
»Ich garantiere für alles.«
»So schlage ich vor, unsere weitere Konferenz im Schlosse abzuhalten.«
In einem Wohngemach fand dieselbe statt, Nobody erzählte, wie er in der Libyschen Wüste ganz zufällig ein Skelett gefunden hatte, bei dem hier diese Holzbüchse mit dem Situationsplan gelegen. Der Mann war jedenfalls durch einen Axthieb ermordet worden.
Wir können hier nicht bei den Einzelheiten von Nobodys Erzählung verweilen; denn da hatte er ja zahllose Erklärungen zu geben. Wie war er auf die Vermutung gekommen, daß jener Situationsplan gerade hier auf dieses Tal des Koloradogebirges paßte? Zufall, Zufall, immer Zufall? Das hätte zuletzt auch die gläubigste Seele nicht mehr geglaubt. Und Nobody wollte in diesem Kreise aus bekanntem Grunde nicht von der kranken Großfürstin sprechen, noch weniger natürlich von seinem hellsehenden Freunde.
Nun, Nobody wußte sich aus allen Schwierigkeiten zu helfen. Dabei kam ihm auch zweierlei zu Hilfe.
Einmal war der Erzähler eben der Nobody, der geheimnisvolle Niemand, der überall und nirgends war, über den schon damals sagenhafte Fabeln gingen, die wir hier gar nicht erwähnen wollen. Aber auch in diesem Kreise wurde der Erzählende mit abergläubischem Staunen angesehen.
Zweitens war augenblicklich der Situationsplan, der im Besitze des jungen Bowell gewesen, doch die Hauptsache! Jetzt herrschte eben die Neugier. Was konnte da vergraben sein? Nun, man brauchte ja nur hinauszugehen und die auf dem Situationsplane angegebenen Linien durch die Luft zu ziehen.
Der Bischof war es, welcher noch vom allgemeinen Aufbruch zurückhielt.
»Ich muß mich erst rechtfertigen. Wenn Mrs. Harriet Bowell wirklich eine Verbrecherin ist, so werden Sie mir doch nicht zutrauen, daß ich irgend welche Gemeinschaft mit ihr habe oder gehabt habe.«
»O nein, Herr Bischof, o nein, ich kenne Sie doch, ich bin ja selbst aus Philadelphia und habe oft genug Ihren herrlichen Predigten gelauscht,« rief die Hackerle zuerst.
Die anderen drückten sich so ähnlich aus. Sie alle wollten eben dieses Thema so schnell wie möglich erledigt haben, und so gab auch ein Wort schnell das andere.
»Wußten Sie denn etwas von dem Pennal und dem Situationsplan?«
»Ich? Nicht das geringste!«
»Mrs. Harriet Bowell - oder nennen wir sie lieber Miß Short - sagte Ihnen auch nichts davon?«
»Keine Andeutung. Sonst hätte ich doch oben etwas gewußt.«
Dem konnte Nobody auch in Gedanken nicht so ohne weiteres widersprechen. Der Bischof hatte den Wirt nur nach dem Stiefelfelsen und nach einer Kirche gefragt, nach nichts weiter, und die Worte ›Fichte‹ und ›Ladyfelsen‹ hatten bei ihm keinen Eindruck hervorgebracht.
Deshalb zweifelte Nobody natürlich nicht, daß die beiden dennoch im Bunde waren.
»Aber als sie das Pennal sah, wurde sie von einem Todesschrecken erfaßt, da ergriff sie sofort die Flucht, und eben deshalb hat sie sich des Mordes verdächtig gemacht.«
»Ja, das aber ändert doch alles nichts an der Tatsache, daß ich vor fünf Jahren Miß Short zusammen mit Mr. Charles Bowell getraut habe.«
»Paßte denn die Beschreibung, wie Miß Short sie gegeben hatte, auf jenen Mann?«
»Das allerdings kann ich jetzt, nach fünf Jahren, nicht mehr aussagen,« mußte der Bischof jetzt zugeben, was aber Nobody auch nur für eine wohlbedachte Aussage hielt.
»Und die Zeugen?«
»Die sind wohl schwerlich jetzt noch aufzutreiben.«
»Für mich ist die Sache ganz klar,« ergriff da Mrs. Bowell das Wort. »Diesem Weibe ist schon vor fünf Jahren - vielleicht noch seit viel länger bekannt gewesen, daß mit diesem Tale ein Geheimnis verbunden ist. Hier ist jedenfalls irgend etwas vergraben. Und ihr war auch bekannt, daß Charles Bowell über alles vollkommen eingeweiht war, wahrscheinlich diesen Schatz oder was es nun sonst sein mag, selbst vergraben hat. Jedenfalls wußte sie, daß er solch einen Situationsplan besitzt. Um ihrer Sache von Anfang an sicher zu sein, inszenierte sie mit einem anderen Manne eine Heirat. Gleichzeitig beschloß sie, sich in Besitz dieser Zeichnung zu setzen, und sei es durch Mord. Daß Charles von hier aus zuerst nach Aegypten ging, wußten auch wir. Dieses Weib ist ihm gefolgt. Dort in der Libyschen Wüste hat sie ihn ermordet oder ermorden lassen. Alles, was er bei sich hatte, nahm sie ihm ab, auch seine Papiere. Nur gerade diese kleine Holzbüchse mit der Zeichnung ist ihr im Wüstensande entgangen. Verstehen Sie, wie ich mir die Sache denke?«
Nobody konnte sich nur wundern, wie scharfsinnig diese junge Russin war. Denn offenbar kam sie mit ihren Kalkulationen der Wahrheit auf ein Haar nahe.
Den anderen Gesichtern aber konnte man ansehen, daß sie diesen Kalkulationen nicht so recht folgen konnten, das erkannte auch Mrs. Bowell, und sie erhob sich.
»Auf, meine Herren und Damen,« rief sie bewegt, »wir wollen erst sehen, was für ein Geheimnis das ist, dessentwegen mein armer Charly sein Leben lassen mußte! Das ist jetzt wohl die Hauptsache.«
Das sahen alle ein, wohl auch der Bischof, und sie alle begaben sich wieder hinaus ins Freie, wo die Sonne immer noch ziemlich hoch am Himmel stand.
Hier im Freien, angesichts der zum Teil weit, weit entfernten Berge, kam nun auch den anderen das zum Bewußtsein, worüber sich schon früher Nobody oder richtiger zuerst der Matrose Anok geäußert hatte; nämlich wie schwierig es war, in Wirklichkeit den Punkt zu bestimmen, in welchem sich die gedachten Linien kreuzten, die man von den einzelnen Punkten zog.
Von Punkt und Punkten konnte man da überhaupt gar nicht reden. Außerdem waren wohl von überall, wenn man nicht gerade von hohen Bäumen umgeben war, die drei bezeichneten Bergspitzen zu sehen, aber das Wirtshaus, früher ›Zur Kapelle‹ genannt, überhaupt nur, wenn man schon in der Schlucht stand, und dann stimmten wieder die anderen Linien nicht.
»Die Kirche soll auch nichts weiter als den Eingang zum Tale bezeichnen,« meinte Nobody, und alle anderen mußten ihm hierin beistimmen.
Als man hierauf nun noch einmal visierte, im Geiste zwischen dem Taleingange und der Strippe des Stiefelberges und andererseits zwischen dem Fichtenberge und dem Ladyfelsen Linien ziehend, da mit einem Male kam die Erkenntnis.
»Ach, dann ist nichts anderes gemeint, als der kleine Schlangensee!« kam es gleichzeitig über drei Paar Frauenlippen.
Sie begaben sich nach dem Gewässer, das eher ein großer Teich war als ein kleiner See, und Nobody konstatierte, daß hier wirklich die Bestimmung zutraf. Der Wasserspiegel lag in der Linie, die man zwischen dem Fichtenberg und dem Ladyfelsen gezogen dachte, von hier aus erblickte man auch den Taleingang, und verlängerte man diese Linie weiter, so führte sie direkt auf den Stiefelberg.
Außerdem konnte man ja auch den Wasserspiegel als ein großes, von der Natur scharf abgegrenztes Terrain betrachten - kein Zweifel, hier war dasjenige versenkt, was ...
Was konnte es sein? Keine Ahnung. Hier an dem Rande des schwarzen Wassers erging man sich auch zum ersten Male in Vermutungen, wer es wohl versenkt haben mochte, woher Charles den Situationsplan hatte, usw. Es hatte ebenfalls gar keinen Zweck.
Und wo nun mochte das Betreffende auf dem Grunde des Sees ruhen? Nobody schätzte den Wasserspiegel auf mindestens dreihundert Meter im Durchmesser. Auf solch einem großen Terrain ließ sich schwer im Trüben fischen.
»Das heißt, fischen läßt sich wohl,« meinte Nobody, »aber aufs Fangen und Finden kommt es an. Wie tief ist der See?«
Auch hierüber konnte keine der Damen Auskunft geben, auch keines der Mädchen, die hier aufgewachsen waren. Hier wurde überhaupt gar keine Fischerei betrieben, sie lohnte sich nicht.
Nobody nahm einen langen Ast und fand, daß es gleich am Ufer recht abschüssig hinabging.
»Warum heißt er der Schlangensee?«
»Weil niemals eine Schlange darin gesehen worden ist!« erklärte die nie um eine Antwort verlegene Frau Hackerle. »Hier gibt's überhaupt keine Schlangen, weder Wasserschlangen noch menschliche noch sonstige.«
»Gibt es noch einen großen Schlangensee?«
Auch nicht. Nur einen kleinen. Dieser Name stammte noch von den früheren Indianern, er war ins Englische übersetzt worden.
Weiter ließ sich Nobody erklären, daß der See weder Ab- noch Zufluß hatte. Zur Zeit der Schneeschmelze rannen von überall Bächlein zu, sonst sorgte nur der Regen für Wassererhaltung, und auch in den heißesten Monaten sank der Spiegel nur wenig.
»Daraus ist zu konstatieren, daß er sehr tief ist, und über diese Durchschnittstiefe muß ich mich erst vergewissern, ehe ich sagen kann, was hier weiter zu machen ist.«
Ein Boot war vorhanden, das aber die Mädchen erst von einem anderen See herantragen mußten. Darüber verging schon eine Stunde. Unterdessen band Nobody Lassos und Seile zusammen, maß die Logleine aus, sie meterweise durch Knoten markierend, verschaffte sich ein Gewicht, Talg und andere Materialien, die er zu gebrauchen gedachte.
Der Nachen war zur Stelle, Mademoiselle erbot sich, das Ruder zu führen, was sie sehr geschickt tat. Nach drei weiteren Stunden hatte sich Nobody vergewissert, daß die tiefste Stelle des Sees wenig über vierzig Meter betrug - übrigens, wenn man sich dieses Maß der Höhe nach vorstellt, für solch einen kleinen See eine außerordentliche, eine enorme Tiefe!
Das mit Talg beschmierte Senkblei hatte immer nur Schlamm heraufgebracht, nichts weiter. Aber trotz dieses Schlammbodens, und trotzdem das Wasser so schwarz aussah, war es durchaus nicht trübe. Der Schlamm hatte ja genug Zeit, sich abzusetzen und wurde durch nichts aufgewirbelt. Diese eigentliche Durchsichtigkeit des Wassers, nur durch den dunklen Boden verdeckt, nicht minder von dem Schatten der Bäume und der ganzen Umgebung, war für Nobody von größter Wichtigkeit.
»Wir müssen eben fischen,« meinte Mrs. Bowell, die mit ihren Freundinnen und dem Schwarzrock inzwischen immer um den See herumpromeniert war. »Nur schade, daß wir hier kein Fischnetz haben, und ich glaube schwerlich, daß ein solches in Denver City ...«
»Nein, gnädige Frau,« wurde sie von Nobody unterbrochen, »hier kann uns kein Fischernetz etwas nützen. Bei vierzig Meter Tiefe, was meinen Sie wohl! Das müßte schon ein Tiefseenetz sein, ganz anders konstruiert, in das wohl ein Fisch hineingeht, mit dem man aber sonst nichts heraufziehen kann. Nein, ich habe ein anderes Mittel, um das Geheimnis dieses Sees zu lösen. Unter meinem Gepäck in Denver City befindet sich auch ein Tauchapparat.«
Wieder blickte mit sprachlosem Staunen alles auf den Detektiv, der niemals in Verlegenheit kommen konnte. Oder schleppt etwa jeder Detektiv immer einen Tauchapparat mit sich herum?
Nobody tat dies allerdings auch nicht. Aber er hatte sich doch direkt von Aegypten oder richtiger zuletzt von Abessinien nach New-York begeben, und so hatte er eben auch das Taucherkostüm mit einer noch gefüllten Luftbombe mitgenommen.
»Es handelt sich nur darum, daß jemand diesen Apparat aus Denver holt. Es ist nur ein kleiner Koffer, ein Reiter kann ihn bequem vor sich auf den Sattel nehmen.«
»Ein Tauchapparat mit Luftpumpe und einem vierzig Meter langen Schlauch in einem kleinen Koffer?« bezweifelte der Schwarzrock.
»Mein Apparat sieht etwas anders aus. Jedenfalls erfüllt er seinen Zweck, und sobald er hier ist, werde ich das Geheimnis lösen.«
Ein Mädchen erklärte sich sofort bereit dazu, das Verlangte zu holen. Nobody gab ihr die Adresse des Hotels und etwas Schriftliches mit, und dann saß das Mädchen schon im Sattel und jagte davon, als gebe es nur so eine kleine Bestellung auszuführen, als handle es sich nur um einen Katzensprung und nicht um einen Hin- und Herweg von guten dreißig deutschen Meilen bei Nacht und Sonnenglut durch das wilde Felsengebirge. Wenn nichts dazwischen käme, wolle sie übermorgen früh wieder hier sein. Dann durfte sie freilich nicht an Schlafen denken.
»Und wir haben über die Goldschätze, welche eventuell auf dem Grunde des Sees ruhen, unterdessen ganz der armen Gefangenen vergessen,« nahm jetzt der Schwarzrock salbungsvoll das Wort.
»Ach was, zu essen hat die genug, und auch einen Krug mit Wasser habe ich ihr hingestellt,« sagte die Französin leichthin.
»Aber wie mag es in ihrem Herzen aussehen!« fuhr der Bischof ebenso salbungsvoll fort. »Ich möchte mich überhaupt einmal zu ihr begeben und ihr ins Gewissen reden, vielleicht, daß sie gleich ihre Untat eingesteht.«
»Das möchten wir doch lieber diesem professionellen Kriminalbeamten überlassen,« schaltete Clarence wieder ein.
Hiermit aber war Nobody gar nicht einverstanden. Der Bischof kam dem Plane, den er schon längst ausgegrübelt, sogar sehr entgegen. Es war allerdings zu erwarten gewesen.
»Mitnichten. Ich eigne mich gar nicht zum Verhör, und ich weiß aus Erfahrung, welchen Einfluß ein Geistlicher ausüben kann, gerade bei Uebeltätern, wenn sie auf frischer Tat ertappt worden oder doch eben erst ins Gefängnis eingeliefert sind. Da ist das Herz mit einem Male ganz mürbe. Ja, auch ich bin dafür, daß Hochehrwürden sie einmal besucht, ihr ins Gewissen spricht, und auch diese Dämmerstunde ist gerade recht geeignet dazu.«
Wenn die Bestätigung von dieser Seite erfolgte, so hatten die anderen nichts mehr einzuwenden.
Der Bischof erkundigte sich noch über die Verhältnisse. Der Indianer saß vor der oberen Tür, hatte den Schlüssel, für die Nacht auch eine Blendlaterne.
»Wird er mir auch ohne weiteres öffnen?«
»Ja, da ist besser, wenn ...«
»Ich werde Sie begleiten,« fiel Mrs. Bowell der Französin ins Wort, was sich diese aber nicht gefallen ließ.
»Nein, ich selbst möchte mitgehen, auch dir, Irma, dürfte Ispanje vielleicht nicht öffnen.«
Was war das? Sollte sich der so überaus scharf beobachtende Detektiv geirrt haben? War Mrs. Bowell nicht geradezu enttäuscht, daß sie den Bischof nicht begleiten durfte, wenigstens nicht allein? Denn den beiden schloß sie sich nun nicht mehr an.
Wohl kein anderer Mensch hätte etwas davon bemerkt, wie sehnlich gern Mrs. Bowell den Bischof allein begleitet hätte, wie enttäuscht sie dann war - aber dieser Detektiv war eben gewöhnt und befähigt, auch die kleinste Kleinigkeit zu beobachten, und nur zu bald sollte sich zeigen, daß er sich nicht geirrt hatte.
Die beiden gingen sofort in der Richtung des Schlosses davon.
Nun galt es für Nobody, schnell zu handeln! Denn daß der Bischof eine Unterredung mit der Gefangenen unter vier Augen herbeiwünschte, das hatte er als ganz selbstverständlich erwartet. Und umsonst hatte der Schwarzrock vorhin nicht so eingehend die eiserne Tür betrachtet und auch den Turm von außen gemustert. Er hatte sich eben überzeugt, daß solch eine Unterredung möglich war, ohne von fremden Ohren belauscht zu werden. Auch Nobody wußte sich von den drei anderen Damen schnell und unauffällig zu entfernen. Es begann ja schon zu dunkeln, er hatte nur nötig, einige Schritte ins Gebüsch zu dringen, so hatte er sich schon unsichtbar gemacht.
Das war aber die Unsichtbarkeit des ersten Grades. Die des zweiten Grades folgte alsbald nach. Hinter einem Baume verborgen machte er Toilette. Das heißt, er legte sein Tarngewand an, von dem schon einmal erwähnt worden ist, wie praktisch er es in einem Lederetui untergebracht hatte.
Im Handumdrehen war es geschehen, und jetzt war Nobody wirklich ein Niemand, eine für das menschliche Auge wesenlose Person.
So folgte er den beiden, hatte sie bald eingeholt, hielt sich dicht hinter ihnen. Er wollte also dabeisein, wenn der Bischof der Gefangenen ›ins Gewissen sprach‹. Vielleicht oder vielmehr jedenfalls würde er dabei auch etwas anderes zu hören bekommen. Wohl war er ein unsichtbarer Geist, auch ein unhörbarer, denn daß die Sohlen seiner Lederstiefel auf keiner Unterlage ein Geräusch machten, das war bei diesem Detektiven doch selbstverständlich, der brauchte deshalb keinen weichen Teppich unter seinen Füßen - aber ein unfaßbarer Geist, durch den man hindurchgreifen kann, war er nicht!
Jetzt kam es also darauf an, gleichzeitig mit dem Bischof durch die sich öffnende Tür zu treten, ohne dabei mit ihm oder mit einer anderen Person in Berührung zu kommen. Würde ihm dieses Kunststückchen gelingen? Es mußte eben riskiert werden, und Nobody vertraute seiner erprobten Geschicklichkeit, seiner schlangenartige Schmiegsamkeit! Und im äußersten Falle war er bereit, sein Geheimnis der Französin zu offenbaren.
Die beiden wechselten unterwegs kein einziges Wort. Es war auch nicht weit bis zu dem Schloßhofe, sie durchschritten ihn, die untere Tür des Turmes stand weit offen, sie erstiegen die dunkle Steintreppe, den unsichtbaren und lautlosen Geist immer dicht auf den Fersen.
»Ispanje!«
»Hugh!« erscholl es von dorther zurück, wo in der Finsternis, die hier schon herrschte, ein roter Punkt glühte, von dem auch der bitterlich riechende Tabaksrauch ausging.
»Zünde die Laterne an!«
Es geschah. Sie beleuchtete den Indianer, der rauchend auf einem Stückchen Teppich kauerte.
»Hat die Gefangene schon einmal geklopft?«
Nein, sie hatte noch keine Wünsche.
»Gib mir den Schlüssel. Dieser Herr will mit der Gefangenen einige Zeit allein sein.«
»Sie werden mir wohl nicht zutrauen, Herr Bischof,« fuhr die Französin fort, als sie den ihr dargereichten Schlüssel in das Schloß steckte, »daß ich an der Tür lauschen werde. Hier, nehmen Sie die Laterne.«
Ihre stolzen Züge hatten dabei mehr versichert, als ihre Worte.
Die eiserne Tür ging auf - jetzt kam es für Nobody darauf an - es gelang mit Leichtigkeit! Die Französin hatte die Tür noch weiter in den Angeln zurückgedreht, als es für Nobody nötig war, um ohne irgendwo anzustoßen mit hineinschlüpfen zu können.
Die Tür schloß sich wieder, und in dem Raume befanden sich drei Personen, von denen sich die unsichtbare sofort in den Hintergrund zurückzog.
Auf dem Bett, welches man aufgeschlagen hatte, lag die Gefangene. Erst ein Augenblinzeln, und dann, als sie erkannte, daß es nur ihr Begleiter war, richtete sie sich auf.
Der Bischof hatte zwei Schritte in die Kammer hinein gemacht, blickte noch einmal vorsichtig hinter sich, ob die Tür auch geschlossen worden war, dann setzte er die Laterne auf eine Kiste und faltete die Hände über der Brust.
»Unglückseliges Weib, was hast du getan!« kam es flüsternd über seine Lippen.
Aber das war nicht etwa so gesprochen worden, wie man es von einem Geistlichen gegenüber einer Verbrecherin hätte erwarten sollen. Jetzt war nichts von einem salbungsvollen Tone zu bemerken, und auch die gefalteten Hände konnten daran nichts ändern. Vielmehr halb enttäuscht, halb furchtbar drohend hatte es geklungen, und drohend auch waren die schwarzen Augen auf das Weib gerichtet.
»Ich war von Sinnen,« gab dieses flüsternd zurück, und es klang wie ein Aechzen.
»Was, zum Henker, fiel dir ein, beim Anblick der hölzernen Büchse gleich zu entfliehen!«
»Ich wußte nicht, was ich tat. O, dieser Nobody!«
»Nun ist alles verloren. Und auch wir selbst sind verloren! Dadurch, daß du flohst und dann auch noch zum Dolch griffst, hast du selbst das Urteil über dich gesprochen, kein Mensch zweifelt jetzt mehr daran, daß du den Charles Bowell ermordet hast, und dieser Nobody wird mich nun auch noch überführen, daß ich das Kirchenbuch und den Trauschein gefälscht habe!«
Doch so geläufig sprach der Bischof dies nicht aus. Wir können die Unterhaltung der beiden überhaupt nicht wiedergeben; denn sie sprachen mindestens eine Viertelstunde zusammen, ein Wort gab immer schnell das andere, und das würde gar zu viel Seiten füllen.
So müssen wir das Gespräch summarisch schildern. Dadurch, daß sich die beiden gegenseitig anklagten, einander mit Vorwürfen überschütteten, bekam Nobody ihrer beider Schuld zu hören.
Mrs. Bowell war mit ihrer Kalkulation der Wahrheit sehr, sehr nahe gekommen. Dieses Weib selbst hatte in der Libyschen Wüste den Mann ermordet, dem sie sich als Reisebegleiterin angeschlossen, dessen Vertrauen sie zu gewinnen gewußt hatte. Ihn von der kleinen Karawane, die der Forschungsreisende ausgerüstet, abseits lockend, hatte sie ihn mit einem Handbeil erschlagen.
Nähere Details bekam Nobody allerdings nicht zu hören, aber das war doch die Hauptsache, die sich Nobody aus den einzelnen Anklagen und Verteidigungen der beiden zusammensetzen konnte.
Ihm den Situationsplan abzunehmen, der für dieses Tal galt, deshalb war ihm Miß Harriet, wie sie auch jetzt noch von dem Bischof genannt wurde, bis in die Libysche Wüste gefolgt.
Aber das Weib handelte nicht selbständig, es war nur das Werkzeug eines anderen, handelte auf Befehl, war aus einer ganzen Bande zur Ausführung dieses Plans auserwählt worden.
Um was es sich hier handelte, das war unserem Nobody nun ja schon wohlbekannt. Nicht umsonst hatte ihm Edward Scott damals gesagt, hier würde er eine weitere Spur finden, die bei jener Sekte endete, deren Mitglieder er bisher nur unter dem abessinischen Namen ›Udlindschis‹ kennen gelerm hatte, deren Haupt jener Mann gewesen, der sich einmal Sinclaire, ein anderes Mal Mephistopheles genannt hatte.
Und immer deutlicher merkte Nobody auch jetzt aus dieser Unterhaltung, daß dieser verbrecherischen Sekte seit einiger Zeit der Führer fehlte. Schon seit einiger Zeit irrten ihre Mitglieder planlos in der Welt herum, eine hirtenlose Herde, und deshalb konnten sie auch nicht mehr so wie früher zusammen arbeiten, kein Anschlag wollte ihnen mehr recht gelingen. Es fehlte eben die Hand des Meisters - des unsichtbaren Meisters!
Auch der Bischof gehörte mit zu dieser Sekte, die einen ›Nemo‹ als Gott anbetete. Auch er hatte auf irgendeine Weise den Befehl erhalten, diesem Weibe, wenn es den Situationsplan brachte, weiter behilflich zu sein, um den Schatz zu heben, der hier im Koloradotal verborgen läge.
Nun aber war alles anders gekommen. Der Mörderin war im Wüstensande die hölzerne Büchse entgangen. Sie hatte sich nach Philadelphia zu Bischof Lindol begeben, jedenfalls laut eines ihr schon vorher gegebenen Befehls.
Wann der Mord geschehen war, das konnte Nobody aus dieser Unterhaltung leider nicht konstatieren. Es schien ihm, als ob die Mörderin ziemlich lange in Afrika herumgeirrt sei, ehe sie dann ihren Genossen aufsuchte, ihm das negative Resultat zu melden.
Merkwürdig war es auch - für Nobody allerdings nicht ganz so merkwürdig - daß die beiden gar nicht wußten, um was es sich eigentlich handelte, was also im Koloradotal vergraben liegen sollte.
Sie wußten nur, daß sich in diesem eine Kirche und ein Felsen oder Berg befand, der einem Stiefel glich, und auf der Linie, die man zwischen diesen beiden Punkten zog, sollte das Betreffende vergraben liegen. Auch von einem See hatten die beiden nichts gewußt.
Nun fehlte noch die andere Linie, die war auf dem Situationsplan angegeben, den Mr. Charles Bowell in der Tasche trug.
Dieser Situationsplan war der Mörderin also entgangen, sie kehrte zu ihrem ihr befohlenen Spießgesellen mit leeren Händen zurück.
Jetzt fälschte Bischof Lindol das Kirchenbuch und schrieb einen Trauschein aus. Dem in gewissem Sinne fast allmächtigen Bischof war nichts nachzuweisen. Harriet sollte als die Gattin Charles Bowells auftreten. Nach amerikanischem Gesetz fielen dieser alle unbeweglichen Güter der Erbschaft zu, Mrs. Irma Bowell mußte ihr diesen Besitz abtreten.
Auch das hatte der ›Meister‹ gewollt - eine Bezeichnung, die der lauschende Nobody oft genug zu hören bekam.
So war man also Herr des Landes, in dem der Schatz, oder was es sonst war, vergraben lag. Aber man mußte sich nur mit der einen Linie behelfen, die man sich zwischen der ›Kirche‹ und dem ›Stiefel‹ gezogen hatte. Was es mit der ›Kirche‹ für eine Bewandtnis hatte, das hatte der Bischof bald herausgebracht. Also ›Zur Kapelle‹ hatte das Wirtshaus früher geheißen.
Aber der Stiefelberg dreißig englische Meilen weit davon entfernt? Himmel, was sollte man denn da für einen endlos langen Graben ziehen?! Und wie ungewiß überhaupt solch eine Luftlinie ist, und man wußte nicht einmal, wie tief man zu graben hatte!
Gleichgültig, wenn der Situationsplan entgangen war, so mußte man doch so gewissenhaft wie möglich das Gebot des Meisters erfüllen!
Da zog der unbekannte Mann die vermißte Holzbüchse, auf die alles angekommen war, aus der Tasche, sprach gleich von Mord, und ... die Mörderin verlor den Kopf, sie hatte sich selbst verraten! - - -
»Die Pest über diesen Nobody!!« knirschte der Schwarzrock zwischen den Zähnen.
»Und was soll aus mir werden?« ächzte das Weib. »Ich bin der schuldige Teil, und wenn ich auch fliehen könnte, wohin sollte ich fliehen, es gibt keinen Ort der Welt, wo mich der Meister nicht zu finden weiß, er wird mich zur Rechenschaft ziehen, und nicht einmal die Freiheit des Selbstmordes besitzen wir. Alles, alles ist verloren!!«
Da, was war das? Nobody hatte keine Zeit, über die Bedeutung dieser letzten Worte nachzugrübeln, er hatte das Gesicht des Schwarzrockes zu beobachten.
Und warum begann dieses Gesicht plötzlich so zu grinsen und nahm solch einen Ausdruck des überlegenen Hohnes an?
»Noch gar nichts ist verloren!«
Mit ungläubigem Staunen richtete sich das niedergebrochene Weib wieder auf.
»Was sagt Ihr da?«
»Daß noch alles wieder gut wird - daß wir doch noch zum Ziele gelangen.«
»Wie wäre das möglich? Mann, macht mir keine unnötigen Hoffnungen!«
»Nun, glaubt Ihr etwa, der Meister hätte mich auf solch einen Posten wie den des Bischofs von Philadelphia gestellt, wenn er nicht wüßte, daß ich auch die Fähigkeiten habe, ihn auszufüllen?«
»Daß der Meister sonst sehr mit Euch zufrieden ist, weiß ich, aber in diesem Falle wird Eure Kunst wohl ...«
»Eine Kleinigkeit für mich, alles wieder zu regeln, es ist alles schon geregelt,« grinste der andere. »Die Sache ist doch ganz einfach - wenigstens einfach für mich. Dieser Nobody ist durch irgendeinen Zufall, den er aber uns selbst noch erzählen soll, in den Besitz der Holzbüchse mit dem Situationsplan gekommen. Wir haben den betreffenden Punkt schon gefunden ...«
»Wo?«
»Es ist ein See, der kleine Schlangensee genannt. Um darin zu fischen, dazu ist er zu tief. Nobody will sich einen Tauchapparat beschaffen. Mag er, der Narr, er arbeitet ja doch nur für uns. Also gut, Nobody wird das Geheimnis lösen. Aber in dem Augenblicke, da er es zutage befördert, werde ich ...«
Er brach ab, sein Gesichtsausdruck änderte sich, nahm etwas Dämonisches an, so schlich er mit vorgebeugtem Oberkörper auf die auf dem Bett Sitzende zu, so sprach er weiter ... Nobody aber verstand nichts mehr, es war eine ihm fremde Sprache, und sofort wußte er - was man übrigens sehr leicht unterscheiden kann - daß es eine künstliche war, eine Geheimsprache, also jedenfalls die dieser Sekte.
So weit, daß sich die beiden unterhielten, ohne daß er etwas davon verstand, durfte er es aber auf keinen Fall kommen lassen!
Denn nun wußte er schon zur Genüge, was für gefährliche Subjekte er vor sich hatte, einer Gesellschaft angehörend, die über Hilfsmittel verfügte, von denen auch der erfahrene Nobody noch nicht einmal eine Ahnung hatte, was für teuflische Pläne konnten die beiden jetzt nicht aushecken, und einmal wollte Nobody die Entlarvung doch herbeiführen, deshalb war er ja dem Bischof hierher gefolgt ... kurz und gut, weiter durfte er es nicht kommen lassen!
»So, so. Das sind ja nette Sachen, die man da zu hören bekommt.«
Ganz gemütlich hatte es aus einer Ecke geklungen, ein schneller, geschickter, wohleingeübter Griff, der das dünne Gewebe entfernte, und ... der Bischof sah seinen Todfeind vor sich stehen, einen Revolver auf ihn angeschlagen.
Es läßt sich denken, daß der Schwarzrock im ersten Augenblicke eher an einen Geist denn an den Anblick eines lebenden Menschen glaubte. Dann sah es aus, als wolle er wie anbetend auf die Knie sinken, aber es kam nicht dazu.
Sein Verhalten war ganz genau dasselbe, wie vorhin das des Weibes, dem er deswegen Vorwürfe gemacht hatte.
Einen unartikulierten Schrei ausstoßend, wandte er sich um und sprang nach der Tür. Nobody war der festen Ueberzeugung gewesen, daß diese von der Französin oder von dem Indianer wieder verschlossen worden sei. Allein dies war nicht der Fall.
Im Sprunge erfaßte der Schwarzrock die Klinke und ... stieß die Tür nach außen auf.
Nun freilich Nobody hinter ihm her! Von dem Revolver machte er keinen Gebrauch, lebendig mußte er ihn haben, um ... ihn kaltzumachen! Aus seinen Fängen wenigstens ließ er den nicht wieder!
Ein Blick sagte ihm, daß sich der Indianer noch vor der Tür befand, und dieser Wächter genügte für die Gefangene.
Hinab ging es die Treppe, sechs Stufen auf einmal, und dann um den Turm herum.
Denn der Flüchtling hatte seinen Weg nicht durch den Hof nach dem Schlosse genommen, sondern hatte jenen schon erwähnten Stall benutzt, dessen beide Türen noch immer offen standen.
Wahrscheinlich wollte er durch solche Winkelzüge seinem Verfolger entgehen, was ihm nun freilich nicht gelang.
Nur das schwache Licht der Sterne beleuchtete die wilde Jagd, welche also über jene hintere Wiese ging; wahrscheinlich strebte der Flüchtling nach seinem Pferde, das er dort hinten stehen wußte, und es ward Nobody doch nicht so leicht, ihn einzuholen, denn die Todesangst verlieh jenem die Schnelligkeit einer ... einer Fledermaus.
Ja, ganz einer riesigen Fledermaus glich er, wie er mit seinen langen, flatternden Rockschößen über die Wiese dahinjagte.
Nicht lange währte die wilde Jagd um Tod und Leben.
»Steh, oder ich ...«
Nobody konnte seine Drohung nicht vollenden. Das Wort erstarb ihm im Munde.
Doch bei der Schnelligkeit, mit der alles vor sich ging, läßt sich das Nachfolgende kaum beschreiben.
Es hatte gepatscht - es patschte noch - Wasser spritzte auf - und in dem Augenblicke, wie es Nobody zum Bewußtsein kam, daß er sumpfigen Boden unter seinen Füßen hatte, der ihn schon wie Zangen festhielt, sah er bereits die Gestalt des Flüchtlings versinken - - und da begann Nobody schon selbst mit dem Tode zu ringen, der ihn umklammern wollte - denn man wolle nur bedenken, daß er sich doch in voller Flucht befunden hatte, da sinkt der Fuß bei weitem nicht so schnell ein, man kann sogar eine gute Strecke über sumpfigen Boden rennen - aber wehe, wenn der flüchtige Fuß einmal stockt! - und Nobody fühlte sich schon versinken - seine Füße waren schon wie in einen Schraubstock gespannt - mit der furchtbaren Kraft der Verzweiflung konnte er sich noch einmal losreißen, beide Stiefel im Stiche lassend - rückwärts, rückwärts! - noch einmal bis zum Unterleibe eingesunken, wieder sich emporgearbeitet, wieder eingesunken, wieder heraus ... und dann hatte er festen Boden unter sich.
Dieser Kampf mit dem Tode hatte vielleicht nur fünf Sekunden gewährt. Nobody hatte eine Ewigkeit mit dem Tode gerungen. Sein Haar sträubte sich, von seinem Gesicht tropfte der kalte Todesschweiß.
Aber die Besinnung hatte er deswegen nicht verloren.
Dort in der Nähe des Schlosses huschten Lichtchen hin und her.
»Hierher, zu Hilfe, ein Mann ist versunken!« schrie Nobody mit allem Aufgebot seiner Lunge.
Es waren einige der Mädchen, die mit Laternen und Fackeln herbeikamen. Die Worte selbst hatten sie wohl gar nicht verstanden, nur den Hilferuf vernommen, und sie sahen dort einen Mann stehen, an jener Stelle, wo sie wußten, daß in der dichtesten Nähe der Tod lauerte.
»Zurück, Ihr steht am grünen Sumpf, zurück!« erklang es kreischend vor Angst.
»Ich stehe fest, aber der Bischof ist eingesunken!«
Die Laternen und Fackeln waren da, jetzt erkannte Nobody, daß sich in weitem Kreise Barrieren hinzogen, nur gerade hier war ein Gitter gebrochen und umgefallen, und gerade durch diese Oeffnung hindurch hatten die beiden ihren Weg genommen. Sonst war von einem Sumpfe nichts zu sehen, die Umzäunung schien nur eine grüne Wiese einzuschließen. Wer?«
»Bischof Lindol!«
Das Nächstfolgende läßt sich noch weniger beschreiben. Das Vorangegangene war nur eine kleine Einleitung gewesen zu einer fürchterlichen Szene, die sich hier im Sternenschein und Fackellicht abspielen sollte.
Jetzt kam auch Miß Field mit ihren langen Beinen angerannt, dahinterher kugelte die Mrs. Hackerle, überholt wurden die beiden noch von einem anderen Weibe, das mit aufgelöstem Haar einherstürmte. Es war Mistreß Bowell.
»Wer?«
»Der Bischof Lindol ist im Sumpfe eingebrochen!«
Ein gellender Schrei, der gar nichts Menschliches mehr an sich hatte.
»Wo, wo?!«
»Dort, dort, wo das Gras noch offen ist!«
»Leitern her, Lassos zusammengeknüpft!« kommandierte Nobody. »Die Barrieren über den Sumpf ge ...«
Da war das Entsetzliche schon geschehen!
»Charly, mein Charly!«
Noch einmal hatte es gegellt, und dann war das Weib mit den aufgelösten Haaren ebenfalls in dem Sumpfe verschwunden, hatte sich hineingestürzt, um den Unglücklichen zu retten.
Wie kam Mrs. Bowell dazu, den Bischof mit seinem Vornamen zu rufen? Woher kannte sie diesen überhaupt? Kein anderer wußte davon.
Doch wer legte sich jetzt solche Fragen vor?
»Um Gottes willen, Irma!«
Und wieder patschte es und spritzten Wasser und Schlamm hoch auf - jetzt hatte sich auch noch Miß Field in den weichen Morast geworfen, um der Freundin beizustehen!
»Zurück, zurück! Was wollen Sie tun?!«
Zwei Mädchen hatten sich auf Frau Hackerle geworfen, die wieder ihrerseits der Freundin nachspringen wollte.
Es war schon genug der Greuelszene! Die Fackeln und Laternen waren in dem allgemeinen Handgemenge verloschen, nur das bleiche Sternenlicht beleuchtete das grausige Schauspiel. Wie in dem weichen Schlamme zwei oder drei Menschen mit dem Tode und untereinander rangen; hier kam ein Kopf, dort noch einmal ein Arm, nur eine Hand zum Vorschein, und dann wieder ein wilder Kampf von Schlamm und Gliedern und Menschenleibern, und damit noch immer nicht genug, jetzt stürzten sich wiederum zwei Menschen in die tödliche Umarmung des schwarzen Sumpfes!
Aber das waren zwei Retter, welche die Besinnung behalten hatten!
»Zurück, zurück, haltet nur die Lassos!«
Gleichzeitig mit Nobody hatte sich auch die älteste der sieben Schwestern mit einem langen Lasso umschlingen lassen, so hatten sich beide gleichzeitig in die grüne Fläche des trügerischen Sumpfes hineingeworfen.
Wohl kam es nun noch einmal zu solch einem fürchterlichen Kampfe, nichts weiter als ein wirrer Haufen von schwarzem, lebendig gewordenem Schlamm, dann aber war die Rettung gelungen! - -
Die Szene hatte sich geklärt. Wenigstens war Ruhe eingetreten. Wer die schwarzen Gestalten eigentlich waren, die da herumstanden und herumlagen, von Schlamm überzogen, das konnte man immer noch nicht unterscheiden.
Auch Mademoiselle Laboche war nachträglich auf dem Platze erschienen. In ihrer Hand flammte die erste Fackel wieder auf. Der blutige Schein beleuchtete das bleiche Gesicht der Französin, wie sie so fest die Lippen zusammengepreßt hatte, und er beleuchtete die schlammigen Gestalten.
Polly hatte Miß Field erwischt und aufs Trockene gezogen. Beide brauchten keine Hilfe, um Mund und Nasenlöcher von dem zähen Schlamme zu befreien, so daß sie wieder atmen konnten, und dasselbe galt von Nobody.
Aber Mrs. Bowell, die von ihm gepackt und herausgezogen worden war, lag regungslos als ein unförmlicher Haufen Schlamm da.
Alle Hände, die ankommen konnten, beschäftigten sich mit ihr, um ihr vor allen Dingen Luft zu verschaffen, und schon waren zwei Mädchen davongerannt, Eimer mit Wasser zu holen. Das mußte schneller gehen, als wenn man die Bewußtlose erst nach dem Schlosse getragen hätte.
»Das sind ja zwei!«
»Da ist ja auch der Bischof!«
Gewiß, so war es! Mrs. Bowell hielt den Bischof umklammert. Sie hatte ihn eben im Schlamme gefunden und gepackt. Aber auch Nobody hatte gar nicht gewußt, daß er gleichzeitig zwei Personen herausgezogen. Man braucht sich eben nur zu vergegenwärtigen, wie es bei solchen Situationen zugeht, um das begreiflich zu finden.
Mrs. Bowell lag auf Lindol, hatte ihn mit beiden Armen umklammert. Doch die beiden konnten jetzt leicht voneinander getrennt werden, und da kam auch schon das Wasser und machte die Gestalten kenntlicher.
Die Frauen beschäftigten sich mit der Freundin, Nobody mit dem Bischof.
»Sie lebt, sie lebt!« erklang es drüben jubelnd.
»Und hier ist alle Hilfe vergeblich, der Bischof ist tot,« setzte Nobody hinzu.
Das hatte er sofort erkannt, noch ehe die Rachenhöhle von dem Schlamme befreit wurde. Doch wir wollen nicht länger bei dieser Beschreibung verweilen. Es sah entsetzlich aus. Nobody legte die Hand auf das Herz des Regungslosen, und dann mühte er sich gar nicht erst mit einer künstlichen Atmung ab. Wenn jemand einige Minuten schon in solch einem zähen Schlamme gelegen, den er beim krampfhaften Atmen mit in die Lunge bekommen hat, dem ist natürlich nicht mehr zu helfen.
Darüber richtete sich Mrs. Bowell halb empor, blickte mit wirren Augen um sich.
»Wo bin ich?«
»Irma, was ficht dich nur an, dem Manne nachzuspringen? Du kennst doch den grünen Sumpf.«
Immer noch dieselben verständnislosen Augen.
»Dem Manne? Welchem Manne?«
»Dem Bischof Lindol. Und du hättest ihn auch gar nicht mehr retten können, der ist bereits tot, erstickt.«
Noch einmal irrten die wirren Augen umher.
»Der Bischof Lindol? Tot - tot, sagst du? Aber das kann doch gar nicht ...«
Da blieben die irren Augen auf dem am Boden Liegenden haften. Wieder solch ein gellender Schrei. Sie war aufgesprungen und hatte sich auf den Bischof gestürzt, sich auf ihn geworfen, umklammerte ihn.
»Charly, mein Charly! Es ist nicht möglich, daß du tot bist! - Gott kann nicht so grausam sein, daß er dich mir gleich wieder raubt, nachdem er dich mir soeben erst geschenkt hat! - Wache auf, Charly, sei wieder mein lieber Charly!!!«
So und anders erklang es in herzzerreißendem Jammer, und dabei preßte Mrs. Bowell immer wieder ihren Mund auf die kalten, bleichen Lippen des Bischofs und überschüttete ihn mit anderen Liebkosungen, als wolle sie den Toten dadurch ins Leben zurückrufen.
Alle wurden vor Schreck wie gelähmt. Wie das Weib den Toten liebkoste, ihn mit zärtlichen Worten überschüttete, es war eine Szene, die jenem vorangegangenen Todesringkampfe im schwarzen Sumpfe an Fürchterlichkeit nichts nachgab.
Ein Stöhnen ließ Nobody seitwärts blicken.
Neben ihm stand die Französin. Sie hatte beide Hände gegen die Schläfen gepreßt und blickte mit stieren Augen nach den beiden.
»Mein Gott, mein Gott, auch das noch!«
»Hat denn Mrs. Bowell den Bischof Lindol schon früher gekannt?«
Die entsetzten Augen wandten sich dem Frager zu.
»Nein - nein - verstehen Sie denn nicht -? Doch nein, woher sollen Sie es denn wissen! - Hier liegt ein Irrtum vor - eine furchtbare Verkettung von Verhältnissen, oder wie man es sonst nennen mag. Kurz bevor Charles abreiste - Charles Bowell meine ich - geriet er hier in diesen Sumpf - und mit ihm Irma - die beiden rangen mit dem Schlamm - mit sich selbst - nur unter den furchtbarsten Anstrengungen konnten beide gerettet werden - Irma fiel in ein heftiges Nervenfieber - sie genas - - etwas aber mag doch zurückgeblieben sein - sie kann den Sumpf gar nicht mehr sehen - und nun - und nun - dieser neue Fall - mein Gott, mein Gott, sie hält den Bischof für Charly - und das kann man keinen Irrtum mehr nennen, das ist ja schon mehr Irrsinn!«
»Und merkwürdig,« setzte Frau Hackerle hinzu, »daß Bischof Lindol mit Vornamen ebenfalls Charles heißt, ich weiß es.«
Auch Nobody war furchtbar erschüttert. Und wieder hatte er einen tiefen Einblick in das Familienleben bekommen, das früher hier geherrscht. »Die beiden rangen mit dem Schlamm - mit sich selbst,« hatte die Erzählerin gesagt.
Mit sich selbst, das heißt miteinander - sah das nicht fast aus, als hätten die beiden zusammen einen Selbstmord begehen wollen?
»Charly, mein Charly, wache doch auf! Ich will ja dir gehören!« jammerte es am Boden weiter.
Mit sanfter Gewalt mußte sie von dem Toten getrennt werden. Nur nach dem Versprechen, daß auch dieser nach dem Schlosse gebracht würde, ließ sie sich von den Freundinnen fortführen.
»Kaum vereint, kaum in Liebe gefunden, so schon wieder getrennt!«
Das waren die letzten Worte, welche Nobody aus dem Munde der Fortgehenden vernahm, und sie machten einen ganz seltsamen Eindruck auf ihn. Das klang gar nicht nach Irrsinn.
Dann trug Nobody mit Hilfe eines Mädchens die Leiche ebenfalls in das Schloß; in einer Kammer entkleidete er sie, untersuchte die Taschen.
Er fand keinen erwähnenswerten Gegenstand, auch nichts Schriftliches, was von Belang gewesen wäre.
Diese Visitation hatte zehn Minuten gedauert. Eben breitete Nobody eine Decke über die entkleidete Leiche, als die Tür aufging und Clarence eintrat.
Bei ihrem Anblick erschrak Nobody. Er erkannte das schöne Antlitz, auf dem die tiefste Seelenruhe ihren Stempel gedrückt hatte, kaum wieder. Ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander.
»Um Gott, was ist denn immer noch geschehen?!«
»Zeichen und Wunder sind geschehen, welche der menschliche Geist nicht fassen kann,« lautete die mit klappernden Zähnen hervorgebrachte Antwort.
»Ist Mrs. Bowell ...«
»O, die befindet sich wohl, ganz wohl. Von Irrsinn gar keine Spur, nicht einmal von einem Irrtum.«
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß es wirklich der Bischof Lindol ist, dessen Tod Irma bejammert. Den Bischof Lindol aus Philadelphia, den sie heute zum ersten Male gesehen hat, der uns allen den unsympathischsten Eindruck machte, den Irma als ihren Feind betrachten mußte - er ist es, den Irma plötzlich mit grenzenloser Liebe ins Herz geschlossen hat. - Nun, staunen Sie denn gar nicht?«
Nein, Nobody tat es nicht im mindesten. Nur seine Augen, die sich auf den Toten richteten, nahmen plötzlich einen furchtbar drohenden Ausdruck an. Doch sie waren wieder kalt und klug, als sie sich abermals der Französin zuwendeten, die sich jetzt ebenfalls wieder beherrschen konnte. Vor allen Dingen hatte das schreckliche Zähneklappern aufgehört.
»Das kann doch immer noch eine fixe Idee von ihr sein.«
»Nein, das ist so wenig eine fixe Idee, wie es eine fixe Idee ist, daß Ispanje mit der Gefangenen entflohen ist.«
»Was?« fuhr jetzt freilich Nobody betroffen auf.
»Der Indianerhäuptling ist mit der Gefangenen entflohen, hat sie entführt. Molly hat gesehen, wie er sie auf sein Pferd hob, hat die beiden in Karriere nach Osten davonreiten sehen. Jawohl, Sie brauchen mich nicht so anzublicken, ich wenigstens bin nicht irrsinnig. Ich habe mich schon überzeugt. Die Gefangene fort, Ispanje fort, Parole fort, seine Lanze fort, sogar sein Kalumet fort - na, denken Sie denn etwa, solch einem Arrapaho-Häuptling fällt es einmal ein, zur Förderung der Gesundheit einen kleinen Spazierritt zu machen? Und damit die Gefangene, die ihm anvertraut ist, nicht entfliehen kann, nimmt er sie gleich mit? Nein, Ispanje hat das Weib mitgenommen, weil er Gefallen gefunden hat an der glatten Larve und an den schwarzen Haaren und an den grünen Augen. Ja, diese grünen Augen haben es ihm angetan. Er hat sie mitgenommen, um sie in seinen Wigwam zu führen, um sie zu seinem Weibe zu machen.«
Eine eisige Ruhe war plötzlich über sie gekommen, so brachte sie auch die Worte hervor, aber Nobody, der sie mit starren Augen betrachtete, erkannte, was Furchtbares in dem jungen Weibe vor sich gehen mußte.
»Sehen Sie,« fuhr sie in demselben eisigen Tone fort, der so seltsam zum Inhalt kontrastierte, »als es mir zur Erkenntnis kam, daß mich wirklich Ispanje verlassen hat, um mit einer anderen zu fliehen - mich verlassen - mich, der ich sein Blut getrunken habe, wie er das meine, für dessen Treue ich mein Haupt auf den Block gelegt, meine Seligkeit, an die ich glaube, verschworen hätte - als dies mir zur Erkenntnis kam, da zweifelte ich auch nicht mehr daran, daß es wirklich der Bischof Lindol ist, dem Irma plötzlich ihr Herz in heißer Liebe zugewandt hat, mit dessen Tode sie ihr Liebstes auf Erden verloren ...«
Mit einem Male verzog sich ihr starres Gesicht wie in einem grenzenlosen Schmerze, sie hob beide Arme; so blickte sie zur Decke empor, und jetzt klang es ganz anders:
»O Himmel, stürze ein, verlöscht, ihr Gestirne - ein leerer Wahn, ein Hohn ist die Treue - ein Fluch ist die ...«
Ihre erhobenen Hände wurden gefaßt und sanft gedrückt.
»Fluchen Sie nicht. Sie würden Unschuldige verfluchen.«
»Unschuldige?« kam es mit unaussprechlicher Bitterkeit hervor.
»Ja. Ich kann eine andere Erklärung geben. Der dort - der ist an allem schuld!!!«
Nobody hatte zurück nach dem Toten gedeutet, und plötzlich verzerrte sich auch sein Gesicht, seine Fäuste ballten sich, er duckte sich, und es schien einen Augenblick, als wolle er sich auf den Leichnam stürzen und noch an diesem eine tierische Wut auslassen.
Doch es kam nicht so weit. Ein Kampf, dessen Fürchterlichkeit man nicht von außen ansah, und es war vorüber, er hatte sich wieder in der Gewalt.
Nicht die Menschen sind bewundernswert und hoch zu preisen, welche deshalb über Zorn und alle anderen häßlichen Leidenschaften erhaben sind, weil sie eben solche Leidenschaften gar nicht kennen. Das sind Frösche.
Aber diejenigen Menschen, welche von allen Leidenschaften durchwühlt werden, welche in jahrelangem, heißem Ringen gelernt haben, diese Leidenschaften zu bändigen, wenn und wann sie wollen, das sind die Helden, das sind die Herren der Erde! Denn wer sich selbst besiegt, der besiegt die ganze Welt!
»Führen Sie mich zu Ihrer Freundin!«
»Kommen Sie!«
Mrs. Bowell befand sich im Bett, an dem sich auch die beiden anderen Freundinnen aufhielten. Sie sah wohl erschöpft, aber durchaus nicht krank aus, noch weniger machte sie den Eindruck einer Irrsinnigen.
»Bitte, Mrs. Bowell, blicken Sie mich einmal fest an,« sagte Nobody, ihre Hand ergreifend.
Sie tat es mit einer stillen Resignation, Nobody konzentrierte all seine Willenskraft - sie war nicht zu hypnotisieren, obgleich er sicher wußte, daß diese Frau sonst nicht zu den Personen gehörte, welche dem hypnotischen Einflusse trotzen.
»Ja, es ist so, wie ich mir dachte. Sie haben Fieber. Ich habe ein vorzügliches Gegenmittel, wollen Sie dieses Glas Wasser trinken.«
Er hatte eine kleine gläserne Phiole aus der Tasche gezogen, schenkte vom Nachttisch ein Glas mit Wasser voll und träufelte einige Tropfen hinein.
Sie nahm das dargereichte Glas ohne Zögern, trank - - und schon nach den ersten Schlucken schien sie plötzlich zu erstarren, die das Glas haltende Hand blieb steif in der Luft stehen, während sich ihre Augen ganz nach oben verdrehten, daß nur noch das Weiße zu sehen war.
»Was ist das?« flüsterten die Damen bestürzt.
Nobody brauchte in diesem Kreise keine Erklärung zu geben.
»Mr. Nobody hat sie hypnotisiert,« sagte Clarence, und nun, da es ausgesprochen war, war es auch für die anderen Damen durchaus nichts Neues mehr, sie alle hatten schon hypnotischen Vorstellungen beigewohnt, welche gerade damals in Amerika recht Mode waren, und gerade in Amerika zweifelt man am allerwenigsten an der Macht des Hypnotismus - leider auch nicht an dem Spiritismus.
»Ah, Sie haben sie hypnotisiert!« erklang es im Chor. »Aber warum denn?«
Nobody gab keine Erklärung, daß man die Hypnotik noch zu etwas anderem verwerten könnte, als nur um einem schaulustigen Publikum Vorstellungen zu geben, die meist nur auf Albereien hinauslaufen - er dachte jetzt an etwas anderes, er atmete tief und schwer, es klang fast wie ein Stöhnen.
Was war es denn, das so furchtbar sein Herz zu bedrücken schien?
»Missis Bowell,« begann er, jedes Wort betonend, »hören Sie mich sprechen?«
»Ja - ich - höre - Sie,« stammelte die Hypnotisierte abgebrochen.
Nobody nahm ihr das Glas aus der Hand. Doch noch immer schien er unter einem furchtbaren Druck zu leiden.
»Sie werden mir gehorchen!!«
»Ich - werde - Ihnen - gehorchen.«
Nahmen da nicht plötzlich Nobodys Züge einen ganz anderen Ausdruck an?
»Sie werden mir der Wahrheit gemäß jede Frage beantworten!«
»Ich werde - der Wahrheit - gemäß antworten,« flüsterte die Hypnotisierte.
Und da brach es bei Nobody wie ein wilder Jubel hervor.
»Triumph, Triumph!!« rief er, plötzlich ganz außer sich. »Und gelobt sei der gerechte Gott, der seine Bäume in den Himmel wachsen läßt! Nur einen einzigen Bösewicht hat es gegeben, der eine Kunst des Hypnotisierens versteht, die auch mir unbekannt ist, aber diesen Bösewicht habe ich bereits zur Strecke gebracht, und seine Helfershelfer verstehen wohl etwas von der einfachen Hypnose, aber jene teuflische Kunst ist ihnen unbekannt. Triumph, Triumph!! Ihre Freundin ist gerettet!!«
Der geneigte Leser weiß natürlich, was Nobody meinte. Durch sein Mittel hatte er wohl auch jenen Mephistopheles in Hypnose versetzen können, aber der Hypnotisierte hatte auch in diesem Zustande den Gehorsam verweigert, und genau dasselbe war mit dem in dem unterirdischen Wasserlaufe aufgefischten Manne der Fall gewesen.
Für die drei Damen aber mußten diese Worte natürlich völlig unverständlich sein. Wie sich später herausstellte, wußten sie auch noch nicht einmal etwas von einem posthypnotischen Befehl, so weit gingen ihre Kenntnisse über diesen geheimnisvollen Zustand, der ja für uns auch noch heute ein Rätsel ist, noch nicht.
Jetzt aber war Nobody, wenn er sich auch noch gar nicht überzeugt hatte, über gar nichts mehr im Zweifel.
»Mrs. Bowell ist hypnotisiert worden und steht unter dem Einflüsse eines fremden Befehls!«
»Hypnotisiert? Wann denn? Von wem denn?« erscholl es durcheinander.
»Ja. An dieser Ansicht kann mich nichts mehr irremachen. Von dem Bischof. Ist dieser mit Mrs. Bowell heute einmal allein gewesen?«
Die Damen wußten zuerst keine Antwort, sie waren ja auch ganz kopfscheu geworden.
»Nicht, daß ich wüßte,« sagte dann Clarence.
»Sie können das auch gar nicht wissen. Wir beide waren doch drei Stunden lang im Boot. Unterdessen sind die anderen drei Damen mit dem Bischof am Ufer des Sees spazieren gegangen. Mrs. Hackerle, Miß Field - können Sie sich entsinnen, daß der Bischof mit Mrs. Bowell einmal allein ...«
»Jawohl, jawohl!!« riefen da die beiden Genannten wie aus einem Munde. »Wir haben die beiden einmal vermißt, da waren sie wohl eine halbe Stunde allein zusammen - aber dann kamen sie ganz harmlos aus einem Waldweg wieder herausspaziert.«
»Und diese Zeit genügte vollkommen, um Ihre Freundin zu hypnotisieren, fünf Minuten hätten genügt, und der Bischof hat es getan!!«
»Ja, aber warum denn?«
»O, Sie wissen ja noch gar nicht, was für eine furchtbare Macht die Hypnotik ist, wenn sie sich in böser Hand befindet! Sie sollen jetzt davon überzeugt werden.«
Er wandte sich wieder der Hypnotisierten zu, ohne diesmal seinen Genickgriff anzuwenden, damit die Zuschauer immer die verdrehten Augen sehen sollten.
»Missis Bowell - wissen Sie, was Hypnose ist?«
»Ja,« hauchte jene.
»Woher wissen Sie davon?«
»Ich habe - darüber - gelesen - und auch schon - hypnotische - Vorstellungen gesehen.«
»Sind Sie selbst schon einmal hypnotisiert worden?«
Sie zögerte sichtlich, und dann verneinte sie.
Nobody trat einige Schritte zurück und winkte die Damen zu sich.
»Lassen wir ihr erst einige Minuten Ruhe,« flüsterte er in leisestem Tone. »Ich kann Ihnen jetzt keine lange Vorlesung über Hypnotik geben, ich bemerke vorläufig nur, daß jede hypnotisierte Person ...«
»Ich weiß, ich weiß,« fiel ihm Clarence ebenso leise ins Wort. »Man kann jeden Hypnotisierten erinnerungslos erwachen lassen, aber in der nächsten Hypnose erinnert er sich alles dessen mit aller Deutlichkeit wieder, was in der vorigen Hypnose mit ihm geschehen ist, was er gesprochen hat, was man ihm befohlen und so weiter, darüber kann er dann auch bis in die kleinsten Details aussagen.«
»Das ist mir auch bekannt - mir auch,« ergänzten die beiden anderen Damen.
»Ah, das erspart mir ja viel! Und daß sich Ihre Freundin nicht sogleich besinnt, schon einmal hypnotisiert worden zu sein, werden Sie begreiflich finden, außerdem haben Sie wohl ein seltsames Zögern bemerkt.«
»Sie hat offenbar erst bejahen wollen.«
»Sie wird sich unterdessen besonnen haben. Probieren wir es noch einmal.«
Nobody trat wieder vor das Bett hin, seine ganze Willenskraft konzentrierend.
»Missis Bowell, sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?«
»Ja!« erklang es jetzt ganz bestimmt.
»Vor drei Jahren, nicht wahr?« fragte Nobody, um den Zuhörern ganz überzeugende Resultate zu geben.
»Nein.«
»Wann sonst?«
»Heute.«
»Wann da?«
»Heute - nachmittag.«
»Bezeichnen Sie die Zeit genauer! Sprechen Sie fließender!«
»Heute nachmittag, als Sie mit Clarence im Boote waren und wir anderen am Ufer des Sees spazieren gingen.«
»Da sind Sie hypnotisiert worden?«
»Ja.«
»Von wem?«
»Vom Bischof - Lindol.«
Schon an dem Geräusch von Bewegungen hörte Nobody, was für ein Schrecken hinter ihm entstand.
»Wo hat er Sie hypnotisiert?«
»Auf der Bank - unter der Kastanie.«
»Wie hat er Sie dorthingeführt?«
»Er sagte - er hätte mir - etwas Wichtiges über den im See versenkten Schatz zu sagen - er wüßte doch etwas davon.«
»Daß Ihre Freundin,« wandte sich Nobody schnell einmal an die Zuhörer, »hiervon dann nichts mehr wußte, das verstehen Sie wohl.«
»Hierüber sind wir vollkommen orientiert,« lautete die einstimmige Antwort, »das hat er ihr dann wieder heraushypnotisiert.«
Heraushypnotisiert - ein zwar laienhafter, aber vollkommen zutreffender Ausdruck!
»Auf welche Weise hat er Sie hypnotisiert?«
»Ich bemerkte - plötzlich - wie er mich - so starr ansah - er sagte: schlafe ein! - und da - war ich - war ich - meines Willens nicht mehr mächtig.«
Also ein ganz gewöhnlicher Hypnotiseur. Nur eine sehr große Gabe dazu besitzend, die Hypnose zu erzeugen, wie Nobody das dem Bischof ja auch gleich angesehen hatte, aber besonderer Hilfsmittel bediente er sich sonst nicht - jedenfalls nicht zu vergleichen mit jenem Mephisto, und das war für Nobody eine große Hauptsache.
»Was befahl der Bischof Ihnen nun?«
»Ich sollte ihn - lieben.«
Wieder eine allgemeine Bewegung des Schreckens.
Nobody forschte hierüber weiter nach, erfuhr nähere Details, aber die Hauptsache blieb doch dieselbe. Der Hypnotiseur hatte ihr eine unüberwindliche Zuneigung zu sich suggeriert, sobald er ihre Hand begehre, hätte sie ihm dieselbe gereicht, wäre mit Freuden sein Weib geworden.
»Hat er Ihnen sonst noch etwas befohlen? Entsinnen Sie sich!«
»Sobald der im See versenkte Schatz - oder was es sonst sei - zum Vorschein käme - sollte ich ihn für mich - beanspruchen - ihn auf keinen Fall - dem Mr. Nobody - überlassen.«
»Aha,« bemerkte hierzu der Hypnotiseur, »also auf diese Weise war der Bischof seiner Sache schon sicher! Natürlich, dann hätte Mrs. Bowell ihn eben heiraten müssen, kraft seines hypnotischen Befehls, und dann wäre er ja doch Eigentümer des Betreffenden geworden. Verstehen Sie, meine Damen?«
»Entsetzlich!« wagte man nur zu hauchen.
Da bemerkte Nobody im Gesicht der Hypnotisierten verdächtige rote Flecke, die nach und nach entstanden, er ergriff ihren Puls und konstatierte Fieber. Das Sumpfbad, die vorangegangene furchtbare Erregung machte noch nachträglich ihre Folgen bemerkbar, und in diesem krankhaften Zustande wollte er die Hypnose nicht zu weit ausdehnen. Denn so ganz harmlos ist diese doch nicht, es ist und bleibt ein dem Menschen unnatürlicher Zustand.
Noch vergewisserte sich Nobody schnell, daß sie sonst weiter keinen posthypnotischen Befehl erhalten, daß sie ihm nichts weiter von Wichtigkeit mitzuteilen hatte, und jetzt gab er selbst ihr den Befehl, sich niemals wieder von irgendeinem Menschen hypnotisieren zu lassen, sogleich in einen tiefen Schlaf zu sinken und aus diesem erinnerungslos zu erwachen.
»Erwachen Sie, und schlafen Sie sofort ein!«
Die Augen kehrten in ihre natürliche Lage zurück, ein tiefer Seufzer, und Mrs. Bowell fiel in die Kissen zurück. Sie war sofort eingeschlafen.
»Ihre Freundin ist gerettet. Danken Sie Gott dem Allwissenden und Allgütigen, der mich gerade an diesem Tage zu Ihnen geführt hat. Was ohne mich hier alles geschehen wäre, das kann sich auch die kühnste Phantasie gar nicht ausmalen.«
Mit diesen feierlich gesprochenen Worten hatte sich Nobody an die drei Damen gewendet. Und die Worte verfehlten ihre Wirkung nicht.
Es wäre ja noch so viel zu erklären gewesen. Zum Beispiel hatte doch auch der Bischof der Hypnotisierten den Befehl gegeben, daß sie sich niemals wieder hypnotisieren ließ, es sei denn von ihm selbst.
Wie hatte Nobody sie nun trotzdem hypnotisieren können? Da hätte er von seinem geheimen Mittel sprechen müssen, das er in jener Phiole immer bei sich führte.
Aber keiner der drei dachte an solch eine Frage. Nur eine, Mademoiselle Clarence, aber es war auch eine ganz andere Frage:
»Und die Gefangene? Und Ispanje?«
»Ganz genau dasselbe. Wenn die Gefangene nicht selbst diese unheimliche Kunst versteht, so hat es eben auch der Bischof fertig gebracht, den Wächter in einem unbeobachteten Augenblicke zu hypnotisieren. Jetzt kommen diese beiden daran. Dazu aber wollen wir erst den morgenden Tag abwarten.«


Am nächsten Morgen bei Sonnenaufgang ritten quer durch das waldige Tal zwei Reiter - Nobody und Mademoiselle Clarence, letztere ebenfalls in einem Männeranzuge, welcher für die Strapazen eines Rittes durch die Wildnis berechnet war, daher auch nach Männerart im Sattel sitzend.
Bis spät in die Nacht hinein hatten sie zusammen gesprochen, hauptsächlich über den Hypnotismus und seine Wunder. Nobody hatte eine förmliche Vorlesung gehalten, von Experimenten begleitet, er hatte eine der Damen nach der anderen hypnotisiert, um die Tatsache des posthypnotischen Befehls zu beweisen.
Des Bischofs war dabei mit keinem Worte Erwähnung getan worden. Bemerkt sei nur, daß Nobody über dessen Tod einen Bericht mit amtlichem Charakter aufgesetzt hatte, mit dem jetzt bereits eins der Mädchen nach Denver City unterwegs war, um die Behörde davon in Kenntnis zu setzen.
Wie eine Scheu hatte es alle abgehalten, von dem Toten zu sprechen, ebensowenig aber war auch ein Wort über den mit der Gefangenen entflohenen Indianer gefallen.
Und Nobody hätte doch so gern ein Rätsel lösen mögen - nämlich das Rätsel, wie dieses schöne, junge Mädchen, diese hochgebildete Künstlerin, sich solch einen Indianer zu ihrem Freunde - nein, nennen wir es gleich beim richtigen Namen, hatte sie es doch selbst gesagt: ihn sich zu ihrem Liebhaber erkoren haben konnte!
Wie in aller Welt mochte dieses ungleiche Verhältnis nur zustande gekomnken sein? Mochte der Indianerhäuptling ein noch so ritterlicher Charakter sein, in seiner Art ein Held, ein Held der Wildnis und der Wüste - er war und blieb doch ein Indianer, tief, tief unter dieser Künstlerin stehend, und auch sonst hatte Nobody der knochigen, hageren Gestalt absolut nichts Sympathisches zusprechen können; da läßt sich doch viel eher begreifen, daß sich etwa einmal ein gebildetes, mit irdischen Gütern gesegnetes Weib in einen bildschönen Zigeuner verliebt.
Aber, wie gesagt, es war ganz offenbar gewesen, mit welch ängstlicher Scheu die drei Freundinnen bemüht waren, kein Wort mehr über Ispanje zu verlieren, und so hatte Nobody auch keine Frage stellen dürfen.
Und jetzt wollte überhaupt keine Unterhaltung zustande kommen. Von dem Turm aus hatte Nobody die Spur des Pferdes, welches die beiden Flüchtlinge davongetragen, aufgenommen, und während die beiden ihre Tiere in schlankem Trabe zwischen den Bäumen hindurchlenkten, ließ er die Fährte, sich im Sattel etwas vorbiegend, nicht mehr aus den Augen.
So verging die erste Stunde. Dieses Schweigen wurde drückend.
Da wurde der bisherige Laubwald von Nadelbäumen verdrängt, die einen anderen, steinigeren Boden verlangen, dieser war mit Nadeln bedeckt, auf der elastischen Decke hatten die Pferdehufe kaum noch sichtbare Spuren hinterlassen; Nobody beugte sich noch tiefer über den Hals seines Tieres hinab.
Endlich brach seine Begleiterin das Schweigen.
»Es ist nicht nötig, daß wir die Spuren verfolgen. Der Häuptling hat sich natürlich zu seinem Stamm begeben.«
»Hat dieser denn einen festen Sitz?«
»Ja. Jeder Stamm der Arrapahos bewohnt eine Allantaje. So heißen in der amerikanischen Wüste die Distrikte, in denen mehr Vegetation gedeiht, so daß sich Pferde und Rinder und daher auch Menschen ernähren können. Die Allantaje entspricht also einer afrikanischen Oase. Es ist aber doch etwas anderes. Ihre Grenzen sind nicht so scharf gezogen, der Uebergang vom sterilen Boden zum üppigen Graswuchs erfolgt allmählich, da kommt stets erst ein meilenweites Gebiet der Heide, die Allantaje läßt stets auch Wald gedeihen, der für Feuerholz sorgt, was man in der afrikanischen Oase wohl schwerlich findet.«
Sie erzählte noch viel mehr von den Sitten und der Lebensweise der acht Stämme der Arrapahos, die sich in den Besitz der großen amerikanischen Wüste teilen, das war ja ein fast unerschöpfliches Thema, und Nobody sorgte dafür, daß die Unterhaltung nicht wieder ins Stocken kam.
Sie sprach allgemein von den Arrapahos, nicht von Ispanje. Noch da sie diesen Namen nun schon ausgesprochen hatte, konnte Nobody auch weiter fragen.
»Welchem Stamme gehört Ispanje an?«
»Sandeidechse ist der zweite Häuptling der Arrajoes. Das immer wiederkehrende Wort Arra bedeutet Krieger.«
»Der zweite Häuptling? Hat jeder Stamm mehrere Häuptlinge?«
»Ja, stets zwei. Die Häuptlingswürde ist nicht erblich. Die beiden besten Krieger werden zu Häuptlingen erwählt. Doch einen Rangunterschied zwischen den beiden gibt es nicht.«
Wieder ein unerschöpfliches Thema, welches Clarence jetzt behandelte.
»Wie weit ist die Allantaje der Arrajoes von hier entfernt?«
»Wenn wir unsere Tiere immer so in Trab halten können, haben wir sie heute abend erreicht.«
»Sie finden sich hin?«
»Mit untrüglicher Sicherheit. Ich habe den Weg hin und her oft genug gemacht, bei solchen häufigen Wiederholungen wird es zuletzt nur ein Spazierritt, und ich brauchte keine Merkmale zu haben, ich finde den Weg auch in finsterer Nacht. Es handelt sich auch nur um Einhaltung der Richtung. - Himmel!« unterbrach sich die Französin erstaunt. »Sind wir denn schon am Grenzgebirge?«
Der dichte Wald, der jeden Ausblick gehindert hatte, hörte plötzlich auf; vor ihnen in einiger Entfernung stieg ein hohes Gebirge empor.
»Kommt Ihnen denn der Anblick des Gebirges so unvermutet?«
Clarence blickte nach der Uhr, die an einem ledernen Armband befestigt war.
»Wirklich, schon drei Stunden sind wir unterwegs! Ja, dann freilich müssen wir auch schon hier sein. Ich glaubte, es sei erst eine Stunde. So schnell ist mir die Zeit vergangen.«
Also zwei Stunden lang hatten sie sich unterhalten, was wir hier natürlich nicht hätten wiedergeben können.
Sie ritten über die Steppe, die sich bis an das Gebirge hinzog, welches dem Flugsande der Wüste eine Schranke setzte.
Sie bogen in einen Paß ein, der kaum etwas anstieg, und Clarence erklärte, daß dieses Scheidegebirge von vielen solchen Einschnitten durchzogen würde, und es sei ganz gleichgültig, welchen man benutze, sie alle führten direkt in die Wüste.
»Dies ist der nächste Paß, der vom Schlosse aus zu erreichen ist.«
»Und diesen hat auch der Häuptling benutzt, ich habe seine Spur nicht aus den Augen gelassen, hier führt sie noch.«
»So?« erklang es gleichgültig zurück, aber ein langer Seufzer folgte nach.
Es trat wieder Schweigen ein, als sie durch den Engpaß ritten. Nobody bemerkte, wie sich seine Begleiterin mit so merkwürdig träumerischen Augen umsah, als ob ihr jeder Felsvorsprung eine Geschichte erzählen könne, und noch manchmal zitterte ein Seufzer über ihre Lippen.
Der Gebirgszug war nur sehr schmal, bald eröffnete sich vor ihnen die unendliche Wüste, doch nicht gelb, sondern eine weißgraue Sandfläche, es schien Flußsand zu sein, auch nicht so ganz steril, hier und da gediehen doch Grashalme und kleine Sträucher, und gerade vor dem Ausgange schlängelte sich quer über den Weg ein kristallklarer Bach, dessen felsiges Bett das Wasser nicht versickern ließ.
»Wir können sorglos hindurchreiten,« sagte Clarence, »wir sind zwar schon in der Wüste, aber in solchen seichten Gewässern hält sich kein Lollan auf.«
»Hält sich was nicht auf?«
»Kein Lollan. Ach so. Sie wissen noch nicht. Ja, die amerikanische Wüste beherbergt in ihren Flüssen einen Fisch, der nur ihr eigentümlich ist und der gelehrten Welt noch ganz unbekannt zu sein scheint. Es ist ein Zitteraal, der mit seinen elektrischen Entladungen Menschen und selbst Rinder töten kann.«
»Einen Zitteraal?!« rief Nobody erstaunt. »Hier in einem Klima, wo schon sehr strenge Winter herrschen?! Die Heimat des Zitteraals ist doch das äquatoriale Amerika, besonders in Cayenne kommt er häufig vor.«
»Da haben Sie ganz recht. Aber, wie gesagt, es ist eben eine andere Art von Zitteraal, welche nur in den Gewässern dieser Wüste vorzukommen scheint. Auch ist er sehr, sehr selten. Professor Harrich, der berühmte englische Zoologe, hat deshalb sich ein ganzes Jahr lang in der amerikanischen Wüste aufgehalten, hat die Indianer genug von dem Lollan erzählen hören, aber selbst keinen einzigen zu Gesicht bekommen, und die Erzählungen der Indianer über diesen elektrischen Zitteraal kamen ihm so grausig, so übertrieben vor, daß er den Lollan einfach in das Gebiet der Fabel verwiesen hat. Und dennoch existiert er wirklich, und ehe die Arrapahos durch einen Fluß reiten oder das Vieh zur Tränke treiben, versäumen sie niemals, erst das Wasser mit der Lanze zu peitschen.«
»Haben Sie schon einmal einen gesehen?«
Die Antwort ließ sehr lange auf sich warten.
»Ja, einmal,« erklang es dann leise, »und« ... hier machte sie wieder eine ihrer langen, langen Pausen, » ... ich habe auch einen Menschen unter den Qualen leiden sehen, die ihm die Berührung oder, wie die Indianer behaupten, der Biß des offenbar elektrischen Fisches bereitet.«
Entweder mußte das ein schrecklicher Anblick gewesen sein, oder hiermit war noch eine andere Erinnerung verknüpft, daß sie plötzlich so unsagbar schwermütig vor sich hinblickte.
»Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor,« brach sie von selbst wieder das Schweigen, »wie ich einen Indianer meinen intimen Freund nennen kann?«
Endlich! Sie selbst begann davon, wollte gefragt werden!
»Allerdings, ich gestehe es offen.«
»Ispanje hat auch mich schon einmal entführt.«
»Sie entführt?!« rief Nobody mit berechtigtem Erstaunen.
»Mich entführt, geraubt. Jaja,« setzte sie lächelnd hinzu, wenn es auch ein etwas schmermütiges Lächeln war, »ich kann auch etwas von Lederstrumpfgeschichten erzählen, auch ich habe schon einmal als gefangene Squaw in einem indianischen Wigwam gelebt.«
»Ach, bitte, erzählen Sie mir das doch ausführlich!«
»Sehr gern. Wir waren noch nicht lange hier, als Irma und ich einen kleinen Abstecher in die Wüste machten. Gefährlich war das durchaus nicht, die Brisbys hatten uns versichert, daß wir von den Arrapahos nichts zu fürchten hätten, wir wollten ja auch nur so einen kleinen Spazierritt machen, hatten zu Hause gar nichts davon gesagt.
»Gut, wir reiten los. Ein Wettlauf hinter einer Gazelle her. Dabei verlieren wir das Gebirge aus dem Auge. Ein Unwetter zieht herauf. Ohne Sonne können wir uns in der pfadlosen Wüste nicht orientieren, wir reiten immer nach Osten anstatt nach Westen, und so überrascht uns die Nacht.
»Zwei Tage sind wir in der Wüste herumgeirrt, ohne auf Wasser zu treffen. Vorbei! Wir nahmen Abschied voneinander und legten uns auf dem glühenden Sande zum Sterben hin. Was wir ausgestanden haben, kann ich nicht erzählen. Wir machten alle Qualen des langsamen Verschmachtungstodes durch.
»Wie er uns gefunden hat, weiß ich nicht. Ich sah ihn nicht kommen. Das spitze Ende eines Büffelhorns wurde mir zwischen die ausgetrockneten Lippen gesetzt, und ich trank, trank und trank.
»Es war der zweite Häuptling der Arrajoes, der uns gefunden. Zwei Tage lang mußte er uns noch begleiten, unterwegs uns durch Jagdbeute ernährend und dort Wasser aus dem Boden ziehend, wo niemand solches vermutet hätte, bis er uns an der Grenze des Tales wieder verließ.
»Eine Woche darauf kam er wieder, begleitet von einer Kavalkade seiner Krieger, die Rinder, Pferde, Zaumzeug, gegerbte Felle und andere Sachen mit sich brachten, die das Herz eines Indianers erfreuen. Das sollte der Kaufpreis für die Braut sein. Die Sandeidechse warb nämlich in aller Form um meine Hand. Denken Sie sich, ich sollte dem Indianerhäuptling als seine Squaw in seinen Wigwam folgen!«
Die Erzählerin brach noch jetzt in ein helles Lachen aus, aber es klang nicht recht natürlich.
»Na, das mußte ich ihm natürlich abschlagen, so leid es mir auch tat. War er doch mein Lebensretter. Aber so weit, deshalb eine Squaw zu werden, geht die Dankbarkeit denn doch nicht.
»Die Indianer ritten wieder ab, ohne im Schloß auch nur einen Trunk Wasser angenommen zu haben, viel weniger die ihnen angebotenen Geschenke. Den Brisbys kam diese Verweigerung der Gastfreundschaft gleich verdächtig vor. Doch wir waren gewappnet, und die Zeit verging, ohne daß etwas passierte.
»Eines Nachts promenierte ich im Park, ganz dicht am Schloß. Da springt eine dunkle Gestalt hinter den Bäumen hervor, und ehe ich auch nur an eine Gegenwehr denken kann, sitze ich schon auf einem Pferde, werde von starken Armen umschlungen, fort ging's in sausender Karriere.
»Geraubt muß das Liebchen werden, sagen die Kirgisen. Die Indianer halten es ja nicht viel anders, wenn die Auserwählte einem anderen Stamme angehört. Der Kaufpreis der Braut wird eigentlich erst hinterher angeboten. Bei mir hatte Ispanje nur eine Ausnahme gemacht. Da ich aber nicht eingewilligt hatte - gut, so wurde ich eben hinterher geraubt.
»In dem Lager der Arrajoes wurde ich mit Jubel empfangen. Ispanje führte mich in einen neuaufgerichteten Wigwam.
» ›Jetzt bist du mein Weib, morgen ist die Hochzeit, hier ist unser Wigwam, hier wirst du für mich kochen und meine Sachen ausbessern, und du sollst es gut bei mir haben.‹
»So sprach er zu mir.
»Ich zog ihm mit einem schnellen Griff das Messer aus dem Gürtel und setzte es gegen meine Brust.
» ›Du hast mir das Leben gerettet, du kannst es mir auch wieder nehmen, und ich selbst werde es tun, sobald du mich zu berühren wagst!‹
»Seine Hand war noch schneller als die meine, er entwand mir das Messer wieder. Aber eine weitere Gewalt brauchte er nicht.
» ›Du willst nicht mein Weib werden?‹
» ›Nein, niemals!‹
» ›Du liebst mich nicht?‹
» ›Nein!‹
» ›So werde ich dich dazu zwingen.‹
» ›Und ich werde mich zu töten wissen.‹
» ›Du sollst mich lieben lernen!‹
»Zwölf Tage lang wurde ich in dem Wigwam gefangengehalten. Die Brisbys hatten meinen Aufenthalt bald herausgebracht; mit einer freiwilligen Herausgabe war natürlich nichts, Kampf oder List hätten nichts genützt, und ich verbat mir, daß die Regierung davon benachrichtigt wurde. Erstens wollte ich ein Blutvergießen vermeiden, denn hier wäre es zu einem Vernichtungskampf gekommen, und zweitens hatte ich einen anderen Grund, oder eigentlich war gar kein Grund vorhanden, daß ich mit Gewalt befreit werden mußte.
»Denn ich sage Ihnen, diese halbnackte Rothaut hat sich mir gegenüber wie ein Gentleman benommen - wie ein Gentleman, wie ich ihn unter den zivilisierten Bleichgesichtern noch nie gefunden habe. Ich wenigstens nicht.
»Geradezu rührend war es, wie er mich während dieser zwölf Tage behandelte, wie er mich pflegte, wie er mir aufwartete, mir die besten Bissen vorsetzte, wie er mir immer schweigend gegenüber saß und kein Auge von mir wendete. O, was konnten diese Augen alls erzählen! Ja, es war rührend.
»Und ich wurde schwankend. Ja, diese stumme Verehrung, diese wahre Liebe drohte mich wirklich zu bezwingen. Ich gestehe, daß ich da eine besonders veranlagte Person bin. Ich denke frei. Und was konnte dieser Mann dafür, daß er eine halbnackte Rothaut war, daß er keine Schule besucht hatte und so weiter? Auch noch etwas anderes kam hinzu. Die Frauen der Arrapahos werden nicht etwa anders behandelt, als es sonst bei den Indianern üblich ist. Auch sie sind nichts weiter als Lasttiere, welche unter der ihnen aufgebürdeten Arbeit frühzeitig zugrunde gehen. Von ehelicher Liebe gar keine Spur. Aber dieser Häuptling hier wußte eben, daß ich eine andere war, und so behandelte er mich auch anders, respektvoll; seine Handlungsweise entsprang einer echten Liebe!
»Und ich grübelte und grübelte. Zeigte das nicht, daß unter dieser roten Haut ein großes, edles Herz steckte? War dieses nicht bildungsfähig? Warum sollte ich ihn nicht beglücken? War das nicht geradezu Egoismus, wenn ich es nicht tat?
»Doch nein, nein, nein!!! Mit meiner letzten Kraft schrie ich dieses Nein. Als Squaw im Wigwam eines Indianers, für immer fern von aller Kultur - es war mir unmöglich.
»Am dreizehnten Tage sagte er ›Komm!‹ und berührte mich zum ersten Male wieder, um mich abermals auf sein Pferd zu heben, und ich sehe noch sein todtrauriges Gesicht.
» ›Wohin?‹
» ›Ich bringe dich zurück zu deinen Freundinnen, die du mehr liebst als mich.‹«
Die Erzählerin machte eine Pause. Mit feuchten Augen blickte sie sinnend vor sich hin.
»Alle Wetter, das nennt man Edelmut und Großherzigkeit!« sagte Nobody. »Auch ich habe edle Indianer genug kennen gelernt, aber so etwas - das ist einfach großartig!«
»Ja. Aber ich war hart - oder vernünftig. Ich bin etwas ideal veranlagt, aber die Vernunft behält bei mir doch immer die Oberhand.
»So ritten wir ab, noch von zwei anderen Indianern begleitet. Wir sollten nicht weit kommen.
»Wenige Meilen hinter der Allantaje mußten wir einen tiefen, breiten Fluß passieren. Ich, auf eigenem Pferde sitzend, schwamm neben dem Häuptling, dessen Hand meinen Zügel hielt. Da plötzlich sah ich etwas wie einen grünen Strahl durch das Wasser dicht vor meiner Brust vorüberschießen, da hatte sich dieses Etwas schon um den nackten Arm des Häuptlings geschlungen, und dieser schrie auch schon laut auf.
»Kaum kann ich es Ihnen erzählen. Mit Mühe brachten wir ihn ans Ufer, wo er sich in Krämpfen am Boden wälzte. Ein Lollan hatte ihn gebissen - meiner Ansicht nach ihn nur berührt, ihm einen elektrischen Schlag beigebracht. Die Wirkung ist eine entsetzliche. Der Häuptling mußte schreckliche Qualen ausstehen. Schaum trat ihm vor den Mund, die Glieder verrenkten sich, die Muskeln, wie Stränge traten sie aus seinem Leib hervor - es war ein entsetzlicher Anblick.
»Die beiden Indianer konnten ihm nicht helfen, er war rettungslos dem Tode verfallen, der mit Starrkrampf endet. Sie kennen doch die stoische Ruhe, mit der jeder Indianer alle Schmerzen erträgt. Besonders der Arrapaho leistet Großes hierin. Aber hierbei hört alles auf. Der Häuptling wand sich wie ein Wurm und wimmerte um Erbarmen, man möge ihm doch ein Messer ins Herz stoßen.
»Einer der roten Krieger hatte denn auch schon sein Messer gezogen. Ich hinderte ihn an dem Gnadenakt. So etwas geht eben gegen unsere Natur. In seiner Todesangst haschte Ispanje nach meiner Hand - und in demselben Augenblick, da er sie berührte, faßte, hörten auch die Krämpfe auf.
»Und dabei blieb es. Solange ich seine beiden Hände gefaßt hielt, war er frei von Schmerzen, konnte sogar aufstehen - sobald ich sie losließ, begann er wieder zu toben. Ob von mir nun eine geheime Kraft ausgeht, oder ob man das Sympathie nennen soll - es war so.
»Ich will mich kurz fassen. Wir brachten den Häuptling zurück, und länger als vier Wochen habe ich in seinem Wigwam neben ihm gesessen, neben ihm geschlafen, seine Hände nicht aus den meinen lassend. Versuche ergaben, daß die Krampfanfälle schwächer und schwächer wurden, bis sie ganz aussetzten, um nicht wiederzukehren.
»Ich brauche wohl kaum noch etwas hinzuzufügen. Vier Wochen so Hand in Hand zu leben - es ist eine gar lange Zeit. Und aus Mitleid wird leicht Liebe. Vielleicht war die Liebe bei mir auch schon da. Kurz und gut, wir wurden Mann und Frau, ohne Segen des Priesters, und auch eine indianische Hochzeit wollte ich nicht haben. Auch für immer in den Wigwam wollte ich natürlich nicht gehen, und Ispanje kann von seiner Wüste nicht lassen. Hat nichts zu sagen. Wir besuchen uns gegenseitig, es ist ja nur ein Spazierritt. Es ist eine etwas eigentümliche Ehe, aber eine glückliche. Leider hat uns der Himmel bisher kein Kind beschert.«
Nobody empfand diesen letzten Seufzer durchaus nicht komisch. Im Gegenteil, jetzt erst fühlte er, was diese Frau leiden mußte, daß der Häuptling mit einer anderen geflohen war, und er bewunderte nur ihren Charakter, daß sie dem Flüchtling nachsetzte, um ihn womöglich zurückzubringen - oder für immer sich von ihm zu trennen.
Gegen mittag wurde ein Gehölz sichtbar, auf das auch die Spuren zuliefen.
»Ich wundere mich, daß der Häuptling so gar nichts getan hat, um seine Spuren zu verwischen,« sagte Nobody. »Gelegenheit hierzu hätte er öfters gehabt, so in den Flußbetten.«
»Ein Häuptling der Arrapahos verschmäht, seine Spur zu verstecken,« lautete die Antwort, und sie klang stolz. »Er will vielleicht sogar verfolgt werden, um seinen Verfolgern dann entgegenzutreten.«
Da plötzlich kamen ihnen andere Pferdespuren entgegen! Doch auch diese Spur hatte wieder geendet, lief wieder nach dem Gehölz hin.
Nobody sprang ab und verglich die Eindrücke der Pferdehufe in dem losen Sand.
»Es ist das Pferd des Häuptlings. Er ist nach dem Gehölz geritten, von dort wieder zurück, hier hat er abermals gewendet.«
Was sollte dieses zweimalige Umkehren bedeuten? Es gab keine Erklärung dafür. Höchstens konnte man annehmen, daß der Häuptling unterwegs etwas verloren hatte, was er hier wiederfand. Aber abgestiegen war er nicht.
In dem Gehölz, das seine Existenz einem Bache und günstigem Boden verdankte, wurde eine noch frische Feuerstelle gefunden. Hier hatte der Häuptling mit der Gefangenen gelagert, nachdem er zuvor ein Wasserhuhn erlegt hatte, das am Feuer zubereitet worden war. Dies konnte nur ungefähr bei Tagesanbruch geschehen sein.
Der erfahrene Fährtensucher konnte aus den hinterlassenen Spuren und aus anderen Merkmalen, die nur seinem Auge sichtbar waren, noch mehr erspähen, so zum Beispiel, daß die Gefangene ungefesselt war, und daß sie allein das Huhn gegessen habe. Der Indianer hätte keine Speise berührt.
Auch die beiden hielten hier eine Mittagsrast und aßen von dem mitgenommenen Proviant. Dann wurde die Verfolgung der Fährte fortgesetzt, welche zur Verwunderung der Französin nicht nach Osten, sondern direkt nach Süden führte.
»Was will Ispanje mit der Gefangenen dort?« rief sie nach einigen Stunden. »Das sieht ja fast geradeso aus, als ob er das Lager der Arraskas aufsuchen wolle!«
Ihr Staunen sollte bald noch größer werden, und auch Nobody wußte zuletzt nicht mehr, was er über das Verhalten des Häuptlings denken solle.
Wir müssen uns kurz fassen; denn über der Verfolgung der Fährte verging noch eine Nacht und dann auch noch ziemlich der nächste Tag.
Und während dieser vierundzwanzig Stunden hatte der Häuptling zahllose Male die Richtung geändert, er hatte manchmal direkt sein Roß herumgeworfen und war nach der entgegengesetzten Himmelsgegend geritten, er hatte sich gleich im Kreise gedreht, nur wenige Schritte dorthin und gleich wieder zurück, um dann abermals eine andere Richtung einzuschlagen.
Was sollte das? Von einem Irreführen konnte keine Rede sein, die Spur selbst war niemals verwischt oder versteckt worden.
»Der weiß nicht, was er will.«
»Ispanje weiß immer, was er will,« verteidigte Clarence den Häuptling.
»Dann ist er geisteskrank geworden,« erklärte Nobody in seiner trockenen Weise.
Dabei war nicht daran zu denken, daß man den Flüchtling einholen konnte, obgleich er doch immer so planlos im Zickzack hin und her geirrt war; denn Nobody konstatierte, daß er während der Nacht gar nicht gerastet hatte, immer durchgeritten, und dabei war das Pferd trotz seiner doppelten Belastung mindestens immer im schnellsten Trab gelaufen!
Am Nachmittage des zweiten Tages wurde das Auge wieder einmal durch ein Gehölz erfreut. Auch die Spuren liefen wieder darauf zu. Doch abermals war hier keine Rast gehalten worden.
Erst am anderen Saume des Gehölzes, durch das ein Bach floß, erkannte Nobody, daß der Indianer hier einmal abgestiegen war. Auch die Gefangene war aus dem Sattel gekommen, war herabgehoben worden, hatte sich am Bachesrand niedergekniet ... und Nobody konstatierte aus den zurückgelassenen Spuren der Hände mit Sicherheit, daß sie jetzt gebunden war.
»Merkwürdig, sehr merkwürdig,« brummte Nobody, »das alles geht wirklich nicht mit rechten Dingen zu.«
Da erscholl ein Jubelruf. Clarence, die sich unterdessen nach dem anderen Saume des Holzes begeben hatte, dort ihr Pferd grasen lassend, hatte ihn ausgestoßen.
»Ispanje!!«
Schnell war Nobody an ihrer Seite. Da kam er wirklich, abermals seine eigene Spur rückwärts verfolgend, vor sich im Sattel die Gefangene.
Er hatte den Ruf gehört, er zügelte sein Pferd, dessen Benehmen verriet, wie sein Herr erschrak, und er riß es herum und jagte in gestreckter Karriere davon.
»Ispanje, Ispanje, komm zurück, ich verzeihe dir alles!!«
Nobody hatte nicht etwa verstanden, was seine Begleiterin in Seelenangst gerufen, es war eine für ihn fremde Sprache gewesen, aber er war überzeugt, daß es keine anderen Worte gewesen waren, das hatte schon im Tone gelegen.
Und siehe da, wieder wurde das Pferd gezügelt, langsam kehrte es um, es zögerte, immer ganz die Stimmung seines Herrn ausdrückend, und dann sprengte es auf das Wäldchen zu, wo die beiden standen.
Die Gefangene, deren Hände gebunden waren, wurde herabgelassen, sie fiel gleich zu Boden, der Indianer stieg langsam aus dem Sattel, zog sein langes Skalpiermesser aus dem Gürtel und schritt auf die beiden zu.
Das klingt gefährlicher, als es aussah. Clarence wenigstens tat nichts zur Abwehr, und auch Nobody ahnte gleich etwas, er las etwas in den dunklen Zügen.
Da wandte sich ihm seine Begleiterin hastig zu.
»Sir, ich bitte ...« sagte sie in flehendem Tone.
Mehr brauchte sie auch nicht zu sagen, Nobody ging schon von allein.
Doch er zog sich nicht sofort in das Wäldchen zurück, um nicht zu hören und zu sehen, was jetzt zwischen den beiden vor sich ging, sondern er begab sich erst zu der Gefangenen, hob sie auf und nahm sie mit sich in den Wald.
An einer versteckten Stelle ließ er sie nieder. Das Weib war völlig erschöpft, konnte sich nicht mehr auf den Füßen halten, war mit einem Male um viele Jahre gealtert, ganz hager geworden. Merkwürdig wirkte es auch, wie es in dem schwarzen Haare jetzt so rot glänzte. Sie hatte es ja nicht mehr färben können.
»Sir, töten Sie mich, oder befreien Sie mich aus den Händen dieses entsetzlichen Indianers!« stöhnte sie mit röchelnder Stimme.
Nobody durchschnitt die Lederriemen, die ihre Hände barbarisch gefesselt hatten, gab ihr Wasser zu trinken, wusch die blutrünstigen Stellen und brachte sie nach und nach zum Sprechen.
Beim Anblicke des Detektivs, der das Gespräch im Turm belauscht hatte, war sie natürlich nicht minder entsetzt gewesen als der Bischof. Nur daß sie nicht geflohen war. Dabei muß bemerkt werden, daß sie in dem plötzlichen Auftauchen einer dritten Person nichts Unerklärliches fand. Das Turmgemach brauchte ja nur einen geheimen Eingang zu haben, dann war alles erklärt. Und Clarence wie ihre Freundinnen wußten noch gar nicht, was da eigentlich vor sich gegangen, weshalb der Bischof eigentlich geflohen war; denn wie gesagt, über diese ganze Angelegenheit war dann gar nicht mehr gesprochen worden.
Die Gefangene - nennen wir sie bei ihrem Vornamen Harriet - war also starr vor Entsetzen, daß ihr Gespräch belauscht worden, zurückgeblieben.
Da war der Indianer hereingekommen, hatte sie einfach auf den Arm genommen, hinuntergetragen, wobei er ihr hart eine Hand auf den Mund preßte, auf ein Pferd gehoben, fort ging es in rasender Flucht.
»Wohin?«
»Schweig!« wurde sie rauh angeherrscht.
Und dabei blieb es. Ob ihr der Indianer eine Liebeserklärung oder so etwas Aehnliches gemacht habe? Gar keine Ahnung. Von Liebe nicht die geringste Spur. Eher das Gegenteil.
Nach stundenlangem Ritte wurde Rast in einem Wäldchen gemacht, der Häuptling fing mit den Händen ein schlafendes Huhn, briet es, er selbst aber genoß keinen Bissen, und während sie aß, wurde sie von ihm unverwandt eher mit haßerfüllten denn mit liebevollen Blicken betrachtet.
Ohne Schlaf ging es dann weiter, die Nacht hindurch und den folgenden Tag, aber nicht geradeaus, sondern immer im Zickzack, in Bogen; der Indianer kehrte um, ritt zurück und kehrte wieder um, und das abermals eine ganze Nacht hindurch: der Häuptling kannte so wenig Müdigkeit wie sein ihm an Magerkeit ähnlicher Gaul. Harriet schlief wohl ein, aber im Reiten war das doch kein Schlaf zu nennen, und dann schnürte der Unhold ihr auch noch die Hände zusammen, ohne einen Grund hierfür gehabt zu haben.
»Heute mittag kehrte er abermals um, so ist er bis jetzt wieder zurückgeritten, ohne diesmal die einmal eingeschlagene Richtung zu ändern und ohne ...«
Das Weib fiel zurück, war mitten im Wort eingeschlafen.
Nobody schüttelte nicht den Kopf ob des Gehörten. Für ihn lag jetzt nämlich kein Rätsel mehr vor, er konnte sich alles erklären.
Doch davon später. Daß sie eingeschlafen war, paßte ihm gerade. Er schöpfte einen Becher Wasser, träufelte aus der Phiole einige Tropfen hinein, wußte die Schlafende zum Schlucken zu zwingen.
Als er ihre Lider zurückschob, zeigte sich vom Auge nur das Weiße.
»Hörst du mich sprechen?«
»Ja.«
»Du wirst mir gehorchen!«
»Nein.«
»Du willst mir nicht gehorchen?«
»Nein, es ist mir verboten.«
»Was ist dir verboten?«
»Mich hypnotisieren und ausfragen zu lassen.«
»Wer hat dir das verboten?«
Das Weib, obgleich es hypnotisiert war, antwortete gar nicht mehr, und Nobody gab sich auch keine Mühe mehr. Die gehörte eben mit zu jenen, welche von einem Manne gegen Hypnose gefeit worden waren, der sich den Padischah el Kore genannt hatte, den Herrn der Erde, einmal auch Sinclaire, ein andermal Mephistopheles. Hier war jede Mühe umsonst.
Mit über der Brust verschränkten Armen betrachtete Nobody die Schlafende. Was hätte die ihm wohl alles beichten können, wenn sie nicht so gefeit gewesen wäre? Es war eben seit einiger Zeit alles ... wie verflucht!
Und was machten die beiden anderen? Hatte der Indianer die Geliebte, der er untreu geworden, schon abgeschlachtet? Denn wozu war er denn mit blankgezogenem Messer auf sie zugegangen?
Nobody dachte hierüber höchst phlegmatisch. Er pfiff sich ein Lied - ein Lied von der Liebe, die von Zigeunern stammen soll und weder Recht, Gesetz noch Macht kennt. O ja, ein Gesetz kennt sie wohl - aber das steht nicht im bürgerlichen noch in einem anderen Gesetzbuche.
Da kam sie wieder. Ihr Gesicht sagte schon viel. Dieses sonst so ernste Gesicht strahlte jetzt vor Seligkeit. Und auch Nobody befand sich in einer recht humoristischen Stimmung. Aber er mußte seinen Humor immer mit Spott und Ironie würzen.
»Na, da sind Sie ja wieder! Und Sie leben noch? Ich dachte, er hätte Sie abgemorkst.«
»O nein, sondern ...«
»Aber Sie haben ihm das Messer ins Herz gestoßen? Hören Sie, machen Sie mir nichts vor, das glaube ich Ihnen nicht.«
»Scherz beiseite, er gab mir einen ...«
Plötzlich hatte Nobody, der sich wieder einmal von seiner unverbesserlichen Seite zeigte, einen Finger im Munde, ließ ihn abschnellen, und es gab einen Knall wie von einem Champagnerpfropfen.
Die Französin konnte sich nicht mehr helfen, sie mußte aus vollem Halse lachen. Dann aber wurde sie wieder ernst.
»O, Sie Böser, was haben Sie mir vorgestern nacht für Angst eingejagt! Und nun zeigt sich zum Glück, das Ihre Theorie ganz falsch ist.«
»Durchaus nicht, Madam. Ist Ispanje nicht wirklich mit der Gefangenen davongeflohen? Aber der liebe Gott sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Das ist eine sehr beliebte Redensart von mir, und ich gebrauche sie eben deswegen so häufig, weil ihr eine so herrliche Wahrheit zugrunde liegt. Der posthypnotische Befehl kann bewirken, daß jemand statt eines Apfels eine rohe Kartoffel ißt, daß jemand zu einer bestimmten Stunde da und dorthin geht - aber vergebens wird man in der Hypnose einer Mutter den Befehl geben, daß sie später, nach dem Erwachen, zu einer bestimmten Stunde ihr geliebtes Kind ohne Grund mit der Rute züchtigt, oder ihm gar Gift in die Milch gibt. Nein, so weit geht die Gemütlichkeit nicht, auch nicht in der Hypnose. Dann hörte ja auch alles auf, dann würde ich mich noch heute aus diesem Jammertal, Erde genannt, mit einer Kugel durchs Gehirn verabschieden.«
Die beiden brauchten weiter keine Verständigung. Es waren tiefe, gewaltige Worte gewesen, die Nobody gesprochen. Und auch der geneigte Leser wird sie verstehen.
Wegen Ispanjes Verhalten nur eine kleine Andeutung: Jedenfalls hatte der Bischof den Häuptling aufgesucht und in Hypnose versetzt, als sich die vier Frauen im Turme befanden und Nobody hinten bei dem Pferde, hatte ihm den posthypnotischen Befehl gegeben, die Gefangene bei der ersten besten Gelegenheit zu befreien, zu entführen - ob da Liebe mit ins Spiel kam, das war jetzt nicht mehr zu konstatieren, Ispanje wußte ja selbst nichts mehr davon.
Aber er hatte dem hypnotischen Befehle gehorcht. Doch vielleicht gleich mit dem dumpfen Gefühle, daß er etwas Unrechtes, etwas Sinnloses täte. Und dieses Gefühl wurde immer stärker. Er wollte umkehren - da wirkte wieder der Befehl - also wieder umgekehrt - und so immer wieder hin und her, eine Beute seiner unklaren Empfindung. Der arme Kerl wußte ja gar nicht, was mit ihm eigentlich vorging.
Die Tugend siegt immer! Immer!!! Und wenn es manchmal aussieht, sogar ›mehrschtenteels‹, als ob in dieser Welt gerade das Gegenteil der Fall wäre, so kommt das nur daher, weil wir armen Menschlein so kurzsichtig sind. Ach, so kurzsichtig!
Es gibt in dieser Welt nichts Unerbittlicheres als die Gerechtigkeit des Schicksals!!!
Und auch in diesem Falle hatte die Tugend, die Wahrheit gesiegt! Heute mittag war es dem braven Indianerhäuptling voll und ganz zum Bewußtsein gekommen, daß er eine große Dummheit begangen, und diese Erkenntnis hatte die letzten Schatten des posthypnotischen Befehls bei ihm beseitigt. Da hatte er dem Weibe die Hände gebunden und war definitiv umgekehrt, um die Gefangene zurückzubringen.
Da sah er sie, sie, der seit zwei Tagen und Nächten all seine Gedanken gegolten, derentwegen auch die Augen dieses stolzen Indianers manche Zähren vergossen hatte.
Flucht! Nein, keine feige Flucht! Der erneute Zuruf wäre gar nicht nötig gewesen. Also wiederum umgekehrt, sich als Sünder bekannt, nicht reumütig, sondern immer noch stolz, ihr das Messer gereicht, die entblößte Brust hingehalten, und die blasse Geliebte hatte ihm denn auch das Messer aus der Hand genommen, aber nicht, um es ins Herz zu stoßen, sondern ... Nobody hatte den Champagnerpfropfen knallen lassen.
Sie hatten sich wiedergefunden, und alles war verziehen. Diese beiden brauchten noch weniger Erklärungen abzugeben.
»Aber der Bischof hat doch auch meiner Freundin Liebe zu sich suggeriert, und es wirkte, und das ist doch auch etwas ganz Unnatürliches.«
»Das ist auch etwas ganz anderes. Das gleicht schon mehr der rohen Kartoffel, die man als schmackhaften Apfel verspeist. Nichts ist leichter, als einem Weibe Liebe zu suggerieren. Pardon, aber es ist so. Das Weib ist zur Liebe geboren - das ist doch nur ein Kompliment. Schließlich wäre auch Ihre Freundin aus dem Taumel erwacht, da aber müssen Sie bedenken, daß dann der Bischof doch die Macht besaß, sie immer wieder von neuem seinem dämonischen Willen unterzuordnen. Doch lassen wir das jetzt. Wo ist denn nun Ihr Herr Gemahl? Vor mir braucht er sich nicht zu genieren.«
»Sir, ich bitte Sie ...«
»Pardon. Meine ungezogenen Worte kommen nur von übersprudelnder Freude her. Ja, wo ist er denn aber?«
»Er ist nach seiner Allantaje geritten - aber er kommt wieder zu mir ins Schloß,« setzte sie eifrig hinzu.
»O, das brauchen Sie mir nicht erst zu versichern, daran zweifle ich nicht im mindesten. Kommt er denn wieder hierher?«
»Nein, hierher nicht, er ist ... Sie können sich doch denken ...«
»Hm, weiß schon. Nun hat er uns also die Gefangene auf den Hals geladen. Da können wir sie wieder zurückschleppen. Na, ich bin ein guter Mensch.«


Nach einer sehr gedrückten Stimmung war jetzt die fidelste eingetreten. Nun sollte aber auch gleich der Ruhe gepflegt werden, die sie reichlich verdient hatten. Ein Feuer wurde angemacht, Nobody erlegte einige Wasservögel, nur die Gefangene nahm an der Mahlzeit nicht teil, weil sie noch immer in tiefem Schlafe lag, und noch nicht einmal die Dämmerung war angebrochen, als auch Clarence sich niederlegte, um vor dem nächsten Morgen nicht wieder zu erwachen.
Nur Nobody wußte nichts von Schlaf. Er stopfte aus dem abgeschabten Lederbeutel die kleine Meerschaumpfeife, deren Kopfrand schon ganz ausgebröckelt war und deren kurzes Weichselrohr kürzer und immer kürzer wurde, ohne daß er es jemals durch ein neues ersetzte. Diese Pfeife hatte ihn ja schon so viele Jahre kreuz und quer durch alle Welt begleitet, hatte ihm schon bei so manch einsamer Nachtwache treue Gesellschaft geleistet.
So auch in dieser Nacht. Rauchend saß er auf einem gestürzten Baumstamm, und kaum daß er jemals seinen sinnenden Blick von dem Weibe wandte, das wieder seine Gefangene geworden war.
Was nun mit ihr beginnen? Das liebste wäre ihm gewesen, wenn sie jetzt in den Tod hinübergeschlummert wäre. Denn aus seinen Händen und unter andere Menschen kommen durfte sie nicht wieder, das stand bei ihm fest, und das war der Kernpunkt, um den sich während der ganzen Nacht seine Gedanken drehten.
Als die Sterne zu erbleichen begannen, musterte er noch einmal den Himmel, vergewisserte sich über die Stellung der Sternbilder, merkte sich genau den Punkt, wo am Horizont das erste rote Feuer der Sonnenscheibe sichtbar ward, und nun war er orientiert. Dann klopfte er seine zehnte Pfeife aus und weckte die unersättlichen Schläferinnen. Noch ein Imbiß, dem jetzt auch die Gefangene mit Heißhunger zusprach, und es ging wieder dem Westen zu, die Gefangene vor Nobody im Sattel.
Natürlich wurden nicht die alten Spuren rückwärts verfolgt, sondern der kürzeste Weg wurde gewählt, deshalb eben hatte sich ja Nobody am Himmel orientiert, der auch ganz deutliche Wegweiser hat für den, der sie zu lesen versteht.
So kamen sie auch durch ganz andere Gegenden, was sich besonders durch den fast schwarzen Sand bemerkbar machte.
Gegen Mittag erreichten sie einen ziemlich breiten Fluß, den sie ebenfalls auf dem Herweg nicht passiert hatten.
Clarence, die etwas voraus war, trieb sofort ihr Pferd hinein, das Bad tat bei der herrschenden Hitze Menschen und Tieren gut. Nobody folgte. Als der Rücken seines Pferdes unter Wasser kam, schwang er sich aus dem Sattel, um das Tier zu erleichtern, ergriff mit der einen Hand den Zügel, mit der anderen Harriets Handgelenk, und schwamm so nebenher.
Clarence hatte das Ufer erreicht, gleich darauf watete Nobody neben seinem Pferde hinauf.
»Erst hinterher denke ich daran,« sagte Clarence, »es war eigentlich sehr unvorsichtig ...«
Ein gellender Schrei unterbrach sie, die Gefangene, von Nobody einmal losgelassen, warf die Arme empor und stürzte unter einem entsetzlichen Geschrei seitlich aus dem Sattel.
Fast in demselben Augenblick sah Nobody unter den Röcken der am Boden Liegenden etwas Grünes hervorkommen, wie eine metergroße Schlange, oder wie ein Aal, das Tier strebte wieder dem Wasser zu, aber nicht wie eine Schlange oder wie ein Aal auf dem Trocknen, sondern es schnellte so, wie es viele Fische verstehen. Nobody bemerkte noch, daß das Tier einen seltsam geformten Schwanz besaß, der sehr an den einer Klapperschlange errinnerte, und dann war es in seinem Elemente verschwunden.
»Ein Lollan - sie ist von einem Lollan gebissen worden!!« schrie Clarence, sprang aus dem Sattel, eilte auf die Unglückliche zu und ergriff ihre beiden Hände.
Glaubte sie, sie vermöchte wirklich solch eine geheimnisvolle Einwirkung, die sich in jedem Falle bewähre? In diesem Falle wenigstens versagte ihre Kraft.
Jetzt hatte Nobody selbst solch einen Anblick. Er spottete aller Beschreibung. Von dem Weibe waren ja nur Gesicht, Hals und Hände zu sehen, und dieses Gesicht, der Hals und die Hände waren wie verdreht, ganz verzerrt, das Gesicht sowohl wie jeder einzelne Finger, und besonders am Halse trat jede Ader und jede Sehne in fürchterlicher Weise wie Stränge hervor.
Doch genug. Es spottet ja eben jeder Beschreibung.
»Nobody, Nobody, helfen Sie, helfen Sie!!« schrie die mitfühlende Französin außer sich.
Und Nobody sprang hin, ergriff die Gelenke der sich ihm entgegenstreckenden Hände, mit dem festen Vorsatz: Ich will dir helfen!
Gibt es eine Wirkung der Willenskraft? Na und ob! Doch wir wollen uns hierüber nicht weiter auslassen.
»Ich will dir helfen!!! Schmerz, weiche von ihr!!!«
Auf diese Worte konzentrierte Nobody all seine Willenskraft, mit der er sich schon so oft selbst besiegt hatte.
Und siehe da, was diesmal der Französin nicht gelang, weil sie für diese Person eben keine Sympathie besaß, das vollbrachte Nobody durch seine Willenskraft - kraft seines Willens!!
Kaum hatte er ihre Hände ergriffen, als die geschwollenen Muskeln und Sehnen und Adern zurücktraten, die verrenkten Glieder streckten sich in ihre natürliche Lage, das fürchterliche Geschrei verwandelte sich in ein Röcheln der Erlösung.
Da freilich wurde der helfenwollende Heilmagnetiseur zum physiologischen Experimentator. Er ließ ihre schlaffgewordenen Hände einmal los - sofort traten die Krämpfe mit erneuter Heftigkeit auf. Wieder zugegriffen - wieder verschwand der Anfall.
Aber auch die Unglückliche wußte jetzt, woher sie Hilfe zu erwarten hatte.
»Lassen Sie mich - nicht mehr - los,« röchelte sie mit fliegendem Atem, ohne in diesem Zustande der Erschöpfung die Kraft zu haben, selbst die Hände festzuhalten, »ich will auch - alles - gestehen.«
Aahh! Da freilich erwachte in dem physiologischen Experimentator der Detektiv, der Untersuchungsrichter. Dieser Zustand schien sogar jeden hypnotischen Befehl aufzuheben.
»Was haben Sie zu gestehen?«
»Ich habe - Charles Bowell ermordet.«
Das war für Nobody nichts Neues mehr. Jetzt aber kam es darauf an!
»Auf wessen Befehl?«
»Auf Befehl - des - Meisters.«
»Wer ist dieser Meister?«
Noch einmal wollte der Widerstand aufkommen.
»Sprechen Sie, oder ich lasse los!«
Abermals ein gellender Schrei - und doch hatte Nobody nur so getan, als wolle er die Hand zurück ziehen.
»Nun, wer ist dieser Meister?«
»Der - Herr der Erde.«
Nobody blickte nach Clarence, welche als Zuhörerin daneben stand.
»Bitte, Mademoiselle, lassen Sie uns allein, es handelt sich hier um ein ...«
»Selbstverständlich,« entgegnete die Französin und begab sich außerhalb der Hörweite.
Wohl eine Stunde mußte sie warten. Noch einmal gellte der entsetzliche Weheschrei, die Unglückliche wimmerte um Erbarmen, bat, doch nicht ihre Hände loszulassen. Clarence erzitterte. Ja, es war furchtbar, zu solchen Zwangsmitteln zu greifen, aber ... er war ein Detektiv, hatte die Beschützung der Menschheit zu seinem Berufe gemacht, und hatte Clarence nicht selbst schon erkannt, was für gemeingefährliche Subjekte, wahrhafte Bestien in Menschengestalt, man hier vor sich hatte? Da war alles erlaubt.
Endlich wurde sie wieder gerufen. Nobody hielt noch immer die Hände der am Boden Liegenden. Aber, Himmel, wie er aussah! Die Künstlerin hätte nimmermehr geglaubt, daß diese sonst so eisernen Züge solch einen verstörten Ausdruck annehmen könnten. Außerdem standen auf seiner Stirn dicke Schweißtropfen.
»Ja, wie soll das aber nun werden?« begann er zu seiner Begleiterin mit heiser klingender Stimme. »Ich kann sie doch nicht immer ...«
Da plötzlich, ohne daß er ihre Hände losgelassen hätte, begann der Krampf von neuem, diesmal in noch fürchterlicherer Weise, und mit einem Male wurde ihr Oberkörper wie von einer Feder emporgeschnellt, sie bog den Kopf weit zurück, und so warf sie sich mit aller Gewalt wieder nach hinten, daß das Hinterhaupt dröhnend aufschlug - gerade wie Menschen und Tiere in ihren letzten Zuckungen, wenn sie an Strychninvergiftung sterben.
Und auch hier war es vorbei! Ob nun des Heilmagnetiseurs Kraft erlahmt war, oder ob er den Tod nur hatte aufhalten können - Nobodys Schuld war es jedenfalls nicht.
»Wohl ihr!« flüsterte Clarence erschüttert.
»Die elektrische Entladung oder der Biß dieses sogenannten Lollan scheint lähmend auf das Rückenmark zu wirken, gerade wie das Strychnin,« sagte auch Nobody sofort, als er sich von ihrem Tode überzeugt hatte, und dann zitterte es wie ein Seufzer der Erleichterung von seinen Lippen.
In dem losen Sande wurde mit den Händen ein Grab geschaufelt und die Leiche mit ihren Kleidern hineingebettet, und während Clarence noch an dem Sandhügel kniete und betete, band Nobody aus zwei Aesten, die er einem am Flusse wachsenden Busche entnahm, ein Kreuz zusammen.


Am Morgen des anderen Tages hielten ihre Pferde vor dem Schloßportal. Unterdessen war nichts geschehen. Als Mrs. Bowell aus dem tiefen Schlafe gesund erwachte, glaubte sie, nur einen sinnlosen Traum gehabt zu haben, von dessen Einzelheiten zu sprechen sie sich genierte. Ja, sie entsann sich, daß der Bischof in den Sumpf geraten war und seinen Tod gefunden hatte - sehr bedauerlich, aber ... vielleicht besser so. Auch das wußte sie, daß sie selbst nachgesprungen war, von da an aber fehlte ihr eben die Erinnerung.
Clarence erzählte ihren Freundinnen von den Abenteuern in der Wüste, unterdessen packte Nobody aus dem angekommenen Koffer seinen Skaphanderapparat aus, und eine Stunde später war er bereit, in das dunkle Wasser hinabzutauchen.
Ehe er den Helm aufschraubte, stieg ihm noch ein berechtigtes Mißtrauen auf.
»Hier gibt's doch nicht etwa auch solche vertrackte Lollans?«
Clarence versicherte, daß man noch niemals von dem Vorkommen des grünen Zitteraals in diesem Tale etwas gehört habe, sie schienen eben nur ... das andere hörte Nobody schon nicht mehr, er hatte bereits den Helm aufgeschraubt, verschwand in dem dunklen Wasser.
Manchmal sah man den Schein der Benzinlaterne sich auf dem Grunde des Sees hin und her bewegen, er kam bis in die Mitte, öfters noch verschwand der Schein, bis Nobody nach einer halben Stunde dicht am Ufer wieder zum Vorschein kam.
»Das Seil,« schrieb er auf die bereitgehaltene Schiefertafel, um nicht immer erst den Helm abschrauben zu müssen, wie Nobody an Vorbereitungen nichts vergessen hatte, was er brauchen könnte.
Das eine Ende des Seiles in der Hand, kehrte der Taucher in das feuchte Element zurück, kam aber schon nach fünf Minuten wieder zurück, und diesmal schraubte er den Helm ab.
»Nun zieht vorsichtig herauf,« befahl er den Mädchen.
»Sie haben etwas gefunden?« erklang es atemlos im Chor.
»Jawohl.«
»Was denn?«
»Wird nicht verraten. Sie werden es ja gleich zu sehen bekommen. Ich habe es angebunden.«
Die Erwartung läßt sich denken, mit dem das Seil langsam heraufgewunden wurde. Etwas Gewichtiges war daran, gewiß, es kam dem Ufer näher, eine Schlammwolke wirbelte empor, und da tauchte aus dieser ein kolossaler, langgestreckter, spitzer Schädel auf, der Rachen mit zahllosen Stachelzähnen besetzt.
Der unvermutete Anblick war ein derartiger, daß auch die unverzagten Cowgirls zuerst gleich die Flucht ergreifen wollten, obgleich sie mit ihrer Belesenheit wissen konnten, um was es sich hier handelte. Man hatte aber eben etwas ganz anderes erwartet, dieser Riesenschädel kam doch etwas gar zu unvermutet.
»Der Schädel eines Krokodils!«
»Ja, aber eines Riesenkrokodils!«
»Eines vorsintflutlichen, eines Ichthyosaurus!«
»Ja, sauriern wird sich's wohl,« ergänzte Nobody in seiner trockenen Weise, »ich bin darin nicht so bewandert. Da unten liegt noch alles voll Lumpen und Knochen, und ich denke mir, Sie brauchen sich nur an so ein New-Yorker wissenschaftliches Institut zu wenden, das sich mit derartiger Saurierei befaßt, das läßt gleich den ganzen See auspumpen, und das dürfte sich auch lohnen, seien Sie nur beim Verkauf nicht zu bescheiden.«
»Ist das alles?« erklang es enttäuscht.
»Na, ich danke,« stellte sich Nobody erzürnt, »ist das etwa nicht genug?! Was für einen Schädel wollen Sie denn eigentlich haben?! Ziehen Sie ihn nur erst einmal völlig aufs Land!«
Es geschah. In der Tat, es war ein ganz außerordentlicher Fund. Der Schädel war etwas über zwei Meter lang, die Augenhöhlen wie Suppenteller - was für ein Ungeheuer mußte das sein, wenn man alle Knochen fand und sie wieder zusammensetzte! Ein Gelehrter aus diesem Fache wäre vor Entzücken rasend geworden.
Aber ebenso in der Tat: hier in diesem Kreise herrschte allgemeine Enttäuschung.
»Ich dachte,« fing die eine der Brisbys niedergeschlagen an, »es wäre - es wäre - so eine - so eine ...«
»Na was denn?«
»Vielleicht eine geheimnisvolle Kiste?«
»Eine geheimnisvolle Kiste mit vorsintflutlichem Champagner, was?« wurde sie von Nobody in seiner Weise angefahren. »Noch in der Eiszeit gekühlt, was?«
»Ach nein - nur mit sonst irgendwas Hübschem drin.«
»Na, will gleich mal nachsehen, ob da unten nicht doch so eine geheimnisvolle Kiste mit irgendwas Hübschem drin ist, sonst soll doch der ...«
Nobody sprach's, hatte sich schnell wieder den Helm aufgeschraubt und machte gleich einen Kopfsprung.
Alles mußte lachen.


Erledigen wir jetzt diese Angelegenheit. Der See wurde auf Kosten des New-Yorker zoologischen Museums wirklich ausgepumpt, man fand darin das vollständige Skelett eines Ichthyosaurus, der jetzt in jenem Museum aufgestellt ist. Der Fund erregte ungeheures Aufsehen. Es handelte sich um eine Spezies, die bisher noch gar nicht bekannt war. Der Ichthyosaurus war ein Krokodil, also eine Eidechse. Nun gibt es aber auch Eidechsen ohne Füße, die bekannteste davon ist die Blindschleiche, und das hier war solch eine Riesenblindschleiche, nur mit Stummelansätzen der Füße, dem Aeußeren nach ganz einer Schlange gleichend - doch einer Riesenschlange, gegen die verglichen unsere jetzigen harmlose Geschöpfe sind.
Das neuentdeckte Wesen aus der Urzeit wurde Ichthyosaurus annulatus genannt, oder seinem Fundort zu Ehren coloradus.
Hierbei noch eine Frage. Wie ist dieses Gewässer, in dem nie eine Wasserschlange gesehen worden ist, zu dem Namen ›kleiner Schlangensee‹ gekommen? Haben die Indianer, die früher hier gehaust, etwas von dem Vorhandensein dieses schlangenähnlichen Ungeheuers gewußt? Liegt da eine alte Ueberlieferung zugrunde?
Man hat sich mit dieser Frage viel beschäftigt. Sie ist nie gelöst worden.


Kehren wir zu Nobody zurück. Bald tauchte er wieder auf, und es verdroß ihn nicht, abermals den Helm abzuschrauben.
»Hurra, ich hab's, ich hab's!!!« schrie er jauchzend.
»Was denn?«
»Was Hübsches, was jedem Mädchen wohlgefällt.«
Er tauchte die Hände wieder unters Wasser.
»Zwei Ohrringe aus der vorsintflutlichen Eiszeit!«
Mit diesen Worten hielt er zwei riesige Wirbelknochen empor, ringförmig, innen hohl.
Und so trieb er es noch eine Zeitlang, immer mit Witzen wieder auftauchend, aber immer noch Knochen mitbringend, doch weiter nichts als solche Wirbelknochen. Daß gar keine anderen vorhanden waren, fiel Nobody schon damals auf, auch er vermutete gleich ein schlangenähnliches Ungeheuer.
Da er nun einmal bei der Arbeit war, beförderte er immer mehr Knochen herauf, nicht mehr bloß mit den Händen, sondern er reihte sie gleich an dem Seile auf, sie dann ans Land ziehen lassend.
Schließlich sah er ein, daß er die Arbeit doch nicht mit dieser Luftbombe zu Ende führen könne. Der Knochen war eine zu ungeheure Menge.
»Nur noch einmal will ich hinunter,« sagte er zuletzt zu den Damen, denen schon das Zusehen langweilig wurde. »Ich habe mir gerade einen hübschen Haufen solcher vorsintflutlicher Ohrringe zusammengestapelt, und vielleicht wird meine Arbeit von der Gelehrtenwelt anerkannt, vielleicht bekommt das Scheusal dann den Namen Ichthyosaunobodius. Na, was gibt's denn da zu lachen?«
Wieder verschwand er mit aufgeschraubtem Helm unter dem immer schlammiger werdenden Wasser.
Diesmal blieb er sehr, sehr lange aus, die Erwartung auf sein Wiedererscheinen wuchs. Es war doch immerhin eine gefährliche Geschichte.
Da kam er wieder, eiligst watete er an Land, mit ungewöhnlicher Hast schraubte er den Helm los. Sein Gesicht war dunkel gerötet.
»Wer hat sich vorhin die geheimnisvolle Kiste gewünscht?«
»Ich!« rief Susy, die jüngste der sieben Schwestern, noch ein Kind. »Haben Sie eine gefunden?«
»Du ahnungsvoller Engel du,« sagte Nobody, im Gegensatz zu seinem früheren Benehmen tiefernst geworden, und dann gab er den Befehl, das Seil langsam und auf eine besondere Weise anzuziehen.
Sonst gab er keine Erklärung, wollte nicht sprechen.
Die Spannung stieg aufs höchste, und sie wuchs noch, als jetzt wirklich eine schwarze Kiste den trüben Wasserfluten entstieg.
Nobody nahm sie in Empfang, aber auch seine Kräfte reichten nicht aus, sie völlig ans Land zu wälzen, mit sechs Armen gelang es.
Es war eine eiserne Kiste von Tischhöhe und ebenso breit und lang, schwarz angestrichen, der Deckel mit modernen Schrauben verschlossen, die nicht im mindesten vom Rost gelitten hatten.
Atemloses Schweigen herrschte, als Nobody den Schraubenschlüssel ansetzte.
»Das sieht doch bald aus, als ob die erst heute versenkt worden wäre?« wurde nur einmal geflüstert.
Nobody dachte etwas anderes. Dieses Metall, kein Eisen, welches nicht unter Feuchtigkeit litt, kannte er schon!
Die Schrauben lösten sich mit ziemlicher Leichtigkeit, schwieriger war es, den vorzüglich aufgepaßten Deckel abzuheben, bis Nobody endlich die Meißelschneide in die Spalte gebracht hatte, dann bedurfte es nur noch eines Druckes, und da zeigte sich, daß der Falz mit wasserdicht abschließendem Kautschuk belegt war.
Ein Dutzend Augenpaare blickte in die Kiste, sie sahen darin zusammengekauert eine menschliche Gestalt, ein menschliches Gesicht, Hände und Füße, aber alles bis auf Haut und Knochen ausgetrocknet, bekleidet mit bunten, zum Teil goldgestickten Lappen, denen man ebenfalls das hohe Alter ansah.
Der erste Schreck war schnell überwunden.
»Eine Mumie!«
»Und zwar eine mexikanische,« ergänzte Nobody, »eine aus der alten Aztekenzeit, das erkenne ich sofort, wenn es, nach der kostbaren Kleidung zu urteilen, nicht ein fürstlicher Azteke selbst ist. Und was ist das?«
Ohne Scheu griff er hinein und brachte ein Bündel zum Vorschein, wickelte es auseinander - es war ein langer, langer Lederriemen, an dem wieder zahllose kleinere Riemchen hingen, in die Knoten geknüpft waren.
»Knotenschrift! Die Geheimschrift, deren sich die mexikanischen Priester bedienten!« - -
Eine weitere Untersuchung ergab nichts. Die eiserne Kiste war stark mit Blei gefüttert, damit sie mit ihrem Hohlraum nicht schwamm, darin die bekleidete Mumie, der lange Riemen mit den angeknüpften Schnürchen - weiter nichts.
Es war auch gerade genug des Rätselhaften!
Wer hatte die Kiste hier versenkt? Weshalb?
Vergebliche, zwecklose Fragen!
Ja, die Knotenschrift würde wohl etwas erzählen können. Aber die wollte erst enträtselt sein!
»Gewiß, Mr. Nobody, ich überlasse sie Ihnen gern, ich schenke sie Ihnen gleich,« antwortete Mrs. Bowell auf eine Bitte, »und nur, wenn Sie nach der Entzifferung wissen, wo ein großer Sack mit ... nein, wenn Ihnen diese Lederriemchen erzählen, wie man sich die ewige Jugend und vor allen Dingen ein ewig junges, fröhliches Herz erhält, dann werden Sie dieses Rezept wohl auch mir mitteilen.« - -
Am anderen Tage erschien in dem Tale ein Bote aus Denver City, der für Mr. Bernard einen Brief und eine Depesche brachte.
Nobody erbrach zwar erst die letztere, und sie enthielt für ihn etwas Hochwichtiges, steckte sie aber gleich wieder ein und öffnete den Brief, dessen Handschrift er sofort erkannt hatte.
Die Großfürstin Margot teilte mit, daß sie sich kräftig genug fühle, die Reise anzutreten. Ob sie abgeholt würde.
Er eilte zu Clarence, die in hellen Jubel ausbrach. Die anderen wußten noch immer nicht, daß sich ihre einstige Freundin ihnen so nahe befand, und nun sollten sie auch vollkommen überrascht werden.
»Ich reite noch heute hin.«
»Und ich werde Sie begleiten.«
Hierauf erst widmete sich Nobody eingehend der Depesche. Sie kam aus Alexandrien und lautete:
»Sofort nach Freetown, Sierra Leone, schließen Sie sich dort Ihrem Freunde an. Edward Scott.«
Also wieder solch eine prophetische Bestimmung! Aber diesmal warf sie alle Pläne Nobodys über den Haufen. Er hätte eigentlich gar nicht mehr nötig, die Anleitungen seines prophetischen Freundes zu befolgen, denn jetzt sah er den Weg, der zu dem großen Geheimnis führte, offen vor sich liegen, die vom Schmerz Gefolterte hatte ihm so ziemlich alles gestanden, so weit sie wenigstens eingeweiht gewesen, hatte ihm die geheimen Erkennungszeichen verraten und noch manches andere.
Aber hatte er dies alles nicht erst seinem Freunde zu verdanken? Hatte ihn nicht erst dieser hierhergeführt?
Gewiß, zunächst nach der Westküste von Afrika, nach Sierra Leone! Wer kann denn die Verkettungen des Schicksals ergründen!
Was für einen Freund würde er dort treffen, dem er sich anschließen sollte? Natürlich war das doch Scott selbst! Hätte er aber dann nicht sagen sollen, wo Sie mich treffen?
»Nun, ich werde ja sehen. Also Edward ist noch immer in Aegypten. Eigentlich hätte er mir da auch gleich telegraphieren können, ob er seine Agathe und meine Winchesterbüchse wiedergefunden hat.« - -
Der Abschied erfolgte, der denkbar herzlichste.
»Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen!!«
Ja, Nobody sollte alle diese Damen noch einmal wiedersehen, nur in einem anderen Weltteil und unter ganz anderen Verhältnissen.
Dann ritt er mit Clarence davon. Bei der Begegnung der beiden so lange getrennten Freundinnen wollte er lieber nicht dabeisein. Die Großfürstin erzählte doch von ihren Schicksalen, von der ihr widerfahrenen Schmach, und wer weiß ... Nobody wollte sie lieber gar nicht mehr sehen. Seine Pflicht ihr gegenüber hatte er ja getan - ohne einen Tagelohn von zwanzig Francs. In solchen Sachen war Nobody nobel.
So gab er, die Depesche als Eilgrund vorschützend, seiner Begleiterin einen schriftlichen Abschied für die Großfürstin mit, von Clarence selbst nahm er einen noch herzlicheren - - »Und, nicht wahr, das Bild mit Ihrem tschitscheringrünen Freunde auf dem ziegelroten Blauschimmel, wenn das nach hundert und einigen Jahren farbenreif ist, das verehren Sie dann mir?« - - und Nobody trat die Rückreise nach Afrika an, nur diesmal nach der Westküste.