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1000 Jahre Österreich: 22 Jahre Nestroy-Gespräche



Die 22. Internationalen Nestroy- Gespräche von 1996 zum etwas fadenscheinigen Millenium Österreichs (das Nestroy sehr amüsiert hätte!) wiesen eine gewisse historische Färbung auf. Ein ganzer Tag mit rasanter Führung Wolfgang Häuslers im historischen Laxenburger Schloßpark-Komplex machte schon deutlich, gegen welchen politischen und Herrschaftshintergrund der Dichter anzuschreiben hatte.

   Die jährliche Schwechater Theaterpräsentation galt heuer dem Gefühlvollen Kerkermeister oder Adelheid, die verfolgte Wittib und führte mit ihrem Quodlibet der Mittelaltermode auf ein einst populäres Ballett, zum Anlaß passend, ins 10. Jahrhundert zurück, von Hugo Aust, Köln, in allen geschichtlichen Aspekten penibel entfaltet. Es gilt als ein schwächeres Stück; das Programmheft der Schwechater Aufführung bietet den vollständigen Tex. Peter Gruber inszenierte es im Stil von Fernsehserien und Musikantenstadel-Humor, war aber vielleicht nicht ganz zufrieden und ließ sich bei seinen immer sehr blicköffnenden Ausführungen durch die Regiekollegin Christine Bauer vertreten.

   Ulrike Längle, Bregenz, versuchte, die verfolgte Wittib Adelheid als Fidelio-Parodie einzuordnen, weil Nestroy selbst bei der Beethoven-Oper in Amsterdam den Pizzaro und später in Wien den Don Fernando gesungen hatte, sie daher gut kennen und zur Karikatur gereizt worden sein mußte.

   Das Witwenthema beschäftigte dann auch Walter Obermaier, Wien. Als mutmaßlich einzige Frauen, die im Biedermeier menschliche Freiheiten genossen, die männlichen vergleichbar waren, sind es bei Nestroy meist sehr lustige Witwen, aber nur, wenn ihr Verblichener entsprechend reich war. Ansonsten gehören sie als Possenversatzstücke zum Komödienpersonal, und ihre unverdrossene Männersuche wird ihnen als Geilheit ausgelegt. In Wahrheit war ihre Freiheit wohl problematisch, denn sie hatten als normalerweise arme Witwen keinerlei andere Wahl, wenn sie überleben wollten, wie Peter Haida anmerkte. Dennoch entstand der denunziatorische Witwenbegriff, was zu denken gibt.

   Eva Reichmann, Bielefeld, betrachtete die Österreicher im Wiener Volkstheater, wobei das Österreichkonzept lange Zeit ziemlich diffus gewesen sein muß, da damals schon Bewohner anderer Regionen als Wien als Fremde betrachtet wurden, selbst teppichhandelnde Tiroler Originale oder scheinbar habituell abergläubische steirische Raufbolde. Hoftiroler dienten der adeligen Gesellschaft zur Unterhaltung und duzten sie; die hinterwäldlerischen, angeblich triebhaften Steirer gingen wahrscheinlich in der alpenländischen Hanswurst-Tradition auf, als die österreichischen Länder nicht mehr nur durch englische Reiseliteratur, sondern auch eigenen Augenschein per Eisenbahn erschlossen wurden und die Überwindung des Ständischen solche Klischees zurücktreten ließ.

   Johann Hüttner, Wien, behandelte das Ausländerbild im Altwiener Volkstheater, das die ganze Welt eine Zeitlang in Vorstadttopoi verwandelte. Man trug auch das eigene Lebensgefühl in andere Gegenden, deren Fremdheit nur alarmierend signalisiert wurde. Juden wurden in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr neutral wahrgenommen, fielen später unter pan-germanische Vorurteile. Nur reichen Engländern war Exzentrizität erlaubt. Die Assimilierbarkeit vieler östlicher Monarchievölker (im Gegensatz zu Juden) war bekannt. Und die Vorstadtbühnen, die ihrem Publikum bis zum Linienwall nachfolgten, halfen wahrscheinlich bei der Integrierung des Heterogensten. Dem etablierten politischen Bürger war allerdings die Naturalisierung oft nicht genug, auch wenn er damit nichts als das eigene, nur etwas frühere Zugewandertsein kaschierte. Aber das dürfte ein allgemeinmenschlicher Zug sein, von dem auch arrivierte jüdische Kreise nicht frei waren. Nestroy dagegen hielt sich bemerkenswert fern davon, aus Herkunft billige, komische Wirkungen abzuleiten. Er wird diese Vorurteils-Abstinenz auch in bezug auf Religion, ja sogar revolutionäre Abläufe, immer aufrechterhalten, und genügend Material für seine Stücke in der Kondition des Menschseins selber finden.

   Die Vermeidung theologischer Themen, von denen die biedermeierliche Volkskultur und Erziehungsliteratur des Josefinismus strotzte, was Ernst Seibert, Wien, zu seinem Thema machte, scheint bei ihm weniger auf Zensurbedingungen zurückzugehen als auf echte Emanzipation von der Frömmigkeit damaligen Volksbrauchtums.

   Gerda Baumbach, Leipzig, machte sich Gedanken zu National- und Volkstheater anhand von 100 Jahren österreichischer Theatergeschichte und Sonnenfels. Diesem wollte es bei allem pädagogisch-aufklärerischen Fervor und trotz kaiserlicher Protektion wie Auszeichnung doch nicht gelingen, die volkstümliche komische Figur ganz auszutreiben. Sie legt Wert auf die Unterscheidung von Hanswursttradition und italienischer Burleske, die beide nicht auf Nestroy passen und sucht weiter nach seiner möglichen Verbindungmit älteren Theaterkonventionen. Doch ist der Dichter vielleicht eine solche Singularität, daß ihm sogar zuzutrauen ist, mit seinen Schöpfungen einen Ausweg aus dem bürgerlichen Zweifrontenkrieg gegen sowohl hohe Oper wie niedere Kasperliade gefunden zu haben, wie Aust vorschlug.


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   Irene T. Tschuka, Halle/S., entriß die Volksschauspielerin Josefine Gallmeyer der Vergessenheit. Gallmeyers Lebenslauf wurde von persönlichkeitsbedingtem schwerem Schicksal geprägt. Vielleicht war sie doch nicht ganz ein »weiblicher Nestroy«, obwohl sie eine Meisterin des Extemporierens gewesen sein soll und Anzengruber zu zwei Stücken inspirierte. Beim Interpretieren fremder Gedankengänge oder hochsprachlicher Komplexitäten blieb sie gegenüber ihrer lebenslangen Konkurrentin Geistinger doch auf der Strecke.

   H. P. Ecker, Passau, vermaß und katalogisierte Nestroys Vorgehen, während Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck, Nestroy als einzigen österreichischen Klassiker neben Stifter und Grillparzer sehen möchte, die sich niemals ganz durchsetzen konnten. Zwar scheinen die Österreicher selbst sich eher mit Raimund identifizieren zu wollen und hat die übrige Welt Schwierigkeiten mit seinem Lokaldialekt, doch sickert immer mehr Allgemeinmenschliches auch durch diesen durch. Sein »Mädl aus der Vorstadt« ist wienerischer und zeitloser als Schnitzlers periodengebundenes, »süßes«, und sein lockeres, aber decouvrierendes Spiel mit verschiedenen Sprachebenen wird als code-switching noch in unserem Alltag betrieben, wie denn auch von seiner Pathosfeindlichkeit und Sprachskepsis viele Wege zu unserem Deutsch führen, das nicht auf Goethe und Schiller weist, die ansonsten die gesamtdeutsche Literatur prägten. Es könnte etwas mit österreichischer Einfühlsamkeit zu tun haben: Maria Theresia wurde lobend nachgesagt, daß sie sich mit jedem Bauernmädel vom Markt oder Kutscher ebenso in deren Idiom unterhalten konnte, wie sie im höfischen zu Hause war. Nestroy steht für das österreichische Deutsch nicht als Schrift-, sondern als Gesinnungssprache, und das Vage, Nicht-Offene seiner häufig unsympathischen Figuren ist oft so angenehm und artig verborgen, daß man es kaum bemerkt. Es sind vieldimensionale, widersprüchliche Personen, die er auf die Bühne stellt, nicht lineare Exponenten von Ideen, eben schon moderne Menschen mit all ihren so lange von Ideologien einseitig weggeblendeten unbegrenzten Möglichkeiten!

   Evald Kampus, Tartu, machte mit dem Vorkommen österreichischer Dramenaufführungen in den Spielplänen Estlands und Lettlands bekannt, und Fred Walla, Newcastle, bewies wieder einmal mit detektivischer Spurensuche in Frankreich, daß Nestroy oft mehrere Quellen für ein Stück, oder auch nur eine für mehrere verwendete, und selbst das nur als provisorisches Ergebnis anzusehen ist.

   Jeanne Benay, Metz, verglich Kaisers und Nestroys Revolutionsdramen Ein Fürst und Freiheit in Krähwinkel. Kaiser, auch politisch aktiv, will uns von seiner Meinung überzeugen, Nestroy dagegen, vorläufig selbst verwirrt, gibt nur Verläufe wieder, ohne Erklärungen, mit vom Publikum auszufüllenden Lücken und offenem Ausgang. Auch dies ist sehr ungewöhnlich und entspricht schon unserer pluralistischen Wirklichkeitsauffassung; also wieder Abstinenz, trotz intensiver innerer Beteiligung. Hinter jeder Maske können neue hervorkommen, hinter jeder Szenerie sich andere öffnen.

   Mit Angela Gulielmetti, St. Louis, endlich kamen neue literaturwissenschaftliche Ansätze (Gender-Studies) ins Bild: Da die gesamte bisherige Forschung androzentrisch war, würde mit ihr männliches Handeln unsichtbar bzw. unerkennbar bleiben. Nur Frauen waren dabei dumm oder bösartig oder lächerlich. Mit der neuen Sicht nun treten auch männliche Verhaltensmuster hervor, ihre ständige Konkurrenz über Status, Frauen und Geld, und ihre Standpunkte und Manipulationen, die sich früher von selbst verstanden, werden deutlich. Sie belegte deren Drang nach Macht, Kontrolle und Dominanz, hr Täuschen, Belästigen und Intrigieren über die begrenzte Ressource Frau als Vermögensträgerin beim Versuch, sich wirtschaftlich komfortabel zu etablieren, mit einer Anzahl von Nestroy-Beispielen, ohne auf besonderen Widerhall zu stoßen. Und doch könnte diese moderne und anderswo schon übliche Betrachtungsweise einen weiteren Beweis erbringen, wie sehr Nestroy spätere Motivationsforschung schon vorausnahm, wie nahe er dem einst durch unzählige Utopien geschönten Sozialverhalten des Menschen schon war, das sich von dem anderer Primaten gar nicht so sehr unterscheidet - sofern man den Weitblick aufbringt, über seine notwendige patriarchale Brille hinauszusehen.

Lore Toman

(Erschienen in NESTROYANA, 17. Jg. 1997, Heft 1-2; Nachdruck mit freundlicher Genehmigung der Internationalen Nestroy-Gesellschaft)


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