B E L A U S C H T

Belauscht

Leise, ganz, ganz leise, schob ich mich nach dieser Stelle hin. (...) Ich sah die Beiden. Sie saßen eng nebeneinander
mitten in einem wilden Pflaumengebüsch, mit dem Rücken nach mir. (...)
"Hat mein Bruder Winnetou schon mit ihm darüber gesprochen?" fragte Nscho-tschi.
"Nein," antwortete Winnetou. (...)
"Nicht? Warum? Nscho-tschi liebt dieses Bleichgesicht sehr; sie ist die Tochter des obersten Häuptlings aller Apachen!"
"Das ist sie, und sie ist noch mehr, noch weit mehr. Jeder rote Krieger und jedes Bleichgesicht würde glücklich sein,
wenn meine Schwester seine Squaw werden wollte, nur Old Shatterhand nicht."
"Wie kann mein Bruder Winnetou dies wissen, da er noch nicht mit ihm darüber gesprochen hat?" (...)
"Meine Schwester mag sich nicht täuschen! Old Shatterhand denkt und empfindet anders, als du meinst. Wenn er
sich eine Squaw erwählt, so muß sie unter den Frauen das sein, was er unter den Männern ist." "Bin ich das nicht?"
"Unter den roten Mädchen, ja; da kommt meiner schönen Schwester keines gleich. Aber was hast du gesehen und gehört? Was hast du gelernt? Du kennst das Frauenleben der roten Völker, aber nichts von dem, was eine ein weiße Squaw gelernt haben und wissen muß. Old Shatterhand sieht nicht auf den Glanz des Goldes und auf die Schönheit des Angesichtes; er trachtet nach andern Dingen, die er bei einem roten Mädchen nicht finden kann."
Sie senkte den Kopf und schwieg. (...) Es kam mir fast wie eine Sünde vor, dieses Gespräch (...) belauscht zu haben.

Karl May, "Winnetou I"
Die Zeichnung stammt von Otto Krauskopf (1891 - 1971), dem Großvater des KMG-Mitgliedes Peter Krauskopf.

© by Peter Krauskopf


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