Karl May:
Brief an Hans Möller
vom 21.10.1905

Quelle: M-KMG Nr.14, Dezember 1972, S.15f.
Standort: 1972 im Privatarchiv Renate-Maria Schmahl, Kiel



Brieftext:

"VILLA SHATTERHAND
RADEBEUL-DRESDEN d. 21./10. 5.

   Geehrter Herr!

   Ihnen bös? Nein, mein lieber Hans, bös war ich nicht, kann ich überhaupt gar nicht sein, selbst meinem ärgsten Feinde nicht. Aber als ich Ihren Brief las, da war es mir wie Ihrem Herrn Vater, wenn er ein von Beethovens eigener Hand geschriebenes Manuscript vor sich liegen hat und sich bemüht, diese Räthsel zu entziffern. Ich sah da einen und denselben kleinen Nonakkord in allen seinen Umkehrun-


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gen wieder und immer wieder erscheinen, ohne daß er es aber fertig brachte, sich in eine der 4 Dur- oder der 4 Molltonarten, in die er gehen darf, aufzulösen. Da gestattete ich mir, als Psycholog ein Wenig nach zu helfen. Die Auflösung geht zwar nie so schnell vor sich, wie man es wünscht, und bei Manchem kommt sie überhaupt niemals zu stande, aber wenn Sie die Güte haben wollten, selbst auch ein Bischen mit nachzuhelfen, so wird es wohl gelingen, Ihr c, es, ges, bb nach des, f, as hinüber zu bringen und Ihre


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Seele in der schönen, vollen Harmonie erklingen zu lassen, die ihr, wie ich ahne, leitereigen ist.

   Sie glauben, man müsse über jedes Ding oder über jeden Menschen eine eigene Meinung haben. Das ist grundfalsch! Ich bin überzeugt, daß Sie hiervon wohl noch keinen großen Nutzen gehabt haben. Was Gevatter Kunz und Hinz von mir denken und was sie überhaupt für Leute sind, das muß mir schnuppe sein, denn ich bin verpflichtet, meine Mühe auf tausendmal wichtigere Dinge zu richten, und ich würde mich an meinen heiligsten Pflichten


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versündigen, wenn ich mir eine Meinung über irgend ein fragliches Buch oder einen fraglichen Menschen bilden wollte, während ich aber die Meinung meiner Eltern und Lehrer nichts weniger als heilig halte. Wenn Sie mir wieder einmal schreiben, so sagen Sie mir, bitte, zunächst einmal Ihre Meinung über sich selbst. Nur wer über sich selbst klar ist, darf sich mit Andern befassen.

   Merken Sie nicht auch jetzt wieder eine ganz, ganz kleine Spur von Liebe?

   Zurückgrüßend
   Ihr alter
      May."


Zum Brief Karl Mays

Der Brief war adressiert an Hans Möller, Potsdam, Kiezstr.24.



Karl Mays Korrespondenz


Volker Griese: Karl Mays Korrespondenz (SoKMG 102)


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