Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 14, Seite 209
Reprint Seite 102


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Das Mahl sollte auf dem Mitteldeck eingenommen werden, an derselben Stelle, an der vorhin die Geisterbeschwörung stattgefunden hatte. Der Platz war jetzt mit vielen Lampen erleuchtet, welche aus gummiertem Reispapier gefertigt waren und einen sehr hübschen Eindruck hervorbrachten. An zwei zusammengeschobenen Tischen standen neue Bambussessel. Die Gedecks bestanden für jeden Gast aus einem Teller, einer kleinen Tasse, welche als Trinkglas zu dienen hatte, einer Art von dickem Porzellanlöffel, welcher aber so unförmlich war, daß er kaum in den Mund gebracht werden konnte, und den elfenbeinernen Eßstäbchen, von den Engländern Chopsticks genannt, während sie bei den Chinesen Kwei-tze heißen.

Der Chinese hat keine eigentlichen Löffel; ebensowenig bedient er sich des Messers oder der Gabel bei Tafel. Alle festen Speisen, Fleisch u.s.w. werden klein geschnitten serviert. Der Ungeübte spießt sich diese Stückchen aus der Brühe heraus, wozu er sich der Kwei-tze bedient, wird aber ausgelacht oder gilt für einen Mann, welcher die gute Sitte mißachtet. Der geübte Esser nimmt das eine Stäbchen zwischen den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, das andere zwischen den Mittel- und Ringfinger; stoßen nun die Enden der Stäbchen zusammen, so bilden sie einen beweglichen Winkel, eine Art Zange, mit welcher man alles, selbst dünnen Reis, zum Munde zu bringen vermag. Wer erfahren will, welchen spaßhaften Anblick es gewährt, einen Ungeübten auf diese Weise essen zu sehen, der mag einmal selbst versuchen, mit zwei sechs Zoll langen und fast streichholzdünnen Stäbchen eine Gräubchensuppe zu genießen, ohne vom Teller bis zum Munde alles zu verlieren.

Der Platz, auf welchem die Tische standen, war durch an Schnuren hängende Landkarten von riesiger Größe von dem übrigen Verdecke abgeschlossen. Diese Karten stellten die Länder der Erde vor, aber nach chinesischer Anschauung. Sie hatten eine Größe von wenigstens je vierzig Quadratfuß. Neununddreißig Quadratfuß nahm das Reich der Mitte ein. Die anderen Länder der Erde samt allen Meeren waren auf dem vierzigsten angebracht. Rußland hatte die Größe einer Wallnuß; daran klebte Frankreich haselnußgroß. Jenseits dieser beiden Länder, von ihnen durch einen Fluß getrennt, welcher Tsin-tse, wahrscheinlich Themse, hieß, lagen Deutschland und England in der imponierenden Größe einer Erbse. Spanien war neben die Vereinigten Staaten und Holland neben Java gemalt, und zwar nadelkopfgroß. Dagegen hatte der Jang-tse-kiang eine Breite von zwei Männerspannen, und Peking war dreimal größer dargestellt als sämtliches Ausland zusammen genommen. So hat Gott nach Anschauung der Chinesen die Erde unter die verschiedenen Völker verteilt. Da ist es gar nicht Wunder zu nehmen, daß sie einen außerordentlichen Nationalstolz besitzen und sich für das bevorzugteste Volk der Erde halten. Diejenigen von ihnen aber, welche Gelegenheit finden, fremde Länder zu sehen, fühlen sich gewöhnlich von diesem Irrtum sehr schnell geheilt, beharren aber trotzdem auf der Ansicht, daß sie die gebildetsten Menschen seien.

Außer den fünf Gästen nahmen noch der Ho-tschang, der To-kung, der Hiang-kung oder Priester und der Besitzer des Schiffes an den Tischen Platz. Und nun wurden die Speisen gebracht.

Das erste Gericht bestand aus gesottenen Eiern, welche mit Brennesseln zerhackt und mit Essig gewürzt waren.

»Wat voor eyeren zijn deze eyeren?« fragte der Dicke.

»Es sind Krokodilseier,« antwortete Gottfried von Bouillon, indem er ein sehr ernstes Gesicht machte.

»Foei! En deze eyeren zullen wij eten?«

»Natürlich!«

»Bliksem! Ik ete niets!«

Das Gericht sah ganz appetitlich aus. Er hatte auch schon seinen Löffel ergriffen, um sich davon auf den Teller zu nehmen, legte ihn aber schnell wieder weg.

Gottfried aber langte zu und gebrauchte seine Kwei-tze mit der Geschicklichkeit eines Chinesen. Er hatte ebenso wie der Methusalem und Richard Stein die Eßstäbchen daheim bei Ye-kin-li kennen gelernt und sich dann während der Seereise im Gebrauche derselben geübt. Indem er tüchtig kaute, meinte er zu dem Mijnheer, welcher neben ihm saß:

»Dat mundet mir. Krokodilseier sind doch eine jroßartige Delikatesse.«

»Donderslag, ik dank! Gij scherts, lieve vriend - Donnerschlag, ich danke! Sie scherzen, lieber Freund!«

»Nein; es ist mein Ernst. Versuchen Sie doch nur!«

»Neen; ik ete niet krokodil-eyeren.«

Er hielt sein Wort und rührte diese Speise nicht an; doch schien ihm sein Verzicht schwer zu werden, als er sah, wie gut es den andern schmeckte.

Dann wurde eine Brühe gebracht, in welcher kleine Fleischstückchen schwammen. Als er alle andern zulangen sah, fragte der Dicke vorsichtig:

»Is dit Hond?«

»Nein,« antwortete Gottfried.

»Dan ete ik ook!«

Er füllte sich den Teller und aß mit dem unförmlichen Löffel, ohne sich der Kwei-tze zu bedienen. Auch bekümmerte er sich gar nicht um die Blicke, welche die Chinesen ihm ob dieser Verletzung des Anstandes zuwarfen. Als er fertig war, nickte er dem Gottfried freundlich zu und sagte:

»Neen, dit is niet Hond.«

»Hund nicht, aber Katze!« antwortete Gottfried.

»Wat? Katenvleesch?«

»Freilich!«

»Mijn Himel! O mijne gorgel, mijn maag en mijne darmen! Mijnheer Methusalem, wat zeggt het woordenboek van den darmen?«

»Was das Wörterbuch von den Därmen sagt? Daß sie sieben Meter lang sind,« lachte der Gefragte, denn der Dicke hielt sich mit beiden Händen den Bauch und schnitt ein jämmerliches Gesicht dazu. »Fühlen Sie sich in den ihrigen krank?«

»Ja, zeer! Ik heb smart en ontsteking.«

»Was? Schmerz und Entzündung haben Sie? Warum?«

»Ik heb katenvleesch gegeten.«

»Unsinn! Lassen Sie sich von dem Gottfried nicht so dummes Zeug weismachen! Der weiß selbst nicht, was er gegessen hat.«

Da machte der Mijnheer seinem Nachbar eine Faust und raunte ihm zornig zu:

»Schaap! Gij zijt een ongelukkige nijlpaard!«

Der nächste Gang bestand in einer durchsichtigen und doch nicht dünnen Suppe mit sehr fein geschnittenem Wurzelwerk. Sie duftete sehr einladend.

»Soup of salangans!« rief der Ho-tschang seinen Gästen zu, indem er eine sehr bedeutungsvolle Miene machte, um ihnen anzudeuten, daß es sich hierbei um eine ganz besondere Delikatesse handle.

Das war also Suppe von den berühmten Schwalbennestern! Die fünf Europäer griffen sehr schnell zu; sie waren begierig, diese Speise kennen zu lernen.

Ueber diese sogenannten indischen Vogelnester ist viel Unwahres verbreitet worden. Richtig ist nur folgendes:

Die Salangane (Collacalia nidifica) sind 12 cm lange Segler, welche ungefähr 30 cm klaftern. Oben dunkelbraun, sind sie an der unteren Seite heller gefärbt und kommen in Vorder- und Hinterindien und den Sundainseln vor, wo sie in großen Scharen vorzugsweise an unzugänglichen Felsenklippen nisten. Sie lieben besonders solche Stellen, wo die hohe Küste senkrecht aus der kochenden Brandung strebt.

Kurz vor der Brutzeit, also zur Zeit des Nestbaues, sondern die stark anschwellenden Speicheldrüsen dieser Tiere einen zähen Schleim ab, welcher einer dicken Gummilösung ähnlich ist. Diesen Schleim kleben sie in der Weise an die glatte, senkrechte Fläche des Felsens, daß der Vogel unzählige Male und immer wieder gegen dieselbe Stelle fliegt und dabei ein wenig des Sekrets mit dem Schnabel oder der Zunge andrückt. Dadurch entsteht ein fest-gallertartiger Unterbau von der Gestalt einer hohlen Viertelkugel, auf welchem aus Gras, Federn, Moos und Seetang das eigentliche Nest errichtet und mit demselben Schleime befestigt und kalfatert wird. Nicht dieses Nest, wie man irrtümlicherweise gemeint hat, sondern nur der aus erhärtetem Schleime bestehende Unterbau wird als Nahrungs- oder vielmehr Genußmittel verwandt.

Aus dem Gesagten geht hervor, daß das Einsammeln dieser Nester sehr gefährlich ist. Der Salanganjäger muß sich an einem Seile von der Höhe der Klippe herablassen und schwebt über der Brandung in steter Todesgefahr. An gewissen Fundorten hat man dem dadurch abgeholfen, daß ganze Küstenstrecken durch ausgespannte Seile und Strickleitern zugänglich gemacht worden sind.

Die Salangane kommen in solcher Menge vor, daß von Java allein jährlich gegen neun Millionen Nester ausgeführt werden. In China, wo jährlich durchschnittlich für sechs Millionen Mark eingeführt werden, wird das Stück mit ungefähr einer Mark bezahlt, was bei den Geldverhältnissen dieses Landes keineswegs billig ist, da ein gereinigtes Nest oft ein Gewicht von nur wenigen Grammen hat. Nur die Wohlhabenden können sich diesen Genuß bieten. In Europa aber ist nur der wirklich Reiche im stande, den Speichel indischer Schwalben zu verzehren.

Uebrigens ist ein solches Nest an sich nicht etwa eine Deliziosität. Unzubereitet kann es gar nicht gegessen werden, und gekocht schmeckt es nur fade. Wer das aus der Rinde tretende Harz eines Kirschbaumes, welcher am Gummiflusse leidet, kaut, hat ganz denselben Genuß. Diese zweifelhafte Delikatesse muß vielmehr erst durch die Zubereitung schmackhaft gemacht werden. Der Chinese kocht sie in Wasser oder Fleischbrühe und thut Wurzelwerk, Gewürz, Fleisch, Fischrogen, Holothurien, zerschnittene Früchte und anderes dazu. Nur diese Beimengsel sind es, welche den Nestern Geschmack und Nährwert verleihen.

Mijnheer van Aardappelenbosch schien, trotzdem er so lange Zeit auf Java gelebt hatte, diese Speise noch nicht gekostet zu haben. Er aß auch sie mit dem Löffel und machte dabei ein außerordentlich wonnevolles Gesicht.

Turnerstick wollte sich weder mit dem großen Löffel den Mund aufreißen, noch hatte er das Geschick, sich der Kwei-tze zu bedienen. Er machte also kurzen Prozeß und trank die Suppe aus dem Teller, was ihm heimliche Verachtungsblicke der Chinesen zuzog. Die drei andern aber brachten es fertig, die fremdartige Brühe mit den Stäbchen bis auf den letzten Tropfen auszulöffeln.

»Fein, außerordentlich fein!« meinte der Kapitän, indem er mit der Zunge schnalzte.

»Ja wel!« nickte der Dicke vergnügt. »Ongemeen heerlijk, op mijn woord!«

»War es wirklich so herrlich, so vortrefflich?« fragte ihn der Methusalem.

»Gewis, op mijne eer!«

»Und wissen Sie, was Sie gegessen haben?«

»Natürlich!« fiel Turnerstick ein. »Salangannester!«

»Unsinn! Diese Kerls werden uns mit indianischen Vogelnestern traktieren! Das würde ihnen, selbst wenn sie welche hätten, gar nicht einfallen.«

»Nun, was soll es dann gewesen sein?«

»Rindshaut, fein geschnitten und zu Gallerte versotten. Das gibt eine Brühe, welche derjenigen der Vogelnester leidlich ähnlich ist.«

»Alle Wetter! Wenn das wäre! Verzehrt man denn in China auch die Felle der Ochsen und Kühe?«

»Allerdings. Es gilt das sogar als ein ganz vorzügliches Gericht.«

»O mijn god, o mljn schepper!« jammerte da sofort der Dicke, indem er mit den Händen nach dem Leibe fuhr. »Ik ben ziek, ik ben ziek!«

»Siech sind Sie? Krank? Was fehlt Ihnen denn?«

»Ik heb een gezwel in de maag.«

»Ein Geschwür im Magen? Hm!«

»En een aanval in de lever. Wat zeggt het woordenboek van de lever?«

»Ihr Leberanfall wird wohl nicht von solcher Bedeutung sein, daß er uns zwingt, ein medizinisches Wörterbuch zu Rate zu ziehen. Lassen wir die gekochte Kuhhaut also auf sich beruhen, und essen wir weiter. Da kommt ein neues Gericht. Das sind Seekrebse, wie es scheint.«

Sofort hellte sich das Gesicht des Dicken wieder auf.

»Zeekreeften?« rief er. »God dank, deze ete ik!«

Er nahm sich den größten Hummer, welcher vorgelegt wurde und schien vor Freude über diesen »Zeekreeft« das »Gezwel« und den »Aanval« vollständig vergessen zu haben.

Nach diesem Gange gab es noch gesottene Fische als letzte Nummer des Speisezettels. Es waren also nicht allzu viele Gerichte gewesen. Die Gastgeber schienen es mehr auf das Trinken als auf das Essen abgesehen zu haben, denn zwischen jedem Gange wurden die Tassen zweimal mit Sam-chu gefüllt, und da der Ho-tschang die seinige immer schnell austrank, mußten die andern folgen und die Gäste auch dasselbe thun. Dieser Sam-chu ist, gut zubereitet, ein leicht berauschendes, dem Arak ähnliches Getränk, welches die Chinesen sehr zu lieben schienen, da sie es tassenweise tranken.

Durch die Seemannskehle Turnersticks war mancher starke Rum und steife Grog gerollt, und Mijnheer van Aardappelenbosch hatte so viele Genevers genossen, daß der Sam-chu diesen beiden nicht wohl gefährlich sein konnte.

»Wir trinken mit und wollen sehen, ob sie uns oder wir sie unter die Tische trinken,« sagte der erstere.

»Ja, wij drinken tapper met!« nickte der Dicke. »Ik drink als een nijlpaard.«

Der Methusalem und Gottfried von Bouillon hatten gar manches Fäßchen Gerstensaft mit ausgestochen; auch sie fürchteten sich vor dem Sam-chu nicht. Aber Richard fühlte sich der Stärke desselben nicht gewachsen. Er hatte von der ersten Tasse nur einmal genippt und das Zeug dann nicht wieder berührt. Auf die wiederholte Aufforderung Turnersticks, doch noch einen Schluck zu versuchen, antwortete er:

»Ich mag nicht. Ich mag überhaupt keinen Schnaps und diesen nun schon gar nicht. Er ist mir zu bitter.«

»Zu stark, wollen Sie wohl sagen.«

»Nein. Er hat einen bittern Nebengeschmack, der mich anwidert. Mir scheint, dieses Bittere gehört gar nicht eigentlich in das Getränk.«

»Hm! Marzipan wird freilich nicht dazu genommen.«

Er glaubte ebenso wie die andern, daß der Sam-chu diesen Beigeschmack haben müsse. Auch achtete er ebensowenig wie sie darauf, daß die geleerten Tassen nicht am Tische, sondern hinter den Landkartenvorhängen wieder gefüllt wurden. Wäre er im stande gewesen, es zu sehen, so hätte er bemerkt, daß dort aus zweierlei Gefäßen eingegossen wurde. In dem einen befand sich Sam-chu mit Opium, welchen nur die Gäste bekamen.

Der Neufundländer saß zwischen seinem Herrn und Richard Stein. Er wich keinen Augenblick von ihnen und beobachtete jede Bewegung der Chinesen mit feindlichen Blicken. Nahte sich ihm zufällig einer, so fletschte er die Zähne und knurrte ihn grimmig an. Ja, als der Ho-tschang ein Stück Fleisch bringen ließ, angeblich um den Hund mit Hilfe desselben auf freundlichere Gesinnungen zu bringen, biß dieser nicht nach dem Fleische, sondern nach der Hand des Gebers. Er nahm es auch dann nicht, als der Methusalem selbst es ihm hinreichte. Das Mißtrauen des Hundes war glücklicherweise ebenso groß wie die Unvorsichtigkeit seiner Herren. Später versuchte der angebliche Malaie es noch einmal, ihn zur Annahme des vergifteten Fleischstückes zu bewegen, jedoch mit ganz demselben Mißerfolge. Die Hoffnung der Chinesen, den Hund auf diese Weise töten zu können, erwies sich also als vergeblich.

Desto größere Mühe gaben sie sich, die Gäste zum Trinken zu bewegen, und das gelang ihnen freilich weit besser. Nur hatten sie sich getäuscht, als sie glaubten, denselben gar so leicht einen tüchtigen Rausch beizubringen. Die vier Personen blieben trotz des bedeutenden Quantums, welches sie vertilgten, vollständig nüchtern.

Dagegen zeigte sich bei den Chinesen sehr bald die Wirkung des Sam-chu. Der Sohn des Reiches der Mitte besitzt überhaupt nicht die Eigenschaft, starke geistige Getränke vertragen zu können, und so bemerkte der Ho-tschang, daß der starke Reisbranntwein eine nicht wünschenswerte Wirkung auf ihn äußere. Das Benehmen seiner Kameraden verriet, daß auch sie begannen, duselig zu werden. Das mußte verhindert werden, da er mit betrunkenen Leuten seinen Plan nicht auszuführen vermochte. Er ließ also für sich und sie einen schwachen Thee in die Tassen gießen, was die Gäste nicht bemerken konnten, da dieser Aufguß fast genau die Farbe des Sam-chu hatte.

Aber diese List war nicht von langer Dauer. Der Methusalem hielt seinen Gastgebern, um ihnen seinen Dank auszudrücken, eine kurze Rede und forderte dann den Ho-tschang auf, mit ihm eine Freundschaftstasse, das heißt, mit gegenseitig verschlungenen Armen zu leeren. Er schob seinen linken Arm in den rechten des Chinesen. Dabei mußte die Tasse des letzteren so nahe an der Nase des Blauroten vorüber passieren, daß dieser den Theegeruch bemerkte. Er griff sogleich nach der Tasse, zog sie aus der Hand des Ho-tschang und kostete von dem Inhalte.

»Thee! Brrrrr!« rief er aus. »Schämt euch doch! Ich habe wohl gesehen, daß ihr uns einen Rausch antrinken wollt, aber wenn ihr dabei so unehrlich handelt, so trinkt euern Tscha allein. Wer nicht mit gleichen Waffen mit uns kämpft, mit dem haben wir nichts zu schaffen. Nehmt unsern Dank, und laßt uns gehen!«

Die Chinesen widersprachen nicht. Sie glaubten, ihre Gäste hätten genug getrunken, daß das genossene Opium die beabsichtigte Wirkung thun werde. Die Reisenden zogen sich in ihre Kajüte zurück. Dabei kamen sie hinter den Landkarten an der Stelle vorüber, an welcher die Tassen gefüllt worden waren. Der Mijnheer sah den Krug stehen, in welchem sich noch ein ziemliches Quantum des Sam-chu befand, roch daran und sagte:

»lk nem den brandewijn met; hij is zeer goed.«

Er ergriff den Krug und trug ihn, als ob er das größte Anrecht auf denselben habe, nach der Kajüte.

Die Chinesen waren über diese Unverfrorenheit nicht etwa zornig; o nein, sie freuten sich vielmehr derselben, denn wenn die Gäste den Krug vollends leerten, so mußten sie mit vollster Sicherheit in einen tiefen Schlaf verfallen und konnten um so leichter überwältigt und ausgeraubt werden.

Der Methusalem wußte nicht, ob er über die Formlosigkeit des Dicken lachen oder schelten solle. Er versuchte es mit dem letzteren, denn er ahnte nicht, daß ihm der Sam-chu noch vom größten Vorteile sein werde, kam aber nicht weit, denn der Mijnheer schnitt ihm die Strafrede mit den Worten ab:

»Deze Keerls hebben thee gedronken en ons dezen brandewijn gegeven; daarom is hij onze brandewijn; wij worden hem drinken. Hij is goed, zeer goed. Ik word hem niet staan laten!«

Gegen dieses Argument war nichts zu machen, zumal es in einer so drolligen Weise vorgebracht wurde, daß man darüber lachen mußte.

Turnerstick holte zwei der draußen noch brennenden Laternen herein, um die Kajüte zu erleuchten, was ihm nicht verwehrt wurde, und darauf verriegelte Gottfried von Bouillon die Thür. Die Reisenden hüllten sich in ihre Decken, um sich schlafen zu legen.

Sie fühlten sich jetzt von einer ganz außerordentlichen Müdigkeit ergriffen, und doch vermochten sie nicht, sofort zu schlafen. Sie waren innerlich erregt. Ihr Blut kreiste schneller als gewöhnlich, und ihre Pulse befanden sich in einer Anspannung, welche dem Reisbranntwein unmöglich zugeschrieben werden konnte. Das fiel ihnen natürlich auf.

»Dieser armselige Sam-chu!« raisonnierte Gottfried. »Dat ist ein janz hinterlistiges Jetränk.«

»Bist du berauscht?« fragte ihn Degenfeld.

»Berauscht? Fällt mich jar nicht ein! Aber es ist ein ziemlich ähnlicher Zustand. Ich habe mal von einem jelesen, welcher das Opiumrauchen versuchte. Er beschrieb die Wirkung des Jiftes jenau. Mein jetziger Zustand ist janz der seinige, als er sich im ersten Stadium dieser Wirkung befand. Sollte sich Opium in dieses Sam-chu befunden haben?«

»Hm! Auch ich befinde mich in einer eigentümlich heimtückisch dumpfen Aufregung. Aber ich sehe keinen Grund, den Branntwein mit Opium zu versetzen. Wie ist es dir zu Mute, Richard?«

»Ich befinde mich ganz wohl,« antwortete der Gefragte.

»Weil du nicht getrunken hast. Also ist unser Zustand gewiß eine Wirkung des Sam-chu. Wollen es abwarten.«

Es verging eine halbe Stunde, während welcher sich die vier Männer ruhelos von einer Seite auf die andere drehten. Dann schien einer nach dem andern einzuschlafen.

Richard war noch wach. Er hörte zahlreiche Schritte draußen auf dem Deck; dabei klang es, als ob Taue über Rollen bewegt würden; eine Kette rasselte längere Zeit. Mehreremal wurde von draußen an die Thür der Kajüte gestoßen, als ob man etwas an dieselbe schiebe. Der Neufundländer knurrte, beruhigte sich aber wieder, als niemand den Versuch machte, hereinzukommen.

So verging abermals eine halbe Stunde und noch eine. Es kam Richard vor, als ob der Boden der Kajüte jetzt eine abschüssige Lage habe. Durch die zwei offenen Fenster strömte ein frischer, sehr fühlbarer Luftzug herein, was vorher nicht der Fall gewesen war.

Richard stand auf und sah hinaus. Die Lichter des Hafens waren verschwunden. Das konnte dadurch erklärt werden, daß dieselben wegen der späten Stunde ausgelöscht worden seien. Aber auf jedem Schiffe muß doch wenigstens eine Laterne brennen, und jetzt war keine einzige zu sehen, obgleich so viele Dschunken in der Nähe der »Schui-heu« gelegen hatten. Der Himmel war klar und rein; die Sterne blinkten hell herab. Ihr Schimmer war hinreichend gewesen, die Umgebung des Schiffes erkennen zu lassen, und doch war keine Dschunke, kein Haus zu sehen. Vielmehr dehnte sich vor dem Auge Richards eine weite, sanft bewegte, durch nichts unterbrochene Fläche aus, in welcher sich die Sterne spiegelten, das war die See.

Es wurde dem Knaben angst. Sollte die Dschunke sich vom Anker losgerissen haben und von der Ebbe aus dem Hafen getrieben worden sein? Obgleich er kein Seemann war, wußte er doch, wie oft die Gezeiten wechseln. Von einer Gezeit zur anderen vergehen zwölf und eine halbe Stunde. Morgen am Vormittage hatte die »Schui-heu« mit der Flut nach Kanton gehen wollen; jetzt war es vielleicht eine Stunde nach Mitternacht, folglich stand die See jetzt höchst wahrscheinlich am Beginn der Ebbe. Da war es möglich, daß das losgerissene Schiff aus dem Hafen getrieben worden war, ohne daß die Besatzung desselben, welche vielleicht bis zum letzten Mann schlief, etwas davon bemerkt hatte.

Richard beschloß, den Onkel Methusalem zu wecken.

Aber dieser schlief so fest, daß er den Zuruf des Knaben nicht hörte und es auch nicht fühlte, als dieser ihn kräftig rüttelte. Die Angst des Knaben vergrößerte sich. In der Nähe von Hongkong gibt es viele und gefährliche Felsen. Wenn die Dschunke an einen derselben getrieben wurde, so war sie verloren; das sagte sich der Knabe in seinem Landrattenverstande. Er wollte hinaus auf das Deck, um Lärm zu machen, und schob den Riegel von der Thür. Aber er vermochte dieselbe nicht zu öffnen; sie war von draußen verbarrikadiert.

Jetzt begann ihm eine Ahnung aufzugehen, welche noch viel schlimmer als seine erste Vermutung war: die Chinesen waren keine ehrlichen Leute; vielleicht war die »Königin des Wassers« gar eine Raubdschunke. Man hatte den Europäern Opium in den Sam-chu gegeben, um sie einzuschläfern und dann auszurauben und zu töten!

Bei diesem Gedanken erwachte die ganze Energie des Knaben. Er versuchte noch einmal, den Onkel Methusalem oder einen der anderen aus dem Schlafe zu rütteln, doch vergebens.

»Sie schlafen fort,« sagte er. »Sie wachen vielleicht erst nach Tagesfrist auf. Ich und der Hund sind allein munter. Wir werden die Kajüte verteidigen. Diese Halunken sollen erfahren, daß ein deutscher Gymnasiast sich nicht vor ihnen fürchtet! Nicht wahr, mein tapferer Kerl?«

Er streichelte dem Hunde das schöne, langhaarige Fell; dieser blickte ihn mit seinen hellen Augen an, schlug mit der Rute wedelnd auf den Fußboden, drehte dann den Kopf nach der Thür und ließ ein leises, tiefes Knurren hören, als ob er sagen wolle:

»Weiß schon! Habe aber keine Angst, denn ich bin da!«


(Fortsetzung folgt.)



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