Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 22, Seite 337
Reprint Seite 140


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Nun saßen sie oben auf dem Verdecke und sogen die frische Morgenluft mit wonnigen Zügen ein. Es wurde im Vorratsraume und der primitiven Küche nach Speisen für sie gesucht. Als Reis und auch noch ein Fleischrest gefunden wurde, sagte der Mijnheer:

»Ik wil voor ze kochen en braden; een vuurhaard is daar, ook een ketel, hout en de vuurschop - ich will für sie kochen und braten; ein Feuerherd ist da, auch ein Kessel, Holz und die Feuerschaufel.«

»Wat Sie denken!« lachte Gottfried. »Sie und kochen! Ich möchte mal den Pudding sehen, den Sie zusammenwürgen würden! Nein, dat Kochen ist die meinige Anjelegenheit. Sie würden zu viel Fett in dat Kasserol schwitzen, wat janz soviel wie ein jelinder Selbstmord wäre.«

Er ließ es sich nicht nehmen, das Essen zu bereiten; der Mijnheer aber stand dabei und erging sich in allerlei kulinarischen Bemerkungen, welche zu seinem unendlichen Mißbehagen von Gottfried leider nicht beachtet wurden.

Indessen beschäftigten sich der Methusalem und Turnerstick mit den beiden Mandarinen, welche von Dankbarkeit für ihre Rettung überflossen. Leider konnten sie ihre Freude nicht ohne einen Wermutstropfen genießen: Sie hatten keine standesgemäßen Anzüge und - keine Zöpfe mehr. Wie durften sie sich in Hongkong ohne beides sehen lassen! Nach längerem Hin- und Herreden kamen sie mit Degenfeld dahin überein, daß er ihnen Kleider und falsche Zöpfe, aber recht lange und starke, in Hongkong, wo das alles zu haben war, besorgen solle. Das dafür ausgelegte Geld sollte er in Kanton erhalten. Aus letzterem Grunde und auch aus Dankbarkeit wurde er von ihnen eingeladen, mit seinen Gefährten ihr Gast zu sein.

Er nahm diese für seine Zwecke so vorteilhafte Aufforderung sofort an. Er konnte ihnen den eigentlichen Zweck seiner Reise freilich nicht sagen; von ihnen nach demselben befragt, erklärte er, daß er aus der fernen Heimat gekommen sei, um in der Hauptstadt von Hu-nan einen dort wohnenden weltberühmten Gelehrten zu besuchen. Er sei von dem Han-lin yuen1) Deutschlands extra zu dem Zwecke abgesandt worden, diesem großen Kenner der klassischen Bücher die Hochachtung der westlichen Länder zu erweisen.

Das schmeichelte ihrem nationalen Selbstgefühle so, daß der Ho-po-so erklärte:

»Das freut mich sehr. Ich ersehe daraus, daß die Tao-tse-kue ein gebildetes Volk sind, würdig, von uns Unterricht zu empfangen. Ich werde, soviel ich kann, dieser Reise allen Vorschub leisten.«

»Auch mir gefällt dieser Auftrag, den Sie erhalten haben,« stimmte der Tong-tschi bei. »Ich ersehe aus demselben, daß Ihre Landsleute vernünftige Menschen sind, welche die Ueberlegenheit unserer Litteratur anerkennen. Diese Bescheidenheit ist der erste und sicherste Schritt zur wissenschaftlichen Größe. Die Fu-len2), Flan-ki3) und Yan-kui-tse4) sind schon so lange mit uns in Verbindung, ohne zuzugeben, daß wir ihnen überlegen sind. Sie werden also nichts lernen und zu Grunde gehen. Zwar ist es meine Pflicht, darüber zu wachen, daß sich nicht Ausländer unnötig in unseren Distrikten bewegen und gar durch fremdländische Kleidung und ungewöhnliche Manieren unserem Volke ein schlechtes Beispiel geben; aber bei Ihnen will ich eine Ausnahme machen, weil ich aus Ihrer Bescheidenheit ersehe, daß Sie nicht beabsichtigen, die loyalen Unterthanen zu anderen Sitten und Gebräuchen zu bewegen. Auch gegen Ihre Kleidung will ich nichts einwenden, obgleich dieselbe diejenige eines Landes ist, welches noch nicht durch die Kleiderordnung des 'Herrn des Reiches der Mitte' beglückt worden ist. Ich bin überzeugt, daß Ihre Anzüge Ihnen durch die heimatlichen Fakultäten vorgeschrieben worden sind, so daß Sie gegen den Kaiser Ihres Landes sündigen würden, wenn Sie hier andere tragen wollten. Darum werde ich Ihnen schriftlich gestatten, in dieser Kleidung bei uns einherzuwandeln. Auch werde ich Ihnen einen Ta-kuan-kuan5) ausstellen, welchen Sie nur vorzuzeigen brauchen, um überall als ein Mann behandelt zu werden, welcher die höchsten Ehren verdient. Sie brauchen in keinem Tien6) einzukehren, sondern steigen, wohin Sie kommen, beim Kuang-kuan7) ab und zeigen dem höchsten Beamten, welcher da wohnt, meinen Paß vor. Sie werden dann seine Gäste sein, nichts zu bezahlen haben und bis zum nächsten Reiseziele Sänften oder Pferde bekommen, ganz wie es in Ihrem Belieben steht. Alle diese Beamten sind verpflichtet, allen Ihren Befehlen, welche nicht gegen die Gesetze und Vorschriften dieses Landes verstoßen, Gehorsam zu leisten, und müssen für Ihre Sicherheit und diejenige Ihrer Begleiter haften.«

Das waren Worte und Anerbietungen, wie Degenfeld sie sich nur wünschen konnte. Wie mußte ihm dadurch seine Reise erleichtert werden! Und welchen Vorschub mußte diese Erleichterung den Zwecken dieser Reise gewähren! Er hätte den Mandarin vor Freude umarmen mögen.

Dieser aber saß bleicher und matter als vorher da. Die lange Rede hatte ihn angegriffen. Dennoch fuhr er bereits nach kurzer Zeit fort:

»Wenn ich das alles für Sie thue, hoffe ich, daß auch Sie mir eine Bitte erfüllen.«

»Gewiß, wenn es in meiner Macht liegt.«

»Sie können es. Verschweigen Sie, daß Sie uns hier gefunden haben! Kein Mensch darf wissen, daß wir gefangen waren und so geschändet worden sind. Wenn das vor die oberste Behörde käme, würde man uns sicher unseres Amtes entsetzen. Wollen Sie mir versprechen, daß auch Ihre Gefährten schweigen werden?«

»Sehr gern! Hier ist meine Hand.«

»Ich danke Ihnen! Alles übrige können wir später besprechen. jetzt bin ich zu ermüdet. Ich muß ruhen und schlafen, vorher aber essen. Ich werde, wenn wir nach Hongkong kommen, mich mit dem Ho-po-so in die Kajüte zurückziehen, damit wir nicht gesehen werden. Am Abende werden wir dann in den Anzügen, welche Sie uns besorgen und die ich Ihnen ganz genau beschreiben werde, die Dschunke verlassen. Vor allen Dingen dürfen Sie die Knöpfe auf unseren Hüten nicht verwechseln. Ich habe die Würde eines Staatsrates und trage einen blauen Stein. Der Ho-po-so hat den Rang eines Assessors der höchsten Kollegien und muß einen lichtblauen Stein haben.«

»Werden dieselben in Hongkong zu kaufen sein?«

»Ja, wenn auch nicht echt; aber für die kurze Fahrt nach Kuang-tschéu-fu werden wir uns ihrer bedienen können. Ferner versteht es sich ganz von selbst, daß wir mit der englischen Behörde, welcher die Piraten ausgeliefert werden, nichts zu thun haben mögen. Diese Beamten dürfen ja nicht wissen, daß wir hier gewesen sind. Da aber die Schuldigen chinesische Unterthanen sind, wird man sie uns ausliefern, und dann werde ich dafür sorgen, daß sie die Strafe der Räuber, nämlich den Tod, erleiden.«

Jetzt brachte der Gottfried den Reis und das Fleisch. Die beiden Mandarinen erhielten Eßstäbchen und begannen ihre Mahlzeit. Als dieselbe beendet war, zogen sie sich in die Kajüte zurück, welche die fünf Reisenden gestern angewiesen erhalten hatten.

Mittlerweile trat die Flut ein. Die See bewegte sich nach dem Lande zu, gerade so wie der Wind, und die Dschunke machte eine gute Fahrt. Backbordseits wurden Felsen sichtbar, in denen Turnerstick das Kap Aquila erkannte. Die Dschunke segelte an den vor demselben liegenden kleinen Inseln hin und gelangte noch am Vormittage durch die Bai von Si-wan auf die Reede von Hongkong und wendete nach dem Hafen von Viktoria.

Man sah den ganzen Landungsplatz von einer, wie es den Anschein hatte, nach Tausenden zählenden Menschenmenge besetzt. Die Leute standen Kopf an Kopf, auch auf den vor Anker liegenden Schiffen.

Das Polizeiboot kam der Dschunke entgegen. Es war mit bewaffneten Beamten gefüllt und Kapitän Beadle befand sich bei ihnen. Sie legten, noch während die Dschunke sich in halber Fahrt befand, seitschiffs an und stiegen an Bord. Der Marinekapitän eilte auf Turnerstick zu und rief:

»Ich habe den Fall bereits gemeldet und die ganze Bevölkerung ist auf den Beinen. Man ist ganz begeistert über eure That. Man freut sich, daß dem Hai-lung endlich sein verdienter Lohn werden kann. Fast glaube ich, daß man euch auf den Schultern nach dem Hotel schaffen wird. Fünf Mann eine berüchtigte Piratendschunke weggenommen! Es ist unglaublich. Der Platz, wo ihr anzulegen habt, ist schon bestimmt, da steuerbordseits in der breiten Lücke. Paßt auf! Der Krawall geht bereits los. Ich will zur Flagge gehen.«

Von dem nächstliegenden Schiffe ertönte ein Kanonenschuß, welchem Beispiele die Geschütze der anderen Schiffe folgten. So weit man sehen konnte, wurden die Flaggen gesenkt und gehoben, um die Eroberer des Hai-lung zu begrüßen und zu ehren. Tausende von Hurras und andere Zurufe ertönten in allen möglichen Zungen. Das kreischende »Tsching tsching« der Chinesen war am deutlichsten zu hören. Hundert Arten von Kappen, Mützen, Hüten und sonstigen Kopfbedeckungen wurden geschwenkt. Dann rasselte der Anker in den Grund und die Bugkette wurde an das Land geworfen.

Da standen englische Marinesoldaten, welche an Bord kamen. Der Fall war so eklatant, daß sogar der Gouverneur selbst kam, um die Voruntersuchung in eigener Person zu führen. Die Aussagen der fünf Helden wurden zu Protokoll genommen. Der Gouverneur bat sie, einstweilen noch nicht abzureisen, und sie entschlossen sich, im Hongkong-Hotel zu wohnen. Die beiden Mandarinen wurden von ihnen als unschuldige Reisende bezeichnet, welche auch ausgeraubt worden seien und erst nach erfolgter Neuausstaffierung am Abende die Dschunke verlassen könnten, wogegen die Behörde keinen Einspruch erhob.

Von den Gefangenen im Ballastraume waren einige erstickt; die anderen lebten. Sie wurden an Deck geschafft und paarweise zusammengebunden, um in sicheres Gewahrsam gebracht zu werden.

Darüber waren wohl zwei Stunden vergangen; aber die Menge stand noch dicht gedrängt am Ufer. Als die Piraten unter bewaffneter Bedeckung über die Landebrücke marschierten, wurden sie mit Ausrufen des Zornes und Abscheues empfangen. Die Polizei hatte vollauf zu thun, das Publikum von Thätlichkeiten abzuhalten.

»Gottfried, meine Pfeife!« befahl der Methusalem.

»Hat ihm schon!« antwortete der Wichsier, indem er ihm das Mundstück reichte. »Wir müssen unsern Einzug mit die nötige Würde und in der jewohnten Ordnung halten, um die Chinesigen zu imponieren. Ich erhebe mir sogar zu dem Vorschlag, hier zu warten, bis man uns einige Triumphbögens oder wenigstens ein Brandenburjer Thor jebaut hat, denn wir haben uns herabjelassen, die Helden dieses glorreichen Tages zu sind. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja, het is in waarheid zoo. Wij zijn tappere veldheeren en mannen geweest - ja, das ist in Wahrheit so. Wir sind tapfere Feldherren und Männer gewesen.«

Der Gouverneur und die Kriminalbeamten verabschiedeten sich von den Reisenden, um das Schiff zu verlassen. Dann setzten sich die letzteren in Bewegung, und zwar in der altbekannten Ordnung: voran der Hund, dann der rauchende Methusalem, hinter ihm Gottfried mit der Pfeife und dem Fagott, gefolgt von Richard, welcher diesmal nicht allein, sondern mit Liang-ssi ging. Den Beschluß machten Turnerstick mit dem Mijnheer, welcher wiederum den, jetzt allerdings leer gewordenen Theeranzen über die Flintenläufe gesteckt hatte.

Als sie auf der Landebrücke erschienen, wurden sie mit jubelnden Zurufen empfangen. Die Menge bildete Spalier, welches sie gravitätisch passierten, indem sie, würdevoll nickend, nach beiden Seiten dankten.

Plötzlich blieb Turnerstick stehen.

»Alle Wetter!« rief er laut. »Methusalem, da stehen die beiden Schurken mit ihrer Sänfte, in welcher ich vor kurzem gelaufen wurde! Wollen wir sie arretieren lassen?«

Der Blaurote drehte sich um. Er sah die beiden Kulis stehen. Hinter ihnen stand die Sänfte am Boden. Sein Bart zuckte; ein Lächeln glitt über sein Gesicht.

»Nein, lieber Freund,« antwortete er. »In den heutigen Jubel dürfen wir keinen Mißklang bringen. Aber ihren gestrigen Fehler sollen sie dennoch gut machen.«

Er wendete sich an die Kulis und die in ihrer Nähe stehenden Männer und rief gebieterisch, indem er auf Turnerstick und die Sänfte deutete:

»Tsche ta-ping, Tur-ning sti-king kuo-ngan ta-fu-tsiang, keng hiang-schang; tsieu suk - dieser große Held, Turning-sticking, der hohe Generalmajor, wünscht auf der Sänfte getragen zu werden; macht schnell!«

Diese Aufforderung konnte den Leuten nicht gelegener kommen. Der »hohe Generalmajor« wurde augenblicklich von zehn, zwölf Händen ergriffen und auf den Kasten der Sänfte gesetzt. Ebenso rasch hoben die Kulis die letztere empor und traten zwischen dem Gottfried und Richard mit Liang-ssi ein.

Der Zug setzte sich wieder in Bewegung und wurde von einem nicht enden wollenden Jubel der Menge begleitet.

Turnerstick machte erst eine Bewegung, um abzuspringen, fand sich aber schnell in seine Lage, welche er für eine sehr ehrenvolle hielt. Auf der Höhe der Sänfte war er ja der Gefeiertste von allen. Er grüßte eifrig und huldvollst mit den Händen, wobei er den Klemmer unaufhörlich verlor und wieder auf die Vorlukennase setzen mußte, und antwortete auf die vielen »Tsching tschings«, die ihm zugerufen wurden, mit seinen besten chinesischen Ausdrücken.

Vor der Thür des Hotels wurde er abgesetzt, verbeugte sich vor der Menge und rief mit lauter Stimme:

»Meine verehrtesteng Herreng und liebreicheng Dameng! Es ist mir gelunging, die Piratung zu besiegeng und ihnen ihre Dschunking abzunehmang. Sie habeng mich dafür mit Huld empfanging und im Triumph hierher getragong. Gestatteng Sie mir, Ihneng meineng Dank zu erstattung, und lebing Sie für einstweilang wohl. Hoffengtlich werdeng Sie bald noch mehr vong uns hörang. Ich wünsche Ihneng allerseits einang gutung Morging!«

Dann verbeugte er sich abermals und verschwand in der Thür. Während das Publikum, welches kein Wort verstanden hatte, dennoch in beifällige Rufe ausbrach, trat er in das Zimmer, in welchem sich seine Gefährten bereits befanden. Er schlug dem Gottfried, der ihm am nächsten stand, auf die Achsel und sagte:

»Nun, Ritter von Bouillon, was sagen Sie zu diesem famosen Einzuge?«

»Dat Sie ihn besser jesehen haben als ich, weil Sie ja auf dem Laufkorbe saßen.«

»Herrlich, herrlich! Nicht wahr, Mijnheer?«

»Gewisselijk, op mijn woord!« beteuerte der Dicke.

»Ja, das war ein ganz anderer Empfang als gestern. Heut sind die »Tsching tschings« nur so um mich herumgeflogen. Ich habe mich aber auch aufs herzlichste bedankt. Hören Sie es? Die Leute jubeln noch immer. Ich muß mich ihnen wirklich noch einmal zeigen.«

Er machte das Fenster auf, grüßte mit dem Fächer und schrie ein letztes, kräftiges »Tsching tsching tsching« hinaus ...

ZWEITES KAPITEL.

T 'e u   K u a n.

China ist ein wunderbares Land. Seine Kultur hat sich in ganz anderer Richtung bewegt und ganz andere Formen angenommen als diejenige der übrigen Nationen. Und diese Kultur ist hochbetagt, greisenhaft alt. Die Adern sind verhärtet und die Nerven abgestumpft; der Leib ist verdorrt und die Seele vertrocknet, nämlich nicht die Seele des einzelnen Chinesen, sondern die Seele seiner Kultur.

Schon Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung hatte dieselbe eine Stufe erreicht, welche erst in allerneuester Zeit überschritten zu werden scheint, und zu diesem Fortschritte ist China mit der Gewalt der Waffen gezwungen worden. Derjenige französische Missionar, welcher das Reich der Mitte le pays de l'âge caduc, das Land des hohen Alters, nannte, hat sehr recht gehabt. Es ist da eben alles greisenhaft, sogar die Jugend.

Wer die Kinder beobachtet, lernt die Eltern genau kennen. So ist es auch mit dem Volke. Eine Nation ist unschwer nach dem Thun und Treiben ihrer Kinderwelt zu beurteilen. Die Arbeit des Kindes ist das Spiel. Wie aber spielt der Chinese?

Der Europäer sieht im Spiele nur das Mittel zur körperlichen und geistigen Kraftentwickelung. Er will die Muskeln stärken, die Knochen festigen, die Brust erweitern, die Willenskraft erwecken, den Scharfblick üben und das Gemüt bereichern. Das Spiel soll im Knaben den späteren Mann, im Mädchen die einstige sorgliche, treue Hüterin des Hauses erkennen lassen.

Anders bei den Chinesen. Wo sieht man da die roten Wangen und blitzenden Augen, wo hört man das lustige helle Jauchzen der Kinder? Fast nirgends! Der chinesische Knabe tritt aus seiner Thür langsam und bedächtig, schaut um sich wie ein Alter, schreitet ohne irgend eine lebhafte Bewegung nach dem Spielplatze hin und sinnt nun nach, womit er sich beschäftigen werde. Er ist ein Erwachsener in verkleinertem Maßstabe. Sein gelbes Gesicht rötet sich höchstens dann ein wenig, wenn er ein Heimchen erblickt. Er fängt es, sucht noch eins dazu und setzt sich nieder, um die beiden Tiere gegeneinander kämpfen zu lassen. Mit Behagen sieht er, wie sie sich die Glieder abbeißen, sich gräßlich verstümmeln und selbst dann noch kämpfen, wenn sie nur noch aus dem gliederlosen Rumpfe bestehen. Ist es da ein Wunder, daß die Grausam- und Gefühllosigkeit des Chinesen als eine seiner hervorragendsten Eigenschaften bezeichnet werden muß?

Dort spielen zwei Knaben Ball. Sie schleudern ihn einander nicht zu; sie fangen und schlagen ihn nicht; sie werfen ihn nicht an eine Mauer, um ihn abprallen und rikoschettieren zu lassen. Der eine schlägt den Ball mit der flachen Hand so oft in die Höhe, als es ihm möglich ist, ohne ihn zur Erde fallen zu lassen. Ist dieses letztere geschehen, so nimmt der andere ihn auf und versucht dasselbe Spiel. So stehen sie still und stumm nebeneinander, doch nein, nicht stumm, denn sie zählen. Für jeden Schlag, der dem ersten mehr gelingt als dem zweiten, hat dieser letztere einen Kern, eine Frucht oder sonst etwas zu bezahlen. Dabei suchen sie einander nach Kräften zu betrügen. Hier entspringt der große Eigennutz, die gewissenlose Schlauheit, welche den Chinesen auszeichnet.

Das Hauptspiel der Knaben ist das Drachensteigenlassen. Es ist das sogar ein Sport, den die erwachsenen Männer, reich und arm, vornehm und niedrig, treiben. Der Chinese hat es darin zu einer Fertigkeit gebracht, welche Bewunderung erregt und einer besseren Sache wert wäre. Es gibt wohl kaum irgend ein Tier, dessen Gestalt der Sohn der Mitte nicht, in Papier nachgeahmt, in die Luft steigen ließe. Am prächtigsten bildet er den Tausendfuß nach; die Gestalt ist oft an die dreißig Ellen lang und ahmt die Bewegungen des Tieres mit merkwürdiger Naturtreue nach. Habichte steigen an einer und derselben Schnur in die Höhe und umkreisen einander genau so, wie wirkliche Habichte es an windigen Tagen thun.

Während der deutsche Knabe seinen Drachen aus reiner, unschuldiger Lust an der Sache steigen läßt, verbindet der Tschin-tse-tsi8) mit diesem Spiele eine Absicht, welche uns nicht als lobenswert erscheinen dürfte. Er bestreicht die Schnur mit einem Klebstoffe und streut gestoßenes Glas darauf. Mit der so präparierten Schnur sucht er dann die Drachenschnüre anderer Knaben zu durchschneiden oder zu durchsägen, daß deren Drachen vom Winde mit fortgenommen werden. Sollte damit nicht die bekannte chinesische Hinterlist und Schadenfreude großgezogen werden?

Turnanstalten gibt es keine im ganzen Reiche, so groß dasselbe ist. Daher der Mangel an Mut und körperlicher Gewandtheit.

Mädchen sieht man niemals im Freien spielen. Sie scheinen zu derselben Abgeschlossenheit wie ihre Mütter verurteilt zu sein. Es ist sehr schwer, bei einem Besuche die Frau des Hauses zu Gesicht zu bekommen. Und doch haben die Chinesen sich das nicht von den Hoei-hoei9) angeeignet, deren es Millionen bei ihnen gibt.

So spielt die Jugend fast nur, um die schlechten Eigenschaften zu entwickeln, welche sich beim Erwachsenen ausgebildet haben. Spricht ein Fremder mit einem Knaben, so bekommt er keine lebhaften Antworten zu hören, kein freundlich lächelndes Gesicht zu sehen. Es ist ganz so, als ob er mit einem Alten spräche. Wie gesagt, schon die Jugend macht einen greisenhaften Eindruck.

Und wie der Greis, welcher sich am Spätabende seines Lebens nicht erst von seinen bisherigen Anschauungen trennen will, so ist auch der Chinese wenig oder gar nicht bereit, die Ansichten anderer sich anzueignen. Dies ist besonders in religiöser Beziehung der Fall, weshalb die christliche Mission in China noch gar keine nennenswerten Früchte getragen hat.

Mag der Missionar die herrlichen Lehren des Christentums immerhin noch so eifrig und noch so begeistert entwickeln, der Chinese hört ihm ruhig zu, ohne ihn zu unterbrechen, denn das gebietet die Höflichkeit; aber am Schlusse wird er freundlich sagen: »Du hast sehr recht und ich habe auch recht. Put tun kiao, tun li; ni-men tschu hiung,« zu deutsch: »Die Religionen sind verschieden, die Vernunft ist nur eine; wir sind alle Brüder.«

Die Neuerungen, welche die letzten Jahrzehnte dem Lande gebracht haben, sind demselben entweder aufgezwungen worden oder der Chinese hat sich zu ihnen nur aus Eigennutz verstanden. Sie sind auch nur in Küstengegenden zu spüren, während das Landesinnere nach wie vor wie ein Igel die Stacheln gegen jede fremde Berührung sträubt.

Kanton ist diejenige Stadt, in welcher der lebhafteste Fremdenverkehr herrscht. Darum verhält man sich dort gegen den Ausländer und seine Kultur nicht so sehr abweisend wie anderswo. Man sieht ein, daß der Umgang mit ihm große Vorteile bringt; man möchte sich diese Vorteile wohl gern aneignen, sieht aber durch die Gesetze einen starren Zaun um sich gezogen, welcher nicht zu übersteigen ist. Höchstens darf man sich erlauben, heimlich eine Lücke durch denselben zu brechen.

Eine solche Lücke war es, welche sich dem Methusalem öffnete, als der Tong-tschi ihm und seinen Gefährten die Gastfreundschaft anbot und einen Paß versprach.

Ueber eine Woche hatten sie in Hongkong bleiben müssen, bevor die Untersuchung gegen die Piraten so weit gediehen war, daß die Vernehmung der Zeugen nicht mehr vonnöten war. Der Tong-tschi war mit dem Ho-po-so schon am ersten Abende abgereist, und beide hatten dem Studenten gesagt, wo, wie und wenn er sie in Kanton finden könne.

Dieser Name ist falsch. Kanton oder vielmehr Kuang-tung heißt die Provinz. Der Name der Hauptstadt aber ist Kuang-tschéu-fu. Sie liegt 150 Kilometer vom Meere entfernt am nördlichen Ufer des Perlstromes und bildet ein unregelmäßiges Viereck, welches von einer neun Kilometer langen Mauer umgeben wird. Diese ist auf Sandsteinfundament aus Ziegeln gebaut, acht Meter hoch und sechs Meter dick und wird von fünfzehn Thoren durchbrochen. Eine Quermauer, durch welche vier Thore gehen, scheidet die Alt- oder Tatarenstadt von der Neu- oder Chinesenstadt. An den Seiten schließen sich ausgedehnte und volkreiche Vorstädte an, welche der zahlreichen Bevölkerung doch nicht Platz genug bieten, weshalb über dreihunderttausend Menschen auf Flößen, Booten und ausgedienten Schiffen wohnen, die an die Flußufer befestigt sind, aber so oft ihre Plätze wechseln, daß für den eigentlichen Stromverkehr nur eine schmale Wasserrinne frei und offen bleibt.

Man schätzt die Zahl dieser Boote, welche Sam-pan genannt werden, auf über achtzigtausend. Die mobilen Bewohner derselben werden mit dem Namen Tan-kia bezeichnet. Auf diesen Sam-pan herrscht ein so wechselvolles Leben, daß der Fremde wochenlang zuschauen könnte, ohne müde zu werden. Doch ist es für ihn keineswegs geraten, mit allzu großem Vertrauen ein solches Boot, besonders des Nachts, zu besteigen, denn die Tan-kia sind Menschen, vor denen man sich wohl in acht zu nehmen hat. Sie gehören der ärmsten Klasse, der Hefe des Volkes an, haben entsetzlich mit der Not des Lebens zu ringen und finden dennoch alle Veranlassung, die Mandarinen als Blutegel zu betrachten, vor denen sie die Tasse mageren Reis, die ihren Hunger stillen soll, verbergen müssen. Da wird die Not denn stärker als die Ehrlichkeit, und so führen die meisten Tan-kia ein Leben, welches die Augen des Gesetzes mehr oder weniger zu scheuen hat.

Man lockt die Fremden unter den verschiedenartigsten Vorspiegelungen auf die Boote. Wohl dem, der dann nur als gerupftes Hühnchen davonschwimmen darf! Tausende sind verschwunden - vielleicht in die Magen der Fische, ohne daß eine Spur von ihnen aufzufinden war.

Längs des Flusses stehen die fremden Faktoreien mit ihren großen, wohlgepflegten Gärten und riesigen Warenhäusern, welche Hong genannt werden.

Scha-mien, das Europäerviertel, hat eine sehr malerische Lage. Es war ursprünglich eine in den Perlfluß vorspringende Landzunge und wurde durch einen hundert Fuß breiten Kanal vom Lande abgetrennt. Jetzt ist es ein Gemeinwesen für sich. Drei Brücken, welche durch Gitterthore verschlossen werden können, führen nach Kanton hinüber, und die eleganten Steinhäuser liegen zwischen grünen Grasplätzen, duftenden Gärten und schattigen Alleen so angenehm, wie hier nur möglich.

Hier legte der Dampfer der »China Navigation Company« an, welchen die sechs Reisenden doch noch benutzt hatten, um nicht möglicherweise abermals auf eine Piratendschunke zu geraten.

Obgleich der Dampfer den letzten Teil der Strecke nur mit halber Schnelligkeit fuhr, war es doch absolut unbegreiflich, daß er die umherjagenden Boote nicht dutzendweise unter sich begrub.

Und wie ging es erst am Landeplatze zu! Da drängten sich Hunderte und Aberhunderte auf die aussteigenden Passagiere los, um einige Sapeken zu verdienen. Das schrie, brüllte, kreischte durcheinander, daß man die einzelnen Stimmen fast gar nicht zu unterscheiden vermochte. Da boten sich Sänftenträger, Wäscher, Barbiere, Bootsleute, Führer, Händler, Dolmetscher an, indem einer den andern zur Seite stieß, um sich vorzudrängen.

Der Methusalem stieg gar nicht aus. Er wartete, bis die Schreienden glaubten, daß das Schiff sich geleert habe, und sich einen anderen Ort suchten, um dort denselben Spektakel zu wiederholen.

In Scha-mien gibt es nur einen einzigen Gasthof, welcher einem portugiesischen Wirte gehört. Dorthin begaben sich die sechs zunächst, und zwar ganz in der bekannten Weise und Reihenfolge.

Es versteht sich von selbst, daß sich sogleich eine Menge Menschen fanden, welche von dem Anblicke der für sie fremdartigen, sonderbaren Gestalten herbeigelockt wurden. Der Ausruf »Fan-kwei«, fremde Teufel, wurde vielfach hörbar, doch wagte niemand, die Reisenden zu belästigen, wohl wegen deren würdevoller Haltung und weil man in Turnerstick wirklich einen Mandarin vermutete.

Der Gasthof war keineswegs ein Hotel zu nennen. Die Europäer werden am Tage über von ihren Geschäften vollständig in Beschlag genommen und des Abends versammeln sie sich in ihren verschiedenen landsmännischen Klubs, so daß der Gastwirt nicht auf sie rechnen kann und sich also auf niedriger stehende Gäste einrichten muß.

Er bot den Reisenden sogleich Zimmer an; Degenfeld aber lehnte ab und fragte nur, ob Bier zu haben sei. Er hatte keins, erbot sich aber, welches aus dem nahen Klubhause holen zu lassen, und bald bekamen sie einen vortrefflichen Bergedorfer Gerstensaft vorgesetzt, den sie sich aus dem Stammglase des Blauroten munden ließen.

»Ich dachte, Sie wollten hier kein Bier mehr jenießen,« meinte der Gottfried. »Wenigstens sagten Sie in Hongkong so, von wejen die teuren Preise.«

»Ja, dat heeft hij gezegd - ja, das hat er gesagt,« stimmte der Dicke bei.

»O, der Methusalem und kein Bier! Dat paßt nie zusammen.«

»Paßt schon!« sagte Degenfeld. »Heut aber darf ich es mir schon noch bieten. Wir haben für diese ganze Woche im Hotel nichts zu bezahlen gehabt, weil wir als Zeugen zum Bleiben gezwungen waren. Old England hat unsere Zeche übernommen. Darauf können wir uns nun einige Gläser genehmigen. Aber unser Freund Liang-ssi wird nicht länger teilnehmen können.«

»Warum nicht?« fragte der Genannte.

»Weil Sie fort müssen, nämlich zuerst zu dem Agenten, welcher den Brief nach Deutschland besorgte, und sodann zum Tong-tschi, um ihm zu melden, daß wir angekommen sind. Wir werden hier abwarten, ob der erstere uns vielleicht hier aufsucht und ob der letztere sein Wort hält und uns zu sich kommen läßt.«

Darauf hin entfernte sich der Chinese, um draußen sich einen Palankin zu nehmen und die beiden Personen aufzusuchen. Die anderen tranken weiter.

Die noch im Zimmer anwesenden Gäste starrten die fünf mit verwunderten Augen an. Es waren einige Europäer unter ihnen, die nicht erstaunt zu sein brauchten, kaukasisch geschnittene Gesichter hier zu sehen; aber daß die Leute Studententracht trugen, hier im fernen China, das kam ihnen mehr als sonderbar vor.

Der Methusalem fühlte sich gelangweilt von diesen immerfort auf ihn gerichteten Blicken. Er sah, daß hinter dem Hause ein Garten lag, und ging hinaus, um einmal einen chinesischen Garten in Augenschein zu nehmen.

Wenn er geglaubt hatte, hier echt chinesische Anlagen zu erblicken, so war er in einer großen Täuschung befangen gewesen. Der Garten war klein, auf drei Seiten von Mauern umgeben, stieß mit der vierten an das Haus und zeigte nicht einmal eine Blume, sondern nur Küchengewächse.

Nur an der dem Hause gegenüber liegenden Mauer stand ein schön blühender Strauch, den er noch nicht kannte. Er trat näher, um die Blüten genauer zu betrachten. Da hörte er einen Pfiff jenseits der Mauer, an der Stelle, wo er diesseits stand. Die Mauer reichte ihm bis an die Schulter. Nicht aus Neugierde, sondern ganz unwillkürlich bog er den Kopf vor, um zu sehen, wer da gepfiffen habe.

Es stand ein Chinese draußen, welcher sehr gut gekleidet war, also der besseren Klasse angehören mußte. Auch derjenige, welchem der Pfiff gegolten hatte, war zu sehen. Dieser gehörte ganz gewiß dem niedrigsten Pöbel an. Er war barfuß; die Hose reichte ihm nur bis an die Kniee; anstatt eines Rockes oder einer Jacke trug er einen aus langen Grashalmen gefertigten Umhang in Form eines rundum vom Halse bis auf den Unterleib niederhängenden Kragens. Der Kopf war unbedeckt und mit einem dünnen Zöpfchen verziert, welches einem Rattenschwanze sehr ähnlich sah.

An der Mauer führte ein gerader, schmaler Weg vorüber, jenseits desselben hinter Mauern wieder Gärten lagen. Auf diesem Wege, zwischen den Mauern, kam der Mann eiligst herbeigelaufen.

»Tsching, tsching, ta bang!« grüßte er bereits von weitem.

Ta bang heißt großer Kauf- oder Handelsherr.

»Schrei nicht so!« warnte ihn der andere, natürlich in chinesischer Sprache. »Niemand braucht zu hören, daß sich hier jemand befindet. Warum hast du mich so lange warten lassen?«

»Ich stand weiter oben und wartete auf den sehr alten Herrn.«

Wenn der Chinese sehr höflich sein will, so nennt er sich sehr jung und den, mit welchem er spricht, sehr alt. Mit dem »Sehr alten Herrn« war also der andere gemeint, obgleich er höchstens halb so alt wie der Sprechen war.


1) : Akademie der Wissenschaften.
2) : Holländer.
3) : Franzosen.
4) : Engländer.
5) : Paß der obersten Behörde.
6) : Herberge, Gasthaus.
7) : Gemeindepalast.
8) : Chinesenknabe.
9) : Mohammedaner.


(Fortsetzung folgt.)



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