Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 23, Seite 353
Reprint Seite 147


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

»Nun, hast du es dir überlegt?« fragte dieser.

»Ja.«

»Und was hast du beschlossen?«

»Ich kann es nicht thun.«

»Warum nicht?«

»Es ist zu gewagt und bringt nichts ein.«

»Bist du toll, oder hast du vergessen, wieviel ich dir geboten habe?«

»Ich habe es nicht vergessen, tausend Li.«

»Nun, ist das nicht genug?«

»Nein, es ist zu wenig.«

»Um einen Gott zu stehlen? Das ist doch sehr leicht.«

»Ja, aber ich soll den Gott nicht nur stehlen, sondern ihn auch bis in das Innere der Stadt bringen.«

»Sinne nach, so wirst du ein Mittel finden, wie das ohne Gefahr geschehen kann!«

»Ich weiß eins; aber ich soll den Gott auch im Garten des Nachbar Hu-tsin vergraben. Das ist eine dreifache Mühe.«

»Nein, es ist nur eine einzige That.«

»Den Gott stehlen, den Gott bringen und den Gott vergraben, das sind drei ganz verschiedene Thaten. Ich müßte also dreitausend Li bekommen.«

»Schurke! Ich gebe tausend, nicht mehr!«

»Der ältere Herr mag bedenken, daß die Sache nicht leicht ist. Der Gott ist aus Metall, halb so groß wie ich und sehr schwer. Ich brauche noch einen zweiten Mann dazu.«

»Du bist kräftig genug; ich kenne dich und weiß, was du zu leisten vermagst.«

»Tragen könnte ich ihn vielleicht allein, aber in die Stadt bringen nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil ich den Gott in eine Sänfte setzen muß. Und zu einer Sänfte gehören doch zwei Männer.«

»Das ist freilich wahr.«

»Also müßte ich wenigstens zweitausend Li bekommen, eintausend für mich und eintausend für den andern.«

»Aber am Tage kannst du den Gott nicht stehlen und des Nachts sind die Straßen verschlossen; da kannst du ihn nicht bringen!«

»Ich stehle ihn in der Dämmerung. Jetzt werden die Straßen erst eine Stunde nach Einbruch des Abends geschlossen. Da habe ich vollständig Zeit, ihn zu bringen und auch einzugraben.«

Wenn dieser Mann von einer Stunde sprach, so sind das nach unserer Zeitrechnung zwei. Der Chinese hat nämlich zwölf Doppelstunden, »Schi« genannt, deren erste nachts elf bis ein Uhr währt.

»Mute dir nicht zu viel zu!« warnte der Vornehme. »Besser ist's, du stiehlst ihn heute und bringst ihn morgen zu meinem Nachbar.«

»Ich habe keinen Ort, ihn bis morgen aufzubewahren. Mein Herr Wing-kan muß bedenken, daß sich ein großer Lärm erheben wird, wenn man erfährt, daß ein Gott im Tempel fehlt. Die ganze Stadt wird in Aufruhr geraten, vielleicht heute abend schon. Er muß vergraben werden, gleich nachdem ich ihn gestohlen habe. Ich bringe ihn im Siüt-schi und bin noch vor dem Hai-schi fertig.«

Die Doppelstunden heißen, wie schon erwähnt, »Schi« welchem Worte die Zeichen des Zwölfercyklus vorgesetzt werden. Die Stunden heißen also und währen, von nachts elf Uhr an gerechnet:

tsi-schi 11bis 1Uhr
tsch'eu-schi 1"3"
yîn-schi 3"5"
maò-schi 5"7"
schîn-schi 7"9"
ssi-schi 9"11"
ngu-schi 11"1"
wéi-schi 1"3"
schin-schi 3"5"
yeù-schi 5"7"
siüt-schi 7"9"
hái-schi 9"11"

Wenn der Mann sagte, daß er den »Gott« im Siüt-schi bringen und noch vor dem Hai-schi fertig sein werde, so meinte er, daß er nach sieben Uhr zu kommen und vor elf Uhr mit dem Vergraben des gestohlenen Gegenstandes fertig zu sein beabsichtige. Er fügte noch hinzu:

»Mein älterer Gebieter wird einsehen, daß ich es nicht für tausend Li thun kann. Es ist zu beschwerlich und mit großer Gefahr verknüpft. Wenn man mich ergreift, so werde ich hingerichtet, vielleicht gar mit dem Pfahle, denn einen Gott zu stehlen, wird strenger als alles andere bestraft.«

»Das weiß ich allerdings. Darum will ich dir die zweitausend Li bezahlen, vorausgesetzt, daß du deine Sache brav machst und kein Verdacht auf mich selbst fällt.«

»Ich werde es so schön machen, daß alle Schuld auf den Lin1) fallen muß. Aber wann bekomme ich das Geld?«

»Morgen um dieselbe Zeit komme ich hierher, um es dir zu bringen.«

»Und wann soll es geschehen? Wohl noch heute? Ja? Je eher, desto besser. Daß dieser Hu-tsin baldigst für die Beleidigung bestraft wird, welche ich freilich noch gar nicht kenne.«

»Es ist eine doppelte. Er weiß die Käufer an sich zu locken, so daß ich oft ganze Tage lang im Laden sitze, ohne einen Li einzunehmen. Darüber ärgerte ich mich und sagte ihm, daß er die Tochter eines T'eu2) zum Weibe habe. Darauf beschimpfte er mich dadurch, daß er öffentlich sagte, einige meiner Ahnen seien durch den Henker gestorben, und außerdem könne er nachweisen, daß ich kein ehrlicher Goldschmied sei, da ich mit geringem Metalle arbeite und mich einer falschen Wage bediene. Nun sind auch diejenigen Kunden, welche ich hatte, vollends von mir weggeblieben.«

»Die erstere dieser Beleidigungen ist allerdings todeswürdig. Kein Mensch würde sie ungeahndet lassen. Wer läßt seine Ahnen beschimpfen!«

»Kein wirklicher Sohn seiner Eltern! Er behauptete, meine Vorfahren seien überhaupt nur Tsien3) gewesen.«

»So müßte er eigentlich vor den Richter kommen!«

»Das fällt mir nicht ein. Man würde ihn bestrafen, aber ich hätte ebensoviel zu bezahlen wie er. Diese Mandarinen gleichen dem tiefen Sande, in welchem der Regen stets gleich verschwindet. Sie sind unersättlich.«

»Aber wenn er nicht verklagt wird, so wird man sagen, daß er doch recht gehabt haben müsse!«

»Immerhin! Wenn er nun als der Dieb eines Gottes ertappt wird, ist es nicht nur um sein Leben, sondern auch um seine Ehre geschehen, und dann wird man mir gern glauben, wenn ich sage, daß er gelogen habe. Dazu sollst du mir verhelfen und ich werde dich heute abend an meiner Gartenmauer erwarten, sobald der Siüt-schi angebrochen ist. Für jetzt aber wollen wir uns trennen. Der Ort ist zwar sehr einsam. Aus diesem Grunde und weil du hier im Sam-pan wohnst und mich in dieser Stadtgegend kein Mensch kennt, habe ich diese Stelle für unsere Zusammenkünfte gewählt. Aber es könnte doch jemand kommen. Hast du vielleicht noch eine Frage?«

»Nein.«

»Und ich kann mich auf dich verlassen?«

»So wie immer. Es ist ja nicht das erste Mal, daß ich für meinen hochgeehrten Alten stehlen gehe, und ich habe mich immer seines Beifalles erfreut. Also gehen wir. Tsing, tsing!«

»Tsing leao!«

Der Methusalem hörte, daß einer von ihnen sich entfernte. Es mußte der Vornehme sein, welcher von dem Diebe Wing-kan genannt worden war. Das laute Geräusch der Schritte konnte nur von Schuhen herrühren und der Verbrecher war ja barfuß.

Nach wenigen Minuten war ein anderes Geräusch zu hören. Es klang wie ein mit den Händen verursachtes Kratzen oder ein Reiben des Körpers an der Mauer. Der Blaurote trat schnell hinter den erwähnten Strauch und bückte sich nieder, so daß dieser ihn vollständig verbarg. Gleich darauf erschien das Gesicht des Diebes draußen über der Mauer. Er hatte emporklettern müssen, weil der Weg tiefer als der Garten lag. Der Mann mußte die zu seinem Handwerke so unentbehrliche Vor- und Umsicht besitzen. Er blickte herein, um zu sehen, ob das Gespräch vielleicht hier einen Zeugen gehabt habe. Als er niemand sah, sprang er wieder ab und entfernte sich.

Dem Methusalem war das, was er gehört hatte, von großem Interesse. Ein Gott, also ein Götzenbild, sollte aus einem Tempel gestohlen werden. Das war, wie der Dieb ganz richtig gesagt hatte, ein Verbrechen, auf welches das Gesetz die härteste, qualvollste Todesstrafe legte. Und für welchen Preis wagte der Mann sein Leben? Tausend Li sollten sein Anteil sein, also ungefähr sechs Mark nach deutschem Gelde!

Degenfeld fragte sich, ob die Sache ihn etwas angehe. Er antwortete mit ja. Ob ein Götze aus einem der vielen hiesigen Tempel entfernt würde oder nicht, das konnte ihm sehr gleichgültig sein; aber es handelte sich darum, daß ein Unschuldiger als schuldig hingestellt werden sollte. Es war Pflicht, dies zu verhüten. Aber wie? Nun, es lag sehr nahe, daß der Student sogleich an Tong-tschi, den Mandarin, dachte. Ihm wollte er erzählen, was er hier erlauscht hatte, und dieser mochte dann das weitere verfügen.

Er ging in die Gaststube zurück und erzählte seinen Gefährten das Begebnis, natürlich mit leiser Stimme, um von den anderen Gästen nicht gehört oder gar verstanden zu werden. Als er geendet hatte, sagte der Gottfried, indem er eine Grimasse zog und den Kopf schüttelte:

»Schönes Land, wo nicht mal die Jötter sicher vor den Spitzbuben sind! Wat sagen Sie dazu, Mijnheer

»Wat ik zeg? Een god zal gemuist worden? Dat is voorbeeldelos; dat is nook niet daageweest - was ich sage? Ein Gott soll gemaust werden? Das ist beispiellos (vorbildlos); das ist noch nicht dagewesen.«

»Dat mögen auch schöne Jötter sind, die sich von so einem Spitzbuben ins Jemüse schleppen lassen! Aberst interessant ist es doch im höchsten Jrade. Kommen wir da nur so herjeschneit und werden augenblicklich schon Mitinhaber einer solchen Kriminalanjelegenheit! Wat jedenken Sie zu thun, oller Methusalem?«

»Was meinst du wohl?«

»Nun, ich würde mir eijentlich in diese jöttliche Sänftenwanderung jar nicht mischen und es dem Idol überlassen, sich selbst seiner Haut zu wehren; aberst da ein Unschuldiger ins Verderben jestürzt werden soll, so möchte ich jeraten haben, die Sache beim hiesigen 'Staatsangwalting', wie unser Turnerstick sagen würde, zur Anzeige zu bringen.«

»Nun,« fiel der Kapitän schnell und eifrig ein, »ist dieses Wort etwa nicht richtig? Hat es etwa nicht ein ang und auch ein ing? Ich höre zu meiner Freude, daß Sie sich meine Lehren so nach und nach zu Herzen nehmen. Wenn Sie dabei beharren, werden Sie bald ein ebenso gutes Chinesisch reden wie ich selbst. Uebrigens stimme ich bei: Wir müssen Anzeige machen. Dieser Hu-tsin scheint ein ehrlicher Mann zu sein, während Wing-kan jedenfalls ein Schurke ist, da der Dieb schon öfters für ihn gestohlen hat. Was aber hat es denn mit den Ahnen auf sich? Ist das wirklich eine so tödliche Beleidigung?«

»Hier in China, ja. Schon bei uns daheim würde kein Ehrenmann seine Ahnen unbestraft beschimpfen lassen; hier aber ist es noch ein ganz anderes, da das Andenken an die Vorfahren geradezu als Kultus behandelt wird. Es ist eine der lobenswerten Eigenschaften des Chinesen, daß er seine Eltern in hohem Grade ehrt und den Verstorbenen eine nie ermüdende Pietät widmet. Ts'in ts'in, 'die Eltern als Eltern behandeln', oder anders ausgedrückt, lao ngu lao, 'ich behandle die Alten als Alte', gilt als unumstößliche Regel. Den Manen der Vorfahren ist ein besonderer Platz des Hauses gewidmet und geweiht, an welchem man ihnen zu gewissen Zeiten Opfer bringt. Alle Unehre und jede Ehre, welche dem Nachkommen widerfährt, fällt auch auf seine Ahnen zurück, die dann mit ihm gelobt oder verachtet werden. Die Stätte, an welcher sie begraben liegen, ist eine heilige und wird mit Fleiß gepflegt, solange ein Nachkomme vorhanden ist.«

»Aber wenn das nicht der Fall wäre?«

»Nun, dann gehen die Ueberreste freilich den Weg alles Fleisches; das Grab wird nicht mehr beachtet, und bald liegen die Knochen zu Tage und werden mit Füßen getreten. Jeder denkt eben nur an seine Ahnen; diejenigen anderer Leute gehen ihn nichts an. Es gibt hier herrlich angelegte Gottesäcker, aber es ist keineswegs religiöser Zwang, in einem solchen begraben zu werden. Der Chinese trachtet vor allen Dingen danach, nach seinem Tode in heimatlicher Erde oder gar im Boden seiner Provinz, seines Distriktes zu ruhen. Ob aber seine Leiche da einem Begräbnisplatze oder der freien Erde übergeben wird, das ist ihm gleich, wenn er sich nur vorher überzeugt hat, daß seine abgeschiedene Seele mit dem betreffenden Orte zufrieden ist.«

»Zufrieden? Hm! Sie kann ja nichts dagegen haben. Was wollte sie thun?«

»Sie sendet Unglück über Unglück auf die Nachkommenschaft und zwingt dieselbe, ihr eine andere Stelle anzuweisen, an welcher sie sich komfortabler eingerichtet fühlt. So wenigstens ist die Meinung der Chinesen. Jeder bestimmt, wo er begraben sein will. Hat er das aber versäumt, so wenden sich seine Anverwandten an gewisse Priester, welche in dieser wichtigen Angelegenheit bewandert sind. Sie reisen im Lande umher, natürlich auf Kosten der Anverwandten, besichtigen die Stellen, welche ihnen als geeignet erscheinen, und halten mit dem Geiste Zwiegespräch. Hat er ihnen dann den Punkt bezeichnet, so kehren sie zurück, um die Hinterlassenen zu benachrichtigen und die Ueberreste hinzuschaffen. Es versteht sich ganz von selbst, daß der Geist um so wählerischer ist, je wohlhabender seine Anverwandten sind und je besser sie die Priester bezahlen können.«

»Also ein kleines Geschäftchen dabei?«

»Ja. Sind die Verwandten sehr zahlungsfähig, so kommt es vor, daß der Geist seiner Begräbnisstelle überdrüssig wird, oder es stellt sich an derselben irgend ein Mangel heraus, von welchem er vorher nichts geahnt hat. Da ist ihm vielleicht die Aussicht nicht gut genug, oder die Stelle ist zu rauh oder feucht, so daß er des Nachts frieren muß. Scharfen Zug kann er nicht vertragen. Vielleicht ist in der Nähe eine Mühle angelegt worden, deren Klappern ihn in seiner Ruhe stört. Dann erscheint er dem Priester und sendet denselben zu den Hinterlassenen, damit diese ihm einen trockeneren, wärmeren, zugfreien und ruhigeren Ort suchen und seine Gebeine dorthin schaffen lassen. Abgeschiedene, welche besonders eigensinnig und empfindlich sind, müssen wiederholt begraben werden, bis die Verwandten endlich doch die Geduld verlieren und ihm sagen lassen, sie achteten und ehrten ihn außerordentlich, aber er möge nun auch sie in Ruhe lassen und von jetzt an verständig sein; sie seien entschlossen, für ihn nun keinen Li mehr auszugeben, da er ihnen schon mehr als genug gekostet habe.«

»Dat ist lustig!« lachte Gottfried von Bouillon. »Und dat jeschieht wirklich in allem Ernste?«

»Sehr!«

»Und wat lag in dem Worte Tsien für eine Beleidigung?«

»Auch eine große. Man unterscheidet in China nämlich drei Klassen der Bevölkerung. Die erste heißt Liang = die ehrenwerte; die zweite Tsien = die wertlose, und die dritte Man = die heimatslose. Diese Unterscheidung wird streng festgehalten. In die ehrenwerte Klasse gehören Tsu = der Adel, Nung = der Ackerbauer, Tsang = der Kauf- und Handelsstand, und endlich Kung = der Handwerker. Zur wertlosen Klasse zählen die Bedienten, Schauspieler, Sänger, Tänzer, Musikanten, Sträflinge, Leichenwäscher und Henker. Die Klasse der Heimatslosen umfaßt alle, welche keinen festen Wohnsitz haben, von einer Provinz zur anderen ziehen und also meist in den öffentlichen Herbergen leben. Wing-kan gehört als Goldschmied der ehrenwerten Klasse an. Sein Nachbar hat aber behauptet, daß die Ahnen desselben zu den Wertlosen gehört hätten, daß sogar einige von ihnen hingerichtet worden seien. Das ist eine höchst beleidigende Mißachtung, ja Beschimpfung der Verstorbenen. Doch habe ich alle Lust, zu glauben, daß der Beleidiger die Wahrheit gesagt hat. Dafür soll ihm ein gestohlenes Götzenbild im Garten vergraben werden. Findet man es, woran kein Zweifel sein kann, da sein Gegner wohl Anzeige machen wird, so ist er verloren. Wir müssen das verhüten. Ich bin gewillt, mit Tong-tschi darüber zu sprechen. Vielleicht ist es ihm möglich, die Wohnung der beiden noch vor Abend zu ermitteln.«

Jetzt kehrte Liang-ssi zurück. Er meldete:

»Den Agenten muß ich nochmals aufsuchen, denn er war verreist und kommt erst morgen wieder heim. Auch der Mandarin war ausgegangen, kehrt aber bald zurück. Der Hausmeister teilte mir mit, daß Zimmer für uns bereit gehalten seien, und ist selbst mit mir gekommen, um Sie in Sänften abzuholen. Er wird sogleich erscheinen.«

Er hatte kaum ausgesprochen, so trat der Genannte, ein behäbig aussehender und fein gekleideter Chinese, ein, verbeugte sich tief und lud die sechs Personen im Namen seines Gebieters und in den höflichsten Ausdrücken ein, in den Palankins Platz zu nehmen, welche draußen für sie bereit ständen. Degenfeld bezahlte das Bier, welches noch teurer als in Hongkong war, und folgte dann mit den Gefährten dem Hausmeister.

Draußen standen sieben mit prächtigen Vorhängen versehene Sänften. Vier Läufer, welche, um den Weg durch das Volksgedränge bahnen zu können, mit Stöcken versehen waren, standen dabei. Der Hausmeister komplimentierte die Gäste in die Palankins und zog deren Vorhänge zu, damit die so fremd und auffällig gekleideten Insassen nicht durch die Zudringlichkeit des Publikums belästigt werden könnten. Hinter der letzten Sänfte hielten auch zwei Diener, welche die Gewehre zu tragen hatten, weil diese ihrer Länge wegen nicht in die Portechaisen gingen.

Was Heimdall Turnerstick betraf, so bückte er sich, ehe er einstieg, nieder, um nachzusehen, ob sein Tragsessel etwa einen beweglichen Boden habe. Er war um eine Erfahrung reicher und hatte keine Lust, eventuell wieder »Sänfte laufen« zu müssen. Zu seiner Beruhigung sah er und überzeugte er sich auch noch mit den Händen, daß der Boden fest und stark genug war, ihn zu tragen.

Als auch der Hausmeister eingestiegen war, setzten sich die Träger in schnelle Bewegung. Der Methusalem schob die Vorhänge ein klein wenig zurück, um hinausblicken zu können, ohne selbst gesehen zu werden.

Ein Gedränge, wie es in diesen Straßen gab, war ihm noch niemals vorgekommen. Uebrigens war, sobald die eigentliche Stadt erreicht wurde, von »Straßen« keine Rede. Die Gassen waren so schmal, daß die Sänfte die halbe Breite des Weges einnahm. Sie glichen den Schlupf- und Seitengäßchen alter deutscher Kleinstädte. Die Häuser hatten oft nur das Parterre, nie aber mehr als einen Stock, und alle waren mit Läden versehen, welche offen standen, so daß man die Waren und den Verkäufer sehen konnte. Die Dächer hatten die sonderbarsten Formen und waren mit fremdartigen Schnörkeleien versehen. An jedem Hause hingen lange, schmale Firmenschilder senkrecht hernieder, während sie bei uns platt an die Mauer befestigt werden. Sie trugen auf beiden Seiten in chinesischer Schrift ein Verzeichnis der hier ausgestellten Waren und den Namen des Ladenbesitzers. Will man sich ein Bild von dem Verkehre machen, welcher sich in diesen Gassen bewegte, so muß man sich die Schlußzeit einer Theatervorstellung denken, wo sich das dicht zusammengedrängte Publikum in geschlossener Masse durch die Ausgänge schiebt. Und doch ist dieser Vergleich unzureichend, da hier in den Gassen sich ja nicht alle in einer und derselben Richtung bewegten, sondern zwei Strömungen gegeneinander stießen. Hier durchzukommen, konnte eben nur Chinesen gelingen.

Da kamen ernste, berittene Mandarinen mit einem Gefolge von Dienern, Kulis mit schweren Lasten, die ein türkischer Hammal wohl kaum hätte überwältigen können, beladene Esel und Maultiere, Ausrufer, Handwerker, Geschäftsleute, ambulante Verkäufer, Bettler, Soldaten und Kinder, welche, wenn es Knaben waren, mit ihren ernsten Gesichtern und auf dem nackten Schädel hin und her bammelnden Zöpfchen einen eigenartigen Anblick boten. Das gab ein Schieben, Stoßen und Drängen, ein wüstes Durcheinander, welches ganz unentwirrbar zu sein schien. Das schrie, plärrte, brüllte, heulte und lachte, dazu das Hämmern der Schmiede, das Klappern der Verkäufer, das Klingeln der Garköche, das Hacken und Klopfen der Fleischer und hundert anderen Geräuscharten, welche zusammen ein dumpfes Brausen ergaben. Alle Stände waren vertreten; auch Frauen erblickte man, wenn auch ganz selten. Diese gehörten den niederen Ständen an und hatten unverstümmelte Füße. Erblickt man doch einmal ein weibliches Wesen, welches mit verkrüppelten Klumpfüßchen, sich auf einen festen Stock stützend, mühsam durch das Gedränge humpelt, so ist es gewiß eine verarmte und nun doppelt arme und elende Person, welche nun durch die Not zum Gehen gezwungen wird.

Zu beiden Seiten öffneten sich die Läden und Buden der Seidenhändler, Schuhmacher, Stoffhändler, Mützen- und Hutmacher, Lackwarenarbeiter, Porzellanhändler, Barbiere, Geldwechsler, Kuchenbäcker, Blechschmiede, Fleischer, Obsthändler, Gemüsekrämer und vieler anderer. Meist waren, wie in den türkischen Bazars, die gleichartigen Geschäfte in einer Straße zusammengelegt. Die Gassen endeten in triumphbogenartig überwölbten Pforten, welche des Abends verschlossen werden, um die Aufsicht zu erleichtern. Und dabei herrschte überall ein Halbdunkel, weil die Gassen eng sind und oft zum Schutze gegen Sonne oder Regen mit Strohmatten überdeckt werden.

So ging es durch die Drachen-, Gold-, Schatz-, Seiden-, Apotheker-, Wechsler-, Tiger- und Silbergasse an der Blumen- und später an der Pagode der fünfhundert Geister vorüber. In Europa wäre es geradezu ein Ding der Unmöglichkeit, sich da durchzuarbeiten; der Chinese bringt es fertig; er ist es nicht anders gewöhnt.

Einen ekelhaften Anblick boten die Bettler, deren es außerordentlich viele gab. Sie standen, lehnten, hockten, wackelten, schlürften und taumelten allüberall herum. Ihr Aussehen war erbärmlicher als erbärmlich. Sie waren mit allen möglichen und unmöglichen Schäden und Gebrechen behaftet, hatten sich die Gesichter absichtlich mit stinkendem Schmutze oder Blut beschmiert und der Grausamkeit der Natur so sehr und auf alle Weise nachgeholfen, daß man sich mit Abscheu von ihnen wenden mußte. Und doch werden sie von der Polizei geduldet. Das Bettlertum bildet in China eine soziale Macht, von deren Bedeutung und Einfluß der Europäer gar keine Ahnung hat.

Endlich hielten die Träger auf einer etwas breiteren Straße vor einem großen, palastähnlichen Hause. Der gänzliche Mangel an Verkaufsläden und von Firmenschildern in seiner breiten Fronte ließ vermuten, daß es entweder behördlichen Zwecken diene oder einem reichen Privatmanne gehöre.

Die benachbarten Häuser waren kleiner und schmäler. Die an ihnen niederhängenden, bunt bemalten und mit Gold- und Silbercharakteren beschriebenen Tafeln bewiesen, daß sie von Geschäftsleuten bewohnt seien.

Als der Methusalem beim Aussteigen einen Blick auf das zur Rechten liegende Nachbarhaus warf, glänzten ihm auf breitem Brette zwei Schriftzeichen entgegen, welche sogleich seine Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Zeichen Hu-tsin, also der Name desjenigen, in dessen Garten der gestohlene Gott vergraben werden sollte.

Es konnte in der großen Stadt mehrere Personen desselben Namens geben. Demnach fragte der Student den Hausmeister:

»Wer wohnt hier nebenan?«

»Hu-tsin, der Juwelier,« lautete die Antwort.

»Und wer ist dessen Nachbar?«

»Wing-kan, auch ein Juwelier. Wir befinden uns hier auf der Edelsteinstraße.«

Es konnte also keinen Zweifel geben: die beiden betreffenden Juweliere waren Nachbarn des Tong-tschi, ein Zufall, welcher gar nicht vorteilhafter hätte sein können.

Der Methusalem verlautete nichts über den Grund seiner Fragen. Er kannte die Zuverlässigkeit des Hausmeisters nicht. Wenn derselbe ein Freund des Wing-kan war, so hätte er auf den Gedanken kommen können, denselben zu warnen.

Aus dem breiten Thore des Hauses traten mehrere Diener, welche die Gäste nach einem großen Zimmer geleiteten, über dessen Thüre das Wort »Versammlungssaal« geschrieben stand.


1) : Nachbar.
2) : Bettlerkönig.
3) : Unehrenwerte Leute.


(Fortsetzung folgt.)



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