Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 37, Seite 577
Reprint Seite 213


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Der Student hatte seinen Paß bereit gehalten und zeigte ihn vor. Der Wächter leuchtete mit der Laterne auf die Schrift; als er die ersten Charaktere und dann das Siegel erblickte, riß er die Pforte auf und warf sich, ohne ein weiteres Wort zu sagen oder zu fragen, platt auf den Boden nieder. Sie konnten passieren.

Ebenso ging es am Ende von noch vier andern Straßen. Ueberall ertönte das Schui-ni-men, und sobald die Wächter den Paß erblickten, öffneten sie schleunigst und warfen sich dann auf die Erde.

Dann bogen die Träger in ein Haus ein, dessen Thür offen stand, und setzten die Sänften draußen im Hofe ab. Degenfeld, Gottfried und Richard stiegen aus. Es war hier so finster und still wie in einer Kirche um Mitternacht.

»Ich wollte, ich könnte mit euch gehen,« sagte Richard. »Mir ist so bange um euch, Onkel Methusalem.«

»Pah, bange!« antwortete der Blaurote. »Wer wird da ängstlich sein.«

»Aber es ist so gefährlich. Was thue ich, wenn man euch festhält?«

»Da läßt du dich zurück zum Tong-tschi tragen. Aber das kann gar nicht geschehen. Als Mandarinen haben wir das Recht, das Gefängnis zu jeder Stunde auch des Nachts zu besuchen. Da kann uns niemand etwas thun. Und sind wir drin, so werden wir ja sehen, ob die Sache leicht oder schwer ist. Ist sie unmöglich, so gehen wir unverrichteter Dinge fort. Kopflos werde ich gar nicht handeln. Also den Kopf in die Höhe, Junge! In einer Viertelstunde sehen wir uns wieder.«

Richard schlang den Arm um ihn, drückte ihn an sich und trat dann still zurück. Degenfeld ging mit dem Gottfried durch das Haus zurück auf die Straße. Diese war vollständig dunkel. Nur gerade ihnen gegenüber schimmerten einige geölte Papierfenster.

»Das ist im Gefängnisse,« sagte Degenfeld. »Dort muß es liegen.«

»Ja, nach der Beschreibung des Tong-tschi liegt es dort. Doch sagen Sie mich erst mal, welches Jefühl Sie in der Magengejend empfinden?«

»Ungefähr so, als ob ich saures Bier getrunken hätte.«

»Mich ist es ebenso. Und oben im Halse habe ich die Empfindung, als ob ich zur Hälfte einen Schangdarm verschlungen hätte. Ist es dat Jewissen, nämlich dat böse, oder die Angst?«

»Wohl beides. Einen Schritt, wie wir ihn vorhaben, kann man unmöglich ohne Sorge und Beklemmung thun. Wer das leugnet, der lügt einfach. Doch je schneller man ins Wasser springt, desto eher ist man naß. Komm, alter Gottfried!«

»Jottfried? Dat verbitte ich mich. Ich bin jetzt der Kuan-fu Ziegenkopf. Verstanden? Ich werde versuchen, mein Chinesisch an den Mann zu bringen.«

»Ja nicht! Sprich so wenig wie möglich; am besten ist's, du schweigst ganz.«

»Jut, so schweige ich chinesisch. Auch dat habe ich jelernt.«

Sie schritten über die Straße hinüber und standen vor einem Thore, welches durch eine hohe und dicke Mauer führte. Ueber dem Thore hing ein Gong, an welches der Methusalem schlug.

»Schui-tsi - wer da?« fragte es von innen.

»Ri kuan fu - zwei Mandarinen,« antwortete Degenfeld.

Ein Riegel wurde zurückgeschoben und das Thor ein wenig geöffnet. In der Lücke erschien zuerst ein Spieß und dann die Gestalt eines Soldaten, welcher ein kleines Laternchen in der Hand hielt.

»Lao-ye put tek lai - die alten Herren dürfen nicht herein,« sagte er.

Da zogen die beiden ihre Münzen vor und zeigten sie ihm. Sofort trat er zur Seite, um sie eintreten zu lassen, und verbeugte sich fast bis zur Erde herab.

Aus der Beschreibung, welche der Tong-tschi ihm geliefert hatte, kannte Degenfeld die Oertlichkeiten des Gefängnisses. Sie schritten über einen schmalen Hof und standen nun vor der Thür des eigentlichen Gebäudes, welches sich lang und nur ein Stockwerk hoch in der Dunkelheit verlor.

Auch hier mußte an ein Gong geschlagen werden, worauf hinter der Thür dasselbe Schui-tsi ertönte. Der Posten öffnete, als er die schon erwähnte Antwort bekam, und ließ sie nach Vorzeigen der Münze eintreten. Jetzt befanden sie sich in einem schmalen Gang, welcher von zwei Laternen erleuchtet wurde.

»Dummes Zeug!« brummte Gottfried.

»Was? Die Angst?«

»Nein, der Anzug. Dat schleppt bis auf die Füße, gerade wie bei sonne Promenadendame mit oblijate Schleppe. Ich bringe die Beine nicht vorwärts.«

In der Mitte des Ganges gab es rechts und links eine Thür. Degenfeld wußte vom Tong-tschi, wo die Gefangenen sich befanden. Er klopfte links.

»Schui-tsi?« rief es dahinter.

Die beschriebene Scene wiederholte sich abermals. Auch hier stand ein Soldat, welcher auf Brust und Rücken das Wort Ping zur Schau trug, welches eben »Soldat« bedeutet.

Als die Thür hinter ihnen wieder verriegelt worden war, befanden sie sich in einem breiteren Gang, in welchem zu beiden Seiten niedrige Thüren mündeten. Da lagen die besseren Gefängnisse.

Hinten am Ende des Ganges wurde jetzt eine Thür geöffnet. Der Schein eines hellen Lichtes fiel heraus und beleuchtete die Person, welche erschienen war, um zu erfahren, wer in so später Stunde komme. Es war der junge Mandarin. Das Bewußtsein seiner Verantwortlichkeit hatte ihm den Schlaf verboten. Er wartete, bis die beiden in den Kreis seines Lichtes traten, betrachtete sie mit mißtrauischem Blicke, verbeugte sich nur wenig und fragte:

»Schui-tsün, wer sind Sie?«

Die beiden zeigten, ohne mit einem Worte zu antworten, ihre Münzen vor.

» Kommen Sie herein!«

Er führte sie in eine kleine Stube, in welcher sich ein Tisch, ein Stuhl und eine niedrige Lagerstätte befand. Auf dem Tische brannten zwei Talgkerzen, bei denen ein aufgeschlagenes Buch lag. Der Mandarin betrachtete die Münzen längere Zeit und sehr genau; dann hatte er sich überzeugt, daß dieselben echt seien. Nun verbeugte er sich tiefer, also höflicher, und fragte:

»Welcher Veranlassung habe ich es zu verdanken, daß meine höheren Brüder mich besuchen?«

Das war noch immer nicht diejenige Höflichkeit, welche der Methusalem erwartet hatte. Darum antwortete er in ziemlich barschem Tone:

»Sind Sie der Pang-tschok-kuan dieses Hauses?«

»Ja.«

»Gibt es in dieser Stunde noch andere Oberbeamten hier, welche anwesend sind?«

»Nein.«

»Es sind heut zwei Lamas mit einem Dolmetscher eingeliefert worden?«

»Nein.«

»Ich glaube, Sie sprechen die Unwahrheit!«

»Ich sage keine Lüge. Diese Leute sind nicht das, wofür sie sich ausgeben. Der eine ist ein Holländer und der andere ein Deutscher.«

»Wie können Sie das wissen?«

»Ich habe mich überzeugt. Ich habe von Scha-mien einen Dolmetscher kommen lassen, welcher mir genaue Auskunft gab.«

»Hat er mit ihnen gesprochen?«

»Nein, denn in diesem Falle hätten sie sich in acht genommen, sich nicht zu verraten. Er hat an ihrer Thür gehorcht, und da sie laut sprachen, verstand er alle ihre Worte. Der dritte ist ein Chinese, welcher auch deutsch spricht.«

»Wer hat Ihnen denn die Erlaubnis erteilt, einen Dolmetscher kommen zu lassen?«

»Niemand. Ich bedarf dazu keiner besonderen Genehmigung.«

»Da dürften Sie sich irren, besonders da Ihnen schon der Tong-tschi eine ernste Verwarnung erteilt und Ihnen gesagt hat, daß er in dieser Angelegenheit allein zuständig sei.«

»Das habe ich auch geachtet. Ich habe die Gefangenen nicht belästigt und nur wissen wollen, wer sie sind.«

»Die allergrößte Belästigung für einen Menschen aber ist es, wenn er sich belauschen lassen muß. Die drei Männer wohnen hier?«

Er zeigte auf eine verschlossene Thür, welche nach der Seite hin aus dem Zimmer führte.

»Ja,« bestätigte der Mandarin.

»Oeffnen Sie! Ich wünsche mit ihnen zu sprechen.«

Anstatt zu gehorchen, musterte ihn der Pang-tschok-kuan abermals genau und antwortete:

»Diesem Wunsche kann ich nicht Folge leisten.«

»Wunsch? Von einem Wunsche ist keine Rede; es handelt sich vielmehr um einen Befehl, den ich Ihnen erteile.«

»Dem muß ich widersprechen. Ich kann eine Willensäußerung von Ihnen beiden nicht als Befehl gelten lassen.«

»Warum nicht?«

»Weil ich Sie nicht kenne.«

»Sie sehen es unserer Kleidung an, daß wir Ihnen vorgesetzt sind. Ihr geblümter goldener Mützenknopf und unsere blauen Kugeln müssen Ihnen sagen, daß wir in die dritte, Sie aber in die siebente Rangklasse gehören. Wir fordern also von Ihnen denjenigen Gehorsam, welchen Sie uns schuldig sind!«

Der junge Mann ließ kein Zeichen von Furcht blicken. Er sah dem Methusalem fest in die Augen und antwortete in ebenso festem Tone:

»Dieser Gehorsam soll Ihnen werden, sobald Sie mir beweisen, daß Sie berechtigt sind, diesen blauen Knopf zu tragen.«

»Was! Zweifeln Sie etwa daran?«

»Ich zweifle weder noch glaube ich daran; aber ich verlange Beweise. Gestern um dieselbe Zeit ist auch ein Mandarin desselben Knopfes hier gewesen und hat drei Gefangene entführt. Mir soll das nicht auch passieren.«

Der Methusalem hätte diesem braven und furchtlosen Manne am liebsten die Hand drücken mögen, obgleich ihm diese Festigkeit sehr ungelegen kam. Darum zog er seinen Paß heraus und zeigte ihn dem Mandarin, doch so, daß er ihn nicht lesen konnte, da er sonst aus dem Inhalte ersehen hätte, daß der Vorzeiger ein Fremder sei.

»Kennen Sie dieses Siegel?«

»Ja; es ist dasjenige des Himmelssohnes,« antwortete der junge Mann, indem er zwar sich nicht auf die Erde warf, aber doch niederkniete. »Sie sind also ein Schün-tschi-schu-tse, ein Vertrauter der höchsten Majestät; ich beuge mich vor Ihnen.«

»Stehen Sie auf und öffnen Sie die Gefängnisthür!«

Jetzt gehorchte der Mandarin. Die Stube, in welche der Methusalem jetzt blicken konnte, war allerdings keines der gewöhnlichen chinesischen Gefängnislöcher. Sie bot für drei Personen Raum genug und hatte einen Tisch, drei Stühle und ebenso viele Lagerstätten. Eine Laterne beleuchtete die Reste eines wohl nicht gefängnismäßigen Abendessens.

Die Gefangenen standen erwartungsvoll inmitten des Raumes; sie hatten die Sprechenden durch die Thür gehört und den Blauroten an der Stimme erkannt. Als sie ihn nun sahen, stutzten sie. Er bot in seiner chinesischen Tracht einen sonderbaren Anblick. Zwar kleidete dieselbe sein Bierbäuchlein gar nicht so übel, aber sein dichter, dunkler Vollbart paßte nicht zu ihr, und eine solche Nase hatte man wohl auch niemals bei einem Mandarin gesehen.

Noch anders, fast komisch, wirkte das Aussehen Gottfrieds. Die weite Tracht hing an seinem langen, hageren Körper wie ein Reisemantel um einen Gartenpfahl, und sein bartloses, vielfaltiges Gesicht nahm sich unter der Mandarinenmütze höchst sonderbar aus.

»Gott sei Dank, da sind sie endlich!« rief Turnerstick. »Und zwar in Maskerade! Aber, bester Methusalem, wie kommen Sie denn auf den Gedanken, Ihren Studentenanzug mit dieser Tracht zu vertauschen? Sie sehen so lächerlich aus, daß - - - «

»Still!« fuhr ihn der Blaurote an. »Ich glaube gar, Sie wollen lachen! Damit würden Sie alles verderben. Dieser junge Mann darf nicht ahnen, daß wir uns kennen. Er hält uns für sehr hohe Beamte. Kommen Sie aber mit Vertraulichkeiten, so ist es aus damit.«

»Aber - er versteht uns ja nicht,« stotterte der Kapitän verlegen.

»Ihr Gesicht und Ihr Ton sprechen deutlicher als alle Worte. Sie scheinen überhaupt keinen Begriff von der Gefahr zu haben, in welcher Sie schwebten und noch schweben. Sie sind geradezu leichtsinnig gewesen und haben gar keine Veranlassung, lustig zu sein. Doch habe ich zu Vorwürfen keine Zeit. Wir müssen handeln. Kommen Sie heraus in die Stube des Mandarins! Läßt er Sie nicht fort, so müssen wir ihn überwältigen.«

Indem er das sagte, trat er schnell an die vordere Thür, welche nach dem Gefängnisgange führte, um dem Mandarin diese Richtung abzuschneiden. Ebenso rasch kamen die Gefangenen herein in das Zimmer. Das ging so plötzlich vor sich, daß der Pang-tschok-kuan keine Zeit fand, es zu verhindern. Er stand neben Gottfried, hinter sich die drei Gefangenen und vor sich den Methusalem. Die Situation überschauend, fragte er in betroffenem Tone:

»Was soll das? Warum dürfen diese Leute herein?«

»Weil sie mit mir gehen werden,« antwortete Degenfeld. »Ich bin gekommen, sie abzuholen.«

»Das gebe ich nicht zu!«

»Wollen Sie mir, dem Schün-tschi-schu-tse, ungehorsam sein?«

»Ihnen und jedem andern, und wenn sein Rang noch so hoch wäre! Diese Leute sind mir von dem Tong-tschi anvertraut worden, und nur ihm allein werde ich sie übergeben. Ich rufe sofort die Wache!«

Er trat an das neben der Thür hängende Gong, um ein Alarmzeichen zu geben, doch der Methusalem schleuderte ihn zurück. Da richtete der furchtlose junge Mann sich stolz auf und rief:

»Jetzt weiß ich, woran ich bin. Sie sind kein Mandarin. Sie reden die Sprache dieser Gefangenen. Sie sind ein Bekannter von ihnen und wollen sie befreien. Gestehen Sie das?«

Diesem achtunggebietenden Wesen gegenüber konnte der Methusalem sich nicht zu einer Lüge entschließen; er hätte sich dann ihrer schämen müssen. Darum antwortete er:

»Sie haben es erraten, können aber die Ausführung unserer Absicht nicht verhindern. Sie sind einer gegen fünf.«

»Sie irren. Ich brauche nur um Hilfe zu rufen, So kommt die Wache!«

»Ja, der eine Mann, welcher draußen im Gange steht; von anderen können Sie nicht gehört werden. Und ob wir den mürben Spieß dieses Mannes fürchten, mögen Sie hiernach beurteilen!«

Er zog seine zwei Revolver aus der Tasche, zeigte sie ihm und spannte sie; Gottfried that desgleichen. Der Mandarin erbleichte, denn er wußte wohl, daß er nur von dem nächsten Posten gehört werden könne. Ein Widerstand seinerseits hatte nicht die geringste Aussicht auf Erfolg. Ja, selbst wenn alle wachehaltenden Soldaten hätten herbeikommen können, wären dieselben diesen vier Drehpistolen gegenüber ohnmächtig gewesen. Sie wären wohl schon vor dem selbstbewußten, furchtlosen Auftreten des Methusalem in alle Winkel gekrochen. Die Hauptsache aber war, daß dieser letztere sich in dem Besitze eines Passes befand, welchen jeder Soldat, bis hinauf zum General, zu respektieren gezwungen war. Er brauchte ihn nur vorzuzeigen, so gehorchte man seinen Befehlen, nicht aber denjenigen eines Gefängnisbeamten. Aus diesen Gründen konnte gar kein Zweifel darüber gehegt werden, daß die Gefangenen aus dem Huok-tschu-fang entkommen würden.

Wenn infolgedessen der Student der Ansicht gewesen war, daß der junge Mandarin sich fügen werde, so hatte er sich dennoch geirrt. Der Beamte zeigte eine sehr ernste, ja entschlossene Miene und sagte:

»Herr, Sie sind sehr gut vorbereitet. Ich sehe ein, daß ich zu schwach bin, die Ausführung Ihres Vorhabens zu verhindern. Aber Sie haben etwas nicht mit in Betracht gezogen, was Sie mit in Berechnung hätten ziehen sollen, nämlich das Schicksal, welchem ich erliegen werde, wenn Sie Ihren Vorsatz wirklich ausführen.«

»Sie irren. Ich habe daran gedacht.«

»So sind Sie wohl der Ansicht gewesen, daß man mich vielleicht nur meines Amtes entheben werde. Es ist sogar möglich, daß Sie angenommen haben, ich werde ganz ohne Strafe davonkommen. Ihnen kann es ja überhaupt gleichgültig sein, was mit mir geschieht; Ihr Gewissen wird sich nicht davon beschwert fühlen. «

Das klang so eindringlich und wurde in so ernstem, ja traurigem Tone vorgebracht, daß der Methusalem sich davon gerührt fühlte. Er antwortete:

»Ich denke nicht, daß Sie ganz ohne Strafe davonkommen werden; aber die Ahndung wird wohl auch nicht allzu hart sein. Man wird Ihnen einen Verweis erteilen.«

»Sie irren. Es sind gestern zwei Verbrecher entkommen; an ihrer Stelle sitzt nun der betreffende Beamte im Gefängnisse. Ganz ebenso wird es auch mir ergehen, und ich sage Ihnen, daß mir mein Ehrgefühl verbietet, das geschehen zu lassen. Ich sehe ein, daß ich Sie nicht hindern kann, diese Leute hier zu befreien; aber mich dann einsperren und meines Amtes entsetzen zu lassen, das kann ich verhüten. Sobald Sie sich entfernt haben, werde ich mich töten, und ich halte Sie nicht für so gewissenlos, daß Ihnen der Gedanke, der Mörder eines pflichtgetreuen Beamten zu sein, gleichgültig ist.«

Man sah ihm an, daß es ihm mit diesen Worten vollständig ernst sei. Degenfeld erkannte, daß er es hier mit einem festen Charakter zu thun habe. Er war vollständig überzeugt, daß der Mandarin sich wirklich das Leben nehmen werde. Das brachte ihn natürlich in große Verlegenheit. Die Gefährten sollten und mußten befreit werden; aber sollte ihre Freiheit mit dem Tode eines so braven Mannes bezahlt werden? Das mußte man vermeiden. Aber wie? Er versuchte, ihn durch freundliche und eindringliche Vorstellungen von seinem Vorhaben abzubringen, doch vergebens. Der Mandarin hörte ihn ruhig an und antwortete dann, indem er langsam den Kopf schüttelte:

»Ihre Bemühung, mich davon abzubringen, ist vollständig überflüssig. Das Amt, welches ich bekleide, steht so hoch über meinem Alter, daß tausend Mandarinen mich um dasselbe beneiden. Ich habe es durch ernste Anstrengung und treue Pflichterfüllung errungen und weiß, daß mir die höchsten Würden offen stehen. Aber keine einzige dieser Hoffnungen wird sich erfüllen, wenn ich morgen melden muß, daß meine Gefangenen entkommen seien. Man wird mich selbst in den Kerker stecken; dann gehöre ich zur untersten Klasse des Volkes, zu den Unehrlichen, und kann niemals wieder eine Anstellung finden. Lieber will ich sterben. Sie besitzen einen Paß, den selbst die höchsten Mandarinen respektieren müssen; aber keiner von ihnen darf sich durch denselben zu einer direkten Pflichtwidrigkeit verleiten lassen; bringen Sie mir einen Befehl, dem ich unbedingt zu gehorchen habe, so will ich diese Männer gern frei geben und den Folgen ruhig entgegensehen.«

»Das kann ich nicht, denn ich bin nicht im Besitze eines solchen schriftlichen Befehles.«

»So thun Sie, was Sie vor Ihrem Gewissen verantworten können. Ich weiche der Gewalt, wiederhole Ihnen aber, daß das Thor, durch welches Sie Ihre Freunde aus dem Gefängnisse führen, sich morgen früh auch meiner Leiche öffnen wird.«

»Entsagen Sie diesem Gedanken, und denken Sie an Ihre Verwandten, denen Sie damit den größten Schmerz bereiten würden,« bat der Student.

»Ehrlosigkeit ist schlimmer als der Tod. Uebrigens habe ich keine Verwandten. Ich weiß nicht, wo meine Eltern und Geschwistern sich befinden, ob sie überhaupt noch leben. Kein Auge wird weinen, wenn das meinige sich geschlossen hat.«

Der Chinese hält die Familienbande außerordentlich heilig. Die Verehrung der Ahnen ist bei ihm ein Gegenstand des Kultus, und er hält es für ein großes Unglück, über seine Vorfahren nicht Rechenschaft geben zu können. Die letzten Worte des Mandarinen enthielten also nicht nur ein außerordentliches aufrichtiges Geständnis, sondern sie waren auch ganz geeignet, das Mitgefühl, welches die Anwesenden für ihn empfanden, noch zu erhöhen.

Gottfried von Bouillon verstand Chinesisch genug, um das erraten zu können, was er nicht geradezu wörtlich verstand. Er sagte zu dem Blauroten:

»Dieser jute Mensch kann mich leid thun. Er macht mit seine Drohung janz jewißlich Ernst. Haben wir keinen Befehl für ihn, so wollen wir es doch wenigstens einmal mit dem Paß des Bettlerkönigs versuchen, den Sie von Hu-tsin empfangen haben. Denken Sie nicht?«

»Nein. Dieser T'eu-kuan ist kein amtliches Schriftstück.«

»Aber der Juwelier hat jesagt, dat ein jeder ihm respektieren werde.«

»Ja, aber ohne dann den Gehorsam eigentlich verantworten zu können.«

»Dennoch rate ich, es zu probieren. Thun Sie wenigstens mich den Jefallen!«

»Meinetwegen! Wenn es nichts nützt, so wird es jedenfalls auch nichts schaden.«

Er zog die erwähnte Legitimation hervor, reichte dieselbe dem Mandarin hin und sagte:

»Sehen Sie einmal dieses Schriftstück an! Vielleicht hat es die Wirkung, Sie von Ihrem grausigen Entschlusse abzubringen.«

Der Beamte griff nach dem Kuan. Als sein Auge auf die Zeichen fiel, nahm sein Gesicht einen ganz andern Ausdruck an.

»Ein T'eu-kuan!« rief er aus. »Und zwar ein derartiger, wie ihn nur ganz bevorzugte Personen bekommen! Herr, Sie sind ein vornehmer Schützling des T'eu. Ich darf mich nicht weigern; ich muß thun, was Sie wollen.«

»Das mußten Sie schon vorher, da wir die Macht hatten, Sie zu zwingen. Es handelt sich jetzt darum, ob Sie auch jetzt noch entschlossen sind, sich das Leben zu nehmen?«

»Jetzt nicht mehr, da die Befürchtungen, welche ich hegte, nun nicht mehr zutreffend sind. Welch ein Glück, daß Sie einen solchen T'eu-kuan besitzen! Er entbindet mich ja jeder Verantwortung.«

»Wirklich?«

»Ja, Herr. Wehe dem, welcher mich wegen einer That bestrafen wollte, welche ich auf Vorzeigen dieses Kuan vorgenommen habe!«

»Aber Sie müssen Ihren Vorgesetzten beweisen können, daß Ihnen derselbe gezeigt worden ist?«

»Allerdings.«

»Wie aber wollen Sie das thun?«

»Können Sie mir den Kuan nicht zurücklassen?«

»Nein, Sie sehen ein, daß ich mich von so einem wichtigen Schriftstücke unmöglich trennen kann. Es ist wahrscheinlich, daß ich seiner noch sehr oft bedarf.«

»Aber Sie wissen, wo der T'eu sich jetzt befindet?«

»Nein. Derjenige, von welchem ich den Kuan empfing, konnte es mir nicht sagen. Der T'eu hat ja keinen festen, bleibenden Aufenthaltsort.«

»Das ist wahr. Aber es ist zu erfahren, wo man ihn treffen kann. Wer einen solchen Kuan besitzt, dem muß jeder Unterthan des T'eu genaue Auskunft erteilen. Wohin wollen Sie die Gefangenen bringen?«

»Sie sehen ein, daß Sie der allerletzte sind, dem ich das verraten darf.«

»O nein. Ich bin der allererste, dem Sie es sagen können, denn ich werde mit Ihnen gehen. Ich selbst werde diese Herren aus dem Gefängnisse führen.«

»Darf ich diesen Worten Glauben schenken?«

»Gewiß! Ich muß dem T'eu gehorchen. Aber um meine Ehre zu retten, muß ich nachweisen können, daß er es ist, dem ich zu Willen gewesen bin. Infolge dessen muß ich ihn aufsuchen, ihn oder einen seiner Offiziere, um mir das Zeugnis zu holen, dessen ich bedarf, wenn ich nicht allen meinen Hoffnungen auf die Zukunft entsagen will.«

»Sie wollen also sogleich mit uns fort? Jetzt?«

»Ja, denn wenn ich eingesperrt werde, kann ich den erwähnten Beweis nicht liefern. Und da Sie den Kuan besitzen und nicht aus der Hand geben wollen, ist es mir nur mit Ihrer Hilfe möglich, das Zeugnis zu erlangen.«

»Können Sie es denn verantworten, das Gefängnis ohne Aufsicht zu lassen?«

»Das beabsichtige ich ja gar nicht. Ich werde, bevor ich gehe, die Aufsicht einem Unterbeamten übergeben und ihm zugleich sagen, daß ich auf höhern Befehl die Gefangenen entlassen und persönlich begleiten muß.«


(Fortsetzung folgt.)



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