Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 45, Seite 705
Reprint Seite 254


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Dabei verging die Zeit, welche sich der Hoei-hoei für die Vorbereitung des Mittagsmahls erbeten hatte. Er kam selbst, um seine Gäste abzuholen. Da er ihnen nicht zumuten wollte, den Weg nach seinem Häuschen, so kurz derselbe war, zu Fuße zurückzulegen, so hatte er alle im Dorfe vorhandenen Sänften in Beschlag genommen, um die Herren zu sich tragen zu lassen. Um Träger brauchte er nicht verlegen zu sein. Jeder Bewohner des Dorfes hielt es für eine Ehre für sich, den »hohen Gebietern« diesen Dienst zu erweisen.

Aber dazu kam es gar nicht, denn der Gottfried sagte, als er die Sänften erblickte:

»Ich habe keine Lust, mir auf den Händen tragen zu lassen. Es jiebt ja keine Reise um die Welt, sondern es jeht nur hübsch von Haus zu Haus. Ich sehe jar nicht ein, warum wir auf unsern jewöhnlichen Festeinzug verzichten sollen. Jehen wir also nicht mit die Beine anderer Leute, sondern mit unseren eigenen! Nicht?«

»Mir ist es sehr recht,« antwortete der Blaurote.

»Soll ich die Pipe anzünden?«

»Ja.«

»Schön! Dat wird mehr Eindruck machen als dat 'Laufen in die Sänfte', wie wir es in Hongkong von einem jewissen jemand jesehen haben.«

»Schweigen Sie!« gebot ihm Turnerstick. »Konnte ich denn dafür, daß der Fußboden unter mir flöten ging?«

»Nein. Aber dafür konnten Sie, dat jerade Sie sich in die Weltjejend befanden, wo die Sänfte flötete. Ich habe allen Respekt vor solchen Kastens. Also jehen wir lieber, als dat wir in den Palankins jegangen werden!«

Das geschah. Der kleine Zug setzte sich vor dem Hause in der schon oft erwähnten Weise und Reihenfolge in Bewegung, was auf die draußen Versammelten einen außerordentlichen Eindruck machte. Sie hatten die Mäuler ebensoweit offen wie die Schlitzaugen und wagten kein lautes Wort zu sprechen. Schweigend und in ehrfurchtsvoller Weise folgten sie den Fremden, um, als dieselben in das Häuschen des Mohammedaners getreten waren, sich vor demselben aufzustellen.

Das kleine Gebäude enthielt ein sehr sauber sich präsentierendes Vordergemach und einen kleineren Hinterraum, welcher zugleich Frauenstube und Küche zu sein schien. Von den weiblichen Bewohnern zeigte sich keine. Dies ist überhaupt chinesische Sitte, an welcher hier um so mehr festgehalten wurde, als der Besitzer des Hauses zum Islam übergetreten war.

Trotz dieses letzteren Umstandes zeigte der Hoei-hoei von den Gebräuchen, welche den Mohammedanern für die Mahlzeiten vorgeschrieben sind, nicht die geringste Spur. Es geschah alles in chinesischer Weise. Er nahm nicht mit an dem Tische Platz, sondern blieb stehen, um seine Gäste zu bedienen.

Es gab das Mahl eines armen Mannes, welcher einmal, wenn er einen Reichen bei sich bewirtet, einen tieferen Griff in seinen Beutel machen muß. Eine große Auswahl hatte das kleine Dorf nicht bieten können, und da die Zeit zur Zubereitung warmer Gerichte zu kurz gewesen war, so waren nur kalte Speisen aufgetragen worden.

Eine lebhafte Unterhaltung würzte das frugale Mahl. Der Wirt sah, daß seine Gäste mit ihm zufrieden seien, und war darüber so entzückt, daß er sich entschloß, den Beutel vollends für sie zu leeren. Er sagte:

»Gern hätte ich die hohen Herren besser bewirtet, aber es war mir nur eine sehr kurze Frist zur Vorbereitung gewährt. Doch wenn die hoch Willkommenen mein Haus heute abend abermals beehren wollen, so werden sie ein Mahl finden, welches ihrer würdiger ist.«

»Ja, wir werden kommen,« antwortete der Methusalem. »Aber ich stelle dabei eine Bedingung, welche Sie zu erfüllen haben.«

»Welche ist es?«

»Daß Sie alles aufbieten, dieses Mahl zu einem wirklichen Fest- und Freudenmahle zu machen.«

Da wurde dem guten Manne angst. Er blickte verlegen vor sich nieder und sagte dann:

»Herr, Sie wissen, daß ich arm bin, und ich weiß nicht, welche Ansprüche in Ihrem Lande an ein solches Festmahl gemacht werden. «

»Unsere Ansprüche werden befriedigt werden, trotzdem Sie arm sind. Wir werden mit dem Wirte des Einkehrhauses sprechen. Er soll alles, was wir essen und trinken werden, bei sich bereiten und zu Ihnen senden. Nur unter dieser Bedingung nehmen wir Ihre Einladung an.«

Man sah dem Hoei-hoei an, daß ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er stimmte schleunigst zu. Noch größer aber als diese gehabte Verlegenheit war diejenige, welche ihm nach dem Essen von dem Methusalem bereitet wurde, denn dieser sagte:

» Wir sehen, daß wir Ihnen wirklich willkommen gewesen sind, und sagen Ihnen herzlichen Dank dafür. Bei solchen Gelegenheiten schreibt uns die Sitte unserer Heimat eine Höflichkeit vor, welche wir auch hier befolgen möchten, wenn Sie uns das erlauben.«

»Erlauben? O Herr, Sie haben doch nur zu befehlen, und ich werde gehorchen.«

»Wirklich?«

»Ja, augenblicklich.«

»Gut, ich verlasse mich auf Ihr Wort. Es ist nämlich bei uns Vorschrift, sich nach dem Mahle bei den Frauen und Töchtern des Hauses persönlich zu bedanken. Wollen Sie darum die drei Blumen Ihrer Familie ersuchen, uns durch ihr Erscheinen zu erfreuen, damit wir ihnen sagen können, welche Dankbarkeit und Ehrerbietung wir ihnen widmen!«

Der Schreck zuckte über das Gesicht des Wirtes.

»Herr, das nicht, nur das nicht!« bat er.

»Warum nicht?«

»Es ist gegen die hiesige Sitte.«

»Doch nicht, denn der mächtige Tong-tschi von Kuang-tschéu-fu hat uns auch seine Gemahlin zugeführt.«

»So ist es gegen die Satzung meines Glaubens.«

»Sind Ihre Damen auch mit zum Islam übergetreten?«

»Nein.«

»Nun, so ist auch dieser Grund nicht stichhaltig. Sie haben sich bis jetzt als wirklich gastfreundlich erwiesen. Wollen Sie diesen Ruhm vernichten und uns damit beleidigen, daß Sie uns diese Bitte abschlagen?«

Der Mann antwortete nicht sogleich. Er kämpfte mit sich selbst. Dann sagte er unter einem tiefen Atemzuge:

»Nein, mein Gebieter, beleidigen will ich Sie nicht. Lieber entschließe ich mich, gegen die Vorschriften unseres Landes zu handeln. Ich werde also die Frauen herbeibringen.«

Er entfernte sich in das hintere Gemach.

»Das hätten Sie nicht von ihm verlangen sollen,« sagte Liang-ssi im Tone sanften, bescheidenen Vorwurfs. »Es ist ganz und gar gegen die hiesigen Gewohnheiten.«

»Das weiß ich auch sehr gut,« lächelte der Methusalem.

»Und dennoch thaten Sie es?«

»Ja. Ich habe triftige Gründe dazu, denen Sie später ganz sicher Ihre Zustimmung erteilen werden.«

Diese kurze Wechselrede war in deutscher Sprache geführt und also von den anderen verstanden worden.

»Was soll denn geschehen?« fragte Turnerstick. »Was hätten Sie nicht thun sollen?«

»Ich habe verlangt, die weiblichen Bewohner dieses Hauses zu sehen, damit wir uns bei ihnen bedanken können.«

»Und ist das hier eine Sünde? Will er sie bringen?«

»Ja.«

»Dat is sehr hübsch,« meinte der Gottfried. »Wir werden uns gegen sie natürlich als jewandte Kavaliere benehmen. Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja. Ook ik word haar mijne komplimenten maken. Ik kan dat zeer fraai en bij uitstek maken - ja. Auch ich werde sie bekomplimentieren. Ich kann das sehr schön und ausgezeichnet machen.«

Es dauerte längere Zeit, bevor der Chinese wiederkehrte. Die Damen mußten ja ihre besten Gewänder anlegen. Endlich trat er mit ihnen ein und stellte sich an die Seite der Thür, um ihnen Platz zu geben.

Ihre Gesichter zeigten den chinesischen Schnitt und waren nach der Sitte der besseren Stände weiß und rot geschminkt. Die Augenbrauen hatten sie mit Hilfe des Pinsels und schwarzer Farbe so verlängert, daß sie über der Nasenwurzel zusammenliefen. Das Haar war durch Kämme und viele Nadeln hoch und fast in Form eines Schmetterlings gesteckt. Das Obergewand schloß eng am Halse an und fiel in weiten Falten bis auf den Boden herab. Die Hände waren tief in den Aermeln verborgen. Die Füße konnte man nicht sehen, aber verkrüppelt waren sie nicht, wie man aus dem Gange der Damen und ihrer Haltung ersehen konnte, obgleich sie nur wenige Schritte gemacht hatten.

Sie verneigten sich tief vor den Gästen, ohne aber ein Wort dazu zu sagen. Trotz der Schminke erkannte man die jugendlichen Züge der Töchter. Das Gesicht der Mutter zeigte deutliche Spuren des Grams und der Sorgen.

Die Anwesenden waren alle aufgestanden. Noch bevor Degenfeld zu Worte kam, trat Turnerstick vor, verbeugte sich möglichst chevaleresk und sagte:

»Myladies und Mademoiselles, wir fühleng uns außerordangtlich beglückt über Ihr Erscheinung. Wir habeng gegessing und getrunkeng und sagung hiermit - - - «

»Ik ook, ik ook,« unterbrach ihn der Mijnheer eifrig, indem auch er sich verneigte, soweit, seine Körperform dies zuließ. »Ook ik heb gegeten en gedronken.«

»Schweigen Sie und stören Sie mich nicht in meinem besten Chinesisch!« fuhr der Kapitän ihn mißmutig an.

Er wollte fortfahren, doch diesmal war der Methusalem schneller als er, indem er rasch das Wort ergriff, natürlich in chinesischer Sprache:

»Ich weiß, daß ich außerordentlich gegen die Sitte Ihrer Heimat verstoßen habe, als ich Sie zu sehen verlangte. Aber ich wollte Ihnen unsern Dank bringen und unsere Entschuldigung für die Sorgen, welche wir Ihnen bereitet haben. Außerdem aber gibt es noch einen zweiten Grund, welcher mich veranlaßt, persönlich mit Ihnen zu sprechen. Ich habe nämlich einen Brief an Sie abzugeben.«

Diese letzten Worte richtete er direkt an die Mutter, welche verwundert zu ihm aufschaute.

»Sie haben ein Recht, zu zweifeln,« fuhr er fort; »aber ich sage die Wahrheit. Ich habe wirklich einen Brief aus fernem Lande mitgebracht, welcher an Sie gerichtet ist.«

»Einen Brief? Von wem?« fragte sie.

»Von demjenigen, welchen Sie wohl schon längst verloren glaubten.«

Ihre Augen waren einige Zeitlang starr auf ihn gerichtet, dann stützte sie sich mit beiden Händen auf ihre Töchter und hauchte, die Wahrheit ahnend:

»Von meinem - meinem Gemahl und Herrn!«

»Ja,« antwortete der Methusalem. »Sind Sie stark genug, den Inhalt dieses Briefes zu hören? Bitte, setzen Sie sich!«

Er stellte ihr seinen Stuhl hin, auf welchem sie sofort Platz nahm. Diese Höflichkeit fand schnell zwei Nachahmer, welche zeigen wollten, daß auch sie gelernt hätten, zuvorkommend gegen Damen zu sein. Turnerstick schob seinen Stuhl der einen Tochter hin und sagte:

»Bitte, Fräulein, sich auch zu setzing! Lassong Sie sich angenehme Ruhe wünscheng!«

Und der Mijnheer trug den seinigen der andern Tochter hin, indem er mit seinem süßesten Lächeln bat:

»Mejuffrouw, ik bid, dat ook gij op eenen stoel zitten, op mijnen stoel. Ik geef u dezen stoel zeer gaerne. - Fräulein, ich bitte, daß auch Sie auf einem Stuhle sitzen, auf meinem Stuhle. Ich gebe Ihnen diesen Stuhl sehr gern.«

Die beiden Mädchen verstanden kein Wort von dem Gesagten, wußten aber natürlich, wie es gemeint war. Sie setzten sich zu beiden Seiten ihrer Mutter nieder, und die beiden galanten Salonherren traten höchst befriedigt zurück, wobei Turnerstick dem Dicken zuraunte:

»Prächtiges Mädchen, wirklich! Hat mich Wort für Wort verstanden. Es scheint, daß man in diesem Hause ein ausgezeichnetes Chinesisch spricht.«

Degenfeld hatte seine Brieftasche hervorgezogen und aus derselben ein Couvert genommen, welches den erwähnten, von Ye-kin-li geschriebenen Brief enthielt, für den Fall, daß seine Frau gefunden wurde. Auf seinem Gesichte war der Ausdruck freudigster Genugthuung zu lesen. Da in China selbst die Frauen höherer Stände nicht schreiben und lesen können, weil sie keinen Unterricht erhalten, gab er dem Hausherrn den Brief und sagte:

»Bitte, lesen Sie ihn vor!«

Der Mann besah das Couvert, welches unbeschrieben war, und fragte erwartungsvoll:

»Das soll ich öffnen?«

»Ja, bitte!«

»Und es ist wirklich ein Brief darin?«

»Gewiß!«

»An diese Frau?«

»Wie ich bereits sagte!«

»Sie müssen irren, Herr.«

»Nein; ich bin meiner Sache vollständig sicher. Hier ist ein Messer. Schneiden Sie den Umschlag auf!«

Der Mann ergriff das Messer, fragte aber, ehe er der Aufforderung Folge leistete:

»Und der Brief soll in Wahrheit von - von Ye-kin-li sein?«

»Ganz sicher. Ich war dabei, als er ihn in den Umschlag steckte, und habe vorher sogar den Brief lesen dürfen.«

Nun schnitt der Wirt das Couvert auf. Während der dadurch entstehenden Pause flüsterte Jin-tsian seinem Bruder zu:

»Von Ye-kin-li? Das ist doch unser Vater!«

»Wohl nur ein Mann, der denselben Namen trägt.«

»Aber diese Frau kommt mir so bekannt vor! Ich muß sie schon gesehen haben!«

»Mir auch. Es ist mir ganz -«

Er wurde unterbrochen, denn der Hausherr hatte den Brief aufgeschlagen, welcher natürlich in chinesischer Schrift und Sprache verfaßt war, und einen Blick auf die ersten Zeilen geworfen. Er rief mit lauter Stimme:

»O Allmacht der Vorsehung! O Güte des Himmels! O Allah, Allah! Es ist wirklich so; dieser hohe Herr hat die Wahrheit gesagt. Soll ich lesen?«

Er hatte diese Frage an die Frau gerichtet, welche sich in größter Aufregung befand. Sie zitterte am ganzen Körper; sie konnte kein lautes Ja hervorbringen; darum gab sie ihm nur durch ein Kopfnicken ihre Zustimmung zu erkennen. Er las:

»An Hao-keu, vom Geschlechte der Pang, aus dem Stamme Seng-ho, dem verschwundenen Weibe meiner Seele und der Mutter meiner verlorenen Söhne und Töchter - - - von Ye-kin-li, dem aus Tschin Entflohenen.«

Das war die Ueberschrift des Briefes. Der Vorleser kam nicht weiter; vier Schreie erschollen - - von den beiden Söhnen und den zwei Töchtern. Die Mutter hätte wohl auch einen Ruf des Entzückens ausgestoßen, aber sie konnte nicht, denn sie war ohnmächtig geworden.

Der wackere Methusalem hatte nicht daran gedacht, daß man zarten Frauen solche Nachrichten nicht so unvorbereitet geben darf. Die beiden Töchter schlangen ihre Arme um die Mutter und weinten.

»Es kam zu rasch; es ist zu viel für sie. Kommt heraus mit ihr in euer Gemach,« sagte der Hoei-hoei.

Er hob die Ohnmächtige in seinen Armen auf und trug sie hinaus. Die Mädchen folgten ihm. Die Söhne aber stürzten auf den Methusalem zu, und Liang-ssi fragte ihn in stürmischer Weise:

»Herr, der Brief ist von unserm Vater?«

»Ja,« antwortete der Gefragte.

»Und dieses Weib heißt Hao-keu?«

»So ist ihr Name.«

»Dann ist sie unsere Mutter?«

»Sie ist es. Und ihre Töchter sind Méi-pao und Sim-ming, Ihre Schwestern.«

»O Himmel, o Allmacht! Unsere Mutter und unsere Schwestern! Komm, Bruder, komm hinaus zu ihnen!«

Sie eilten ihren Anverwandten nach. Die anderen wußten nicht, was geschehen war. Degenfeld erklärte es ihnen mit kurzen Worten. Sein Bericht erfüllte sie mit großer Freude und tiefer Rührung, der sie in fröhlichen Worten Ausdruck gaben. Turnerstick meinte, indem er den Klemmer abnahm und sich die Augen wischte:

»Welch ein Wiederfinden! Welch eine Scene! Aber von Ihnen, Methusalem, war es sehr unrecht und hinterlistig, uns zu verschweigen, was Sie wußten. Auch wir waren ganz unvorbereitet; wie leicht konnten wir da aus lauter Rührung auch in Ohnmacht fallen!«

»Wenn auch dat nicht,« sagte der Gottfried, »denn ich bin kein Freund von Ohnmacht; überhaupt von allen Wörtern, welche in die erste Silbe mit 'ohne' bejinnen, aberst dennoch bin ich ebenso unzufrieden mit Ihnen, oller Methusalem. Wenn Sie mir bei die Joldjeschichte zu Ihren Vertrauten machten, so konnten Sie mich auch in diese weitere Anjelegenheit einen jeheimnisvollen, vielsagenden Wink jeben. Es ist janz unverantwortlich, einen erwachsenen Menschen so mich nichts, dich nichts aus die eine Empfindung in die andere zu stürzen! Wie leicht kann da ein weiches Jemüt zu Schaden kommen. Man hat doch auch ein Herz! Nicht wahr, Mijnheer?«

»Ja,« antwortete der Dicke, welcher seine schottische Mütze in der Hand hielt und sich mit derselben die Zähren der Teilnahme aus den kleinen Aeuglein wischte. »Ik heb ook een hart, een mijn hart is goed, zeer goed. Ik moet snuiven en snuiten, dat deze menschen zich gekregen hebben. Ik ben daardoor zoo zwak geworden, dat ik zitten moet - ja, ich habe auch ein Herz, und mein Herz ist gut, sehr gut. Ich muß schnauben und schneuzen, daß diese Menschen sich bekommen haben. Ich bin dadurch so schwach geworden, daß ich sitzen muß.«

Er wollte sich niederlassen, aber der Methusalem sagte:

»Nicht wieder niedersetzen, Mijnheer! Unsere Gegenwart würde jetzt hier nur belästigen. Ueberlassen wir diese guten Leute vielmehr sich selbst, indem wir uns leise entfernen. Solche Scenen dürfen keine fremden Zeugen haben.«

»Schön, jehen wir!« stimmte der Gottfried bei. »Dat wird ihnen einen Beweis liefern, dat wir von diejeniger zartsinnige Noblesse sind, welche bei dergleichen Wiedersehen und sonstige Bejegnungen dat Zeichen einer juten Erziehung ist. Aberst die Pipe muß anjesteckt werden. Sie soll dat Freudenfeuer bedeuten, dat wir dem neubejründeten Glücke unserer Nebenmenschen bringen.«

Er that es nicht anders, der Methusalem mußte das Mundstück nehmen. Dann, als der Tabak glimmte, verließen sie das Haus, um sich nach dem Einkehrhause zurückzubegeben.

Noch immer standen viele Leute draußen, welche ihnen ehrerbietig Platz machten und sie so lange begleiteten, bis die Thür sich hinter ihnen geschlossen hatte.

Nun ließ der Methusalem den Wirt kommen, um bei demselben die für das Abendessen nötigen Bestellungen zu machen. Eben als sie beisammen standen und sich berieten, erschollen draußen laute Rufe, und die Menschen, welche vor dem Hause gestanden hatten, eilten davon, die Straße entlang.

»Was ist das? Was ruft man?« fragte Degenfeld den Wirt.

»Ich kann die Worte nicht genau verstehen. Es scheint jemand zu kommen, den die Leute kennen,« lautete die Antwort.

»So muß dieser jemand eine hier beliebte oder gar hervorragende Persönlichkeit sein?«

»Jedenfalls. Ich werde nachschauen.«

Er ging hinaus vor die Thür, kehrte aber sofort zurück und rief in freudigem Tone:

»Wissen Sie, wer da kommt, hoher Herr?«

»Natürlich nicht. Wer ist es?«

»Der T'eu, der T'eu, kein anderer als der T'eu!«

»Ah! Der Bettlerkönig?«

»Ja, der Bettlerkönig. Da es schon spät am Tage ist, so wird er nicht weiter ziehen, sondern hier bei mir bleiben, was er stets thut, wenn er nach Ho-tsing-ting geht, um Herrn Sei-tei-nei zu besuchen.«

»Diesen besucht er?«

»Ja, und oft.«

»Was thut er dort?«

»Er kommt aus Liebe und Zuneigung, denn der Bettlerkönig und Herr Sei-tei-nei sind sehr gute Freunde. Aber ich muß hinaus, um ihn zu bewillkommnen!«

Er eilte fort.

Liang-ssi hatte nichts davon erwähnt, daß der Bettlerkönig das Etablissement des Onkels Daniel so oft besuche. Vielleicht war diese Unterlassung ganz ohne Absicht geschehen und nur eine Folge des reinen Zufalls.

Der Methusalem sagte seinen Gefährten, wen man da draußen erwarte, und sie traten mit ihm an das geöffnete Fenster, um diesen ebenso berühmten, wie einflußreichen Mann kommen zu sehen.

Die Stimmen der Nahenden wurden lauter und lauter. Man hörte Pferdegetrappel, und dann erschienen, vom Volke umgeben, zehn sehr gut bewaffnete Reiter, welche nichts weniger als den Eindruck von Bettlern machten. Ihre Pferde waren von einer besseren Rasse als diejenigen, welche der Methusalem während seines Aufenthaltes hier im Lande gesehen hatte, und ihrer Kleidung nach mußte man sie für sehr wohlhabende Leute halten.

Das Gewand des Vornehmsten unter ihnen war ausschließlich aus Seide gefertigt. Er trug einen kostbaren Degen, und das Zaumzeug seines Rosses war mit starkem Silber beschlagen. Er war vielleicht sechzig Jahre alt und hatte ein sehr würdevolles Aussehen, wozu der lange Schnurrbart, welcher ihm rechts und links in starken Flechten bis über die Brust herabreichte, viel beitrug. Er hatte keinen Knopf auf der Mütze, ein sicheres Zeichen, daß er kein Mandarin sei; doch war seine Erscheinung gewiß ebenso ehrfurchtgebietend wie diejenige eines hohen Beamten des Reiches.

Er schwang sich mit jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel und schritt der Thür des Hauses zu, an welcher ihn der Wirt mit tiefen Verbeugungen empfing. Der T'eu behandelte ihn nicht wie einen tiefer stehenden Mann, sondern in sehr leutseliger Weise, indem er, wie es zwischen Gleichberechtigten geschieht, seine Hände ineinander und dann, nachdem er sich verbeugt hatte, auf die beiden Achseln des Wirtes legte.

Welche Worte dabei gesprochen wurden, das konnte der Student nicht hören. Er war vom Fenster zurückgetreten und hatte mit seinen Gefährten auf einer der für die Gäste bestimmten Bänke Platz genommen. Bald darauf trat der Bettlerkönig mit seinen Begleitern ein.


(Fortsetzung folgt.)



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