(Seite 208A) Und der größte aller Bäume, die es gegeben hatte, brannte nun in unserem Bureau, genau eine Stunde nach dem Schlusse des Geschäftes, also am 24. Kanun el Auwal, abends sieben Uhr. Und vor ihm standen alle die Kisten, Körbe und Körbchen voll Geld, welches wir eingenommen und nach Begleich unserer Schulden übrig behalten hatten, nach den verschiedenen Münzen geordnet, die in Ardistan kursieren. Und da kam er, den wir hatten rufen lassen, der 'Mir. Wir sagten ihm, daß jetzt das Geschäftliche erledigt sei, und nun könne das Höhere beginnen. Wir übergaben ihm die Blätter, welche die Buchführung enthielten, und führten ihn dann zur lichtbestrahlten Kasse.

Die Wirkung war überraschend. Er stand eine Weile ganz still und schaute auf das viele, viele Geld, als ob er das, was er sah, gar nicht glaube. Dann blickte er sich nieder und griff mit beiden Händen tief in die Münzen hinein.

"Was ist das?" fragte er. "Wem gehört dieses Geld?"

"Dir!" antwortete ich. "Es ist der Gewinn, der Überschuß, den wir erzielten."

"Und Ihr?" Er sah uns forschend an. "Wieviel habt Ihr für Euch behalten?"

"Für uns? Nichts! Wir haben nichts zu bekommen. Wir haben es getan, nur Dir zuliebe und dem Christentum zur Ehre."

"Ist das wahr?"

"Glaubst Du, ich lüge? Prüfe die Papiere! Da steht die Ausgabe und die Einnahme. Jeder Para, jeder Schahi und jeder Casch! Wenn Du vergleichst, wirst Du finden, daß nichts fehlt."

"So nehmt! Nehmt so viel, wie Ihr wollt!"

Er machte eine Bewegung, als ob wir mit vollen Händen zugreifen sollten.

Ich trat zurück und schüttelte nur den Kopf. Der Oberpriester aber sprach:

"Wir arbeiteten an Stelle des Erlösers, und den bezahlt man nicht mit Kupfer und mit Bronze. Das Geld ist Dein."

"Aber da hat mir Euer Christentum mit diesem einen Male doch mehr eingebracht als die andern Religionen zusammengenommen, so lange ich regiere!"

"Das ist die wahre Religion, die nicht nur nach dem Tode selig macht, sondern auch schon hier im Erdenleben für das Glück ihrer Bekenner sorgt!"

"So danke ich Euch! Ich werde Diener senden, das Geld zu mir hinaufzutragen. Ihr aber, wenn Ihr Wünsche habt, die im Interesse Eueres Glaubens liegen, kommt getrost zu mir; sie werden Euch erfüllt! Von jetzt an soll kein Feind mehr das Haupt eines Christen beugen! Um Mitternacht, wenn der Gottesdienst beginnt, stelle ich mich ein, mit Frau und Kindern und allen meinen Dienern und Beamten!"

Er ging. Wir blieben noch, bis das Geld geholt worden war, und begaben uns dann in die Kirche, um die letzte vorbereitende Hand an das dortige Werk zu legen. Wenn ich hier von der >Kirche< spreche, meine ich immer die gewaltige Mittelkuppel des Domes von Ard.

Das >Fest der Geburt des Erlösers< hatte zu beginnen um die Mitternacht, die zwischen dem 24. und 25. des Monates Kanun el Auwal liegt. Der 'Mir hatte versprochen, genau zu dieser Zeit zwölf Kanonenschüsse lösen zu lassen, zwölf, nach der Zahl der Monate des Jahres. Dann sollten die Glocken erklingen, die seit Hunderten von Jahren geschwiegen hatten, nur allein nicht die große, eiserne, die über fünfhundert Zentner wog und von der die Sage ging, daß sie, wenn die Zeit der Erlösung und des Friedens gekommen sei, von kleinen, unschuldigen Kindern geläutet werde. Sie hing im höchsten und stärksten der Türme, mehrere Stockwerke tiefer als die anderen Glocken.

Was der Oberpriester vorausgesagt hatte, war eingetroffen. Es hatten sich aus Ardistan, Gharbistan und Scharkistan Hunderttausende von Pilgern eingestellt, welche nur zum geringen Teile (Seite 208B) in der Stadt, dann aber draußen im Freien untergebracht werden konnten. Diese Fremden waren nicht alle Christen. Es befanden sich auch viele unter ihnen, die nicht von ihrer Religion, sondern von ihrer Wißbegierde herbeigetrieben worden waren. Da dieser Umstand sehr leicht zu Streitigkeiten oder noch gar Schlimmerem führen konnte, hatte der 'Mir bekanntmachen lassen: Wer die Heiligkeit des Festes durch Unfrieden störe, werde unbedingt erschossen, er sei, wer er immer sei. Man kannte ihn nur zu gut. Man wußte, daß er gegebenen Falles keinen Augenblick zögern werde, diese Drohung auszuführen, und so ist es mir glücklicherweise möglich, schon jetzt im voraus zu berichten, daß sie vom besten Erfolg gewesen ist. Große Verstöße kamen nicht vor, und kleine, gewöhnliche Zwiste, die es stets gab und immer geben wird, wurden mit Hilfe der Freiwilligenpolizei sehr schnell geschlichtet.

Was die Orgel betrifft, so hatte ich sie vollständig intakt, aber außerordentlich verstaubt gefunden. Sie war in Indien von einem Engländer gebaut und hatte ein Pedal, zwei Manuale und vierundzwanzig Register. Abd el Fadl wußte gar wohl, aus welchem Grunde sein Vater und der vorige 'Mir übereingekommen waren, sie hier aufzustellen, da er aber nicht freiwillig darauf zu sprechen kam, hielt ich mich nicht für befugt, danach zu fragen. Der Lobgesang, den er mit seiner Tochter vorzutragen hatte, war die Komposition eines der ersten Gesangesmeister von Dschinnistan, ein ernstes, herrliches, tief ergreifendes Stück. Nur schade, daß ich es nicht kannte und daß mir nur die beiden, nach dem Gehör geschriebenen Singstimmen zur Verfügung standen, es für Orgelbegleitung zu arrangieren! Es hat dadurch jedenfalls unendlich gelitten, doch darf ich zu meiner Entschuldigung wohl sagen: Ich kann nicht dafür!

Und nun zur Hauptsache, dem Hochaltar. Er war seit Menschengedenken verhüllt gewesen, und man weiß ja wohl bereits, was für Mythen und Hoffnungen sich an seine Enthüllung knüpften. Wie gern hätten wir die letztere herbeigeführt, aber als der Oberpriester sich den Mut nahm, dem 'Mir gegenüber nur eine leise Andeutung zu machen, fuhr dieser zornig auf und verbot sehr streng, diesen Gegenstand wieder zu berühren. Das war zwar gleich in den ersten Tagen gewesen, und die Gesinnung des Herrschers hatte sich seitdem ganz bedeutend geändert, aber dennoch hatte es bis heute noch keiner von uns für angebracht gehalten, die Bitte zu wiederholen. So hatten wir die Kirche zwar auf das reichlichste mit Weihnachtsbäumen und grünen Zweigen ausgeschmückt, aber dieser Schmuck machte uns eigentlich keine Freude. Auch rechts und links von dem prächtigen Orgelgehäuse stieg ein Wäldchen von Tannen auf, in deren Licht die blanken Pfeifen funkelten; aber der häßliche Papp-, Latten- und Filzüberzug des Hochaltares wirkte wie ein großer, grauer Klex im künstlerisch vollendeten Gemälde und bildete vor allen Dingen auch in rein religiöser Beziehung einen Schandfleck, der kaum zu ertragen war. Das ärgerte uns auch jetzt, als wir in die Kirche kamen. Es war eine ganze Schar von Menschen beschäftigt, ihr ein weihnachtsfestliches Aussehen zu verleihen, und diese Bemühungen waren vom prächtigsten Erfolg gekrönt; leider aber sahen wir diesen Erfolg durch die entstellende Düte. die man über den Hochaltar gestülpt hatte, völlig in Frage gestellt. Wir sprachen die Angelegenheit noch einmal ernstlich durch und kamen zu dem Resultate, daß uns doch nichts anderes übrig bleibe, als jetzt, in letzter Stunde, noch einmal eine Bitte an den 'Mir zu wagen. Wir beschlossen soeben, dies sofort zu tun, da sahen wir ihn durch ein Nebenportal treten. Er kam mit Frau und Kindern, um unser Werk und die Ausschmückung des Altanes zu betrachten, auf dem er mit seinen >Hofstaaten< Platz zu nehmen hatte. Er war hoch zufrieden. Es sah aus, als sei dieser Altan für einen mächtigen, prachtliebenden König oder Kaiser bestimmt. Er lächelte und sagte, indem er zu mir kam:

"Dazu gehört wohl mein Herrschergewand, in dem Du mich zum ersten Male sahst! "

(Seite 209A) "Um Gottes willen!" entfuhr es mir. Aber in voller Absicht fügte ich hinzu: "Das würde Dich ebenso entstellen, wie Dich der Filzhut entstellt, unter dem man dort das Allerheiligste und Schönste verbirgt, was es auf Erden gibt!"

"Mich entstellt es? Mich?" fragte er. "Wieso mich?"

"Weil Du der Herrscher bist, der 'Mir, auf dessen Willen man alles wirft, was der Unverstand der Andersgläubigen, der Empörer. verschuldet."

Es war Berechnung von mir, daß ich mich dieses letzteren Wortes bediente. Es wirkte sofort. Er fragte schnell, indem seine Augen blitzten:

"Der Empörer?"

"Ja," antwortete ich. "Oder sind sie es nicht? Wer hat Dich und Deine Vorfahren überredet, das Bildnis dessen, dem alle Macht gegeben ist im Himmel und auf Erden, unter Filz und Pappe zu verstecken? Sind es nicht dieselben, die Dich jetzt entthronen und zur Figur aus Filz und Pappe machen wollen?"

"Allah w' Allah!" rief er zustimmend aus.

"Du hast Dir diese Verräter und Mörder groß gezogen, indem Du die, welche Dir treu waren, verkleinertest und entmanntest. Das kann und darf Dir die Weltgeschichte nicht vergeben. Sie wird und muß es Dir in Dein Konto zeichnen, außer Du legst noch zur rechten Zeit die Faust auf den rechten Platz! Schau diese Menge grüner, duftender Bäume, die bis empor zur höchsten Empore steigen! Dein Wald kam in die Kirche, um den Heiland der Welt zu feiern. Und Du? Welchen erhabenen Anblick wird es bieten, wenn die Zünder von Licht zu Licht zur Kuppel steigen und auch dort oben das Firmament entflammen! Wie tief und froh bewegt werden alle Herzen sein! Und wie enttäuscht, wie zornig werden dann die Blicke auf den plumpen Balg, auf den steifen Mantel niederfallen, den man nicht etwa nur diesem Hochaltare, sondern auch Deinem Ruhme, Deiner Ehre aufgezwungen hat! Die Diplomaten werden von Dir sagen: >Er bedrückte die Würdigen und machte sich zum Werkzeuge der Unwürdigen!< Die Künstler werden sagen: >Er besaß weder Sinn noch Geschmack. Für ihn war das Schöne häßlich und das Häßliche schön. Eine Scheuche von Filz unter strahlenden Weihnachtsbäumen, das bot er den - -< "

"Halt!" unterbrach er mich. "Geh nicht weiter, ja nicht weiter! Und wenn Du recht hast, tausendmal recht, so hast Du doch nicht das Recht, es mir zu sagen! Ich kann Dich zertreten, wenn ich will! Glaubst Du, daß es mir - - -"

Da wurde er unterbrochen, wie er mich unterbrochen hatte. Seine Kinder hatten im Laufe der vergangenen zehn Tage den kleinen Hadschi liebgewonnen und sich auch jetzt, als sie kamen, sofort an ihn gemacht. Er hatte in der ihm eigenen, drolligen, aber schlau berechneten Weise sogleich etwas auf das Tapet gebracht, worüber sie sich freuten. Sie schlugen die Hände zusammen und lachten vor Vergnügen so laut, daß sie ihren Vater dadurch störten. Er hörte mitten in seiner Rede auf und fragte:

"Warum so laut? Worüber freut Ihr Euch?"

"Über das Läuten," antwortete der größere Knabe.

"Läuten? Wieso?"

"Wir werden läuten!"

"Was?"

"Die große Glocke! Die allergrößte! Nicht wahr, lieber Vater, Du erlaubst es uns?"

Der 'Mir war erst still. Dann warf er einen bezeichnenden Blick auf Halef und antwortete:

"Das wird wohl auch nichts anderes als so eine Art von Verschwörung sein! So große Glocken können nicht von Kindern geläutet werden!"

"O doch!" behauptete der ältere Knabe. "Dieser Hadschi Halef Omar weiß genau, wie man es macht!"

"Der weiß es nicht! Der lügt!"

"Oho!" rief Halef. "Wer kann mir eine Unwahrheit beweisen? Ich war auf dem Turm, ganz oben, um einen Blick rund auf die ganze Stadt zu werfen. Ich habe auch die Glocken gesehen, oben die gewöhnlichen, und weiter unten die ganz große. Diese letztere kann nicht auf die gewöhnliche Weise geläutet werden; sie ist zu schwer dazu. Sie wird von einem Klöppel angeschlagen, den ein Räderwerk bewegt, dessen Gewichte im (Seite 209B) Inneren des Turmes von hoch oben bis tief zur Erde niederhängen. Wenn die Räder gut geölt sind, so geht das Uhrwerk so leicht, daß die Gewichte, trotz ihrer Schwere, von Kindern aufgezogen werden können."

"Hörst Du es?" fragte der kleinere Knabe seinen Vater. "Wir ziehen die Räder auf!"

"Erst schmieren wir sie!" riet das größere Töchterchen, um ihre Überlegenheit zu zeigen. "Der Vater gibt uns Öl; dann läuten wir!" "Wir läuten; wir läuten! Die große Glocke, die allergrößte!" jubelte das Nesthäkchen, indem es die kleinen, quatscheligen Hände zusammenschlug.

Der 'Mir machte ein sehr unentschiedenes Gesicht. Er kämpfte zwischen Zorn, Verlegenheit und Liebe. Er wendete sich an mich:

"Das kommt Euch wohl so recht? Was rätst Du mir?"

"Nichts," antwortete ich, infolge seines ersten Satzes sehr kühl. "Es handelt sich nicht um meine Ehre, sondern um die Deinige!"

"Du hast keine Bitte?"

"Bitte? Nein. Du bekamst von uns das ganze, große, herrliche Fest geschenkt. Was könnten da wohl wir, nämlich wir, zu bitten haben? Ob Du es Dir verdirbst, ist Deine Sache!"

Ich tat, als ob ich mich entfernen wollte. Da hielt er mich mit einer Hand Bewegung zurück und sprach:

"Das klingt sehr stolz von Dir!"

"Stolz nicht, sondern wahr und ehrlich, weil ich Dich kenne. Du bist kein kleiner, sondern ein großer Mensch. Ich wünsche, daß Du es bleibst!"

"Wozu dieses Lob?" fragte er mit dem Gesichte eines Schachspielers, der einen Verlust maskieren will. "Ich habe Euch die Kirche überlassen, natürlich auch alles, was sich darin befindet. Wollt Ihr den Filz nicht haben, so schafft ihn fort!"

"Du erlaubst es? Wirklich, wirklich?" fragte da der Oberpriester schnell.

"Ganz selbstverständlich! Ja! Und dem Wächter des Turmes habt Ihr zu sagen, daß ich nach Verlauf von zwei Stunden kommen werde, um von da oben aus das Bild der Stadt am Weihnachtsabend zu schauen. Er hat für Licht und Fackeln zu sorgen und vor allen Dingen auch dafür, daß das Räderwerk der großen Glocke in voller Ordnung ist!"

"Wir läuten, Vater?" fragte das kleinste Dirndl.

"Ja, Ihr läutet," antwortete er. "Wir kehren vorher nach hierher zurück, um Euren Hadschi Halef abzuholen. Der muß mit hinauf, zur Strafe dafür, daß er es wagte, gerade die größte aller Glocken in die kleinsten und liebsten aller Köpfe zu setzen, die ich kenne!"

"Er muß mit hinauf, mit hinauf!" jubelten sie, indem sie sich mit Vater und Mutter entfernten. Wir aber machten uns mit ebenso großem, wenn auch weniger lautem Triumphe an das nicht ganz leichte Werk, in der kurzen Zeit, die uns dafür verblieb, den Hochaltar von seiner Hülle zu befreien und seine Ausschmückung der übrigen Dekoration der Kirche harmonisch einzufügen. Wir wurden hierdurch so sehr in Anspruch genommen, daß wir nach zwei Stunden gar nicht darauf achteten, daß Halef abgeholt wurde und uns verließ, um mit dem 'Mir und seinen Kindern auf den Turm zu steigen. Nach einiger Zeit erhob sich draußen, rund um das Schloß, ein stürmisches Rufen und Frohlocken, welches sich nach allen Richtungen weiterpflanzte, von Platz zu Platz, von Straße zu Straße, von Gasse zu Gasse. Die Veranlassung hierzu war der pfiffige Hadschi, der, ohne es uns wissen zu lassen, für die Verbreitung der Nachricht gesorgt hatte, um welche Zeit der 'Mir mit seinen Kindern auf dem Turm erscheinen werde, um die Stadt im Glanze der vieltausend Lichter zu sehen, die sich heut abend durch die Straßen bewegten. Als nun hoch oben die Laternen aus dem Inneren des Turmes auftauchten, wußte man, daß der Herrscher jetzt herunterschaue, und grüßte freudig hinauf. Wie schnell er sich die Herzen so vieler Menschen gewonnen hatte! Und wie leicht! War er der Mann, der das zu würdigen verstand?

Als die Hülle des Hochaltares gefallen war, zeigte es sich, daß er dem Bilde, welches ich mir von ihm gemacht hatte, in (Seite 210A) keiner Weise glich. Er war schöner, viel schöner als dieses Bild. Er war aus einem mir unbekannten, sehr harten, goldbräunlichen Holze geschnitzt, dem ein leicht bemerkbarer Veilchenduft entströmte. Die Schnitzereien stellten einen zweigeschossigen Tempel dar, dessen Architektur unten altindisch begann und dann, aufwärtssteigend, erst nach buddhistischen und später nach neuorientalischen Formen strebte. Das untere Geschoß stellte das Stübchen Mariens in Nazareth dar, und zwar in dem Augenblicke, als der Engel zu ihr trat, um ihr die Geburt des Heilandes zu verkünden. Die Unterschrift bestand in den Worten: "Der wird der Sohn des Allerhöchsten genannt werden." Im Obergeschosse war der über Erde, Wolken und Sterne schreitende Christus dargestellt, von der Unterschrift getragen: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben." Es gab also nur diese drei Figuren. Sie traten infolge des Materials, aus dem sie gemeißelt waren, in geradezu köstlicher Weise aus der dunkleren Umrahmung der Holzschnitzerei hervor, als ob sie zu zeigen hätten, daß sie auch künstlerisch von einer viel höheren Welt zu sprechen hätten als diese. Dieses Material war ein weißer Kalkstein, und doch kein Marmor. Mir schien er viel edler als Marmor zu sein. Sehr selten! Jetzt, wo im weiten Raume nur eine beschränkte Zahl von Kerzen brannte, konnte ich seinen Wert noch nicht erkennen. Aber dann, als Tausende von Flammen und Flämmchen leuchteten und ihr Licht den Stein durchdrang, wie die Offenbarung ein erst nur halb durchschautes Geheimnis durchdringt, da erkannte ich wohl den hohen Wert und die Seltenheit dieses herrlichen, tropfsteinartigen Aragonites.

Wer war der Meister gewesen, der diese drei Figuren geschaffen hatte? Zwar als Künstler seiner Zeit schon weit vorausgeschritten, hatte er als Christ leider immer noch an Formen und Gedanken gehangen, die auf dem Feld von Bethlehem überwunden worden waren. Es schien, als ob der Mann ein hochbegabter Lama gewesen sei, dem es gelungen war, sich herüber in das Christentum zu retten und den späteren Zeiten sein Bekenntnis in diesen Werken aufzubewahren. Wir befanden uns hier nicht inmitten der europäischen >Hochintelligenz<. Ich war nicht berechtigt, hohe künstlerische Ansprüche zu erheben. Und auch als Christ war ich hier in eine Diaspora, in eine Ferne gestellt, die mir nicht erlaubte, kritisch zu sein. Ich fühlte nur, daß die Anstrengung ehrlich und rührend war, die es dem Künstler gemacht hatte, seinen Glauben darzustellen, obgleich seine Kunst noch selbst zu erlösen war. Es gelang uns, noch vor der letzten Stunde fertig zu werden und auch den Altar derart mit Bäumen zu schmücken, daß es nur eines Zünderfunkens bedurfte, ihre Lichte alle in Brand zu stecken. Der hoch darüberstehende Stern von Bethlehem war bedeutend vergrößert worden.

Eben als wir diese Arbeit vollendet hatten, kam ein Bote, durch den wir zu dem 'Mir befohlen wurden. Soeben sei jemand angekommen, den er uns zeigen müsse, ließ er uns sagen. Wen trafen wir bei ihm? Die beiden Söhne des Scheikes der Ussul, die in der >Stadt der Toten< gefangen gehalten und jetzt wieder zurückgeholt worden waren! Der 'Mir hatte ihnen ehrlich gesagt, wem sie ihre Befreiung eigentlich zu verdanken hatten, und als sie hierzu noch erfuhren, daß wir Gäste ihrer Eltern gewesen seien, war ihre Freude, uns zu sehen, doppelt aufrichtig. Sie bekamen den Befehl über die Schloßwache zurück und hatten im Schlosse zu wohnen. Es verstand sich ganz von selbst, daß Hadschi Halef sich sofort in Freundschaft für sie erwärmte. Bot sich ihm durch sie doch reiche Gelegenheit, in der Erinnerung an verflossene Groß- und Heldentaten zu schwärmen!

Als die Stunde nahte, in welcher der Gottesdienst beginnen sollte, versammelten sich alle die Personen, die ich weiter oben ein klein wenig ironisch als >Hofstaaten< bezeichnet habe. Sie taten das in dem eigentlich zur Kirche gehörigen Prunksaale, in dem wir von dem 'Mir empfangen und dann von unseren Hunden gestört worden waren. Der geistliche Herr, Halef und ich, wir drei, mußten bei dem 'Mir und seiner Familie bleiben, bis der erste Kanonenschuß sich hören ließ und sofort hierauf die Kirchentüren geöffnet wurden. Alles, was christlich war, versuchte in dem immer noch von nur wenigen Kerzen erleuchteten Raume (Seite 210B) einen Platz zu finden. Wer draußen bleiben mußte, hatte sich damit zu trösten, daß auch noch für morgen und übermorgen dieselbe Feier vorgesehen war. Das vollzog sich alles in leidlicher Ruhe und ohne störendes Gedränge. Der 'Mir aber setzte sich mit seiner Frau, seinen Kindern und uns dreien an die Spitze seiner Offiziere, Hof- und Staatsbeamten, um in einem langen, feierlichen Zuge mit ihnen nach der für ihn und sie errichteten Tribüne zu ziehen. Wie stolz mein kleiner Halef war, gleich hinter dem >Herrscher< gehen zu dürfen!

"Und ich bin doch heute weiter nichts, weiter nichts," flüsterte er mir in scheinbarer Bescheidenheit zu. "Ich trete ja nur die Orgel!"

Er hatte nämlich immer, wenn ich mit Abd el Fadl und Merhameh übte, die Bälge getreten, weil wir keine anderen störenden Personen dabei haben wollten. Er nannte das >die Orgel treten<. Als ich ihm sagte, daß es >die Bälge treten< heiße, fragte er mich:

"Gehören die Bälge zur Orgel oder nicht?"

"Ja, sie gehören zu ihr," mußte ich gestehen.

"Gut! So trete ich die Orgel! Bedenke doch: Wenn ich, der Scheik der Haddedihn, die Orgel trete, so vergebe ich mir nichts. Wenn ich aber nur die Bälge trete, so tue ich etwas Unwürdiges und Lächerliches, dessen ich mich schämen muß!"

"Aber, lieber Halef, die Bälge werden nur getreten, und die Orgel wird gespielt!"

"So drehen wir es einmal herum: Wir sagen, ich trete die Orgel, und Du spielst die Bälge. Dann ist meine Ehre gerettet, und das kannst Du mir doch wohl zuliebe tun!"

Als die Herrschaften sich gesetzt hatten, gingen wir beide hinüber nach dem Orgelchor, in dessen Hintergrund er verschwand, um seinen Pflichten als >Kalkant< nun zu obliegen. Abd el Fadl und Merhameh standen schon da, ganz vorn an der Brüstung. Sie hatten sich nicht am Zuge beteiligt, sondern es vorgezogen, diese ihre Plätze ganz unbemerkt und bescheiden aufzusuchen. Da standen auch die Sänger und Sängerinnen, die vom Oberpriester hierher postiert worden waren, weil sie die Lieder und Melodien, welche gesungen werden sollten, kannten und die Ungeübten mit sich fortzureißen hatten.

Gleich als ich den Chor auf der einen Seite betrat, sah ich drüben auf der andern Seite vier Männer stehen, denen ich keine Beachtung schenkte. Da, eben als ich mich auf die Orgelbank setzte und die Register zu wählen begann, trat Abd el Fadl zu mir und fragte:

"Siehst Du die vier Fremden dort unter den letzten Weihnachtsbäumen, Effendi?"

"Ja," nickte ich.

"Das ist der Schech el Beled von El Hadd mit seinen drei Begleitern. Er kam erst heut hier an und wünscht, in der Nähe stehen zu dürfen, wenn unser Duett erklingt. Erlaubst Du es?"

"O wie gern!" antwortete ich. "Übrigens bin nicht ich der Herr, der hier zu bestimmen hat. Gottes Häuser müssen für jedermann offen stehen. Was ist der Schech? Mohammedaner?"

"Nein, sondern Christ. Ich werde Dich bitten, einmal mit ihm zu sprechen, denn er ist ein guter Bekannter von mir, und ich will - - -"

Er hielt mitten in seiner Rede inne, weil er unterbrochen wurde, und zwar auf eine nicht ganz gewöhnliche, beinahe heitere, aber doch ganz in die frohe Feststimmung passende Weise. Er hatte leise gesprochen. Es sprach überhaupt jedermann leise, aus Rücksicht auf den heiligen Ort, an dem man sich befand. Nur die Kinder des 'Mir machten hiervon eine Ausnahme. Sie fühlten nichts von dieser frommen Scheu. Ihr höchstes Interesse war auf den Augenblick gerichtet, an dem nach dem letzten Kanonenschusse ihre große Glocke ihre Stimme zu erheben hatte. Dieser Moment war jetzt gekommen. Der Untergebene des Oberpriesters trat an den Hochaltar, um den Zünder, der von hier aus überallhin leitete, zu entflammen. Als man das sah, trat augenblicklich eine tiefe Stille der Erwartung ein, bei den Kindern aber grad das Gegenteil. Sie waren zu erregt, als daß sie auch hätten schweigen können. Als der letzte Kanonenschuß (Seite 211A) zu hören war, rief das kleinere Mädchen so laut, daß jedermann es hörte:

"Das war der letzte Schuß! Ich habe gezählt!"

Da stiegen die Funken vom Zünder aus nach allen Richtungen empor, so daß jedes Licht seine Flamme bekam. Man war zunächst wie geblendet.

"Nun brennen alle Bäume, alle, alle!" jubelte der jüngere Knabe, indem er die Hände bewundernd zusammenschlug.

"Nun läuten wir! Der Vater hat es erlaubt!" verkündete der größere Knabe.

"Die große Glocke!" stimmte das ältere Mädchen bei.

Die anderen Glocken begannen, die große aber noch nicht. Da hörte man die helle, geringschätzige Stimme des Nesthäkchens:

"Das sind nur die kleinen Glocken! Die werden nur von Männern geläutet! Aber die große, die allergrößte, die läuten wir Kinder, wir!"

Da riß es den 'Mir von seinem Sitze empor. Er erkannte plötzlich die ganze, große Bedeutung dieses Augenblickes, an welchem in Erfüllung ging, was längst verkündet war. Er breitete die Arme aus, als ob er sich hingerissen fühle und etwas sagen wolle, doch hielt ich es für geraten, dies zu verhindern. Ich hatte fast alle Register gezogen und griff schnell mit Händen und Füßen in die Klaviatur und in das Pedal. Ich hatte das wohlbekannte große Halleluja von Händel als Einleitung gewählt. Als der erste, volle Akkord brausend und alles mit sich fortreißend zur hohen Kuppel stieg, war es, als ob alle Lichter erzitterten und alle Augen und alle Herzen mit zur Höhe stiegen. Der 'Mir aber ließ sich langsam auf seinen Sitz niedersinken und starrte zur Orgel herüber, bis das Halleluja zu Ende war und ich zu Beethovens >Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre< überging. Es galt vor allen Dingen, nicht durch Zartheit und Lieblichkeit, sondern durch die Macht der Töne auf diese Menschen da unten, die noch niemals eine Orgel gehört hatten, einzuwirken, und das schien mir zu gelingen. Die Augen aller Anwesenden hingen an dem Orgelchore, und auch draußen vor den weitgeöffneten Türen, wo Kopf an Kopf eine schier undurchdringliche Menge stand, gab es, wie man mir später berichtete, eine atemlose Stille, die durch kein leises oder gar lautes Wort unterbrochen wurde. Das war nicht etwa die Folge meiner Kunst und Fertigkeit; o, mit der war und ist es gar nicht weit her! Sondern die beiden genannten, großen Meister sprachen, und das, was sie sagten, mußte für Hörer dieser Art und dieses Schlages überwältigend sein.

Indem ich während des Spiels nach der Seite schaute, sah ich, daß der Schech el Beled von El Hadd mit seinen drei Männern unter den Christbäumen hervorgetreten war und sich der Orgel genähert hatte. Sie schienen darüber, daß es hier eine Orgel gab und auch darüber, was und wie ich es spielte, nicht im geringsten verwundert zu sein; aber daß sie sich über die Wirkung freuten, das war ihnen anzusehen. Sie erschienen mir überhaupt so interessant, daß meine Augen sich wohl öfter, als nötig war, ihnen zuwendeten, und ein ähnliches Interesse schien man auch mir entgegenzubringen, denn ich bemerkte, daß auch ich von ihnen beobachtet wurde, aber nicht mit feindlichen, sondern mit freundlichen Augen, wie ich hinzufügen will. Sie waren alle ganz in dünnes, sich eng an die Glieder schmiegendes Leder gekleidet, das heißt, in zwar gegerbte, aber nicht gefärbte, mittelbreite Riemen, die quer wie Sandalenschnüre liefen und so fest schlossen, daß sie, wie festgewebtes Zeug, keinen Zwischenraum zwischen sich ließen und den Körper lückenlos bedeckten. An den Füßen gab es Sandalen, als Kopfbedeckung leichte, weiße Amajim , die sie jetzt aber abgenommen hatten und in den Händen hielten. Sie waren ja Christen. Von den Schultern hingen ihnen lange, dünne Mäntel, deren jeder mit einer Kapuze versehen war. Seltsamerweise trugen sie keine Bärte; sie erschienen mir glatt rasiert. Hier in diesem Lande eine Seltenheit, zu der gewissermaßen Mut gehörte, weil ein bartloser Mann, wenn nicht verachtet, so doch wenigstens nicht als vollgültig betrachtet wird. Und vor allen Dingen, sie waren schöne Männer, zwar nicht so riesig gebaut wie die Ussul, aber doch von so hoher, edler, kräftig ebenmäßiger Figur, wie man sie (Seite 211B) unter gewöhnlichen Menschen äußerst selten findet. Auch ihre Gesichtszüge waren schön, besonders die des Schech el Beled, aber von einer mir bisher unbekannten, schwer zu beschreibenden Schönheit. Sie war nicht das, was man als klassisch bezeichnet, sondern noch tiefer, durchgeistigter und ausdrucksvoller als dieses. In diesen Gesichtern sprechen sich Selbstbewußtsein, Energie und Kühnheit in auffallender Deutlichkeit aus, ohne daß der untere Teil, der die Kauwerkzeuge enthält, besonders kräftig hervorzutreten hatte. Die Lippenführung war fast frauenhaft lieblich zu nennen. Es lagerte da eine ganze Fülle von Wohlwollen, Güte und Menschenfreundlichkeit. Was sich über dem Munde erhob, Nase, Wangen, Augengegend und Stirn, war durchgeistigt und durchwärmt von jener ruhigen Klarheit, zu der es nur solche Menschen bringen, bei denen Kopf und Herz im vollsten Einklange stehen und die hierdurch gewonnene Lebensanschauung nicht nur eine Frucht des Denkens, sondern auch des Fühlens und Empfindens ist. Besonders zogen die großen, reinen, aufrichtigen Augen des Schech el Beled die meinigen immer wieder zu ihm hinüber. Warum strahlten sie so seltsam? Kam das von innen heraus oder von außen? War es die Weihnachtsfreude und Weihnachtsseligkeit seines Innern oder nur der Reflex des Weihnachtsglanzes, der von den zahllosen Kerzen strömte, die hier in der Kirche brannten? El Hadd ist ein kleines Gebirgsländchen, welches, nur äußerst schwer zugänglich, an der südlichen Grenze von Dschinnistan liegt. Seine Bewohner werden infolge der hohen, abgeschlossenen, einsamen Lage ihrer stein- und felsenreichen Heimat als außerordentlich arm bezeichnet. Diese vier Männer aber machten trotz ihrer einfachen Kleidung ganz und gar nicht den Eindruck, als ob sie sich von dieser Armut bedrückt oder gar niedergeschlagen fühlten. Ich verweile bei ihrer Beschreibung absichtlich länger, als die Situation es mir eigentlich erlaubt, und ich habe meine guten, besonderen Gründe dazu, die ich nur deshalb hier nicht näher bezeichne, weil sie baldigst ganz von selbst in die Augen fallen werden.

Die vorliegenden Verhältnisse hatten den Oberpriester veranlaßt, den Gottesdienst möglichst einfach zu gestalten und auf allen liturgisch-künstlerischen Schmuck für jetzt zu verzichten, besonders auch auf die erhebenden Wechselgesänge zwischen dem Geistlichen und der Gemeinde. Ein Kirchenlied; hierauf die Verlesung der Weissagungen und des Evangeliums vom Altare aus; dann Abd el Fadls und Merhamehs Lobgesang; ein zweites Kirchenlied, dem die Festpredigt von der Kanzel aus zu folgen hatte; sodann ein kurzes, drittes Lied; der vom Altare aus gesprochene Segen und endlich ein allgemeiner Schlußgesang, der den Dank der Gemeinde brachte. Das war der Inhalt, oder sagen wir, das Programm der heutigen Feier, die an den würdigen Basch Nasrani ganz ungewöhnlich schwere Forderungen stellte, weil er es noch nicht mit einer fest geschlossenen Gemeinde, sondern nur erst mit einer ungeordneten und ungeübten Zuhörerschaft zu tun hatte, die nur durch den Eindruck dessen, was ihr geboten wurde, zu fassen und zu erheben war. Es galt vor allen Dingen zu begeistern, und das gelang ihm allerdings im vollsten, reichsten Maße. Wir hatten uns aber auch tüchtig eingeübt, Abd el Fadl, Merhameh und ich. Das war besonders von meiner Seite aus sehr notwendig gewesen, weil ich kaum so spielen konnte, wie in Deutschland jeder gute Dorfkantor oder Dorfschulmeister spielt. Die frühere Fertigkeit war dahin; die Übung fehlte; die Finger wollten nicht mehr mit. Wie gern hätte ich den Orgeldienst einem anderen, besseren überlassen, aber es gab eben keinen anderen. Darum freute es mich doppelt, daß alles gut und so verlief, wie es von uns gewünscht worden war, einen einzigen, häßlichen Vorgang abgerechnet, der aber nicht von uns, sondern von dem Maha-Lama von Ardistan veranlaßt wurde. Dieser mächtige Herr, der sich infolge seines sogenannten geistlichen Amtes für höherstehend hielt als selbst der 'Mir, hatte bisher nur abgewartet und sich ganz ruhig verhalten. Heut trat er nun aus dieser Ruhe heraus, und zwar mit einer Demonstration, die so gewagt und unbesonnen war, daß jeder andere an seiner Stelle sie wahrscheinlich unterlassen hätte.

(Seite 212A) Das erste Lied war gesungen, und die Verlesung der Weissagungen hatte begonnen. Ich stand von der Orgelbank auf, um nun erst jetzt den Anblick des Raumes, dem ich bisher den Rücken zugekehrt hatte, zu genießen. Hoch oben leuchtete der >Stern von Bet Lahem<. Die ganze, als Firmament der Davidsstadt gedachte Kuppel erglänzte von seinem Lichte, all die unzähligen, kleinen, flackernden und flimmernden Lichter der Erde strebten, von grünen Bäumen, Ästen und Zweigen getragen, ganz unten beginnend, über alle Chore und Emporen, von Bank zu Bank, von Platz zu Platz zu diesem Sterne und zu diesem Firmamente hinauf. Es war etwas nicht nur hier in diesem fremden Lande, sondern auch von mir in der Heimat noch nie Gesehenes. Es war, als ob ich mich an einem überirdischen, mir völlig unbekannten, innerlich mir aber doch vertrauten Orte befinde und nicht etwa in einem Hause, von Menschen gemacht. Denn die Mauern und Wände waren unter dem Tannengrün verschwunden. Hinter den Bäumen, weit über sie hinaus, schien eine neue, heilige, zauberische Welt des Lichtes zu liegen, eine Welt der gelösten Rätsel, der aufgeklärten Geheimnisse, der erfüllten Hoffnungen und Wünsche. Und mitten aus der ringsum brennenden Frage, woher uns diese Lösung, diese Aufklärung und diese Erfüllung kommen werde, ragte der Hochaltar als sich von der Erde bis zum Himmel erhebende Antwort empor, mit seinen drei laut sprechenden Figuren, die von der allgemeinen Fülle des Lichtes nicht etwa nur beschienen, sondern auch innerlich so durchdrungen wurden, daß sie nicht mehr irdisch zu sein schienen und grad darum auch nicht mystisch, sondern erklärend und überzeugend wirkten.

Indem ich dies alles auf mich wirken ließ, war der Basch Nasrani in seiner Vorlesung bis an das Evangelium der Geburt gekommen, Lukas, Kapitel zwei. Er las soeben die Engelsworte >Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede - - -< da hielt er inne. Er war dazu gezwungen, denn es erhob sich draußen vor dem offenstehenden Haupttore ein Lärm, der ihm nicht erlaubte, fortzufahren. Man hörte Peitschen klatschen. Die eng zusammenstehenden Menschen wurden auseinandergedrängt. Vorläufer erschienen, die mit lauten Rufen und drohenden Kurbatschen Bahn brachen, hinter ihnen drei große, umfangreiche Staatssänften, die kleinen Gebäuden glichen und von je acht dienenden Lamas getragen wurden. Sie drangen herein in die Kirche, wo die Andächtigen so dicht standen, daß es selbst für einen einzigen Menschen keinen Raum mehr zu geben schien. Dennoch schrien und klatschten sie sich vorwärts, mit größter Rücksichtslosigkeit, durch die zornig aber still sich noch mehr zusammendrängende Menge hindurch bis vor den Hochaltar, wo man die Sänften niedersetzte. Der vorderen entstieg der in kostbare, rituelle Gewandstücke gekleidete Maha-Lama von Ardistan, mit sämtlichen Insignien seiner hohen, >geistlichen< Würde (Seite 212B) beladen. Aus den beiden anderen krochen seine zwei sogenannten >Oberministranten< hervor, die mit Gebetsmühlen, Gebetsposaunen, Gebetstrompeten, Gebetsklappern und ähnlichen >geistlichen Waffen< ausgerüstet waren. Diese Gegenstände bestanden aus den reich mit Gold und Silber verzierten Röhrenknochen und Schädeln verstorbener Lamas. Unter Vorantritt dieser beiden Unterbeamten stieg der Maha-Lama, während die vierundzwanzig Sänftenträger bei den Sänften blieben, zu dem Altane empor, auf dem der 'Mir mit seinen Offizieren und Beamten saß. Auch dort war jede Stelle besetzt. Nur ganz vorn an der Brüstung, grad vor dem 'Mir, seiner Frau und seinen Kindern, gab es einen schmalen, leeren Raum, den man gelassen hatte, um dem Herrscher etwas mehr Bewegungsfreiheit zu ermöglichen, als den gewöhnlichen Besuchern des Festes. Dorthin stiegen die drei. Sie grüßten den 'Mir nur mit einem kaum merklichen Neigen des Kopfes und winkten ihren Trägern, die Kissen aus den Sänften hinaufzubringen. Dies geschah. Die Kissen wurden grad vor dem 'Mir so übereinandergelegt, daß drei hohe Sitze entstanden, auf welche die drei illustren Personen sich dann gemächlich niederließen. Nun sah es gerade so aus, als ob unsere christliche Weihnachtsfeier nur zu Ehren oder doch wenigstens nur unter der Oberaufsicht dieser drei Lamas stattfinde. Daß hierdurch dem 'Mir und seiner Familie jede Aussicht geraubt wurde, das schien diesen Herren sehr gleichgültig zu sein.

Ich hielt es infolge seiner ganzen Charakteranlage für unmöglich, daß er sich das gefallen lassen werde; aber er blieb zu meinem Erstaunen still. Er rührte sich nicht. Er tat nicht das mindeste, diese rücksichtslosen Menschen in ihrem beleidigenden Beginnen zu unterbrechen. Aber als sie es sich bequem gemacht hatten und nun triumphierend um sich blickten, da stand er mit seiner Familie auf und kam mit ihr herüber zu uns auf den Orgelchor, wo man ihnen sofort die besten Plätze bot.

Bis zu diesem Augenblicke hatte der Oberpriester nicht weiterlesen gekonnt. Und so wie er, hatte auch die ganze, tausendfältige Versammlung warten müssen. Das war eine Störung sondergleichen! Ihre Wirkung verdoppelte sich durch die brutale Art und Weise, in der sie ausgeführt wurde. Man hatte sich das Kommen dieser Leute gefallen lassen; aber als der Herrscher von ihnen gezwungen wurde, seinen Platz aufzugeben und einen anderen zu suchen, da blieb man nicht länger still. Ein erst leises, dann immer lauter werdendes Raunen und Rauschen ging durch den weiten Raum. Man hatte sich in heiliger, seelischer Erhebung und Bewegung befunden, und war aus ihr in roher Weise herausgerissen worden. Man fühlte sich empört. Es erhoben sich Stimmen, zunächst unverständlich, bald aber deutlicher.

"Hinaus mit ihnen!" rief jemand von einer Empore hinab.

(Seite 213A) "Ja hinaus, hinaus!" antworteten andere.

"Erst die Diener, dann die Herren! Greift zu; greift zu!" erklang es vom Altare her.

Ich sah, daß dort eine Bewegung entstand, sich der Träger und der Sänften zu bemächtigen. Nur noch ein einziger Augenblick, so hatte man es mit einem Tumulte zu tun, dessen Verlauf nicht abzusehen war. Da rief der geistesgegenwärtige Oberpriester mit lauter Stimme:

"Halt! Haltet ein!"

Die schon vorwärts Drängenden standen wieder still. Aller Augen richteten sich auf ihn. Er hob das Buch in seinen beiden Händen hoch empor und fuhr fort:

"Um des heiligen Evangeliums willen sei Friede auf Erden! Friede sei auch hier mitten unter uns! Wehe dem, der diesen unsern Frieden stört! Er vernichtet dadurch nicht uns, sondern nur sich selbst. Dem Christen aber ziemt Geduld. Wir wollen von neuem beginnen!"

Er schaute bei diesen Worten herauf zu mir. Ich verstand diesen seinen Blick. Er hielt es für unmöglich, so ohne alles Weitere in der unterbrochenen Verlesung fortzufahren. Es machte sich eine Überleitung nötig und so begab ich mich zur Orgel und spielte, bis ich annehmen konnte, daß sich der allgemeine Zorn gelegt habe und die Versammlung wieder bereit und geschickt zur Andacht sei.

Als der Basch Nasrani dann das Evangelium zu Ende gelesen hatte, gab mir die Begleitung des Lobgesanges eine treffliche Gelegenheit, nun auch die zarten, milden Register der Orgel erklingen zu lassen. Ich liebe da ganz besonders vox humana, flauto amabile und viola di gamba. Während des Vorspieles dachte ich an die alte Weissagung, daß hier in diesem Raume zur Zeit der Erfüllung nicht nur die Güte und die Barmherzigkeit ihre Stimme erheben, sondern auch Töne erklingen würden, die man hier in diesem Lande noch niemals gehört habe. Daß dies in höherer, humaner, ethischer und menschheitsgeschichtlicher Beziehung gemeint sei, darüber gab es für mich keinen Zweifel. Aber zum Menschenauge sprechen nahehängende Bilder deutlicher als ferne, und so mochten die Stimmen von Abd el Fadl und Merhameh und die Töne meiner Orgel immerhin ihre naheliegende Geltung behalten. Ich nützte die drei angegebenen Register so viel wie möglich aus, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen, und da man bekanntlich die beste Wirkung oft gerade nur mit den einfachsten und bescheidensten Mitteln erreicht, so ist es wohl keine Überhebung von mir, zu erwähnen, daß mein >orgeltretender< Halef sagte, es sei ganz so gewesen, als ob Engel miteinander sprächen. Er übertrieb bekanntlich gern, aber in diesem halb oder dreiviertel wilden Lande war es gewiß kein Wunder, daß gerade die zarten, reinen, der Menschenstimme ähnlichen Klänge der vox humana den Erfolg fanden, den Halef in dieser seiner überschwenglichen Weise beschrieb.

Der Lobgesang, den Abd el Fadl und Merhameh vortrugen, war, wie ich bereits erwähnte, ein Duett mit arabischem Texte. Der letztere bestand aus einer wörtlichen Übersetzung folgender Verse des hundertunddritten Psalmes: "Meine Seele und alles, was in mir ist, lobe den Herrn und seinen heiligen Namen. Lobe, meine Seele, den Herrn. Der Dein Leben vom Untergang erlöset und der Dich krönet mit Gnade und Erbarmen. Der Herr ist gnädig und barmherzig, langmütig und von großer Güte. Er zürnet nicht immer, und er drohet nicht ewig. So hoch der Himmel über der Erde ist, so mächtig ist seine Barmherzigkeit über die, so ihn fürchten. Die Barmherzigkeit des Herrn währet von Ewigkeit zu Ewigkeit. Lobet den Herrn, all seine Heerscharen Ihr. Lobet den Herrn, Ihr all seine Werke. An allen Orten seiner Herrschaft lobe, meine Seele, den Herrn!"

Abd el Fadl besaß einen schönen, kräftigen Bariton und seine Tochter einen Mezzosopran, von dem man meinen konnte, daß er nicht aus der Brust, sondern aus der Seele komme. Ich bin nicht Musikrezensent und unterlasse es daher, mich über den Vortrag des Duetts zu äußern. Aber ich darf nicht verschweigen, daß seine Wirkung eine große, eine außerordentliche war. Wo gab es hier, im hintersten Orient, wohl jemand, der schon so etwas gehört hatte! Also schon die Seltenheit wirkte. Sodann auch das Geheimnisvolle. Man sah den Sänger und die Sängerin (Seite 213B) nicht. Sie standen beide hinter Weihnachtsbäumen. Ebenso auch der Orgelspieler. Die Menge des Lichtes, die den weiten Raum erfüllte, schien hörbar geworden zu sein. Die vielen, verschiedenen Klangfarben der Orgeltöne waren wohl geeignet, Illusionen zu erwecken. Man begriff sie nicht. Und der Bariton schien aus der Erde, der Sopran aber vom Himmel zu kommen. Die Zuhörer schauten zuweilen überrascht nach oben, zuweilen schnell wieder herab, je nachdem der Vater oder die Tochter einsetzte. Und überdies war es das ganze Milieu, welches gewiß ebenso wirkte wie der Vortrag an sich selbst. Am tiefsten ergriffen von allen, die es hörten, war vielleicht der 'Mir. Wenn ich mich zur Seite wendete, konnte ich ihn gerade noch sehen. Sein Gesicht war ganz anders als sonst. Es war, als sei er in eine Handvoll warmen, frohen Sonnenscheines gehüllt, den man unmöglich mit dem Schein der Kerzen verwechseln konnte. Es schienen von seinem Gesichte leise, heimliche Strahlen auszugehen, die er gern verbergen wollte. Die Augen seiner Frau, die sich endlich, endlich nun einmal glücklich fühlte, hingen fast nur an ihm. Wie freute sie sich! Und auch die Kinder sahen öfter zu ihm auf, als es sonst zu geschehen pflegte. Ich sah, daß er wie erschrocken zusammenfuhr, als ich ihm am Schlusse des Lobgesanges aus seinem Entzücken riß, indem ich zu dem Kirchenlied hinüberleitete, welches dem Duett zu folgen und die Festpredigt einzuleiten hatte.

In dieser letzteren zeigte sich der Oberpriester als ein Redner, der es sehr wohl verstand, seine Hörer hinzureißen. Seine Rhetorik war un studiert und ungekünstelt. Was er sagte, kam aus dem Herzen und wurde unterwegs vom Verstande kristallisiert. Er war nicht etwa ein guter Redner, weil er gut sprechen konnte, sondern weil ein großer Gedanke, der Erlösungsgedanke, seine Seele derart füllte, daß er nach ganz natürlichem Gesetze überströmte und alles mit sich zog, was er dabei berührte. Ich wunderte mich gar nicht darüber, daß nach dem gesprochenen Segen und dem vollendeten Schlußgesange sich niemand eher entfernen wollte, als bis der alte, liebe Herr sich noch einmal, noch zweimal, noch fünfmal, noch zehnmal zeigte.

Der 'Mir war voll befriedigt. Er dankte vor allen Dingen und zunächst Abd el Fadl und Merhameh. Mit dem Basch Nasrani konnte er jetzt nicht sprechen, weil dieser anderweitig in Anspruch genommen war. Da sah er die Leute aus El Hadd stehen. Er stutzte und ging dann auf sie zu. Dieses Stutzen hatte nicht den Grund, daß er sie kannte; er hatte sie noch nie gesehen. Ihre fremde, wenn auch außerordentlich kleidsame Tracht fiel ihm auf. Abd el Fadl kam schnell herbei und sagte ihm, wer sie seien. Da freute sich der 'Mir; man sah es ihm an. Er richtete das Wort an den Schech el Beled:

"Ihr seid aus El Hadd? Ich liebe dieses kleine, schöne Ländchen, obgleich ich noch nicht dort gewesen bin und auch noch niemand von dort kenne. Ich weiß, seine Bewohner sind mir freundlich gesinnt. Sie haben, obgleich sie ebenso eng an Dschinnistan wie an Ardistan grenzen, niemals etwas gegen mich unternommen, sondern sich mir immer nur förderlich erwiesen. Du bist der Schech el Beled?"

"Ich bin es," bejahte der Schech.

"So schulde ich doch wohl vorzüglich Dir den Dank, zu dem ich mich verpflichtet fühle. Welches Glaubens bist Du? Du trägst den Turban in der Hand, hier in der Kirche."

"Wir sind Christen."

"Bei wem wohnet Ihr? Wo seid Ihr abgestiegen?"

"Im Karawanserai, wo jedermann wohnt, der fremd in der Fremde ist."

"Habt Ihr Pferde?"

"Nein. Wir sind arm. Wir kamen zu Fuß."

"Ihr seid nicht mehr fremd in der Fremde. Ich kenne Euch nun und heiße Euch willkommen. Ihr sollt meine Gäste sein. Für Leute, wie Ihr seid, habe ich immer Raum genug. Es findet nach Verlauf von einer Stunde ein Weihnachtsmahl bei mir im Schlosse statt; auch dazu seid Ihr geladen."

Von diesem Mahle wußten wir noch nichts. Es war als besondere Festüberraschung geheimgehalten worden. Der Schech el Beled nahm diese Einladung durch eine Verbeugung an, die den freien Sohn der Berge erkennen ließ. Sie war höflich, aber nicht devot. Er gesellte sich, während der 'Mir sich mit (Seite 214A) den Seinen entfernte, zu Abd el Fadl und Merhameh. Ich aber trat nun an die Brüstung des Chores vor, um zuzuschauen, wie die Kirche sich entleerte. Es geschah das in ruhiger, sehr würdiger Weise. Auf jedem Gesicht war der Ausdruck der Befriedigung wohl gar der Begeisterung zu sehen. Ich zog hieraus die Berechtigung, anzunehmen, daß von heute an sich das Verhältnis der Christen zu der übrigen Bevölkerung und zu dem öffentlichen Leben von Ardistan ganz anders gestalten werde als bisher. Der 'Mir hatte zwar kein einziges Wort über das Verhalten des Maha-Lama gesagt, aber es stand für mich fest, daß der bisher so mächtige Lamaismus heute wenn nicht seinen ganzen Einfluß, so doch einen ganz bedeutenden Teil desselben verloren habe. Legte man das, was das Christentum gewonnen hatte, darauf, so ergab es einen doppelt großen Abstand gegen früher.

Die vor dem Altare stehenden Sänften waren, um etwaige Feindseligkeiten zu verhindern, von vorsichtigen, ruhigen Männern umringt worden. Darum konnten die Lamas nicht einsteigen. Sie mußten warten, bis die Kirche leer geworden war. Dann entfernten sie sich, vollständig unbeachtet, wie man nach einer verloren gegangenen Schlacht sich aus dem Staube macht. Da krachte jetzt plötzlich ein Kanonenschuß, noch einer, noch einer und so weiter. Das konnte nicht geschehen, ohne daß der 'Mir den Befehl hierzu gegeben hatte, und zwar nicht schon vorher, sondern soeben erst. Das war ein sicherer Beweis, daß die Feier tief und nachhaltig auf ihn gewirkt und ihn auf unsere Seite herübergezogen hatte. Ganz dasselbe sagte man sich auch draußen auf den Straßen. Ich hörte jubelnde Rufe und ging hinunter und hinaus, um einige der Gassen abzuschreiten und mich an dem frohen Weihnachtsgewirr zu erfreuen. Es war fast so hell wie am Tage. Laternen und brennende Lichter, illuminierte Türen und Fenster fast überall! Halef begleitete mich. Er war außerordentlich stolz auf seine heutigen Leistungen als Kalkant.

"Bist Du mit mir zufrieden, Sihdi?" erkundigte er sich.

"So leidlich," antwortete ich.

"Warum nur leidlich? Hat es Dir während der ganzen Feier auch nur ein einziges Mal an Luft in der Orgel gefehlt?"

"Nein. Aber hast Du auch nur ein einziges Mal ein kleines bißchen Luft mehr gegeben, als nötig war? Beweise es!"

Auf diese raffinierte Schlechtigkeit von mir war er zunächst still. Er dachte nach. Dann sagte er:

"Konnte ich wissen, daß Du mehr verlangst, als Du brauchtest? Du betrübst mich sehr! Aber morgen werde ich schneller treten und Dir so viel Luft zuschicken, daß Du von Dankbarkeit überquellen mußt, wenn Du nicht platzen willst; darauf kannst Du Dich verlassen!"

Was das erwähnte Festessen betrifft, so finde ich keinen Grund, es ausführlich zu beschreiben. Ich war, wie man mir glauben wird, von den Anstrengungen der letzten Tage her und also auch von heute ermüdet und bedurfte der Ruhe und des Schlafes. Darum verabschiedete ich mich mit Halef, noch ehe das Essen ganz zu Ende war, und ging nach meiner Wohnung. Was die Leute von El Hadd betrifft, so hatten sie in meiner (Seite 214B) Nähe gesessen, doch nicht so nahe, daß es zu einer wirklichen Unterhaltung zwischen ihnen und mir hätte kommen können. Es waren nur einzelne Handreichungen, Fragen und Antworten hin und her gegangen, wobei ich an dem Schech el Beled, je öfter mein Blick auf ihn fiel, je mehr etwas mir Bekanntes bemerkte, was ich aber nicht bestimmen, nicht genau bezeichnen konnte. Vollständig sicher war, daß ich ihn noch nie im Leben gesehen hatte. Gab es vielleicht im Kreise meiner Bekannten eine Person, die irgendeine Ähnlichkeit mit ihm besaß? Ich dachte nach, konnte aber keine finden.

Wir hatten unsere Zimmer heute nur einige Male für sehr kurze Zeit betreten und wurden darum von unseren Hunden sehnsüchtig erwartet. Ein Diener hatte inzwischen für sie gesorgt. Sie waren schon längst zu ernst, um noch zu spielen, aber diesesmal war ihnen die Zeit denn doch zu lang geworden, und so hatten sie sich so gut unterhalten, wie es eben ging und ihnen möglich war. Halefs Hu und Hi hatten sich sehr eingehend mit dem Teppich beschäftigt und das Futter als nicht zu ihm gehörig betrachtet. Die für richtig gehaltene Trennung beider war bis zum letzten Stiche durchgeführt. Das machte dem Hadschi Spaß. Es fiel ihm gar nicht ein, sie zu tadeln. Er freute sich darüber und lobte und streichelte sie. Als wir dann in mein Zimmer kamen, stellte es sich heraus, daß Aacht und Uucht sich nur vorübergehend mit dem Teppich abgegeben hatten. Es war von ihnen nur ein wenig zurechtgewiesen worden. Er lag nämlich quer anstatt lang. Ihr Hauptaugenmerk schien vielmehr auf die Wandverkleidung gerichtet gewesen zu sein. Diese bestand aus einem dünnen Stoffe, der teils festgenagelt, teils in Falten geordnet war, um schmückende Bogen zu bilden. Und diese Bogen waren es, mit denen die braven Hunde nicht einverstanden gewesen waren. Sie hatten sie so gründlich entfernt, daß sie alle jetzt unten am Boden lagen und die Wände sich nun unbekleidet zeigten, die genagelten Stellen natürlich abgerechnet.

Ich erschrak zunächst ein wenig. Dieser mir von den sonst so vernünftigen Tieren gespielte Streich konnte mir natürlich nicht angenehm sein. Aber sie verhielten sich ganz eigenartig dabei. Sie taten nicht im geringsten schuldbewußt, sondern sie empfingen uns so munter und, ja, siegesgewiß, als ob sie überzeugt seien, ein gutes, lobenswertes Werk verrichtet zu haben. Uucht sprang, kaum daß wir eingetreten waren und noch ehe ich einen Tadel aussprechen konnte, nach der einen Wand, reckte sich an derselben hoch empor und begann, da oben zu kratzen. Als Aacht dies sah, tat er ganz dasselbe auch an der anderen Wand. Ich ging hin, um die Stellen zu untersuchen. Diese Wände waren nicht gemauert, sondern aus Holzwerk zusammengesetzt, und in diesem Holze sah ich kleine, schmale, senkrechte Öffnungen, welche nichts anderes als Schlüssellöcher sein konnten. Es waren nicht nur eines oder zwei, sondern mehrere da, sie alle in genau derselben handlichen Höhe und immer an einer Stelle, wo eine Falte des Stoffes sie vollständig verbarg. Daß die Hunde jetzt genau wußten, daß sich hier leere, verdächtige Räume befanden, daß verstand sich ganz von selbst. Aber wie sie zu dieser Entdeckung gekommen waren, das konnte für mich (Seite 215A) Nebensache sein. Sie hatten den Prinzen der Tschoban unter sich gehabt und festgehalten; sie kannten also seine Witterung. Er hatte die Stellen, an denen die verborgenen Kästen lagen, so oft berührt, daß der Geruch seiner Hände daran haftete. Das war für ihre feinen Nasen genug und erklärte alles.

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich sofort an den kleinen, winzigen Drückerschlüssel dachte, den er, als er sich bei mir einzuschleichen versuchte, hier verloren hatte. Er war gut aufbewahrt; nur hatte ich keine Zeit gehabt, mich näher mit ihm zu beschäftigen. Ich holte ihn und probierte. Er paßte, paßte ganz genau. Ich schloß die Kästen auf und zog sie heraus. Es waren ihrer fünf. Sie enthielten Skripturen, und zwar so außerordentlich wichtige, daß ich sofort selbst ging, um den 'Mir zu holen, und Halef aufforderte, inzwischen ja keinen Menschen hereinzulassen.

Der 'Mir war noch im Speisezimmer. Er folgte mir unverweilt, obgleich ich ihm in Gegenwart anderer nicht sagen konnte, um was es sich handelte. Aber unterwegs machte ich ihm eine Andeutung, die seine Schritte beschleunigte. Wir saßen dann die ganze, ganze Nacht, um die Papiere zu ordnen, zu entziffern und zu lesen. Wir waren so müd gewesen; jetzt aber gab es keine Müdigkeit mehr; sie war vollständig verschwunden. Es handelte sich um die schon vorerwähnte Verschwörung. Ihr geistiger Leiter war der Basch Islami, der sich wünschte, der Schwiegervater des 'Mir von Ardistan zu werden. Ihre Seele der Maha-Lama von Ardistan, (Seite 215B) der sich heut so herausfordernd betragen hatte. Und ihre rechte Hand der >Panther<, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Herrscher sein zu müssen. Als der Morgen kam, waren wir fertig und von allem vollständig unterrichtet. Es gereichte mir zur Genugtuung, daß der 'Mir keinen einzigen anderen zu Rate zog und nur mit mir und Halef allein die Maßregeln besprach, die zu ergreifen waren. Er beschloß, alles Aufsehen zu vermeiden und das, was vorgenommen werden sollte, nur ganz im stillen geschehen zu lassen. Dadurch wurde jedenfalls sehr viel Blutvergießen (Seite 216A) vermieden. Zunächst hatten die Oberanführer so schnell wie möglich zu verschwinden, nicht etwa indem man sie tötete, sondern indem man sie durch einstweilige Gefangennahme unschädlich machte. Das war bei dem Maha-Lama von Ardistan nicht schwer, bei dem Basch Islami und dem >Panther< aber nicht leicht, weil beide bereits argwöhnisch geworden waren und sich nicht mehr in der Stadt befanden. Die Verzeichnisse der Verschworenen enthielten die Namen von so vielen Offizieren, daß der 'Mir erklärte, eigentlich an der Treue und Zuverlässigkeit all seiner Truppen zweifeln zu müssen. Ich war zwar nicht dieser Meinung, hütete mich aber, ihm das zu sagen, denn es kam mir vor allen Dingen darauf an, ihn die Unterstützung der Christen so hoch wie möglich bewerten zu lassen. Es genügte, ihn zunächst darauf hinzuweisen, daß das gegenwärtige Christfest ganz bestimmt zu seinen Gunsten wirken werde und keine andere Partei ohne die größte Gefahr es wagen werde, den Frieden dieser jetzigen Tage zu stören. Für alle ungeahnten oder unvorhergesehenen Fälle stellte ich ihm noch einmal den Dschirbani mit seinen Truppen zur Verfügung. Das beruhigte ihn. Er teilte mir aufrichtig mit, daß es auch ohne den Fund dieser Akten der Verschwörer mit dem Maha-Lama aus gewesen sein würde, weil er den an ihm in der Kirche begangenen Schimpf nicht auf sich ruhen lassen könne. Er sei nur still gewesen, um die Feier nicht zu stören, die einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht habe. Er bestimmte, daß die Wände meines Zimmerst schnell wiederherzustellen, die Skripturen aber nach seiner Wohnung zu schaffen seien. Dann fragte er in plötzlich anderem, aber auch in hohem Grade nachdenklichem Tone:


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