"Nein. Es reiten nur fünfzig Mann mit. Für mehr würde das Wasser nicht reichen."

"Schön! Sie sind also die Fünfzig und wir sind das Mehr, für die es später nicht mehr reicht. Wir werden uns also jetzt versorgen müssen. Steht auf, und kommt, sonst helfen wir nach!"

Er zog den >General< beim Kragen in die Höhe; da stand der >Panther< von selbst auf. Er hielt es doch unter seiner Würde, sich ebenso zwingen zu lassen.

"Schau, wie Du kannst, wenn Du willst!" lobte ihn der kleine Hadschi. "Je länger Du bei uns bist, desto brauchbarer wirst Du werden! Für welche Zeit ist denn unser Aufbruch nach der >Stadt der Toten< beschlossen?"

"Wenn die fünfzig bereit sind, dann sofort! Du scheinst Dich hin zu sehnen?"

Das sollte eine Ironie sein. Halef tat, als ob er sie nicht gehört habe, und antwortete:

"So müssen wir uns sputen, damit diese berühmten, hohen Herren ja nicht etwa auf uns zu warten haben. Also vorwärts, vorwärts mit dem neuen 'Mir von Ardistan!"

Er schob die beiden vor sich her, und wir folgten ihnen, indem wir ihre Pferde mit den unseren am Zügel führten. Niemand hinderte uns. Keiner trat uns entgegen. Die meisten schliefen noch, und alle die, welche wach waren, wußten, daß sie aus Rücksicht auf ihre Anführer sich aller Feindseligkeiten gegen uns zu enthalten hatten. Am Brunnen angekommen, mußten sie sich wieder niedersetzen und zusehen. Halef tränkte mit den beiden Ussul die Pferde. Der 'Mir stand still und stumm dabei, mit finsterem Blick das, was geschah, beobachtend. Er hatte die geladenen Pistolen seiner beiden Gegner im Gürtel stecken und seine eigenen dazu. Ich war überzeugt, daß er sie augenblicklich niederschießen werde, falls sie einen Versuch der Flucht oder der Gegenwehr wagten. Das gab mir die Möglichkeit, mich freier zu bewegen. Ich hatte nicht nötig, auf die Gefangenen aufzupassen, und ging zum Proviant, um ohne alles vorherige Fragen für uns auszuwählen, was ich für nötig hielt. Als der >Panther< das sah, öffnete er schon den Mund, um es mir zu verbieten; da aber fuhr ihn der kleine Hadschi gebieterisch an:

"Schweig! Behalte drin, was Du im Maule hast! Denn etwas Gutes ist es keinesfalls!"

Da war er still. Ich aber füllte alle unsere Fouragetaschen, bis nichts mehr hineinging und sorgte dann in gleicher Weise auch für die Futtersäcke unserer Pferde. Wenn ich dabei zu dem >Panther< und zu seinem >General< hinüberschaute, sah ich in ihren Gesichtern einen höhnischen Zug, der mir deutlich sagte: "Mach, was Du willst: versorge Dich mit Vorräten, soviel Du immer willst; es ist doch unnötig; Ihr seid trotzdem verloren, verloren auf alle Fälle!"

(Seite 225A) Als ich hiermit fertig war, ging ich in das Zisternenhaus. Ich hatte keinen besonderen Grund hierzu. Ich tat es nur, um mir sagen zu können, daß ich nichts versäumt habe, mich so genau wie möglich zu orientieren. Sein Inneres bestand aus den vier nackten, kahlen Wänden. Es war leer. Aber ein Mann befand sich da, ein einziger Mann, der an der Erde saß und mich hatte kommen sehen. Er war nicht Soldat. Als ich mich dem Hause näherte und dann zu ihm hineintrat, verschlang er mich förmlich mit seinen weit aufgerissenen. ängstlich blickenden Augen. Indem er aufsprang, fragte er mich in dem hastigen, halblauten Tone eines Menschen, der etwas sagen will, was er aber doch nicht sagen darf:

"Wer bist Du, Herr? Sag schnell, wer Du bist?"

"Ich bin ein Fremder," antwortete ich.

"Ein Fremder nur? Du bist nicht aus Ard?"

"Ich komme von dort, bin aber nicht dort geboren."

"Bist Du allein?"

"Nein!"

"Wer ist bei Dir?"

"Wir sind fünf Personen. Die vier anderen sind Freunde von mir."

"Ist ein hoher, sehr hoher Herr bei ihnen?" erkundigte er sich, indem er ganz nahe an mich herantrat und die Worte fast übereinanderstürzte.

"Ja."

"Wer? Sag schnell, schnell, schnell!"

Ich zögerte, da fuhr er fort:

"Du kannst, Du darfst es sagen! Du sollst es sagen! Ist es etwa der 'Mir? Der 'Mir von Ardistan?"

"Ja," nickte ich.

"Gefangen?"

"Noch nicht ganz, aber doch beinahe."

"Ist er es, der nach der >Stadt der Toten< gebracht werden soll?"

"Ja."

"Und Du mit?"

"Ja. Wir alle fünf. Wer bist Du?"

"Ich bin der Brunnen und Zisternenwächter. Der 'Mir ist mein Herrscher. Ich habe ihm treu gedient und bin ihm auch jetzt noch treu. Aber ich habe schwören müssen, nichts zu verraten. Der 'Mir soll sterben!"

(Seite 225B) "Ich vermute es!"

"Er soll verhungern und verdürsten! Und nicht nur er allein, sondern auch alle die, welche bei ihm sind. Könnt Ihr denn nicht fliehen?"

"Es wäre wohl möglich; aber wir wollen nicht."

"Ihr wollt nicht? Das ist mir unfaßbar! Ihr wollt nicht! Wo doch der sichere Tod grad vor Euch liegt!"

"Geziemt es dem 'Mir, vor diesen empörerischen Halunken und Verrätern auszureißen? Außerdem haben wir auch noch andere Gründe, uns nach der >Stadt der Toten< führen zu lassen."

"So muß ich schweigen. Ich kann Euch nicht retten, so gerne ich auch wollte. Aber ich habe Dich gewarnt! Hast Du eine Ahnung von dem, was Euch dort erwartet?"

"Ich ahne verschiedenes. Aber sei es, was es sei, wir fürchten uns nicht!"

Er sah mir prüfend in das Gesicht, schüttelte den Kopf und sagte:

"Du scheinst sehr getrost zu sein, und ich errate, woher das wahrscheinlich kommt. Der 'Mir glaubt in die Geheimnisse der >Stadt der Toten< eingeweiht zu sein; aber er ist es nicht. Er kennt nur einige, aber nicht alle. Diese Geheimnisse sind Eigentum der Geistlichkeit, und zwar auch nur der allerhöchsten Personen unter ihr. Der Regierung wurde stets nur so viel von ihnen mitgeteilt, wie im Interesse dieser geistlichen Herrscher lag."

"Welche Geistlichkeit meinst Du?"

"Die mohammedanische und die lamaistische."

"Nicht die christliche?"

"O nein, diese nicht. Sie ist ehrlich. Es gibt keine Verbrecher unter ihr. Sie hält sich stets von solchen entsetzlichen Dingen fern. Auch machte man niemals einen Versuch, sie einzuweihen. Sie wurde nicht geachtet. Sie war ja unterdrückt!"

"Du verteidigst sie so dringlich. Bist Du etwa ein Christ?"

Er wurde verlegen.

"Du kannst es mir offen sagen," fuhr ich fort. "Ich bin nämlich auch einer."

"Du auch? Wie schade, jammerschade!"

"Warum schade?"

"Ich meine, jammerschade um Dich! Nun tut es mir doppelt und zehnfach leid um Dich! Ihr seid dem Tode geweiht. Glaube ja nicht, daß Ihr entkommen könnt! Vollständig bekannt sind die Irrkammern und Irrwege der Totenstadt nur ganz (Seite 226A) wenigen. Der beste Kenner war der Maha-Lama von Dschunubistan, der jetzt Gefangener der Ussul zu sein scheint. Nach ihm sind wohl am besten eingeweiht der Maha-Lama von Ardistan und der Basch-Islami. Der letztere war erst vor kurzem hier, begleitet von einer kleinen Schar von Eingeweihten. Sie ritten nach der >Stadt der Toten< und blieben mehrere Tage dort. Wenn das geschieht, so handelt es sich stets um die Vorbereitung für wichtige Gäste, die für immer verschwinden sollen. Jetzt stellt es sich nun heraus, daß Ihr es seid, um die es sich dabei gehandelt hat!"

Was ich da erfuhr, war im höchsten Grade interessant. Also der alte Basch-Islami war in die Geheimnisse der Totenstadt besser eingeweiht als selbst der 'Mir! Und da er glaubte, daß der >Panther< seine Tochter zur Frau nehmen und sie zur Herrscherin machen würde, hatte er ihm so viel, wie nötig war, davon verraten! Daher die Zuversicht, mit welcher der >neue< 'Mir von Ardistan davon sprach, daß wir verloren seien! Es gab noch einige sehr wichtige Fragen, die ich an den braven Wärter zu richten hatte, der aber deutete auf einen älteren Offizier, der sich dem Zisternenhause mit schnellem Schritte näherte, und sagte:

"Wir werden unterbrochen. Dort kommt der bisherige Major, der nun Oberst geworden ist, weil der Oberst zum General aufstieg. Ich bitte Dich um Gottes willen, vorsichtig zu sein. Hast Du Zündhölzer, um Licht zu machen?"

"Ja."

"Viel?"

"Allzuviel freilich nicht. Warum willst Du das wissen?"

"Weil es wahrscheinlich zu Eurer Rettung nötig ist. Ihr werdet sehr, sehr lange im Dunkel sein. Sorge für Zündhölzer! Sorge für Licht! Ich sah Dir zu, als Du Deine Taschen und Deine Säcke packtest. Du nahmst nur von dem großen Haufen, der die Vorräte für die Mannschaften enthält, nicht aber von dem zugedeckten, kleinen, der für die Offiziere bestimmt ist. Dort ist wahrscheinlich auch alles zu finden, was man nötig hat, um Licht und Feuer zu machen - - -"

Er hatte sehr schnell gesprochen, um fertig zu werden. Jetzt brach er ab, denn der Offizier hatte nur noch wenige Schritte zu tun, um uns zu erreichen.

"Ich danke Dir!" raunte ich ihm noch eilig zu. "Ich werde Dir das nicht vergessen und den 'Mir seinerzeit an Dich erinnern!"

Nun war der >Oberst< da.

"Was hast Du mit diesem Menschen zu reden?" fuhr er mich an.

Ich hätte ihm sehr gerne ebenso grob geantwortet, sagte mir aber, daß ich dadurch dem treuen Wärter außerordentlich schaden würde, ohne selbst einen Nutzen davon zu haben. Darum antwortete ich im unbefangensten Tone:

"Ich fragte ihn nach der Tiefe des Brunnens und nach der Mechanik, mit der das Wasser emporgefördert wird. Er erklärte es mir."

"Weißt Du es nun?"

"Ja."

"So bist Du mit ihm fertig. Sei übrigens froh, daß Du überhaupt Wasser hast, und bekümmere Dich nicht auch noch darum, wie man es sich verschafft! Ich habe mit dem neuen 'Mir von Ardistan zu sprechen!"

"So frag den alten 'Mir, ob er es Dir erlaubt!" riet ich ihm.

"Oho! Der ist abgesetzt! Der hat uns weder etwas zu erlauben, noch etwas zu verbieten!"

"So versuche es, ob Du es fertig bringst, ohne seine Genehmigung mit dem Verräter zu sprechen! Ich warne Dich! Du bringst den, mit dem Du reden willst, in Lebensgefahr!"

"Alle Teufel! Ist es denn wirklich Euer Ernst!"

"Ja!"

"Ihr würdet ihn erstechen oder erschießen?"

"Unbedingt! Und nicht nur ihn und seinen Mitgefangenen, sondern auch Dich selbst!"

Wir hatten das Zisternenhaus verlassen und schritten der Stelle zu, an der sich meine Gefährten befanden. Aber bei diesen meinen letzten Worten hielt er den Schritt inne und fragte:

"Auch mich?"

(Seite 226B) "Ja!"

"Wirklich, wirklich?"

"Ich gebe Dir mein Wort darauf!"

Ich sagte das so ernst und bestimmt und zog dabei die Brauen so finster zusammen, daß er, einen viel weniger gebieterischen Ton annehmend, ausrief:

"Aber was soll man denn da tun?"

"Was Dir beliebt! Euer Leben steht in unseren Händen. Wenn Ihr es wegwerfen wollt, wir hindern Euch nicht!"

"Aber es wäre doch Euer eigener Tod! Unsere Truppen würden Euch zerreißen!"

"Was sie tun würden, das laß getrost nur ihre und unsere Sache sein!"

"Aber meine Instruktion reicht nur bis hierher an diese Stelle, nicht aber weiter! Für das, was von jetzt an geschehen soll, habe ich mir neue Befehle zu holen!"

"Dagegen haben wir wohl nichts, vorausgesetzt, daß wir diese Befehle mit hören!"

"Unmöglich! Sie sind natürlich nur für mich, nicht aber für Euch!"

"So kehre getrost dorthin zurück, woher Du gekommen bist! Zu verlangen, daß wir Euch unter vier oder sechs Augen miteinander sprechen lassen, das ist entweder eine Frechheit oder eine Verrücktheit, die von uns zurückgewiesen wird! Und dort sehe ich noch andere Offiziere kommen. Sie scheinen die Absicht zu haben, sich Dir hier zuzugesellen. Winke ihnen sofort ab! Wir dulden nicht, daß sie sich unseren Gefangenen nähern! Bleiben sie nicht augenblicklich stehen, so geschieht etwas, was Du nicht verantworten kannst! Schau hin zum 'Mir! Siehst Du, was er tut?"

Auch der 'Mir sah die Personen, welche augenscheinlich gewillt waren, zu uns herbei zu kommen. Er zog zwei Pistolen aus dem Gürtel und richtete sie direkt auf den >Panther< und seinen >General<.

Da gab der >Oberst< schnell den von ihm verlangten Wink, der gehorsam befolgt wurde, und stieß die wenigen Worte hervor:

"Es ist eine Schande! Wir haben Euch in unserer Gewalt und müssen doch tun, was Euch, den Gefangenen, gefällt! Glaubt Ihr etwa, daß wir Euch das nicht heimzahlen werden?"

"Ja, das glauben wir allerdings!" lachte ich.

"So bin nun ich es, der von Verrücktheit sprechen kann, nicht aber mehr Du! Soll denn das wirklich so fortgehen, daß Ihr unsere zwei höchsten Vorgesetzten als Gefangene behandelt, nur um sie als Schild für Euch zu benützen?"

"Ja; das soll allerdings so fortgehen," nickte ich.

"Heut und morgen?"

"Heut und morgen, bis wir in der >Stadt der Toten< angekommen sind."

"Und dann?"

"Dann geben wir sie frei."

"Und haltet auch alles andere, was Ihr versprochen habt?"

"Alles! Ich weiß, woran Du denkst. Wir haben Euch versprochen, uns nach Freigebung der beiden Aufrührer ohne allen Widerstand einsperren zu lassen, wohin es Euch beliebt. Wir haben Euch dieses unser Wort freiwillig gegeben; kein Mensch konnte uns dazu zwingen. Und genauso freiwillig werden wir es auch halten. Wollten wir es brechen, so würde das unserer Ehre solchen Menschen, wie Ihr seid, gegenüber, nicht den geringsten Abbruch tun. Wir könnten, von unsern Gefangenen gedeckt, von hier fortreiten, ohne daß Ihr imstande wäret, uns daran zu hindern; aber wir pflegen selbst Schurken nicht um das Wort zu betrügen, welches wir ihnen einmal gegeben haben, und so - - -"

"Schurke?" unterbrach er mich, indem sein Blick aufloderte. Er schlug an seinen Säbel und fuhr fort: "Eigentlich sollte ich Dich sofort erstechen! Oder ich sollte auch Dir einen Degen geben lassen, um mit Dir zu kämpfen, bis einer von uns beiden tot zusammenbricht. Aber Du bist in diesem Lande fremd und kennst die Gründe nicht, die unser Tun bestimmen. Der 'Mir war ein Tyrann, ja mehr als das, ein Schreckensherrscher, eine Zuchtrute, die jedem wehe tat, den er berührte. Es sind nicht Tausende, sondern aber Tausende, die unter den Streichen dieser (Seite 227A) Rute zugrunde gehen mußten. Unzählbar ist die Menge aller derer, deren Kraft er gebrochen, deren Frieden er zerstört, deren Glück er vernichtet und deren Elend er verschuldet hat! Es gibt keine Qual, die er nicht ersann, keine Marter, die er nicht erprobt, und keine Angst und Pein, die er nicht - - -"

Ich halte hier in der Wiederholung seiner Rede inne, er aber tat dies nicht; er sprach weiter, immer weiter. Und während er dies tat, ergriff er mich beim Arme und zog mich weiter, bis hin zum 'Mir, um diesem alle die scharfen Punkte, die er vorzubringen hatte, direkt in das Gesicht zu schleudern. Er war ein Ehrenmann. Er sprach mit lauter Stimme, so daß es weithin schallte, wohl über zehn Minuten lang. Er schenkte dem Herrscher keinen einzigen Vorwurf, der gegen ihn zu erheben war, und stand aufrecht, stolz und still vor ihm und schaute ihm, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, ununterbrochen in die flammenden Augen. Dann, als der Offizier geendet hatte, wendete er sich mir wieder zu:

"So! Das war es, was ich ihm, dem gefühllosen Aussauger und Bedrücker seines Volkes, zu sagen hatte! Seine ganze Saat war Gewalt, sein ganzes Denken und Tun war Gewalt, sein ganzes Leben war Gewalt! Was konnte er da anderes ernten als eben auch nur Gewalt? Dir, der Du fremd bist, Effendi, ist er gütig entgegengekommen, und Du glaubst, ihm dafür dankbar sein zu müssen. Darum hast Du Dein Schicksal an das seinige gebunden und wirst mit ihm zugrunde gehen. Das tut mir leid. Ich möchte Dich wohl retten. Ich möchte Dir raten, fortzureiten und dieses Land zu verlassen, um niemals - - -"

"Halt! Schweig! Sprich nicht zuviel!" gebot ihm da der >Panther<. "Dieser fremde Mensch, der sich ganz mit demselben Rechte um andere Leute kümmert, wie der Teufel sich um Allahs Seligkeiten kümmert, ist noch zehnmal, noch hundertmal schlimmer, als der 'Mir! Sie sind beide einander wert, und es fällt mir gar nicht ein, den einen von ihnen laufen zu lassen und nur dem andern heimzuzahlen, was er verschuldet hat. Du kamst hierher, um Dir weitere Instruktionen zu holen?"

"Ja," beantwortete der Offizier diese Frage.

"Sie ist kurz. Daß uns nur fünfzig Reiter zu begleiten haben, weißt Du bereits. Wähle sie Dir aus, denn Du selbst bist es, der sie befehligen soll. Ich will Dich dadurch für die Offenheit belohnen, mit der Du dem Tyrannen gesagt hast, was und wie wir alle von ihm denken. Mag er uns beide immerhin als seine Gefangenen betrachten. Diese Lächerlichkeit hört auf, sobald wir das Ziel erreichen, und es wird sich dann zeigen, ob er stark genug ist, ihre Folgen so ruhig zu tragen, wie er soeben Deine Worte angehört hat, ohne ein Wort der Verteidigung finden zu können. Du hast Dich mit Deinen fünfzig Mann nicht nur unterwegs, sondern auch wenn wir bei Tag oder während der Nacht lagern, so weit von uns zu halten, daß Ihr die Seelenruhe des abgesetzten 'Mir und seiner Freunde nicht stört. Ihr wißt ja, daß sie vor Angst sofort ganz außer sich sind, sobald einmal einer von Euch auf den Gedanken kommt, sich ihnen von weitem zu nähern. Unser Ziel ist das Gefängnis Nummer Fünf, an welches wir sie abzuliefern haben. Wir werden es, wie ich hoffe, noch vor dem morgenden Abend erreichen. Jetzt aber sei dafür besorgt, daß wir so bald wie möglich von hier fortkommen, denn der neue Beherrscher von Ardistan hat mehr und auch Wichtigeres zu tun, als mit dem alten, von seinem Volke hinausgeworfenen, in der Wüste herum spazieren zu reiten. Fertig!"

Der somit verabschiedete >Oberst< entfernte sich, um die ihm erteilten Weisungen auszuführen. Halef schaute nach, ob an dem Riemenzeuge unserer Pferde alles in Ordnung sei, und ich verfügte mich zu dem >kleinen< Vorratshaufen, von dem der Zisternenwächter gesprochen hatte. Er war mit den Leinwandbahnen des auseinandergenommenen Offizierszeltes zugedeckt. Als ich diese Decke zurückschlug, sah ich wohl, daß alles das, was darunterlag, nicht für die Soldaten, sondern nur für die Offiziere bestimmt sein konnte. Es gab da vieles, was entweder ganz oder auch nur halb überflüssig war. Ich wollte nicht lange und auffällig suchen, denn man sollte nicht wissen, womit ich mich zu versehen gedachte. Glücklicherweise fielen mir gleich (Seite 227B) bei dem ersten Blicke mehrere Pakete Kibritat frentschija auf. In der Nähe lag auf Flaschen gezogenes Sesamöl, welches jedenfalls dazu bestimmt war, aus unterwegs gefundenen, eßbaren Kräutern oder Blättern einen wohlschmeckenden Salat zu bereiten. Und gar nicht weit davon gab es einige kleine, leichte orientalische Dolahs, zu deren jeder ein Lämpchen mit blecherner Dille gehörte. Kleine Leinwandstücke und Schnüre gab es genug und so hatte ich in zwei, drei Minuten ein Paket beisammen, welches alles Nötige enthielt, um den guten, mir von dem Brunnenwächter gegebenen Rate gerecht zu werden. Niemand hatte davon Notiz genommen, als nur der >Panther< allein. Als ich es an den Sattel eines unserer beiden Packpferde befestigte, rief er mir höhnisch zu:

"Glaubst Du vielleicht, unterwegs zu verhungern? Lächerlich! Im Gefängnisse Nummer Fünf gibt es dann um so größere Hochgenüsse!"

Natürlich antwortete ich ihm gar nicht. Es konnte mir ja nur lieb sein, wenn er glaubte, daß dieses Paket nur eßbare Dinge enthalte.

Nach vielleicht einer Viertelstunde sahen wir, daß die fünfzig Reiter mit dem >Oberst< an der Spitze das Lager verließen und dann ein Stück davon halten blieben, um zu warten, bis wir nachkommen würden. Wir stiegen auf und folgten. Alle, die zurückblieben, schauten uns nach. Was dachten sie? Wußten sie alle, welchem Schicksale man uns entgegenführen wollte? Gab es keinen unter ihnen, der es bereute, von dem angestammten Herrscher abgefallen zu sein? Indem ich mich nach ihnen umdrehte, sah ich, daß der Wächter auf das Dach seines Zisternenhauses gestiegen war. Da die Soldaten nur nach uns schauten, sahen sie nicht, was er tat. Er hob seine Hände hoch empor und faltete sie, um uns anzudeuten, daß er für uns beten werde. Ich streckte den rechten Arm aus und winkte, um ihm zu danken. Die Soldaten bezogen das nicht auf ihn, den sie gar nicht beobachteten, sondern auf sich, und mehrere hundert Arme richteten sich eiligst in die Höhe, um diesen vermeintlichen Gruß zurückzugeben. Sie winkten noch lange, lange hinter uns her. Dem >Panther< und seinem Mitgefangenen galt das natürlich nicht. Es gab also doch nicht wenige, die anders dachten als die, denen sie zu gehorchen hatten!

Die Reihenfolge, in der wir ritten, war heut genau wie gestern: Voran Halef und ich, zwischen uns der >Panther<, hinter uns Aacht und Uucht. Hierauf die beiden Prinzen der Ussul, zwischen ihnen der >General<, hinter ihnen Hu und Hi. Die Ussul hatten die Packpferde neben sich. Der 'Mir war wieder der letzte. Er hatte seit der Szene mit dem aufrichtigen, zürnenden >Major< kein Wort gesprochen. Da er es vermied, einmal zu uns nach vorn zu kommen, nahm ich an, daß er nicht gestört sein wollte, und zog es vor, mich gar nicht nach ihm umzusehen. Die offenen Anklagen des >Major< waren wie Keulenschläge gewesen, und ich wünschte sehr, daß sie nicht danebengefallen seien. So etwas überwindet man aber nicht in kurzer Zeit. Einkehr, Reue und Umkehr sind Geschwister, die um so langsamer schreiten, je sicherer sie zum Ziele kommen wollen!

Der >Sand des Entsetzens<, von dem ich gesprochen habe, war vom Brunnen aus zu sehen, so weit das Auge reichte. Als wir aber über diesen Horizont hinauskamen, bemerkten wir, daß er doch nur einen verhältnismäßig schmalen Strich bildete. Er stammte von dem Felsenzuge, an dessen Fuß der Brunnen lag, und war an ihn gebunden. Wir erreichten noch am Vormittage die Grenze dieses Striches und ritten dann über einen Boden, den ein Nichtkenner zwar für die unfruchtbarste aller >Wüsten< gehalten hätte, in Wahrheit aber war er nur als >verdurstetes Land<, als >verschmachtete Fruchtbarkeit< zu bezeichnen. Er klang unter den Hufen unserer Pferde zuweilen so hart und so imporös, als ob wir nicht über Erde oder Stein, sondern über gegossenes Metall ritten. Auch der Nilschlamm ist unfruchtbar, wenn ihm das Wasser fehlt. Dann öffnet er sich in unzähligen Rissen und Sprüngen, um der Feuchtigkeit in glühender Sehnsucht entgegenzuschmachten. Hier in der gestorbenen Gegend von Ardistan war dies wohl bis Jahrzehnte nach ihrem Tode auch (Seite 228A) der Fall gewesen; dann aber hatten die von allen Seiten frei hereinbrechenden Winde diese Sprünge und Risse zugeweht und die ganze Gegend in die eisenfeste, glatte Schale verwandelt und rasiert, die uns von allen Seiten entgegenstarrte, ohne uns auch nur eine einzige Spur von organischem Leben zu zeigen.

Um die Mittagszeit bemerkten wir in gerader Richtung vor uns einige von der Erdfarbe abstechende Punkte, welche sich nicht bewegten. Es schien, als ob sie auf uns warteten, und so war es auch. Als wir näher kamen, sahen wir, daß es zwei Männer mit Lastkamelen waren, welche die Aufgabe gehabt hatten, Wasser in Schläuchen bis hierher zu tragen. Es gab noch mehrere solcher Posten, mit denen man eine Relaislinie von dem Brunnen nach der >Stadt der Toten< und wieder zurück gebildet hatte. Man weigerte sich, ganz wie ich erwartet hatte, uns von diesem Wasservorrat zu geben. Der >Panther< sagte, daß wir doch unsere eigenen Schläuche und unser eigenes Wasser hätten; wir aber machten kurzen Prozeß und nahmen uns, was wir brauchten. Er wollte, wir sollten in der >Stadt der Toten< so bald wie möglich verschmachten. Wir aber rührten aus ganz entgegengesetztem Grunde unseren Vorrat nicht an, um dann später so lange wie möglich vor Mangel bewahrt zu sein.

So war es auch am Abend. Wir fanden da, wo gelagert werden sollte, wieder einen Posten mit hinreichendem Wasser vor. Es wurde uns ebenso wieder versagt, doch genauso vergeblich, wie um die Mittagszeit. Wir eigneten uns an, was man uns verweigerte, und niemand wagte es, uns etwa durch Tätlichkeiten davon abzuhalten. Daß die fünfzig Mann sich überhaupt fern von uns zu halten hatten, ist bereits erwähnt. Sie taten es. Auch ihr Anführer, der Major, hielt es nicht für erlaubt, sich uns zu nähern. Der 'Mir war immer hinter uns geblieben und hielt sich auch am Abende für sich allein, von uns entfernt. Er hatte schon zu Mittag nicht gegessen und aß auch jetzt wieder nicht. Einige Schluck Wasser war alles, was er zu sich nahm. Das tat mir weh. Ich stand von meinem Platze auf und ging zu ihm hin. Er sah, als ich vor ihm stand, zu mir auf und fragte:

"Du kommst zu mir? Fürchtest Du Dich nicht?"

"Fürchten?" antwortete ich. "Nein!"

"Aber scheuen mußt Du Dich doch! Vor mir bange sein! Vor mir schaudern. Vor mir zurückschrecken!"

"Fällt mir nicht ein!"

"So meinst Du, daß der frühere Major, der jetzt plötzlich Oberst geworden ist, gelogen hat?"

"Nein."

"Also glaubst Du ihm?"

"Ja."

Er wartete eine stumme Weile. Dann fragte er weiter:

"So hältst Du das, was er gesagt hat, für wahr, für richtig?"

"In der Hauptsache, ja. Die Tatsachen an sich sind wahr, obgleich sie infolge seines Zorns vergrößert erscheinen."

Da zürnte er:

"Wie fürchterlich aufrichtig Ihr doch alle seid! So plötzlich! So mit einem Male!"

"Ich bin es stets!"

Wieder sah er mich an.

"Ja, Du! Du warst es ja sofort, als Du zum ersten Male zu mir sprachest!" Und auf die Stelle gerade vor sich deutend, forderte er mich auf: "Setze Dich! Hierher!"

Ich gehorchte dieser Aufforderung und ließ mich ihm gegenüber nieder. Als ich das getan hatte, sage er:

"Ich bitte Dich, als vollständig wahr anzunehmen, was ich Dir jetzt versichere! Ich habe niemals auch nur einen Augenblick lang geglaubt, der herzlose, grausame Wüterich zu sein, als den ich mich nun jetzt bezeichnet höre. Ich dachte, niemals Liebe gefunden zu haben, als nur bei meiner Mutter, und selbst diese Mutterliebe ist mir nicht als ein Verdienst erschienen, welches ich ihr anzurechnen habe, sondern als ein angeborener Trieb, dem zu gehorchen, ihre Pflicht gewesen ist. Diese meine Mutter ist das einzige Wesen, welches ich wirklich geliebt habe und auch heut noch liebe, und ich sage Dir in aller Ehrlichkeit, daß ich Wunder geglaubt habe, wie lobenswert ich handle, indem (Seite 228B) ich so viel Dankbarkeit für eine Frau empfinde, die meiner Ansicht nach nur aus Naturzwang handelte, nicht aber aus eigenem, freiem Entschlusse. Mein Vater war ein scharf berechnender, strenger, ja sogar harter Mann, und ich bin keineswegs geneigt, es nun mir als Sünde anzurechnen, daß diese seine Eigenschaften auf mich übererbt worden sind. Hierzu kam bei ihm jene Art von Grausamkeit, die den Nebenmenschen aus Vergnügen oder gar aus Wollust peinigt. Auch ich kann, wie ich nun einsehe, grausam sein, aber nur deshalb, weil ich den gewöhnlichen, niedrig geborenen Menschen für gefühllos halte, für unempfindlich gegen Schmerzen, die uns höheren Naturen unerträglich sind. Wie ein Knabe den Käfer, ein Fleischer sein Schlachttier, ein Jäger sein Wild und ein Lastträger seinen Esel quält, weil er überzeugt ist, daß diese Qual keineswegs als Qual empfunden wird, so bin auch ich der Meinung gewesen, daß meine Strenge eben nur als Strenge, nicht aber als Grausamkeit zu bezeichnen sei, weil es niemanden gibt, dem sie so wehe tut, wie sie mir wehe täte, falls man sie an mir verübte. Ich betrachtete alle diese Menschen, die so tief unter mir stehen, als eine Herde von Schafen, durch deren Wolle kein Hieb zu fühlen ist. Liebkose sie, so blöken sie, und schlage sie, so blöken sie; es ist alles gleich! Führe sie auf die Weide, damit sie fressen können; weiter wollen sie nichts! Umschließe sie des Nachts mit schützenden Händen, damit sie nicht selbst gefressen werden, denn Du bist das einzige Raubtier, das sie, sobald sie fett geworden sind, verzehren soll! Schere sie, so oft Du willst! Dann schlachte sie, und werde warm in ihrem weichen Pelze! Dazu sind sie da, zu weiter nichts; Du aber bist ihr Herr, der 'Mir, der Gebieter! Begreifst Du das, Effendi?"

"Gewiß begreife ich es! Das alles wäre ja auch ganz richtig gewesen, wenn Deine beiden Voraussetzungen richtig gewesen wären!"

"Welche Voraussetzungen?"

"Erstens die, daß der Käfer, das Schlachttier, das Wild und der Esel die Schmerzen weniger fühlen als Du, und zweitens die, daß Du anders, vollkommener, zarter, höher und wertvoller ausgestattet seiest als andere Menschen. Glaube mir: Wenn ich Dich schlachte, so schmeckt Dein Fleisch auch nicht besser als anderes Fleisch, und Deine Knochen ergeben keine delikatere Brühe als andere Knochen. Dein Haupt- und Barthaar ist nicht einmal so nützlich, um auch nur als Pelz verwendet zu werden, und wem es einfiele, aus Deiner Haut einen Schuh, einen Stiefel, einen Sattel oder gar eine Lederhose zu machen, der würde gar bald erfahren, daß sie von jedem Kalbs- oder Ochsenfell übertroffen wird!"

"Effendi! Wagst Du da nicht zuviel?" fiel er da ein.

"Ich wage gar nichts!" antwortete ich. "Wie kann es ein Wagnis sein, daß ich Dir die Augen öffne? Sobald Du sehend wirst, kannst Du nicht zürnen, sondern mir nur dankbar sein! Du hieltest Dich für eine >höhere Natur<, und ich habe Dir bewiesen, daß Du körperlich aus genau denselben Stoffen bestehst, wie jeder andere Mensch und sogar wie jene Schafe, für deren >Herr< und >'Mir< und >Gebieter< Du Dich hältst. Bist Du wirklich mit einem Vorzug ausgestattet, so kann er nur auf geistig-seelischem Gebiete zu suchen sein. Nun bitte ich Dich, forsche nach! Auf welchem geistigen Gebiete hast Du Dich hervor getan? Ich meine, so hervor getan, daß Du verdienst, ein geistiger >'Mir<, ein geistiger >Herrscher<, ein >Fürst des Geistes< genannt zu werden?"

Ich hielt inne, um zu hören, was er sagen werde. Er blieb aber still. Da fuhr ich fort:

"Also auf keinem Gebiete! Du warst kein Gelehrter, kein Dichter, kein Künstler, kein berühmter Theolog, kein Entdecker, kein Erfinder, kein - - -"

"Aber ich war mehr, als das alles," fiel er mir da in die Rede. "Ich war - - - Fürst!"

"Ja, Du warst Fürst; das ist richtig! Aber was für ein Fürst? Womit hast Du verdient, ein Fürst zu sein? Warst Du es durch Dich selbst? Oder wurde Dir dieser Titel genauso übererbt wie die Fehler, die Du vorhin eingestandest, Deine Strenge, Deine kalte Berechnung, Deine Grausamkeit? Was hast Du als Fürst getan? Hast Du Dich vor anderen Fürsten oder auch nur vor andern gewöhnlichen Menschen durch segensreiche, (Seite 229A) beglückende Taten ausgezeichnet? Nenne mir diese Taten! Welche Gesetze hast Du gegeben, um das Wohl Deines Volkes zu heben? Wo sind die Wege, die Straßen, die Schulen, die Hospitäler, die Du bautest? Welche Wüstenfläche hast Du gezwungen, sich in Acker- und Weideland zu verwandeln? In welcher Weise hast Du für die Armen Deines Volkes gesorgt? Wer gibt ihnen Arbeit, und wer gibt ihnen Brot? Wo stehen Deine Kornkammern, Deine Vorratshäuser, die Du öffnen kannst, sobald es Mißernten gibt und die Hungersnot durch Eure Gassen schleicht? Ich weiß, daß die früheren Herrscher von Ardistan gewaltige Bauwerke errichteten, in denen die Saaten und Früchte des Landes in unmeßbaren Mengen aufgespeichert wurden. Wann hast Du Ähnliches getan?"

Hier machte ich eine Pause. Er schwieg auch jetzt. Er saß zusammengedrückt, die Hände über das Knie gefaltet, und hielt den Kopf gesenkt. Ich sah, daß seine Zeit gekommen sei, gehämmert und geschmiedet zu werden, daß sich die Schlacken verlieren möchten, und fuhr also fort:

"Und was hast Du auf seelischem Gebiete getan, um behaupten zu dürfen, Du Betest ein besserer, ein edlerer, ein höherer Mensch als andere? Hast Du überhaupt einmal auch nur den Versuch gemacht, hier etwas Gutes oder gar Ungewöhnliches zu leisten? Wie stand und wie steht es zunächst um Deine eigene Seele? Wie wird sie aussehen, wenn Du sie dem, der sie Dir gab, einst wiederbringst? Und sodann die Seele Deiner Frau und Deiner Kinder? Wo war der Sonnenstrahl, ohne den sowohl Weib als Kind verkümmern und verschmachten? Ferner die Seele Deiner Umgebung, Deines Hofes, Deiner Residenz? Ich sah Dich, als ich zu Dir kam, in schwere, dichte, strotzende und protzende Gewänder eingehüllt, so tief, so tief, daß von Dir nichts, gar nichts zu sehen war. Es gab nur Prunkgewänder, nur Zeremonie, nur Förmlichkeit, nur Putz und Mummenschanz, aber keinen Inhalt, kein Leben und Weben im Innern, in der Tiefe! Und wo es etwas gab, da war es Furcht oder Angst, auch Lüge und Verstellung, Empörung und Verrat! Nun endlich gar die Seele Deines Volkes! Was tatest Du für sie? Wie hast Du sie Dir gewonnen? Wie hast Du sie an Dich gezogen, damit sie Dich liebe, Dich ehre, Dir ihr Vertrauen schenke, sich mit Dir freue, mit Dir leide und treu und willig zu Dir stehe in jeder Schicksalslage, in jeder Not und Gefahr? Denke Dir die arme, geplagte und gemarterte Seele eines unterdrückten Volkes, welche täglich und stündlich zum Throne ihres Herrschers betteln geht, ohne daß er sie auch nur eine Minute beachtet! Denke Dir - - -."

Da sprang er plötzlich auf, warf die Arme weit auseinander und bat:

"Halt ein, halt ein, Effendi! Du treibst es zu toll, zu toll! Ich möchte Dich erwürgen! Hier mit diesen meinen beiden Händen, so - so - so!" Er krallte seine Hände zusammen und bewegte sie hin und her, als ob er meinen Hals zwischen ihnen habe. Seine Zähne knirschten dabei. Hierauf holte er tief, tief Atem und fuhr in ruhigerem Tone fort: "Und dennoch fürchte ich, daß ich, wenn ich Dich getötet hätte, um Dich weinen und klagen würde als um den Einzigen, den ich achte, den ich liebe, und zugleich - - - fürchte! Du bist ein ganz entsetzlicher Mensch! Ein grauenhafter Mörder! Du hast soeben jetzt in mir etwas erschlagen, etwas, was ich für groß, für hoch, für adelig, für unendlich köstlich gehalten habe! Ob mit Recht oder Unrecht, wird sich finden! Ganz ist es freilich noch nicht tot. Es windet sich noch schreiend und jammernd hin und her, tief unten am Boden, an der Erde. Der innere Mensch ist nicht so leicht zu erschlagen wie der äußere! Ich muß wissen, was ich da zu tun habe! Ob ich ihn zu retten suche und ihn gegen Dich verteidige, oder ob ich ihm zu Deinen Hieben auch noch meinen Fußtritt gebe und ihn dort hinunterstoße, wo es für Leichen nicht mehr möglich ist, wieder lebend zu werden! Gib mir Zeit; gib mir Zeit, nur eine Viertelstunde! Ist sie vorüber, dann kehre ich zurück!"

Er entfernte sich mit langsamem Schritte, um im Dunkel der Nacht zu verschwinden und mit den Gedanken, die durch sein Inneres stürmten, allein zu sein. Da aber rief der >Panther<, der das sah, in drohendem Tone:

(Seite 229B) "Halt! Bleiben! Wer sich in den Verdacht setzt, fliehen zu wollen, den fassen meine Reiter!"

Der 'Mir kehrte um, doch ohne ihn einer Antwort zu würdigen, und ließ sich da wieder nieder, wo er gesessen hatte.

"Effendi, ich bitte Dich," sagte er, "versuche Du, zu schlafen, ich aber kann es nicht! Du hast eine Pforte in mir geöffnet, nicht leise, leicht und rücksichtsvoll, wie man die Türen fremder Zimmer zu öffnen pflegt, sondern mit Gewalt, mit Faustschlägen und Fußtritten, durch welche diese Pforte zerschmettert worden und zusammengebrochen ist. Da draußen jenseits dieser Türe ist es hell und warm und licht. Es dringen Gedanken und Gestalten herein, von deren Dasein ich bis heute noch keine Ahnung hatte. Ich muß sie betrachten, ich muß sie prüfen; ich muß mit ihnen sprechen; ich muß sie fragen, was sie wollen. Und ich muß ihnen dann sagen, ob sie bleiben sollen oder nicht. Habe Geduld, bis ich mit ihnen fertig bin; ich sage Dir morgen alles!"

Er legte sich nieder, nahm den Sattel als Kopfkissen, streckte sich unter einem schweren, tiefen Atemzuge lang aus und lag nun still und bewegungslos da, die Augen zu den Sternen emporgerichtet, und ich hatte in diesem Augenblicke nur den einen herzlichen Wunsch, daß auch in seinem Innern die Sterne aufgehen möchten, ohne welche ein jedes Menschenleben, und sei es künstlich noch so hell erleuchtet, doch nichts als ein Dunkel ist. Ich wollte mich nicht von ihm trennen und holte auch meinen Sattel herbei. Gleich einzuschlafen, war auch mir unmöglich. Wo eine Seele in der Geburt eines Lebens ringt, soll man sie fühlen lassen, daß Rat und Hilfe nahe ist.

Es mochte weit über eine Stunde vergangen sein, da bewegte er sich zum ersten Male wieder.

"Effendi, schläfst Du?" fragte er.

"Nein," antwortete ich.

"Schlaf immerzu! Habe keine Sorge um mich! Ich habe nicht umsonst Euer Weihnachtsfest gesehen, es sogar mitgefeiert, nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich! Darf ich Dir das Resultat der jetzigen Stunde mitteilen?"

"Ich bitte Dich darum!"

"So höre: Der alte, kühne Major, der mich heute so schwer anklagte und noch schwerer beleidigte, soll nicht nur Oberst sein, sondern sogar General. Sobald wir glücklich heimgekehrt sind, wird es mein Erstes sein, daß ich ihm diese Beförderung verkündige. Bist Du zufrieden mit mir?"

"Gott segne Dich!" antwortete ich, hoch erfreut über diesen ebenso großen wie schweren Sieg, den er über sich selbst errungen hatte. "Ja, Gott segne Dich! In dieser einen Stunde, in der Du hier gelegen hast, fast ohne Dich zu bewegen, hast Du mehr geleistet, als früher in langen Jahren!"

"So bitte ich Dich, schlafe ein! Es ist genug, daß ich die Nacht durchwache. Ich wünsche nicht, daß auch Du um meinetwillen um Deine Ruhe kommst. Sagen wir also: Gute Nacht!"

"Gute Nacht!"

Nach diesen Worten drehte ich mich auf die andere Seite und schloß die Augen. Wie froh ich war! Ich hatte wohl gewußt, wieviel ich wagte, als ich so geradeheraus und ohne alle Schminke ihm meine Meinung sagte; aber er war kein Argentan- oder Talmimensch, sondern von echten, reinem, innerlich kerngesunden Material, welches durch das Hämmern nur veredelt und gefestigt, nicht aber versprödet und verschlechtert werden konnte. Er hatte die Probe bestanden, und ich durfte nun voller Hoffnung sein, daß er es nicht hierbei bewenden lasse, sondern sich vollends aus sich selbst heraus- und emporarbeiten werde. Dieser Gedanke beruhigte mich derart, daß ich sehr bald einschlief und der Allerletzte war, der dann am Morgen erwachte.

(Seite 230A) Am zweiten Tage unseres Rittes zeigte die Gegend, durch welche wir kamen, nach und nach ein ganz anderes, für mich hochinteressantes Gesicht. Sie belebte sich. Indem ich mich in dieser Weise ausdrücke, mache ich mich eigentlich eines logischen Widerspruches schuldig, denn sie belebte sich mit - Leichen. Wir stießen nämlich, erst selten, bald aber mehr und mehr auf Spuren, die uns verrieten, daß diese abschreckende Öde einst bewohnt gewesen war. Wir erblickten Häuserleichen, die entweder einzeln oder auch in kleineren Gruppen, zuweilen aber auch in ganzen, ausgestorbenen Dörfern an unserem Wege lagen. Da, wo sie in größerer Menge zu sehen waren, zeigte es sich immer, daß es früher hier einen Bach, ein Flüßchen oder sonst ein fließendes oder auch nur stehendes Wasser gegeben hatte. Diese Leichen waren entweder nur teilweise oder auch ganz erhalten. Wir sahen zahlreiche Steinbrüche liegen, die ein äußerst dauerhaftes, widerstandsfähiges Material geliefert hatten. Die Ortschaften mit ihren steinernen Häusermauern und aus unzerstörbarem Lehm geschlagenen, platten Dächern besagen oft ein Aussehen, als ob sie nicht schon vor Jahrhunderten, sondern erst vor kurzer Zeit von ihren Bewohnern verlassen worden seien. Die lange Dauer ihres Verlassenseins wurde dem Beschauer erst dann klar, wenn er stunden- und immer wieder stundenlang sich vergeblich bemühte, einen Baum, einen Strauch, ein Kraut oder auch nur einen einzigen Grashalm zu entdecken. Freilich, Bäume gab es gar wohl, in den einstigen Gärten, an den früheren Wegen, die man jetzt nur noch vermuten, nicht aber mehr sehen konnte; aber sie waren eben auch nur Leichen. Es machte einen unendlich traurigen, oft grauenhaften, sogar gespenstigen Eindruck, die übriggebliebenen, bleichen Skelette dieser Bäume, zuweilen auch Sträucher, stehen zu sehen. Sie waren ihrer Rinde vollständig beraubt, von den Stürmen zerknickt und zerknackt, und schrien ein Ach und Weh zum Himmel empor, welches um so tiefer und niederdrückender wirkte, als man es nicht zu hören vermochte. Ein unbeschreibliches Gefühl empfand man bei dem Anblicke der Überreste, die uns ohne Schale, Blatt oder Nadel schon von weitem in lebloser Nacktheit entgegenstarrten, fast möchte ich sagen, entgegengrinsten. Nur wenige vorüberkommende Menschen waren da halten geblieben, um sich das Material zu einem Lagerfeuer abzubrechen; ein jeder hatte sich beeilt, diese Stätten des Grauens so bald wie möglich hinter sich zu bringen. So auch wir.

Der 'Mir wußte in dieser eigenartigen Gegend, die eigentlich ein ununterbrochener Gottesacker von Baum- und Häuserleichen war, sehr gut Bescheid. Ich habe ja bereits erwähnt, daß er in seinen Jugendjahren mit seinem Erzieher und Begleiter die > Stadt der Toten < und ihre Umgebung oft durch strichen hatte, um sie kennen zu lernen. Er hielt sich heute nicht mehr hinten und allein für sich, sondern er kam zu mir nach vorn und sonderte mich von Halef und dem > Panther < ab, um sich mit mir zu unterhalten. Das geschah natürlich in solcher Entfernung von dem Letzteren, daß dieser nicht hören konnte, was wir miteinander sprachen. Ich erfuhr, wie die verlassenen Ortschaften hießen, wohin die unsichtbar gewordenen Wege führten, was die einstigen Bewohner erlebt und getrieben hatten, und alles andere, was der Herrscher über diese Dinge wußte. Er beschrieb mir auch die > Stadt der Toten < selbst, doch unterlasse ich es, seine Schilderung, weil sie weit über den Rahmen meiner Erzählung hinausreichen würde, hier wiederzugeben. Er erwähnte auch die dortigen Gefängnisse, in denen nur ausschließlich Militär- und Staatsverbrecher, aber keine anderen aufgenommen wurden. Er hatte auch sie alle durchstöbert und kannte sie genau.

" Kennst Du auch die Nummer fünf, in die wir eingesperrt werden sollen? " erkundigte ich mich.

" So gut wie alle anderen, " antwortete er.

" Hat sie ein Geheimnis? "

" Nein, o nein! "

" Weißt Du das gewiß? "

(Seite 230B) " Ganz gewiß! "

" Aber der Wächter der Zisterne behauptete, daß Du nicht alle Geheimnisse wissest, die es gibt! "

" So? Behauptete er das? Wer hat ihm denn gesagt, wieviel oder wie wenig ich von ihnen weiß? Er kann überhaupt nur ahnen, wissen aber nichts. Er ist nur ein kleiner, unbedeutender Beamter, der den Brunnen, die Zisterne, die Wasserschlepper und ihre Kamele zu beaufsichtigen hat. Solche Leute weiht man doch nicht ein. Was sagte er Dir? "

Ich wiederholte ihm mein ganzes Gespräch mit diesem Manne. Da schien er doch bedenklicher zu werden.

" Bisher hat er nichts gewußt, " meinte er. " Nun aber hat er gelauscht. Er hat gehört, was die Soldaten oder gar die Offiziere untereinander sprachen. Also diese drei, die er nannte, wissen mehr als ich? Der Maha-Lama von Dschunubistan, der Maha-Lama von Ardistan und der Basch-Islami, den ich entkommen ließ, weil Du mich dazu zwangst. Der erstere ist jetzt ungefährlich; er befindet sich bei den Ussul. Auch der zweite kann mir nichts mehr schaden. Den dritten aber hoffe ich, bald wieder zu fassen, und dann soll es mir nicht einfallen, ihn abermals freizugeben! "

" Ist es wohl richtig hier von Unschädlichkeit und Ungefährlichkeit zu sprechen? " fragte ich. " Die Personen können Dir nichts mehr tun; das will ich wohl zugeben, aber die Sache an sich bleibt doch dieselbe. "

" Welche Sache? "

" Daß diese drei mehr wissen, als Du selbst. Wenn das wahr ist, so gibt es Geheimnisse, die Du selbst nicht kennst und die uns darum außerordentlich gefährlich werden können. "

" An dieser Gefährlichkeit bist Du schuld, nicht aber ich! "

" Wieso? "

" Hättest Du mich nicht veranlaßt, den Basch-Islami laufen zu lassen, so hätte er dem > Panther < nichts von den Geheimnissen der > Stadt der Toten < verraten können! "

" Du irrst! Ich bin überzeugt, daß beide schon vollständig miteinander einig waren, ehe Du ihn laufen ließest. Du hast mir soeben zweimal, kurz hintereinander, diesen Vorwurf gemacht; so beeile ich mich also, Dir zu sagen, daß ich den Basch-Islami zwar für einen fanatischen, im Grunde aber wohlwollenden und gerecht denkenden Mann halte, und daß es meine Gewohnheit ist, Fehler, die ich verschuldete, wieder gut zu machen. Es hat sich erst noch zu zeigen, ob das, was Du für einen Fehler hältst, auch wirklich ein Fehler ist. Wenn wir jetzt einer Gefahr entgegengehen, so liegt sie nicht in mir, sondern in Dir, nämlich in der Möglichkeit, daß Du doch nicht alle Geheimnisse kennst, die Du zu kennen behauptest. Vor allen Dingen kommt es darauf an, ob das Gefängnis Nummer fünf in Wirklichkeit so unverdächtig ist, wie Du glaubst. Darf ich Dich fragen, ob es allein liegt oder mit anderen Gebäuden zusammenhängt? "

" Es liegt ganz allein. Nicht weit vom Ufer des ausgetrockneten Flusses. Es ist ganz ehrlich und ohne alle Hinterlist gebaut, viereckig, aus dem Erdgeschoß und einer Etage bestehend, mit plattem Dach, oben mit kleinen Gefängniszellen, unten aber mit größeren Gefängnisstuben, in denen wir jedenfalls untergebracht werden. Es liegt in einem Hofe, um den eine Mauer geht, die gar nicht viel über Manneshöhe hat. "

" Ist dieser Hof klein? "

" Nein, sondern sehr groß, denn er enthält noch die Wohnung des obersten Aufsehers aller dortigen Gefängnisse, und an diese schließen sich einige niedrige Vorratsräume und Stallungen, in denen man unsere Pferde unterbringen wird. "

" Das Gefängnis hat also keine Doppelmauern oder ähnliche Dinge, hinter denen sich ein Geheimnis, also eine Gefahr, die wir nicht ahnen, für uns verbergen kann? "

" Nein. Man hat ja auch gar nicht nötig, sich auf derartige Heimlichkeiten zu verlassen, denn der Wassermangel ist stark genug, jeden Fluchtversuch zu verhindern. Wer zu fliehen wagt, muß unterwegs verschmachten. Darum haben wir all unser (Seite 231A) Wasser aufzusparen, sonst sind wir verloren wie jeder andere! Hoffentlich bist Du nun über diesen Punkt beruhigt, vollständig beruhigt! "

Das war ich nun leider keineswegs. Ganz im Gegenteile! Seine Zuversicht erschien mir ziemlich unbegründet und brachte ganz den entgegengesetzten Eindruck hervor, nicht aber den, den er beabsichtigte. Ich sagte hiervon zwar nichts, nahm mir aber vor, meine gewöhnliche Vorsicht zu verdoppeln und keinen einzigen Schritt zu tun, ohne ihn vorher nach allen Seiten hin überlegt zu haben.

Wir kamen an diesem Tage dreimal an Wasserrelais vorüber, einmal am Vormittag, einmal grad zur Mittagszeit und einmal am Nachmittag. Wir verhielten uns genau so wie gestern; wir sparten unser Wasser und befriedigten unsere Bedürfnisse mit dem, welches bei diesen Posten vorgefunden wurde. Je weiter wir heute kamen, um so zahlreicher wurden die ausgestorbenen Zeugen einer einstigen, voll kräftigen Lebens pulsierenden Kultur. Wir ersahen hieraus, daß wir uns der Residenz jener alten Zeiten näherten. Das Land war wieder bergig geworden, und als wir kurz vor Abend den breiten Rücken einer langsam ansteigenden, aber sehr hohen Bodenwelle erreichten, sahen wir unser Ziel tief unten vor uns liegen.

Es ist einer anderen, geeigneteren Stelle vorbehalten, eine ausführliche Schilderung dieser eigenartigen Totenstadt zu bringen; für heut mögen einige kurze Bemerkungen genügen.

Das Tal des verschwundenen Flusses strich hier genau von Nord nach Süd; das jetzt ausgetrocknete Flußbett teilte es in zwei ungleiche Hälften, eine östliche und eine westliche; die erstere, auf die wir zunächst hinunter blickten, war bedeutend breiter als die andere. Sie enthielt die eigentliche, ich will einmal sagen, die bürgerliche Stadt, während der jenseits liegende Teil sich gleich dem ersten Blicke als Militärstadt, als Festung kennzeichnete. Wir sahen Hunderte von Straßen, Gassen und Gäßchen mit Tausenden und aber Tausenden von Tempeln, Kirchen, Moscheen, Palästen, Häusern und Hütten. Und das alles machte einen ganz unbeschreiblichen Eindruck des Verlassenseins, der Leblosigkeit, des Todes. Es gab keine Spur von Pflanzengrün, von Tier- und (Seite 231B) Menschenleben. Und doch war der Ausdruck > Leblosigkeit < und > Tod < nicht ganz richtig. Das Wort > Schlaf < wäre vielleicht richtiger gewesen, aber auch wieder nicht. Es gibt überhaupt keine vollpassende sprachliche Bezeichnung für das Gefühl, welches mich wie mit mächtigen, unwiderstehlichen Fäusten packte, als mein erstaunter Blick auf dieses ungewöhnliche, starre, öde, leere Häusermeer fiel. Diese Gebäude standen genau noch so da, wie sie vor Jahrhunderten gestanden hatten. Fast nichts war zerstört. Nur die weit draußen liegenden Hütten der Armut hatten sich in Trümmer, in formlose Haufen verwandelt, die aber nicht etwa Staub und Erde bildeten, sondern hart wie Eisen waren.

Und schön war sie gewesen, diese einstige Hauptstadt und Residenz von Ardistan! Wenn ich mir die seltsam gestalteten Höhen, zwischen denen sie lag, bewaldet und mit grünenden, (Seite 232A) blühenden Gärten ausgestattet dachte, so fiel mir keine europäische Großstadt ein, von der ich hätte sagen mögen, daß sie mit ihr zu vergleichen sei. Nun lag sie da als Leiche! Nein, nicht als Leiche! Auch dieser Abdruck ist falsch! Richtiger wäre es vielleicht, an einen Winter ohne Schnee und Eis, ohne Frost und Kälte zu denken, der alles Leben in die Tiefe treibt, so daß jede Spur desselben verschwindet. Wenn aber die Schritte des Frühlings von fernher schallen, dann steigt es wieder empor und beginnt, in den Säften und im Blute von neuem zu pulsieren. Im Blute - - - ja, das ist das Wort, welches der richtigen Bezeichnung vielleicht näherkommt, als jedes andere. Diese Stadt lag vor uns wie der ohnmächtig zur Erde gesunkene Körper eines schönen Weibes, aus deren Angesicht jeder Tropfen Blut gewichen ist. Bleich, starr, bewegungslos! Aber sobald das Blut aus dem Herzen zurückkehrt, wird die Ohnmächtige aufspringen; ihre Augen werden leuchten, ihre Wangen glühen, und durch die überstandene Ohnmacht wird sie uns nur noch lieber und teurer werden, als sie uns vorher gewesen ist. So auch das frühere Ard. Es brauchte nur das verschwundene Wasser wiederzukommen, um alle diese jetzt leerstehenden Paläste wieder mit Menschen zu füllen und ein neues, reineres und höheres Leben als vorher durch die Straßen und Gassen pulsieren zu lassen. Die Sonne war bis nahe an den Horizont herabgestiegen, und als sie ihre Strahlen jetzt über das Häusermeer hinüberflimmern ließ, war es, als ob Bewegung in die starren Linien käme und als ob unzählige der verschwundenen Seelen auf der Rückkehr seien, um uns, die wir für sie im Abendrote standen, zu begrüßen.

Diesen Betrachtungen machte der kommandierende Offizier ein schnelles Ende, der mit seinen fünfzig Reitern uns weit vorausgekommen war, weil er nicht so, wie wir, angehalten hatte, um die > Stadt der Toten < zu betrachten. Er rief nach uns zurück. Er forderte uns auf, nicht länger zu zögern, denn der Weg nach dem Gefängnisse Nummer fünf sei noch weit, und es gebe nur noch eine halbe Stunde, bis es dunkel werde. Wir folgten dieser Aufforderung.

Indem ich während des Bergabwärtsreitens meinen Blick auf die Zyklopenmauern der jenseitigen Festungsstadt gleiten ließ, wollte es mir um den Ausgang des gegenwärtigen Abenteuers doch ein wenig bange werden. Diese Mauern und Türme waren so stark und so hoch, daß für einen jeden, der sich einmal hinter ihnen befand, das Entkommen unmöglich zu sein schien. Darum fragte ich den 'Mir, doch so, daß nur er es hörte:

" Werden wir etwa da drüben eingesperrt? "

" Nein, " antwortete er. " Aber selbst wenn dies der Fall wäre, brauchtest Du keine Sorge zu haben. Ich kenne mich dort aus. Ich brauchte nur zu wollen, so wäre ich frei. "

" Wo liegt unsere Nummer fünf? "

" Noch vor den starken Befestigungsmauern, die Dich zu ängstigen scheinen. Du siehst das tiefe Bett des Flusses und die drei steinernen Brücken, die hinüberführen. Das jenseitige Ufer ist künstlich aufgemauert. Bemerkst Du die große, weite Öffnung, die sich in dieser Mauer befindet? Etwas unterhalb der mittleren Brücke? "

" Ja. Es scheint das die Mündung eines früheren, unterirdischen Kanales zu sein. "

" Nicht eines Kanales, sondern eines Nebenflüßchens, welches erst offen in den Hauptstrom führte, später aber überwölbt worden ist. Über dieser Mündung liegt ein großer, freier Uferplatz, an dessen Westseite Du ein Mauerquadrat siehst, welches sich um zwei Gebäude zieht, ein Haupt- und ein Nebengebäude. Das erstere ist unser Gefängnis Nummer fünf, das letztere die Wohnung des obersten Aufsehers, die ich schon einmal erwähnte. "

" Hm! Dieses Gefängnis sieht gar nicht so ernst und bedenklich aus! "

" Ist es auch nicht, ganz und gar nicht! Kein Mensch wird uns dort festhalten können. Die Flucht ist keineswegs unmöglich, sondern sogar sehr leicht. Sie verbietet sich nur aus dem Grunde, daß man unterwegs verschmachten muß, wenn man kein Wasser hat. Wir aber haben doch noch alle Schläuche voll. "

" Wir brauchen aber auch viel! Fünf Menschen, sieben Pferde und vier große Hunde! Die wollen trinken! Es handelt (Seite 232B) sich um unser Leben, und da soll man nicht allzu sorglos sein. Für jetzt aber ist die Hauptfrage die, ob unsere Nummer fünf wirklich ein ehrliches Gebäude ist; das heißt, ob sie hinterlistige Falltüren, Doppelmauern oder ähnliche derartige Dinge hat. "

" Das kann ich getrost verneinen. Ich habe als Knabe bei dem damaligen Oberaufseher gewohnt und bin in allen Ecken und Winkeln herumgekrochen. Wenn es so etwas gäbe, hätte ich es sicher gefunden, oder der Oberaufseher hätte es mir gezeigt, wie er mir alles andere zeigte, was niemand wissen durfte. "

" So kann ich hierüber also ruhig sein? "

" Unbedingt! "

Er sagte das in einem so überzeugten Tone, daß ich ihm glaubte. Es hätte ihn ja auch beleidigen müssen, wenn ich nun noch immer nicht befriedigt gewesen wäre. Wir ritten nun still den Berg hinunter und in gerader Linie durch die Stadt, zuletzt über die mittlere Brücke, und bogen dann links nach dem erwähnten freien Platz ein, an dessen Westseite unser Gefängnis lag. Es sah aber wirklich und wahrhaftig nicht wie ein Gefängnis aus! Es wurde bereits erwähnt, daß die Umfassungsmauer nicht viel über Manneshöhe hatte. Jedes Kind konnte über sie hinwegklettern. Als wir hart an ihr hin ritten, schaute ich vom Sattel aus, ohne mich in den Bügeln erheben zu müssen, ganz bequem in den Hof hinein. Wir konnten das Hauptgebäude von Grund auf überblicken. Es war kein einziges Fenster da, sowohl im Parterre als auch in der Etage. Die Fensteröffnungen starrten uns alle leer und offen entgegen. Man brauchte nur herauszusteigen, um frei zu sein! War das nicht lächerlich? Und das nannte man ein Gefängnis! Mir wurde das Herz, welches mir vorhin hatte schwer werden wollen, wieder leicht.

Das Tor befand sich nicht auf der Fluß- sondern auf der anderen Seite. Wir hielten vor ihm an. Die Sonne war verschwunden; die Dämmerung begann.


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