"Verzeih, verzeih!" fiel er mir in die Rede. "Du hast recht; der Zorn hat mich gestört. Das Geheimnis, welches ich Dir anvertrauen will, ist ein Geständnis, und wer Geständnisse zu machen hat, der soll nicht andern zürnen. Nur bitte ich Dich, ja nicht etwa zu denken, daß ich Dir böse Taten zu gestehen habe, Verbrechen, die von mir oder meinen Ahnen begangen worden sind. Es handelt sich vielmehr nur um eine anererbte Art von Krankheit, die aber auch wieder keine Krankheit, sondern etwas ganz anderes, völlig Unbegreifliches ist. Glaubst Du daß sich Träume forterben können?"

"Träume? Forterben?" fragte ich. "Hm! Ich kann wohl sagen, daß sich gewisse körperliche oder geistige Zustände forterben, die bei der Entstehung von Träumen mit wirksam sind. In diesem allgemeinen Sinne läßt sich vielleicht behaupten, daß sich Träume forterben können; Du aber wirst wohl eine besondere Art von Träumen meinen?"

"Nicht nur eine ganz besondere Art, sondern einen ganz besondern Traum, immer einen und denselben! Der Vater träumt einen ganz bestimmten Traum, den schon der Großvater und der Ahne träumte, und der Sohn und der Enkel träumen ihn wieder, vor vielen Jahren und nach vielen Jahren, (Seite 257A) mit ganz genau denselben Zeiten, Örtlichkeiten, Situationen, Personen, Worten und Taten."

"Das ist unmöglich, vollständig unmöglich!"

"Nein, denn es ist wirklich!"

"Beweis!"

"Es geschah und geschieht noch jetzt in meiner Familie!"

"Dann handelt es sich unbedingt um eine Täuschung, nicht aber um eine erwiesene Wirklichkeit!"

"Sie ist erwiesen! Ich bitte Dich, mir zu glauben! Solange Ardistan von meinen Vorfahren regiert wird, gibt es einen Traum, einen ganz gewissen und ganz bestimmten Traum, den sie alle, alle geträumt haben, vom ersten bis zum letzten Herrscher, nicht einen einzigen ausgenommen. Mein Vater war der Letzte, der ihn träumte."

"Wovon träumten sie?"

"Von einer Dschemmah der Lebendigen und einer Dschemmah der Toten."

"Ah! Sonderbar!"

"Nicht wahr? Mein Vater hat mir diesen Traum ganz genau erzählt, ebenso genau, wie er ihm von meinem Großvater erzählt worden war und wie ich ihn wahrscheinlich meinem ältesten Sohne erzählen werde."

"Hast auch Du ihn schon geträumt?"

"Noch nicht. Aber ich weiß, daß ich ihm nicht entgehen werde."

"Du fürchtest Dich vor ihm?"

"Gewiß, ja! Ein jeder hat sich bisher vor ihm gefürchtet; aber sobald er überstanden war, hörte diese Angst auf, denn noch niemals hat sich die furchtbare Drohung erfüllt, welche dem Träumenden von dem Traume mitgegeben wurde."

"Welche Drohung?"

"Daß er nicht eher sterben könne und auch nicht eher begraben werde, als bis sich endlich einmal ein reuiger und mutiger 'Mir von Ardistan finden werde, der bereit ist, die Schuld und die Missetaten aller seiner Ahnen auf sich zu nehmen und derart zu sühnen, wie sie begangen worden sind."

"Jetzt sprichst Du von den Missetaten Deiner Ahnen, und noch soeben erst hast Du mich ermahnt, ja nicht etwa zu denken, daß Du mir böse Taten oder Verbrechen von ihnen zu gestehen habest!"

"Ganz richtig! Gestehe ich Dir etwa welche? Ich erzähle Dir nur, daß im Traume die Rede von ihnen ist, aber ich nenne keine; ich zähle sie Dir nicht auf."

"Aber den Traum willst Du mir erzählen?"

"Ja. Höre mir zu! Der 'Mir träumt nämlich, er sitze in einer uralten, aber sehr schönen Sänfte, wie es sie vor mehreren tausend Jahren gab, und wird erst über einen großen, runden Platz und dann durch viele, nur mühsam erleuchtete Zimmer getragen, bis man in einen großen Saal gelangt, über dessen Türe die Worte >Dschemmah der Toten< zu lesen sind. In diesem Saale sitzen alle Maha-Lamas und alle Emire von Ardistan, die es gegeben hat. Aber die Emire, die im Leben hoch über den Maha-Lamas gestanden haben, stehen jetzt im Tode tief, tief unter ihnen. Sie sind gefangen, an Händen und Füßen gefesselt und sollen gerichtet werden. Sie haben ihr Urteil zu erwarten. Die Maha-Lamas aber sind frei. Sie bilden die Richter, die das Urteil zu sprechen haben. An ihrer Spitze sitzt der berühmteste, gerechteste und gütigste von ihnen, nämlich Abu Schalem, der Maha-Lama, der den Maha-Lama-See ausgetrocknet und da, wo einst Wasser war, diese riesenhaften, wohltätigen Gebäude errichtet hat. Vor ihm liegt das Schuldbuch sämtlicher Emire, das Schuldbuch des ganzen Geschlechtes. Vor jedem der gefesselten Emire liegt sein besonderer Kontoauszug aus diesem Buche. Der Inhalt dieses Buches und dieser Auszüge bezieht sich nicht allein auf die rein menschlichen Sünden, die begangen worden sind, sondern vor allen Dingen und ganz besonders auf die Vergehungen und Unterlassungen, die sich die Angeklagten als Herrscher zuschulden kommen ließen. Die Haupt- und schwerste Frage aber ist, ob sie das Leben ihrer Mitmenschen geachtet haben oder nicht. Am unerbittlichsten wird der Mord bestraft, der Mord einzelner und der Massenmord im Kriege. Für den Anstifter eines Krieges (Seite 257B) ist der Dschemmah kein Erbarmen erlaubt. Das kann nur der höchste Richter, nur Gott allein verzeihen!"

Er machte hier eine Pause, wie um nachzudenken, und fuhr dann fort:

"Das sind die Toten, und doch sind sie nicht tot. Ihr Fleisch ist warm und weich. Sie können sehen und hören. Sie können sprechen. Sie stehen auf; sie gehen fort, und sie kommen wieder, ganz wie die Lebenden - - -"

"Allerdings im Traume!" fiel ich ein.

"Ja, im Traume! Mein Vater hat es mir erzählt. Er hat sich alles genau angesehen. Auch sein Vater war da, der vor mehreren Jahren Verstorbene. Er war wie lebend. Er verließ seinen Sitz und ging mit in den andern Saal, um an der dortigen Beratung teilzunehmen. Über der Türe dieses andern Saales stehen die Worte >Dschemmah der Lebenden<. Dort saßen Menschen, die noch lebten, zu Gericht, Menschen, die mein Vater kannte; er hat mir sogar ihre Namen genannt. Zu diesen Lebenden gesellten sich einige der Toten aus dem vorigen Saale, vor allen Dingen der Vater meines Vaters und der alte, berühmte Maha-Lama Abu Schalem, welcher auch hier den Vorsitz führte."

"Und wie verlief die Verhandlung?" fragte ich, um die Erzählung möglichst abzukürzen.

"Zunächst wurde ein Sarg geöffnet, in dem mein Vater als Toter lag. Man sagte ihm, das sei seine bisherige Leiche. Er könne sie und alle seine Vorfahren erlösen, indem er alle ihre Sünden und alle ihre Schuld auf sich allein nehme und derart sühne, wie sie begangen worden sind. Hierauf wurde ihm der ganze Inhalt des großen Schuldbuches, welches der Maha-Lama Abu Schalem mit hereingebracht hatte, vorgelesen, und dann fragte man ihn, ob er seine Ahnen erlösen und alle diese Sünden, diese Kriege und dieses Blutvergießen von ihnen weg und auf sich nehmen wolle. Tue er es, so seien ihre Seelen sofort frei und die seinige, sobald er gesühnt habe, auch. Tue er es aber nicht, so bleiben ihre Seelen gefesselt wie bisher, und er selbst könne nicht eher sterben und auch nicht eher begraben werden, als bis ein späterer 'Mir von Ardistan so kühn und opferfreudig sei, sie alle zu erlösen."

"Und welchen Bescheid gab Dein Vater?" fragte ich.

"Denselben, den seine sämtlichen Vorfahren auch gegeben hatten. Er sagte, daß er keine Lust habe, Schulden zu bezahlen, die er nicht gemacht habe, und gewiß auch nicht berufen sei, Ahnen zu erlösen, die genau ebenso keine Lust gehabt hatten, die ihrigen zu erretten. Ein jeder sühne seine eigene Schuld, wenn es überhaupt nach dem Tode ein ferneres Leben gebe!"

"Was geschah, als er diesen Bescheid gegeben hatte?"

"Man steckte ihn wieder in die köstliche Sänfte und trug ihn fort. Als er erwachte, lag er daheim in seiner Schlafstube, auf seinen Kissen. Er hatte geträumt."

"Wirklich geträumt?"

"Ja. Aber sonderbar! Er hatte volle sechs Tage lang auf seinem Bette gelegen und geschlafen, ohne ein einzigesmal aufzuwachen."

"War man nicht besorgt um ihn geworden?"

"Nein. Man erfuhr es gar nicht. Die Leibwache nahm sich des Geheimnisses an und sorgte dafür, daß niemand etwas davon erfuhr, nicht einmal ich, bis er es mir selbst erzählte."

"Und nun erzählst Du es mir. Warum?"

"Weil seit gestern mich alles an diesen Traum erinnert. Jeder 'Mir von Ardistan hat ihn geträumt, genauso wie mein Vater; ich wiederhole das. An jeden wurde dieselbe Frage gestellt, und jeder hat ganz dieselbe Antwort gegeben. Es ist also kein gewöhnlicher Traum. Es steht irgend eine Wahrheit mit ihm in Verbindung, die niemand noch ergründen konnte. Nun denke Dir, daß es hier auch eine >Dschemmah der Toten< und eine >Dschemmah der Lebenden< gibt! Nimm hinzu, daß wir hier Leichen gesehen haben, die ganz der Beschreibung gleichen, die ich von meinem Vater bekam! Kannst Du Dir nicht denken, daß der Gedanke an diesen Traum mich außerordentlich beschäftigt?"

"Oh, das kann ich sehr wohl begreifen. Ich denke da sogar noch an ganz andere Dinge als Du. Aber Du hast mir Dein (Seite 258A) Vertrauen doch wohl nur aus gewissen Gründen und in einer gewissen Absicht geschenkt. Darf ich sie erfahren?"

"Selbstverständlich! Du sollst mir beistehen, sollst mich unterstützen! Sollst nicht von mir weichen, wenn die Reihe nun vielleicht hier an mich kommt. Ich befürchte, daß der Traum mich nicht daheim, sondern hier überrascht. Wenn es geschieht, so wünsche ich, daß es verschwiegen bleibe, daß es nicht hinausgetragen wird in die Öffentlichkeit. Mir ist zumute wie einem Menschen, welcher fühlt, daß sich ihm eine schwere Krankheit naht. Er wendet sich schon vorher an den Arzt und spricht die Bitte aus, ihm beizustehen. Wie man dem Arzt vertraut, so vertraue ich Dir. Du wirst das, was geschieht, in solche Wege lenken, die mir heilsam sind."

"Nicht nur Dir, sondern auch Deinem Lande, Deinem ganzen Volke, vorausgesetzt, daß es mir möglich ist, überhaupt mit einzugreifen. Ich will Dir aufrichtig sagen, daß ich dasselbe ahne wie Du. Ja, ich ahne es nicht bloß, sondern ich bin überzeugt, daß Du die Stelle des einstigen Maha-Lama-Sees nicht verlassen wirst, ohne den Traum Deiner Väter auch geträumt zu haben. Bei keinem von ihnen allen ist die Notwendigkeit dieses Traumes so zwingend gewesen wie jetzt bei Dir. Er muß kommen, und er wird kommen. Die einzige Frage, die hierüber noch zu erheben ist, ist zugleich auch die wichtigste, nämlich die Frage, wie Du Dich verhalten wirst."

"Meinst Du, daß ich das weiß?"

"Ja."

"Das bezweifle ich. Kein Mensch kann wissen, was er im Traume tun und sprechen wird."

"In einem gewöhnlichen Traume, ja. In diesem aber ist es anders. Du wirst ganz genauso handeln, wie Du im wachen Zustande handeln würdest. Und wenn Du Dich nun in dieser wunderbaren Dschemmah befändest, nicht schlafend und träumend, sondern bei voller Besinnung, Überlegung und Willenskraft, was würdest Du da antworten, wenn man Dich fragte, ob Du die Sünden Deiner Vorfahren auf Dich nehmen willst, um sie zu sühnen?"

Da sprang er von der Stelle, wo er saß, auf und sagte schnell und in energischem Tone:

"Ich würde >Ja!< sagen. Ich würde sofort bereit sein, auf alles, was - - -"

Da aber hielt er mitten im Satze inne. Er hatte sich von seinem Herzen hinreißen lassen; sofort aber griff das, was wir den Verstand zu nennen pflegen, zu und riß den goldenen Faden, der sich entspinnen wollte, entzwei. Der 'Mir machte eine langsame, widerstrebende Armbewegung und fuhr fort:

"Halt! Nicht so schnell, nicht voreilig! Diese Sache ist von ungeheurer Wichtigkeit. Keiner meiner Ahnen hat bisher den Mut gehabt, diese Berge von Schuld, die im Verlaufe von Jahrtausenden emporgewachsen sind, auf sich zu laden. Wenn es kein zukünftiges Leben gäbe, welches auf das gegenwärtige folgt, könnte ich getrost >Ja< sagen, denn es wäre ein bloßer Wortschall, der nichts, gar nichts zu bedeuten hat. Ich habe an diesem kommenden Leben gezweifelt, bin aber vollständig überzeugt, daß dieser Zweifel Torheit war. Dieses andere Leben wird kommen, unbedingt kommen, sofort nach dem Tode. Ja, es kommt vielleicht gar nicht erst nach dem Tode, sondern schon im jetzigen Dasein. Denn ich mag zu der Frage der Dschemmah >Ja< oder >Nein< sagen, ich lege damit doch den Grund zu dem, was nach dem Tode mit mir geschieht und was ich im nächsten Leben zu bereuen, zu tragen, zu tun und zu erringen habe. Da habe ich vorsichtig zu sein, unendlich vorsichtig. Wenn ich >Ja< sage und alles auf mich nehme, kann ich mich mit einer ewigen, niemals endenden Verdammnis belasten - - -"

"Nicht auch mit einer ewigen, niemals endenden Seligkeit?" fragte ich.

"Vielleicht auch! Wer kann es wissen!"

"Ich weiß es, ich!"

"Ja, Du! Du bist Christ!"

"Du etwa nicht?"

"Nein!"

Da stand auch ich auf, legte ihm die Hand auf den Arm und fragte ihn:

(Seite 258B) "Was hast Du vorhin getan, als Du die Bibelstellen zu uns heraufriefest? Wer und was bist Du gewesen, indem Du dies tatest? Du bist der Herrscher von Ardistan. Der Boden, auf dem dieser Tempel steht, gehört Dir. Hast Du etwa geglaubt, daß die vier Worte, welche Du zur Höhe sandtest, Lügen seien?"

"O nein! Sie sind wahr!"

"So hast Du Dich zum Christentume bekannt und diesem Heidentempel die Bestimmung gegeben, eine christliche Kirche zu sein. Es bedarf nur noch des priesterlichen Segens, so ist diese Umwandlung geschehen, bestätigt und geheiligt!"

"Ist das wahr?" fragte er.

"Würde ich es sagen, wenn ich es nicht für wahr hielte? Ich bin nicht Theolog und auch nicht Priester, sondern Laie. Es ist also möglich, daß ich mich irre. Ich wünsche lebhaft, Dich als Christ und als den Beherrscher eines christlichen Volkes zu sehen; so mag es also wohl sein, daß dieser mein Herzenswunsch der Vater der Behauptung war, die ich aussprach. Aber ich glaube doch, ich habe recht. Erkundige Dich bei andern, die keine Laien sind, und laß mich dann erfahren, was sie sagen!"

"Das werde ich tun; ja, das werde ich tun! Einstweilen darf ich Dir wohl anvertrauen, daß mein Weib mich schon gebeten hat, Christin werden zu dürfen, und daß es in meiner Hauptstadt Ard vier christliche Missionäre und Missionärinnen gibt, deren Lehren, Predigten und Wünschen ich vielleicht nicht mehr lange widerstehen kann."

"Wer sind diese vier?" fragte ich.

"Meine Kinder!" antwortete er im Tone des Glückes und des Vaterstolzes. "Die sind von Euern Weihnachtsbäumen noch heut begeistert und werden es immer bleiben. Was mich betrifft, so mag für jetzt genügen, daß ich nicht mehr ein Feind, sondern ein Freund des Christentumes bin und daß ich auf das, was ich in dieser Angelegenheit aus Deinem Munde höre, größern Wert lege als auf meine eigenen Gedanken. Ich bitte Dich, mir aufrichtig zu sagen, was Du beschließen und antworten würdest, wenn die Dschemmah Dich an meiner Stelle fragte, ob Du die Sünden meiner Väter auf Dich nehmen und büßen wollest!"

"Ich würde ein schnelles, frohes Ja sagen."

"Also auch ein Ja! Wirklich, Effendi, wirklich?"

"Ja, wirklich!"

"Und warum?"

"Warum? Weil es so in mir liegt, also weil es meiner seelischen Natur, meinem Charakter, meinem Naturell, meinem Temperament entspricht. Ferner weil ich als Christ an die ewige Liebe glaube, und weil Du doch wohl nicht zu leugnen vermagst, daß Deine Ahnen, die sich alle weigerten, weder für mich noch für Dich maßgebende Personen sind, nach denen man sich richtet."

"Effendi, sie waren Herrscher. Das bedenke!"

"Herrscher? Pah! Sie konnten nicht einmal sich selbst beherrschen, viel weniger andere! Sie gehorchten den Stimmen, welche tief unter ihnen, nicht aber denen, welche hoch über ihnen erklangen. Das Wort Herrscher bedeutet für mich etwas ganz anderes. Abu Schalem, der >berühmteste, der gerechteste und der gütigste< unter den Maha-Lamas war ein Herrscher! Er herrscht noch heut, sogar über Dich und mich! Er ist unser Retter, viele, viele hundert Jahre nach seinem Tode! Und ich bin überzeugt, daß der Segen, der von ihm ausgegangen ist, noch weiter fließen wird, zum Heile Ungezählter, die noch kommen. Wo ist unter Deinen Ahnen einer, der ihm gleicht, der ihm auch nur von weitem gleicht? Oder kennst Du einen?"

Er schwieg.

"So höre, was ich Dir jetzt noch sage! Aber zürne mir nicht wegen meiner Aufrichtigkeit! Du schweigst, wenn ich Dich nach ihrer Herrschergröße frage. Betrachten wir sie nun nur nach ihrem Werte als Menschen. Sag mir: Waren sie gute Menschen? Wurden sie geliebt?"

"Vielleicht einige!" antwortete er zögernd.

"Also nur einige! Und die auch nur vielleicht! Ich sage Dir, daß sie Feiglinge waren! Feiglinge und Selbstlinge, sie alle, alle, vom ersten bis zum letzten!"

(Seite 259A) "Effendi, der letzte war mein Vater!"

"Das ändert nichts an meinem Urteile; im Gegenteile, es wird dadurch begründet und verschärft. Hat er etwa als Vater an Dir gehandelt, als er der Dschemmah ein >Nein< entgegenrief? Hat ein einziger von allen diesen Deinen sogenannten Vätern auch nur mit einem einzigen Atemzuge an das Wohl und an das Glück seiner Kinder, seiner Enkel und seiner ferneren Nachkommen gedacht? Das ist es ja, was ich Dir noch sagen muß! Du bist blind; ich muß Dir die Augen öffnen. Du hast die Feigheit und die Selbstsucht Deiner Ahnen nicht nur nach rückwärts, sondern auch nach vorwärts zu betrachten. Merke wohl auf meine Worte, die jetzt kommen: Deine Vorfahren waren zu feig, die Taten ihrer Väter auf sich zu nehmen. Sie waren sogar zu feig, auch nur allein sich selbst zu erlösen, indem sie sich zu einem andern, edlern, bessern Leben entschlossen. Und sie waren so feig, so ohne alle Eigenehre und so faul, daß sie, um ihre Taten nicht selbst büßen und sühnen zu müssen, alle ihre Schuld auf ihre unschuldigen Nachkommen vererbten und in elender Memmenhaftigkeit nur auf den einen armen, unglücklichen Mutigen warteten, der mitleidig genug und stark genug war, ihren ganzen Schmutz auf sich zu nehmen und unter ihm womöglich zu ersticken! Was sagst Du zu einem Menschen, der sich ändern, der sich bessern, der sich heben, veredeln und verklären kann und es doch nicht tut, sondern alles, was er an äußern und innern Fehlern und Gebrechen an sich hat, auf seine beklagenswerten Kinder und Kindeskinder vererbt, weil er zu faul, zu feig, zu egoistisch und zu genußsüchtig ist, als daß er sich verpflichtet fühlen könnte, sich aus eigenem Entschlusse und aus eigener Kraft emporzuarbeiten und lieber der Letzte seines Stammes zu sein, als auf eine Erlösung zu warten, die er keineswegs verdient? Pfui, sage ich, pfui! Und indem ich es sage, denke ich nicht nur an die lange Reihe der Emire von Ardistan, sondern überhaupt an jedes >Haus<, an jeden >Stamm< an jede >Familie<, die es gibt, gleichviel ob von Adel oder bürgerlich, ob alt oder jung, ob berühmt oder unbekannt. Ein jeder einzelne Mensch hat Vorfahren und darf auf Nachkommen rechnen. Ein jeder einzelne Mensch, gleichviel, ob er Fürst oder Bettler ist, hat die Aufgabe, seine Ahnen und sich selbst zu erlösen, indem er sich mutig und energisch von den angeborenen und anerzogenen Fehlern befreit und sich hierdurch das gottgewollte, große Glück bereitet, in dieser seiner Weise an der Gesundung, Erstarkung und Veredelung der ganzen Menschheit teilzunehmen. - - - So, das war es, was ich Dir noch zu sagen hatte. Nun zürne mir, wenn Du kannst!"

Ich wendete mich von ihm ab und schaute hinunter nach dem weiten, runden Platze, in dessen Mitte der Wasserengel stand. Quer über diesen Platz waren die Emire von Ardistan getragen worden, in der >köstlichen Sänfte<, um vor die Dschemmah gestellt zu werden. Was sie da geantwortet hatten, das wußte ich. Und was der jetzige 'Mir antworten würde, das wußte ich nun auch. Ich hatte nicht ohne Grund, sondern in voller Absicht so offen und unverblümt, zuweilen sogar in direkt beleidigender Weise gesprochen. Ich glaubte, dies wagen zu dürfen, wie ich es schon wiederholt gewagt hatte und dabei niemals fehlgegangen war. Er stand still und bewegte sich nicht. Sein Gesicht war nach Norden gerichtet, wo den rastlos arbeitenden Vulkanen grad jetzt zahlreiche Feuersäulen entstiegen, die infolge der Perspektive eine einzige zu sein schienen und so hoch emporstrebten, als ob sie bestimmt seien, den ganzen Himmel zu erobern und den Glanz aller Sterne in sich aufzunehmen. Dann drehte er sich mit einem plötzlichen, energischen Rucke zu mir herum, legte die Arme um mich, küßte mich auf die Stirn und sagte:

"Mein lieber, lieber Effendi! Du bist ein schrecklicher, ein ganz schrecklicher Kerl, aber doch ein guter, ein herzensguter Mensch! Willst Du mir einen Wunsch erfüllen? Denselben, den ich Dir vorhin nicht erfüllt habe?"

"Welchen?"

"Ich möchte gern allein sein! Hier! Es muß klar in mir werden!"

"Gut, ich gehe!"

Ich küßte ihn ebenso auf die Stirn, wie er vorher mich, und trat von der Platte in das Innere des Tempels. Dort (Seite 259B) zündete ich mir eines der Lichter an und stieg langsam hinunter in die Tiefe. Das Schwerste war geschehen: Der 'Mir war besiegt. Was nun noch kommen mußte, mochte es noch so schwer sein, es war doch nur die Folge des heutigen, von Gott gesegneten Tages. Was wird der morgige bringen? - - -


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