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2.

Winnetou war ebenso wie ich vollständig überzeugt, daß sich die Pa-Utes noch an der Stelle befanden, an welcher sie die Weißen überfallen hatten. Dennoch waren wir so vorsichtig, nicht die gerade Richtung einzuschlagen, denn sie wollten ja zu den Navajos, von denen wir kamen, und es war immerhin möglich, daß sie den Weg eher antraten, als wir dachten, oder auch nochmals Kundschafter ausschickten, die uns hätten sehen müssen; wir hielten uns also mehr rechts, gerade östlich, und ritten, als wir gegen Morgen des andern Tages in gleicher Höhe mit der Lagerstelle angekommen waren, noch eine Strecke weiter, um dann nach links einzubiegen und uns dem Platze von Osten anstatt von Westen her zu nähern. Es stand fest, daß die Roten aus dieser Gegend keinen Feind erwarteten. Doch mußten wir trotzdem vorsichtig sein, denn so viele Leute brauchten Fleisch, und es war


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anzunehmen, daß nicht wenige von ihnen irgend umherschwärmten.

Wir erreichten den Fluß an einer weit aufwärts gelegenen Stelle und lagerten uns in einer nahe am Wasser liegenden kleinen Lichtung, welche rings von dichtem Gebüsch umschlossen war. Nun galt es, zu erfahren, wie es mit den Pa-Utes und ihren Gefangenen stand. Das war nicht nur ein schwieriges, sondern ein sehr gefährliches Unternehmen. Ich bot mich an, es auszuführen; da aber Winnetou fest darauf bestand, selbst zu gehen, so mußte ich mich fügen. Als er sich entfernt hatte, sorgten wir zunächst dadurch für unsere Sicherheit, daß wir die Spuren, welche wir verursacht hatten, wenigstens in der Nähe verwischten.

Dann galt es, Old Cursing-Dry eine Verwarnung zu geben. Ich hatte zwar nicht wieder mit ihm sprechen wollen, aber dieser Vorsatz mußte zurücktreten, wenn es unsere Sicherheit galt. Er war uns bis hieher gefolgt, hatte sein Pferd, wie wir die unserigen, angebunden und sich dann in einiger Entfernung von uns in das Gras gelegt. Seit unserm gestrigen Aufbruche hatte keiner von uns ein Wort zu ihm gesagt; man sah ihm an, daß er im höchsten Grade gegen uns erbittert war, und so lag der Gedanke, daß er auf Rache sinne, gar nicht fern. Hätten nicht sein Sohn und sein Neffe sich unter den Gefangenen befunden, so wäre ich geneigt gewesen, ihm die Absicht zuzutrauen, uns an die Indsmen zu verraten. Ganz sicher waren wir seiner auf keinen Fall; wer konnte wissen, mit welchen Gedanken und Berechnungen er sich beschäftigte. Aus diesem Grunde hielt ich es für geraten, mein Schweigen zu brechen. Ich mußte selbst mit ihm reden, denn meine Worte machten jedenfalls mehr Eindruck auf ihn, als wenn ich ihm das, was er hören


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sollte, durch Dick Hammerdull oder Pitt Holbers hätte sagen lassen. Ich ging also zu ihm hin und fragte:

»Ihr seid uns seit gestern bis hierher gefolgt, Mr. Fletcher, ohne daß wir Euch dazu aufgefordert haben. Es scheint, daß Ihr Euch auch ferner uns anschließen wollt. Wie steht es damit?«

»Das geht Euch den Teufel an!« antwortete er.

»Ich denke, daß es uns sehr viel angeht, und ersuche Euch, Sir, einen anderen Ton gegen mich anzuschlagen. Ich bin nicht gewöhnt, Grobheiten anzuhören, ohne in geeigneter Weise darauf zu antworten! Ihr habt gesehen und gehört, daß wir nichts von Euch wissen wollen; wenn Ihr uns trotzdem nachgeritten seid und Euch hier zu uns lagert, können wir dies nur in dem Falle dulden, daß Ihr uns nach unserer Ueberzeugung keinen Schaden macht.«

»Schaden?« grinste er mich an. »Pshaw! An Euch giebt es nichts mehr zu verschlechtern und zu schädigen!«

Kaum hatte er das gesagt, so riß ich einen fingerdicken Zweig vom nächsten Busche, zog ihn durch die linke Hand, um die Blätter zu entfernen, und versetzte ihm mehrere scharfe Hiebe quer über das Gesicht.

»So! Wer nicht hören will, der mag fühlen. Ich werde Euch lehren, höflich zu sein!«

Er stieß einen unartikulierten Schrei der Wut aus, sprang auf und riß den Revolver heraus, um ihn auf mich anzuschlagen; aber noch ehe er den Lauf auf mich richten konnte, traf ihn mein Hieb so auf den Arm, daß er die Waffe fallen ließ; dann schlug ich ihm die Faust gegen die Schläfe, daß er wie ein lebloser Klotz lang und steif zu Boden stürzte. Im Nu stand der dicke Hammerdull neben mir und sagte, indem sein Gesicht vor Entzücken glänzte:


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»Heigh-day! Endlich, endlich sieht man wieder einmal diesen famosen Hieb von Euch! Thank you, Sir! Der Kerl hat es genau so und nicht anders verdient. Sollen wir ihn ein wenig fesseln, daß er dann, wenn er wieder zu sich kommt, nicht etwa Dummheiten macht?«

»Ja, lieber Dick. Gebt ihm einige Riemen um die Arme und um die Beine. Besser ist besser!«

»So komm her, Pitt Holbers, altes Coon! Wollen diesem Old Cursing-Dry ein halbes Dutzend Festschleifen um seinen schmalen Körper hängen. Oder meinst du nicht?«

Pitt kam behaglich lächelnd herbeigestiegen und antwortete in seiner gewohnten Weise:

»Wenn du denkst, daß es gut angebracht ist, so können wir's ja machen, alter Dick.«

»Ob machen oder nicht, das bleibt sich gleich; gemacht aber wird's auf jeden Fall.«

Sie fesselten ihn nicht nur, sondern sie banden ihn dann auch noch extra an einem dicken Buschstumpfe fest, so daß es ihm nicht möglich war, sich heimlich aus unserem Bereich zu wälzen. Als sie damit fertig waren, rieb sich Dick die fetten Hände und sagte schmunzelnd:

»Das ist bei Euch doch gleich ein ganz anderes Leben, Sir! Wir sind nun einen ganzen Monat unterwegs, ohne daß sich etwas Bemerkenswertes ereignet hat; kaum aber haben wir Euch getroffen, so stecken wir mitten in den Abenteuern drin.«

»Und der vorgestrige Ueberfall? War das kein Abenteuer?« fragte ich.

»Für uns beide nicht, denn wir waren nicht dabei. Und wenn auch, so waret Ihr doch in der Nähe. In einer Woche bei Euch erlebt man mehr als sonst in einem Jahre; das ist allbekannt. Jetzt haben wir den alten


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Flucher fest und können an etwas anderes denken. Was sagt Ihr zu einem Fischgericht? Unser Trockenfleisch ist fast zu Ende.«

»Habt Ihr Angeln?«

»Welche Frage! Was ficht Euch an, Sir? Dick Hammerdull und keine Angeln! Die Frage ist nur, ob es in diesem lieben Rio San Juan auch Fische giebt. Oder wollen wir Blutegel angeln und braten, Pitt Holbers, altes Coon?«

»Hm! Wenn du denkst, daß sie so fett sind, wie du bist, alter Dick, da könnte es sich wohl machen. Fische aber wären mir freilich lieber, denn sie sind meine Leibdelikatesse, während auf Blutegel mein Magen heute nicht eingerichtet ist.«

Das war eine so lange Rede, wie Pitt Holbers wohl selten eine gehalten hatte, und zwar nur deshalb, weil von seinem Leibgericht die Rede war. Ich konnte ihm glücklicherweise aus Erfahrung versichern, daß sie alle Hoffnung hätten, einen guten Fang zu machen, und so krochen sie mit ihren Angeln nach dem Ufer, wo sie sich vorsichtig versteckten, um ja nicht etwa von einem zufällig in die Nähe kommenden Pa-Ute gesehen zu werden. Ich aber streckte mich lang in das Gras und schloß die Augen, obgleich ich nicht müde war. Vom Schlafe wäre ja auch bei der Erwartung, in der ich mich grad so wie die andern befand, keine Rede gewesen.

Der Westmann pflegt, wenn er liegt, auch ohne zu schlafen, gern die Augen zuzumachen, weil er dann um so schärfer hört.

Es mochte kaum eine Stunde vergangen sein, als die beiden Angler wiederkamen. Der Ertrag ihrer Geschicklichkeit war so groß, daß wir für Mittag und für Abend genug hatten. Leider mußten wir darauf ver-


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zichten [verzichten], vor der Rückkehr Winnetous Feuer zu machen, denn wir wußten nicht, ob wir dies jetzt ohne die Gefahr, entdeckt zu werden, thun durften. Eine indianische Nase spürt den Rauch eines Feuers sehr weit, noch weiter aber den Geruch von Fleisch, gleichviel ob es von Fischen oder von vierfüßigem Wildbret ist.

Zeit um Zeit verschwand; der Mittag kam; es vergingen noch zwei Stunden, und den beiden Toasts wollte es fast bange um den Apatschen werden. Ich mußte, um sie zu beruhigen, sie auf die weite Entfernung zwischen hier und dem Lager aufmerksam machen und auf die ungeheure Langsamkeit, mit welcher man beim Anschleichen am hellen Tage vorwärts kommt. Old Cursing-Dry war längst aus seiner Betäubung erwacht, doch hielt er die Augen geschlossen und bewegte sich nicht. Es konnte uns nur lieb sein, wenn er Unempfänglichkeit heuchelte.

Endlich, endlich rasselte es leise im Gebüsch, und Winnetou kam zurück. Sein Gesicht war unbewegt wie stets; aber ich kannte es genau und sah sofort, daß er gute Botschaft brachte. Er gab uns das, als er die Fische liegen sah, in seiner Weise zu erkennen: Ohne ein Wort zu sagen, suchte er dürres Gras und trockene Reiser zusammen, schichtete dieses Material zu einem kleinen Haufen zusammen, zog sein Punks (* Prairiefeuerzeug.) hervor und setzte das Gras in Brand. Dick Hammerdull machte ein fröhliches Gesicht, stieß Pitt Holbers den Ellbogen mit freundlichem Nachdrucke zwischen die Rippen und kicherte:

»Famose Sache! Es scheint alles in Ordnung zu sein, und wir können unsere Blutegel braten. Was meinst du dazu, Pitt Holbers, alters Coon?«

»Wenn du denkst, daß ich mich auf das Essen freue,


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so kannst du das Richtige getroffen haben, alter Dick,« lautete die behagliche Antwort.

Die Fische wurden in zwei Portionen, für jetzt und für den Abend, geteilt; dann bekam jeder, was ihm zufiel; auch Fletcher erhielt so viel wie jeder andere. Als sein Teil gebraten war, machte Dick Hammerdull es sich zum Spaße, ihn wie ein Kind zu ätzen. Winnetou sah wohl, daß er gefesselt war, doch lag es nicht in seiner Eigenart, nach dem Grunde zu fragen.

Ebensowenig fragte ich ihn nach dem Ergebnisse seiner Rekognoszierung, denn ich wußte, daß er zur rechten Zeit selbst davon anfangen werde; aber die beiden andern hatten weniger Geduld, und kaum hatte Dick Hammerdull den letzten Bissen zwischen die Lippen geschoben, so wischte er sich den Mund mit dem fettglänzenden Aermel ab und sagte:

»So, jetzt ist man satt und kann nun auch an die Pa-Utes denken. Ich hoffe, daß sie noch nicht fortgeritten sind!«

Und als Winnetou nicht sofort antwortete, machte er die Sache deutlicher, indem er fragte:

»Oder sollte ich mich irren, und sie sind schon fort? Ueber die männlich schönen Züge des Apatschen glitt ein leises Lächeln und er antwortete in gütig verweisendem Tone: »Der Tau fällt zu seiner Zeit, und die Sonne scheint zu ihrer Zeit. Warum wartet mein weißer Bruder nicht, bis auch meine Zeit, zu sprechen, gekommen ist?«

»Ganz einfach, weil ich neugierig bin,« antwortete der Dicke in drolliger Aufrichtigkeit.

»Neugierig darf die Squaw sein, nicht aber der Mann, zumal wenn er ein Krieger ist wie Dick Hammer-


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dull [Hammerdull], doch soll mein Bruder erfahren, was er wissen will. Die Pa-Utes sind noch da.«

»Wo?«

»Im Lager, welches sie gestern überfallen haben. Winnetou hat sie genau gezählt; es sind zweimal hundert Mann und sechsmal zehn. Ihr Anführer ist Pats avat (* Großer Mokassin.), der Häuptling der Pa-Utes.«

»Und die Gefangenen?«

»Sie sind gefesselt, aber ganz gesund und unverwundet. Wir werden sie in der nächsten Nacht befreien.«

»Befreien?« fragte der Dicke in freudigem Erstaunen. »Ich dachte, es sei besser, damit zu warten, bis die Pa-Utes in die Hände der Navajos geraten; dann erhalten die Weißen ihre Freiheit ja ganz von selbst!«

»Winnetou glaubt, daß sein weißer Bruder sich da irrt. Wenn wir die Pa-Utes im Cañon einschließen und sie haben ihre Gefangenen noch bei sich, so können sie uns Bedingungen stellen und uns drohen, die Weißen zu töten. Sind diese aber frei, so müssen die Feinde auf alles eingehen, was wir von ihnen verlangen.«

»Ganz recht, ganz recht! Mir ist es auch viel lieber, wenn wir unsere Kameraden schon heut herausholen, denn das giebt einen Streich, wie ich ihn mir gar nicht prächtiger denken kann. Auf welche Weise aber soll die Befreiung vor sich gehen?«

»Das wird mein Bruder erfahren, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Winnetou hat gelauscht und mehrere Pa-Utes sprechen hören; er hat erfahren, warum sie noch nicht fort sind und wie es sich zugetragen hat, daß sie die weißen Männer überfallen haben. Unter den zwei Getöteten ist der Häuptlingssohn, dessen Begräbnis eine


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Zeit bis morgen früh erfordert, denn sein Grab muß hoch aus Steinen errichtet werden; sie haben noch die halbe Nacht daran zu bauen. Der Häuptling ist voller Grimm über den Tod seines Sohnes, und es ist sehr leicht möglich, daß er die Gefangenen tötet, damit ihre Seelen die seinige in den ewigen Jagdgründen bedienen müssen.«

»All devils, das wäre ja entsetzlich!«

»Es würde nichts als eine Rache sein, wie sie die roten Männer erst von den Weißen gelernt haben. Und diese Strafe wäre um so gerechter, weil sie den Mörder doppelt träfe, dessen Sohn und Neffe sich unter den Gefangenen befinden.«

»Also doch Old Cursing-Dry?«

»Ja, er ist's.«

Fletcher lag nahe genug, um jedes Wort zu hören. Seit dem Essen hatte er die Augen offen gehabt. Jetzt rief er eifrig herüber:

»Ich war es nicht; ich war es nicht; ich weiß kein Wort davon! Diese ...... Halunken sind die niederträchtigsten ...... die man sich denken kann. Ich schwöre es bei ...... daß ich die Wahrheit sage!«

Diese Verteidigung enthielt wieder drei schwere Lästerungen, die man unmöglich wiedergeben kann. Winnetou ignorierte sie und fuhr fort:

»Die Pa-Utes haben nicht da, wo sie sich jetzt befinden, lagern, sondern weiterziehen wollen. Sie hätten die Weißen gar nicht entdeckt, wenn der Mord nicht geschehen wäre. Der Sohn des Häuptlings ritt mit noch zwei Kriegern dem Zuge eine Strecke voraus; da fielen schnell hintereinander zwei Schüsse, und er stürzte tot vom Pferde, neben ihm einer der beiden Krieger. Beide sind durch die Köpfe geschossen.«


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»Beweist das, daß ich es gewesen bin?« brüllte Fletcher zornig auf.

Winnetou wendete sich an Hammerdull und Holbers:

»Wenn dieser Mann es noch einmal wagt, so laut zu sprechen, so mögen meine Brüder ihm einen Knebel in den Mund geben und ihn krumm wie eine Katze zusammenbinden; dann hängen wir ihn in den Fluß, daß er langsam und elendiglich ertrinken muß!«

Dann setzte er seine Rede wieder in früherem Tone fort:

»Der zweite Begleiter, welcher unverletzt war, hat sein Pferd schnell nach der Gegend getrieben, aus welcher die Schüsse kamen, und einen Reiter davonsprengen sehen. Da es noch nicht ganz dunkel war, konnte er den Mann und auch das Pferd genau erkennen. Der Reiter hat einen Strohhut auf dem Kopfe gehabt und darunter ein Tuch, wie es zuweilen die Vaqueros und Cowboys tragen; erreichen hat er ihn nicht können. Das Pferd ist von dunkler Farbe gewesen mit einem hellen Flecke rechtsseits auf der Kruppe. Meine Brüder werden wissen, wer einen solchen Hut und ein solches Tuch trägt und wessen Pferd einen solchen hellen Fleck hat. Winnetou hat ganz deutlich gehört, wie ein Pa-Ute dies einem anderen beschrieb.«

Natürlich war es Fletcher, auf den und dessen Pferd sich diese Kennzeichen bezogen. Er wagte dennoch, es zu leugnen und zischte ingrimmig zu uns herüber:

»Lüge, nicht als Lüge! Was so ein roter ..... sagt, hat keinen ..... Wert. Ich schwöre es bei ..... , daß ich so unschuldig wie ein .... bin!«

Das waren wieder vier Ausdrücke, für welche ich ihn hätte halbtot prügeln lassen mögen! Der Apatsche sprach in kaltem, schwerklingendem Tone weiter:


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»Erinnern sich meine Brüder noch der fürchterlichen, unmenschlichen Worte, welche der Mann, der dort liegt, gestern, als er mit uns zusammentraf, über die Indianer sagte? Er sagte sie aus, obgleich er sah, daß ich selbst ein Roter bin. Soviel Worte er gesprochen hat, so viele Richter und so viele Zeugen giebt es gegen ihn; er und kein anderer ist der Mörder, obgleich er einen gräßlichen Schwur gethan hat, es nicht zu sein.«

Da bäumte sich Old Cursing-Dry unter seinen Fesseln und schrie:

»Und ich wiederhole diesen meinen Schwur bei allen ......: Ich will erblinden oder zerschmettern, wenn ich der Mörder bin! Wenn Ihr so dumm seid, einem - -«

Er konnte nicht weiter sprechen, denn schon kniete ich bei ihm. Ihm die rechte Hand fest um die Kehle legend, riß ich mit der linken einen Fetzen von seinem Gewande und ballte ihn zusammen. Ein schärferer Druck an der Gurgel, und er schnappte mit weit geöffnetem Munde nach Atem; der Knebel fuhr ihm zwischen die Zähne, und Hammerdull, der mir schnell gefolgt war, sorgte für einen zweiten Lappen, der ihm vor den Mund gebunden wurde, daß er den Knebel nicht mit der Zunge herausstoßen konnte. Nun waren wir vor seinen Lästerungen sicher und kehrten auf unsere Plätze zurück.

Lange saßen wir da wortlos bei einander; jeder wußte, was der andere fühlte und dachte, doch keiner sprach es aus. Abschaum der Menschheit! Tiefer noch stehend als das niedrigste Tier! Kann es denn wirklich ein menschliches Wesen geben, auf welches diese unmöglich scheinende Bezeichnung paßt? Bis jetzt hätte ich die Frage sicherlich verneint; nun aber mußte ich sie bejahen, obgleich sich mein Herz mit aller Kraft dagegen sträubte. Was sollten wir mit diesem Manne anfangen? Ihm die


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Freiheit geben, das heißt ihn wie ein grimmiges, wildes Tier loslassen gegen alle, die Menschen sind, und alles, was menschlich heißt? Nein, nein! Ihn den Pa-Utes ausliefern? Ja und abermals ja; er hatte das verdient, denn er war auf alle Fälle der Mörder und konnte nur durch den Tod unschädlich gemacht werden.

Winnetou legte mir die Hand auf den Arm und sagte, als ob er mir die Gedanken vom Gesichte abgelesen hätte:

»Mein Bruder strenge seine Gedanken nicht ferner an! Wenn es ihm wehe thut, das Leben selbst eines so bösen Menschen vernichten zu helfen, so wird der Häuptling der Apatschen allein den Richter machen. Old Cursing-Dry wird den Pa-Utes auf alle Fälle ausgeliefert. Ich habe es gesagt. Howgh!«

»Hältst du mich für schwach?«

»Nein, aber für zu barmherzig.«

»Ja, selbst dieser Mensch erbarmt mich, aber nicht sein Leib, sondern seine Seele. Soll sie von hinnen fahren in das ewige Verderben, ohne daß es für sie auch nur eine einzige Möglichkeit noch giebt, einen einzigen, einzigen um Verzeihung flehenden Blick zum Himmel zu wenden?«

»Was sorgst du dich vergebens! Hast du die Macht, ihr diesen Blick zu öffnen? Es giebt nur einen, der diese Macht besitzt, der große, gute Manitou. Du hast mich gelehrt, ihm zu vertrauen; hast du verlernt, es selbst auch zu thun? Kümmere dich nicht! Das irdische Leben dieses Lästerers und Mörders ist dem unerbittlichen Gesetze der Savanne verfallen; über seine Seele aber wird Manitou bestimmen. Er ist von jetzt an nicht mehr ein geduldeter Gefährte für uns, sondern unser Gefangener, den wir den Pa-Utes auszuliefern haben, an denen er sich ver-


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gangen [vergangen] hat. Darum darf er nicht hören, was wir von jetzt an weiter miteinander sprechen.«

Auf Grund dieser Bemerkung fuhr er nach einer Pause des Nachdenkens in gedämpftem Tone fort:

»Winnetou wird euch jetzt sagen, auf welche Weise es uns möglich sein wird, die acht Gefangenen zu befreien. Dick Hammerdull und Pitt Holbers kennen die Stelle, an welcher die Pa-Utes lagern, die ich beschlichen habe. Es giebt da eine kleine Halbinsel, welche durch einen sehr schmalen Landstreifen mit dem Ufer zusammenhängt; auf diese Halbinsel sind die Gefangenen gebracht worden, weil sie da viel leichter bewacht werden können und eine Flucht von dort für unmöglich gehalten werden muß.«

»Ich kenne diese Halbinsel,« nickte Hammerdull. »Wir wollten sie zum Lagerplatze machen, sahen aber davon ab, weil es zu viel Stechfliegen da gab. Die Ränder waren mit Büschen bewachsen.«

»Das ist sehr richtig und wird uns die Befreiung der Gefangenen sehr erleichtern. Die acht Männer sind natürlich gefesselt, und es ist gar nicht daran zu denken, daß sie, um zu fliehen, in das Wasser gehen. Darum genügt ein einziger Wächter, welcher auf den schmalen Uebergang zur Halbinsel postirt wird. Und sollte man so vorsichtig gewesen sein, zwei oder drei Krieger dorthin zu postieren, so kann uns das nicht hindern, denn die sind in einer Minute unschädlich gemacht.«

»Well! Ich bin überzeugt, daß wir drei und noch mehr Wächter schnell aus dem Wege schaffen; ebenso rasch haben wir den Gefangenen die Fesseln zerschnitten; aber was dann? Am Ufer lagern noch über zweihundertundfünfzig Indsmen, durch die wir uns ganz unmöglich schleichen können.«


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»Das wollen wir auch nicht, denn wir werden auf dem Wasser entweichen.«

»Hm! Ist das nicht leichter gesagt als gethan? Ich bin zwar überzeugt, daß die Kameraden alle zu schwimmen vermögen, aber sie werden die Arme und Beine nicht bewegen können, weil sie so lange Zeit gefesselt gewesen sind. Es ist auch gar nicht zu vermeiden, daß der eine rascher als der andre schwimmt; dadurch müssen wir auseinander kommen und längere Zeit aufeinander warten; inzwischen können uns die indsmen einzeln wegfischen oder gar auslöschen.«

»Mein weißer Bruder hat nicht auf meine Worte geachtet; ich habe gesagt, daß wir auf dem Wasser entwischen wollen, nicht im Wasser. Wir werden nicht schwimmen, sondern ein Floß bauen. Sollte es ja nötig sein, in das Wasser zu gehen, so werden das nur zwei thun, nämlich Old Shatterhand und ich.«

»Ah, ein Floß! Aber ein Fahrzeug, auf welchem acht Personen fortgeschafft werden sollen, das muß so groß sein, daß die Indsmen es unbedingt merken werden, obgleich es heut nacht sehr dunkel sein wird, weil wir Neumond haben. Ist das nicht auch deine Ansicht, Pitt Holbers, altes Coon?«

»Wenn du denkst, daß Neumond ist, so hast du recht, alter Dick,« lautete die Antwort; »aber Winnetou wird schon wissen, was er will.«

»Ob er es weiß oder nicht, das bleibt sich nicht nur gleich, sondern das ist sogar sehr egal; aber ich bin auch vollständig überzeugt, daß er einen guten Gedanken hat. Was sagt denn Ihr dazu, Mr. Shatterhand?«

Da diese Frage an mich gerichtet war, so antwortete ich:

»Ich errate die Absicht unseres roten Bruders.


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Das Floß muß unbemerkt bleiben; es würde aber jedenfalls gesehen werden, wenn die Pa-Utes sich am Lagerplatze befänden; daher vermute ich, daß Winnetou die Absicht hegt, sie fortzulocken.«

»Mein weißer Bruder hat das Richtige getroffen,« nickte mir der Apatsche zu. »Die Pa-Utes müssen vom Lager fort.«

»Aber wodurch könnten wir sie dazu veranlassen?« fragte Dick Hammerdull.

»Durch Feuer.«

»Gut. Aber was sollen wir anbrennen? Wir können doch nicht den Wald anzünden, denn das wäre hier, wo es so wenig Wälder giebt, geradezu eine Sünde.«

»Der Wald ist dem Häuptling der Apatschen heilig; er darf nicht vernichtet werden. Aber wir müssen etwas in Flammen setzen, was den Pa-Utes auch heilig ist, damit sie erschrecken; denn wenn sie keinen Schreck bekommen, so begehen sie nicht die Unvorsichtigkeit, das Lager zu verlassen.«

»Da bin ich wirklich neugierig, welcher Gegenstand es ist, den Winnetou in Brand stecken will.«

»Das neue Grabmal ist's.«

»Vortrefflich! Der Gedanke ist zehntausend Dollars wert! Aber das Grabmal wird nicht brennen, weil es von Stein ist!«

»Es ist gar nicht notwendig, daß es verbrennt. Wir schichten dürres Gras und Holz an demselben auf; wenn das in Brand gerät, werden alle roten Männer erschrecken und schnell hineilen, es zu löschen.«

»Aber da jetzt noch daran gebaut wird, müssen wir warten, bis es fertig ist. Und selbst dann ist die Annäherung jedenfalls gefährlich, weil man auf alle Fälle Wächter hinstellen wird.«


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»Mein Bruder Dick Hammerdull mag sich an die Gebräuche der roten Völker erinnern! Sobald das Grabmal vollendet ist, wird man die Leiche des Häuptlingssohnes hinschaffen, und niemand als sein Vater wird dort bleiben; man muß ihn allein lassen, damit er die Gesänge des Todes, die nur die Seele des Ermordeten hören darf, anstimme. Wir haben es also nur mit ihm zu thun.«

»Soll er getötet werden?«

»Nein. Old Shatterhand und Winnetou töten keinen Menschen, wenn sie nicht durch ihn selbst dazu gezwungen werden. Er wird den Hieb meines Bruders Shatterhand empfangen, damit er schweigt, so lange er nicht reden soll; weiter darf ihm nichts geschehen.«

»Aber wir können doch nicht zu gleicher Zeit am Grabmale und auf dem Flosse sein! Die Roten werden das Feuer ausgelöscht haben, ehe wir fertig sind, und dann ist es sehr fraglich, ob uns der Streich gelingt, den wir ausführen wollen.«

»Dick Hammerdull mag keine Sorge haben. Wir werden uns teilen und dann die Zeit so genau abmessen, daß das Gelingen beinahe sicher ist. Jetzt wollen wir an die Arbeit gehen und das Floß bauen, denn es muß fertig sein, ehe es dunkel wird.«

»Sind wir denn sicher, daß wir nicht dabei beobachtet werden?«

»Winnetou weiß ganz genau, daß die Pa-Utes nicht in diese Gegend kommen werden.«

»Ob sie kommen oder nicht, das bleibt sich gleich; aber es ist auf alle Fälle besser, wenn sie nicht erfahren, daß wir hier sind und was wir für eine Absicht hegen. Es ist immer und auf alle Fälle besser, wenn das geschieht, was besser ist. Meinst du nicht auch, Pitt Holbers, altes Coon?«


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»Wenn du denkst, daß das Bessere besser ist, lieber Dick, so kann es mir nicht einfallen, etwas dagegen zu haben,« antwortete Pitt in seiner trockenen Weise.

Es ging nun ans Fällen von dünnen Baumstämmen, eine Arbeit, welche, weil wir keine Aexte hatten, zwar langsam, aber desto geräuschloser vor sich ging. Frische, biegsame Ruten zum festen Verbande der Stämme gab es genug, und so hatten wir das Floß fertig, ehe zwei Stunden vergangen waren. Es erhielt zwei Steuer, eines vorn und eines hinten, und außerdem vier Ruder für den Fall, daß wir ihm eine größere Schnelligkeit geben mußten, als der Fall des Wassers mit sich brachte.

Dann wurden vier große Bündel trockenes Holz und Gras gesammelt und auf das Floß gebracht. Als wir damit fertig waren, mußten die Pferde fortgeschafft werden. Wir befanden uns, wie schon gesagt, oberhalb des Lagerplatzes der Pa-Utes, mußten also mit dem Floße abwärts fahren und konnten natürlich die Gefangenen, falls uns deren Befreiung gelang, auch nur abwärts vom Lagerplatze landen, und zwar auf dem andern Ufer, damit die Verfolger gezwungen sein würden, erst über den Fluß zu setzen, ehe sie hinter uns herkonnten. Aus diesen Gründen war es notwendig, die Pferde erst vorauszuschaffen und an einer dazu geeigneten, vom Lager abwärts befindlichen Stelle zu verstecken. Dabei mußte natürlich auch Old Cursing-Dry sein.

Wir setzten also die Pferde auf dem Floße an das andere Ufer über und banden Fletcher auf seinem Sattel fest. Pitt Holbers mußte bei dem Floße zurückbleiben; wir andern ritten stromab, aber nicht etwa nahe am Ufer, sondern soweit von demselben entfernt, daß wir sicher sein konnten, nicht bemerkt zu werden.

Wir ritten, um die letzte Helle des Tages zu be-


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nutzen [benutzen], im Galopp und waren schon nach einer halben Stunde soweit gekommen, daß wir uns vielleicht eine halbe englische Meile unterhalb des Indianerlagers befanden. Hier gab es eine kleine, enge Schlucht, in welcher Bäume standen, an die wir die Pferde banden. Old Cursing-Dry wurde vom Pferde gehoben und auch angebunden, und zwar in einer Weise, daß es für ihn gar keine Möglichkeit gab, sich loszumachen. Er gab seinem Grimm gegen uns dadurch Ausdruck, daß er, ehe wir ihm die Beine wieder gefesselt hatten, uns mehrere Fußtritte versetzte. Wenn der Knebel nicht gewesen wäre, so hätten wir gewiß eine Menge Flüche anzuhören bekommen.

Wir waren gezwungen, ihn allein und ohne Aufsicht hier zurückzulassen und den Weg, den wir zu Pferde gekommen waren, zu Fuße wieder flußaufwärts zu machen. Wir hatten ihn kaum angetreten, so wurde es Nacht, was uns aber nicht störte; wir kamen wohlbehalten bei Pitt Holbers an.

Wir bestiegen das Floß, banden es vom Ufer los und begannen die nicht ganz ungefährliche Fahrt. Ich übernahm das hintere Steuer; Winnetou stand vor dem vordern und raunte mir seine Weisungen leise zu. Es war so finster, daß jemand, der nicht Westmann war, kaum seine Hand vor den Augen hätte sehen können; ich aber konnte jeden einzelnen Baum am Ufer unterscheiden, und Winnetou sah gewiß noch schärfer als ich. Dick Hammerdull und Holbers saßen auf der Mitte des Floßes und verließen sich auf uns beide.

Die Pa-Utes lagerten auf der linken Seite des Flusses; darum hielten wir uns nahe an das rechte Ufer. Das Wasser hatte guten Fall und so kamen wir rasch vorwärts. Als Winnetou annahm, daß wir uns dem


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Lager genug genähert hätten, legten wir am linken Ufer an, und zwar an einer Stelle, wo das Floß unter überhängenden Zweigen verborgen lag. Ich sage, am linken Ufer, denn wir wollten zwar später auf dem rechten entfliehen, mußten aber doch vorher am linken aussteigen, um unsere Vorbereitungen zu treffen.

Zunächst schlich sich Winnetou fort, um zu rekognoscieren. Er kam nach ungefähr zwei Stunden zurück und meldete uns, daß er alles für uns günstig gefunden habe; das Grabmal werde sicher bis Mitternacht fertig sein, von welcher Zeit an sich nur der Häuptling dort befinden werde. Das Monument stand ungefähr dreihundert Schritte seitwärts vom Lager im Walde. Der kühne Apatsche war sogar bis fast in die unmittelbare Nähe der Halbinsel gekrochen,. um später imstande zu sein, das Floß ganz sicher und genau zu regieren.

Wir lagen bis Mitternacht still und geräuschlos unter dem dichten Gezweig. Da flüsterte mir Winnetou zu:

»Mein Bruder mag die Zündschnur aus dem Patronengürtel nehmen.«

Unser Werk sollte also jetzt beginnen. Jeder vorsichtige Westmann trägt einen Knäuel dünne Luntenschnur bei sich, denn er kommt zuweilen in die Lage, sie notwendig zu brauchen. Ich schnitt ein genügend langes Stück ab und steckte es lose in die Tasche, um es gleich bereit zu haben. Dann stiegen wir alle vom Floße an das Ufer, die vier großen Reis- und Grasbündel auf den Armen. Winnetou machte den Führer.

Es ging schief nach links in den Wald hinein. Der Apatsche hatte sich solche Stellen gemerkt, wo die Bäume nicht so eng zusammenstanden und wir also leichter gehen konnten. Rechts vor uns sahen wir bald den Schein der


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Lagerfeuer, und dann bemerkten wir links auch den Schein eines kleinen Feuers. Es brannte bei dem Grabmal. Als wir uns demselben so weit genähert hatten, daß wir es sehen konnten, erkannten wir Pats avat, den Häuptling der Pa-Utes, welcher ganz allein bei der Leiche seines Sohnes saß. Noch näher gekommen, hörten wir ihn seine Klageweisen murmeln, und legten unsere Bündel nieder. Dick und Pitt mußten stehen bleiben; ich schlich mich mit Winnetou bis fast an den Rücken des Häuptlings; da trat Winnetou vor. Pats avat blickte auf. Als er den Apatschen sah, sprang er empor und stieß erschrocken die Worte aus:

»Uff! Winnetou, der Häuptling der Apatschen!«

Der Genannte hob den Arm, deutete auf mich und antwortete:

»Ja, ich bin es. Und da steht mein weißer Freund und Bruder Old Shatterhand.«

Der Pa-Ute drehte sich schnell zu mir herum und sah mich mit weit aufgerissenen Augen an. Schon öffnete er den Mund, um einen Hilferuf auszustoßen, da bekam er meinen Kopfhieb, der ihn besinnungslos niederstreckte. Nun brachten Hammerdull und Holbers die Bündel rasch herbei. Wir schichteten sie am Grabmale auf, legten die Lunte, zündeten sie am Feuer an und entfernten uns dann in so eiligem Laufe, daß wir nach kaum einer Minute wieder auf dem Floße standen.

Wir banden es los und ließen es abwärts gleiten, doch nicht im freien Wasser, weil wir es da nicht so, wie es nötig war, in unserer Gewalt gehabt hätten, sondern indem wir es hart am Ufer hielten und mit den Rudern langsam vorwärts stießen.

Es wurde vor uns heller; schon sahen wir die Lagerfeuer und im Scheine derselben die Halbinsel liegen. Da


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erhob sich plötzlich auch links im Walde eine Glut, welche die Aufmerksamkeit der Pa-Utes auf sich zog. Wir hörten ihre Rufe und sahen viele nach dem Grabmale eilen.

»Es geht los!« sagte Winnetou. »Die Waffen bereit zum etwaigen Widerstande, und die Messer heraus, um die Fesseln der Gefangenen im Nu zu zerschneiden!«

Da klang vom Walde her der laute, schrille Schreckensruf:

»Neav äkve, neav äkve - der Häuptling ist tot, der Häuptling ist tot!«

Da sprangen alle, die zurückgeblieben waren, von den Feuern auf und rannten in den Wald. Wir sahen es ganz deutlich, daß auch zwei Rote von der Halbinsel an das Ufer kamen und waldeinwärts liefen.

»Schnell an die vier Ruder und nach der Insel, schnell!« gebot ich. »Holbers bleibt auf dem Floße, um es festzuhalten!«

Das Floß schoß mit der Schnelligkeit eines Bootes auf die Halbinsel zu. Als es anstieß, sprangen Winnetou, Hammerdull und ich an das Land. Es stand doch ein dritter Wächter da, welcher zurückgeblieben war. Er kehrte uns den Rücken zu, weil er nach dem Walde blickte. Als er das Geräusch hörte, welches wir nicht vermeiden konnten, drehte er sich um. Uns sehen, einen durchdringenden Hilferuf ausstoßen und sein Gewehr auf Winnetou anschlagen, das war eins. Ich sprang hinzu und griff nach dem Gewehre. Ich konnte zwar nicht verhüten, daß der Schuß krachte, doch ging die Kugel fehl. Ihm die Waffe aus der Hand reißen, umdrehen und den Kolben auf den Kopf schlagen, daß der Mann zusammenbrach, war das Werk des nächsten Augenblickes. Dann mit dem Messer zu den Gefangenen. Nach kaum einer Minute waren alle acht frei und auf dem Floße.


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Wir sprangen nach, griffen zu den Rudern und lenkten zunächst nach dem andern Ufer hinüber.

Das war alles viel schneller gegangen und viel glücklicher abgelaufen als wir vorher gedacht hatten, und doch war es schon die höchste Zeit, daß wir fortkamen, denn der Schuß und der Hilferuf waren gehört worden, und die Roten kamen zurückgerannt, um die Ursache zu erfahren. Sie sahen uns, denn wir glitten soeben durch den hellsten Feuerschein, und erhoben ein wütendes Geheul. Winnetous gewaltige Stimme aber übertönte selbst dieses Geschrei:

»Pats avat, der Häuptling der Pa-Utes, ist nicht tot; er wird wieder aufwachen, denn Old Shatterhand hat ihn nur betäubt. Und hier steht Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Wir haben die weißen Gefangenen frei gemacht, und keine tausend Pa-Utes werden sie uns wieder abnehmen können. Howgh!«

Auf diese Worte verdoppelte sich das Geheul, und es krachten viele Schüsse, ohne uns aber zu treffen, denn der Feuerschein lag schon hinter uns, und wir schwammen im Dunkeln, wo wir kein Ziel mehr boten. Noch lange aber hörten wir die Stimmen der Feinde, welche wie dumme Knaben am Ufer hinter uns herrannten, ohne daß es für sie die Möglichkeit gab, uns einzuholen.

Die aus der Gefangenschaft befreiten und vom wahrscheinlichen Tode erretteten Männer hatten aus den Worten des Apatschen entnommen, wer wir waren. Sie wollten sich in Ausrufen der Freude und des Dankes ergehen, doch brachte Winnetou sie schnell zum Schweigen, indem er sagte:

»Still! Noch sind wir nicht in Sicherheit! Und wer weiß, ob alle von euch sich freuen dürfen, daß sie den Pa-Utes entkommen sind. Nur kurze Zeit vergeht,


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so steht uns ein Gericht bevor, welches einen sehr ernsten Ausgang nehmen wird. Howgh!«


Kapitel 3


Einführung zu "Auf fremden Pfaden"


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