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Fünftes Kapitel. Am weißen Felsen.

Es fiel uns natürlich nicht ein, von der Jüdin Abschied zu nehmen. Wir ließen uns von den Yumas das Pferd Meltons zeigen; es wurde gesattelt, und wir banden ihn darauf. Unsere Pferde bekamen wir wieder. Wir kauften einen Vorrat getrockneten Fleisches; dann ritten wir fort, nachdem ich den Indianern gesagt hatte, daß wir unsere Lassos holen würden und sie sich nicht an denselben vergreifen sollten. Sie ließen uns fortreiten, ohne uns irgend ein Hindernis in den Weg zu legen; doch sah man es ihnen an, daß sie sich darüber ärgerten, daß sie von uns gezwungen worden waren, Frieden zu halten. Wäre die Möglichkeit vorhanden gewesen, wieder mit ihnen zusammenzutreffen, so konnten wir sicher sein, daß sie sich nicht friedlich oder freundlich zu uns verhalten würden.

Eigentlich hätten wir nun den Cañon des Flujo blanco emporreiten müssen; wir mußten aber zu der Indianerfrau, um unser Versprechen zu erfüllen, und außerdem wollten wir doch auch unsere Lassos holen. Darum ritten wir den Fluß abwärts und schwenkten dann nach Ost, in welcher Richtung das Haus lag. Wir erreichten


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es nach zwei Stunden. Die Frau stand vor der Thür; sie hatte uns kommen sehen.

»Hatte meine rote Schwester heute in der Nacht Besuch?« fragte ich sie.

»Ja,« antwortete sie. »Das junge Bleichgesicht, welches ihr fangen wollt, war da, um mein Pferd zu holen.«

»Du hast es ihm gegeben?«

»Nein, er hat es sich selbst genommen. Ich wollte ihn daran hindern; da drohte er mir mit dem Tode.«

»Reiter er ungesattelt?«

»Nein, er hat mir auch das Lederzeug genommen.«

»Erhieltest du nicht einen Auftrag von ihm?«

»Ja. Ich soll der weißen Squaw sagen, daß er glücklich fortgekommen sei und daß sie ihm recht bald folgen soll. Dann ritt er fort nach Süden; ich habe ihm heimlich nachgeblickt und nachgehorcht.«

»Wir wissen, wohin er ist. Wir sind mit dir zufrieden und werden dir geben, was wir dir versprochen haben.«

Jeder von uns gab ihr etwas, und das war zusammen soviel, daß sie bei den Ihrigen, zu denen sie zurückkehren wollte, für wohlhabend gelten konnte. Dann ritten wir gegen Süden fort, um zu unsern Lassos zu kommen.

Als wir den Rand des Thalkessels erreichten, über welchen die Lassos in die Tiefe hinabhingen, standen die Yumas unten und sahen herauf. Sie hatten uns erwartet. Auf der obersten Plattform stand die Jüdin. Man hatte sie also nach unserm Fortgange frei gemacht. Die Rache, welche sie gegen uns empfand, hatte ihr einen schrecklichen Gedanken eingegeben. Sie hatte nämlich den Teil des Lassos, den sie erreichen konnte, abgeschnitten und


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hielt ihn uns unter triumphierenden Rufen entgegen, eine schreckliche Rache! Ich lachte. Emery legte die Flinte über den Rand des Abgrundes, und richtete den Lauf auf sie. Da rannte sie, vor Angst schreiend, davon und verschwand im Loche, welches den Zugang zum obersten Stockwerk bildete.

Wir zogen die Lassos empor, hatten aber nun nur noch zwei und einen halben, worüber wir freilich nicht in Verzweiflung gerieten. Darauf wurde der Weg fortgesetzt, oder vielmehr die Verfolgung Jonathan Meltons eigentlich erst begonnen.

Seit wir das Pueblo verlassen hatten, waren vier Stunden verflossen. Es war also anzunehmen, daß er einen Vorsprung von wenigstens acht Stunden vor uns hatte. Darum fragte ich den Apatschen:

»Wie weit ist es bis zu dem weißen Felsen?«

»Da wir gute Pferde haben, werden wir, wenn nichts dazwischen kommt, dreißig Stunden reiten müssen.«

»So rechne ich mehr als dreißig, denn das Pferd Meltons kann mit den unsrigen nicht fort. Täglich zwölf Stunden; also werden wir übermorgen ankommen. Meint Winnetou, daß der >starke Wind< uns freundlich empfangen wird?«

»Die Mogollons sind nicht gut auf die Apatschen zu sprechen; aber ich habe ihnen nie ein Leid gethan. Warum sollte er uns also feindlich empfangen?«

»Melton wird ihn gegen uns aufhetzen!«

»Ja, wenn er eher dort ankommt, als wir!«

»Das wird er. Er bietet sicher alles auf, um so schnell wie möglich hinzukommen.«

»Warum soll er sich so beeilen? Er wird überzeugt sein, daß Judith uns auf keinen Fall etwas gesagt hat.«

»Er kann aber auch eine Absicht haben, welche uns


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gefährlich zu werden vermag. Vielleicht nimmt er an, daß wir längere Zeit am Pueblo bleiben, und veranlaßt die Mogollons, mit ihm dorthin zu kommen, um uns anzugreifen.«

»Das ist allerdings möglich. In diesem Falle werden wir auf sie treffen und können sicher sein, daß sie uns als ihre Feinde betrachten werden.«

Die Unterhaltung wurde selbstverständlich so geführt, daß der alte Melton nichts von ihr hören konnte. Er würdigte uns keines Blickes. Es waren jedenfalls sehr düstere Gedanken, welche sein Gesicht so sehr verfinsterten. Von Zeit zu Zeit stieß er einen tiefen Seufzer aus oder ließ ein zorniges Stöhnen vernehmen. Der zerschlagene Teil seines Körpers, mit welchem er auf dem Pferde saß, mußte ihn außerordentlich schmerzen.

Jonathan Melton einzuholen, davon konnte keine Rede sein; das sahen wir bald ein. Vogels und Meltons Pferde waren keine Komantschenrosse, und der letztere gab sich außerdem alle Mühe, unsern Ritt zu verlangsamen. Er wäre geradezu ein Idiot gewesen, wenn er nicht erraten hätte, daß wir hinter seinem Sohne her waren; darum that er alles, was in seiner Lage möglich war, unsere Schnelligkeit zu beeinträchtigen.

Winnetou kannte die Gegend und war, wie so oft, ein höchst zuverlässiger Führer. Wir hatten die Fährte Jonathans vor uns. Er war noch nie hier gewesen und folgte also nur den Weisungen der Jüdin, traf aber die Richtung so genau, als ob er den Weg schon vielemal zurückgelegt hätte.

Der Weg führte immer bergan, bis wir gegen Abend die Hochebene erreichten, welche sich zwischen der Sierra Blanca und den Mogollonbergen ausdehnt. Da, wo wir uns befanden, war das Hochplateau unbewaldet. Es


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gab ein dünnes, niedriges Gras, welches an die Puna der peruanischen Alpen erinnerte. Ebenso erinnerte der Wind daran, der scharf und kalt aus Westen wehte und uns bald durchfröstelte. Man war einen so sehr frischen Luftzug gar nicht mehr gewöhnt.

Wäre ich mit Winnetou und Emery allein gewesen, so hätten wir gewiß nicht angehalten, sondern wären die ganze Nacht hindurchgeritten, um noch vor Melton das Ziel zu erreichen. Aber Vogel war kein ausdauernder Reiter, und der alte Melton drohte jeden Augenblick vom Pferde zu fallen. Halb mochte das Verstellung sein, halb war es aber auch die Folge der Schmerzen, welche er auszustehen hatte.

»Halten wir noch vor nachts an?« fragte Emery.

»Nicht gern,« antwortete Winnetou.

»Aber bis früh können wir unmöglich reiten. Da ist es doch besser, wir suchen uns jetzt einen zum Lagern geeigneten Ort, als wenn wir in der Dunkelheit da anhalten müssen, wo wir uns gerade befinden.«

»Mein Bruder hat recht. Ich kenne einen solchen Ort.«

»Er müßte uns aber auch Schutz vor dem Winde geben, der einem beinahe bis auf die Knochen geht!«

»Es ist eine Felswand, die den Wind von uns abhalten wird. In einer Viertelstunde sind wir dort.«

In der angegebenen Zeit sahen wir eine Erhöhung, einen kleinen Berg, aus der Hochebene aufsteigen, welcher sich nach Westen nur allmählich niedersenkte, im Osten aber sehr steil abfiel und da eine Art Coulisse bildete, in welche der kalte Wind nicht zu dringen vermochte. Da gab es auch mehrere Bäume und viel Gesträuch, also Holzmaterial zu einem Feuer, welches wir bei der Kälte recht wohl gebrauchen konnten.


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Wir stiegen ab und banden den alten Melton los. Er war so steif, daß er nicht stehen und nicht gehen konnte. Wir mußten ihn nach der Einbuchtung der Bergwand, welche ich Coulisse genannt habe, tragen und ihn dort niederlegen. Vielleicht war auch das Verstellung. Jedenfalls galt es, ein wachsames Auge auf ihn zu haben.

Nachdem wir die Pferde angehobbelt hatten, suchten wir trockenes Holz zusammen und brannten ein Feuer an, dem wir uns so nahe wie möglich legten. Dann wurde gegessen. Melton bekam auch seine Portion Fleisch, die ich klein schnitt und ihm stückweise in den Mund steckte; ich wollte ihm die Hände selbst zum Essen nicht gern freigeben.

»Wachen wir?« erkundigte sich Emery.

»Vielleicht wird es nicht nötig sein,« antwortete Winnetou. »Es giebt keine Feinde hier.«

»Gut, so schlafen wir alle. Wir können es brauchen.«

»Und doch ist es wohl besser, wenn wir wachen,« entgegnete ich. »Erstens müssen wir auf Melton achthaben, und zweitens traue ich seinem Sohne nicht. Er ist zwar kein Prairiemann, aber auch kein Dummkopf. Alle andern Ideen und Vermutungen in Ehren, aber er kann doch auch denken, daß wir erfahren haben, wohin er ist; er hat ähnliches schon an uns erlebt. In diesem Falle weiß er, daß wir ihm folgen. Wie nun, wenn er auf den Gedanken kommt, auf uns zu warten?«

»Hm!« brummte Emery. »So erfahren ist er wohl nicht!«

»Nicht erfahren, sondern klug.«

»Und nicht nur klug, sondern auch kühn würde das sein!«

»Er ist nicht feig, und daß er kühn werden kann,


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wo es sich um so viel handelt, das läßt sich doch wohl denken. Wenn ihr schlafen wollt, gut; aber dann wache ich die ganze Nacht.«

»Unsinn! Wenn du so besorgt bist, so wechseln wir natürlich ab.«

Es wurde gelost. Die erste Wache traf Winnetou, die zweite Emery, dann kam ich und hinter mir Vogel, jeder anderthalbe Stunde lang. Das gab sechs Stunden; dann wollten wir aufbrechen. Jetzt war es ungefähr neun Uhr abends.

Nach den Ereignissen der letzten Zeit und dem öfteren Wachen während der Nächte schlief ich so fest, daß Emery, als meine Zeit gekommen war, mich zweimal stoßen mußte, ehe ich aufwachte. Er legte sich nieder, und ich warf neues Holz ins Feuer, um die Schläfer zu erwärmen. Es war still rings umher; zu beiden Seiten unserer Schutzwand aber strich der Wind zuweilen pfeifend vorüber. Um mich wach zu halten, stand ich hin und wieder auf und spazierte eine Weile hin und her. So verging meine Wache und ich hatte Vogel zu wecken. Er that mir leid. Er war die Anstrengungen nicht gewöhnt; der Schlaf that ihm so wohl, und so ließ ich ihn liegen, um seine Wache für ihn zu thun.

Jetzt ging das gesammelte Holz auf die Neige; darum entfernte ich mich, um neues Ast- und Zweigwerk zu suchen. Da wir die nähere Umgebung des Lagerplatzes schon abgesucht hatten, mußte ich weitergehen und wegen der Dunkelheit war ich auf den Tastsinn angewiesen. So suchte ich, mit den Fingern hierhin und dorthin greifend, zwischen den Sträuchern herum und entfernte mich immer weiter vom Feuer. Dabei war es natürlich nicht möglich, jedes Geräusch zu vermeiden; die Aeste und Zweige, die ich fand, knickten und knackten


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und - - was war denn das für ein Ton, den ich jetzt hörte? Das war kein Knacken eines Astes; das klang ganz anders; war - - hm! Hatte ein Windstoß gepfiffen, geheult? Oder war es das Wiehern eines Pferdes gewesen?

Ich lauschte. Das Geräusch oder vielmehr der Ton wiederholte sich nicht; aber ich war aufmerksam geworden; ich hatte Verdacht geschöpft. Wenn ich mich nicht irrte, war das Pfeifen oder Wiehern da von rechts hergekommen. Ich legte das Reisigholz weg, mich selbst auf den Bauch und kroch in der angedeuteten Richtung vorwärts.

Da ich zwischen Büschen hindurch mußte, war die Sache außerordentlich schwierig. Wenn es sich um Feinde handelte, die zwischen den Sträuchern steckten, so waren sie bei der herrschenden Dunkelheit nur dann aufzufinden, wenn ich das Terrain in einem breiten Zickzack durchkroch, sodaß ich an jedem Busche wenigstens einmal vorüberkommen mußte. Dann dauerte es aber sicher stundenlang, ehe ich nur zur Hälfte fertig wurde. Da ich aber nicht anders verfahren konnte, so kroch ich in der angegebenen Weise weiter, erst rechts hin, bis ich am Felsen war, und dann wieder nach links, bis an das Ende des Gesträuches. So kam ich zwar langsam, aber doch immer vorwärts, bis - Ah, da erklang derselbe Ton, und nun hörte ich deutlich, daß es das Wiehern eines Pferdes war. Ich wußte nun auch die Stelle, an welcher ungefähr sich das Tier befinden mußte. Das war nicht draußen im Freien, sondern auch nahe an dem steilen Bergabhange, wohin der Wind nicht treffen konnte. Der Besitzer des Pferdes hatte ebenso wie wir vor demselben Schutz gesucht.

Wer aber konnte der Mann sein? War er schon


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vor uns dagewesen, so hatte er uns kommen sehen müssen. Warum war er da, falls er nichts Böses im Schilde führte, nicht zu uns gekommen oder, falls er uns zu fürchten hatte, nicht davongeritten? Warum war er geblieben? Oder er war später als wir gekommen. Da hatte er unser Feuer sehen müssen. Jedenfalls hatte er sich da an uns geschlichen, um zu sehen, wer wir waren. Daß er trotzdem in der Nähe geblieben war, ließ darauf schließen, daß - ja, worauf ließ das denn nun schließen? Es konnte sowohl auf friedliche, als auch auf feindliche Absichten deuten. Oder gar, wenn es sich nicht um einen einzelnen Menschen, sondern um mehrere handelte! Dann befanden wir uns freilich in Gefahr! Ich mußte unbedingt wissen, woran ich war, kroch wieder bis zur Bergwand hin und dann dieselbe entlang. Wenn mich der Schall nicht getäuscht hatte, konnte ich jetzt höchstens fünfzig Schritte von dem Pferde, welches gewiehert hatte, entfernt sein.

Ich schob mich auf den Händen und Knieen vorsichtig weiter, bis ich diese Entfernung ungefähr zurückgelegt hatte. Und richtig! Da, links von mir, stand ein Pferd, aber nicht eines allein; es waren zwei, drei, fünf und noch mehr. Sie waren angebunden. Die Reiter mußten in der Nähe sein. Ich kroch also weiter, zwischen der Felswand und den Pferden hin. Da sah ich zwischen zwei Sträuchern in dem hier hohen Grase gerade vor mir einen langen, dicken Gegenstand, ein rundes Bündel liegen. Was war das?

Es war ein Wagnis, dennoch kroch ich ganz hinan, bis ich es mit der Hand erreichen konnte. Ich berührte dieses Bündel mit den Fingerspitzen und tastete ganz leise an demselben hin. Es war ein Mensch, der sich in mehrere Decken gewickelt hatte. Wo aber befanden


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sich die andern? Denn da es so viele Pferde hier gab, mußten auch mehrere Reiter vorhanden sein.

Weil ich zwischen der Felswand und dem schlafenden Bündel nicht hindurch konnte, mußte ich einen Bogen machen und kam an eine kleine Lichtung, auf welcher die saßen, welche ich suchte. Ich hörte, daß sie sich halblaut unterhielten. Es war notwendig, etwas von dem, was sie sprachen, zu verstehen. Wenn mir das gelang, wußte ich, wen ich vor mir hatte. Ich wagte also, mich noch weiter zu nähern, und kam hinter einem Steinbrocken zu liegen, vor welchem zwei von ihnen saßen. Gleich daneben stand ein Busch. ich hatte also soviel Schutz, daß ich nicht befürchtete, bemerkt zu werden. Ich schob meinen Kopf zwischen Busch und Stein hinein und lauschte.

Ah, das war ja Yuma-Sprache! Sollten die Bewohner des Pueblo uns verfolgt haben? Welche Idee! Und doch lag das nicht außer dem Bereiche der Möglichkeit. Da sagte einer:

»Wir hätten nicht warten Sollen, sondern gleich über sie herfallen müssen!«

Obgleich er nicht laut sprach, erkannte ich doch die Stimme des Indianers, in dessen Hause wir vorgestern abend überfallen worden waren. Meine Vermutung war also richtig. Ich hatte die Puebloindianer vor mir.

»Das wäre falsch gewesen,« antwortete sein Nachbar. »Unsere Kugeln konnten den gefangenen Melton treffen, gerade den, den wir befreien wollen.«

»Nein, den hätten wir nicht treffen können, denn es brannte das Feuer. Da sieht man doch, wohin man schießt.«

»Aber die Wache, bedenke die Wache! Wenn es nicht Old Shatterhand gewesen wäre! Ihn und Winnetou


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haben wir zu fürchten, den dritten weniger und das junge Bleichgesicht, welches bei uns gefangen war, gar nicht. Old Shatterhand hätte uns gewiß kommen hören!«

»Er hat dich doch auch nicht gehört, obgleich du so nahe am Feuer warst!«

»Da wachte er noch nicht; er wurde erst geweckt, gerade als ich kam. Er saß eine kleine Weile; dann stand er auf und kam auf mich zu. Ich mußte schnell fliehen, sonst hätte er mich gesehen. Glücklicherweise hat er mich nicht gehört. Aber wenn mehrere kämen, die würde er ganz gewiß hören. Wir müssen warten, bis der nächste wacht.«

Da fiel ein dritter ein:

»Wir thun, was die weiße Squaw gesagt hat: Wir warten mit dem Angriffe, bis der Tag graut. Da sehen wir, wohin wir schießen. Es sind nur vier Personen, denen wir unsere Kugeln zu geben haben; wenn wir sie sehen können, sind wir in einem Augenblicke mit ihnen fertig. Greifen wir aber jetzt an, so trügt die Dunkelheit und das Flackern des Feuers; wir treffen nicht sicher, und wenn wir sie nicht töten, sondern nur verwunden, so sind wir ihnen wohl gar umsonst nachgeritten.«

»Ihr fürchtet euch viel zu sehr vor ihnen!« meinte unser verräterischer Wirt.

»Es ist nicht Furcht, sondern Vorsicht. Denke an die Silberbüchse des Apatschen, und dann gar an Old Shatterhands Gewehre, die wir schon damals zu unserm Schaden kennen gelernt haben. Nein, wir greifen erst beim Morgengrauen an. Die weiße Squaw will die Feinde stürzen sehen; sie wünscht das so, und den Gefallen können wir ihr thun, denn sie ist die Squaw unsers Häuptlings gewesen.«


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»Da hast du recht!« hörte ich da die Stimme der weißen Squaw. Sie hatte sich aus ihren Decken geschält, war aufgestanden und herangetreten. »Ich will dabei sein; ich will es sehen, wenn die Hunde, die Schurken von euern Kugeln getroffen werden. Deshalb habe ich im Pueblo alles liegen lassen und bin so schnell mit euch geritten, um sie einzuholen. Ihr werdet großen Lohn bekommen, wenn ihr mir gehorcht. Wenn wir den Vater meines Mannes befreit und seine Widersacher getötet haben, gehören euch ihre Skalpe, wohl die wertvollsten, die es giebt. Auch ihre Gewehre und alles, was sie bei sich tragen, sollt ihr haben, und dann reiten wir gleich weiter nach dem »weißen Felsen« zu meinem Manne, der euch soviel geben wird, wie ihr noch nie besessen habt. Seid ihr einverstanden?«

»Ja, ja, ja, ja,« ertönte es rundum im Kreise.

»Wie weit ist es bis zum Feuer, an dem die Schufte sitzen?«

»Vielleicht dreihundert Schritte,« antwortete der, welcher den Kundschafter gemacht hatte.

»Ich werde mich einmal hinschleichen; ich muß sie sehen.«

»Das ist gefährlich!«

»Für mich nicht. Ich weiß, wie man es zu machen hat, um nicht gesehen und gehört zu werden; ich habe es von meinem Manne, euerm Häuptling, gelernt.«

»Aber wenn Old Shatterhand noch wacht, wird er dich hören!«

»Nein; er hat dich auch nicht gehört.«

»So erlaube wenigstens, daß ich mit dir gehe!«

»Das ist nicht nötig; ich brauche dich nicht!«

»Und ich kann dich nicht allein gehen lassen; ich


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gehe unbedingt mit, denn es handelt sich nicht nur um deine, sondern auch um unsere Sicherheit.«

»So komm!«

Ich wußte nun mehr als notwendig war, und zog mich schleunigst zurück. Das war ja toll! Das Weib war uns mit den Roten nachgeeilt, um uns sterben zu sehen! Um solche Parforceritte zu machen, mußte sie als die Frau des verstorbenen Häuptlings viel zu Pferde gewesen sein. Welch ein Haß aber gehörte dazu, welch ein glühender, alle Rücksichten umstoßender Haß! Freilich, wenn wir vier hier erschossen wurden, so hatte ihr Jonathan auf einmal freie Hand! Es war ein Glück, daß unser Feuerungsmaterial auf die Neige gegangen war. Hätte es noch weiter gelangt, so wäre ich sitzen geblieben, ohne zu ahnen, wie nahe sich der Tod bei uns befand.

Ich schob mich seitwärts in die Büsche, erhob mich, um schneller laufen zu können, und drang vorwärts, um den beiden voranzukommen. Als ich annehmen konnte, daß mir dies gelungen sei, blieb ich stehen und wartete. Ich befand mich an einem Punkte, an welchem sie vorüberkommen mußten.

Da hörte ich das Rauschen von Zweigen; sie kamen. Ich bückte mich nieder und ließ sie vorbei, um ihnen dann zu folgen. Sie waren höchstens dreißig Schritte von unserem Feuer entfernt, welches fast ganz niedergebrannt war. Da teilten sie sich, um im leisen Vorwärtsdringen einander nicht hinderlich zu sein. Er kroch links vor mir her, und sie hielt sich mehr nach der rechten Seite. Erst mußte ich ihn nehmen, dann konnte ich sie fassen.

Ich huschte ihm nach, doch von der Seite, kam ihm schnell zuvor, aber nicht ohne alles Geräusch. Er hielt


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an und lauschte; das war gerade die für meine Absicht erwünschte Körperstellung. Ein Sprung, ich hatte ihn am Halse und schlug ihm den Kolben meines Revolvers zwei-, dreimal gegen die Schläfe; dann ließ ich ihn fallen.

Bis er wieder zur Besinnung kam, konnte er nicht schaden.

Nun ging es hinter der »Dame« her. Sie mochte denken, daß sie sich nicht allzu sehr in acht zu nehmen brauche, denn jenseits unserer Bergwand heulte jetzt der Wind mit doppelter Stärke; da waren ihre Schritte gewiß nicht zu hören. Dennoch mußte ich mir sagen, daß sie ihre Sache gar nicht übel machte. Sie benutzte die Schatten, welche die Büsche warfen, so gewandt, daß sie von mir, wenn ich mich noch am Feuer befunden hätte, gewiß nicht bemerkt worden wäre.

Jetzt war sie so nahe herzugelangt, daß sie die Schläfer sehen konnte. Sie kniete im Grase und lugte zwischen den Büschen hindurch. Leise schob ich mich hinzu, bis ich nur um einen Fuß breit seitwärts hinter ihr kniete. Sie reckte den Hals und schob den Kopf weiter und weiter vor; sie vermißte mich. Da sagte ich:

»Dort bin ich nicht, Sennora. Sie müssen hierher blicken!«

Sie drehte den Kopf. Nie habe ich aus einem Gesichte den Schreck so blicken sehen, wie aus dem ihrigen. Die Züge schienen versteint zu sein; sie war keines Lautes fähig. Ich hatte den Revolver eingesteckt, zog an dessen Stelle das Messer und drohte ihr:

»Sprechen Sie ein lautes Wort, so fährt Ihnen die Klinge mitten durch das Herz! Sie haben sich herbeigeschlichen, um die Hunde, die Schurken zu sehen. Wohlan, Sie sollen sie ganz deutlich zu sehen bekommen. Stehen Sie auf und folgen Sie mir!«


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Ich erhob mich; sie blieb knieen und starrte mich noch immer an.

»Stehen Sie auf!« wiederholte ich.

»Sie - Sie - Sie - sind -!« stammelte sie endlich.

»Hier, ja, das sehen Sie. Aber kommen Sie! Vorwärts!«

»Was soll - soll - soll -?«

»Was Sie sollen? Sie sind gekommen, uns sterben zu sehen, wenn Ihre Yumas auf uns schießen. Ich will Ihnen das so bequem wie möglich machen. Sie sollen bei uns, neben uns sitzen, wenn wir die Kugeln bekommen. Also vorwärts, hin zum Feuer!«

Ich hatte laut gesprochen. Winnetou wachte davon auf und sprang empor. Ich faßte sie hinten beim Kragen ihrer Bluse und schob sie vorwärts.

»Uff!« rief der Apatsche erstaunt. »Da ist die Squaw.«

»Mit ihren Yumas, welche uns erschießen sollen!« erläuterte ich, indem ich die Jüdin auf den Boden niederdrückte, sodaß sie neben das Feuer zu sitzen kam.

Emery erwachte, Vogel auch. Der alte Melton hatte wohl gar nicht geschlafen. Sein Blick ruhte erschrocken auf seiner verunglückten Retterin, deren Gesicht noch immer nicht geistreich genannt werden konnte.

»Wer ist denn das?« fragte der Englishman, indem er sich die Augen rieb. »Das ist ja unsere holde Judith von neuem! Kann die sich denn noch immer nicht von uns trennen?«

Ich erklärte in wenigen kurzen Worten die Situation, holte das vorher gesammelte Holz herbei, um ein helleres Feuer machen zu können, und schleppte dann auch den besinnungslosen Yuma herbei.


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»Ist's nicht besser, wenn wir es auslöschen?« fragte Emery.

»Jetzt noch nicht,« antwortete ich.

»Aber wenn sie kommen, können sie ganz trefflich auf uns zielen.«

»Die kommen jetzt noch nicht. Es fragt sich nun, was wir thun.«

»Ja, was? Besonders mit dem Frauenzimmer, mit der wilden, blutgierigen Katze. Man sollte ihr die Krallen verschneiden.«

»Was sagt mein Bruder dazu?« fragte ich den Apatschen.

»Nichts,« antwortete er. »Winnetou, weiß wirklich nicht, was er über eine solche Squaw sagen soll. Man sollte sie töten, wie man eine Klapperschlange vernichtet!«

»Das nicht!« sagte ich. »Sie ist trotz alledem ein Weib. Wir lassen sie laufen. Wir wissen ja nun, woran wir sind. Wollen wir aufbrechen?«

»Ich verstehe dich nicht. Was soll mit den Yumas werden? Sollen wir ihnen keine Lehre geben?!«

»Bei ihnen nützt keine Lehre mehr. Unsere Zeit ist um. Wir wollen fort. Bindet Melton auf sein Pferd.«

»Und die Donna hier, welche sich eine >Dame< nennt? Es ist unglaublich, daß sie trotz ihres -«

»Warte es ab! Schafft nur erst Melton in den Sattel, und bringt mir dann mein Pferd.«

»Ah, hm!«

Daß ich bei Judith stehen blieb, beruhigte ihn; er schloß daraus, daß sie doch nicht ganz ohne Strafe wegkommen werde. Ich nahm den halben Lasso, dessen andere Hälfte sie abgeschnitten hatte, und band ihr mit demselben die Arme fest an den Leib, hing meine Gewehre über und stieg dann in den Sattel.


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»So, jetzt gebt mir einmal die gute Freundin herauf! Da sie so gern bei uns ist, will ich sie einmal in die Arme nehmen.«

Emery und Winnetou faßten sie an, um sie zu heben. Da begann sie aus Leibeskräften zu schreien. Ich nahm sie quer über das Pferd; die anderen sprangen in die Sättel; Winnetou ergriff den Zügel von Meltons Pferd - es ging fort, an der Felswand hin und dann auf die freie Ebene hinaus, über welche der Sturmwind heulte. Der Himmel hing voller Wolken; es war stockdunkle Nacht, doch Winnetou machte den Führer; auf ihn konnten wir uns verlassen.

Judith konnte die Arme nicht bewegen; sie hatte sich mit den Füßen gesträubt; nun aber lag sie bewegungslos wie ein Warenbündel vor mir; die Angst, was wir mit ihr beginnen würden, machte sie still. Emery und Vogel wußten gewiß nicht, warum ich sie mitgenommen hatte. Der Apatsche aber, der mich stets verstand, zeigte auch jetzt, wie er sich in meine Absichten zu denken vermochte.

»Einen Abweg?« fragte er mich mit zwei kurzen Worten. »Bis sie irre ist?«

»Ja, und den Berg nicht mehr sehen kann.«

»Howgh!«

Mit diesem Indianerausdrucke gab er zu verstehen, daß er mit mir einverstanden sei, und ich bemerkte trotz der Finsternis, daß er aus der Richtung wich, welche wir eingehalten hatten, seit das Thal des Flujo blanco hinter uns lag.

Es mochte gegen vier Uhr morgens sein und blieb heute länger dunkel, als die Jahreszeit eigentlich mit sich brachte. Als der Tag graute, hatten wir gewiß weit über eine deutsche Meile zurückgelegt. Wir befanden


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uns noch auf der Hochebene; links von uns, also südwärts, gab es Wald, welcher sich weit in die Ferne zog und sich als schmaler Streifen am westlichen Horizont verlor. Wir ritten gegen Süden, bis wir den Wald erreichten, und hielten da an. Ich ließ die Jüdin niedergleiten und stieg dann ab, um ihr den halben Lasso von dem Oberkörper zu wickeln. Sie hielt den Blick gesenkt und sagte nichts.

»Wissen Sie, wo Sie sich befinden, Sennora?« fragte ich sie.

Sie antwortete nicht.

»Sie haben in ganz fürchterlicher Rache unsern Lasso zerschnitten, aber doch fühlen müssen, daß auch ein halber seine guten Dienste leistet. Wir wissen, wie gerne Sie bei uns sind, müssen aber leider nun auf das Glück, welches Ihre Gegenwart uns gewährt, verzichten. Leben Sie wohl!«

Ich stieg auf, und wir ritten weiter. Als wir uns nach mehreren Minuten nach ihr umsahen, stand sie noch auf derselben Stelle.

»Sie weiß nicht, wo sie sich befindet,« sagte Emery.

»Das eben habe ich beabsichtigt,« antwortete ich.

»Wird sie sich zurechtfinden?«

»Vielleicht; aber wenn sie klug ist, bleibt sie da, wo sie ist. Ihre Yumas werden sie suchen, natürlich zunächst in der Richtung nach den Mogollonbergen. Wenn sie dann bemerken, daß wir nicht dorthin geritten sind, kehren sie um und treffen früher oder später mit ihr zusammen. Die Angst, in der Wildnis allein zu sein und nicht gefunden zu werden, ist eine Strafe für sie, wenn auch keine so große, wie sie verdient hat.«

»Aber wenn sie wirklich nicht gefunden wird und elend zu Grunde gehen muß!«


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»Daran ist nicht zu denken. Durch das Suchen nach ihr wird für sie und ihre Roten höchstens ein Tag verloren gehen. Vielleicht kommen sie dann von dem Gedanken ab, uns weiter nachzureiten.«

Es zeigte sich später, daß ich recht gehabt hatte; solches Unkraut geht nicht zu Grunde.

Wir ritten immer in der Nähe des Waldes hin, bis er sich im Westen quer vor unsere Richtung legte. Wir mußte also in ihn eindringen, doch hinderte er uns nicht, da die Bäume sehr licht standen. Um die Mittagszeit hatten wir ihn hinter uns, und vor uns lag wieder eine grasige Ebene, aus welcher sich hier und da ein Hügel oder kleiner Berg erhob. Wir machten eine Stunde Halt, um die Pferde verschnaufen zu lassen, und wollten dann wieder aufbrechen, als vor uns mehrere Reiter auftauchten. Rasch zogen wir uns wieder unter die Bäume zurück, um nicht gesehen zu werden.

Als sie näher kamen, sahen wir, daß es Indianer waren; sie waren außerordentlich gut beritten, und hatten weder Gewehre noch Lanzen oder Pfeile und Bogen bei sich.

»Kundschafter!« meinte Winnetou und ich stimmte ihm bei.

Kundschafter müssen gute Pferde haben, um sich schnell bewegen zu können. Bei den Zwecken, welche sie verfolgen, sind ihnen die genannten Waffen hinderlich, weshalb sie gewöhnlich daheim gelassen werden.

»Kundschaftet?« fragte Emery. »Die giebt es doch nur dann, wenn Feindseligkeiten ausgebrochen sind! Hat man denn gehört, daß einer der hiesigen Stämme das Kriegsbeil ausgegraben hat?«

»Nein,« antwortete Winnetou. »Aber hier stoßen die Gebiete mehrerer Stämme zusammen; es giebt immer


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Streitigkeiten, und da kann es leicht geschehen, daß ein Stamm zum Angriffe übergeht.«

»Die vier Reiter tragen keine Farben im Gesicht,« sagte ich; »man kann also nicht sehen, welchem Volke sie angehören.«

»Mein Bruder mag sie näher kommen lassen. Es scheinen drei junge Krieger und ein alter zu sein. Vielleicht habe ich den letzteren einmal gesehen.«

Sie hielten zwar nicht gerade auf uns zu, kamen uns aber doch so nahe, daß wir schließlich ihre Gesichter zu unterscheiden vermochten; ja, es waren drei junge und ein älterer Indianer.

»Uff!« rief da der Apatsche. »Das ist ja mein Bruder >Schneller Pfeil<, der Häuptling der Nijoras! Der darf uns sehen!«

Er ritt unter den Bäumen hervor und auf die vier zu. Wir folgten ihm. Als sie uns erblickten, parierten sie ihre Pferde und griffen nach den Messern; aber schon im nächsten Augenblicke rief der ältere:

»Uff! Mein Freund und Bruder Winnetou! Der große Häuptling der Apatschen erscheint mir wie ein Sonnenstrahl dem Kranken, welcher sich nach Wärme sehnt.«

»Und der Anblick des schnellen Pfeiles ist mir wie eine Quelle für den Durstigen. Mein Bruder hat sein Gewehr daheim gelassen. Sollte er sich auf dem Pfade der Kundschafter befinden?«

»Ja. Der schnelle Pfeil ist mit den drei Kriegern ausgeritten, um zu erfahren, nach welcher Richtung die Hunde der Mogollon bellen werden.«

»Weshalb ist denn Feindschaft zwischen diesen und den tapferen Nijoras?«

»Drei unserer Krieger kamen am Flusse herauf durch


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das Gebiet der Schakale; sie wurden getötet. Ich sandte Boten, welche fragen mußten, warum man sie ermordet habe; auch diese kehrten nicht zurück. Nun schickte ich Kundschafter aus und erfuhr durch sie, daß die Mogollon ein großes Sterben unter ihren Pferden hatten und nun ausziehen wollen, um die unseren zu holen. Darum bin ich selbst ausgezogen, um meine eigenen Augen zu fragen. Jetzt kehre ich zurück.«

»Welche Kunde wird mein Bruder seinen Kriegern bringen?«

Schneller Pfeil öffnete schon den Mund, um Auskunft zu erteilen, drängte sie aber wieder zurück, musterte uns andern mit scharfem Blicke und sagte dann:

»Der Häuptling der Apatschen hat fremde Bleichgesichter und sogar einen gefesselten Gefangenen bei sich. Wie kann ich da auf die Frage antworten, welche er ausgesprochen hat!«

Da deutete Winnetou zunächst auf Vogel und antwortete:

»Dieser junge Mann ist zwar kein Krieger und hat nie mit einem Feinde gekämpft; aber er ist ein Herr über alle Töne, welche das Herz erfreuen. Wenn er seine Saiten spielt, sind die Ohren aller, die ihn hören, voller Entzücken. Winnetou hat ihm seine Freundschaft und seinen Schutz geschenkt.«

Auf Emery deutend, fuhr er fort:

»Dieser weiße Mann ist ein großer, starker und tapfrer Krieger. Seine steinernen Zelte stehen jenseits des Meeres. Er besitzt viele Herden und große Reichtümer. Dennoch ist er ausgezogen, um große Thaten zu verrichten. Winnetou ist sein Freund; er hat ihn schon hier in den Bergen und auf der Savanne gekannt und ihn vor einigen Monden in einem fernen Lande


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jenseits zweier großer Wasser wiedergetroffen und ihn da als Held im Kampfe gesehen.«

»Und dieser da?« fragte der schnelle Pfeil, indem er mit dem Finger auf mich zeigte.

ich glaubte, Winnetou werde nun ein großes Lob über mich und von mir loslassen, aber er antwortete nur:

»Das ist mein Bruder Old Shatterhand.«

Der Blick des Nijora zuckte leuchtend auf; er hatte, geradeso wie wir, bis jetzt auf seinem Pferde gesessen; nun aber schwang er sich rasch aus dem Sattel, stieß die Klinge seines Messers in die Erde, setzte sich daneben hin und sagte:

»Der gute Manitou hat jetzt den größten meiner Wünsche erfüllt; ich sehe Old Shatterhand. Meine berühmten Brüder mögen von ihren Pferden steigen und sich zu mir setzen. Ihren Gefangenen können sie meinen jungen Kriegern anvertrauen, die ihn gut bewachen werden.«

Wir stiegen ab. Wir hatten eigentlich keine Zeit zu verlieren, und ganz dasselbe war wohl auch bei ihm der Fall; aber es wäre eine große Beleidigung für ihn gewesen, wenn wir seinen Wunsch nicht erfüllt hätten, und wir konnten auch nicht wissen, welchen Nutzen die neue Bekanntschaft uns zu bringen vermochte. Darum setzten wir uns zu ihm nieder, und zwar so, daß wir einen Kreis bildeten, in dessen Mittelpunkte das Messer steckte. Die drei jungen Nijoras banden Melton vom Pferde, fesselten ihm die Füße wieder und legten ihn zu sich ins Gras, auf einen Wink des Apatschen so weit von uns entfernt, daß er nicht verstehen konnte, was wir sprachen.

Nun nahm der schnelle Pfeil sein Kalumet von dem Riemen, an welchem es hing, stopfte den Kopf und


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brannte den Tabak mit einem Zündholze an, welches ich ihm reichte. Die allbekannte Zeremonie des Rauchens der Friedenspfeife kann ich übergehen. Als wir den letzten Zug aus derselben gethan hatten, waren wir Freunde, und nun erst beantwortete der Häuptling die Frage, welche Winnetou vorhin ausgesprochen hatte:

»Die Hunde der Mogollon werden in vier Tagen aus ihren Löchern gehen, um gegen meinen Stamm zu ziehen.«

»Woher kennt mein Bruder die genaue Zeit?« erkundigte sich Winnetou.

»Ich sah, daß sie ihre Medizinen ausbesserten. Von da an vergehen meist noch vier Tage, ehe aufgebrochen wird.«

»Wird mein Bruder sie bei sich empfangen, oder ihnen entgegenziehen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es wird im Rate der alten Krieger bestimmt werden. Mein Bruder Winnetou wird mit mir gehen, um zu den Alten zu sprechen, und sie werden stolz sein, auch den klugen und tapfern Shatterhand bei sich zu sehen.«

»Wir würden gern und augenblicklich mit dir gehen,« antwortete ich; »aber wir müssen zu den Mogollon reiten.«

»Zu ihnen, welche jetzt die Feinde meines Stammes sind?« fragte er erstaunt.

Ich erklärte ihm in kurzen Worten den Sachverhalt. Er blickte sinnend vor sich nieder und sagte dann:

»Meine Brüder können trotzdem mit mir reiten. Wenn das böse Bleichgesicht, welches Melton heißt, sich in den Schutz der Mogollons begiebt, wird es bei ihnen bleiben.«

»Wenn es aber den verlangten Schutz nicht zugesagt bekommt?«


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»So begiebt er sich nach dem weißen Felsen, um dort auf seine Squaw zu warten.«

»Die ist schon unterwegs; sie kann schon morgen zu ihm stoßen. Du siehst, daß wir keine Zeit zu verlieren haben.«

»Ich sehe es ein. Mein Bruder Shatterhand sagte, daß Melton das Pueblo auf einem Pferde verlassen habe?«

»Ja.«

»Nicht in einem Wagen?«

»Nein.«

»Ist eine weiße Squaw bei ihm?«

»Jetzt noch nicht.«

»Einer, welcher die vier Pferde lenkte?«

»Nein.«

»Und ein weißer Jäger, welcher den Führer machte?«

»Auch nicht. Warum spricht der schnelle Pfeil diese Fragen aus?«

»Weil ich gesehen habe, daß die Mogollon einen Wagen überfielen. Sie schossen den Kutscher tot und nahmen einen weißen Mann und eine weiße Squaw, welche im Wagen saßen, und den Führer, der nebenher ritt, gefangen.«

»Warum mögen sie den Wagen überfallen haben?«

»Weil ihre Kriegsbeile gegen uns ausgegraben sind. Wenn die Hunde sich auf dem Kriegspfade gegen rote Männer befinden, betrachten sie stets auch die Bleichgesichter als ihre Feinde.«

»Melton kann unmöglich dabei gewesen sein. Aber nun dürfen wir erst recht nicht säumen, denn das Leben der Ueberfallenen hängt an einem Faden. Wir müssen von dem tapfern Häuptling der Nijoras scheiden. Vielleicht erblickt er uns eher wieder, als wir jetzt denken.«


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»Hat Old Shatterhand einen Grund, diese Hoffnung auszusprechen?«

»Ja. Es ist möglich, daß wir deiner Hilfe bedürfen, um Melton ausgeliefert zu erhalten. Dürfen wir in diesem Falle auf dich rechnen?«

»Ja. Ihr habt die Pfeife der Freundschaft mit mir geraucht, und eure Feinde sind also auch die meinigen. Wenn ihr meiner bedürft, so kommt zu mir. Wenn Winnetou und Old Shatterhand uns ihre Arme und Gedanken leihen, so ist es besser, als wenn viele Krieger uns zu Hilfe kämen. Ihr werdet uns willkommen sein und großen Jubel in unserem Lager verursachen.«

»Ahnen die Mogollons, daß ihr etwas von ihren feindseligen Absichten wißt?«

»Sie wissen, daß wir ihre Absichten kennen, aber sie glauben, wir wissen nicht, daß sie so bald gegen uns aufbrechen werden.«

»Das ist gut für euch, denn um so größer wird der Schreck sein, in den ihr sie versetzen werdet, wenn sie euch gerüstet sehen. Welcher Stamm ist stärker, sie oder ihr?«

»Die Zahl der Krieger ist fast dieselbe.«

»Ich hoffe, dir von Nutzen sein zu können. Möchtest du mir einen Gefallen erweisen, den ich dir als großen Dienst anrechnen würde?«

»Sage, was es ist! Ich thue es, wenn es mir möglich ist.«

»Es ist dir möglich. Ja, meine Bitte ist ein Beweis meiner Freundschaft für dich und des großen Vertrauens, welches ich in dich setze. Wir wissen nicht, was wir in den nächsten Tagen erleben werden. Wahrscheinlich sind wir gezwungen, klug und kühn zugleich zu


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sein. Müßten wir dabei unsern Gefangenen mit uns schleppen, so könnten wir auf kein Gelingen rechnen.«

»Wollt ihr ihn mir anvertrauen? Soll ich ihn für euch aufbewahren?«

»Ich möchte dich darum bitten.«

»Deine Bitte ist gewährt. Sie macht mich stolz, denn sie beweist mir, daß du mich für deinen wahren Freund hältst. Der Gefangene befindet sich bei mir ebenso sicher, als ob du ihn mit eigenen Augen bewachtest.«

»Ich danke dir. Und sieh den jungen Mann, welcher da neben mir sitzt! Der Häuptling der Apatschen hat bereits gesagt, daß er kein Krieger ist. Der junge Weiße ist den Gefahren, denen wir wahrscheinlich entgegengehen, nicht gewachsen. Darf er mit dir reiten? Willst du ihn in deinen Schutz nehmen? Wir werden ihn dann bei dir abholen.«

»Er soll unter meinem Zelte leben wie mein eigener Sohn, zumal du sagst, daß du ihn abholen willst. Das giebt mir die Gewißheit, daß ich euch bald wiedersehen werde. Haben meine Brüder noch andere Wünsche?«

»Nein. Für deine Güte will ich dir nur noch sagen, daß wir von jetzt an an dich und deinen Vorteil denken werden. Wir beschleichen die Mogollons und werden alles thun, was zu deinem Nutzen ist.«

»Wenn ihr das thut, so ist es ganz so, als ob ich zehnmal zehn Kundschafter ausgesandt hätte, welche für uns sehen, denken und handeln sollen. Ich preise den guten Manitou, daß er mich hier mit euch zusammengeführt hat. Er wird es lenken, daß meine Augen sich recht bald wieder an euern Angesichtern laben. Howgh!«

Der alte Melton machte ein höchst verwundertes Gesicht, als er erfuhr, daß ihn die Nijoras mit sich


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nehmen würden, doch schien der Wechsel ihm nicht ganz unangenehm zu sein. Von uns war für ihn keine Gnade zu erwarten, das wußte er ganz genau; den Nijoras aber hatte er nichts gethan; vielleicht bewachten sie ihn nicht allzu streng; vielleicht war es möglich, sie zu überreden, daß er unschuldig sei; vielleicht auch fand sich einer unter ihnen, der sich durch irgend welche Versprechen verleiten ließ, ihm zur Flucht zu verhelfen; auf keinen Fall aber war von dem Tausche eine Verschlimmerung seiner Lage zu erwarten. Darum zeigte er ein leidlich zufriedenes Gesicht, als er wieder auf sein Pferd gebunden wurde. Wir aber konnten überzeugt sein, daß die Nijoras das Vertrauen, welches wir in sie setzten, vollständig rechtfertigen würden. Es wäre eine große Schande für sie gewesen, wenn auf unsere Frage nach dem Gefangenen sie uns denselben nicht hätten zurückliefern können. Er war bei ihnen besser aufgehoben als bei uns, obgleich er weit lieber mit ihnen ging, als unser junger Freund und Violinvirtuos.

Als dieser hörte, daß er sich hier von uns trennen sollte, wandte er seine ganze Beredsamkeit auf, uns von diesem Gedanken abzubringen. Ich machte ihn vergeblich auf die Gefahren, welche uns erwarteten, aufmerksam; ja, er nahm es übel, daß wir glaubten, er könne ihnen nicht gewachsen sein. Er drohte, daß er uns gegen unsern Willen nachreiten werde. Endlich kam ich auf einen guten Gedanken. Ich sagte ihm, daß unbedingt einer von uns bei dem alten Melton bleiben müsse, um denselben scharf zu bewachen, da den Nijoras doch nicht ganz zu trauen sei. Das beruhigte ihn. Er fühlte sich als Inhaber eines Ehrenpostens und willigte nun ein, sich für kurze Zeit von uns zu trennen. Der Abschied war zwar kurz, aber äußerst herzlich; die Freunde verschwanden


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mit Melton im Walde, und wir drei, Winnetou, Emery und ich, ritten auf die Ebene hinaus, über welche die Nijoras gekommen waren.

Jetzt hatten wir niemand mehr bei uns, auf den wir uns nicht verlassen konnten und dessen Pferd nichts taugte. Wir flogen wie ein Wetter über den grünen Plan dahin und konnten erwarten, das Ziel mit dem kommenden Morgen zu erreichen.

Der geradeste Weg war der, den die Nijoras geritten waren; wir brauchten nur auf ihrer Spur zu bleiben, die allerdings später verschwand, da sie sich in der Nähe der Feinde Mühe gegeben hatten, keine Fährte zu verursachen. Als es Abend werden wollte, konnten wir auf eine tüchtige Leistung zurückblicken, denn wir hatten seit unserer Trennung von dem schnellen Pfeile wenigstens sieben deutsche Meilen hinter uns und sahen uns nach einem passenden Lagerplatze um. Links von uns lag eine Anhöhe, von welcher aus eine Reihe von Büschen ins Weite lief; das ließ darauf schließen, daß es dort ein fließendes Wasser gab. Wir ritten also auf diese Höhe zu, bogen um dieselbe und sahen ein Gebüsch vor uns, aus welchem uns - eine drohende Stimme entgegenschallte:

»Halt, Mesch'schurs! Wer einen Schritt weiter reitet, bekommt eine Kugel!«

Da war nicht zu spaßen. Wir sahen den Sprecher nicht; er steckte in dem Gesträuch. Vielleicht waren es gar mehrere. Wir hielten also an. Der Sprache nach war es ein Weißer, und zwar nicht spanischer Abkunft.

»Wo steckt denn eigentlich der gestrenge Herr und Besitzer dieses Platzes?« fragte ich.

»Hier hinter dem Wildkirschenstrauch, aus welchem der Lauf meiner Büchse ragt,« antwortete es.


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»Warum bedroht Ihr uns denn mit einer Kugel, Sir?«

»Weil ich euch mir so lange vom Leibe halten will, bis ich weiß, ob ihr Schufte oder Gentlemen seid.«

»Das letztere, das letztere sind wir, werter Master.«

»Das kann jeder Halunke sagen; weist euch gehörig aus!«

»Womit? Meint Ihr, daß man hier mit Tauf- und Impfscheinen oder gar mit Hundesteuermarken umherreitet?«

»Daran denkt kein Mensch. Sagt nur eure Namen! Wer ist denn der rote Master, den ihr bei euch habt?«

»Winnetou, der Häuptling der Apatschen. Mich pflegt man Old Shatterhand zu nennen.«

»Alle Wetter! Winnetou und Old Shatterhand! Welch ein Zusammentreffen! Gleich komme ich, gleich!«

Der Wildkirschenstrauch bewegte sich, und es trat ein sehr langer und dürrer Mensch heraus, dessen Anzug ihm in Fetzen um die Glieder hing. Sein Kopf war unbedeckt, und in der Hand hielt er einen starken Knüttel. Hätte sich der Mann auf einer deutschen Landstraße sehen lassen, er wäre auf der Stelle als Stromer und Vagabund arretiert worden.

Er machte die Bewegung des Hutabnehmens, verbeugte sich und rief:

»Große Ehre, außerordentliche Ehre, Mesch'schurs! Kommt gerade zur rechten Zeit! Hätte wirklich nicht gewußt, wo ich euch suchen soll.«

»Hättet Ihr uns gesucht?« fragte ich nicht ohne Erstaunen.

»Bis jetzt eigentlich noch nicht, stand aber im Begriffe, es zu thun.«

»Unerklärlich. Seid Ihr hier allein?«


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»Yes, Master!«

»Wie hat man Euch zu nennen?«

»Das steht in Euerm Belieben. Man ruft mich nämlich auf verschiedene Weise. Wenn Ihr wirklich Old Shatterhand seid, und Ihr seht mir ganz so aus, so werdet Ihr wohl von Will Dunker gehört haben?«

»Dem berühmten Scout des Generales Grant?«

»Yes, Sir. Man nennt mich auch den langen Dunker oder den langen Will.«

Wieder machte er mit der rechten Hand die Bewegung des Hutabnehmens.

»Und Ihr wollt mich suchen?«

»Yes, Euch, Winnetou und einen jungen Musikus, welcher Vogel heißt.«

»Das ist ja ganz erstaunlich! Hält man so etwas für möglich?«

Diese Frage richtete ich an Winnetou und Emery; Dunker antwortete:

»Ihr hört ja, daß es möglich ist! Uebrigens werde ich Euch die Sache erklären. Steigt nur vom Pferde, und kommt mit an das Wasser!«

»Also jetzt dürfen wir?«

»Yes. Konntet es übrigens immer wagen, mich schießen zu lassen,« lachte er. »Hier ist meine Büchse, hihihihi!«

Er hielt uns seinen Knüttel hin.

»Habt Ihr kein wirkliches Gewehr?«

»Nein. Ich steckte den Prügel durch den Busch, um Euch zu täuschen.«

»Aber Will Dunker muß doch Waffen haben!«

»Hatte sie auch, hatte sie, und was für welche! Die Roten, die Mogollons, haben sie mir abgenommen.«

»Ah! Seid Ihr von diesen überfallen worden?«


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»Yes, Sir, yes. In einem Wagen mit vier Pferden!«

»Ihr wart der Führer, und der Kutscher wurde erschossen?«

»So ist es. Aber Ihr kennt die Sache so genau, als ob Ihr dabei gewesen wäret. Wie kommt das, Master?«

»Sagt erst, wer die Lady war, die im Wagen gesessen hat!«

»Werde es sagen. Kommt nur erst her ans Wasser, und macht es euch bequem. Seid mir willkommen, sehr willkommen! Große Ehre, ganz bedeutende Ehre!«

Und wieder that er so, als ob er vor uns einen unsichtbaren Hut abnähme. Ich hatte von dem sonderbaren Manne gehört, sah ihn aber jetzt zum erstenmal. Wir stiegen ab, führten unsere Pferde zwischen die Büsche hinein und standen nun vor einer Quelle, welche kühl und klar aus der Erde sprudelte und ihre Wasser abwärts sandte, an den Sträuchern vorüber, die wir vorhin von weitern gesehen hatten. Da stand ein prachtvolles, indianisch aufgezäumtes Pferd.

»Das Pferd ist Euer, Master Dunker?« fragte ich ihn.

»Yes,« antwortete er. »Wenn Ihr aber lieber wollt, so habe ich es mir einstweilen geborgt vom starken Winde, falls Ihr den roten Halunken kennen solltet.«

»Ah, dem Häuptling der Mogollon. Wie kommt der dazu, Euch ein solches Pferd zu leihen?«

»Das weiß er selber nicht. Wahrscheinlich wie der Blinde zur Ohrfeige. Es war eine Anleihe wieder seinen Willen. Ich habe vergessen, ihn vorher zu fragen.«

»Aber ich habe noch nie gehört, daß Will Dunker ein Pferdedieb ist!«

»Das ist er auch nicht, Sir, wirklich nicht. Ihr


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könnt es glauben. Aber die Mogollon haben mir alles genommen und mir, als ich mich wehrte, den Anzug in Fetzen gerissen; sie wollten mich nämlich lebendig haben. Dafür habe ich mir dann das Pferd eingetauscht.«

»Ein regelrechtes Abenteuer, wie ich vermute! Ihr müßt es erzählen!«

Gern! Aber leiht mir vorher irgend eine Waffe, falls Ihr so etwas übrig habt, damit ich mich als Mensch fühlen kann!«

Da habt Ihr einen Revolver von mir.«

Er nahm ihn, betrachtete ihn, sah den Stempel und sagte:

»Prächtige Waffe! Berühmte Fabrik, Sir! Jetzt können die Schurken kommen; werde sie empfangen! Und noch etwas! Habt Ihr vielleicht einen Bissen Fleisch oder zwei? Habe seit gestern früh nichts zwischen meine Zähne bekommen. Und die wollen doch Arbeit haben. Da, seht sie Euch einmal an, Sir!«

Er öffnete den Mund und zeigte ein prachtvolles Gebiß.

»Auch Fleisch könnt Ihr haben. Bitte, Emery, gieb ihm ein tüchtiges Stück!«

Das Stück, welches er bekam, konnte, trotzdem es getrocknet war, über zwei Pfund wiegen; es war aber in kurzer Zeit zwischen seinen Zähnen verschwunden. Der Mann hatte Hunger gehabt! Dann schöpfte er sich mit den Händen Wasser, um es zu trinken, und sagte, mit der Zunge schnalzend:

»Das hat wohl gethan! Hätte nicht geglaubt, so bald essen zu können. Auf der Flucht in der Wildnis, und keine Waffe, um sich ein Wild zu schießen, das ist ein schlimmes Ding, ein sehr schlimmes, Mesch'schurs! Weiß nicht, ob es euch einmal so ergangen ist. Es ist


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ein Glück, wirklich ein Glück, daß ich euch getroffen habe, und nicht nur für mich, sondern auch für die andern Gefangenen, denn nur ihr seid die richtigen Männer, sie bald und sicher herauszuholen.«

»Wer sind die Leute?«

»Wer sie sind? Hm, Sir, werdet Euch wundern, sehr wundern!«

»So sagt es doch endlich! Ich muß es wissen, alles wissen!«

»Das sollt Ihr auch, Master, natürlich sollt Ihr es; das versteht sich ja ganz von selbst. Aber wenn man ein schönes Buch liest, so fängt man nicht in der Mitte oder gar hinten an. Es muß alles seine richtige Ordnung haben, Sir. Also ich saß da in Fort Belknar bei einem Glase Mintjulep - sage Euch, das ist der delikateste Julep den es giebt - und überlegte dabei, wohin ich meine Füße von dort aus richten sollte, ob etwa nach dem Red River hinauf oder aber ein wenig in den Estacado hinein. Da hielt ein Wagen vor der Thür, vier Pferde voran. Ein Mann stieg aus, dem man den Gentleman auf hundert Schritte ansah. Er kam herein, setzte sich an den nächsten Tisch und sah um sich wie einer, der nicht weiß, was er trinken soll. Natürlich riet ich ihm, sich Mintjulep geben zu lassen, und hielt ihm mein Glas zur Probe hin. Wir thaten darauf einen tüchtigen Trunk miteinander, wobei er mich fragte, was ich sei. Ich gab ihm Auskunft und nun fragte er mich, ob es hier nicht vielleicht einen tüchtigen und zuverlässigen Führer hinauf nach New-Mexiko und dann weiter gebe. Der Mann wollte nämlich nach Frisco hinüber. Ich habe den Weg vielmals gemacht, kenne ihn so genau wie meine Mütze und bot mich also als Führer an. Er nahm neue Pferde, und schon nach


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einer Stunde ging es fort. Wißt Ihr vielleicht, wer dieser Gentleman war? Ihr kennt ihn genau!«

»Wirklich? Ein Zufall!«

»Ja, Zufall, aber ein glücklicher. Der Master nannte sich Murphy, Fred Murphy, und ist Advokat in New-Orleans.«

»Der Advokat Fred Murphy? Ist es möglich!« rief ich aus. »Dann weiter, schnell weiter!«

»Nun ja, wir kamen weiter, aber nicht so rasch, wie ich es Euch erzählen soll. Will es Euch zu Gefallen aber kürzer machen.«

»Wißt Ihr, was er in Frisco wollte?«

»Damals noch nicht; jetzt aber weiß ich es. Habe zuweilen beim Nebenherreiten zugehört, wenn er mit der Lady sprach; da erfuhr ich es.«

»Mit welcher Lady? Wer war die Dame?«

»Das wollt Ihr wissen? Well, sollt es erfahren, doch jetzt noch nicht, denn die ist noch gar nicht daran. Jede Sache will ihre richtige Ordnung haben. Ehe ich von der Lady sprechen kann, muß ich erst nach Albuquerque kommen.«

»Albuquerque? Mann, Mensch, spannen Sie mich nicht auf die Folter! Erzählen Sie schnell!«

»Nicht so hitzig, Sir! Wir kommen ans Ende, auch wenn wir uns nicht so atemlos übereilen. Also in Albuquerque mußten wir über einen Tag lang warten; es war am Wagen eine Reparatur vorzunehmen. Wir saßen und aßen da in einem Salon, ich glaube Plener hieß der Wirt, und andere saßen auch dabei. Die sprachen von Konzerten, welche kürzlich gegeben worden waren. Es waren ein Virtuos auf der Violine und eine Sängerin gewesen. Beide hatten sich spanische Namen beigelegt, aber man wußte, daß es ein Geschwisterpaar aus Deutsch-


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land [Deutschland] sei; die Wirtin, bei der die Schwester wohnte, hatte es ausgeplaudert.«

»Haben die Leute im Salon die wirklichen Namen der Geschwister genannt?«

»Natürlich! Das war es ja, was meinen Advokaten in die Höhe springen ließ. Der Bruder war ein Mr. Vogel, und die Schwester eine Mrs. Werner.«

»Ah! Dachte es mir! Weiter!«

»Mein Advokat die Namen hören, nach der Wohnung der Sängerin fragen und wie auf der Flucht aus dem Salon rennen, das war eins. Wäre er nicht ein Advokat gewesen, so hätte ich geglaubt, er sei toll geworden; aber Advokaten werden bekanntlich nicht verrückt. Oder habt Ihr vielleicht einen gesehen, welcher ausnahmsweise übergeschnappt ist, Sir?«

»Nein - ja - ja - nein! Weiter, macht nur weiter!«

»Weiter? Es ist weiter gar nichts zu sagen, als daß am nächsten Morgen Mrs. Werner sich auch in den Wagen setzte und mitfuhr. Wir fuhren den gewöhnlichen Weg, den San Jose hinauf, über die Sierra Madre, nach New Wingate und dann am Rio Puerco herunter, wo wir über den Colorado setzten, um dann die Cerbatstraße einzuhalten. Da aber wollte die Lady auf einmal nicht mit. Sie sprach von ihrem Bruder, der in dieser Gegend sei, von Old Shatterhand, von Winnetou und von einem gewissen Sir Emery, der ein Englishman zu sein scheint - -«

»Er ist es. Ihr seht ihn hier neben mir.«

»Well! Große Ehre, außerordentlich feine Ehre, Sir!«

Er nahm wieder seinen unsichtbaren Hut ab, verbeugte sich gegen Emery und fuhr fort:

»Ich vernahm aus dem Gespräch der beiden, daß


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ein großartiger Diebstahl vorgekommen war. Die Sängerin und ihr Bruder waren die Geschädigten, und die Spitzbuben waren drei sogenannte Meltons, wenn ich mich nicht irre. Old Shatterhand, Winnetou und Emery waren ausgezogen, die Halunken zu fangen. Sie steckten in einem Schlosse, welches irgendwo an einem Nebenflüßchen des kleinen Colorado liegen sollte.«

»Am Flujo blanco.«

»Well! Mag richtig sein; ich kenne es nicht. Die Lady hatte auch mitgewollt, die Kerls zu fangen, hatte aber nicht gedurft. Nun befand sie sich in der Gegend und bestand darauf, daß ihr Bruder aufgesucht werden müsse. Ich hatte keine Stimme bei der Entscheidung darüber; es war mir überhaupt ganz gleich, ob der Weg nach Canada oder hinunter nach Mexiko ging; ich sagte also kein Wort dazu. Der Advokat mochte, trotzdem er Advokat war, wissen, daß man einer Lady den Willen thun müsse, und so wichen wir von dem bisherigen Wege ab und lenkten nach den Mogollonbergen ein.«

»Warum gerade dorthin?«

»Weil der kleine Colorado nirgends so viele Nebenflüßchen hat, als gerade da. Es war mir gar nicht bange, das sogenannte Schloß zu finden.«

»Aber, Master Dunker, mit einer Dame in diese Gegend einzudringen! Per Wagen, mit dem man da nirgends fortkommen kann! Das konntet Ihr ja gar nicht verantworten!«

»Habe mir auch gar nicht eingebildet, es zu können, Sir! Die Lady wollte, und wir mußten; es war nicht gegen sie aufzukommen. Ich glaube, wenn der Advokat aus New-Orleans gefragt würde, was er lieber studiert, das Gesetzbuch oder die hübschen Augen der Sängerin, so würde er gestehen, daß er die letzteren vorzieht. Mich


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aber kann die Verantwortung unmöglich treffen. Sobald wir von der Straße abgewichen waren, wurde das Fortkommen unendlich schwer. Bald ging es in eine Tiefe, daß man glaubte, der Wagen müsse sich überkugeln, bald wieder so bergan, daß die armen Pferde ihn kaum schleppen konnten; oder wir mußten über einen Wasserlauf, in dem wir stundenlang stecken blieben. In einem solchen Loche saßen wir gestern um die Mittagszeit fest, als wir überfallen wurden. Hundert Rote gegen mich allein! Denn der Fahrer wurde gleich vom Bocke geschossen, und der Advokat war nicht zu rechnen. Ehe ich mein Gewehr heben konnte, war ich von zwanzig, dreißig Fäusten gepackt. Ich schlug um mich; das konnte mich aber nicht retten. Man zerriß mir die Kleider; man drückte mich zur Erde; ich wurde gebunden und fortgeschleift nach der reizenden Gegend, die man Klekie-Tse, den weißen Felsen, nennt.«

»Ah! Dahin wollen wir!«

»Das sollt Ihr auch!«

»Wir sollen! Wer hat das gesagt?«

»Die Lady, die mitsamt dem Advokaten auch dort ist. Auch den Wagen hat man hingeschafft. Seid Ihr einmal beim weißen Felsen gewesen?«

»Noch nicht.«

»So denkt Euch einen kleinen Berg! Wenn Ihr darauf steht und von ihm niederblickt, so seht Ihr ein rundes Schloß mit weißen Mauern, Fenstern, Portalen, Säulen, Pfeilern, Treppen, Erkern und Türmen. Ihr denkt, ein berühmter Architekt müsse es gebaut haben, und doch ist es nur ein natürlicher Felsen, ein weißer Kalkstein, aus welchem der Regen das alles nach und nach herausgearbeitet hat. Längs des natürlichen Schlosses läuft das Flüßchen hin, welches auf der einen Seite den


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Felsen berührt; das andere Ufer ist dicht mit Buschwerk bewachsen. Dann folgt, nach dem Berge zu, von welchem ich sprach, ein ebener Grasplan, auf welchem die Mogollons jetzt ihre Zelte stehen haben.«

»Sind es Kriegszelte?«

»Nein; sie wohnen mit ihren Squaws und Kindern da. Also in diese schöne Gegend wurden wir geschafft. Wir waren gefesselt und lagen erst beisammen. Der Advokat wollte bald vor Grimm zerplatzen, bald schluchzte er aus lauter Angst; er ist ein Hasenfuß. Die Lady war still und gefaßt. Sie meinte, wenn Ihr wüßtet, daß sie gefangen sei, würdet Ihr kommen und sie befreien.«

»Das werden wir auch. Erzählt weiter!«

»Am Abende wurden wir getrennt. Ich kam in ein Zelt, wo ich von einem Roten bewacht wurde; dasselbe war mit dem Advokaten der Fall. Die Lady bekam auch ein Zelt für sich; aber ihr nahm man die Fesseln ab. Jetzt darf sie sogar das Zelt verlassen. Sie scheint es mit ihren Augen dem Häuptling angethan zu haben. Heute, gegen Mittag, geschah etwas, was Euch interessieren wird. Man hatte mich aus dem Zelte geholt und mit dem Advokaten zusammengebracht, wohl um eine Art von Verhör anzustellen. Wir saßen nebeneinander, und um uns standen die vornehmsten Krieger der Mogollons. Da wurde ein Reiter gebracht, welcher mit dem Häuptling sprechen wollte. Es war ein Weißer. Als der Advokat ihn erblickte, schrie er wie besessen auf.«

»Nannte er ihn beim Namen?«

»Ja. Erst rief er ihn Small, Small Hunter; dann nannte er ihn Jonathan Melton.«

»Welche Wirkung hatte das auf den Reiter?«

»Dieser erschrak zunächst; dann aber schien er sich


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zu freuen. Er hielt dem Häuptling eine lange Rede, von welcher wir aber nichts hören konnten. Der Mann schien sehr weit herzukommen und die ganze Nacht geritten zu sein, denn er mußte sich vor Müdigkeit setzen, und sein Pferd war über und über mit Schweiß und Staub bedeckt.«

»Wie wurde er von dem Häuptlinge behandelt?«

»Erst finster; dann aber, als er mit seiner Rede fertig war, wurde der >starke Wind< freundlicher und rauchte mit ihm die Friedenspfeife.«

»O wehe!«

»Ja, o wehe! Denn ich weiß, daß dieser Mensch einer von den drei Meltons, und zwar der Hauptspitzbube ist. Der Advokat sagte es mir.«

»Hatte dieser Melton eine Tasche mit?«

»Ja, von schwarzem Leder. Sie hing an einem Riemen über die Achsel. Er bekam ein Zelt angewiesen.«

»Wißt Ihr, wo es liegt?«

»Ja, es steht neben dem, in welches ich später wieder gesteckt werden sollte. Er ging hinein und kam dann bald wieder heraus und zu uns hin.«

»Hatte er da die Tasche noch umhängen?«

»Nein.«

»Er hatte sie also in dem Zelte gelassen. Das ist mir wichtig! Weiter!«

»Er kam zu uns, verhöhnte den Advokaten und sagte zu ihm, daß er am Marterpfahle sterben werde, wenn die Mogollons von ihrem Kriegszuge zurückgekehrt seien.«

»So ist also von einem Kriegszuge gesprochen worden?«

»Nicht daß ich wüßte. Das einzige Wort darüber habe ich eben von Melton gehört; doch schien es mir allerdings, als ob etwas Ungewöhnliches im Werke sei.«


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»Die Roten wollen die Nijoras überfallen, um Pferde zu stehlen.«

»Und diese ahnen wohl nichts davon?«

»Sie wissen es und rüsten sich.«

»Well, so stehen unsere Aktien gut. Wir reiten zu den Nijoras und holen sie herbei, um die Lady und den Advokaten zu befreien.«

»Das wollen wir uns doch erst überlegen.«

»Warum?«

»Erst muß ich das Lager kennen lernen.«

»Wollt Ihr etwa hin? Da lauft Ihr dem Bären in den Rachen!«

»Fällt mir nicht ein! Erzählt nun noch, wie Ihr entkommen seid!«

»Ich habe Euch schon gesagt, Sir, daß ich heraus zu dem Advokaten geschafft wurde, und daß dann Melton kam. Der nahm den Häuptling eine ganze Zeit so in Anspruch, daß er sich nicht mit uns beschäftigen konnte. Wir waren ziemlich unbeobachtet. Die Füße waren uns nicht gebunden, sondern nur die Hände. Ich hatte schon seit gestern an den Riemen gezerrt und gearbeitet. In meinem Zelte stand ein alter Topf mit Wasser, aus dem ich trinken konnte. Da hatte ich mir die Riemen naß gemacht; sie wurden weich und geschmeidig und gaben nach. Ich konnte endlich mit den Händen heraus und wartete nur auf den geeigneten Augenblick, der mir ein glückliches Fortkommen verhieß. Da sollte ich wieder in das Zelt geschafft werden. Ich mußte an demjenigen des Häuptlings vorbei. Da stand das Pferd, welches Ihr hier seht, ein Prachtroß, wie es selten eines giebt. Jetzt war der Augenblick da! Ich streifte den Riemen ab, sprang auf das Pferd und jagte davon.«


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»Ah, welch ein Hallo mag das gegeben haben!«

»Zunächst gar nicht. Die Roten waren, wie es schien, über meine Verwegenheit ganz erstarrt, sodaß ich unangefochten fast durch das ganze Lager kam. Dann freilich ging der Spektakel los, und zwar riesengroß! Das war ein Rufen, Schreien und Heulen! Schüsse krachten, aber schon zu spät; keiner traf. Ich kam unverletzt aus dem Lager, sogar an den Wächtern vorüber. Ich war frei; ich hatte ein herrliches Pferd, aber leider keine Waffen. Ich jagte bis hierher, wo ich das Pferd trinken ließ; dann wollte ich weiter. Da kamt Ihr geritten. So, nun wißt Ihr alles.«

»Wieviel Zeit habt Ihr gebraucht, um hierher zu kommen?«

»Vielleicht drei Stunden.«

»Ihr denkt doch, daß Ihr verfolgt werdet?«

»Yes, Sir. Natürlich jagt man hinter mir her. Wenn ihnen auch an mir altem Kerl nicht viel liegen kann, so ist doch das Pferd, welches ich entführt habe, so kostbar, daß man sich alle Mühe geben wird, es wieder zu bekommen.«

»Die Verfolger reiten auf Eurer Spur. Sie werden also hierher kommen; da aber die Sonne schon verschwunden ist, wird es dunkel sein, wenn sie hier anlangen. Dann erkennen sie die Fährte nicht. Trotzdem wollen wir nicht länger hier verweilen. Wir brechen auf nach dem weißen Felsen.«

»Well, ich reite mit!«

»Das kann ich nicht verlangen. Seid froh, daß Ihr von dort entkommen seid! Zurückzukehren wäre Verwegenheit.«

»Jetzt nicht mehr, Sir. Wenn Old Shatterhand und Winnetou dabei sind, kann man alles wagen. Ich


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reite mit. Oder wollte Ihr vom langen Dunker erzählen, daß er sich vor einigen Indianern fürchte?«

»Was ich über Euch gehört habe, läßt nicht zu, Euch für einen furchtsamen Mann zu halten.«

»So? Spricht man ein wenig gut von mir? Das freut mich alten jungen; das thut meinem Herzen wohl. Ich reite also mit, und Ihr könnt wagen, was Ihr wollt, ich werde dabei sein, Sir. Aber auf dem Wege, den ich gekommen bin, können wir nicht hin, wir würden auf meine Verfolger treffen.«

»Das ist richtig. Winnetou kennt die Gegend; er wird uns führen.«

»Winnetou wird euch so führen,« sagte der Apatsche, »daß ihr in zwei Stunden den weißen Felsen vor euch liegen seht.«

Wir ließen die Pferde trinken, stiegen dann wieder auf und ritten davon, als eben der letzte Schimmer des Tages im Westen verschwand.

Der Himmel war heute wieder wolkenschwer. Es wurde ebenso dunkel, wie es gestern gewesen war, doch Winnetou führte uns ebenso sicher wie am hellen Tage. Es gab in Beziehung auf den Ortssinn wirklich keinen zweiten seinesgleichen! Wie er vorhergesagt hatte, so geschah es auch. Als zwei Stunden vergangen waren, hielt er an. Eine hohe, dunkle Masse lag dicht vor uns. Er sagte:

»Das ist der Berg, von welchem Dunker gesprochen hat.«

»Ist er das wirklich?« fragte der Genannte. »Ich hatte ihn in der Finsternis nicht wiedererkannt.«

»Er ist's. Wenn man oben steht, kann man den weißen Felsen unten liegen sehen.«

»So müssen wir hinauf. Reitet weiter!«


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»Halt!« warnte ich. »Das Lager beginnt gleich jenseits dieser Höhe?«

»Ja.«

»So wird es von ihr beherrscht, und es sollte mich wundern, wenn kein Posten oben stünde. Winnetou mag erst allein hinaufsteigen und nachsehen.«

Der Apatsche sprang vom Pferde und verschwand im nächtliche Dunkel. Es dauerte eine volle halbe Stunde, ehe er zurückkam.

»Meine Brüder müssen sich in acht nehmen,« meldete er. »Es giebt einen Doppelposten oben.«

»So können wir nicht hinauf?«

»Doch, aber nicht mit den Pferden.«

»Dann müssen wir sie weiter zurückschaffen. Ein Schnauben oder gar Wiehern würde uns verraten.«

Wir ritten eine ziemliche Strecke zurück, und ließen die Pferde unter der Obhut Emerys da stehen. Wir andern drei gingen wieder zum Berge und stiegen vorsichtig hinauf. Der Doppelposten hatte ein Feuer brennen, bei dem wir die beiden Gestalten deutlich sehen konnten. Die Wächter oder vielmehr ihre Anführer verdienten geprügelt zu werden.

Wir standen auf der Seite der Bergkuppe und sahen in das Lager hinab. Den weißen Felsen konnten wir freilich nicht erkennen; in der finstern Nacht war er auch schwarz. Zahlreiche Lagerfeuer brannten unten; die Zelte waren nur in unsichern Konturen zu erkennen.

»Well, da sind wir jetzt,« sagte Dunker. »Was thun wir aber nun?«

»Man kann die Zelte nicht unterscheiden,« antwortete ich. »Ja, wenn es Mondschein gäbe, daß man sie einzeln liegen sähe; da wäre etwas zu machen!«

»Die Finsternis hat aber auch ihr Gutes!«


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»Allerdings. Aber die Hauptsache ist, daß ich wissen möchte, in welchem Zelte sich Melton und in welchem andern sich die Lady befindet.«

»Ich weiß es ganz genau, kann es Euch aber leider nicht sagen, nicht zeigen. Wenn ich das könnte, was würdet Ihr dann thun?«

»Hinuntergehen in das Lager.«

»Wozu?«

»Um wenigstens mit der Lady zu reden, wenn es nicht möglich wäre, sie herauszuholen.«

»Das wäre einer von den Streichen, wie man sie freilich nur von Euch und Winnetou erzählen hört. Aber Ihr müßt wissen, daß das Lager von Posten umgeben ist. Wie wollt Ihr hineinkommen?«

»Auf dem natürlichsten Wege, den es giebt, durch den Fluß. Ich gehe nicht fort, ohne wenigstens einen Versuch, mit der Lady zu sprechen, gemacht zu haben. Was für Zelte giebt es da? Sommer- oder Winterzelte?«

»Sommerzelte.«

»Also Leinwand. Da giebt es also auch Pflöcke, welche man herausziehen kann. Bei den Winterzelten ist das anders. Stehen die beiden Zelte, welche ich suche, weit vom Wasser entfernt?«

»Sie stehen ganz nahe.«

»Gut, ich gehe. Kehrt ihr zu den Pferden zurück und erwartet mich dort. Hier habt ihr meine Gewehre, meinen Gürtel und die andern Sachen, welche die Nässe nicht vertragen.«

»Wird mein guter Bruder nicht vielleicht zu viel wagen?« fragte der Apatsche in besorgtem Tone. »Winnetou wird lieber mitgehen!«

»Nein; das nützt mir nichts. Ja, wenn du die Zelte kennen würdest!«


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Da fragte Dunker:

»Ihr wollt wohl in das Wasser steigen?«

»Natürlich! An dem einen Ufer steht der Fels, und an dem andern giebt es Büsche. Im Schutze und Schatten derselben komme ich ungefährdet durch das ganze Lager.«

»Das ist kühn, außerordentlich kühn; aber es spricht mich an, Sir! Was meint Ihr wohl, ob ich mitthun könnte?«

»Hm, ich kenne Euch nicht genug, um das zu wissen. Könnt Ihr schwimmen, tauchen und Wasser treten?«

»Ganz leidlich.«

»Ist das Flüßchen tief?«

»Weiß es nicht.«

»Reißend?«

»Nein.«

»Hatte es heute klares oder trübes Wasser?«

»Trübes; auch kam viel abgerissenes Gras und Schilf geschwommen.«

»Das ist gut; das ist sehr gut, denn das wird uns von großem Nutzen sein. Wir bauen uns Inseln, unter denen wir uns verstecken, sodaß wir nicht gesehen werden können.«

»Inseln? Unter denen wir stecken?« fragte er verwundert.

»Ja.«

»Erklärt es mir, Sir! - Das kann ich nicht begreifen.«

»Es ist so einfach wie nur möglich. Jedes Kind kann es machen. Man bindet Schilf und anderes Zeug, welches gern auf dem Wasser schwimmt, zusammen, sodaß es die Gestalt einer kleinen Insel annimmt, welche vom fließenden Wasser abwärts getragen wird. In der Mitte


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der Insel fertigt man eine Erhöhung, welche hohl sein und mehrere Löcher nach allen Seiten haben muß. Kriecht man nun unter die Insel und steckt den Kopf in die Höhlung, welche über dem Wasser liegt, so hat man Luft und kann nicht nur Atem holen, sondern sich auch nach allen Seiten umschauen, weil man durch die Löcher zu blicken vermag. Man sieht also alles und hört auch alles, ohne daß man selbst gesehen wird, weil man im Wasser steckt.«

»Das ist ein kluger, ein sehr kluger Gedanke, Sir. Ja, bei Old Shatterhand und Winnetou kann selbst unsereiner noch viel lernen!«

»Man muß erfinderisch sein, Master Dunker. Man kann sehr leicht in Verhältnisse kommen, in denen von solchen Dingen nicht nur das Gelingen eines Planes, sondern sogar das Leben abhängt. Mir zum Beispiele haben solche künstliche Inseln schon wiederholt das Leben gerettet.«

»Die Inseln sollen schwimmen; da muß man doch wohl mitschwimmen?«

»Wenn das Wasser tief ist, schwimmen; ist es seicht, dann waten. In dem letzteren Falle muß man sich bald ausstrecken, bald den Körper zusammenziehen, je nach der Verschiedenheit der Wassertiefe. Indem ersteren Falle ist es geraten, in aufrechter Stellung zu schwimmen, was man >Wassertreten< nennt. Man hält den Kopf oben, die Füße unten, zieht die Kniee ein wenig empor und tritt abwechselnd mit den Füßen nach unten, während man mit den ausgestreckten Händen breit im Wasser >paddelt<, aber ja nicht auf der Oberfläche, weil das gesehen würde. Es darf auf keinen Fall auch nur der leichteste Wellenschlag verursacht werden, weil dieser einem aufmerksamen und nachdenkenden Zuschauer alles


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verraten würde. Habt Ihr das verstanden, Master Dunker?«

»Yes, Sir, sehr gut, sehr gut. ich getraue mich, es ganz gut fertig zu bringen.«

»Wartet nur; es kommt noch mehr. Es muß auch noch anderes beobachtet werden, vorausgesetzt nämlich, daß man scharfe Beobachter hat. Man bewegt sich vorwärts, und man bleibt an Stellen, wo man beobachten will, halten. Da darf man sich weder schneller noch langsamer bewegen als das Wasser und sonstige Gegenstände, welche neben und mit der Insel schwimmen. Am allerwenigsten natürlich darf es einem einfallen, stromaufwärts zu schwimmen. Man muß die Strömung beachten. Mitten in und auf derselben darf man ja nicht anhalten, weil dies gegen die Naturgesetze wäre. An Punkten, wo Wirbel sind, muß man sich auch drehen, und legt man am Ufer an, um zu lauschen, so muß dies an einer dazu geeigneten Stelle geschehen, wo ruhiges Wasser ist und es einen Landvorsprung gibt, welcher die Insel angehalten zu haben scheint.«

»Hm! Es ist doch schwerer, als ich dachte, Sir!«

»Wenn man Uebung besitzt, gut überlegt und gut aufpaßt, ist es leicht. Es kommt darauf an, ob Ihr es wagen wollt.«

»Natürlich! Sehr gern! Ich freue mich darauf!«

»Schön! Aber ich halte es für meine Pflicht, Euch darauf aufmerksam zu machen, daß Ihr Euer Leben wagt. Werden wir bemerkt, schöpft man Verdacht, so sind wir wahrscheinlich verloren.«

»So schnell und so unbedingt, wie Ihr denkt, doch wohl nicht! Wir können uns wehren!«

»Womit? Wir können doch keine Schießwaffen bei uns haben und höchstens das Messer mitnehmen. Beim


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ersten Warnungsrufe stehen hunderte von Indianern am Ufer, die auf uns schießen. Selbst wenn wir aus dem Wasser springen und uns mit den Messern auf sie werfen wollten, wären wir von ihren Kugeln durchlöchert, ehe wir zum Stoße kämen.«

»Haben sie denn gleich alle ihre Schießprügel bei der Hand?«

»Und wenn keiner ein Gewehr hätte, befänden sie sich doch in solcher Uebermacht, daß ihre Zahl uns erdrückte. Also, ich bin aufrichtig, überlegt es Euch wohl!«

»Pshaw! Da giebt es nichts zu überlegen; ich mache mit. Ich will auch einmal in einer schwimmenden Insel stecken und erzählen, daß ich das von Old Shatterhand gelernt habe. Ich habe es noch nicht erlebt, und da es heute so schön paßt, will ich es jetzt erleben!«

»Gut! Wißt Ihr, wie weit die Posten im Thale auf- und abwärts stehen?«

»Ja, nämlich wenn es sich seit Mittag nicht verändert hat.«

»So könnt Ihr mich führen. Wir steigen natürlich oben in das Wasser und gehen erst unterhalb des Lagers wieder heraus. Da wir später keine Zeit dazu haben, muß ich Euch jetzt noch sagen, wie Ihr Euch zu verhalten habt. Ein leises Zungenschnalzen ist das Zeichen, daß der betreffende dem andern etwas sagen will. Dann legen wir die beiden Inseln nebeneinander, sodaß wir uns hören und verstehen können. Außerdem habt Ihr Euch stets hinter mir zu halten und alles zu thun, was ich thue. Lege ich ans Ufer, dann auch Ihr; stoße ich wieder ab, so folgt Ihr mir. Nur in einem Falle dürft Ihr nicht nachahmen, nämlich wenn ich die Insel verlasse und an das Ufer steige, um vielleicht in ein Zelt zu gehen.«


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»Alle Wetter! Wolltet Ihr dies vielleicht wagen?«

»Nicht nur vielleicht, sondern sogar sehr wahrscheinlich. Auf die Zelte, welche ich Euch genannt habe, macht Ihr mich aufmerksam, noch ehe wir sie erreichen, weil wir nicht zurück dürfen. Uebrigens will ich Euch zur Aufmunterung sagen, daß die Sache sich leichter machen wird, als es den Anschein hat. Auf der einen Seite des Flüßchens, wo es an den weißen Felsen stößt, befindet sich kein Mensch; von dort her haben wir also nichts zu befürchten. Und das andere Ufer ist von Büschen besetzt, welche uns Schutz gewähren. Dazu kommt der wolkige Himmel, die Finsternis der heutigen Nacht und das Flackern der Feuer, das, zumal im Wasser, keinen Gegenstand scharf erkennen läßt. Also vorwärts jetzt! Wollen erst Emery benachrichtigen, und dann kann die interessante Schwimmpartie beginnen.«

»Wäre es nicht besser, wir warteten, bis die Feuer erloschen sind und die Roten sich schlafen gelegt haben?«

»Nein, denn was wollten wir dann dort? Ich will doch mit der Lady reden, wenn dies halbwegs möglich ist, und die Indianer beobachten, um vielleicht über den beabsichtigten Zug gegen die Nijoras etwas zu erfahren. Entweder müssen wir es jetzt wagen oder es unterbleiben lassen.«

Wir gingen zu Emery und legten dort alles ab, was wir nicht brauchten oder nicht naß werden durfte. Von Waffen nahmen wir nur Messer mit. Da Dunker keines hatte, bekam er das des Apatschen. Letzterer ließ es sich nicht nehmen, uns an den Fluß zu begleiten. Er wollte uns bei der Herstellung der Inseln helfen, und ich willigte natürlich ein, weil wir dadurch Zeit ersparten.

Es mußte selbstverständlich mit größter Vorsicht zu Werke gegangen werden. Als wir den äußersten Posten


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oberhalb des Lagers erkundet hatten, gingen wir noch eine Strecke weiter aufwärts, bis wir Schilf fanden. Das durfte nur unter dem Wasser abgeschnitten werden, weil sonst am nächsten Morgen die Stelle aufgefallen wäre. Unter und zwischen den nahen Büschen gab es dürres Holz genug, und so hatten wir bald das nötige Material beisammen und gingen an den Bau der Inseln. Dieser mußte leicht aber fest sein, denn wenn eine der Inseln zerriß und auseinanderschwamm, so kam, wer darunter steckte, in die größte Gefahr, entdeckt zu werden. Auch durfte die Gestalt keine auffällige sein; es mußte genau das Aussehen haben, als ob nur das Wasser die einzelnen Bestandteile zusammengeflößt habe und nun zusammenhalte. Nach einer Stunde waren wir mit dem Werke fertig, und Dunker stieg zuerst in den Fluß, um unter meinen Augen eine Probe zu machen, die recht gut gelang. Winnetou entfernte sich, nachdem er mir gesagt hatte, daß er sich mit meinem vielschüssigen Henrystutzen auf alle Fälle bereithalten werde, uns beizuspringen. Dann ging auch ich in das Wasser, kroch unter meine Insel und steckte den Kopf in die Erhöhung oder vielmehr Höhlung derselben. Das nächtliche Abenteuer konnte seinen Anfang nehmen.

Es war kein sehr angenehmes Gefühl, in den Kleidern im Wasser zu stecken. Wir hatten zwar bei Emery soviel davon zurückgelassen, wie wir entbehren konnten, doch hatte wenigstens ich, weil ich womöglich mit Martha sprechen wollte, soviel von meinem Anzuge anbehalten, daß die Kleidungsstücke bald schwer wurden und mich am Schwimmen hinderten.

Das Flüßchen war nicht breit, aber tief. Als wir das Ufer verlassen hatten, verschwand der Grund unter den Füßen, und wir mußten schwimmen. Ich richtete


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mich dabei genau nach der Schnelligkeit des Wassers und mein Gefährte folgte nur einige Ellen hinter mir her. Es war dunkel, dennoch sah ich, als wir eine Strecke vorwärts gekommen waren, den ersten, äußersten Posten am Ufer stehen. Wir kamen glücklich an ihm vorüber; er stand mit dem Gesichte dem Wasser zugekehrt, sah also jedenfalls die beiden sich abwärts bewegenden Anhäufungen von Schilf und Zweigen, faßte aber keinen Verdacht. Das überzeugte mich davon, daß unsere Inseln ein natürliches Aussehen hatten, und ich durfte nun hoffen, daß sie auch andern Augen nicht auffällig erscheinen würden.

Wir kamen jetzt an keinem Posten mehr vorüber, außer dem natürlich, der wahrscheinlich unterhalb des Lagers am Wasser stand, und bald sahen wir die ersten von den Feuern erleuchteten Zelte vor uns liegen. Sie standen am linken, von Büschen beschatteten Ufer. Wären wir diesem gefolgt, so hätten die Sträucher uns den Ausguck verdeckt; darum hielten wir uns an das andere, rechte Ufer. Wir konnten da über das Wasser hinüber und zwischen den Büschen hindurchsehen und waren auch sicher, daß hier hüben niemand stand, der uns eine für uns gefährliche Aufmerksamkeit schenken konnte.

Jetzt floß das Wasser langsamer, denn der Fluß machte einen weiten Bogen nach rechts, wo er den Fuß des weißen Felsens bespülte. Dadurch entstand innerhalb des Bogens, zur linken Hand von uns, Raum für die Zelte, die meist in der Nähe des Flusses errichtet waren, jedenfalls um das so notwendige Wasser in der Nähe zu haben.

Wir waren wohl an zwölf bis vierzehn Zelten vorübergekommen, als Dunker das Zeichen gab, daß er sprechen werde. Da er so nahe hinter mir folgte, brauchte


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ich nicht anzuhalten; ich horchte hinter mich und hörte ihn sagen:

»Das große Zelt, vor welchem die zwei Medizinlanzen stehen, ist das des Häuptlings.«

Das konnte mich weniger interessieren; aber ich wendete dem Zelte doch meine Aufmerksamkeit zu, und da sah ich allerdings, wie gut es war, daß Dunker mich aufmerksam gemacht hatte. Vor dem Zelte hatte ein Feuer gebrannt; es war im Verglimmen, und dafür hatte man neben dem Zelte, wo mehr Platz war, ein zweites angezündet, an welchem einige Rote so saßen, daß zu vermuten stand, es würden noch mehrere kommen und mit ihnen einen Kreis bilden. Es schien also, man wolle hier eine Beratung abhalten. Konnten wir lauschen, so war vielleicht etwas für uns Vorteilhaftes zu erfahren. Darum legte ich am rechten Ufer an, und Dunker that dasselbe in der Weise, daß unsere beiden Inseln eine einzige bildeten. Wir befanden uns also einander so nahe, daß wir leise miteinander sprechen und uns dabei doch verstehen konnten.

Um zu lauschen, mußten wir freilich das linke Ufer aufsuchen; dort aber hinderten uns die Sträucher am Sehen; darum blieb ich einstweilen noch am rechten, weil wir von da aus inzwischen beobachten konnten, was drüben vorging. Unsere Füße hatten jetzt wieder Grund gefunden, und zwar war das Wasser hier so seicht, daß wir in dem weichen, angespülten Sande sitzen konnten, es also bequem genug hatten, so lange aushalten zu können, wie wir es für nötig fanden.

»Warum legt Ihr hier an, Sir?« fragte mich Dunker leise.

»Seht Ihr denn nicht,« antwortete ich, »daß man da drüben Vorbereitungen zu einer Versammlung trifft?«


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»Allerdings. Wollt Ihr derselben etwa zuhören?«

»Ja. Nachher, wenn die Beratung begonnen hat. Jetzt bleiben wir hier, weil wir da sehen können, wer und wie viele an der Beratung teilnehmen. Ist das Zelt, in welchem Melton wohnt, nicht von hier aus zu sehen?«

»Nein; aber von dem des Häuptlings aus, abwärts gerechnet, ist es das sechste.«

»Und das der Lady?«

»Ist dann das vierte.«

»So braucht Ihr mir die beiden Zelte, wenn Ihr Euch nicht etwa verzählt habt, gar nicht erst zu zeigen. Warten wir also, was da drüben losgehen wird!«

Die Beratung schien einen sehr wichtigen Gegenstand zu betreffen; das ersahen wir aus der Größe des engern Kreises, welcher gebildet werden sollte, und aus der großen Anzahl von gewöhnlichen Kriegern, welche sich schon jetzt eingefunden hatten. Sie bildeten in einiger Entfernung um den ersteren einen Halbzirkel, weil sie der Beratung ihrer hervorragenden Krieger zuhören wollten.

Erfreulich für uns war es, daß wir nicht allzu lange zu warten brauchten. Wir hatten nicht viel über eine Stunde vor Anker gelegen oder vielmehr vor Anker gesessen, so sahen wir einen langen, starken Indianer aus dem Häuptlingszelte kommen und sich nach dem Kreise begeben.

»Das ist der starke Wind,« flüsterte mir Dunker zu.

Es war also der Häuptling. Hinter ihm kam Jonathan Melton. Er trug alle seine Waffen und setzte sich neben dem starken Wind nieder. Er wurde also nicht nur nicht als Gefangener oder gar als Feind betrachtet, sondern sollte sogar an der Beratung teilnehmen


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und hatte mit dem Häuptlinge vorher eine Unterredung gehabt. Dann kamen auf ein laut gegebenes Zeichen noch zehn bis zwölf alte, erfahrene Krieger, welche sich in den Kreis setzten.

Die Beratung begann, und nun verließen wir nacheinander das rechte Ufer, um hinüber an das linke zu schwimmen, was wir so langsam und vorsichtig thaten, als ob unsere Inseln von der Strömung hinübergetrieben würden. Dort legten wir wieder eng nebeneinander an.

Es hatte eine Weile gedauert, bis wir wieder fest und bequem lagen, und so kam es, daß die Verhandlung nun schon begonnen hatte. Wir konnten nicht über das hier hohe Ufer blicken und hörten eine laute, kräftige Stimme, welche eine Rede hielt.

»Wißt Ihr, wer das ist?« fragte ich Dunker.

»Der Häuptling.«

Die Stimme erklang so deutlich, daß wir jedes Wort verstehen konnten:

»- - obgleich meine roten Brüder erst in vier Tagen aufbrechen wollten, habe ich doch mehrere gute Gründe, schon morgen früh den Zug zu beginnen. Und sodann hat mir dies tapfere Bleichgesicht gesagt, daß wir unterwegs drei berühmte Männer ergreifen werden. Wenn das die Wahrheit ist, wird man in allen Zelten und Thälern, in der Nähe und in der Ferne von der Tapferkeit der Mogollon erzählen. Die drei Krieger sind Winnetou, der Häuptling der Apatschen, Old Shatterhand und noch ein großes Bleichgesicht, welches viele rote Krieger getötet hat.«

»Uff, Uff, uff!« erklang es in dem Kreise, und auch die um denselben Stehenden ließen diesen Ausruf der freudigen Bewunderung hören.

»Unser weißer Bruder,« fuhr der Häuptling fort,


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»wird meinen roten Brüdern jetzt mitteilen, was er zu mir davon gesprochen hat.«

Seine einleitende Rede war zu Ende. Er hatte sie natürlich stehend gehalten und setzte sich, wie ich vermutete, nun wieder nieder. Nach einigen Augenblicken erklang die Stimme Jonathan Meltons. Er hielt eine lange, sich in den stärksten Ausdrücken ergehende Philippica, welche sich auf uns bezog. Er erzählte, wir seien bei ihm im Pueblo gewesen und hätten auf die Mogollon geschimpft und dabei gesagt, daß wir zu den Nijoras wollten, um sie zu einem Kriegszuge gegen die ersteren aufzustacheln. Da er ein Freund der Mogollons sei, habe er sich sofort auf das Pferd gesetzt, um sie vor der drohenden Gefahr zu warnen. Wie gut er es meine, könnten sie aus dem Umstande ersehen, daß er auf einem vollständig abgehetzten Pferde angekommen sei. Jetzt höre er, daß ein Zug gegen die Nijoras beschlossen worden sei, der aber erst nach vier Tagen angetreten werden solle. Dies sei vollständig falsch, da sie höchst wahrscheinlich bis dahin von den Nijoras überfallen würden. Man müsse vielmehr sofort aufbrechen, zumal es heute Dunker gelungen sei, zu entkommen. Er habe gehört, daß man gegen die Nijoras ziehen wolle, und man könne annehmen, daß er zu diesen eilen werde, um sie zu benachrichtigen.

Der Mensch brachte noch andere Gründe und lügenhafte Angaben in so scharfsinniger Weise vor, daß ich, noch ehe er seine Rede geendet hatte, überzeugt war, die Beratung werde ihm beistimmen. Wirklich ging auch, als er sein letztes Wort gesprochen hatte, ein beifälliges Murmeln durch die Reihen der Roten; es trat eine kurze Stille ein, und dann hörte ich den Häuptling sagen:

»Mein weißer Bruder hat bewiesen, daß er ein Freund unseres Stammes ist. Wir danken ihm; er mag


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mir jetzt nur noch einige Fragen beantworten. Waren Winnetou und Old Shatterhand noch in dem Pueblo der weißen Squaw, als du von dort fortrittest und weißt du, wann sie es verlassen werden?«

»Nein.«

»Wissen sie, wohin du geritten bist?«

»Nein.«

»So steht auch nicht zu erwarten, daß sie dir augenblicklich gefolgt sind. Vielleicht befinden sie sich jetzt noch dort?«

»Das ist freilich möglich.«

An diesem Falle können wir sie hindern, die Nijoras gegen uns aufzuhetzen. Wir brauchen ihnen nur eine Anzahl unserer Krieger entgegenzusenden, um sie festzunehmen; dann können sie nicht zu den Nijoras gelangen.«

»Aber wenn sie sich nun schon dort befinden?«

»Dann müßten wir morgen früh aufbrechen. Wenn die Nijoras uns wirklich angreifen wollen, so müssen sie durch das Tikh Nastla (* >Dunkles Thal<.) kommen, wenn sie nicht einen Umweg von mehreren Tagen machen wollen. Dort können wir sie erwarten und vollständig aufreiben. Ich werde jetzt, wenn die alten Krieger einwilligen, fünfzig Männer absenden, welche sofort aufbrechen und Winnetou und Old Shatterhand entgegenreiten, um sie zu fangen. Die andern Krieger ziehen dann morgen mit mir nach dem Tikh Nastla, wo wir den Erfolg abwarten können. Ich habe gesprochen. Laßt uns über den Vorschlag beraten!«

»Kommt, wir wollen fort!« flüsterte ich Dunker zu.

»Jetzt noch nicht!« antwortete er. »Wenn wir einmal lauschen, müssen wir doch bis zu Ende warten, das Wichtigste kommt erst nach.«


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»Was denn?«

»Die Entscheidung darüber, was sie anfangen werden.«

»Die kenne ich schon jetzt. Uebrigens sind so viele Krieger hier versammelt, und das Zelt Meltons steht leer, Ich muß fort, ehe die Versammlung aufgelöst wird. Also kommt, Master! Wir legen bei dem sechsten Zelte an, und ich gehe an das Ufer.«

Wir machten uns wieder flott und schwammen weiter. Das Zelt stand ebenso nahe am Ufer, wie die andern; es warf seinen Schatten über die Büsche und auf das Wasser herab. Als wir den Schatten erreicht hatten, legten wir wieder an. Ich forderte Dunker auf:

»Bleibt hier liegen, bis ich zurückkehre, und steigt auf keinen Fall ans Land!«

»Aber wenn Ihr nicht wiederkommt, Sir?«

»Dann werdet Ihr Winnetou schießen hören.«

»Und wenn er nicht schießt?«

»Er wird! Ich werde mich ohne Gegenwehr nicht ergreifen lassen. Der Lärm, welcher dabei entsteht, wird dem Apatschen sagen, daß ich in Gefahr bin, und Ihr könnt Euch darauf verlassen, daß er dann nicht ruhig auf seinem Posten liegen bleibt. Wenn Ihr seine Schüsse hört, ergreift Ihr die Flucht. Ihr schwimmt mit Eurer Insel den Fluß hinab, bis Ihr den untersten Posten passiert habt, und kehrt zu Sir Emery zurück.«

»Und Ihr? Was wird dann mit Euch?«

»Das laßt nur meine und Winnetous Sache sein.«

»Sir, das ist leicht gesagt. Ich soll ausreißen, wenn Ihr Euch in Gefahr befindet?«

»Ja. Eure Hilfe könnte mir nichts nützen; sie würde mir nur schaden. Uebrigens wird der Fall, von dem wir sprechen, gar nicht eintreten. Wartet also, ich bin gleich wieder hier!«


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»Well! Aber ich sage Euch, daß ich zittere, nicht für mich, sondern für Euch!«

Ich befestigte meine Insel an den Busch, bei dem ich jetzt lag, und kroch darunter hervor, wobei ich natürlich untertauchen mußte. Dann schob ich mich vorsichtig zwischen den Sträuchern hindurch, die Böschung des Ufers hinauf. Dabei war gar nichts zu riskieren, denn hinter mir konnte es keinen Beobachter geben, zu beiden Seiten hatte ich das Gebüsch und vor mir das Zelt. Auf der Uferhöhe angekommen, blickte ich mich um. Es war kein Mensch zu sehen.

Nun kam es darauf an, zu erfahren, ob sich jemand in dem Zelte befand oder nicht. Ich kroch ganz hinan und lauschte. Es war nichts zu hören. Ich zog einen Pflock aus der Erde und hob den untern Saum des Zelttuches vorsichtig empor. Gerade mir gegenüber war der Eingang; er stand halb offen. Der Schein eines Feuers fiel herein, und ich sah, daß das Zelt leer war.

Mir klopfte das Herz. Melton hatte das geraubte Erbe in einer Ledertasche bei Sich, diese aber nicht mit auf der Versammlung gehabt; sie mußte sich also in seinem Zelte befinden. Ich sah sie aber nicht. Darum hob ich die Zeltleinen noch höher und kroch hinein. Die Tasche war nicht zu sehen. Sollte er sie vielleicht dem Häuptlinge in Verwahrung gegeben haben? Das hielt ich nicht für wahrscheinlich. Darum kroch ich nach der Lagerstätte, welche aus Laub, abgeschnittenem Gras und einigen Decken bestand, steckte die Hand unter diese und suchte. Da - da fühlte ich sie. Meine Hand zitterte. Ich zog sie zurück und überlegte, obgleich meine Lage keine solche war, daß ich Zeit zu langem Nachdenken gehabt hätte; sie war im Gegenteile höchst gefährlich.

Ich befand mich in einer großen Aufregung. Da


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lagen die Millionen, welche wir haben wollten! Durfte ich sie nehmen? Es wirbelte mir vor den Augen und vor den Ohren. Wie muß es erst einem Einbrecher zu Mute sein, der unter Lebensgefahr seine Hand nach unrechtem Gute ausstreckt! Ich zwang mich zur innern Ruhe.

Nahm ich die Tasche, so wurde sie jedenfalls sehr bald von Melton vermißt; er machte Lärm; man suchte, fand meine Spur, suchte die Umgegend weiter ab und traf dann auch auf unsere andern Spuren; dadurch gerieten wir in große Gefahr, und wenn wir derselben auch entgingen, so hatte ich wohl das Geld, aber nicht den Dieb.

Die Tasche durfte ich also nicht mitnehmen. Aber sie öffnen, auspacken, - auch mußte ich etwas anderes hineinthun, um Melton glauben zu machen, daß der Inhalt noch vorhanden sei; das erforderte eine Zeit, die mir nicht zu Gebote stand. Aber es mußte gewagt werden. Wurde ich überrascht, nun, dann kam Melton vielleicht allein in das Zelt, und mit dem würde ich schon fertig! Ich nahm also die Tasche unter den Decken hervor. Vielleicht hatte er den wertvollen Inhalt herausgenommen und zu sich gesteckt. In diesem Falle setzte ich mich der gegenwärtigen Gefahr ganz unnütz aus.

Es war eine Ledertasche mit eisernem Bügel; sie war voll und - verschlossen. Wie fatal! Ich zog mein Messer und sprengte das Schloß auf. Das war eine sehr leichte Arbeit, welche ich aber ungern unternahm, weil es fraglich war, ob ich das Schloß ebenso leicht wieder zubringen würde. Der Bügel ließ sich öffnen, und ich griff hinein. Ich fühlte weiche Gegenstände und kleinere Sachen; das war es nicht, was ich suchte. Dann kam eine starke, dicke Brieftasche in meine


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Hand; weiter gab es dann nichts. Ich nahm sie heraus. Um das vorige Volumen wieder herzustellen, schnitt ich mit dem Messer einen Streifen von der untern Lagerdecke, legte ihn viereckig zusammen, und schob ihn dahin, wo die Brieftasche gesteckt hatte. Hierauf zwang ich die Bügel wieder zusammen und gab an der Stelle, wo sich das Schloß befand, einen starken Druck - es schnappte; wie das möglich war, das konnte ich mir nicht erklären, aber das vorhin aufgesprengte Schloß war wieder zu.

Nun galt es, den Rückzug zu ergreifen, was freilich nicht so leicht war und so schnell ging, wie man meinen sollte, denn ich hatte meine Spur zu verwischen.

Meine Kleidung war naß gewesen, doch war von der Nässe gewiß nicht so viel, daß es auffallen mußte, in das Zelt gekommen. Ich nahm die Brieftasche zwischen die Zähne, selbstverständlich nachdem ich die Bügeltasche wieder unter das Lager gesteckt hatte, kroch aus dem Zelte und steckte den Pflock wieder an seine Stelle. Indem ich mich nun auf den Knieen rückwärts nach dem Wasser hinabbewegte, richtete ich die niedergedrückten Gräser sorgfältig mit den Händen auf. Wenn heute Nacht der Tau auf die Stelle fiel, war morgen früh von der Spur jedenfalls nichts mehr zu bemerken. Das Aufrichten des Grases mußte sehr sorgfältig geschehen, es nahm viel Zeit in Anspruch. Als ich endlich unten ankam, hörte ich Dunkers Stimme leise aus seinem Verstecke hervorklingen:

»Dem Himmel sei tausend Dank! Was war das für ein ewiges Warten! Mir sind aus lauter Sorge für Euch soviel Gänsehäute übergelaufen, daß ich ein steinreicher Kerl würde, wenn ich einen Käufer für sie fände.«

»Und doch müßt Ihr noch eine kleine Weile warten,« antwortete ich.


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»Noch länger! Warum?«

»Ich habe etwas geholt, was ich mitnehmen muß und doch nicht naß werden lassen darf. Ich muß es also auf meiner Insel befestigen, daß es trocken liegt.«

»Was ist es?«

»Einige Millionen Dollars.«

»Was! Etwa das geraubte Geld!«

»Ja.«

»Glückspilz, der Ihr seid! Wohl in einer Tasche?«

»Ja.«

»So befestigt sie ja recht sorgfältig, damit sie nicht verloren geht!«

»Ich bringe hinten auf meiner Insel eine zweite Erhöhung an. Auf diese habt Ihr von jetzt an zu achten, auf sonst weiter nichts, indem Ihr hinter mir her schwimmt.«

Ich mußte Holz haben und durfte doch keine Aeste von den Büschen schneiden, weil die weißen Schnittflächen zu Verrätern geworden wären; es gab glücklicherweise genug abgebrochene Zweige, welche mir hinreichendes Material zu der beabsichtigten Vorrichtung lieferten. Als die Tasche sicher untergebracht worden war, schlüpfte ich wieder unter meine Insel, und wir schwammen weiter. Beim vierten Zelte hielten wir an, und ich kroch wieder hervor.

»Nehmt Euch in acht!« warnte mich Dunker. »Es ist anzunehmen, daß die Lady sich nicht allein in dem Zelte befindet!«

»Dann sitzt sie wohl außerhalb,« gab ich zur Antwort.

»So! Warum?«

»Weil eine solche Dame solange wie möglich gute Luft genießt, anstatt sich mit alten Squaws in einem stinkenden Zelte zusammenzupferchen.«


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Ich schob mich am Ufer empor. Richtig! Meine Vermutung bestätigte sich. Etwa drei Schritte vor mir stand das Zelt, und daneben sah ich Martha sitzen, nur zwei Schritte von mir entfernt. Sie hatte ihren Platz seitwärts vom Zelte genommen, weil davor mehrere indianische Weiber saßen; ob zwei oder drei, das konnte ich nicht sehen. Jetzt galt es sie anzureden, ohne daß sie erschreckte. Das geschah am besten mit ihrem Vornamen und in deutscher Sprache.

»Martha!« flüsterte ich hinter ihr.

Sie zuckte zusammen und drehte sich erschrocken um, glücklicherweise ohne einen Ruf auszustoßen. Ich erhob den Kopf, sodaß sie mein vom zwischen den Zelten herüberleuchtenden Feuer beschienenes Gesicht sehen konnte und raunte ihr rasch zu:

»Still! Lassen Sie nichts hören! Haben Sie mich erkannt?«

Ja,« hauchte sie, indem sie ein wenig zur Seite rückte, sodaß wir besser leise Worte tauschen konnten. Die Indianerinnen hielten ihre Aufmerksamkeit aufwärts nach der Stelle gerichtet, wo die Beratung der Krieger noch immer nicht zu Ende war.

»Ich komme nur, um Ihnen zu sagen, daß ich in der Nähe bin,« fuhr ich fort.

»Gott sei Dank!« flüsterte sie, indem sie die Hände faltete. - »Aber welch eine Verwegenheit ist dies von Ihnen!«

»Es ist gar nicht gefährlich. Sagen Sie vor allen Dingen, wie Sie behandelt werden.«

»Ganz leidlich.«

»Ans Leben scheint es also nicht gehen zu sollen?«

»Vielleicht doch! - Wenn Jonathan Melton - doch Sie können ja gar nicht wissen, was wir -«


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»Ich weiß alles,« unterbrach ich sie. »Dunker, Ihr Führer -«

»Der ist entkommen!« schalt sie schnell ein.

»Und auf mich und Winnetou getroffen. Er steckt jetzt hinter mir im Wasser.«

»Himmel, diese Gefahr! Und Franz, mein Bruder?«

»Ist in Sicherheit. Er befindet sich bei den Nijora-Indianern.«

»Da ist er nicht sicher; denn diese sollen von den MogolIon überfallen werden. Melton sagte mir auch, daß er den Zug mitmachen wird, um Sie zu fangen.«

»So erwartet er also, daß wir kommen?«

»Wie es scheint. Er hat mir gedroht. Wenn er erst Sie, Winnetou und Emery hat, sollen wir alle ausgelöscht werden; so drückte er sich aus.«

»So wissen Sie, daß Ihnen wenigstens augenblicklich nichts geschehen wird; Sie können also ruhig sein. Was den Zug gegen die Nijoras betrifft, so werden wir dafür sorgen, daß er verunglückt; also auch um Ihren Bruder brauchen Sie keine Angst zu haben.«

»Aber schonen Sie doch auch sich! Wie haben Sie sich hierherschleichen können, und wie kommen Sie wieder fort? Ich möchte vor Bangigkeit vergehen!«

»Leiser, leiser; die alten Indianerinnen hören Sie sonst! Ich bin so sicher wie ein eingeschriebener Brief im Postbeutel. Ich kann Sie augenblicklich noch nicht befreien; darum komme ich jetzt, um Ihnen wenigstens zu sagen, daß die Gefangenschaft nur kurz sein wird. Wo befindet sich Murphy, der unvorsichtige Advokat?«

»Weiter drüben, Auf Veranlassung Meltons wird er sehr scharf bewacht. Wie ist es denn Ihnen ergangen? Sie scheinen das >Schloß<, welches Sie suchten, nicht gefunden zu haben?«


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»Wir fanden es. Später mehr davon; jetzt kann ich natürlich nicht erzählen. Harry Melton ist tot; sein Bruder Thomas befindet sich in unserer Gewalt, und nur Jonathan ist uns entwischt; aber in höchstens einigen Tagen werden wir auch ihn festhaben.«

»Und das Vermögen? Wie steht es mit diesem?«

»Habe ich vielleicht schon.«

»Haben Sie - -«

»Leiser, viel leiser«, unterbrach ich ihre erstaunten Worte. »Ich habe schon zu viel gesprochen und mich zu lange hier verweilt. Ich will Ihnen nur noch sagen, daß ich da oben in Meltons Zelt gewesen bin. Ich schlich mich vorhin hinein und habe, da es leer stand, seine Brieftasche erbeutet, die wahrscheinlich alles enthält, was wir haben wollen. Das ist die Hauptsache; den Spitzbuben bekommen wir dann auch noch. Jetzt will ich fort. Haben Sie also keine Sorge, und erfüllen Sie mir, sobald ich jetzt fort bin, eine Bitte!«

»Wie gern! Aber welche?«

»Steigen Sie dann einigemal hier zum Wasser nieder, um meine Spur zu verwischen. Wenn man das niedergedrückte Gras bemerkt, muß man denken, Sie seien es gewesen.«

»Ich werde es sehr gern thun; aber gewähren auch Sie mir eine Bitte! Setzen Sie Ihr Leben nicht zu sehr auf das Spiel! Wenn man Sie tötet, bin auch ich verloren!«

»Nein, denn da sind Winnetou und Emery noch da. Aber ich versichere Ihnen, daß ich nicht zu viel wage und daß mir nichts geschieht. Also zagen Sie nicht; halten Sie sich stramm, und seien Sie überzeugt, daß wir Sie sicher herausholen werden, denn - -«

Ich hielt inne, weil in diesem Augenblicke ein lauter


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schriller Schrei durch das Lager ertönte. Die alten Weiber vor dem Zelte sprangen auf und entfernten sich neugierig einige Schritte, sodaß sie uns nicht mehr so leicht wie vorher bemerken konnten.

»Was war das? - Was hat das zu bedeuten?« fragte Martha.

»Es ist der Sammelruf der Indianer. Der Häuptling ruft seine Posten zusammen. Daraus ersehe ich, daß man nach den Vorschlägen Meltons handeln wird. Jedenfalls wird sehr bald eine Abteilung aufbrechen, um uns zu fangen. Ich muß fort. Also Mut! Und leben Sie wohl!«

Wir hatten ein großes Glück gehabt, solange und so ungestört miteinander sprechen zu können. Sie reichte mir die Hand; dann rutschte ich in das Wasser hinab. Eben wollte ich unter meine Insel kriechen, da hörte ich, wo ich mich soeben noch bei Martha befunden hatte, eine mir bekannte, laute Stimme sagen:

»Mrs. Werner, ich komme, um mich von Euch zu verabschieden. Zwar bin ich überzeugt, daß Euch das Scheiden von mir sehr schwer fällt, aber ich kann Euch den Trost erteilen, daß wir uns recht, recht bald wiedersehen werden.«

Jonathan Melton war es, der so gesprochen hatte, und zwar in einem so niederträchtig höhnischen Ton, daß ich am liebsten hinaufgesprungen wäre, um ihn zu fassen und mit mir herunter in das Wasser zu ziehen. Ich hätte das wahrscheinlich auch gethan, denn wie die Sachen jetzt standen, wäre es wohl möglich gewesen, mit ihm aus dem Lager zu kommen, da die Posten zusammengerufen worden waren, aber ich hatte nicht nur auf Martha, sondern auch auf Murphy und - auf die Brieftasche Rücksicht zu nehmen. Darum kroch


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ich vollends in mein Versteck hinein und lauschte. Er fuhr fort:

»Ich bin's nicht allein, der sich entfernen muß, sondern auch Ihr werdet das Lager verlassen.«

Ah, dachte ich, wenn sie nur jetzt klug wäre! Wenn sie nur jetzt nicht schweigen, sondern ihm antworten wollte. Und sie war klug; sie mochte sich sagen, daß ich, der ich ja wohl noch nicht fort war, gern hören würde, was er weiter sprach. Sie fragte:

»Ich hier fort? Wann denn?«

»Schon mit Anbruch des Tages und zwar mit den Indianern, die gegen die Nijoras ziehen. Ich will Euch beweisen, wie wenig ich Euch und Eure sauberen Freunde fürchte. Meine Offenheit soll Euch sagen, daß Ihr schon jetzt nicht mehr für mich vorhanden seid. Der rote Winnetou und der sogenannte Old Shatterhand sind uns nachgeritten, um uns zu fangen. Ihr und Euer kluger Advokat habt das Resultat nicht abwarten können, und seid ihnen gefolgt. Das war eine große Albernheit von euch allen, denn die Meltons haben euch schon wiederholt bewiesen, daß ihr mit all eurer Klugheit nicht an sie kommt. Ihr befindet Euch mit dem Advokaten jetzt in meiner Gewalt, und ich reite schon in einer Viertelstunde mit einer Abteilung von fünfzig Mogollon ab, um Old Shatterhand, Winnetou und den Engländer dazu zu holen. Befinden sie sich noch auf dem >Schlosse<, wohin Ihr wolltet, so werden wir bis dorthin reiten und sie überrumpeln; sind sie aber schon fort, so treffen wir sie unterwegs. In beiden Fällen ist es schon jetzt so gut, als ob wir sie fest hätten. Euch und den Advokaten aber nehmen die Roten am Morgen mit, damit ich nicht so weit zurückzureiten habe. Ich werde in einer sehr schönen Gegend, welche man das >dunkle Thal<


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nennt, auf sie und also auch auf Euch treffen. Was meint ihr wohl, was dann geschehen wird?«

»Ihr laßt uns frei?«

»Frei? Das kann nur ein Weib sagen. Ich bin der Erbe des alten Hunter; hört Ihr es, ich! Es darf keinen andern Erben geben! - Wißt Ihr, was das heißt?«

»Wollt Ihr uns etwa töten!«

»Töten? Ah, ja, jetzt redet Ihr viel vernünftiger als vorher. Ihr seid der Wahrheit so nahe, daß Ihr sie beim Schopfe habt.«

»Sir, es kann ganz anders kommen, als Ihr denkt, wenn Ihr gar nicht auf Winnetou und Old Shatterhand trefft!«

»Das ist unmöglich. Entweder befinden sie sich noch im Pueblo, dann stecken sie in der Falle, denn ich kann unbemerkt in die Festung gelangen, ohne daß sie es ahnen, oder sie sind mir schon nachgeritten, und da giebt es nur einen einzigen Weg, auf dem sie uns begegnen müssen. Die sonst so klugen Kerle werden übrigens gar nicht vorsichtig sein, weil sie nicht ahnen können, daß ich, der Flüchtling, auf den Gedanken komme, wieder umzukehren.«

»Dann ist es wenigstens möglich, daß die Nijoras sich nicht überfallen lassen, sondern die Mogollon besiegen. Dann falle ich den Siegern in die Hände, aber nicht Euch.«

»Pshaw, Weibergedanke! Die Nijoras haben keine Ahnung, daß wir gegen sie ziehen. Wir werden sie überrumpeln, wie der Habicht auf die Tauben fällt. Ich habe befohlen, Euch und den Advokaten keinen Moment aus den Augen zu lassen. Man wird euch auf Pferde binden. Vielleicht ist's auch möglich, daß der


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Häuptling auf den milden Gedanken kommt, Euch in Euern Wagen zu stecken, weil Ihr nicht reiten könnt und also den Zug hemmen würdet. Auf keinen Fall aber werdet Ihr Gelegenheit zur Flucht finden, und auf keinen Fall dürft Ihr denken, daß es Euern Freunden gelingen wird, mir zu entkommen und Euch zu retten, Geht jetzt in Euer Zelt! Die Wächterinnen sind angewiesen, Euch bis zum Morgen nicht herauszulassen.«

Sie schien dem Befehle zu gehorchen, denn es war nichts mehr zu hören. Wir warteten noch ein Weilchen und stießen dann vom Ufer ab, um weiterzuschwimmen. Ich konnte zwar annehmen, daß alle Posten dem Sammelrufe ihres Häuptlings gefolgt seien, und es war auch wirklich keiner am Flusse zu sehen, dennoch schwammen wir zu unserer Sicherheit so weit hinab, daß wir uns nun auf alle Fälle außerhalb der Postenkette befanden, und stiegen dann aus dem Wasser. Als ich die Tasche zu mir nahm, war sie vollständig trocken.

Wir sahen trotz der nächtlichen Dunkelheit, in welche Richtung wir uns zu wenden hatten, denn oben auf der Höhe brannte noch das Feuer. Es diente uns als Wegweiser, da Emery dahinter auf uns wartete.

»Sir,« meinte Dunker, indem wir nebeneinander nach dieser Richtung schritten, »das war ein Abenteuer, an welches ich mit Lust denken werde. Besser konnte es doch gar nicht gelingen!«

»So seid Ihr also zufrieden?«

»Well! Und wie! Was Ihr mit der Lady vorher gesprochen habt, das war so leise, daß ich es nicht hören konnte; aber zuletzt hat Melton uns alles verraten. Es war kostbar, daß er in seinem Hohne und seiner Sicherheit alles so herausplauderte. Was meint Ihr, daß wir nun thun werden?«


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»Darüber haben wir beide nicht allein zu entscheiden. Daß wir so viel erfahren haben, ist ganz gut; noch lieber aber ist mir die Brieftasche. Melton wird in kurzer Zeit aufbrechen; es steht also gar nicht zu erwarten, daß er seine Ledertasche untersucht und den Verlust bemerkt. Daß ich so leicht zu dem Gelde kommen könnte, das habe ich nicht für möglich gehalten. Für die, denen es gehört, ist nun auf alle Fälle gesorgt.«

»Steckt denn das Geld auch wirklich drin?«

»Ich müßte mich sehr irren, wenn es anders wäre. Wenn es Tag geworden ist, werden wir ja sehen.«

Ich hielt inne, denn es war mir, als ob ich nicht weit vor uns eine dunkle Gestalt gesehen hätte. Das konnte ein Mogollon sein. Da aber hörten wir Winnetous Stimme:

»Meine Brüder mögen näher kommen! Es ist kein Feind, der lauernd auf sie wartet.«

Er hatte meinen Stutzen in der Hand und sagte:

»Meine Brüder stiegen oben in das Wasser; sie mußten abwärts schwimmen; daher stellte ich mich unten her, weil das der Punkt war, an welchem ich ihnen am besten beistehen konnte. Sie mögen mit mir zu Emery kommen.«

»Werden wir auf keinen Posten treffen?«

»Nein. Die Wächter sind alle in das Lager gegangen, als der Ruf erscholl.«

Emery war nicht wenig froh, als er uns heiler Haut zurückkommen sah. Wir rangen unsere Kleider aus, so gut es ging, zogen die abgelegten Stücke an, steckten alles, was wir weggethan hatten, wieder zu uns und erzählten dabei, was wir erfahren hatten. Als ich sagte, daß ich die Brieftasche erwischt hätte, wurde der Apatsche bedenklich. Er meinte:


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»Mein Bruder hätte sie auf keinen Fall nehmen sollen. Melton wird den Verlust entdecken!«

»Mag er!«

»Und ahnen, daß wir hier gewesen sind!«

»Vielleicht öffnet er die Tasche erst heute, erst morgen, erst nach einigen Tagen. Und wenn er sehr bald merkt, daß das Geld fort ist, muß er da gleich denken, daß wir es sind, die es geholt haben? Kann ihn nicht ein Mogollon bestohlen haben, als er die Tasche so leichtsinnig in dem Zelte liegen ließ? Wer weiß, seit wann er sie schon vorher nicht geöffnet hat. Er kann auch wohl denken, daß das Geld ihm schon früher herausgenommen worden ist. Und wenn er es bald bemerkt, und seinen Verdacht auf uns lenkt, so ist es doch jedenfalls besser, wir haben das Geld, nach welchem wir so lange vergebens gejagt haben, als daß es sich noch länger in seinen Händen befindet und da allen Zufälligkeiten ausgesetzt ist. Schließlich könnte es so weit kommen, daß er, wenn wir ihn fangen, das Geld nicht mehr besitzt.«

»Vielleicht gebe ich meinem Bruder recht, wenn er mir weiter erzählt.«

Ich folgte der Aufforderung, indem ich ihm noch berichtete, was Jonathan Melton der Sängerin alles gesagt hatte. Als ich fertig war, sagte er im Tone der Verwunderung:

»Winnetou hielt diesen Menschen für klüger, als er sich jetzt gezeigt hat. Der Hohn ist ein Verführer, dem man niemals folgen sollte. Also er bricht mit fünfzig Mann auf, um uns entgegenzureiten! Was sagt mein Bruder Shatterhand dazu?«

»Das, was jeder vernünftige Mensch sagen würde. Es ist eine Dummheit, die gar nicht größer sein kann.


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Wenn er einmal annimmt, es sei möglich, wir hätten erfahren, wohin er geritten ist, und seien ihm gefolgt, so kann er auch annehmen, daß das sehr bald geschehen ist. In diesem Falle können wir, da er schon so bald am Tage hier angekommen ist, doch auch schon hier oder doch wenigstens nahe sein. Darum ist es ein ungeheurer Fehler von ihm, jetzt aufzubrechen, um uns entgegenzugehen. Es ist dunkel; er kann unsere Spur nicht sehen und muß beinahe sicher annehmen, daß er uns verfehlen wird. Er dürfte diesen Ort nur am Tage verlassen und müßte erst die Umgegend sorgfältig nach uns absuchen.«

»Mein Bruder hat richtig gesprochen. Und dann, wenn es Tag geworden ist, werden die Mogollon gegen die Nijoras aufbrechen? Sind sie dann schon gerüstet? Der Zug sollte doch drei Tage später begonnen werden!«

»Zum Gerüstetsein einer Indianertruppe gehört weniger als zu dem eines großen Heeres von weißen Soldaten.«

»Old Shatterhand muß daran denken, daß man nicht nur mit Waffen, sondern auch mit Proviant ausgerüstet sein muß. Sind die Mogollon genugsam damit versehen? Haben meine Brüder bemerkt, daß sie Fleisch gemacht haben?«

»Nein, ich habe keine Riemen oder Leinen bemerkt, an denen Fleisch zum Trocknen hing.«

»Das ist ein großer Fehler, denn unterwegs und dort, wohin sie wollen, werden sie kein Fleisch finden.«

»Giebt es in der Gegend des dunklen Thales< kein Wild?«

»Entweder keins oder doch wenig. Und haben Krieger, welche in jedem Augenblicke angegriffen werden können, Zeit, auf die Jagd zu gehen und Fleisch zu machen?«


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»Nein. Doch wenn die Mogollons solche Fehler begehen, kann es uns nur lieb sein. Kennt der Häuptling der Apatschen das dunkle Thal?«

»Ja.«

»Wie weit ist es von hier?«

»Wenn ein gewöhnlicher Reiter früh aufbricht und unterwegs Nachtlager macht, wird er es um die Mitte des nächsten Tages erreichen. Ich werde meine Brüder führen.«

»Es liegt auch der Gedanke nahe, hier zu bleiben, um die Gefangenen zu befreien, wenn die Krieger fort sind. Dies würde für uns eine leichte Sache sein.«

»Hat mein Bruder auch an die Folgen gedacht?«

»Ja. Man muß sich eben alles überlegen. Jetzt wissen sie nicht genau, wo wir sind; dann aber werden sie es sicher erfahren.«

»Ja; es würden sofort Boten den Kriegern nacheilen, um zu melden, was geschehen ist. Aber es würden auch noch andere Folgen eintreten, weil wir auf unsere Schnelligkeit verzichten müßten.«

»Freilich würden die Lady und der Advokat uns arg hindern.«

»Doppelt hindern, denn wir könnten erstens nicht den Nijoras zu Hilfe kommen und den Mogollons zweitens nicht ausweichen, welche nach Ankunft der Boten augenblicklich eine Schar von Kriegern aussenden würden, uns zu fangen. Denkt mein Bruder etwa, daß den Gefangenen hier in Abwesenheit der Krieger etwas Schlimmes geschehen wird?«

»Nein. Erst nach Rückkehr Meltons ist für sie zu fürchten.«

»So können sie hier bleiben; sie sind uns da sicherer, als wenn wir uns mit ihnen schleppen und sie gegen eine


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übermächtige Schar von Feinden verteidigen müssen. Wir reiten zu den Nijoras, um ihnen gegen die Feinde beizustehen. Sind diese geschlagen, so zwingen wir sie, uns nicht nur die Lady und den Advokaten, sondern auch Melton auszuliefern.«

»Gut! Wann brechen wir auf!«

»Wenn Melton mit seiner Schar fort ist. Wenn wir eher ritten, würden sie, wenn sie hinter uns kämen, unsere Fährte sehen und Verdacht schöpfen.«

»Können wir nicht einen andern Weg einschlagen?«

»Ja, aber ist es nicht besser, wir bleiben, um uns zu überzeugen, daß sie wirklich fort sind und daß Melton sich gewiß bei ihnen befindet?«

»Nein. Ich bin vollständig überzeugt davon, daß es so ist und so geschieht, wie er gesagt hat. Und wenn wir erst nach ihnen reiten, müssen wir hinter ihnen bleiben, was uns ungeheuer aufhalten würde, denn sie reiten jedenfalls nicht so schnell, wie wir reiten müssen, wenn wir die Nijoras rechtzeitig benachrichtigen wollen, weil sie doch unterwegs sich nach uns umsehen müssen. Ich schlage also vor, wir verlassen entweder diesen Ort sofort, oder wir bleiben da, um die Gefangenen zu befreien, wenn am Morgen die Krieger fortgezogen sind.«

»Mein Bruder Old Shatterhand hat recht. Was sagt mein Bruder Emery dazu?«

»Sofort aufbrechen,« antwortete dieser. »Das Geld haben wir, nun müssen wir unbedingt den lieben Jonathan bekommen. Den Gefangenen geschieht in der nächsten Zeit nichts. Werden die Mogollons besiegt, so zwingen wir sie, sie uns auszuliefern, und sollte der Kampf wider Erwarten einen andern Ausgang nehmen, so können wir immer noch heimlich hierher zurückkehren, um das nachzuholen, was wir jetzt unterlassen.«


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Dunker wurde auch gefragt, freilich mehr aus Höflichkeit, als weil wir ihm eine entscheidende Stimme hätten zutrauen mögen. Er stimmte bei, machte aber die nicht ganz unbegründete Bemerkung:

»Wir müssen uns aber vor den Roten in acht nehmen, welche zu meiner Verfolgung ausgeschickt worden sind.«

»Sind die nicht zurückgekehrt?« fragte Emery.

»Ich weiß es nicht, möchte aber mit nein antworten. So lange es Tag ist, sind sie meiner Spur gefolgt. An der Quelle, wo wir zusammengetroffen sind, werden sie bemerken, daß ich da auf mehrere Reiter gestoßen und dann mit diesen nach dem weißen Felsen zurückgekehrt bin. Mit dieser Botschaft kommen sie heim; was sie für ein Aufsehen erregen wird, läßt sich leicht denken.«

»Sie werden diese Botschaft gar nicht bringen,« bemerkte ich. »Beachtet nur das Wetter, Master Dunker! Seit einer Viertelstunde geht ein hohler Wind, und es beginnt bereits, von oben zu >nässeln<. Dazu müßt Ihr nehmen, daß es schon zu dunkeln begann, als wir die Quelle verließen. Eure Verfolger waren noch nicht dort, und ehe sie hinkommen konnten, ist es Nacht geworden. Um Eure Spur nicht zu verlieren, haben sie da halten müssen, wo sie von der Dunkelheit überrascht worden sind, und wenn sie den Fehler gemacht hätten, trotzdem nach der Quelle zu reiten, vielleicht weil sie Euch dort vermuteten oder weil es dort Wasser für ihre Pferde gab, so konnten sie unsere Spuren doch nicht erkennen. Feuer haben sie nicht mitgehabt oder wenigstens nicht angezündet. Dazu kommt, daß das Pferd, auf welchem Ihr entflohen seid, das beste und schnellste des ganzen Lagers ist, wie ich vermute, und daß sie sich also wohl sagen müssen, es sei unmöglich, Euch einzuholen. Es ist also zweierlei anzunehmen: Entweder sind sie um-


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gekehrt [umgekehrt] und befinden sich jetzt schon wieder im Lager, weil sie die Verfolgung aufgegeben haben, oder sie befinden sich noch jetzt auf Eurer Fährte, doch lagernd, können ihr aber nicht folgen, weil, bis der Tag anbricht, der Regen, welcher immer stärker wird, sie verwischt und verwaschen haben wird.«

»Well, das ist sehr richtig, Sir.«

»Ich denke also, daß wir auf die Leute gar keine Rücksicht zu nehmen brauchen.«

»Es ist so, wie mein Bruder Shatterhand gesagt hat,« stimmte mir Winnetou bei. »In einer Viertelstunde werden wir starken Regen haben. Und das ist sehr gut, denn derselbe wird auch die Spuren, welche wir hier gemacht haben, unkenntlich machen. Wir wollen zu Pferde steigen.«

»Kann uns Winnetou so führen, daß uns die Mogollons nicht hinter die Fersen kommen?«

»Ja. Sie werden den Weg reiten, welchen wir gestern bis an die Quelle eingehalten haben. Wenn wir uns ein wenig weiter nach rechts halten, werden sie von uns nichts verspüren.«

Er meinte also, wir sollten so reiten, daß unser Weg parallel mit dem der Mogollons ging, und dieser Gedanke wurde ausgeführt. Es konnte zwei Uhr nachts sein, als wir aufstiegen und die Gegend verließen, in welcher wir die interessante Schwimmpartie ausgeführt hatten. Der Ritt schien freilich kein angenehmer werden zu wollen, denn der Wind war stärker geworden und es regnete bald so stark, daß wir schon nach kurzer Zeit bis auf die Haut naß waren. Dunker und mir konnte das gleichgültig sein, denn bis gerade so weit waren wir ja schon vorher naß gewesen, und tiefer konnte es unmöglich dringen. - -


Kapitel 6


Einführung zu "Satan und Ischariot"


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