Jahrgg. 16, Nummer 43, Seite 684
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
40. Fortsetzung

Vor dem Hauptgebäude hielten wir an. Ein halbes Tausend Helden standen da, hielten sich aber von der Front des Hauses ziemlich fern, was uns vermuten ließ, daß wir uns am Hauptquartiere irgend eines Napoleon oder Molke befanden.

Der Major stieg ab und ging in das Haus, jedenfalls um seine Meldung zu machen. Die andern blieben zu Pferde und behielten uns in ihrer Mitte. Erst nach Verlauf von wohl einer halben Stunde kehrte der Major zurück. Sein Gesicht sah streng und verschlossen aus.

»Herab mit ihnen!« gebot er. »Bringt sie herein!«

Wir wurden an den Beinen losgebunden und in das Innere des Hauses geführt. Dort standen einige Kerle, welche eine Türe öffneten, die in einen selbst jetzt am Tage völlig dunklen Raum führte. Da hinein steckte man uns und dann wurde die Türe hinter uns verriegelt.

»Da also werfen wir Anker!« sagte Frick Turnerstick. »Verteufelt schlechter Hafen! Fast noch schlechter, als die Plätze in Buenos Ayres! Bin neugierig, was man nun mit uns anfangen wird. Jetzt aber die Hände frei! Werde zunächst die Riemen zerreißen. Habe es bisher nur aus Vor- und Rücksicht nicht getan.«

»Unterlassen Sie das!« bat ich ihn. »Sie verwunden sich doch nur selbst. Die Riemen dringen in das Fleisch. Wir knüpfen uns gegenseitig die Riemen auf.«

»Wie ist das möglich? Wir haben ja alle die Hände auf dem Rücken. Ja, wenn wir sie vorn hätten!«

»Ist ganz dasselbe. Der Yerbatero ist kleiner als ich. Er mag sich Rücken an Rücken zu mir stellen. Auf diese Weise bekomme ich wohl die Knoten seiner Riemen in die Finger. Wollen sehen, ob ich sie aufknüpfen kann.«

Das Vorhaben gelang, allerdings erst nach einiger Anstrengung. Dann löste der Yerbatero mir meine Riemen, und nun machten wir beide auch die andern los.

»So!« rief der Kapitän. »Mag nun kommen, wer es auch sei, ich gebe ihm eins auf die Nase, daß er zu Grund fährt!«

»Das werdet Ihr hübsch bleiben lassen!« warnte ich. »Mit Gewalt ist hier nichts zu erreichen. Ihr habt gesehen, daß sich wohl über tausend Soldaten hier in der Nähe befinden.«

»Aber, warum habt Ihr uns da losgebunden?«

»Weil wir wohl baldigst vor einen höheren Offizier geführt werden, vor welchem ich nicht gefesselt erscheinen mag.«

»Pah! Man wird Euch wieder binden!«

»Das mag man bleiben lassen. Ich ersuche Sie alle, Sennores, keine Unvorsichtigkeit zu begehen. Wir würden uns damit nur schaden. Wieder binden werden wir uns freilich nur dann lassen, wenn es gar nicht zu umgehen ist. Im übrigen aber widersetzen wir uns nicht. Befindet Lopez Jordan sich hier, so verspreche ich Ihnen, daß wir bald frei sein werden.«

Die Füße waren uns nicht wieder zusammengebunden worden, so daß wir uns jetzt frei bewegen konnten. Wir untersuchten unser Gefängnis. Es bestand aus den vier nackten, kahlen Wänden; auch der Boden war nur Erde. Wir ließen


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uns nieder und warteten der Dinge, die da kommen sollten. So vergingen einige Stunden. Dann wurde die Türe aufgeriegelt und es erschien der Major und ein schäbig angekleideter Soldat.

»Der Deutsche mag kommen!« sagte er.

»Ich allein?« fragte ich.

»Ja.«

Schnell flüsterte ich dem Yerbatero zu:

»Schlingen Sie mir einen Riemen um die Hände, doch so, daß ich ihn leicht aufreißen kann!«

Ich legte die Hände auf dem Rücken zusammen. Es war dunkel bei uns, so daß der Major nichts sah.

»Nun, schnell!« gebot er. »Zum General!«

»Was soll ich dort?«

»Das werden Sie hören.«

»Warum ich allein und nicht auch meine Kameraden mit?«

»Das geht Sie nichts an. Vorwärts!«

Da der Yerbatero indessen fertig geworden war, so gehorchte ich jetzt. Es sah ganz so aus, als ob ich noch gefesselt sei. Nun erst konnte ich sehen, daß der Major noch vier Soldaten bei sich hatte, welche mich in ihre Mitte nahmen.

Gegenüber unserer Türe wurde eine andere geöffnet. Wir traten in eine Stube, in welcher es sehr kriegerisch aussah. Soldaten hockten am Boden und spielten mit Karten oder Würfeln. Waffen aller Art standen umher. Überall lagen, als ob es geschneit hätte, weiße Zigarettenstummel, und eine Luft gab es hier, als ob man sich in einem Pesthause befinde. Durch diese Stube kamen wir in eine zweite, in welcher es eine etwas, wenn auch nicht viel bessere Luft gab. Ein Tisch stand da, auf demselben eine Öllampe. Neben demselben befanden sich mehrere Schemel, auf denen Männer saßen, welche ihrem stolzen Gebaren nach Offiziere sein mußten. Abzeichen ihres Ranges konnte ich nicht entdecken.

Vor hier aus gelangten wir in einen dritten Raum, den feinsten von allen. Da standen zwei Tische, einer am Fenster, welches keine Glasscheiben hatte, und einer in der Mitte des Zimmers. An dem ersteren saßen zwei Offiziere, rauchend und Weingläser vor sich. An dem letzteren hatte ein älterer Kriegsmann Platz genommen. Er schien auf einer Karte die berühmte Gegend zu suchen, wo der Pfeffer wächst, konnte sie aber nicht finden, denn ich stand mit dem Major wohl fünf Minuten lang an der Türe, ohne daß der Sennor General uns die geringste Beachtung schenkte. Die übrige Eskorte war draußen in der vordern Peststube geblieben.

Der General war wohl sechzig Jahre alt, hatte aber noch kein graues Haar. Er trug weiße Pantalons, kurzschäftige Stiefel mit gelben Stulpen, wie ein deutscher herrschaftlicher Kutscher, eine rote Samtweste und einen mit Goldborten überladenen blauen Frack. Die Raupen seiner Epauletten hingen ihm fast bis zum Ellbogen herab. Es kam mir ganz so vor, als ob ich mich während der Probe eines kriegerischen Lustspieles auf der Bühne befände. Angst fühlte ich gar nicht. Nur ärgerte ich mich über den Major, welcher meine beiden Revolver in seinem oder vielmehr meinem Gürtel stecken hatte. Der Kerl befand sich also im Besitze aller Gegenstände, welche ich in demselben aufbewahrt hatte.

Erst räusperte er sich einige Male vergeblich. Dann hustete er, laut und lauter. Erst als das gar zu auffällig wurde, erhob der General den Kopf von der Karte und musterte mich mit finsterem Blicke.

»Ist das der Deutsche?« fragte er den Major.

»Er ist es,« antwortete dieser.

»Gut! Sie bleiben natürlich hier, um den Mann dann wieder abzuführen.«

Der Offizier zog eine Zigarette aus dem Päckchen, welches neben der Karte auf dem Tische lag, steckte sie in Brand, legte bequem das eine Bein über das andere, warf mir noch einen ebenso drohenden wie geringschätzenden Blick zu und fragte mich dann:

»Du bist in Deutschland geboren?«

Der Major stand hinter mir. Ich trat zur Seite und sah ihn an, als ob ich der Ansicht sei, daß die Frage ihm gegolten habe.


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»Ob du in Deutschland geboren bist, oder ob du nur von deutschen Eltern stammst, frage ich dich!« fuhr mich der General an.

Dennoch warf ich dem Major einen Blick zu, als ob ich ihm sagen wolle, daß er doch antworten solle.

»Dich frage ich, dich!« schrie der General, indem er aufsprang und auf mich zutrat.

»Mich?« fragte ich im Tone des Erstaunens.

»Ja, dich! Und nun antworte, sonst lasse ich dir den Mund öffnen!«

»Ich glaubte wirklich, die Frage sei an Sennor Cadera gerichtet, und freute mich herzlich über das familiäre Verhältnis, welches zwischen einem argentinischen Generale und seinen Untergebenen stattfindet.«

»Mensch! Weißt du, bei wem du dich befindest?«

»Natürlich, bei dir!«

Er fuhr zurück; die beiden Offiziere am andern Tische sprangen auf, und der Major ergriff mich drohend beim Arme.

»Chispas!« rief der General. »Hat man schon einmal so etwas gehört? Dieser Halunke duzt mich!«

»Das ist noch lange nicht so unglaublich, als daß ein General einen Halunken duzt!« antwortete ich.

Die beiden Offiziere griffen an ihre Säbel. Der Major schüttelte mich, griff nach der Türklinke und fragte:

»Soll ich den Profoß rufen, Sennor General?«

Dieser winkte ab. Er kehrte zu seinem Stuhle zurück, setzte sich nieder und sagte:

»Nein! Ein solcher Kerl kann mich nicht beleidigen. Aber Sie haben Recht gehabt, Major, als Sie diesen Menschen schilderten. Ihm ist alles zuzutrauen. Daß er es wagt, mich du zu nennen, kennzeichnet ihn so genau, wie nichts anderes. Bleiben wir ruhig! Er soll dann erfahren, was geschieht.«

Er setzte sich wieder zurecht und fragte mich nun:

»Sie sind in Deutschland geboren?«

»Ja, Sennor,« antwortete ich höflich.


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»Was sind Sie?«

»Gelehrter.«

»Ojala! Wenn Ihr Vaterland solche Gelehrte hat, so möchte ich erst einmal einen Ungelehrten, einen Ungebildeten, kennen!«

»Die gibt es in Deutschland nicht, denn es wird keinem Deutschen einfallen, einen Fremden du zu nennen. Dazu achtet sich der Deutsche viel zu hoch. Selbst der niedrigste Knecht tut das nicht.«

»Mensch! Wissen Sie, daß ich Sie zermalmen kann?«

»Das weiß ich nicht und glaube es auch nicht. Einen Alemano zermalmt man nicht so leicht. Ich begreife überhaupt nicht, wie Sie dazu kommen, in einem solchen Tone mit mir zu reden. Daß Sie General sind, stellt Sie nicht höher als mich. Vielleicht besitzt ein deutscher Sergeant mehr Geschick und Kenntnis, als Sie. Ich frage aber nicht darnach, weil mir dies gleichgültig sein kann. Wohl aber muß ich fragen, welch ein Recht Sie haben, mich einen Halunken zu nennen. Kennen Sie mich? Haben Sie bereits untersucht, weshalb ich vor Ihnen stehe? Können Sie sagen, daß man Sie nicht belogen habe? Die Halunken sind diejenigen, welche mich hierher brachten, und ich verlange von Ihnen die Bestrafung derselben!«

Ich hatte das so schnell hervorgebracht, daß es unmöglich gewesen war, mich zu unterbrechen. Ganz unbeschreiblich waren die Gesichter, welche mir entgegenstarrten. Der General sah aus, als ob er ein Dutzend Ohrfeigen erhalten habe, ohne zu wissen, woher sie gekommen seien. Daß ich mich in dieser Weise benahm, war keineswegs zu viel gewagt von mir. Ich wußte sehr genau, was ich wollte. Vor diesen vier Männern brauchte ich mich nicht zu fürchten. Ein schneller Blick rundum hatte mir gleich bei meinem Eintritte die Situation klar gemacht. Die Fenster waren so klein, daß niemand durch dieselben heraus oder herein konnte. Die Türe hatte den Riegel nach innen. Der General war ganz unbewaffnet; sein Säbel hing an der Wand. Und die beiden Offiziere trugen nur ihre Degen, weiter nichts. Und der Major? Nun der stand mir eben recht.


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Nachdem sie mich eine Weile angestarrt hatten, sagte der General, nach dem Fenster gewendet:

»Setzen Sie sich wieder nieder, Sennores! Der Mann ist verrückt. Man kann ihm nichts übel nehmen. Wollen aber doch einmal hören, welchen Unsinn er vorbringt.«

»Bitte!« fiel ich ein. »Darf ich nicht vielleicht vorher hören, welcher Unsinn gegen mich vorgebracht worden ist?«

»Nein, mein Bester, das ist nicht nötig. Ich habe nicht Lust, diese Geschichte zweimal anzuhören. Beantworten Sie einfach folgende Fragen: Haben Sie sich an dem Major Cadera vergriffen?«

»Ja, nachdem er sich an mir vergriffen hatte.«

»Kennen Sie einen gewissen Sennor Esquilo Anibal Andaro?«

»Ja.«

»Wo lernten Sie ihn kennen?«

»In Montevideo.«

»Bei welcher Gelegenheit?«

»Er hielt mich für den Obersten Latorre.«

»Weiß schon, weiß! Sie haben dem Major den Degen zerbrochen, ihn gestern abend gefangen genommen und ihm sein Geld geraubt?«

»Ja.«

»Das ist genug. Weiter brauche ich nichts zu wissen. Treten Sie einmal an das Fenster, und sehen Sie hinaus!«

Ich gehorchte dieser Aufforderung.

»Was sehen Sie?«

»Zwölf Soldaten, welche vor der Türe aufmarschiert sind.«

»Womit sind sie bewaffnet?«

»Mit Gewehren.«

»Sie werden die zwölf Kugeln dieser Gewehre binnen zehn Minuten im Kopfe oder im Herzen haben. Sie werden erschossen!«

Es war ihm Ernst mit diesen Worten. Ich kehrte vom Fenster nach der Türe zurück, stellte mich dort neben den Major und sagte:

»Sennor, Sie sagen da ein leichtes Wort, dessen Bedeutung für mich sehr schwer ist. Ich habe zwar Ihre Fragen beantwortet, aber diese Fragen behandeln Tatsachen, welche aus dem Zusammenhang gerissen sind und also anders erscheinen, als sie beurteilt werden müssen. Ich habe nichts getan, wofür ich auch nur einen Verweis verdient hätte, am allerwenigsten aber habe ich mich eines todeswürdigen Verbrechens schuldig gemacht. Und selbst wenn dies der Fall wäre, hätte ich das Recht, zu verlangen, von einem ordentlichen, zuständigen Gericht abgeurteilt zu werden!«

»Das ist geschehen. Diese beiden Herren waren die Beisitzer, ich war der Vorsitzende des Gerichtes. Das genügt.«

»Ah so! Und mein Verteidiger?«

»Ist nicht nötig«

»Nicht! Und ich selbst, der Angeklagte? Wo war ich während des Verhöres?«

»Wir brauchten Sie nicht. Es herrschen hier Ausnahmezustände. Sie haben sich an einem unserer Offiziere vergangen. Sie werden erschossen!«

»So gibt es keine Appellation gegen dieses Urteil?«

»Nein. Ich habe vom Generallissimo Generalvollmacht.«

»Und wie ist der Name dieses hohen Sennorissimo?«

»Lopez Jordan.«

»Jordan! Ist es dieser, so verlange ich, mit ihm sprechen zu dürfen.«

»Er ist nicht hier. Und selbst wenn er anwesend wäre, würde ich diese Bitte nicht erfüllen dürfen. Ich kann ihn nicht mit solchen Dingen belästigen.«

»Und was geschieht mit meinen Gefährten?«

»Sie werden den Truppen eingereiht.«

»So sage ich Ihnen, daß ich an Lopez Jordan eine höchst wichtige Mitteilung zu machen habe.«

»Das glaube ich nicht.«

»Ohne diese Mitteilung ist das Gelingen seines Pronunciamento eine Unmöglichkeit!«

»Jeder Verurteilte behauptet, eine solche Mitteilung zu machen zu haben. Und wenn man ihn hört, so ist es eine Lappalie, die er vorbringt, um das verwirkte Leben um einige


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Augenblicke zu fristen. Sie können den Generalissimo nicht sprechen. Überhaupt war Ihr ganzes Verhalten ein so freches, daß ich nicht die geringste Veranlassung habe, Ihnen einen Wunsch zu erfüllen.«

»Ich soll also wirklich augenblicklich füsiliert werden, obgleich ich ein Fremder bin, der von Ihnen gar nicht abgeurteilt werden darf?«

»Ja. Ich sagte schon, daß hier Ausnahmezustände herrschen.« »General, Sie werden Ihr Verhalten zu verantworten haben!«

»Ich trage die Verantwortung mit Leichtigkeit. Major, führen Sie den Mann ab, und rapportieren Sie mir seinen Tod!«

»Aber, so erschießt man keinen!« fiel ich ein, indem ich meine Hände im Riemen lockerte. »Darf ich denn nicht wenigstens vorher mit einem Geistlichen sprechen?«

»Auch das geht nicht. Fort mit Ihnen!«

»General, Sie kennen mich nicht, sonst würden Sie anders handeln. Sie werden mich nicht erschießen. Sie haben kein Recht dazu. Ich dulde das nicht!«

»Pah! Hinaus mit ihm, Major!«

(Fortsetzung folgt.)
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