Jahrgg. 17, Nummer 1, Seite 11
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Der Schatz der Inkas.

(El Sendador, Theil II.)

Reiseroman von Karl May.
1. Kapitel.
Nuestro Sennor Jesu Christo de la floresta virgen.

Wer den ersten Teil meiner neuen Reiseabenteuer gelesen hat, weiß, welche seltsamen Fahrten und Gefahren ich zu bestehen hatte. Für die wenigen, welche die vorhergegangenen Ereignisse noch nicht kennen, füge ich folgende kleine Einleitung hinzu.

Durch eine überraschende Verwicklung der Umstände war ich in Argentinien in die Hände des aufrührerischen Generals Lopez Jordan gefallen, dem es indessen nicht gelungen war, mich festzuhalten. Ich hatte ihm sogar den Major Cadera entführt und denselben unterwegs auf einer schwimmenden Insel abgesetzt. Von meinen Begleitern hatten der Estanziero und sein Sohn, sowie der von Jordan desertierte Offizier uns verlassen. Dann ging ich mit meinen Gefährten, dem Frater Hilario, auch Bruder Jaguar genannt, dem Yerbatero (Teesammler) Monteso und seinen Leuten, dem Kapitän Frick Turnerstick und dem Steuermann Larsen auf einem Floß den Paranastrom hinunter, um nach Buenos Ayres zu fahren. Von dort wollten wir uns durch die weite Waldlandschaft, den Gran Chaco schlagen. Ich wollte nach Tucuman, um einen alten Bekannten wieder zu sehen. Gleichzeitig aber wollten wir einen abgefeimten Schurken, den Sendador, suchen, welcher im Besitz wichtiger auf einen vergrabenen Schatz bezüglicher Dokumente war. Diese Dokumente bestanden in Quipus, das sind altperuanische Geheimnisse, welche in Schnuren geknüpft sind, die ich zu enträtseln hoffte. Der Sendador hatte sie einem Mönche, der dieselben seinem Kloster überbringen wollte, abgenommen, und ihn in der Pampa de Salinas in den brasilianischen Anden ermordet. Die Yerbateros wußten, daß der Sendador im Besitz der Quipus war, nicht aber, daß er den Mönch ermordet hatte. Letzteres hatte ich aus den Aussagen eines sterbenden Mannes erraten, der unbemerkt Zeuge der Tat gewesen und später vom Sendador gezwungen worden war, Stillschweigen zu schwören.

Jetzt fuhr ich denn Parana herauf und seltsame Gedanken bewegten mich. Ich dachte an das Wort eines Kirchenvaters: »Gehet hin in alle Welt, und öffnet allen Völkern die Pforten der Seligkeit!« So umschreibt er die Worte, durch welche der göttliche Erlöser die Mission einsetzte und heiligte. Und sie sind hingegangen, die Apostel des Herrn, in Not und Tod, um seinen Befehl auszuführen, und nach ihnen Hunderte und Tausende in demselben Glaubenseifer und Todesmut. Wo gibt es ein Land, in welchem, und ein Volk, an welches nicht der Ruf erklungen wäre: »Kommet her zu mir alle, die ihr elend und verschmachtet seid; ich will euch erlösen und erquicken!«?

Und sie sind gekommen, die Armen und Elenden, die Mühseligen und Beladenen, die Kranken und Trostbedürftigen, um Frieden zu finden, Frieden mit Gott, mit sich selbst und den Menschen. Aber noch Abertausende, noch Millionen befinden sich draußen vor dem Tore, innerhalb dessen die Gnade und Versöhnung waltet. Sie hören die Rufe, aber sie folgen denselben nicht. Der Herr winkt ihnen; sie aber stehen stumm oder schütteln die Köpfe und gehen ihre bisherigen Wege. Warum?

Warum!

»Närrische, sonderbare Frage!« sagte einst ein viel und weit gereister Herr zu mir, welcher alle Nationen und Völker


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gesehen hatte, vom weißen Kaukasier bis zum zwitschernden Papua. »Gehen Sie nur hin, und sehen sie drei oder vier Missionen, welche so nahe bei einander liegen, daß ein Fußgänger innerhalb eines Tages einen Kreis um sie beschreiben kann! Einer dieser geistlichen Herren ist ein Lutheraner, der zweite ein Mennonit, der dritte ein Hochkirchlicher und der vierte gar ein Quäker. Jeder von ihnen räsonniert auf den Glauben des andern. Welcher von ihnen hat nun recht? So fragen sich mit gutem Grunde die armen Heiden. Keiner, ist ihre schließliche Antwort. Hier haben Sie mein Darum auf Ihr Warum.«

Hatte dieser Herr recht oder unrecht? »An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen,« lautet ein Bibelwort. Darum schaue man hinaus nach den Früchten, welche der ausgestreute Samen trägt. Man kann nicht Trauben ernten von den Dornen und Feigen von den Disteln! Nur die katholische Kirche hat auf dem so unendlich wichtigen Gebiete des Missionswesens Erfolge aufzuweisen.

Ein Weltreisender, welcher nicht der katholischen Kirche angehört, schreibt in einem seiner Werke über Südamerika Folgendes:

»Der König von Spanien sandte Missionäre, um die Indianer zum christlichen Glauben zu bekehren. Die geistlichen Väter ließen sich an den Fällen des oberen Parana nieder und versammelten bald eine große Anzahl Indianer um sich. Sie wurden aber von den brasilianischen Sklavenjägern bedrängt und zogen mit 12,000 Bekehrten nach Süden. Dort bildeten sie ihre Zöglinge nach Kräften militärisch aus und wiesen alle weiteren Angriffe der Sklavenjäger mit Waffengewalt zurück. Die Missionen dehnten sich immer weiter aus, so daß sie fast 200,000 Bekehrte und eine bewaffnete Macht von 15,000 Mann besaßen. Die Indianer wurden von allen schädlichen Einflüssen fern gehalten und durch väterliche Behandlung und Frohsinn zur Arbeit erzogen. Sie gediehen dabei sowohl körperlich wie geistig und geistlich auf das Vortrefflichste, und nichts fiel ihnen weniger ein, als in ihren früheren Zustand zurückzukehren.«

So sagt und schreibt ein Protestant. Diese und andere Fragen und Gedanken gingen mir durch den Sinn, als wir in der breiten Flut des Parana aufwärts dampften. Wir näherten


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uns der Gegend, in welcher die katholische Mission so großartige Erfolge zu verzeichnen hatte, daß das ganze, weite Gebiet noch heute mit dem Namen »Missiones« bezeichnet wird.

Zu unserer rechten Hand bespülte der Fluß die Provinz Entre Rios, jenseits welcher der Uruguay unsere Flucht gesehen hatte. Wir waren glücklich entkommen, obgleich das ganze rechte Ufer wegen uns alarmiert worden war. Wir hatten uns aber gehütet, dort anzulegen.

Das Floß ging bis Siqueritas, wo wir Gelegenheit fanden, unsere Pferde zu verkaufen, die wir jetzt nicht brauchten. Das heißt, meinen Braunen behielt ich, denn ich durfte nicht hoffen, sogleich wieder ein so gutes Tier zu finden. Dann gingen wir per Schiff nach Buenos Ayres.

Dort hielten wir uns nur so lange auf, als der Kapitän brauchte, seine Weisungen zu erteilen. Er hatte so lange auf uns eingesprochen, bis er die Erlaubnis erhielt, uns zu begleiten. Und Larsen, der Steuermann, ging auch mit.

Buenos Ayres wird an anderer Stelle erwähnt und beschrieben werden. Wir nahmen da Fahrkarten für einen Dampfer, welcher bis hinauf nach Corrientes ging. Einige Schwierigkeiten wurden mir wegen des Pferdes gemacht; doch ließ der Kapitän endlich mit sich sprechen. Der Braune kam zwischen Ballen, Kisten und Fässern zu stehen, welche auf dem Vorderdecke untergebracht waren. Er befand sich wie in einem kleinen Stalle, nur daß er kein Dach über sich hatte.

Der La Plata bildet nach dem Amazonas das größte Stromsystem Südamerikas. Er wird durch den Zusammenfluß des Uruguay mit dem Parana gebildet und muß als die breiteste Flußmündung der Erde bezeichnet werden. Sie ist unmittelbar nach der Vereinigung der beiden Flüsse 40 Kilometer breit. Bei Montevideo erreicht sie eine Breite von 105 und an der Öffnung sogar von 220 Kilometer. Diese 320 Kilometer lange Mündung hat ein schlammig gelbes Wasser, welches noch 130 Kilometer weit in der See draußen sich vom Meerwasser unterscheiden läßt.

Die Tiefe des Parana beträgt da, wo er den La Plata bilden hilft, dreißig Meter. Entsprechend ist seine Breite. Er


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ist unbedingt der größte südamerikanische Fluß, bildet aber nicht einen geschlossenen Stromlauf, sondern teilt sich oft in mehrere Arme und bildet Inseln, welche zuweilen von bedeutender Größe sind. Er ist äußerst fischreich, obgleich man seines schmutzigen Wassers wegen nur selten sich eine Flosse bewegen sieht.

Wir hatten außer in Rosaria noch einige Male angelegt, doch hatte ich das Schiff nicht verlassen, da ich an Bord bleiben wollte, solange wir an der Provinz Entre Rios vorüber kamen. Wir hätten leicht einem begegnen können, welcher uns bei Jordan gesehen hatte, und dann waren wir unsers Lebens wohl kaum sicher. Sogar Santa Fé und Parana hatte ich mir nicht angesehen, denn gerade an diesen beiden Orten war eine solche Begegnung am meisten zu erwarten. Erst als wir diese beiden Städte hinter uns hatten, fühlten wir uns leidlich sicher. Wir kamen weiter an Puerto Antonio und La Paz vorüber und steuerten auf den Einfluß des Rio Guayquiaro zu, welcher von Osten in den Parana mündet.

Es war ein außerordentlich reges Leben an Bord. Leute aus allen Provinzen befanden sich da, sogar Indianer mit ihren Frauen, welche aber keineswegs den Eindruck machten, welchen ich von den Sioux, Apatschen und Comantschen mitgenommen hatte. Sie sahen verkommen, unselbständig und gedrückt aus.

Die Weißen hatten alle ein sehr kriegerisches Aussehen. Sie wußten, daß die Provinz Entre Rios den Aufstand plane, und unter solchen Verhältnissen konnte man sich selber auf dem Schiff nicht sicher heißen. Darum hatte ein jeder so viele Waffen, als er besaß, an sich gehängt.

Unter den Indianern fiel mir ein junger Mann auf, der sehr vorteilhaft von den andern abstach. Er war keineswegs schöner als die übrigen Roten, auch nicht besser gekleidet, aber er hatte eine, wie mir schien, kranke Begleiterin bei sich, für welche er eine außerordentliche Sorgfalt an den Tag legte. Sie war alt und schien seine Mutter zu sein; aber Liebe zur Mutter ist bei diesen Leuten eine Seltenheit. Das Weib ist für die Arbeit da; sie wird weder als Frau, noch als Mutter geachtet. Beide waren sehr ärmlich gekleidet. Der Indianer hatte nichts als ein Hemd, eine kurze Hose, ein Paar alte Schuhe und ein Messer, welches in dem Stricke steckte, den er um den Leib gebunden hatte. Sein Auge zeigte mehr Intelligenz, als man bei diesen Leuten zu finden gewohnt ist. Vielleicht aber war es sein liebevoller, besorgter Blick, welcher mich zu dieser Annahme verführte.

Und noch ein anderer war es, welcher meine Aufmerksamkeit erregte, kein Indianer, sondern ein Weißer, welcher in allem das gerade Gegenteil von dem ersteren war.

Er saß auf dem Hinterdecke in der Nähe des Steuermannes und hatte seinen Platz so gewählt, daß er das ganze Deck überblicken konnte, ohne selbst viel bemerkt oder gar belästigt zu werden. Es war, als ob er sich Mühe gebe, so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen. Gekleidet war er sehr fein und nach französischem Schnitte. Den Bart trug er nach der hiesigen Mode. Seine Züge, sein dunkles, scharf blickendes Auge ließen auf ungewöhnliche Intelligenz und Willenskraft schließen. Die sonnverbrannte Farbe seines Gesichtes gab nicht zu, ihn für einen Salonhelden zu halten. Seine sitzende, zusammengebeugte Haltung erlaubte nicht, seine Gestalt zu beurteilen, doch war es mir, als ob ich in ihm einen Militär, einen Offizier, und zwar nicht einen subalternen erkennen müsse. Nicht weit von ihm saß ein Neger, welcher wohl sein Diener war, denn er hielt das Auge fast unausgesetzt mit einer zugleich liebe- und respektvollen Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet, um jeden Wunsch oder Befehl des Herrn sogleich zu erraten. Beide waren in Rosario an Bord gekommen und hatten sich gleich von da an abseits der andern Passagiere gehalten.

Kapitän Frick Turnerstick hatte schon in der ersten Viertelstunde unserer Fahrt die Bekanntschaft des Schiffsführers gemacht und war fast stets an der Seite desselben zu sehen. Er hielt immer Vortrag, und der andere hörte ihm schweigend und oft lächelnd zu. Hans Larsen, unser ruhiger Steuermann, hatte mit niemandem auch nur ein einziges, überflüssiges Wort gesprochen. Er saß schweigsam zwischen den Kisten und andern Gepäckstücken und betrachtete die Szenerie, welche ihm das Deck und der Fluß mit seinen Ufern bot.

(Fortsetzung folgt.)
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