Jahrgg. 17, Nummer 24, Seite 375
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Der Schatz der Inkas.

(El Sendador, Theil II.)

Reiseroman von Karl May.
23. Fortsetzung

Der Bruder, welcher glaubte, Gomarra werde ihn seines Standes wegen besser behandeln als mich, ergriff nun das Wort und erklärte ihm in kurzen Worten das Geschehene und die Gründe, die uns zu diesem Verhalten veranlaßt hatten. Gomarra stand wie eine Bildsäule, ohne zu sprechen. Einige Male bewegten sich seine Lippen, aber es schien ihm vor Aufregung unmöglich zu sein, ein Wort hervorzubringen. Die Farbe kam und ging auf seinem Gesichte, und das Blut drang ihm nach dem Kopfe, so daß die Äderchen seiner Augen sich dunkelrot färbten. Aber als der Bruder geendet hatte, brach der leidenschaftliche Mann los:

»Alle tausend Teufel! Das hat man hinter meinem Rücken getan! Ohne mich um die Erlaubnis zu fragen! Bruder, ich ermorde Sie! Glauben Sie etwa, weil Sie eben ein Bruder seien, werde ich Ihnen das so hingehen lassen? Sie haben den Sendador entkommen lassen. Sein Blut entgeht mir. Ich fordere dafür das Ihrige!«

Er raffte seine Flinte wieder auf und spannte den Hahn. Ich saß mit ausgestreckten Beinen da. Jetzt zog ich das eine an den Leib, um mich zum blitzschnellen Aufspringen bereit zu machen, denn diesem jähzornigen Menschen war es mit seiner Drohung vollständiger Ernst.

»Beherrschen Sie sich!« rief ihm der Bruder zu.»Wie können Sie von Blutvergießen sprechen! Sie befinden sich nicht in einem Matadero Schlachthofe. Sie haben Menschen vor sich, aber keine Rinder!«

»Das ist mir gleich, Mensch oder Rind! Ich will Blut für Blut und frage, wer der Urheber dieses listigen und heimtückischen Anschlages gewesen ist! Gewiß, der Deutsche da, der alle Halunken lieber umarmen als bestrafen möchte!«

Der Bruder wollte antworten, gewiß, um die Schuld auf sich zu nehmen; ich aber kam ihm zuvor und sagte:

»Ja, ich war es; es war mein Wille, und die anderen Sennores haben denselben befolgt.«

Da wurde sein Gesicht dunkelrot; er tat einen katzenartigen Sprung auf mich zu, blieb dann stehen, richtete den Lauf des Gewehres auf mich und schrie:

»Du also, du warst es, Hund von einem Fremden! Du hast dem Mörder meines Bruders die Freiheit gegeben! Fahre hin!«

Er drückte ab. Aber mein Auge hatte an seinem Zeigefinger gehangen. Sobald dieser den Drücker suchte und die letzten Worte ertönten, schnellte ich mich auf und zur Seite. Der Schuß krachte; die Kugel ging an mir vorüber und hinter der Stelle, auf welcher ich gesessen hatte, in die Erde; desto sicherer aber traf meine Faust ihr Ziel. Ich schlug den Kerl auf den Kopf, daß er wie ein Sack zusammenbrach und regungslos liegen blieb.


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Einen solchen Mordanfall hatte keiner erwartet; sie sprangen alle auf und fragten, ob ich verwundet sei, denn wir fanden erst später die Stelle, an welcher die Kugel in den Boden gedrungen war. Man beruhigte sich erst dann einigermaßen, als man vernahm, daß ich nicht getroffen worden sei. Ich nahm Gomarra das Messer, damit er kein Unheil mit demselben anrichten könne; die Flinte wurde natürlich auch entfernt, und dann warteten wir, daß er zu sich komme.

Es verging eine ziemlich lange Zeit, ehe er sich wieder zu bewegen begann. Er griff mit der Hand nach der Gegend des Kopfes, welche ich getroffen hatte; dann öffnete er die Augen und blickte im Kreis umher. Als sein Auge auf mich fiel, kam das volle Bewußtsein schnell über ihn. Er sprang auf und rief:

»Du lebst noch, Elender! Habe ich dich nicht getroffen? So werde ich - - -«

Er wollte sich bücken, um Pena, welcher ihm am nächsten saß, das Gewehr zu entreißen und auf mich anzulegen; ich aber nahm ihn schneller noch, als er war, beim Hals und beim Gürtel, hob ihn empor und warf ihn zu Boden, daß man glauben konnte, er habe alle Glieder gebrochen. Dennoch raffte er sich auf, griff nach dem Gürtel, und da er sein Messer nicht dort fand, warf er sich mit ausgestreckten Händen mir entgegen. Ich hob das rechte Bein auf und stieß es vorwärts; der Tritt traf ihn an den Leib und warf ihn wieder zur Erde nieder. Dann aber kniete ich auf ihm, nahm ihn beim Halse und drohte:

»Wollen Sie wohl Ruhe geben, Sie wahnsinniger Mensch! Soll wirklich Blut fließen, dann ist's doch nur das Ihrige! Oder bilden Sie sich wirklich ein, gegen mich aufkommen zu können?«

Vorhin hatte ich gar wohl bemerkt, daß die Gründe, welche Pena in so ruhiger Weise gegen mich vorbrachte, bei meinen Gefährten Wurzel faßten. Aber wenn sie durch diesen beinahe zu der Ansicht bekehrt worden waren, daß er recht und ich unrecht hatte, so brachte jetzt das wütende Verhalten Gomarras sie wieder auf meine Seite. Sie rieten mir, ihn zu fesseln; ich aber ging nicht darauf ein. Ich untersuchte, während ich ihn mit den Knieen und einer Hand festhielt, seine Taschen, nahm ihm die Munition ab und zog ihn dann in die Höhe, so daß er auf die Füße zu stehen kam. Dann sagte ich ihm:

»Sie haben nach mir geschossen; ich kann Sie nicht mehr in meiner Nähe dulden. Wir sind fertig mit einander. Ihr Gewehr und Ihr Messer werden Sie zurückerhalten; die Munition aber bekommen Sie nicht wieder, damit Sie nicht auf den Gedanken kommen können, abermals auf mich zu schießen.«

Er schnappte eine Weile nach Atem, denn das Sprechen wurde ihm schwer. Ich dachte, er werde entweder wieder zu schelten anfangen oder gute Worte geben. Er tat aber keines von beiden. Sein Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an, und in eben solchem Tone sagte er:

»Wovon soll ich leben, wenn ich mir nichts schießen kann!«

»Machen Sie sich an die Karawane, welche Sie bald einholen können. Dort erhalten Sie Pulver und Blei, und ehe Sie, von der Rache getrieben, hierher zurückkommen, sind wir bereits in Sicherheit vor Ihren Kugeln.«

Ich gab ihm sein Messer und seine Flinte; er nahm beides aus meinen Händen und sah mir dabei in das Gesicht. Einen Augenblick lang war es, als ob ihn eine milde Regung übermannen, als ob er ein bittendes Wort sagen wolle; aber es kam nicht über seine Lippen. Er drehte sich um und schritt, ohne ein Wort zu sagen, in der Richtung davon, die ich ihm angedeutet hatte.

Einige Minuten lang herrschte tiefes Schweigen unter uns; dann sagte Pena:

»Bedauern wir ihn nicht! Er hat es nicht besser verdient. Er kann sein indianisches Blut nicht beherrschen und gehört nicht unter vernünftige Leute.«

»Haben Sie keine Sorge,« meinte der Bruder. »Der Mann kommt wieder.«

»Dieser Meinung bin auch ich. Er wird ein Stück fortgehen, um dann zurückzukehren und um Verzeihung zu bitten.«


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»Werden Sie ihn wieder aufnehmen?« erkundigte sich der Bruder.

»Ja.«

»Ich rate Ihnen allen Ernstes davon ab. Ich kann nicht glauben, daß er von seiner Rachsucht und Mordgier lassen kann.«

»Eben deshalb nehme ich ihn wieder auf. Es ist besser, wir haben ihn unter unsern Augen, als daß er hinter unserm Rücken handelt. Beaufsichtigen wir ihn, so ist es uns viel leichter möglich, zu verhüten, daß er uns Schaden tut.«

Man gab mir recht. Wir warteten wohl noch eine Stunde, aber er kehrte nicht zurück. Wir schienen uns also getäuscht zu haben. Da wir aber seinetwegen nicht die Zeit nutzlos verschwenden wollten, so beschlossen wir, nun aufzubrechen. Wir hatten die Pferde seitwärts von uns an Büsche gebunden, von deren Zweigen sie fressen konnten. Als wir nun zu ihnen traten, sahen wir - - Gomarra bei ihnen am Boden sitzen. Als er uns kommen sah, stand er von der Erde auf und sagte in bittendem Tone zu mir:

»Sennor, ich habe unrecht gehandelt und bitte Sie um Verzeihung! Werden Sie mich wieder aufnehmen?«

»Damit ich abermals in Lebensgefahr gerate? Nein!«

»Es war nicht so bös gemeint!«

»Nicht so bös gemeint? Sie sind wirklich ein ganz unsinniger Mensch! Diese Ausrede könnten Sie vielleicht machen, wenn Sie das Gewehr bloß auf mich angelegt hätten, ohne aber zu schießen. Sie haben aber aus einer Entfernung von nur drei Schritten auf mich abgedrückt und trafen nur deshalb nicht, weil ich auf meiner Hut gewesen war und mich im richtigen Augenblicke zur Seite warf. Hätte ich das nicht oder nur einen Moment zu spät getan, so wäre ich jetzt eine Leiche. Und das nennen Sie nicht bös gemeint? Daß es Ernst war, konnte jeder sehen, und daß Sie nicht scherzten, haben Sie bewiesen, indem Sie nach Ihrem Erwachen so wütend waren, weil Ihre Kugel mich nicht getroffen hatte. Wenn Sie auch nun noch sagen wollen, daß es nicht bös gemeint gewesen sei, so sind Sie verrückt!«

»Sennor, es geschah in der Hitze, im Zorne!«

»So mäßigen und zähmen Sie sich! Was denken Sie denn eigentlich von sich, daß Sie es wagen, sich gegen mich aufzulehnen? Sie sind zwar nicht mein Diener, und ich bin nicht Ihr Vorgesetzter, nach dessen Befehlen Sie sich zu richten hätten; aber Sie dürfen mich nicht für einen Mann halten, der Angst vor Ihnen hat und sich von Ihnen zur Rede stellen läßt. Sie haben höflich und bescheiden zu sein, und wenn Sie das nicht wollen, so können Sie gehen, wohin es Ihnen beliebt. Und wenn Sie gar beginnen, mit Kugeln um sich zu schießen, dann schlage ich Sie eben nieder, so wie ich es getan habe. Wenn ich Ihnen gestatte, wieder bei uns zu bleiben, so muß ich gewärtig sein, Sie wiederholen die Szene, und dann ist einer von uns beiden verloren, entweder Sie oder ich. Ich wenigstens würde Sie dann nicht etwa nur so treffen, daß Sie die Besinnung verlieren; es wäre vielmehr um Ihr Leben geschehen.«

»Sennor, ich gebe Ihnen mein festes Versprechen, mein heiliges Wort, daß ich gegen keinen von Ihnen die Hand wieder aufhebe!«

Er wendete sich mit seiner Bitte auch an die andern, und zwar in so dringlichem Tone, daß ich ihm endlich doch sagte:

»Unsere Entscheidung hängt davon ab, wie Sie gesonnen sind, sich gegen den Sendador zu verhalten.«

»Soll er denn wirklich ohne Strafe davonkommen?«

»Nein. Es ist gar nicht meine Absicht, ungerecht gegen Sie zu sein. Aber die Klugheit gebietet uns, mit ihm nach der Pampa de Salinas zu gehen. Bis dahin haben Sie Ruhe zu halten. Später können Sie tun, was Sie wollen.«

»Sie werden ihn dann nicht gegen mich in Schutz nehmen und auch nicht warnen?«

»Nein! Er wird sich schon ganz von selbst vor Ihnen in acht nehmen. Es kann mir nicht einfallen, einen Verbrecher vor der verdienten Strafe zu warnen.«

»Und Sie versprechen mir, daß er uns nicht entflieht, daß er bis zur Pampa de Salinas bei uns bleibt?«


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»Das kann ich nicht versprechen. Uns wird er sein Wort halten. Stellen auch Sie sich zu ihm so, daß er sich sicher fühlt, so wird er bei uns bleiben. Sie sehen also, daß es ganz allein nur auf Sie ankommt:«

Er blickte finster vor sich nieder. Sein Gesicht war kein solches, wenigstens in diesem Augenblicke, dem man zutrauen kann, daß das gegebene Versprechen gehalten wird. Aber es hellte sich schnell auf, und in einem Tone, welcher vertrauenerweckend klingen sollte, sagte er:

»Nun wohl! Ich verspreche Ihnen, daß ich meine Rache aufheben will, bis Sie ihn nicht mehr brauchen. Dann aber werde ich keinen Augenblick länger warten. Nehmen Sie mich nun mit?«

»Ist Ihr Versprechen ehrlich gemeint?«

»Ja.«

»So werde ich es noch einmal versuchen. Sie können bei uns bleiben.«

»Dann müssen Sie mir aber auch meine Munition zurückgeben.«

Schon wollte ich ihm eine zustimmende Antwort geben, da fiel der Bruder ein:

»Nicht so schnell! Sie haben sich unser Vertrauen verscherzt und müssen es sich erst wieder erwerben, ehe wir Sie wieder als den guten Kameraden gelten lassen, der Sie uns bis jetzt gewesen sind. Sie hätten mit Ihrem Pulver und Blei beinahe ein Unheil angerichtet; Sie bekommen beides erst zurück, wenn Sie uns bewiesen haben, daß Sie wirklich willens sind, Ihr Versprechen zu halten.«

Die andern stimmten ihm bei. Gomarra warf ihm einen schnellen, finster drohenden Blick zu, den außer mir keiner zu bemerken und zu beachten schien, und antwortete dann in fast unterwürfiger Weise:

»Es mag geschehen, wie Sie wollen, Bruder Jaguar; ich sehe ein, daß ich es so und nicht anders verdient habe. Ich weiß aber, daß Sie mir Ihr Vertrauen bald wieder schenken werden.«

Damit war diese Sache abgemacht. Wir stiegen zu Pferde und ritten davon, indem wir dem Flußbette aufwärts folgten. Ich ritt mit dem Bruder voran und hielt den Blick scharf zur Erde gerichtet, um möglicher Weise eine Fußspur des Sendador zu finden, doch vergeblich. Erst nachdem wir wohl zwei Stunden lang geritten waren, fiel mir auf, daß das Flußbett eine bedeutende Krümmung gemacht hatte. Darum antwortete ich dem Bruder, der sich darüber wundern wollte, daß nicht einmal ich die Fährte finde, die der Führer doch unbedingt zurückgelassen haben müsse:

»Sie ist hier überhaupt nicht zu finden. Er kennt die Gegend besser als wir und wird den Bogen, den wir geritten sind und wohl auch noch reiten, abgeschnitten haben. Die Krümmung unsers Weges zeigt nach links, nach Süden, folglich liegt sein Weg im Norden, rechts von uns, und er wird von dieser Seite gewiß wieder auf dieses Flußbett stoßen. Wenn wir gut aufpassen, werden wir seine Spur aus dieser Richtung auf die unserige stoßen sehen.«

»Das mag möglich sein. Hoffentlich bekommen wir ihn noch heute zu sehen!«

»Ich denke es.«

»Dann wollen wir ein scharfes Auge auf Gomarra haben. Ich traue ihm noch nicht.«

»Ich auch nicht. Meinen Sie etwa, daß er sich abermals an mir vergreifen werde?«

»Nein; das wird er nicht wagen, da Sie ihm eine solche Lehre gegeben haben; aber ich befürchte, daß er in Beziehung auf den Sendador sein Wort nicht halten wird.«

»Sie haben wohl auch den Blick gesehen, den er auf Sie warf, als Sie ihm die Munition versagten?«

»Nein.«

»Dieser Blick läßt nichts Gutes erwarten. Wir müssen diesen Mann scharf im Auge behalten, sonst wird er uns ernste Verlegenheiten bereiten.«

Wir hatten uns vorgenommen, nicht eher eine Ruhepause zu machen, als bis wir auf den Sendador trafen oder der Abend angebrochen war. Darum ging es immer vorwärts,


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bis mir am Spätnachmittage eine Stelle des rechten Ufers auffiel, welche ganz so aussah, als ob da ein Fuß ausgerutscht sei. Ich hielt an und stieg ab, um sie zu betrachten. Der Rand des Flußbettes war hier weniger hoch als bisher, aber steil. Man sah, daß hier jemand herabgestiegen und dann weiter gegangen war. Ich stieg mit dem Bruder hinauf. Zwischen den Bäumen, welche da standen, gab es weichen Boden, in welchem sich die Füße des Betreffenden eingedrückt hatten, so daß ein scharfes Auge die Spur nicht unschwer sehen konnte. Wir gingen auf derselben eine Strecke zurück, bis die Bäume sich nach einer kleinen, grasigen Pampa öffneten. Dort wurde die Spur deutlicher. Man sah den Strich, den die niedergetretenen Halme bildeten, sich dunkel von der Umgebung abheben.

»Ob das der Sendador gewesen ist?« fragte der Bruder.

»Jedenfalls. Die Spur kommt ganz so, wie ich vermutet habe, von rechts her. Der Bogen, den wir gemacht haben, ist hier zu Ende, denn das Flußbett scheint sich nun scharf südwärts zu wenden. Daß diese Stapfen gerade hier auf unsern Weg stoßen, ist ein Zeichen, daß der Sendador die Gegend ganz ausgezeichnet kennt. Er hat diesen Punkt getroffen, ohne sich um einen Schritt nach rechts oder links zu irren. Vielleicht befindet er sich in solcher Nähe, daß er sieht, wie wir uns seine Fährte betrachten. Reiten wir langsam weiter!«

Wir beide kehrten nach dem Flußbette zurück und stiegen wieder auf. Schon nach wenigen Schritten zeigte es sich, daß ich ganz richtig vermutet hatte; der jetzt trockene Wasserweg bog scharf nach Süden ab. Wir hielten die Blicke scharf nach beiden Seiten gerichtet, wo der Sendador jeden Augenblick erscheinen konnte. Seine Spur war ziemlich gut zu sehen; sie lief geradeaus in der Mitte unseres Weges fort; aber er konnte aus Vorsicht da, wo er das Regenbette verlassen hatte, um im Verborgenen auf uns zu warten, eine Strecke rückwärts gegangen sein, um uns zu beobachten, während wir ihn noch vor uns suchten.

So aufmerksam wir nach ihm forschten, er war nicht zu sehen; bald aber erblickten wir ein Zeichen von ihm. Am Stamme eines am rechten Ufer stehenden Baumes hing ein kleines, weißes Stück Papier. Alle sprangen von den Pferden. Jeder wollte der erste sein, um es herabzuholen. Monteso kam voran, nahm es weg und brachte es mir. Ich las die Worte:

»Noch zwei Tagereisen immerfort westlich auf meiner Spur weiter.«

Wir sahen einander an. Das hatten wir nicht erwartet. Warum ging er so weit voraus? Warum hatte er nicht hier auf uns gewartet? Er mußte einen Grund dazu haben; das verstand sich ganz von selbst.

»Ob er uns nicht traut?« fragte der Bruder.

»Das wäre keine Erklärung,« antwortete ich. »Wenn er uns hier nicht traut, wird er es zwei Tagereisen weiter auch nicht tun. Sein Grund ist sicherlich ein anderer.«

»Aber welcher?«

»Ja, wer das wüßte! Wollen einmal sehen, ob er eine gute Fährte zurückgelassen hat.«

Ich war im Sattel geblieben, stieg aber nun ab und ging zu dem Baume. Bis jetzt war das Gehölz uns stets gefolgt; nun aber ging es zu Ende, und wir sahen nur niedriges Buschwerk, welchem schon nach kurzem eine weite, unabsehbare Pampa folgte. Der Baum, an welchem der Zettel gehangen hatte, war der allerletzte, und von ihm führte eine jedenfalls mit Absicht tief ausgetretene Fährte zwischen die Büsche hinein.

»Durch das Betrachten dieser Spur werden Sie wohl nicht zu einer Antwort auf unsere Frage kommen,« meinte Pena.

»Das ist wahr,« gab ich zu. »Aber wie war denn der Zettel befestigt?«

»Er steckte an einem dünnen, halb abgebrochenen Ästchen. Ich hab' es noch hier,« antwortete der Yerbatero. »Ich brach es vollends ab, um das Papier nicht zu zerreißen.«

»Zeigen Sie her!«

Der Yerbatero gab mir den Zweig, welcher ganz dürr und von der Stärke einer Stricknadel war. Ihn betrachtend, sagte ich:


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»Das ist ein Ästchen der Aristolochia, welche sich da an der Böschung heraufwindet; der Baum aber ist ein Platano. Der Zweig ist also erst durch das Papier und dann in den Stamm gesteckt worden. Gab es denn in demselben einen Riß oder ein Loch?«

Ich untersuchte die Stelle und sah eine kleine, scharfrandige Vertiefung, welche die Form eines Ausrufezeichens ohne Punkt hatte, oben breiter und unten spitz.

»Der Sendador hat ein Messer gehabt!« rief ich verwundert aus.

»Sollten wir es nicht bei ihm gefunden haben?« fragte Pena.

»Dann könnte es nur ein Taschenmesser, ein Einbieger sein, der nicht viel Platz wegnimmt und in eine kleine Tasche gesteckt werden kann. Nur in diesem Falle wäre es möglich, daß wir es übersehen hätten. Dieses Messer hat aber eine beinahe drei Zoll breite Klinge gehabt; so breit ist kein Taschen- oder Einschlagemesser. Es ist ganz gewiß ein Cuchillo mit fester Klinge gewesen, wenigstens zehn Zoll lang mit dem Griffe, und das hätten wir, als wir ihn durchsuchten, unbedingt gesehen.«

»So hat er es von irgend jemanden bekommen?«

»Ohne allen Zweifel! Es ist auf alle Fälle von Vorteil für uns, zu wissen, wen er getroffen hat. Ich reite auf seiner Spur zurück. Es fällt mir natürlich auf, daß er sie uns hat verbergen wollen.«

»Verbergen? Woraus schließen Sie das?«

»Daraus, daß er nicht an der Stelle geblieben ist oder dort den Zettel angeheftet hat, wo er aus der Pampa wieder auf unsern Weg traf. Er ist noch eine volle Viertelstunde lang auf demselben fortgegangen, um unsere Aufmerksamkeit nach vorn zu lenken und von rückwärts abzuziehen. So klug und erfahren er ist, hat er doch, indem er die Spitze des Messers in den Baum bohrte, eine große Unvorsichtigkeit begangen; denn nun wissen wir, daß er ein Messer bekommen hat. Er konnte das Papier auf andere Weise befestigen.«

»Es fragt sich, ob es wirklich von ihm ist. Es steht kein Name dabei.«

»Von wem soll es sonst sein? Es ist für uns bestimmt, und der Sendador hat es geschrieben. Sie bleiben alle hier, bis wir zurückkehren; der Bruder und Sennor Pena mögen mich begleiten.«

Wir drei ritten zurück, und zwar galoppierend, um so wenig Zeit wie möglich zu verlieren. An der Stelle, wo wir die Spur des Sendadors getroffen hatten, verließen wir das Flußbett und ritten auf die Pampa hinaus, um ihr dort zu folgen. Wir kamen durch Gesträuch, dann auf eine größere Prärie, auf welcher wir die Pferde aus allen Kräften laufen lassen konnten. Die Fährte lag deutlich vor uns; es wäre unmöglich gewesen, von ihr abzuweichen.

Von Zeit zu Zeit sah ich nach der Uhr, um die Entfernung schätzen zu können. Es verging eine Viertelstunde nach der andern; die Spur führte stets in gerader Richtung weiter, bis wir das Ende der Prärie erreichten. Wir waren eine volle Stunde geritten, und die Sonne berührte fast den Horizont. Aber wir befanden uns nun auch am Ziele, denn wir sahen, was wir gesucht hatten.

Vor uns lag wieder Wald, welchen ein Rand von Buschwerk einsäumte. Aus diesen Sträuchern war der Sendador gekommen, und zwar nicht allein. Es hatte sich eine zweite Person bei ihm befunden und sich hier von ihm getrennt. Der Sendador war südwärts gegangen, nach der Richtung, in welcher unser Flußbett lag, der andere aber nach Westen, den Büschen entlang, an welchen wir standen. Wir sahen seine Spur und untersuchten dieselbe. Der Mann war ein Indianer gewesen.

»Das ist bedenklich!« meinte Pena. »Ich wollte lieber, daß es ein Weißer gewesen wäre.«

»Warum?« fragte der Bruder. »Der Sendador hat diesen Mann ganz zufällig getroffen und ihn um sein Messer gebeten.«

(Fortsetzung folgt.)
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