Jahrgg. 16, Nummer 11, Seite 171
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
8. Fortsetzung

Der Yerbatero strich sich geschmeichelt den Bart, warf einen fragenden Blick auf seine Kameraden, und als sie ihm beistimmend zunickten, wendete er sich an mich:

»Sie sind jahrelang bei den nördlichen Indianern gewesen und verstehen also, mit Waffen und Pferden umzugehen. Heute habe ich bemerkt, daß Sie geistesgegenwärtig sind und mehr Kenntnisse haben, als wir sechs zusammen genommen. Ich denke also, daß Sie der Mann sind, welchen wir brauchen können. Ich werde Ihnen einen Vorschlag machen. Vorher aber muß ich eine Frage aussprechen, um deren aufrichtige Beantwortung ich Sie dringend ersuche.«

»Fragen Sie!«

»Gut! Ich werde fragen. Aber lachen Sie uns ja nicht aus. So sagen Sie uns einmal, was würden Sie tun, wenn Sie einen Ort wüßten, an welchem ein Schatz vergraben liegt?«

»Ich würde den rechtmäßigen Besitzer darauf aufmerksam machen.«

»Rechtmäßigen Besitzer! So! Hm! Aber wenn nun kein solcher rechtmäßiger und überhaupt kein Besitzer vorhanden wäre?«

»So würde ich den Schatz für mich heben.«

»Verstehen Sie sich denn auf Magie?«

»Unsinn! Magie gibt es gar nicht. Und Magie hat man nicht nötig, um einen Schatz zu heben. Weiß man, wo einer vergraben liegt, da mag man getrost nachgraben, zu jeder beliebigen Zeit des Tages oder der Nacht; man wird ihn sicher finden.«

»So! Hm!« brummte er nach seiner Gewohnheit. »Wenn das wahr wäre, so sollte es mich freuen.«

»Es ist wahr.«

»Nun, Sennor. Sie sind gelehrter als wir alle und wie Sie Ihre Überzeugungen vorbringen, haben sie einen Klang, daß man ihnen glauben muß. Ich sehe ein, daß Sie der Mann sind, den wir brauchen. Wir wissen nämlich einen Ort, an welchem ein Schatz zu heben ist, sogar zwei solche Orte.«

»So eilen Sie hin, die Schätze schleunigst zu heben.«

»Hm! Ja, wenn das so schnell ginge! Ich bin schon dort gewesen, habe aber nichts entdeckt. Den Ort kennen wir ganz genau; aber die betreffende Stelle konnten wir nicht finden, weil wir nicht gelehrt genug waren, die Schrift zu verstehen.«

»Aha! Es handelt sich also um eine Schrift?«

»Ja, leider! Sie sind ein Gelehrter, und darum - -«

»Bitte!« unterbrach ich ihn. »Muten Sie mir nicht zu viel zu. In welcher Sprache ist die Schrift verfaßt?«

»In der Inkasprache, aber mit lateinischen Buchstaben geschrieben, im sogenannten Khetschua.«

»Das ist im höchsten Grade interessant, zumal für mich!«

»Warum für Sie?«

»Ich habe während meines Aufenthaltes unter den nordamerikanischen Indianern mich sehr bemüht, ihre Sprachen zu erlernen. Ebenso habe ich, bevor ich jetzt nach Südamerika ging, mir einige Bücher gekauft, welche die Sprachen der hiesigen Indianerstämme behandeln. So habe ich mich über zwei Monate lang mit dem Khetschua beschäftigt. Also muß die Schrift, von welcher Sie sprachen, mich lebhaft interessieren. Wer ist denn im Besitze derselben?«

»Eben der Kamerad, welchen ich Ihnen als den besten Sendador empfohlen habe.«

»Er ist der Eigentümer des Dokumentes?«

»Ja. Er hat es von einem sterbenden Mönch erhalten.«

»Warum wurde gerade ihm das Geschenk gemacht?«

»Weil er den Mönch als Führer begleitete. Sie waren nur zu zweien. Kein Mensch befand sich bei ihnen. Er brachte den frommen Herrn von jenseits der Anden herüber und sollte ihn bis nach Tucuman ins Kloster der Dominikaner geleiten. Unterwegs aber wurde der Padre, welcher sehr alt war, plötzlich so krank, daß er starb. Kurz vor seinem Tode übergab er dem


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Sendador die Schrift. Ich habe die Schrift gesehen. Es sind zwei Zeichnungen dabei.«

»Konnten Sie sie nicht lesen?«

»Nein. Aber der Sendador ist ein halber Gelehrter. Er hat sie Jahre lang durchstudiert. Er glaubte, seiner Sache ganz sicher zu sein und nahm mich mit an die beiden Orte, aber er hatte sich doch nicht richtig informiert, denn wir fanden nichts.«

»Hat er Ihnen denn nichts über den Inhalt der Schrift mitgeteilt?«

»Alles, was er wußte.«

»Darf ich das erfahren, was Sie sich gemerkt haben?«

»Jener Padre war ein gelehrter Mann. Er hatte sich die Erlaubnis ausgewirkt, nach Peru zu gehen und gelehrte Schnuren aufbinden zu dürfen - -«

»Nicht aufknüpfen? Sie meinen entziffern.«

»Ja. Es hat da ein Volk gegeben, die Inkas genannt, welche, anstatt zu schreiben, Schnuren knüpften. Ich habe gewußt, wie diese Schnuren genannt werden, es aber wieder vergessen.«

»Khipus?«

»Ja, so war das Wort.«

»Jeder Khipus besteht aus einem Schnurenbündel, das heißt aus einer Hauptschnur, an welche dünnere Nebenschnüre von verschiedener Farbe verschiedenartig angeknoten wurden. Jede Farbe und jede Art der Knoten hatte ihre eigene Bedeutung.«

»So ist es. Grad so hat mir auch der Sendador gesagt. Solcher Khipus sollen viele vergraben und verborgen liegen. Der Padre hat nach ihnen gesucht und auch welche gefunden. Er hat sich lange, lange Jahre bemüht, ihre Bedeutung zu enträtseln, und das ist ihm endlich auch gelungen. Eine alte Indianerin, welche er von einer Krankheit geheilt hatte und die ihm deshalb wohl wollte, schenkte ihm zwei Khipus, welche sie von ihren Vorfahren überkommen hatte. Sie konnte sie nicht lesen, aber sie hatte überliefert bekommen, daß es sich um große Schätze handle. Der Padre hat auch diese beiden enträtselt. Über die anderen Khipus hat er ein Buch geschrieben, welches aber nicht gedruckt worden ist. Den Inhalt dieser beiden hat er geheim gehalten; er hat sie nach Tucuman bringen wollen und sie vorher übersetzt, oder, wie es wohl richtiger ist, die Knoten und Farben in Buchstaben verwandelt. Leider ist er, wie bereits erwähnt, unterwegs gestorben und hat die Übersetzung dem Sendador vermacht.«

»Nicht auch die Khipus?«

»Nein. Die hat er in Peru in seiner Sammlung gelassen, wohin er zurückkehren wollte.«

»Hm! Vielleicht ist er nur der Schätze wegen über die Anden gegangen. Und nach Tucuman hat er gewollt, zu den Dominikanern?«

»Ja.«

»So kommt mir Ihr Sendador verdächtig vor.«

»Warum?«

»Sagen Sie mir erst, was Sie über den Inhalt des Schreibens wissen.«

»Nun, es hat zwei berühmte Inkas gegeben, welche sich durch sehr glückliche Kriegszüge ausgezeichnet haben. Während dieser Kriege sind große Schätze versteckt worden, welche bis heute noch nicht gehoben sind. Eine Stadt hat am See gelegen. Die Bewohner derselben haben, bevor die Belagerung begann, alle ihre silbernen und goldenen Gefäße in den See gesenkt. Sie wurden besiegt und ausgerottet. Die Schätze liegen noch jetzt auf dem Grunde des Sees, und niemand, als nur der eine Khipus, weiß davon.«

»Wie aber ist dieser Khipus erhalten worden? Er hat sich doch in der betreffenden Stadt in Verwahrung befunden?«

»Es ist einigen gelungen, zu entfliehen. Die haben ihn mitgenommen. Sie haben sich nach einem höher im Gebirge gelegenen Orte geflüchtet; aber auch dorthin ist der Sieger ihnen gefolgt. Die Bewohner dieses letzteren Ortes haben ihre Schätze in einen alten Schacht versteckt und den Eingang desselben so vermauert, daß er von seiner Umgebung nicht zu unterscheiden gewesen ist. Da sie sich nicht freiwillig ergeben haben, sind auch sie getötet worden. Einer war nicht tot, sondern nur ver=


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wundet. Er ist des Nachts davongekrochen und entkommen. Später kehrte er zurück in das Haus des Kaziken des Ortes, wo die Khipus verborgen lagen. Das Haus lag in Trümmern, aber das Versteck war unversehrt. Der Mann nahm die beiden Khipus mit sich. Er fand keine Gelegenheit, sie zu benutzen; vielleicht konnte er sie nicht einmal lesen, denn der Sendador sagte mir, daß nicht alle Inkas die Knoten haben lesen können. Der Mann vererbte die Khipus weiter, bis sie an die Frau kamen, welche sie dem Padre gab.«

»Sennor, wenn das kein Roman ist, so gibt es überhaupt keinen Roman.«

»Sie glauben mir nicht?«

»Ihnen glaube ich gern; aber das, was man Ihnen gesagt hat, möchte ich bezweifeln.«

»Der Sendador belügt mich nicht!«

»Mag sein. Vielleicht hat er sich selbst getäuscht. Es kommen in dieser Geschichte einige bedeutende Unwahrscheinlichkeiten vor. Und dann habe ich den Sendador im Verdachte der Unterschlagung.«

»Meinen alten, ehrlichen Freund in einem solchen Verdachte! Wäre Ihnen dieser Mann so bekannt, wie mir, so würden Sie sich hüten, ein solches Wort auszusprechen.«

»Und dennoch muß ich Sie damit betrüben, daß ich Ihnen mitteile, dieser Verdacht habe einen sehr triftigen Grund. Hatte der Sendador den Padre schon früher gesehen, bevor er von diesem als Führer engagiert wurde?«

»Nein. Mein Freund hat dies einige Male erwähnt.«

»Er kannte ihn also bis dahin nicht, war auch weder ein Freund noch ein Verwandter des frommen Herrn?«

»Weder das eine noch das andere.«

»Hat der Sendador ihm während ihres Gebirgsüberganges vielleicht einen ganz besonderen Dienst erwiesen?«

»Nein. Warum fragen Sie so? Wie hängt das mit den beiden Khipus zusammen?«

»Sehr eng. Wo liegen die beiden Orte, an denen die Schätze verborgen sein sollen? In der Nähe von Tucuman?«

 »Sie sind im Gegenteile sehr entfernt von dieser Stadt.«

»Nun, warum hat der Padre sich nach Tucuman begeben und nicht nach den erwähnten Orten? Sie geben doch zu, daß ein Übergang über die Anden nicht nur beschwerlich, sondern auch gefährlich ist, für einen alten Herrn sogar lebensgefährlich?«

»Das ist wahr. Für alte Leute bringt die außerordentlich dünne Luft und der dadurch verursachte Blutandrang stets eine Lebensgefahr hervor.«

»Sie haben gesagt, der Padre sei ein alter Herr gewesen. Die Reise war also lebensgefährlich für ihn. Einer solchen Gefahr setzt man sich aber nur dann aus, wenn man von wichtigen Gründen dazu gedrängt wird. Er hat gewiß die Schätze heben wollen. Ein Padre aber trachtet nicht nach irdischen Besitz. Wenn er dennoch nach dem Schatze gestrebt hat, so hat er ihn jedenfalls nicht für sich, sondern für andere erlangen wollen. Geben Sie das zu?«

»Ja, denn Ihre Gründe zwingen mich.«

»Wer könnte es nun wohl sein, für welche er die Schätze bestimmt hat? Sollte etwa der Sendador der Erbe sein?«

»Anfangs lag das wohl nicht in der Absicht des Mönches.«

»Wahrscheinlich auch später nicht. Der Sendador sollte überhaupt von der ganzen Angelegenheit nichts erfahren. Erst in der Nähe des Todes hat der Padre ihm die betreffende Mitteilung gemacht. Er gab sein Geheimnis nicht freiwillig, sondern gezwungen preis. Wo aber mag man diejenigen zu suchen haben, denen er es eigentlich offenbaren wollte?«

»Natürlich die Dominikaner in Tucuman.«

»Ich halte diese Ansicht für die richtige. Die Ordensbrüder wären wohl besser im Stande gewesen, die Schrift zu lesen oder den Inhalt der beiden Khipus zu verstehen, als der Sendador. Ein guter Grund, anzunehmen, daß die Hinterlassenschaft des Padres nicht für ihn, sondern für sie bestimmt war.«

»Aber der Padre hat die Khipus gar nicht bei sich gehabt!«

»Das glaube ich nicht.«

»Mein Freund sagte es, und ich habe keinen Grund, die Worte desselben zu bezweifeln.«

»Ich habe desto mehr Grund. Woher war der Padre?«


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»Das weiß ich nicht, denn er hat es dem Sendador nicht mitgeteilt.«

»Wo befanden sich seine Sammlungen, von denen Sie sprachen? Wo lag das Buch, welches nicht gedruckt wurde, also das Manuskript eines so hochwichtigen Werkes?«

»Niemand weiß es.«

»Sollte der Padre gestorben sein, ohne gerade dies Wichtigste dem Sendador mitzuteilen? Sollte er die Übersetzung der Khipus bei sich getragen haben und nicht auch die Khipus selbst, welche doch wenigstens, ich sage wenigstens, denselben Wert hatten wie die Übersetzung?«

»Hm! Sie bringen mich mit diesen Fragen wirklich in Verlegenheit!«

»Ich bin überzeugt, daß Ihr Freund durch dieselben in eine noch viel größere Bedrängnis geraten würde. Sind meine Vermutungen richtig, so hat er nicht bloß die Schrift widerrechtlich an sich genommen, sondern auch die beiden Khipus unterschlagen.«

»Der Padre hatte sie ja gar nicht bei sich, wie ich Ihnen schon wiederholt erklärt habe!«

»Und ich behaupte, daß er sie bei sich hatte. Er vertraute beides dem Sendador an. Dieser versteht doch die Khetschuasprache?«

»Jawohl.«

»Aber Khipus kann er nicht lesen?«

»Nein.«

»Nun, so sind die beiden Khipus ihm nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich gewesen. Er kannte das Geheimnis, indem er die Übersetzung las. Kamen die Khipus zufälliger Weise abhanden, und zwar in die Hände eines Mannes, der sie zu entziffern verstand, so war das Geheimnis verraten. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, sich ihrer zu entledigen, sie zu vernichten. Was gedenkt der Sendador zu tun, nachdem seine Nachforschungen vergeblich gewesen sind?«

»Er gibt sie nicht auf.«

»Er wird keinen besseren Erfolg erzielen.«

»Vielleicht doch, denn er will sich einem Manne anvertrauen, welcher sich in die beigegebenen Zeichnungen besser zu finden vermag, als er selbst. Ich habe den Auftrag erhalten, mich nach so einem Manne umzusehen, und glaube ihn gefunden zu haben.«

»Ich vermute, daß Sie mich meinen.«

»Das ist auch wirklich der Fall.«

(Fortsetzung folgt.)
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