Lieferung 44

Karl May

22. September 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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»Man kann sich hier gar nicht helfen, wie man will. Wenn Gäste kommen, so bin ich es, die zu befehlen hat, und ist es des Nachts, so werde ich sicherlich geweckt. Ich habe aber bis zum Anbruche des Morgens gewacht und vergebens gewartet.«

Er sagte weiter nichts und erhob sich. Er schritt nach dem Hofe und befahl, ihm ein Pferd zu satteln. Noch während man damit beschäftigt war, kam einer der Vaqueros herbei gesprengt und meldete, daß eine sehr bedeutende Schaar Dragoner im Anritte sei. Er hatte diese Meldung kaum gemacht, so sah man auch bereits die Reiter dahergesprengt kommen. Jetzt war es also keine Zeit, nach der Opferstätte zu reiten.

Verdoja wartete die Ankunft der Dragoner ruhig ab. Sie ritten vor dem Wohnhause auf. Die Offiziere stiegen ab und der Befehlshaber, ein Rittmeister, trat herzu. Nach einem leichten, militärischen Gruße fragte er:

»Dies ist die Hazienda Verdoja, Sennor?«

»Ja,« antwortete der Besitzer.

»Sie gehört einem Sennor gleichen Namens?«

»Ja.«

»Der als Rittmeister unter Juarez dient?«

»Nein.«

Der Offizier blickte Verdoja überrascht an und sagte pikirt:

»Sennor, wir sind sehr gut unterrichtet!«

»Ich bezweifle dies,« antwortete Verdoja kühl.

»Sennor!« meinte der Hauptmann, fast drohend.

»Sennor!« meinte Verdoja, überlegen lächelnd.

»Ich weiß zum Beispiel sehr genau, daß Verdoja sich gegenwärtig in Potosi bei Juarez befindet!«

»Ha! Wenn Sie wirklich so gut unterrichtet sind, so bin ich es desto schlechter.«

»Ohne allen Zweifel. Sie sehen ein, daß die Regierung alle Veranlassung hat, diese Hazienda zu berücksichtigen. Ich habe den Befehl erhalten, mein Quartier hier aufzuschlagen.«

»Mit der ganzen Schwadron?«

»Gewiß.«

»Auf Kosten der Hazienda?«

»Ja.«

»Gegen diese Maßregel muß ich protestiren.«

»Mit welchem Rechte?«

»Mit dem Rechte, welches dem Besitzer zusteht. Mein Name ist Verdoja, Sennor.«

»Ah, Sie sind ein Verwandter des Besitzers?«

»Nein; ich bin der Besitzer selbst. Ich befinde mich hier aber nicht in Potosi. Sie sehen also, wer von uns Beiden am besten unterrichtet ist.«

»So beruht die Sache auf einem Irrthume?«

»Wahrscheinlich. Ich stehe im Begriffe, meine Vaqueros zu inspizieren; dies ist ein Ritt, der sich nicht aufschieben läßt. Quartieren Sie sich nach Belieben ein,


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aber denken Sie daran, daß ich nicht verantwortlich bin für das, was Sie thun. Adieu!«

Er schwang sich auf sein Pferd und ritt davon, ohne einen der Dragoner eines Blickes zu würdigen. Niemand folgte ihm, und er erreichte die Pyramide unbemerkt und unbeobachtet Er stieg dort ab, führte sein Pferd in das Gebüsch und band es dort an.

An dieses Gebüsch stieß ein vielfach zersprungener Felsen, in dessen Rissen sich eine kleine Moosart angesiedelt hatte. Da, wo der Felsen auf dem Boden ruhte, schienen einige dieser Risse sehr tief einzuschneiden. Verdoja kniete nieder und legte die eine Schulter an den Felsen. Er drückte kräftig dagegen und ein Stück dieses Felsens, welches von vier Rissen eingefaßt war, wich nach innen. Jetzt wurde ein großes Loch sichtbar und auf dem Boden desselben einige sehr harte Steinrollen, auf denen sich das Felsenstück bewegt hatte. Das Loch hatte einen genügenden Umfang, um einem Manne in gebückter Stellung Eingang zu gestatten.

Verdoja trat ein, wendete sich in eine seitliche Vertiefung und schob den Felsen wieder in sein früheres Lager zurück.

In dieser Vertiefung standen einige Blendlaternen von derselben Art, wie der Wächter eine getragen hatte. Verdoja brannte eine derselben an und schritt nach einem Gange, der abwärts in den Felsen lief. Nach einer Weile ging es einige Stufen aufwärts, dann wieder abwärts, bald geradeaus, bald in einem Bogen. Er gelangte durch Felsenkammern, er kam an Zellen vorüber. Er öffnete Thüren und schloß sie wieder, nur durch einen leichten Druck mit der Hand, wobei ein scharfes, metallisches Klingen sich hören ließ. Die Wände waren feucht, der Fußboden noch feuchter.

Endlich ging es eine Treppe aufwärts. Er öffnete auf dieselbe geheimnißvolle Weise noch einige Thüren, kam durch mehrere Gänge und endlich auch an die Thüre, vor welcher die vier Gefangenen sich vergeblich angestrengt hatten. Sie wich seinem leisen Drucke, obgleich sie auf der anderen Seite mit zwei Riegeln befestigt war. Er hatte noch die Thüre zu passiren, welche der Wächter offen gelassen hatte, und trat nun in den Gang, in welchem die beiden Zellen lagen, in denen Mariano und Helmers angefesselt gewesen waren.

Er hatte alle diese Thüren hinter sich verschlossen. Er ahnte nicht, daß man in diesem Gange auf ihn warte. Er glaubte, daß Pardero sich noch immer bei der Indianerin befinde, daß er dem Wächter nicht gefolgt sei und daß dieser durch irgend einen zufälligen Umstand verhindert worden sei, nach der Hazienda zurück zu kommen.

So schritt er langsam vorwärts und bog in den Gang ein, in welchem die beiden Gefängnisse der Mädchen lagen. Da fiel das Licht der Laterne auf Mariano. Er erkannte ihn vollständig und zu gleicher Zeit wurde er von hinten gefaßt.

»Halt! Ich habe ihn!« rief Helmers.

»Noch nicht!« brüllte Verdoja.

Er riß sich los und versetzte Mariano, welcher ihn gleichfalls packen wollte, einen Fußtritt in den Unterleib, daß der Getroffene zu Boden stürzte. Dann sprang er in langen Sätzen vorwärts, die Laterne in der Hand.


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Er ahnte im Augenblicke, wie die Sache stand. Pardero und der Wärter waren überwältigt und getödtet worden, sonst konnten die Gefangenen ja nicht frei sein. Es galt, ihnen zu entkommen und dafür zu sorgen, daß sie den Ausweg nicht fanden. Darum setzte er den Kampf nicht fort, sondern zog die Flucht vor.

»Ihm nach!« rief Helmers.

Mariano hatte sich augenblicklich wieder erhoben.

»Ohne die Damen?« fragte er.

»Ja,« antwortete Helmers.

»Aber wenn wir sie verlieren! Ich hole sie!«

»So laufe ich voran.«

Er sprang dem Fliehenden nach, während Mariano die Mädchen holen wollte. Es war nicht nöthig; sie standen bereits hinter ihm, mit der brennenden Laterne in der Hand. Karja war sogar so vorsichtig gewesen, die Oelflasche zu ergreifen.

»Kommen Sie, schnell, schnell!« rief er und eilte Helmers nach.

Diesem war es unterdessen fast gelungen, Verdoja einzuholen. Dieser hatte die Thüre erreicht. Sie sprang vor ihm auf, ohne daß er den Riegel berührte. Hinter ihr wurde ein dunkler Raum sichtbar, in dessen Mitte ein schwarzes Loch im Boden gähnte. Ein Bret führte darüber.

Verdoja betrat dasselbe eben in dem Augenblicke, in welchem Helmers unter der Thüre erschien. Er sprang im eiligen Laufe über das Bret, es zitterte und knirschte; er hatte nur noch zwei Schritte zu thun, um den jenseitigen Rand des Schlundes zu erreichen, da - prasselte und knackte es auseinander.

»O Dios!«

Mit diesem gellend ausgestoßenen Schrei schlug er die Hände empor und stürzte in die gähnende Tiefe hinab. Man hörte seinen Körper unten aufschlagen.

»Herr Gott!« rief Helmers, unter der Thüre stehen bleibend. »Er ist zerschmettert!«

»Wo, wo?« fragte Mariano, welcher hinter ihm angekommen war.

»Hier hinab.«

Auch die beiden Mädchen kamen herbei. Emma wollte, an den Schlund tretend, die Thüre hinter sich zufallen lassen, aber Mariano erfaßte dieselbe noch zu rechter Zeit.

»Um Gottes Willen, Sennorita, wir dürfen die Thüre nicht schließen lassen, denn wir können sie nicht wieder öffnen, und dann ständen wir vor diesem Abgrunde. Wir könnten nicht hinüber und hätten hüben kaum so viel Platz, um bequem stehen zu können.«

Und es war so. Der Raum, vor dessen geöffneter Thüre sie standen, war viereckig, aber im Boden klaffte ein wohl fünf Ellen breiter Spalt in die Tiefe, welcher von der rechten bis zur linken Wand ging und also nur mittelst eines Bretes überschritten werden konnte. Diesseits des Loches hatte der Fußboden eine Breite von nur zwei Fuß, so daß kaum Platz zum Stehen war.

Beim Scheine der Laterne sahen sie, daß in der Decke ein gleiches Loch war, welches in die Höhe ging.

»Es ist ein Brunnen gewesen,« sagte Helmers.

»Jedenfalls,« antwortete Mariano. »Horcht!«


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Aus der Tiefe klangen dumpfe Laute. Helmers kniete nieder und rief hinab:

»Verdoja!«

Ein gräßliches Wimmern antwortete.

»Sind Sie bei Besinnung?« fragte der Deutsche.

Man hörte dasselbe Wimmern, aber man vernahm, daß es eine Antwort sein sollte. Einen artikulirten Laut konnte man nicht unterscheiden.

»Können wir helfen?« fragte Helmers abermals.

Aus dem auch jetzt erfolgenden Wimmern ließ sich nichts nehmen.

»Er ist verloren; es ist wenigstens dreißig Ellen tief,« meinte Mariano.

»Er hat seine Strafe,« setzte Karja finster hinzu. »Aber was wird mit uns?«

»Die Thüre ist offen,« antwortete Emma. »Vielleicht entdecken wir jetzt die geheimnißvolle Vorrichtung.«

Sie beleuchteten den Eingang und sahen nun zu ihrem Erstaunen, daß die Seitentheile des Thürgewändes sich mit der Thüre geöffnet hatten. Im oberen Theile aber und in der Schwelle waren tiefe Riegellöcher zu bemerken, welche in ganz gleiche Vertiefungen führten, und sich in der oberen und unteren Kante der Thüre befanden. Wie aber die darinnen steckenden Riegel geöffnet und geschlossen werden konnten, das war nicht zu ersehen.

Die vier Personen gaben sich die erdenklichste Mühe, dieses Geheimniß zu ergründen, aber es gelang ihnen nicht. Ueber den Abgrund hinüber war nicht zu entkommen; das Wimmern des Verunglückten wurde immer gräßlicher und schneidender und so kehrten sie wieder nach dem Gange zurück, in welchem sie sich vorher befunden hatten. Die Thüre zu dem Brunnengemache aber ließen sie offen, indem sie das Verschließen durch dazwischen gestecktes Stroh, welches sie aus der Zelle holten, verhinderten.

Jetzt standen sie da und blickten einander rathlos an.

»Ob er vielleicht, bevor er zu uns kam, eine Thür offen gelassen hat?« meinte Mariano. »Wir wollen nachsehen.«

Sie verfolgten den Gang bis zu derselben Thür, welche ihnen bereits einmal Halt geboten hatte, fanden sie aber fest verschlossen, und so viel Scharfsinn und Körperkraft sie auch daran wandten, sie zu öffnen, es gelang ihnen nicht.

»Wir sind eingeschlossen,« sagte Emma. »Wir sind zum Tode des Verschmachtens verdammt; wir müssen sterben.«

»Noch nicht,« tröstete Mariano. »Gott wird uns nicht umkommen lassen.«

»Wir wollen fleißig nachdenken und versuchen,« meinte Helmers. »Vielleicht gelingt es uns doch noch, das Geheimniß der Thüren zu entdecken.«

»Wir entdecken es nicht,« sagte Karja. »Hilfe kann nur noch von Sennor Sternau kommen.«

»Aber wenn dieser selbst nicht kommt!« klagte Emma. »Sie werden ihn fangen und tödten.«

»O, er ist klug; vielleicht entkommt er,« tröstete Helmers. »Uebrigens brauchen wir uns den Kopf nicht zu zerbrechen darüber, wie die Thüren geöffnet werden. Wir haben ja ein ganz gutes Werkzeug dazu.«

»Welches?« fragte Mariano.

»Unsere Messer.«


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»Ah, wirklich!« rief Emma. »Wir schneiden die Thüren durch.«

Helmers konnte sich trotz ihrer schlimmen Lage eines leisen Lachens nicht erwehren.

»So ist es nicht gemeint, Sennorita,« sagte er. »Dieses Holz ist so hart wie Eisen; es würde eine Riesenarbeit von einigen Jahren sein, alle Thüren zu durchschneiden, und selbst dann wäre es noch fraglich, ob wir zu dem richtigen Ausgange gelangen. Und das Holz nur einer einzigen Thür zu durchschneiden, würde uns nichts Anderes bringen, als was wir bereits gesehen haben. Wir haben ja bereits eine offene Thür, ohne das Geheimniß ergründen zu können. Ich meine vielmehr, wir müssen den Theil der Mauer entfernen, welcher sich um das Thürgewände legt; in diesem Theile ist das Geheimniß verborgen.«

»Das ist richtig!« stimmte Mariano bei. »Gehen wir sofort an das Werk!«

»Es giebt noch ein kürzeres Mittel, wenn es gelingt,« bemerkte die Indianerin.

»Welches?« fragten schnell die Anderen.

»Wir drehen uns ein Seil, und Einer läßt sich zu Verdoja hinab. Lebt er noch, so muß er sagen, wie die Thüren geöffnet werden.«

»Wovon soll das Seil gefertigt werden?« fragte Helmers.

»Von den Lassoriemen, mit denen wir gefesselt waren, sie liegen noch in den Zellen; ferner von den Kleidern der beiden Todten, auch von den unserigen, soweit sie entbehrlich sind. Vielleicht können wir die Ketten ausdrehen, an denen die beiden Sennors gefesselt waren. Man nahm für Sennorita Emma und mich einige Decken mit. Sie liegen noch in meiner Zelle und der ihrigen. Wenn wir sie zerschneiden und zusammendrehen wird ein Seil fertig.«

Dieser Vorschlag wurde angenommen. Man vereinigte die zerschnittenen Lassostücke; man zerschnitt die Kleider Pardero's und des Wächters, die man ihnen auszog, ebenso die Decken, und als das Seil fertig war, hatte es eine Länge von über dreißig Fuß. Um seine Festigkeit zu prüfen, zogen Mariano und Helmers mit aller Macht an demselben, es gab nicht nach; und so erklärte Mariano, sich demselben anvertrauen zu wollen, da er der Leichtere sei.

Man hatte zwei Laternen. Die eine befestigte Mariano sich um die Taille, und nun begaben sie sich nach dem Brunnengemache. Hier hörten sie das fürchterliche Wimmern noch immer in derselben Stärke wie vorher; Mariano band sich das eine Ende des Seiles unter den Armen fest, um sich hinabzulassen, erklärte aber, aufwärts werde er an demselben emporklettern. Hierzu gab es zwei Gründe, erstens wurde ihm dieses Klettern leichter als Helmers das Ziehen, selbst wenn die Damen mit helfen würden, und zweitens war das Emporziehen für ihn gefährlicher, da das Seil am Rande des Schlundes scheuerte und dadurch leicht reißen konnte.

Da vier Krüge mit Wasser vorhanden waren, so opferte man einen davon, um das Seil zu befeuchten; es erhielt dadurch eine größere Elasticität und Widerstandsfähigkeit. Dann ging man an das Werk.

Mariano knieete am Rande nieder, faßte dann das Seil oberhalb der Befestigung mit beiden Händen und stieß die Kniee vom Rande ab.

»In Gottes Namen, jetzt hinab!« sagte er.

Helmers war stark; niederwärts konnte er ihn allein erhalten, und so verschwand der kühne, junge Mann bald in dem schwarzen Schlunde. Helmers ließ das Seil sehr langsam und vorsichtig ablaufen, und die beiden Frauen, welche sich am Rande


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niedergeknieet hatten und hinabblickten, sahen den Lichtschein seiner Laterne sich immer weiter entfernen.

»Um Gotteswillen, wenn er erstickt!« sagte da Emma. »Dieser Brunnen ist sehr tief und sehr alt; er kann gefährliche Gase enthalten.«

Daran hatte man vorher gar nicht gedacht; aber Helmers schüttelte lächelnd den Kopf und fragte:

»Sennorita, hören Sie Verdoja noch wimmern?«

»Ja,« antwortete sie, »es klingt schrecklich!«

»Nun, dieses Wimmern ist ein Zeichen, daß er noch lebt, und er würde nicht mehr leben, sondern erstickt sein, wenn es da unten tödtliche Gase gäbe.«

Nach einiger Zeit, als das Seil auf fast nur noch zwei Ellen abgelaufen war, hörte die Spannung auf. Mariano hatte den Boden erreicht, und die drei oben befindlichen Personen lauschten mit großer Spannung hinab.

Der Brunnen war, wie bereits gesagt, nicht rund, sondern viereckig, und die vier Wände waren glatt; das schloß jede Gefahr für das Seil aus. Vor Jahrhunderten hatte er wohl Wasser gegeben, jetzt aber war er vollständig ausgetrocknet. Mariano stand an einem porösen Felsen, welcher ringsum von einer sandigen Erdschicht umgeben war. Durch diese war vor Jahren das Wasser hereingesickert.

Jetzt sah sich der junge Mann nach Verdoja um. Dieser lag zusammengekrümmt wie ein Hund vor seinen Füßen und ließ aus dem offenen Munde jenes Wimmern hören, welches hier unten noch viel schrecklicher klang, als oben. Die Lippen zeigten einen blutigen Schaum; die Augen standen offen, waren aber nicht stier, sondern hatten einen Ausdruck, der erkennen ließ, daß Verdoja bei vollständiger Besinnung sei.

»Schreien Sie nicht, sondern antworten Sie,« sagte Mariano. »Ich komme, Ihnen zu helfen.«

Der Verunglückte hörte einen Augenblick lang auf mit Wimmern und sah den Retter mit einem Blicke an, in welchem ein wahrhaft teuflischer Haß zu erkennen war.

»Wo ist Pardero?« fragte er.

Aber man sah ihm an, daß ein jedes Wort ihm die fürchterlichsten Schmerzen bereitete.

»Todt,« antwortete Mariano.

»Der Wärter?«

»Auch todt.«

»Die Mädchen?«

»Sie sind oben bei uns.«

»Mörder!«

Er wollte die Fäuste ballen, aber es ging nicht; er hatte beide Arme gebrochen.

»Schmähen Sie nicht,« gebot Mariano ernst. »Sie sind an Allem selbst schuld! Und dennoch werden wir Sie retten.«

»Ihr? Wie?« fragte Verdoja.

Aber er litt dabei solche Schmerzen, daß er fast zwischen jeder Silbe ein tief einschneidendes Jammern ausstieß und daß seine Worte nur schwer zu verstehen waren.


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»Wir ziehen Sie mit dem Seile hinauf und schaffen Sie nach der Hazienda.«

Ueber das schmerzverzerrte Gesicht Verdoja's glitt für einen Augenblick ein lichter Zug; dann aber verfinsterte er sich wieder, und er fragte:

»Wie kommt Ihr hinaus?«

»Sie werden sagen, wie die Thüren zu öffnen sind und welchen Weg wir einzuschlagen haben.«

»Ah! Ihr wißt es nicht!«

Ein Zug wahrhaft höllischer Schadenfreude verzerrte sein Gesicht noch mehr, als es bereits vom Schmerze geschah, dann fügte er hinzu:

»Ihr müßt verhungern - verdursten - verschmachten!«

Er rief jedes dieser drei Worte in einem höheren Tone, bis die letzte Silbe über die höchste Fistel schnappte. Er genoß eine Genugthuung, welche sogar die fürchterlichen Schmerzen, welche er litt, betäubte.

»Wir werden nicht verschmachten,« antwortete Mariano, »denn Sie werden wieder frei und gesund sein wollen, und das können Sie nur durch uns.«

»Frei! Gesund! Ah!« stöhnte Verdoja. »Nie! Arme gebrochen! Rückgrat gebrochen! Ich muß sterben!«

»Sie werden nicht sterben; Sie werden leben und zwar durch uns. Wollen Sie sich uns anvertrauen?«

»Nie! Nie! Auch Ihr sollt sterben!« Der Schaum um seinen Mund verdoppelte sich, und seine Augen drohten, aus ihren Höhlen zu treten. Er glich einer gräulichen Schlange, welche sich noch im Tode windet, um Gift zu spritzen. Mit Mariano's Geduld ging es fast zu Ende.

»Aber Mensch, Sie richten sich ja selbst zu Grunde!« rief er.

»Ich will es!« antwortete Verdoja. »Und auch Ihr sollt zu Grunde gehen, verfaulen, in die Hölle fahren!«

»Ist dies Ihr letztes Wort?«

Da fletschte der Mensch die Zähne und grinste:

»Mein letztes, letztes, letztes.«

»Nun gut, so hört die Liebe auf und die Strenge beginnt,« sagte der junge Mann. »Wenn Bitten nicht helfen und die eigene Lust zum Leben, so giebt es andere Mittel, einen solchen Teufel zum Reden zu bringen. Wir haben keine Lust, in Folge Deiner höllischen Bosheit hier zu verschmachten.«

Er knieete neben Verdoja nieder, faßte die beiden Arme desselben an der Stelle, wo sie gebrochen waren und drückte sie da mit aller Gewalt. Diese Art der Folter preßte dem Bösewicht einen Schrei aus, von dem Mariano meinte, er müsse da oben sogar außerhalb der Pyramide gehört werden.

»Wie werden die Thüren geöffnet?« fragte er.

»Ich sage es nicht!« brüllte Verdoja.

»Du mußt es sagen; ich lasse nicht nach!« Er drückte und quetschte die Stellen mit aller Macht. Das Geschrei, welches Verdoja bei den entsetzlichsten Schmerzen ausstieß, glich dem Gebrülle von zehn Tigern, aber er gab die gewünschte Antwort nicht. Da faßte ihn Mariano bei den Beinen. - Das half nichts, sie waren gänzlich gefühllos; der Mensch hatte den


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unteren Theil des Rückgrates gebrochen und lachte höhnisch auf, als er die Erfolglosigkeit von Mariano's Bemühungen sah. Dieser wurde dadurch zorniger.

»Lache nur, Du Satan,« sagte er. »Es giebt noch andere Schmerzen.«

Er fühlte sich bis zur Gefühllosigkeit zornig; er faßte die Hände des Verwundeten und gab beiden Armen einen so gewaltigen Ruck, daß er glaubte, sie aus dem Leibe zu ziehen. Verdoja stieß einen entsetzlichen Schrei aus, beantwortete aber die Frage nicht.

»Mensch, Du bist für den Teufel zu schlecht!« rief er. »So stirb denn so, wie Du es willst. Gott wird uns helfen!«

Er rüttelte an dem Stricke, zum Zeichen, daß er empor wolle, und faßte dann denselben mit beiden Händen an. Als Verdoja dieses bemerkte, erhob er den Kopf, spie nach dem jungen Manne und rief mit überschnappender Stimme:

»Seid verflucht! Verflucht! Verflucht!«

Diese Abschiedsworte brachten Marlano auf einen Gedanken, den er bis jetzt gar nicht gehabt hatte - wunderbarer Weise. Er knieete noch einmal vor Verdoja nieder und untersuchte dessen Kleider. Er fand eine Uhr, Geld, Ringe, einen Revolver, ein Messer und andere Kleinigkeiten; er nahm ihm Alles ab und steckte es zu sich.

»Räuber!« rief Verdoja.

»Pah, wir können es gebrauchen, Du aber nicht, Hallunke!«

Er probirte nochmals am Seile, ob es oben festhalten werde, und turnte sich dann an demselben empor. Er erreichte den Rand glücklich, und während von unten das herzzerreißende Wimmern heraufscholl, wurde er von den Andern nach dem Erfolge seiner waghalsigen Sendung gefragt. Als er denselben mittheilte und auch erzählte, welche Folter er angewendet habe, um den Menschen zum Sprechen zu bringen, zogen sich die Mädchen voll Grauen zurück, Helmers aber sagte:

»Warum haben Sie diesen Satan nicht erstochen oder erschlagen?«

»Fällt mir nicht ein. Er will nicht gerettet sein, weil auch wir sonst frei würden, und so mag er krepiren und verschmachten, wie er es uns bestimmt hat.«

»So bleibt uns nichts übrig, als zu den Messern zu greifen und die Backsteine um die Thür auszugraben. Wenn wir die Konstruktion nur einer einzigen Thüre kennen, so können wir alle andern Thüren öffnen.«

Sie kehrten in die Gänge zurück und zwar zu der von Verdoja zuletzt verschlossenen Thür, und machten sich da an die Arbeit. -

Unterdessen hatten sich die Dragoner in der Hazienda Verdoja einquartiert, und ihre Offiziere warteten auf die Rückkehr des Besitzers. Der Tag verging, der Abend und die Nacht ebenso, und Verdoja kam nicht. Nun war der Rittmeister überzeugt, daß er entflohen sei, und behandelte die Hazienda als feindliches Gebiet. Er hatte die Aufgabe, den Heerd der Empörung gegen Norden zu von der Provinz Sonora abzuschließen, und da in diesen wilden Gegenden das Militär dazu zu schwach war, so waren Botschafter an die Häuptlinge der nördlichen Indianer gegangen, und die Comanchen hatten sich bereit finden lassen, die Gegend zu besetzen. Sie kamen in hellen Haufen herangezogen, aber ihr eigentlicher Zweck war nicht, die Verfassung von Mexiko zu schützen, sondern im Trüben zu fischen und möglichst reich an Beute nach ihren Wigwams zurückzukehren. - -


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Während es auf der Hazienda Verdoja von Kriegern wimmelte, sah es auf der Hazienda del Erina sehr einsam aus.

Petro Arbellez, der Besitzer derselben, hatte jene Nacht, in welcher seine Tochter geraubt wurde, mit Helmers, dem Bruder des Steuermannes, auf der benachbarten Hazienda Vandaqua zugebracht. Dies wissen wir bereits. Als am anderen Morgen die brave Maria Hermoyes erwachte, war ihr Erstes, wie gewöhnlich die Chokolade für Emma und Karja zu bereiten. Als dieselbe in den Tassen dampfte, trug sie sie empor nach den Schlafzimmern der beiden Sennoritas. Wie erstaunte sie aber, als sie die Zimmer verlassen fand.

Eine Unordnung, oder gar die Spur eines Kampfes war nicht zu erkennen; dafür hatte Verdoja kluger Weise gesorgt, und da sich bald herausstellte, daß auch die drei Sennores Sternau, Helmers und Mariano die Hazienda verlassen hatten, so glaubte die alte Dame, daß es sich hier um weiter nichts, als einen schnell beschlossenen Morgenausflug handele.

Als aber der Morgen und dazu der halbe Nachmittag verging, ohne daß die Vermißten zurückkehrten, so ward die Sorge dringender. Es gab nur noch Beruhigung in der Annahme, daß alle fünf Personen einen Ritt nach der Hazienda Vandaqua unternommen hätten, um den Vater und den Geliebten zu überraschen. Da kehrten aber Petro Arbellez und Helmers allein zurück, und sogleich stand bei der guten Maria die Ueberzeugung fest, daß es sich hier um ein sehr großes Unglück handle. Sie eilte in den Hof und empfing die beiden mit der weinend ausgesprochenen Frage:

»O Sennores, Sie kommen allein! Sind denn die Anderen nicht dabei?«

»Wer?« fragte Arbellez. »Was meinst Du?«

»Weil es ein Unglück ist, ein fürchterliches Unglück!«

»Was denn?«

»Daß sie nicht da sind!«

»Wer denn, zum Teufel?«

»Sennor Sternau.«

»Sennor Sternau? Was soll ihm denn passirt sein?«

»Und Sennor Mariano!«

»Auch er?«

»Und Sennor Helmers!«

»Diese Drei? O, das sind tüchtige Kerls, die schon dafür sorgen werden, daß ihnen nichts passirt.«

»Aber sie sind bereits seit heute Morgen fort.«

»Sie werden wiederkommen.«

»Und Sennora Karja.«

»Hm, auch sie?«

»Und Sennora Emma.«

»Alle Wetter, sind die beiden Damen denn auch mit?«

»Ja.«

»Wohin denn?«

»Das weiß ja Niemand.«

»Wann sind sie fort?«


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»Auch das weiß kein Mensch. Als ich erwachte, waren sie bereits nicht mehr da.«

Jetzt begann der Haziendero ängstlich zu werden.

»Haben sie denn keinem Menschen etwas von dem Ausfluge gesagt?« fragte er.

»Keinem.«

»So möchte ich wissen, wohin sie geritten sind.«

»Das ist ja das Schlimme, daß sie gar nicht geritten sind!«

»Nicht? Alle Teufel, da scheint wirklich etwas vorzuliegen! Haben Sie denn auch gestern Abend nichts erwähnt?«

»Kein Wort, obgleich sie noch beisammen blieben, als der Lanzenreiter bereits zur Ruhe gegangen war.«

»Ein Lanzenreiter war da?« fragte Helmers schnell.

»Ja, ein Kurier von Juarez.«

»Wann ist er abgereist?«

»Er war auch fort.«

»Ah! In welchem Zimmer hat er geschlafen? Zeige es mir Schnell!«

Er faßte die Alte beim Arme und zog sie fort, hinauf nach den Gastzimmern zu. Dasjenige, in welchem der vermeintliche Offizier gewohnt hatte, wurde geöffnet, und da zeigte sich nichts als eine Menge Sand, welches auffällig war. Helmers blickte unter das Bett, langte mit dem Arme hinab und zog - eine Strickleiter hervor. Die Räuber hatten sie liegen lassen, hatten nicht wieder an sie gedacht.

Arbellez stieß einen Ruf des Schreckens aus und wollte forteilen, um alle seine Untergebenen zu allarmiren, aber Helmers hielt ihn zurück.

»Halt!« sagte er; »keine Ueberstürzung. Es scheint allerdings, daß hier etwas Ungewöhnliches geschehen ist; wir müssen das aber in Ruhe untersuchen. Maria, gehen Sie in die Zimmer Emma's und Karja's, und sehen Sie, welche Kleider fehlen. Kommen Sie gleich wieder hierher, ohne einem Menschen ein Wort zu sagen!«

Sie eilte fort. Arbellez zitterte vor Aufregung; auch Helmers war erregt; aber er bezwang sich und öffnete ruhig das Fenster, um hinabzublicken. Er war ein Prairiejäger; er war sogar unter dem Namen Donnerpfeil berühmt gewesen; er verstand es, die Spuren eines Verbrechens zu verfolgen. Als er den Kopf wieder in das Zimmer zog, war sein Antlitz blaß geworden.

»Man hat sie entführt und geraubt,« sagte er.

»O heilige Madonna, ist das wahr?« fragte Arbellez erschrocken.

»Ja. Aber nur Ruhe, mein lieber Vater! Da unten vor dem Fenster haben viele Menschen gestanden; das sieht man an den Spuren. Sie sind über die Pallisaden herübergekommen und durch das Fenster in dieses Zimmer gestiegen. Die vielen Sandkörner hier auf der Diele blieben ihnen an den Sohlen kleben. Sie haben die Verschwundenen jedenfalls einzeln überfallen. Aber es wundert mich, daß dies so in aller Ruhe hat geschehen können, daß Niemand etwas davon gemerkt hat.«

Arbellez war sprachlos vor Schreck, und auch Helmers sagte kein Wort mehr, bis Maria Hermoyes zurückkehrte. Sie meldete, daß bei beiden Damen je nur ein Anzug und eine Decke fehlten.


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»So gehen wir in die Zimmer der verschwundenen Sennores!« sagte Helmers.

Sie fanden bei Mariano und dem Steuermanne die Betten eingerissen, sonst aber Alles in Ordnung, bei Sternau aber war das Bett unberührt. Helmers schüttelte den Kopf.

»Jetzt in den Hof!« sagte er. »Ich muß Klarheit haben.«

Sie umschritten das Gebäude, Helmers stets voran. Er betrachtete jeden Zollbreit des hinteren Hofes, auch die ganze Länge des Palissadenzaunes, zuletzt die eine Ecke desselben und sagte dann:

»Jetzt weiß ich es. Der Lanzenreiter war ein Spion; er sollte sie in das Gebäude lassen. Hier an dieser Stelle sind sie über den Zaun gestiegen. Sternau hat Verdacht geschöpft; er ist patrouilliren gegangen; er kam nur bis hierher, wie seine Fußtapfen im Sande zeigen. Da hat man ihn von hinten meuchlings niedergeschlagen und nach jener Ecke geschleppt. Ich sehe ganz genau, daß er dort gelegen hat. Dann sind sie durch das Fenster gestiegen, haben aber das Haus nicht wieder durch dasselbe verlassen, folglich sind sie durch das Thor fortgegangen. Nach den Palissaden sind sie von Süden her gekommen, folglich sind sie auch wieder nach dieser Richtung hin gegangen. Wir wollen sehen.«

Er führte Arbellez zum Thore hinaus und schritt immer nach Süden zu, den Boden genau beobachtend, ohne ein Wort zu sagen. Bei einem Gebüsch angekommen, verweilte er dort längere Zeit.

»Warten Sie hier, bis ich wiederkomme.«

Mit diesen Worten ging er fort und schlug einen großen weiten Bogen um den Ort, an welchem Arbellez stand. Als er zurückkehrte, sagte er:

»Endlich bin ich fertig. Was ich vermuthete, ist wahr: Man hat Ihnen Ihre Tochter und mir meine Braut geraubt. O, wären wir heute Morgen zurückgekehrt, so säße ich den Räubern vielleicht bereits auf dem Nacken. So aber werden sie über einen Tag Vorsprung erhalten.«

Arbellez brach fast zusammen. Er schlug die Hände vor das Gesicht und rief:

»O mein Kind, meine Tochter! Wer hat mir das gethan?«

»Verdoja und Pardero, kein Anderer. Der Eine trachtete nach Emma und der Andere nach Karja. Und die Anderen haben sie überrumpelt, um sich für das Duell zu rächen. Aber so wahr ich hier stehe und Donnerpfeil genannt werde, der Raub soll ihnen keinen Segen bringen.«

Seine Augen funkelten und seine Gestalt reckte sich. Er war nicht mehr der kranke, hilflose Patient, sondern ganz wieder der frühere Westmann, der die Rache in seine Brust verschloß, um die Scene offen zu halten.

»Aber was thun wir?« fragte Arbellez.

»Wir verfolgen sie und werden sie erwischen, obgleich sie es sehr schlau angefangen haben. Sie haben sich in fünf Theile getheilt und sind von hier aus, wo sie sich versammelten, nach verschiedenen Richtungen fort. Je Drei haben einen Gefangenen bei sich gehabt, fünfzehn Mann und fünf Gefangene. Es giebt ganz sicher einen Punkt, an dem sie sich wieder vereinigen, und dieser ist jedenfalls jenseits des Gebirges.«

»So müssen wir jeder dieser Spuren einzeln folgen?«

»Nein. Der Räuber ist Verdoja. Hier darf er sich nicht sehen lassen, in


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Durango auch nicht; in Chihuahua ist er ansässig, sicher geht er dorthin. Da muß er durch die Mapimi, und ich bin überzeugt, daß am Rande dieser Wüste sich alle diese Spuren vereinigen. Hätte ich Büffelstirn oder Bärenherz, den Apachen, hier, so wüßte ich, daß in sechs Tagen Emma wieder in Ihren Armen läge.«

»O, Antonio,« rief der Haziendero, »nehmen Sie alle meine Vaqueros und Ciboleros mit sich. Ich selbst will mitgehen! Nur befreien Sie meine Tochter!«

»Haben Sie keine Sorge, mein Vater! Ich werde sie befreien. Aber von Ihren Vaqueros geben Sie mir nur zwei mit; den braven Franzesco, der mich begleiten soll, und noch einen, den ich zurücksende, sobald ich eine gute Spur gefunden habe.«

»Und wann brechen Sie auf?«

»Sogleich. Geben Sie mir sechs Pferde mit, damit ich morgen früh frische Thiere habe.«

Als sie die Hazienda wieder erreichten, standen alle Angehörigen des Landgutes bereits versammelt. Maria Hermoyes hatte nicht zu schweigen vermocht, sondern Allarm geschlagen. Arbellez gab Auskunft und theilte seine Befehle aus, wobei ihm immer die Thränen des Grames über die Wangen liefen. Helmers aber ging nach seinem Zimmer, um seinen Trapperanzug wieder anzulegen. Dann suchte er auch die Zimmer der Verschwundenen auf, und als die Pferde gesattelt unten standen, lud man ihnen nicht nur Munition und Proviant, sondern auch einige Packete auf, in welchen sich Verschiedenes, was den Verschwundenen gehörte, befand, besonders aber ihre Waffen.

»Ich werde sie finden,« sagte Helmers, »und dann werden sie sich freuen, sofort die Waffen zu haben, an welche sie sich gewöhnt haben.«

Er nahm einen innigen Abschied von dem Haziendero und sprengte davon, von dem Segen desselben begleitet, mit seinen beiden Vaqueros dem Westen entgegen.

Petro Arbellez blieb zurück. Er wäre von Herzen gern mitgeritten, um sein einziges Kind aus der Gefangenschaft dieser Menschen zu befreien; er war voll Schmerz über ihr Schicksal und voll Grimm über die Räuber, aber er konnte die zwei Hazienda's, deren Herr er jetzt war, nicht ohne Aufsicht lassen, und so blieb dem alten, frommen Manne nichts übrig, als für die Rettung seiner Tochter und der übrigen Gefangenen zu beten.

Anton Helmers, oder, wie er nun ja wieder genannt werden kann, Donnerpfeil, hatte nun noch drei Stunden Tag für sich, und diese wurden sehr reichlich ausgenützt. Er sagte sich, daß die Räuber die Hazienda del Erina wohl nach Mitternacht erst verlassen hatten; sie hatten also einen Vorsprung von ungefähr zwölf Stunden, und diesen hoffte er einzubringen. Er ließ, so lange es Tag war, die Pferde immer im Galopp gehen, und selbst als der Abend hereingebrochen war, brauchte er diese Schnelligkeit kaum zu vermindern. Die fünf Trupps der Räuber waren gewiß nicht so rasch vorwärts gekommen; sie hatten dann am Versammlungsorte aufeinander warten müssen, während er den nächsten Weg einschlug und mit dem Auffinden ihrer Spur nicht viel Zeit zu verlieren hoffte.

Diese Berechnung erwies sich als richtig. Er erreichte mit seinen beiden Begleitern den jenseitigen Fuß des Gebirges kaum zwei Stunden später, nachdem Verdoja mit seinen vier Gefangenen den Weg nach Westen quer durch die Mapimi ein-


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geschlagen hatte. Dort fanden sie eine Spur, welche sich längs des Gebirges nach Norden zog. Sie stiegen ab und untersuchten dieselbe.

»Sechs Pferde,« sagte Donnerpfeil. »Es haben sich also zwei der Abtheilungen bereits vereinigt, und ich hoffe, daß wir das Stelldichein der Anderen bald erreichen.«

Es dauerte kaum zehn Minuten, so erfüllte sich dieses Wort. Sie kamen an den Lagerplatz der Mexikaner und sahen aus den Spuren, in welcher Weise diese um das Feuer gruppirt gewesen waren. Die Stellen, an denen die Gefesselten lang gestreckt gelegen hatten, waren sehr leicht zu erkennen. Donnerpfeil zeigte auf eine derselben.

»Hier hat Sternau gelegen,« sagte er.

»Woraus sehen Sie das?« fragte Franzesco.

»Das ist sehr einfach,« erklärte der Gefragte. »Sternau ist ein erfahrener und berühmter Westmann, der alle Schliche des Prairielebens kennt. Er hat sich denken können, daß die Räuber verfolgt werden und darum sich Mühe gegeben, die Spuren so deutlich wie möglich zu machen. Hier hat er mit den Füßen gelegen; man sieht, daß er die Absätze seiner Stiefel mit Vorbedacht in den Boden gegraben hat. Hier rechts und links hat er die Ellbogen tief eingedrückt, und hier oben ist die deutliche Spur seines Kopfes. So handelt nur ein sehr umsichtiger Westjäger, und daraus schon würde ich schließen, daß Sternau es gewesen ist. Aber noch sicherer wird meine Vermuthung durch die Länge der Körpereindrücke. Sternau ist der Längste und Stärkste; nur er kann hier gelegen haben.«

»Das stimmt,« antwortete Franzesco. »Aber was ist das hier?«

Er zeigte auf mehrere sehr energische Fußeindrücke in der unmittelbaren Nähe der Feuerstelle. Donnerpfeil untersuchte dieselben.

»Ah, hier hat Sternau gestanden,« sagte er; »das können nur die Eindrücke seiner Füße sein. Ein Anderer stand grad vor ihm, und die Uebrigen rund im Kreise. Was hat es da gegeben? Wenn er stehen konnte, so hat man seine Füße von den Fesseln befreien müssen. Sollte er einen Grund gefunden haben, der die Räuber nöthigte, ihn loszubinden? Dann ist er ganz sicher entweder entkommen oder gefallen, denn ein Drittes giebt es bei diesem unvergleichlichen Manne ja nicht. Wollen sehen!«

Er forschte weiter, aber schon im nächsten Augenblicke rief er:

»Ich hab' es! Man hat ihm die Fesseln nicht nur von den Beinen, sondern auch von den Händen und Armen genommen. Er muß, er muß sich befreit haben!«

Die beiden Vaqueros blickten den Sprecher erstaunt an. So etwas zu erkennen und zu behaupten, waren sie nicht im Stande.

»Woraus erkennen Sie das?« fragte Franzesco.

»Das will ich Ihnen sagen. Hier hat sich Sternau niedergeknieet und der Mann auch, der ihm gegenüberstand. Sternau muß an diesem irgend etwas untersucht und betrachtet haben; daneben liegt, außerhalb der Asche, ein erloschener Feuerbrand; man hat also dazu geleuchtet. Sternau ist Arzt; er hat einen Patienten vor sich gehabt. Dann haben sich Beide wieder erhoben. Und nun seht, wie tief Sternau seine Fersen in den weichen Boden gegraben hat, und wie hingegen der


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Andere den Boden mit den Fersen zuerst verlassen und die Zehen eingedrückt hat. Sternau hat eine Last in den Händen gehabt; er hat den Anderen gepackt und emporgehoben. Die Richtung seiner Füße zeigt da hinüber Ich wette um mein Leben, er hat diesen Mann emporgehoben und unter die Anderen hineingeschleudert, um sich einen freien Weg zu bahnen!«

Donnerpfeil umging die Feuerstelle und bückte sich auf die dortigen Spuren nieder. -

»Seht,« sagte er, »ich hatte recht. Hier sind wenigstens vier Mann zusammengebrochen; der Eine wurde auf sie geschleudert. Dadurch entstand eine Bresche, durch welche Sternau entsprungen ist, das sieht man an den Eindrücken seiner Füße, die ich ganz deutlich erkenne. Er ist in weiten Sätzen davongeflogen, jedenfalls dahin, wo die Pferde standen, denn er wußte ganz genau, daß er ohne ein solches nicht entkommen könne. Er wurde verfolgt, wie die andern Eindrücke beweisen.«

Er schritt den Spuren nach, blieb aber nach fünf Schritten bereits stehen.

»Ah, hier hatte man die Gewehre zusammengelehnt; er hat eins derselben mit fortgerissen; er ist also bewaffnet!«

Es ging weiter, bis zu dem Orte, an welchem die Pferde gestanden hatten, und noch darüber hinaus bis dahin, wo die von Sternau getödteten Mexikaner begraben worden waren. Donnerpfeil errieth Alles.

»Dieser Sternau ist wirklich ein Held, ein geradezu unvergleichlicher Held. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie es ihm gelingen konnte, so viele Männer zu tödten.«

Mit diesen Worten gab Donnerpfeil dem Arzte das größte Lob, welches er ertheilen konnte, da er ja selbst ein berühmter Savannenläufer war.

Jetzt ritten die Drei den Spuren nach, welche zunächst nach Westen und dann nach Süden führten. Plötzlich aber bogen drei Pferde nach Osten zurück, während die Spuren der Uebrigen nach Westen führten.

»Was ist das?« fragte Donnerpfeil sehr nachdenklich. »Wer hat sich hier von den Anderen getrennt?«

Er untersuchte die Spuren der drei vereinzelten Pferde und sagte dann mit vergnügtem Nicken:

»Ein Teufelskerl, dieser Sternau! Von diesen drei Pferden waren zwei ledig und nur das eine besetzt; das sieht man aus der Tiefe der Hufeindrücke. Das ist Sternau gewesen, er hat zwei Thiere, welche den Getödteten gehörten, an sich genommen, um den Wechsel zu haben und also rascher vorwärts zu kommen. Dann ist er nach Osten zurückgeritten, um in den Rücken der Mexikaner zu kommen. Er ist also einen Kreis geritten und befindet sich hinter ihnen. Wir haben also sie und ihn vor uns.«

Er blickte bei diesen Worten, als müsse er die Verfolgten sehen, mit scharfen Augen nach Westen aus und sprang dann plötzlich einige Schritte vorwärts. Dort war, was ihm und den beiden Anderen bisher entgangen war, ein ziemlich großes Sandhäufchen errichtet worden. Das konnte kein Werk des Windes oder irgend eines Zufalles sein; das konnte nur ein Mensch gethan haben.

»Das ist ganz sicher ein Zeichen von Sternau,« sagte Donnerpfeil erfreut. »Das müssen wir sogleich untersuchen.«


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Er griff mit den Händen in das Häufchen und brachte nach kurzem Wühlen ein zusammengelegtes Papier hervor. Er faltete es auseinander und las:

»Ich bin entkommen, die Anderen noch gefangen, aber gesund und wohl. Habe zwei Pferde und genug Waffen und Munition. Verdoja schlug mich im Hofe nieder. Pardero und dreizehn Mexikaner waren bei ihm. Sie stiegen durch das Fenster des Lanzenreiters und überrumpelten die Vier mit List. Man vergaß, meine Kleider zu untersuchen. Ich habe Papier und Stift bei mir und gebe dieses Zeichen. Die Gefangenen werden befreit werden, keine Sorge. Mir nur schleunigst folgen; ich werde meine Spur sichtbar machen.
      Den - früh 9 Uhr.
                               Sternau.«

»Hurrah!« rief Donnerpfeil. »Jetzt ist Alles gut!« Sich zu dem einen Vaquero wendend, setzte er hinzu: »Franzesco bleibt bei mir, nun wir aber Sicherheit haben, kehrst Du mit den müden Pferden zurück und bringst Sennor Arbellez diesen Zettel. Er wird ihm ein Trost sein. Sage dem Sennor, daß wir nur eine Stunde hinter Sternau sind. Er war um neun Uhr hier und jetzt ist es kaum Zehn. Vorwärts! Rasch!«

Die Pferde wurden gewechselt; dann flogen Donnerpfeil und Franzesco auf zwei ungebrauchten Thieren in völliger Carriere nach Westen zu in die Mapimi hinein, immer auf der Spur, welche sehr deutlich zu erkennen war. Der Vaquero aber kehrte sehr gern um; es lag ihm gar nichts daran, die verrufene Wüste kennen zu lernen.

Die beiden Anderen ließen ihre Pferde nach Herzenslust ausgreifen. Diese mexikanischen Pferde ermüden, sobald sie ledig gehen, selbst durch den stärksten Tagemarsch nicht; die Thiere, auf denen Donnerpfeil und Franzesco saßen, waren also so gut wie frisch und ließen die Entfernungen förmlich unter ihren Hufen verschwinden. Da aber Sternau jedenfalls auch die äußerste Schnelligkeit anwendete, so konnte er natürlich nicht in kurzer Zeit erreicht werden.

Der Vormittag verging und ebenso ein großer Theil des Nachmittages; da endlich erblickten sie in der fernen Ebene vor sich zwei kleine, dunkle Punkte.

»Das ist er, er und das ledige Pferd!« sagte Donnerpfeil. »Ah, wir müssen ihn einholen, ehe es Nacht wird.«

Sie gaben den Pferden die Sporen zu fühlen, was eigentlich gar nicht nothwendig war, und flogen in größerer Schnelligkeit als derjenigen eines Eilzuges über den Boden dahin. Wieder verging eine halbe Stunde. Die beiden Punkte vergrößerten sich. Man erkannte bereits einen Reiter mit einem ledigen Pferde. Man sah jetzt sogar, daß dieser Reiter die Büchse quer über sich erhob und über dem Kopfe wirbelte.

»Er hat sich umgedreht und uns gesehen,« sagte Donnerpfeil.

»Aber er hält uns für Feinde,« bemerkte Franzesco.

»Warum?«

»Weil er nicht anhält und uns erwartet.«

»Mein guter Franzesco, Du bist ein tüchtiger Vaquero, aber noch lange kein Savannenmann. Wenn er uns erwarten will, so verliert er Zeit und Raum. Hier ist jede Minute kostbar. Des Nachts können wir die Spuren der Räuber nicht sehen; da bleiben wir zurück, während sie jedenfalls die Nacht noch zum Ritte


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benutzen. Also müssen wir die Helligkeit bis zur letzten Sekunde ausbeuten. Darum läßt Sternau es uns über, ihn einfach einzuholen.«

»Aber wir könnten doch auch Andere sein?«

»Dann wäre es desto dümmer von ihm, nur einen Augenblick wegen uns gewartet zu haben. Er ahnt aber bereits, daß wir zu ihm gehören. Siehe, er giebt das Zeichen wieder.«

Jetzt erhob auch Donnerpfeil seine Büchse und wirbelte sie über dem Kopfe. Dies genügte, um Sternau wissen zu lassen, daß er einen Bekannten hinter sich habe, und dieser Bekannte konnte doch nur von der Hazienda del Erina kommen.

»Wir kommen ihm doch näher,« meinte Franzesko.

»Das ist erklärlich,« antwortete Donnerpfeil. »Er hat die Pferde nehmen müssen, wie sie waren, gut oder schlecht, während wir uns die besten aussuchen konnten. Uebrigens sind die seinigen nicht frisch gewesen, während die unserigen ledig gegangen sind. Auch ist er viel schwerer als Einer von uns Beiden. Siehe, jetzt wechselt er!«

Sie sahen, daß Sternau mitten im Galopp von seinem Reitpferde sich hinüber in den Sattel des anderen schwang.

»Er nimmt sich nicht einmal Zeit, während des Umsteigens anzuhalten; das ist sehr recht von ihm,« nickte Donnerpfeil. »Paß auf, daß er seine Schnelligkeit nicht im geringsten mindert, um uns zu begrüßen, sobald wir ihn erreichen. Er ist der »Fürst des Felsens« und weiß ganz genau, um was es sich handelt.«

Die Entfernung zwischen den Reitern verminderte sich immer mehr. Man konnte sich bereits hören.

»Herr Sternau!« rief Donnerpfeil in deutscher Sprache.

Da drehte der Angerufene das Gesicht zurück und antwortete:

»Herr Helmers! Ah, ich habe Sie schon längst erkannt!«

»Hallo! Woran denn?«

»So reitet nur ein Westmann, und auf el Erina waren Sie nur der Einzige noch. Aber machen Sie vorwärts!«

»Komme gleich!«

Er erhob sich im Sattel, um die Last zu erleichtern, und stieß einen schrillen Schrei aus. Sein Pferd schoß dahin, wie ein Pfeil, dasjenige Franzesco's ebenso, und in einigen Minuten galoppirten Beide an Sternau's Seite dahin.

»Willkommen, und Gott sei Dank!« sagte dieser, den Beiden die Hand reichend. »Haben Sie meinen Zettel gefunden?«

»Ja. Er ist bereits nach der Hazienda unterwegs.«

»Das ist gut. Sie hatten noch einen Mann mit?«

»Ja, um Sennor Arbellez Nachricht zu bringen, sobald wir Gewißheit fanden.«

»Recht so. Aber warum beladen Sie Ihre Pferde mit solchen Packeten?«

Donnerpfeil lächelte.

»Das sind lauter nothwendige Sachen,« sagte er. »Ich dachte, daß die Ausrüstung der Herren, welche ich befreien wollte, sehr mangelhaft sein werde, und darum habe ich Einiges mitgebracht. Ihr Trapperanzug und alle Ihre Waffen sind mit dabei.«

»Ah, wirklich?« fragte Sternau erfreut.


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»Ja.«

»Mein Bärentödter?«

»Ja.«

»Mein Henrystutzen?«

»Natürlich!«

»Meine Revolver, Messer und Tomahawk?«

»Alles, Alles! Auch die Waffen Mariano's und meines Bruders habe ich mitgebracht.«

»Ich danke Ihnen! Das ist sehr umsichtig gehandelt. Uebrigens hindert uns der Galopp ja nicht am Sprechen. Wie steht es auf der Hazienda? Wann entdeckte man den Ueberfall?«

Donnerpfeil erzählte Alles von dem Augenblicke seiner Rückkehr von der Hazienda Vandaqua an bis zum gegenwärtigen. Und dann gab Sternau seinen Bericht, dem die beiden Anderen mit Spannung und Staunen folgten.

Dabei aber wurde die Schnelligkeit nicht im mindesten vermindert und die braven Pferde hielten aus, bis es dunkle Nacht geworden war und man die Spuren der Räuber ganz unmöglich mehr erkennen konnte. Dadurch wurden die drei Männer gezwungen, Halt zu machen. Zum Glücke gab es gerade an dieser Stelle einiges Gras, welches die Pferde abweiden konnten, Holz aber, um ein Feuer anzumachen, fehlte gänzlich, und so brachten sie die Nacht im Finsteren zu.

Gesprochen wurde wenig. Es galt vor allen Dingen, auszuruhen, und erst als dies vorüber war und der Tagesanbruch bevorstand, meinte Donnerpfeil:

»Die Schurken werden die ganze Nacht geritten sein!«

»Ganz sicher!« antwortete Sternau. »Sie wissen ja, daß ich ihnen folge. Jedenfalls machen sie erst jetzt, am Morgen, einen kurzen Halt, und diesen müssen wir benutzen, die Versäumniß der Nacht möglichst einzuholen.«

In jenen Breiten giebt es keine Morgen- oder Abenddämmerung. Tag und Nacht gehen ohne eine Vermittelung in kürzester Zeit ineinander über. Sternau hatte seine letzten Worte noch im Finsteren gesprochen, fünf Minuten darauf war es bereits heller, lichter Tag und die drei Reiter flogen wieder im Galopp über die Mapimi dahin.

Da, wo die Südgrenze von Neumexiko und Arizona an den Rio grande del Norte stößt, giebt es im Süden dieses bedeutendsten Flusses Mexiko's eine nur von wenig Bergzügen unterbrochene Hochebene, welche sich nach Ost und Nordost in die Weideländer der Comanchen-Indianer hinabsenkt. Die Hochebene selbst aber steht im Besitze der Apachen, welche in ewiger Todfeindschaft mit den Comanchen leben.

Diese Comanchen waren, wie bereits erwähnt, nach Mexiko gerufen worden, um den Truppen der Regierung Unterstützung zu leisten. Sie waren diesem Rufe sehr gern gefolgt, denn sie hofften, mit reicher Beute zurückkehren zu können. Sie hatten sich zu mehreren Tausenden aufgemacht, aber nicht auf ein Mal und öffentlich, sondern sie hatten sich in Stämme getheilt und legten ihren Weg heimlich zurück, damit die Apachen, ihre Todfeinde, nichts davon merken sollten.

Wohl eine Woche vor den bereits erzählten Ereignissen gab es im Süden des Nordpasses auf einer kleinen Prairie ein außerordentlich reges, wild bewegtes Leben. Es war die Zeit, in welcher die wilden Büffel ihre Wanderungen nach Norden


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antreten. Sie drängen sich da in hellen Haufen durch den Nordpaß, und da versteht es sich ganz von selbst, daß die angrenzenden Ebenen und Prairien von den Indianern besucht werden, um sich für den ganzen Winter mit Fleisch zu versorgen.

Die Sonne stand bereits dem Horizonte nahe und beleuchtete ein blutiges Schauspiel. So weit das Auge reichte, lagen die Körper der getödteten Büffel umher. So weit das Auge reichte, sah man wilde, kupferbraune Gestalten beschäftigt, »Fleisch zu machen«, wie der Prairiejäger sich ausdrückt. Zahlreiche Feuer brannten, über denen der saftige Braten zischte. Tausende von Schnüren und Riemen waren über Pfähle gezogen und daran hingen lange, dünn und schmal geschnittene Stücke Büffelfleisch, um es an der Sonne und in der Luft zu trocknen.

Mitten auf dem Schauplatze dieses lebensvollen Bildes standen drei Zelte. Sie waren aus Büffelhäuten gefertigt und mit Adlerfedern geschmückt, ein sicheres Zeichen, daß sie berühmten Häuptlingen zum Obdache dienten. Zwei von ihnen waren jetzt leer. Vor dem dritten aber saß ein alter, hagerer Indianer, vom Kopfe zum Fuße herab tättowirt. Er hatte seinen nackten Körper in ein gegerbtes Hirschfell gewickelt. Neben ihm lag eine lange Flinte. An seinem Körper sah man zahlreiche Narben und die Haare seines Kopfes waren zu einem helmartigen Schopfe verbunden, in welchem fünf Adlerfedern staken.

Dieser Mann war »das fliegende Pferd«, einer der größten Häuptlinge der Apachen. Sein Haar war ergraut und er hatte nicht mehr die Kraft, den muthigen Büffel zu jagen. Aber sein Herz war noch jung und sein Geist scharf; daher war er der Angesehenste am Berathungsfeuer und sein Wort galt mehr, als die Stimmen von hundert tapferen Kriegern.

Da er nicht mit jagen konnte, so saß er vor seinem Zelte und sah dem Schauspiele zu, welches ihm geboten wurde durch die Büffeljagd, zu welcher sich drei befreundete Stämme der Apachen vereinigt hatten.

Die Ebene war vielfach durch einzelne oder zusammenhängende Büsche unterbrochen und zwischen diesen grünen Inseln spielten sich die muthigsten Zweikämpfe zwischen Indianer und Büffel ab. Auch in der Nähe der drei Zelte stand ein dichtes Strauchwerk. Es wurde von dem alten Häuptlinge kaum beachtet, aber dennoch entging es ihm nicht, daß einige kleine Zweige sich seit kurzem leise bewegten.

Er ergriff die neben ihm liegende Büchse. Er glaubte, irgend ein Kleinwild habe sich da verkrochen, und da sein Arm zu schwach war, den Büffel zu tödten, so wollte er es wenigstens hier versuchen, einen guten Schuß zu thun. Sein Auge erkannte eine dunkle Stelle inmitten des Busches. Dort mußte sich das Wild befinden. Er erhob den Lauf und stand fast im Begriffe, den Finger an den Abzug zu legen, als der Busch sich theilte und ein Mann aus denselben trat.

Das war kein Apache! Das war ein Fremder! Wie kam er in den Busch, inmitten der jagenden Apachen? Kam er als Feind? Er mußte ein sehr berühmter Jäger sein, sonst wäre es ihm nicht gelungen, sich bis in den Mittelpunkt eines Jagdfeldes der Apachen zu schleichen, ohne bemerkt zu werden.

Das »fliegende Pferd« behielt den Finger am Drücker; der Fremde aber erhob die linke Hand zum Zeichen, daß er in friedlicher Absicht komme. Er war ganz in starke Büffelhaut gekleidet und hatte eine sehr schwere, alte Doppelbüchse


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in der Hand. An seinem Gürtel sah man außer dem Munitionsbeutel nur ein Messer und einen Tomahawk. Sein Gesicht war rothbraun; er konnte kein Weißer, sondern nur ein Indianer sein.

Er nahm, ohne ein Wort zu sagen, zur linken Hand des Apachen Platz, legte Büchse, Messer und Tomahawk weit von sich und nun erst, nachdem er diesen Beweis seiner Friedfertigkeit gegeben hatte, sagte er in der reinen Mundart der Apachen:

»Die Söhne der Apachen haben heute eine sehr gute Jagd. Der große Geist ist seinen tapferen Kindern hold.«

Der alte Apache war jetzt nun ganz und gar überzeugt, daß er einen sehr berühmten Krieger vor sich habe; aber er sagte im gleichgiltigsten Tone:

»Der Apache jagt, um Fleisch zu machen, aber er weiß nicht nur den Büffel zu treffen, sondern auch seine Feinde!«

»Das fliegende Pferd sagt die Wahrheit,« meinte der Fremde.

Ueber das Gesicht des Alten zuckte es stolz und wohlgefällig.

»Du bist ein Fremdling und kennst mich!« sagte er.

»Ich habe Dich noch nie gesehen, aber der Ruhm des fliegenden Pferdes dringt über alle Berge und Prairieen, wer ihn sieht, der kennt ihn sofort.«

»Das fliegende Pferd ist ein Häuptling, er trägt die Federn des Adlers und sitzt stets auf seinem Pferde, wenn er sein Lager verläßt,« sagte der Alte.

In diesen Worten lag eine feine Politik, welche der Fremde wohl bemerkte; darum antwortete er:

»Andere Häuptlinge haben auch Pferde, aber sie verbergen sie, sobald sie auf Kundschaft gehen. Sie haben auch das Recht, viele Adlerfedern zu tragen und die Skalpe von mehr als hundert Feinden umzuhängen, aber sie wollen es dem Manne, dem sie begegnen, nicht sogleich wissen lassen. Ihr Haar ist noch nicht grau, dennoch aber wissen sie, daß ein kleines Täschchen voll List oft besser ist, als ein ganzes Zelt voll Pulver und Blei.«

Das imponirte dem Alten gewaltig. »Viele Adlerfedern und mehr als hundert Feinde!« Das konnte selbst das fliegende Pferd nicht von sich rühmen. Darum sagte der Alte:

»Der fremde Mann ist muthig und listig. Er schleicht sich mitten unter die Söhne der Apachen. Das gelingt nur einem berühmten Krieger. Der Fremde ist kein Comanche; die Söhne der Apachen sind auf der Jagd, aber nicht auf dem Kriegszuge, ihr Kriegsbeil liegt begraben; kommt der Fremde, um die Friedenspfeife mit ihnen zu rauchen?«

»Er hat sie bereits mit ihnen geraucht.«

»So ist der Fremde ein Freund der Apachen?«

»Er ist ihr Bruder. Ein jeder der Jicarillas-Apachen kennt ihn; daher kommt er, zu suchen den berühmten Häuptling derselben, welcher Schosch-in-liett heißt, Bärenherz.«

Jetzt verlor das Gesicht des Alten seine Gleichgiltigkeit; er warf einen überraschten, aber freundlichen Blick auf seinen Nachbar und sagte:

»Der Fremde ist der Bruder von Bärenherz?«

»Ja.«


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»Er hat das Recht, sieben Adlerfedern zu tragen?«

»Ja.«

»Er hat hundertvierzig Skalpe seiner Feinde?«

»Noch mehr.«

»So kenne ich ihn. Er ist Mokaschi-Motak, Büffelstirn, der Häuptling der Miztekas. Er ist der König der Büffeljäger und darum trägt er die Adlerfedern nicht, sondern läßt sie in seinem Wigwam zurück.«

»Das fliegende Pferd hat recht gerathen,« sagte Büffelstirn. »Mein Bruder Bärenherz befindet hier bei den Apachen?«

»Ja. Er hat heute ganz allein mehr als zehn Büffel getödtet. Der Häuptling der Miztekas soll ihn sprechen; er soll unser Bruder sein, und die Krieger der Apachen werden seine Brüder sein und ihn nicht tödten.«

Ueber das kühne, ernste Gesicht Büffelstirns glitt ein leises, ganz leises Lächeln. Er sagte:

»Die Krieger der Apachen würden ihn nicht fangen und tödten, selbst wenn sie seine Feinde wären. Büffelstirn kennt Niemanden, den er zu fürchten hat.«

Der Alte gab seine Zustimmung durch ein längeres Schweigen; dann fragte er:

»Soll ich einen Krieger rufen, daß er Büffelstirns Pferd hole?«

Der Gefragte verneinte und sagte:

»Die Krieger der Apachen sind sehr beschäftigt, die Büffel zu tödten. Büffelstirn wird selbst gehen, um sein Pferd zu holen. Es ist keine Schande für einen Häuptling, nach dem Thiere zu sehen, welches ihn getragen hat.«

Er erhob sich und ging.

Er wand sich von Busch zu Busch über den schmalsten Theil der Prairie hinweg, ohne von einem der Apachen gesehen zu werden. Sie hatten zu viel mit der Jagd zu thun und wußten sich so sicher vor Feinden, daß sie die sonstige Vorsicht nicht für nöthig hielten; zudem war eine jede seiner Bewegungen so berechnet und schlau, daß er selbst einen aufmerksamen Feind getäuscht hätte. Er hatte dies hier gar nicht nöthig, aber als Indianer suchte er eine Befriedigung darin, selbst auf dem Gebiete der Freunde zu verweilen, ohne von ihnen gesehen zu werden.

Die Prairie, welche hier eigentlich nur eine Einbuchtung der großen Savanne genannt werden konnte, stieß an einen mächtigen Urwald, welcher die Höhen und Schluchten bestand, welche sich nach dem eigentlichen Gebirge emporzogen. Büffelstirn bog in diesen Urwald ein, durchschritt ihn quer und stand im Begriffe, in eine der Schluchten hinabzusteigen, als er da unten ein lautes Stampfen und das gewaltsame Brechen von Büschen und Sträuchern vernahm. Hinabschauend, gewahrte er einen Büffelstier, welcher aus der offenen Prairie hereinbrach und von einem Indianer zu Pferde verfolgt wurde. Dieser trug den Köcher auf dem Rücken, den Bogen in der Linken, in der Rechten aber den langen, elastischen Büffelspeer, welcher für den Büffel gefährlicher ist, als eine Büchsenkugel. Es war ein junger, kaum zwanzigjähriger Mensch, ein älterer und erfahrenerer Krieger hätte das weiche, saftige Fleisch einer Büffelkuh dem harten eines alten Stieres vorgezogen und es sich auch nicht einfallen lassen, so einem mächtigen Thiere auf ein so gefährliches Terrain zu folgen. Dieser aber hatte sich von der Jagdlust hinreißen lassen und


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folgte dem Stiere durch dick und dünn, so daß die zusammenschlagenden Aeste ihm das Gesicht zerschlugen und ihn fast vom Pferde rissen.

So stürmten sie in die enge, kurze Schlucht hinein, in deren Hintergrunde Büffelstirn sein Pferd versteckt hatte. Dort sah der Stier, daß er nicht weiter konnte. Er senkte den unter der gewaltigen Mähne fast ganz verborgenen Kopf und warf sich gerade in dem Augenblicke herum, als der Indianer den Speer nach der Stelle schleuderte, wo der Büffel am leichtesten zu verwunden ist - hinter und oberhalb der Gegend, wo die Mähne aufhört.

Durch die Bewegung des Thieres wurde der Zielpunkt verändert und der Speer drang in eine ganz ungefährliche Stelle ein. Der Büffel fühlte sich verwundet; er blies schnaufend einen heißen Dampf aus den Nüstern, senkte den Kopf mit den kurzen, spitzen und fürchterlichen Hörnern abermals und stieß dieselben dem Pferde in den Leib. Im Nu stürzte dasselbe mit aufgeschlitztem Bauche zur Erde. Die Eingeweide hingen ihm heraus.

Der Indianer hatte sich, schon im Sturze, durch einen raschen Sprung auf die Erde gerettet. Er besaß keine andere Waffe als seine Pfeile und sein Messer. Ein Augenblick genügte, um einen Pfeil aus dem Köcher zu nehmen, im zweiten Augenblicke war der Bogen gespannt und im dritten schwirrte der Pfeil von der Sehne ab und dem Stiere in das eine Auge.

Das war eine seltene Geistesgegenwart, aber der Stier besaß noch ein Auge, mit welchem er sehen konnte. Er stieß ein tiefes, heiseres Brüllen aus, hielt einen Augenblick inne und senkte den Kopf abermals zu einem Stoße, der jetzt jedenfalls tödtlich gewesen wäre. Da aber blitzte neben dem Indianer ein Schuß auf; mit dem Krachen desselben warf der Büffel den Kopf zur Seite, ein gewaltiges Zittern durchlief seinen kolossalen Körper, er brach erst auf die vorderen, dann auf die hinteren Kniee zusammen und fiel dann zur Seite, er war todt; die Kugel war ihm durch das andere Auge bis in das Gehirn gedrungen.

Als Büffelstirn bemerkte, welch einen unglücklichen Ausgang der Kampf nehmen mußte, war er den steilen Hang hinabgesprungen und hatte den Schuß abgefeuert. Als der Indianer sich jetzt nach ihm umwendete, war er nach Jägerart schon beschäftigt, den abgeschossenen Lauf wieder zu laden.

»Schmeckt meinem Bruder das Fleisch eines Stieres besser, als das einer Kuh?« fragte er ruhig. »Tödtet mein Bruder den Büffel lieber im Walde, als in der offenen Prairie? Mein Bruder, thue in Zukunft das, was besser und klüger ist!«

Man konnte trotz der dunklen Haut des Wilden deutlich sehen, daß er erröthete. Sofort aber hatte er sich gefaßt, warf das Haupt stolz in den Nacken und antwortete auf die Zurechtweisung in zornigem Tone:

»Was geht es Dich an, wenn der Stier mich getödtet hätte!«

»Hat mein Bruder keinen Vater, der um ihn getrauert hätte?« fragte Büffelstirn.

»Mein Vater ist das fliegende Pferd!« sagte der Indianer stolz.

»Und wie heißt Dein Name?«

»Mein Name wird genannt werden auf allen Höhen und in allen Thälern!«

»Du hast noch keinen Namen? So wärst Du also hier gestorben, ohne daß


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man hätte sagen können, wen man begraben habe! Mein junger Bruder ist einer sehr großen Schmach entgangen. Er möge vorsichtiger sein, dann wird er einst einen sehr berühmten Namen tragen.«

Bei den Apachen erhält nämlich der junge Krieger erst dann seinen Namen, wenn er seine erste Heldenthat verrichtet und den Skalp eines Feindes erobert hat. Es ist eine Schande, als junger Mann getödtet zu werden, ohne einen Namen zu besitzen.

Darum steigerte sich der Zorn des Apachen bei den letzten Worten Büffelstirns noch mehr; er zog das Messer und sagte:

»Soll ich Deinen Skalp nehmen und dann einen Namen haben?«

Büffelstirn lächelte und antwortete:

»Ich würde zehnmal den Deinen haben, ehe Du einmal den meinen!«

»Versuche es!«

Mit diesem Ausrufe faßte der Apache den Andern bei der Brust und holte zum Stoße aus, aber blitzschnell ergriff Büffelstirn die Hand, welche das Messer hielt, und drückte sie mit solcher Gewalt zusammen, daß der Apache einen lauten Schrei des Schmerzes ausstieß und das Messer fallen ließ.

»Seit wann schreit ein Apache, wenn er Schmerz fühlt?« fragte der Häuptling der Miztekas. »Seit wann tödtet ein Apache Denjenigen, der ihm das Leben gerettet hat? Ich hätte jetzt das Recht und die Gelegenheit, Dir den Skalp zu nehmen, aber ich schenke Dir das Leben, denn - dort kommt ein Anderer, mit dem es würdiger ist, zu kämpfen.«

Er deutete nach dem gegenüberliegenden Rande der Schlucht. Dort theilte sich das Gebüsch, und die Beiden sahen einen Bären, welcher hervortrat.

Es war nicht der kleine, braune Bär, sondern der ungeheure, graue Bär des Gebirges, den die Amerikaner Grizzly nennen. Er ist, wenn er sich emporrichtet, oft über neun Fuß hoch, besitzt genug Kraft, den größten Ochsen weit fortzutragen und ist das gefährlichste Raubthier des amerikanischen Kontinentes. Wer einen grauen Bären erlegt, gilt für einen Helden, für einen größeren Helden, als wenn er zehn Feinde getödtet und ihre Skalpe erobert hätte.

Der Bär war jedenfalls durch die Witterung des Pferdes angelockt worden; da er aber jetzt eine andere Beute vor sich sah, so wandte er sich dieser zu.

»O, hätte ich die Büchse meines Vaters!« rief der junge Apache.

Ein Apache bekommt nämlich erst bei der Namengebung ein Feuergewehr in die Hand.

»Hier hast Du die meinige,« sagte Büffelstirn.

Der junge Mann blickte ihn erstaunt an. Das war ihm unbegreiflich, das war ja ganz unmöglich, auf einen solchen Ruhm und eine solche Beute zu verzichten! Als er aber sah, daß es wirklich ernst gemeint sei, ergriff er mit einem lauten Jubelrufe die Büchse, spannte die beiden Hähne und sprang über die Sohle des Thales hinüber, dem Bären entgegen.

Noch schneller aber war Büffelstirn. Er zog sein Messer, sprang in einem Bogen auch nach dem gegenüberliegenden Rande und kam auf diese Weise dem Bären in den Rücken. Er wollte den Kampf überwachen und, im Falle dieser für den Apachen unglücklich ablaufen sollte, sich mit dem Messer auf das Thier werfen.


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Dieses Letztere hatte nur den Apachen im Auge. Es befand sich jetzt nur noch sechs Schritte von ihm entfernt und erhob sich auf die Hinterpranken, um ihn zu erdrücken. Dies benutzte der Wilde. Er legte an, zielte zwischen die Rippen auf die Herzgegend, drückte los und sprang in demselben Augenblicke zur Seite, den zweiten Lauf fest auf das Thier gerichtet.

Dieses that noch einen, zwei - fünf Schritte vorwärts, blieb dann stehen, stieß ein tiefes, röchelndes Brummen aus, wobei ihm ein dicker Blutstrom aus dem Rachen quoll, und brach dann zusammen.

"Das war gut!" rief Büffelstirn.

»Das war gut!« rief Büffelstirn. »Der Bär ist grad' in das Herz getroffen. Mein Bruder hat ein sicheres Auge und eine feste Hand. Er hat nicht gezittert und wird einst ein berühmter Krieger werden. Er hat nun das Recht, eine Namen zu erhalten, und ich werde sein Freund sein, so lange der große Manitou mir das Leben schenkt!«

Der Apache hatte angesichts des furchtbaren Raubthieres nicht gezittert, jetzt aber bebte er vor Freude.

»Ist er wirklich todt?« fragte er.

»Ja. Mein Bruder kann sich das Fell nehmen und den geräucherten Kopf als Siegeszeichen aufbewahren, als Erinnerung an die erste Heldenthat, die er verrichtete«

Der Apache gab ihm die Büchse zurück und kniete vor dem Bären nieder, in welchem in Wirklichkeit keine Spur von Leben mehr war. Dieser Wilde war mehr erfreut als mancher Weiße, der die Insignien des höchsten Ordens erhalten hat. Er machte sich sogleich daran, seiner Beute das Fell abzuziehen.

Büffelstirn lud seine Flinte und schlich zu seinem Pferde; er band es los und ritt davon. Er wollte das Entzücken des Apachen nicht stören, und dieses war so groß, daß derselbe sich gar nicht um den Davonreitenden bekümmerte.

Als Büffelstirn den Rand der Prairie erreichte, war die Sonne bereits hinter dem Horizont verschwunden; in einer halben Stunde mußte es Nacht sein. Man sah die Apachen beschäftigt, die erlegten Büffel mittels des Lasso von ihren Pferden in die Nähe der Zelte schleifen zu lassen. Der Miztekas gab sich jetzt keine Mühe mehr, nicht gesehen zu werden; er sprengte grad' auf die Zelte zu, wo sich bereits einige hundert Krieger mit ihrer Beute versammelt hatten, und sprang dort vom Pferde.

Vor dem zweiten Zelte stand ein junger Häuptling mit drei Adlerfedern im Schopfe. Es war Bärenherz. Er trat auf Büffelstirn zu und streckte ihm die Hand zum Willkommen entgegen.

»Mein Herz hat sich gesehnet nach Dir,« sagte er. »Ich danke Dir, daß ich Dich wiedersehe. Sei der Gast meines Zeltes und rauche das Calummet mit meinen Brüdern.«

Die Krieger, welche im Kreise umherstanden, betrachteten in schweigender Ehrfurcht den berühmten Häuptling der Miztecas und bildeten eine Gasse, als Bärenherz ihn zu den beiden andern Häuptlingen führte, welche vor dem Zelte des fliegenden Rosses saßen. Sie erhoben sich, obgleich der Alte den Miztekas bereits gesehen hatte, und reichten ihm die Hände. In kurzer Zeit brannte ein Feuer; viele Büffelrippen brieten über demselben; es wurden noch mehrere angebrannt, immer eins neben dem


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andern, und bald hatte sich ein Halbkreis von Feuern gebildet, in dessen Mittelpunkte die drei Häuptlinge mit dem Gaste saßen. Das bratende Fleisch verbreitete einen Geruch, der auch dem verwöhntesten Gaumen Appetit gemacht hätte, und die Flammen warfen ihre Reflexe hinaus auf die Prairie, wo kein Krieger sich mehr befand und nur die feigen Prairiewölfe hin- und herhuschten, angelockt von der Ausdünstung des vergossenen Büffelblutes.

Nur Einer fehlte, der Sohn des fliegenden Rosses. Sie Alle wußten es, aber Keiner sagte ein Wort. Es wurde überhaupt bei der Zubereitung des Mahles keine Silbe gesprochen. Die geselligen Zusammenkünfte und Vergnügungen der wilden Indianer werden überhaupt stets durch ein sehr angelegentliches Schweigen eingeleitet. Nur dann, wenn das Fleisch gar ist, hat der oberste Häuptling das Recht, die Unterhaltung zu beginnen.

Da plötzlich wurden Aller Augen nach einer grotesken, fürchterlichen Gestalt gerichtet, welche langsam dahergeschritten kam. Es war der junge Apache. Er hatte dem Bären das Fell abgenommen, den Kopf aber darangelassen. Diesen Kopf hatte er sich auf den seinigen gesetzt, so daß ihn das Fell wie ein weiter, ungeheurer Mantel umgab. Der Bär war so groß gewesen, daß dieser Mantel eine Elle lang am Boden nachschleifte.

Am Feuer der Häuptlinge hielt er an. Er mochte sich wundern, den fremden Helfer bei ihnen sitzen zu sehen, verrieth das aber durch keine Miene. Er hatte die beiden abgeschnittenen Tatzen des Bären in der Hand und legte sie vor Büffelstirn nieder. Das war eine ehrenvolle und zugleich für die Anderen sehr überraschende Widmung. Sie merkten daraus, daß Büffelstirn mit der Erlegung des Bären in irgend einem Zusammenhang stehe, und daß er der Namengeber, der Pathe des jungen Häuptlingssohnes sein solle; aber Keiner sprach ein Wort, sogar das fliegende Roß nicht. Aber man sah die Augen des Alten leuchten vor Freude, daß sein jüngster Sohn eine solche Heldenthat verrichtet und den gefürchteten Grizzly erlegt habe.

Endlich, als das Fett aufzuhören begann, in das Feuer zu tropfen, und die Bratenstücke sich bräunten, griff das fliegende Roß nach der bereit gehaltenen Friedenspfeife. Er erhob sich und begann:

»Heute ist den Kriegern der Apachen große Freude widerfahren, denn Büffelstirn, der große Häuptling der Miztecas, der Freund unseres Bruders Bärenherz, ist gekommen, um das Calummet mit ihnen zu rauchen. Seine Hand ist stark und sein Fuß schnell; seine Gedanken sind die Gedanken eines Weisen, und Alles, was er thut, geschieht in der Weise eines Helden. Er sei uns willkommen!«

Er legte eine Kohle auf den Tabak und that aus der Pfeife sechs Züge, welche er nach dem Himmel, der Erde und den vier Richtungen von sich blies; dann reichte er die Pfeife dem Gaste, der sich auch erhob. Er sprach:

»Die Söhne der Apachen sind große und tapfere Krieger; sogar ihre Knaben erlegen den grauen Bären mit einer einzigen Kugel und ohne mit der Wimper zu zucken.«

Aller Augen richteten sich bei diesen Worten auf den Sohn des Häuptlings. Dieser hatte erst aus den Worten seines Vaters erfahren, welchem berühmten Manne er solche Güte zu verdanken habe, und sein Herz bebte vor Wonne. Auch im Auge des Alten glänzte es feucht, als er hörte, daß sein Sohn von einem solchen Krieger


Ende der vierundvierzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

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