Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Zweiter Band


Lieferung 24.

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jedenfalls zwei Buchstaben gewesen. Der Anfangsbuchstabe des Vornamens ist auch mit in das Tuch gestickt gewesen. Der Riß aber ist zwischen den beiden Buchstaben hindurchgegangen.«

»Und was ist das Zweite, was wir gewinnen?«

»Da muß ich Sie vor allen Dingen fragen: Wohin flieht Einer, der verfolgt wird?«

»Dumme Frage! Dorthin natürlich, wo er glaubt, sicher und geborgen zu sein.«

»Das ist richtig! Er flieht nach einer Zufluchtsstätte. Der Mörder ist in gerader Richtung von hier nach den Tannen geflohen. In dieser Richtung liegt die Zufluchtsstätte, welche er gesucht hat. Wenn wir dieser schnurgeraden Linie folgen, müssen wir wenigstens in die Nähe des Ortes gelangen, an dem er sich hat verbergen wollen.«

»Herr Vetter, Herr Vetter! Sie sind ein verdammt spitziger und findiger Kopf. Mir würden solche Schlüsse niemals einfallen.«

»Das ist Geschäfts= und Übungssache. Wollen wir unsere Untersuchung fortsetzen und der angegebenen Richtung folgen?«

»Gern, wenn Sie wollen!«

»So kommen Sie!«

Sie kehrten wieder zu den Tannen zurück. Von hier aus folgten sie derselben Linie weiter, durch den Wald, über die Straße, welche aus dem Städtchen nach dem Forsthause führte, quer hinüber, und dann wieder in den Wald hinein. Arndt ging dabei sehr langsam und beobachtete jeden, auch den kleinsten Gegenstand genau. So dauerte es über eine Viertelstunde. Sie näherten sich dem gegenüber nach dem Städtchen zu gelegenen Waldessaume und kamen an eine hohe Eiche, welche einige hundert Jahre alt sein konnte. Schon wollte Arndt an ihr vorüber; da blieb er aber plötzlich stehen und musterte den Boden, welcher wohl eine Elle hoch mit Schnee bedeckt war.

»Was giebt's?« fragte der Förster.

»Sehen Sie her! Sehen Sie die mit neuem Schnee gefüllten Löcher im alten Schnee?«

»Natürlich! Sie sind ja zahlreich genug!«

»Was für Löcher mögen das sein?«

»Fußtapfen!«

»Richtig! Diese Fußtapfen kommen von allen Seiten auf die Eiche zu und gehen dann nach allen Seiten wieder von ihr fort. Hier haben sich zahlreiche Menschen zusammengefunden, ob zugleich, einzeln oder nach und nach, das ist leider nicht zu unterscheiden. Was haben sie hier gewollt? Sind es Pascher gewesen? Steht die Eiche in einer dauernden Beziehung zu ihren Zusammenkünften? Hm! Wollen doch einmal den alten Stamm untersuchen!«

Beide aber konnten trotz allen Suchens nichts Auffälliges oder Ungewöhnliches an ihm entdecken. Ihre Mühe blieb ohne Resultat.

»Lassen wir es für heute sein; behalten wir aber diesen Baum auch


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fernerhin im Auge!« sagte Arndt. »Wir können mit Dem, was wir gefunden haben, leidlich zufrieden sein!«

»Sie meinen, daß wir nach Hause gehen?«

»Ja, ich wenigstens. Wollten Sie nicht den Obersteiger aufsuchen?«

»Ja. Ich muß dem Eduard Wort halten! Ich werde das gleich jetzt thun. Was fangen wir mit dem Betttuchzipfel an?«

»Wir übergeben ihn der Polizei. Ich möchte jetzt noch nicht genannt werden. Thun Sie so, als ob Sie die heutige Excursion ganz allein unternommen hätten!«

»Schön! Soll ich von der Eiche hier Etwas bemerken?«

»Kein Wort! Ich will mich lieber auf mich selbst verlassen, als Andern Gelegenheit geben, mir den Brei zu verderben. Hier ist der Zipfel. Nehmen Sie ihn mit!«

Sie trennten sich. Arndt kehrte nach der Försterei zurück, wo Wunderlich sich nach einiger Zeit auch einstellte. Er erzählte, daß sein Gang zum Obersteiger nicht von Erfolg gewesen und daß auch der Gensd'arm nicht anzutreffen gewesen sei. Er wollte versuchen, ihn nach Tische anzutreffen.

Darüber war der Vormittag vergangen. Nach dem Mittagessen machte der Alte sich abermals auf den Weg. Arndt hatte sich in sein Stübchen zurückgezogen und saß, mit der Lectüre eines Buches beschäftigt, am Fenster, von wo aus er den Förster zurückkehren sah. Er begab sich sofort hinab in die Wohnstube.

Der Alte war sehr aufgeregt, das sah man ihm sofort an. Er warf die Pelzmütze zornig auf den Tisch, warf sich in einen Stuhl und stieß einen kurzen, schrillen Pfiff aus. Frau Barbara wußte, daß dies ein sicheres Zeichen sei, daß er etwas Ärgerliches erlebt oder erfahren habe.

»Na, Alterchen,« sagte sie. »Was ist Dir denn so in die Quere gekommen?«

»Viel, sehr viel!« antwortete er. »Man glaubt gar nicht, was Alles passiren kann! Zuerst muß ich Euch sagen, daß um fünf Uhr Kirche ist, Gottesdienst, und zwar in der Kneipe!«

»In der Kneipe?«

»Ja, im Saale der Schänke.«

»Gottesdienst? Das ist doch gar nicht möglich!«

»Gottesdienst oder Missionspredigt oder dergleichen, gehalten von dem früheren Schuster Seidelmann.«

»Da gehe ich hin! Den muß ich hören!« sagte Arndt.

»Wünsche guten Appetit und viel Vergnügen! Ich bin nicht neugierig oder fromm oder gottlos genug, solche Sachen mitzumachen. Ich rede mit meinem Herrgott überall; aber wenn ich in der Kneipe sitze, da lasse ich ihn in Ruhe!«

»Und sodann? Was hat es ferner noch gegeben?« fragte Frau Barbara.

»Ein Unglück, ein fürchterliches, entsetzliches Unglück!«


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»Herrgott, was denn und wo denn?«

»Mit dem kleinen Beyer.«

»Dem Schreiber bei Seidelmanns?«

»Ja. Das Herz könnte sich Einem im Leibe umdrehen! Du weißt doch, wie lange seine Frau bettlägerig ist?«

»Freilich wohl! Die Ärmste soll wenig Hoffnung haben, jemals wieder aufzukommen!«

»Ja, damit ist's vorüber. Denkt Euch, der Beyer ist arretirt!«

Frau Barbara faltete vor Schreck die Hände und rief:

»Weshalb denn?«

»Wegen Hehlerei und Widerstand gegen die Staatsgewalt.«

»Der? Ein Hehler? Das ist im ganzen Leben nicht wahr! Und Widerstand gegen die Staatsgewalt? Der hat noch keinem Kinde ein Leid gethan. Alles will ich glauben, nur das nicht! Was soll er denn gehehlt oder verhehlt haben?«

»Einen Diebstahl, den seine Tochter ausgeführt hat!«

»Die Gustel, das arme Wurm? Die soll eine Diebin sein? Nun geht aber gleich die Welt unter? Ich glaube nicht daran, nun und nimmer nicht! Wie ist denn das gekommen?«

»Na, wie soll es denn gekommen sein? Wie Alles in der Welt: Nicht von ungefähr. Wer weiß, wer auch da dahinter steckt und die schmutzigen Hände im Spiele hat. Also plötzlich heißt es im Orte: Der Gensd'arm ist beim Schreiber Beyer. Natürlich rennt Alles hin, um Maulaffen feil zu halten!«

»So ist's, Alter! Wenn Einem ein Malleur passirt, da kommen sie in hellen Haufen gerannt, um sich darüber zu freuen. Geht es Einem aber wohl, so bleiben sie davon und krächzen vor Mißgunst und Neid. Also wie weiter?«

»Nach einiger Zeit kommt der Gensd'arm aus dem Hause und geht zum Bürgermeister. Dort sitzt der Fritz Seidelmann, geht aber bald wieder fort.«

»Ah, der? Weil nur der dabei ist!«

»Wieder nach einiger Zeit kommt der Schreiber mit der Gustel. Diese Beiden gehen auch zum Bürgermeister. Das Volk zieht natürlich hinterher, gerade wie die Ameisen hinter der Blattlaus. Was haben die Beyers mit dem Gensd'arm und beim Bürgermeister zu thun? So fragt sich Alles. So fragt sich auch die gute Madame Heinefeld, welche neben Bürgermeisters wohnt und zehn Teufel und zwanzig Kalender im Leibe hat. Sie macht sich also ein Behelfchen und sucht die Frau Bürgermeister auf. Von der erfährt sie, daß die Gustel gestohlen hat und daß ihr Vater der Hehler sei.«

»Was soll sie denn gestohlen haben?«

»Der Eine sagt dies und der Andere das; ich glaube gar nichts. Also, die beiden neugierigen Weiber horchen. Sie hören die Gustel weinen und ihren Vater raisonniren. Er will sich nicht gefangen geben. Beide sollen nach der Amtsstadt transportirt werden, und das will der Beyer sich nicht gefallen lassen. Er betheuert seine Unschuld; er sagt, daß seine Tochter keine Diebin sei; er ruft, daß er seine Frau nicht verlassen dürfe. Der Bürgermeister will Gewalt


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anwenden, und da, nun ist der Teufel los! Ich glaube, der kleine Mann hat in seiner Wuth sich gar gewehrt. Da haben sie ihn überwältigt und ihm die Hände gefesselt.«

»Du mein lieber Gott! Was soll nun daraus werden!«

»Was daraus werden soll? Na, das, was bereits daraus geworden ist: Der Bürgermeister hat einen Fuhrmann requirirt, und der Beyer ist mit seiner Tochter unter der Bedeckung des Gensd'arms nach der Amtsstadt transportiert worden.«

»Und seine Frau, das arme, kranke Wesen, wie wird sie das Unglück aufnehmen? Sie wird es nicht verwinden können!«

»Pah, sie hat es bereits verwunden! Man kennt ja die Menschheit! Als die beiden Gefangenen im Schlitten sitzen und die Pferde sich in Bewegung setzen, setzen sich auch die Maulaffen in Bewegung. Und wohin? Natürlich nach Beyers Wohnung! Nicht etwa in schlechter Absicht! O nein! Trösten wollen sie, einem etwaigen Unglück vorbeugen wollen sie, weiter nichts! Diese Menschheit ist so gut, so liebevoll, so zuvorkommend! Und da stürzen sich nun ein halbes Dutzend solcher Klatschbasen zu der Kranken in die Stube und schreien ihr vor, daß ihr Mann in Ketten und Banden als Dieb und Hehler mit der Tochter fortgeschafft worden sei.«

»Die Unvorsichtigen! Herr Jesus, was wird da geschehen!«

»Was soll denn da geschehen? Nichts weiter natürlich, als daß die arme Frau vom Lager auffährt und einen entsetzlichen Schrei ausstößt. Sie fährt sich mit den Händen nach dem Herzen, der Athem geht ihr aus, das Gesicht wird erst roth und dann braun, und dann, nun ja, dann ist sie eben eine Leiche. Ganz recht! Warum ist sie die Frau eines Hehlers und die Mutter einer Spitzbübin!«

Frau Barbara schlug die Hände über dem Kopfe zusammen und brach in ein lautes Weinen aus. Der Förster sprang von seinem Stuhle auf und lief mit langen, dröhnenden Schritten in der Stube hin und her. Da fragte Arndt:

»Was Sie da erzählen, das ist wirklich wahr?«

Da blieb der Alte vor ihm stehen, hielt ihm die Faust unter die Nase und brüllte:

»Herr, denken Sie, daß ich mit dem Unglücke meiner Mitmenschen Hallo und Allotria treibe! So kommen Sie mir ja nicht, sonst bin ich im Stande und werfe Sie zur Thür hinaus! Das merken Sie sich, Sie Vetter Arndt, Sie!«

Arndt nickte ihm wohlwollend zu und sagte:

»So krumm war es ja gar nicht gemeint!«

»Na, das will ich mir auch ausgebeten haben!«

»Sind diese Beyer's brave Leute?«

»Brave Leute? Was das nun wieder für eine Frage ist! Würde ich denn so in's Pulverfaß gerathen, wenn es nicht brave Leute wären?«

»Sind noch weitere Kinder da?«

»Natürlich! Vier Stück, vier arme, bleiche, abgehärmte, ausgehungerte


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Würmer, welche sich nicht getraut haben, laut zu reden! Die ganze Familie hat seit Montag von drei Pfund Sauerkraut gelebt. Herrgott von Mannheim, ich möchte der ganzen Welt den Kopf abhacken! Und wissen Sie, was man mit den Kindern gemacht hat? In's Armenhaus hat man sie geschleppt, wo sie nichts lernen als die Bettelei! Sie müssen nämlich wissen, daß es dort mit Arbeit und Verpflegung noch ärger im Argen liegt als bei den Kalmücken und Hottentotten! Ein Bund Stroh haben sie, worauf sie schlafen! Essen und Trinken sollen sie auch erhalten, ja, auf dem Papiere steht es; aber wer da nicht verhungern will, der muß hinaus auf die Dörfer und bei den Bauern fechten gehen.«

»Schrecklich!«

»Finden Sie es schrecklich? Nicht wahr? Da ist zum Beispiel eine alte Frau, Löffler ist ihr Name. Die hat sich stets ehrlich und redlich durch die Welt geschlagen, hat Gott geehrt und ihre Arbeit gethan und bei den Seidelmann's lange Zeit die Aufwartung gehabt. Da auf einmal explodirt die Lampe; das brennende Kamphin stürzt ihr in's Gesicht und verbrennt ihr Alles, auch die Augen. Sie ist blind, kann nichts mehr sehen, nichts mehr machen und verdienen. Seidelmann's jagen sie fort; sie muß in das Armenhaus, und nun ist sie über achtzig Jahre alt und tastet sich von einer Thüre zur anderen, um nach dem lieben Brod zu gehen. Denken Sie, in solchem Wetter, wie gerade jetzt! Eines schönen Morgens wird man sie aus dem Schnee ziehen, todt, erfroren, und kein Hund wird nach ihr bellen! Herr Vetter, na, wohin denn so plötzlich?«

»Fort!«

Arndt war aufgesprungen und ging in sein Zimmer. Dort nahm er einige Gegenstände aus dem Koffer, steckte sie zu sich und verließ das Haus. Er ging eiligen Schrittes nach dem Städtchen, aber nicht die Straße entlang, sondern durch den Wald.

Er hatte die Tracht der dortigen Gegend angelegt. An einer einsamen Stelle des Waldes angekommen, blieb er stehen und blickte sich vorsichtig um. Als er sich überzeugt hatte, daß er nicht beobachtet wurde, zog er die Jacke aus und wandte sie um, ebenso die Mütze. Die vorher dunkle Jacke war jetzt grau, die Pelzmütze war ein Plüschdeckel geworden. Nun zog er eine Perücke aus der Tasche und einen falschen Vollbart. Als er Beides angelegt hatte, war er hellblond geworden. Er hatte seine Züge so in der Gewalt, daß sie jetzt ganz andere zu sein schienen als vorher.

Jetzt nun setzte er seinen Weg fort, gelangte in den Ort und fragte nach dem Pfarrhause. Er folgte der erhaltenen Weisung und klopfte an. Als er auf das laute »Herein« des Pfarrers eintrat, fand er in demselben einen alten, ehrwürdig aussehenden Mann mit mild blickenden Augen und einem Johannesgesichte.

»Was wünschen Sie?« fragte der Geistliche, indem er das Blatt bei Seite legte, in welchem er gelesen hatte. Er hatte am Vor= und Nachmittage zu predigen gehabt und noch nicht in die Zeitung blicken können. Jetzt nun


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war er eben beschäftigt gewesen, den Artikel zu lesen, welchen heute früh der heilige Schuster seinem Neffen vorgelesen hatte.

»Ich komme, um eine recht herzliche Bitte auszusprechen, Ehrwürden,« antwortete Arndt.

»Sprechen Sie! Wer da bittet, der empfängt. Ich habe Sie noch nie gesehen. Sie scheinen nicht von hier zu sein?«

»Ich bin allerdings hier fremd, Herr Pfarrer. Heute kam ich hier an und hörte von einem großen Unglücke, welches eine brave Familie betroffen hat.«

»Sie meinen den guten Beyer? Ja, das ist ein Herzeleid, eine Heimsuchung, welche trauriger ist als traurig.«

»Halten Sie die Angeklagten für schuldig?«

»Gott allein sieht in das Verborgene, mir aber sagt mein Herz und meine Erfahrung. daß diesen Leuten Unrecht geschieht. Haben Sie Grund, Antheil an ihnen zu nehmen?«

»Ja, einen sehr guten Grund.«

»So sind Sie wohl verwandt mit Ihnen?«

»Sehr nahe sogar, ehrwürdiger Herr. Ich möchte Etwas für diese beklagenswerthen Leute thun.«

»Gott segne Sie! Sie kommen da gerade recht, wie der Fürst des Elendes, von dem ich soeben gelesen habe. Kann ich Ihnen zu Hilfe sein?«

»Sehr, sehr! Zunächst glaube ich, daß es Ihrer Fürbitte gelingen werde, wenigstens den Vater gegen Handgelöbniß zur Freiheit zu helfen.«

»Das hatte ich mir bereits vorgenommen.«

»So höre ich, daß Sie ein treuer Hirte und kein Miethling sind. Sollte eine Caution gefordert werden, so bin ich bereit, sie zu zahlen. Was nun die Kinder betrifft, so höre ich, daß sie sich im Armenhause befinden?«

»Leider! Wer will oder vielmehr wer kann sich ihrer unentgeldlich annehmen? Die Leute hier sind Alle arm, nur einige Wenige ausgenommen.«

»Vielleicht giebt es eine brave Familie, welche den Kleinen gegen ein Pflegegeld Aufnahme bietet.«

»Wer sollte das Pflegegeld bezahlen?«

»Ich, Ehrwürden! Der Weber Hauser ist Ihnen doch wohl bekannt; ich möchte sie am Liebsten ihm anvertrauen!«

»Hauser ist ein frommer und ehrlicher Christ; er ist sehr arm und hat selbst Kinder; aber für die Verwaisten wäre Keiner besser als er.«

»Nun, dann bitte ich, Herr Pfarrer, diese Kleinigkeit in Empfang zu nehmen! Hier fünfzig Gulden zur Beerdigung der Todten, und hier hundert Gulden, von denen Sie nach Bedürfniß an Hauser zahlen. Zuletzt nehmen Sie hier das Päckchen, es enthält tausend Gulden, welche Summe zur Aufbesserung Ihrer Armenhausverhältnisse verwendet werden soll.«

Der Pfarrer stand vor Erstaunen starr und steif.

»Herr,« sagte er endlich, »sind Sie denn reich genug, solche Summen verschenken zu können?«

»Ich besitze Millionen!« lächelte Arndt.


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»Aber, verzeihen Sie, Ihr Äußeres ist nicht dasjenige eines Millionärs!«

»Das ist sehr wahrscheinlich. Doch, darf ich hoffen, daß meine Bitten in Erfüllung gehen?«

»Gewiß, gewiß! Ich werde augenblicklich die Kinder holen, um sie zu Hauser zu bringen. Er hat zwar selbst nicht viel Platz, aber sein Character und seine Zuverlässigkeit wiegen diesen Mangel mehr als auf. Doch, werther Herr, wenn ich nun gefragt werde, wem wir diese Gaben und Wohlthaten zu verdanken haben, wie soll ich dann antworten?«

»Nennen Sie meinen Namen!«

»So bitte, wie heißen Sie?«

»Der Fürst des Elendes! Guten Abend, Hochwürden!«

Im nächsten Augenblicke war er zur Thür hinaus. Der Pfarrer stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Er wußte gar nicht, was er denken oder thun solle. Da ging die Thür auf, und eine Dame trat ein. Es war seine Schwester, welche bei ihm wohnte. Sie sah die Miene, welche er machte und fragte ganz betreten:

Um Gottes Willen, was ist dir geschehen? »Um Gottes Willen, was ist Dir geschehen? Dir muß ja etwas ganz und gar Ungewöhnliches passirt sein!«

Das gab ihm die Sprache wieder. Er antwortete, aber immer noch stockend, als ob er sich von seiner Überraschung noch immer nicht erholen könne:

»Ja, etwas Ungewöhnliches, etwas ganz Ungewöhnliches ist mir passirt! Ich kann kaum Herr meines Erstaunens werden!«

»So sage schnell, ob es etwas Schlimmes ist! Es war ein fremder Mensch bei Dir; ich habe ihn hier eintreten sehen.«

»O, Du brauchst ganz und gar nicht zu erschrecken. Es ist im Gegentheile etwas Hochwillkommenes, was dieser Fremde mir gebracht hat. Weißt Du, wer er war?«

»Wie soll ich es wissen? Er hatte das Aussehen eines ganz gewöhnlichen Arbeitsmannes.«

»Eines Arbeitsmannes? Ja, ja, das mag sein; aber er war doch etwas ganz Anderes. Denke Dir, es war der Fürst des Elendes!«

Da machte sie eine höchst überraschte Miene und sagte:

»Scherzest Du? Der Fürst des Elendes? Du lieber Gott, das wäre gerade der Richtige für unsere Gegend! Einen solchen Mann könnte Niemand so sehr gebrauchen wie unsere arme Bevölkerung!«

»Ja, er war es! Er ist da bei uns, in unserer Gegend, in unserem Orte, und Geld hat er mir gegeben, viel, sehr viel Geld!«

Sie schlug die Hände zusammen und fragte:

»Viel Geld? Für wenn denn?«

»Für die Hinterlassenen der todten Schreibersfrau und für - o, was bin ich doch unaufmerksam! Ich muß ihm nach; ich muß mich bei ihm bedanken; ich muß ihn kennen lernen und mit ihm sprechen! Er soll erfahren, was uns hier Noth thut! Ich eile, Du sollst nachher das Nähere erfahren!«

Bei diesen Worten eilte er zur Thüre hinaus. Vor dem Hause ange=


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kommen, blickte er die Gasse hinauf und hinab, konnte aber Niemand bemerken. Da kam ein Mann den Fußweg herab und um die Ecke des Hauses. Er trug die dunkle Tracht der dortigen Gegend und hatte einen tief schwarzen Vollbart. Seine Gestalt war beim Leuchten des Schnees ganz deutlich zu erkennen.

»Guten Abend!« sagte er. »Nicht wahr, heute wird hier im Orte ein Missionsvortrag gehalten?«

»Ja, so etwas Ähnliches,« antwortete der Pfarrer reservirt.

»Wo ist das?«

»In der Schänke. Gehen Sie die Gasse hinab, so werden sie die erleuchteten Fenster des Saales sehen. Es ist fünf Uhr, und so wird dieser Vortrag wohl bald beginnen. Ist Ihnen vielleicht ein Mann begegnet?«

»Nein, kein Mensch. Wie soll er ausgesehen haben?«

Der Pfarrer beschrieb den Fürsten des Elendes genau, aber der Andere hatte ihn nicht gesehen. Der brave Geistliche ahnte nicht, daß er den Gesuchten vor sich habe. Während des kurzen Gesprächs mit seiner Schwester hatte Arndt doch Zeit gehabt, hinter dem Hause die Jacke umzuwenden und sowohl die Kopfbedeckung als auch den Bart zu vertauschen. Er bedankte sich bei dem Pfarrer für die erhaltene Auskunft und begab sich nach der Schänke.

Dort herrschte ein sehr reges Leben. In der Gaststube gab es so viele Leute, daß sein Eintritt gar nicht beachtet wurde. Da waren Diejenigen anwesend, deren Mittel es erlaubten, vor Beginn des Vortrages ein Glas Bier zu trinken.

Er stieg zum Saale empor. Dort warteten bereits die ganz Armen der Ankunft Seidelmann's. Da gab es Gesichter, in denen der Hunger, die Kälte, die Sorge, das Elend zu lesen waren, junge und alte Leute, Burschen, welche in Folge der ungesunden Schachtarbeit ein Jahrzehnt älter zu sein schienen, als sie wirklich waren; Mädchen und Frauen, deren einziges, ärmliches Gewand ihre Sonn= und Werktagskleidung war, Männer, welche trotz ihrer vierzig Jahre bereits in gebückter Haltung auf den Bänken saßen, und weißhaarige Greise, bei deren Anblicke man sich gewundert hätte, daß sie so hoch betagt hatten werden können, wenn man nicht gewußt hätte, daß sie ihrem Alter nach eigentlich noch gar nicht Greise genannt werden konnten.

Es war ein Podium errichtet, auf welchem ein Clavier stand. Auf dem letzteren lag eine Bibel und ein Gesangbuch, und zu beiden Seiten waren sammetgepolsterte Sessel gestellt, für wen, das wußte jetzt noch Niemand zu sagen.

Ein leises Flüstern ging durch den Saal. Der Vortrag sollte, wie man sich mittheilte, eine Art Gottesdienst sein. Es war in Folge dessen diesen guten Leuten zu Muthe, als ob sie sich in der Kirche befänden; darum wagten sie nicht, ihre Unterhaltung in lauten Worten zu führen.

Auch hier wurde Arndt gar nicht beachtet. Er schlüpfte in eine Ecke, in welcher er sich niederließ.

Kaum war das geschehen, so kam ein Zug von wohl über einem Dutzend


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Personen zur Thüre herein geschritten, voran der fromme Schuster. Er trug eine Art Priestertalar und eine Kopfbedeckung, welche dem Barette lutherischer Pfarrer ähnlich geformt war.

Ihm folgten die Inhaber des Geschäftes Seidelmann und Sohn nebst ihren Angestellten und dann die Beamten des freiherrlichen Kohlenwerkes »Gottes Segen«. Sie grüßten nicht. Sie schritten in stolzer Haltung auf das Podium zu und nahmen dort auf den Sammetsesseln Platz. Der Schuster trat hinter das Clavier, faltete die Hände und hob die Augen andächtig empor. Er flehte natürlich um den Segen Gottes zu dem frommen Werke, welches zu beginnen er im Begriffe stand. Sodann begrüßte er die Versammelten mit den bekannten Worten:

»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesum Christum!«

Es sind dies die Worte, mit denen lutherische Kanzelredner ihre Predigten zu beginnen pflegen. Er sprach dabei, wie so manche dieser Geistlichen, den Namen des Heilandes nicht Jesu Christo, sondern falsch, im Accusativ, aus. Sodann begann er das Werk, indem er das Gesangbuch aufschlug und die Anwesenden darauf aufmerksam machte, daß ein Trostlied gesungen werden solle, da er gekommen sei, ihnen in ihrer Noth und ihrem Elende die einzig wahre Hilfe und Rettung zu bringen. Er las die Verse einzeln vor; Fritz Seidelmann, sein Neffe, welcher gelernt hatte, ein halbes Dutzend Noten auf dem Clavier zu spielen, setzte sich an das Instrument und gab den Ton an. Erst ließen sich nur einzelne Stimmen hören; bald aber fielen mehrere ein, und endlich erklang es laut und kräftig wie in der Kirche:

»Sollt es gleich bisweilen scheinen,
Als verließe Gott die Seinen,
O, so weiß und glaub ich dies:
Gott hilft endlich doch gewiß!
Hilfe, die er aufgeschoben,
Hat er doch nicht aufgehoben.
Hilft er nicht zu jeder Frist,
Hilft er doch, wenn's nöthig ist.
Gleich wie Väter nicht bald geben,
Wonach ihre Kinder streben,
So hält Gott auch Maaß und Ziel;
Er giebt, wem und wenn er will!«

Nach diesen Strophen begann der Vortrag über das Thema: Gott ist der Helfer in jeder Noth und Gefahr. Er zerfiel in die beiden Theile: Herr, hilf uns; wir verderben! und: O, Ihr Kleingläubigen, warum zweifelt Ihr?

Die Zuhörer mußten sich gestehen, daß der einstige Schuster im Besitze eines wirklichen Rednertalentes sei. Er stellte sich keineswegs außerhalb der christlichen Kirche; nein, dazu war er viel zu klug. Er kannte die Leute, zu denen er sprach; er kannte auch ihre Verhältnisse, ihre Nothlage, ihr Elend. Er kannte jedenfalls ebenso gut auch die wirklichen Gründe desselben. Er schilderte es ihnen mit beredten Worten in seiner ganzen nackten, erschreckenden Wirklichkeit, aber er hütete sich wohl, diese Gründe zu erwähnen. Er sprach


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von dem immer mehr überhand nehmenden Unglauben, von dem Mangel an Liebesthätigkeit. Er forderte sie auf, dem Bunde der Brüder und Schwestern der Seligkeit beizutreten. Dieser Bund habe den Zweck, den Glauben an Gott und das Vertrauen zu ihm neu zu erwecken und zu pflegen. Die Angehörigen seien bereit, im Namen des Allgütigen und Allbarmherzigen den leidenden Brüdern und Schwestern beizustehen. Darum solle heute eine Collecte abgehalten und eine Sammelstelle hier gegründet werden. Ein Jeder solle nach seinen Kräften geben; was er gebe, gebe er Gott, und dieser vergelte Solches tausendfältig. Wer da Hilfe verlange, solle zuvor selbst beitragen, daß geholfen werden könne.

Er riß seine Hörer hin. Sie übersahen die Mängel seines Vortrages; sie erkannten nicht, daß er gekommen sei, zu empfangen, nicht aber, zu geben. Sie selbst waren bitter arm, blutarm; aber sie kannten ja das Elend, und darum fühlten sie sich tief ergriffen. Er war der Fuchs, welcher den Hühnern predigt, und er verstand seine Sache.

Am Schlusse seiner Rede nahm er das Gesangbuch wieder zur Hand und ließ die Strophen singen:

»Seiner kann ich mich getrösten,
Wenn die Noth am Allergrößten.
Er ist gegen mich, sein Kind,
Mehr als väterlich gesinnt.
Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen.
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!«

Und nun griff er in die Tasche seines Talares, zog eine blecherne Büchse hervor und begann einzusammeln, zunächst bei seinen Verwandten. Man hörte die schweren Geldstücke, welche sie gaben, in die Büchse fallen. Dann kamen die Angestellten daran, und endlich ging er auch weiter, von Reihe zu Reihe.

Wer nichts einstecken hatte, konnte natürlich nichts geben oder borgte sich beim Nachbar eine Kleinigkeit; die Anderen aber steuerten Alle bei, alle! So arm sie selbst waren, sie wollten zeigen, daß sie nicht ohne Religion, ohne Glauben und Liebe seien. Viele gaben den einzigen Kreuzer hin, den sie noch besaßen. Zu Hause gab es ja noch Kartoffeln und Salz.

Selbst der Pfarrer, welcher mit anwesend und für nachher zum Souper zu Seidelmann's geladen war, warf seine Gabe in die Büchse, obgleich er eher als die Arbeiter im Stande war, den wirklichen Sachverhalt zu durchschauen.

Schließlich erklärte der Schuster, daß er kraft seiner Machtvollkommenheit seinen Bruder, Herrn Kaufmann Seidelmann, zum Kassirer ernenne. Ihm übergab er die Büchse, und dann entfernten sich die Honoratioren so stolz, wie sie gekommen waren, während die Armen zurückblieben, um sich noch eine Weile von dem, was sie gehört hatten, zu unterhalten.

Zu Hause angekommen, öffneten die Seidelmann's unter sich die Büchse, um das Geld zu zählen. Als sie damit fertig waren, sagte der Kaufmann:


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»Sechzehn Gulden! Das ist viel! Ich hätte nicht gedacht, daß so viel Geld unter den Leuten steckt!«

»Sechzehn Gulden?« fragte sein frommer Bruder. »Wo denkst Du hin! Dreizehn sind es.«

»Wieso?«

»Nun, nicht wahr, Du hast einen Gulden gegeben?«

»Ja.«

»Ich auch und Fritz auch. Das sind drei. Wir werden aber doch nicht so dumm sein, unser schönes Geld zum Fenster hinaus zu werfen. Diese drei Gulden nehmen wir wieder!«

»Mensch! August! Du hast Recht! Heraus also mit dem Gelde! Was aber wird mit dem anderen?«

»Was soll da werden? Bruder, bist Du wirklich so dumm?«

»Dumm? Wieso? Als Kassirer habe ich Buch zu führen und Rechnung abzulegen!«

»Davon entbinde ich Dich! Zunächst haben wir unsere Auslagen zu berechnen. Hast Du denn Dein Pianoforte umsonst hergeborgt?«

»Nicht umsonst?«

»Das darf Dir nicht einfallen! Wenn ein Verein sich zum Beispiel ein Instrument zu einem Concerte oder einer Aufführung borgt, muß er Leihgebühren zahlen.«

»Ich wäre doch der größte Thor, wenn ich auf Deine Noblesse nicht eingehen wollte! Wieviel willst Du geben?«

»Es kommt darauf an, wieviel Du haben willst.«

»Sind zwei Gulden zu viel?«

»Nein. Nimm drei! Hier sind sie!«

»Da bleiben also zehn. Welcher Arme bekommt sie?«

»An Eure Armen können wir noch lange nicht denken! Oder meinst Du, daß ich nicht auch Auslagen gehabt habe? Acht Gulden kostet mich die Eisenbahn und der Schlitten. Die übrigen zwei Gulden reichen gar nicht, wenn ich berechne, was ich unterwegs verzehrt habe, Grog, Warmbier, Kaffee, Cognac, zwei Rumpfsteaks mit Schmorkartoffeln und eine Tasse Cacao. Nein, diese zehn Gulden belege ich mit Beschlag, und gleiche damit meine Forderung aus; sonach bleibst Du als Cassirer noch immer in meiner Schuld.«

Er steckte die zehn Gulden ein und sagte dabei unter einem sehr frommen Aufschlage seiner Augen:

»So! Gott giebt!«

Und lachend fügte er hinzu:

»Aber nur Denen, welche zu nehmen wissen! Ist Euch der Bibelspruch bekannt: Bittet, so wird Euch gegeben; suchet, so werdet Ihr finden; klopfet an, so wird Euch aufgethan! Doch genug hiervon! Habt Ihr heute schon an der Eiche nachgesehen?«

»Nein.«


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»Das wird bald Zeit. Wie ist's, lieber Fritz? Willst Du nicht vor dem Souper gehen?«

»Habe keine Lust! Es wird wohl noch Zeit sein, wenn die Anderen fort sind.«

»Zeit wäre es wohl, aber bei den guten Weinen, die Ihr bereit gestellt habt, möchte es Dir dann nach dem Abendessen zu sehr in den Gliedern liegen.«

»Ganz das Gegentheil. Recht warm und behaglich werde ich jedenfalls sein. Es ist schauderhaft kalt da draußen!«

»Aber jetzt sitzen die Leute noch in der Schänke, und unsere Gäste werden sogleich kommen; da bist Du am Sichersten, daß Niemand draußen ist, Dich zu belauschen.«

Und als sein Neffe noch immer keine rechte Lust zeigte, fügte er hinzu:

»Weißt Du, welchen Werth die nächste Sendung haben wird?«

»Wie sollte ich das wissen! Der Waldkönig theilt das ja nie Jemandem mit.«

»Aber mir doch. Es stehen zwanzigtausend Gulden auf dem Spiele.«

»Zwanzigtau - ah, sapperment! Zehn Procent davon sind unser! Für zweitausend Gulden kann man sich schon einmal hinaus in die Kälte wagen. Ich gehe.«

Er begab sich nach seiner Stube, wo er lange Stiefel, kurze Jacke und eine schwarze Maske anlegte. Nach einigen Minuten schlich er sich, ohne von Jemand gesehen zu werden, durch den Garten in's Freie.

Jetzt kamen die geladenen Gäste: der Pastor, der Bürgermeister und noch Andere. Die Tafel war sehr reich besetzt. Auch der Knappschafts= und Armenarzt war anwesend. Er hatte seinen Platz neben dem frommen Schuster. Eigentlich war er nicht geladen; aber er war zu einer Kranken gerufen worden und dann zufälliger Weise zu Seidelmann's gekommen.

»Was fehlt der Frau?« fragte der Fromme.

»Pah! Was soll ihr fehlen? Die Auszehrung hat sie, wie hier fast alle Leute!«

»Giebt es keine Rettung?«

»Meinen Sie etwa, daß ich so eine Kohlenschauflerin nach Nizza, Kairo oder Madeira schicken kann?«

»Das ist richtig! Aber, mein Lieber, Sie haben voriges Jahr der Knappschaftskrankenkasse bedeutende Ausgaben verursacht.«

»Meinen Sie etwa die vierhundert Gulden Gehalt, welche ich bekomme?«

»Nein; das ist Fixum; darüber giebt es nichts zu sprechen, obgleich Sie diese Summe nur so nebenbei verdienen. Aber es sind einundzwanzig Gulden für den Apotheker verausgabt worden. Denken Sie, einundzwanzig Gulden in einem einzigen Jahre! Das ist stark!«

Da beugte sich der Arzt noch näher zu ihm hin, so daß Niemand hören konnte, was sie sprachen, und fragte:

»Wissen Sie, für wie viele Kranke diese Summe verausgabt worden ist?«


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»Ich habe nach Gulden zu rechnen, nicht aber nach Kranken. Ich bin der Bevollmächtigte des Barons, dessen Interessen ich zu wahren und zu vertreten habe.«

»Nun wohl! Diese einundzwanzig Gulden sind für zweihundert und dreizehn Krankheitsfälle verausgabt worden. Da haben also im Durchschnitte mehr als zehn Kranke nur für einen Gulden Medicamente, Stärkungsmittel und so weiter erhalten. Das darf ich keinem Menschen sagen!«

»Das fehlte noch! Sie sind Diener des Barons. Übrigens haben Sie statistisch nachgewiesen, daß es nur leichte Erkrankungen gewesen -«

»O, o!« fiel ihm der Arzt in die Rede. »Soll ich etwa wissen lassen, daß gerade mein Bezirk der elendeste des ganzen Landes ist?«

In diesem Augenblicke brachte der Hausherr einen Toast auf das Bestehen der Gesellschaft der Brüder und Schwestern der Seligkeit aus. Die Hochs erklangen, und die Gläser klirrten; der Wein floß in die durstigen Kehlen. Niemand bemerkte in diesem Augenblicke die Frau, welche leise eingetreten war und, sich mit den beiden Händen am Thürpfosten haltend, vorn am Eingange stand.

Es war eine Greisin, wenigstens hatte sie ganz das Aussehen einer solchen. Ihre Augen fehlten; die Lider waren tief eingesunken, denn es waren keine Augapfel mehr vorhanden. Ihr Haar war vom Winde zerzaust, und ihre Kleidung bestand aus dünnen Fetzen, welche nicht im Stande waren, die Kälte von dem armseligen Leibe abzuhalten. Sie zitterte vor Frost an allen Gliedern.

Jetzt war der Toast beendet. Die Tafelgäste, welche sich erhoben hatten, setzten sich wieder nieder, und nun wurde auch die Alte bemerkt. Es war dieselbe Armenhausbewohnerin, von welcher der Förster heute gesprochen hatte.

»Was! Die alte Löffler!« rief der Kaufmann. »Was will denn Sie bei uns?«

»O, nehmen Sie es nicht übel!« sagte die Frau, indem ihr die zahnlosen Kinnladen vor Frost zusammenschlugen. »Ich suche den Herrn Pastor Seidelmann.«

Der Schuster fühlte sich außerordentlich geschmeichelt darüber, daß sie ihn Pastor nannte. Er stand von seinem Stuhle auf und fragte:

»Ich bin es. Was will Sie, liebe Frau?«

»Ich war heute in der Schänke. Ich habe mich von einem Jungen hinführen lassen. Ich wollte -«

»Was? In der Schänke war Sie?« fragte er rasch.

»Ja, Herr Pastor.«

»Ist Sie nicht eine Bewohnerin des Armenhauses?«

»Ja, schon seit langer Zeit.«

»Und da geht Sie des Abends in die Schänke? Ich denke, jeder Armenhäusler muß zur gewissen Zeit zu Hause sein!«

»Das wird bei uns nicht so genau genommen, weil wir nach dem lieben Brode gehen müssen. Auch habe ich den Armenhausvater heute um Erlaubniß befragt.«


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»Und er hat es Ihr bewilligt?«

»Ja, Herr Pastor.«

»Das ist stark! Der Vorsteher bewilligt Ihr, in die Schänke kneipen zu gehen, wohl gar Schnaps zu trinken?«

»O nein, nein! Das nicht! Ihre Rede wollte ich hören!«

»Ah! Das ist etwas Anderes! Nun, was will Sie denn jetzt und hier?«

Die Alte sann einige Augenblicke nach, um die rechten Worte zu finden und antwortete dann:

»Nun, Herr Pastor, ich hörte, daß Sie von der Noth und dem Elende sprechen wollten und von der Hilfe, welche es dagegen giebt. Noth und Jammer giebt es hier überall, aber zu den Elendsten gehöre doch ich.«

»Ja, Sie ist schlimm daran! Blind zu sein ist eine schwere Heimsuchung. Bete Sie mir recht fleißig zu Gott! Er hat den Tobias mit Hilfe einer Walfischleber sehend gemacht. Vielleicht läßt er auch Ihr ein Mittel zur Heilung finden.«

Der mit anwesende Pastor räusperte sich laut. Er war ein bescheidener, stiller Diener seines Gottes, nicht ein schneidiger, wehrhafter Petrus; aber was er hier hörte, war ihm doch zuviel.

Die Alte sagte in klagendem Tone:

»Ach, Hilfe giebt es für mich keine. Ich bin am Bergwerke bei einer Explosion verunglückt. Mir fehlen ja die Augäpfel; man hat sie mir herausgeschnitten. Hätte ich da nicht von dem Herrn Baron eine Unterstützung zu verlangen, Herr Pastor?«

»Nein. Er hat Ihr den Arbeitslohn pünktlich bezahlt, so lange Sie thätig war. Wenn Sie nicht mehr arbeitet, so hat Sie auch nichts mehr zu verlangen.«

»Aber Sie sind doch sein Stellvertreter! Könnten Sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen?«

»Das geht nicht. Ich bin nicht sein vortragender Rath.«

»Ich verstehe nicht, wie das gemeint ist, Herr Pastor; aber seit jenem Unglücke führe ich das elendeste Leben, welches es nur geben kann. Die Anderen können hinaus auf die Dörfer, wo es eher ein Stückchen Brod giebt als hier. Ich aber taste mich im Orte von Haus zu Haus, wo lauter arme Leute wohnen. Ich weiß, wie der Hunger thut; ich weiß aber seit langer Zeit nicht mehr, wie es ist, wenn man satt ist. Ich friere bis in die Seele hinein. Heute haben Sie eine so schöne Rede gehalten, so schön und so rührend -«

»Ah, hat sie Ihr gefallen?«

»Oh sehr, sehr! Sie sprachen vom Wohlthun und vom Mittheilen. Mich hungerte so sehr. Da dachte ich: Du gehst nachher zu ihm. Da giebt es feines Abendessen, Braten und Wein. Wer so schön vom Wohlthun reden kann, der hat sicherlich ein gutes Herz; der wird Dich nicht hungern lassen!«

Er zog die Stirn in Falten und fragte:

»So kommt Sie also betteln?«


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»Ein Stück Brod will ich gern haben, nur ein kleines Stückchen Brod, keinen Braten und keinen Wein.«

Da machte er ein pfiffig strenges Gesicht und sagte:

»Da wird Ihr Gang wohl umsonst gewesen sein! Schäme Sie sich! In Gegenwart dieser Herrschaften zu betteln!«

Sie griff zu der alten, zerrissenen Schürze, als ob sie weinen und sich die Thränen trocknen wolle, ließ sie aber sofort wieder fallen.

»Herr Pastor,« sagte sie, »ich darf nicht weinen, denn die Thränen können bei mir nicht heraus, das verursacht mir große Schmerzen; das brennt wie höllisches Feuer. Heute, als Sie so schön sprachen, hätte ich dennoch bald geweint, geweint vor Freude, daß es einen solchen Mann giebt, der vom lieben Gott die Gabe und den Auftrag hat, unsere Noth zu stillen. Geben Sie mir ein Stückchen Brod!«

»Wenn alle Bettler gerade zu mir kommen wollten, weil ich das Wort der Liebe predige, müßte ich bald selbst betteln gehen!«

»Aber bedenken Sie, daß Sie uns singen ließen:

»Sollt es gleich bisweilen scheinen
Als verließe Gott die Seinen,
Ei, so weiß und glaub ich dies:
Gott hilft endlich doch gewiß!«

»Das ist wahr; aber wir haben doch auch gesungen:

»So hält Gott doch Maaß und Ziel:
Er giebt, wem und wenn er will!«

»So meinen Sie, daß ich von ihm nichts bekommen solle?«

»Das nicht. Aber denke Sie an das Wort, welches der Heiland bei der Hochzeit zu Kana sagt: Weib, meine Stunde ist noch nicht gekommen!«

»O, die brauchte auch nicht gekommen zu sein, denn als er das sagte, hatten alle Gäste noch genug Essen und Wein.«

»Ich sehe, daß Sie sehr bibelfest ist, und das freut mich. Aber gerade darum kann ich Ihr kein Brod geben. Gott will helfen und wird helfen; ich darf ihm ja nicht vorgreifen. Gehe Sie nur nach Hause in Ihr Kämmerlein; kniee Sie nieder und bete Sie zu Ihrem Vater im Verborgenen, recht gläubig, recht innig und vertrauend! Es steht in der Bibel, daß das Gebet des Gerechten Berge zu versetzen vermöge. Bete Sie also, anstatt zu betteln, und ich bin überzeugt, daß er Ihr helfen wird.«

»Aber wie soll er mir denn helfen? Doch durch Menschen. Gott kommt nicht mehr auf die Erde herab!«

»Warum nicht? Er kommt auch heute noch. Ich kann, ich darf Ihr nichts geben; ich darf Gott die Freude nicht verderben. Bete Sie, und dann wird er selbst kommen und Ihr helfen, oder er wird Ihr einen seiner Engel senden!«

Da ging ein eigenthümliches Zucken über ihr erfrorenes, blindheitsstarres Gesicht. Sie biß die Zähne zusammen und krümmte die Finger, als ob sie eine Faust machen wolle.


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»Gott, mein Gott!« sagte sie. »Hier duftet es nach Braten und Speck, nach Wein und Delicatessen, und ich soll hungrig fortgehen! Denken Sie daran, Herr Pastor, daß wir heute auch gesungen haben:

»Trotz den Feinden! Trotz den Drachen!
Ich kann ihre Macht verlachen!
Trotz dem schweren Kreuzesjoch!
Gott, mein Vater, lebet noch!«

»Was will Sie damit sagen?« fragte er.

»Daß ich Sie für einen Engel gehalten habe, den uns Gott sendet. So dachte ich, als ich Ihre Worte hörte. Nun ich aber Ihre Thaten sehe, erkenne ich, daß ich mich geirrt habe. Ich bin eine arme, schwache und blinde Frau; ich habe im Stillen hilflos gehungert und gedürstet, geklagt und geweint; ich habe mich über Niemand beschwert. Heute aber muß es heraus, und wenn ich daran sterben und untergehen soll!«

»Ah, Sie will sich beschweren? Über wen denn?«

»Über die Wölfe, die in Schafskleidern zu uns kommen. Es giebt einen guten Gott, der helfen will, aber seine und unsere größten Feinde sind Die, welche seine Worte im Munde führen, aber im Herzen wie die Teufel denken. Das sind die Feinde und die Drachen, von denen wir gesungen haben!«

»Was! Sie raisonnirt!« rief er zornig.

»Ja,« antwortete sie. »Ein solcher Feind, ein solcher Drache sind auch Sie! Aber Gott, mein Vater, lebet noch! Er wird einen Boten senden, der Sie zertritt, wie der Erzengel den Teufel, wie der heilige Georg den Drachen! Das ist es, was ich sagen will. Und nun will ich gehen und weiter hungern!«

Die Worte brachten eine allgemeine Aufregung hervor.

»Welche Unverschämtheit! Freches Weib!« ertönte es rund um den Tisch herum.

»Werft sie hinaus!« gebot der fromme Schuster, indem er seine Hand gegen sie ausstreckte, wie der alttestamentliche Richter über die dem Verderben geweihte Feindesstadt.

Da aber erhob sich der Pfarrer von seinem Stuhle, ergriff die Frau beim Arme und sagte:

»Warten Sie, liebe Frau Löffler! Wer Sie in dieser Weise fortjagt, der treibt auch mich von dannen!«

Er griff nach seinem Hute.

»Was! Sie wollen doch nicht etwa gehen?« fragte Seidelmann.

»Allerdings!«

»Wegen dieses Weibes?«

»Ja. Ich habe Ihnen nämlich zu sagen, meine Herren, daß ihr bereits geholfen ist. Ich werde sie nach meiner Wohnung führen. Ich bin zwar nicht ein Vorsteher der Brüder und Schwestern der Seligkeit; ich bin nur ein arm besoldeter Pfarrer, aber ein Stückchen Brod und ein Schälchen warmen Kaffee habe ich für diese Hungernde doch übrig.«


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»Sie greifen Gott vor!« rief der Schuster.

»Ich hoffe, daß er es mir vergeben wird. Übrigens widersprechen Sie sich ja selbst. Sie haben heute für die Nothleidenden eingesammelt. Darf ich vielleicht fragen, wie viel diese Sammlung ergeben hat?«

»Wir sind Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Sie sind weder ein Mitglied unserer Gesellschaft, noch wurden Sie von der Obrigkeit eingesetzt, die Verhältnisse unserer Casse zu controlliren!«

»Wohl. Aber immer widersprechen Sie sich doch! Warum sammeln Sie, wenn Sie jetzt behaupten, daß man mit Wohlthaten dem Herrn vorgreife?«

»Gottes Befehl wird schon an uns ergehen!«

»Wie und auf welche Weise gedenken Sie solche Befehle von Gott zu empfangen?«

»Durch die Stimme unseres Herzens.«

»Nun gut, so lassen Sie Ihr Herz für diese Frau sprechen, und geben Sie ihr einen Theil der Summe, welche Sie heute eingesammelt haben!«

»Das geht nicht. Wir wirken im Verborgenen. Kein Mensch, der Etwas von uns empfängt, darf wissen, von wem es ist. Christus gebietet ja: Laß Deine linke Hand nicht wissen, was die rechte thut!«

»Sie gebrauchen da dieses Christuswort auf eine vollständig verkehrte Weise. Und sodann: Wenn Sie nur im Verborgenen wohlthun, geben Sie wahrscheinlich auch keinem Menschen Rechnung über Ihren Cassenstand. Ich warne Sie sehr vor der Verantwortung! Unsere allerärmsten Leute haben ihre letzten Kreuzer hergegeben. Es wäre eine fürchterliche Sünde, diese Scherflein anders anzuwenden, als die Spender gedacht haben!«

Da trat der Schuster auf den Pfarrer zu und sagte:

»Herr Pastor, haben Sie heute meinen Vortrag gehört?«

»Ja. Jedenfalls haben Sie gesehen, daß ich anwesend war!«

»So haben Sie wohl auch bemerkt, daß ich wenigstens ein ebenso guter Redner bin wie Sie. Sie sind mir auf keinen Fall überlegen. Ich bin ein Christ, aber Sie gehören nicht zu unserem Vereine. Sie haben hier kein Wort zu sprechen.«

»Sie sind ein Christ, wie Sie sagen, ich aber bin ein christlicher Seelsorger; als solcher habe ich die heilige Pflicht, Sie zu warnen, wenn ich Sie in Gefahr sehe. Übrigens sind wir einstweilen fertig. Für diese Frau ist gesorgt.«

Seidelmann, der Kaufmann, der sich mit dem Priester doch nicht gern verfeinden wollte, näherte sich und fragte:

»Sie wollen sie doch nicht für immer bei sich behalten?«

»Nein, das ist nicht nöthig. Aber ich werde dafür sorgen, daß die Bewohner des Armenhauses nicht mehr zu betteln und zu hungern brauchen.«

»Na, na, Herr Pfarrer! Wie wollten Sie das anfangen? Unsere Gemeinde ist zu arm, als daß sie mehr thun könnte, als bisher.«

Es war ein wirklich seliges Lächeln, welches sich über das Gesicht des braven Geistlichen breitete, als er jetzt antwortete:


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»O, ich habe Geld!«

»Sie? Sie sind ja arm, soviel ich weiß!«

»Das bin ich auch; aber es hat sich ein mildthätiges Herz gefunden, von dem ich eine Summe für unser Armenhaus eingehändigt bekommen habe.«

»Sapperlot! Das wäre! Wie viel?« fragte da rasch der Schuster.

»Ich durfte mich um Ihre Casse nicht bekümmern, mein Herr; ich bitte, auch mit der meinigen machen zu können, was mir beliebt.«

»O, das steht anders. Bei mir handelt es sich um die Casse eines Vereins, bei Ihnen aber um eine communale Angelegenheit. Mein Bruder, der Herr Kaufmann Seidelmann hier, hat das Armenwesen des hiesigen Ortes zu leiten. Unter seiner Direction befindet sich auch das Armenhaus. Sie werden ihm das, was Ihnen eingehändigt wurde, auszuliefern haben.«

»Wohl nicht. Der Geber hat mir die Summe in Verwaltung gegeben; nur ich habe zu bestimmen, in welcher Weise über sie verfügt werden soll.«

»So ist diesem Geber das Gemeindestatut unbekannt. Wer ist der Mann?«

»Auch hierüber bin ich Ihnen keine Auskunft schuldig; aber aus Höflichkeit gegen die übrigen Herren will ich Ihnen sagen, daß heute der Fürst des Elendes bei mir gewesen ist.«

Nach diesen Worten herrschte einige Augenblicke lang tiefe Stille im Zimmer. Diesen Namen hatte Niemand zu hören erwartet. Die Seidelmanns waren Beide bleich geworden. Sie warfen einander einen sehr bezeichnenden Blick zu, und dann endlich sagte der Kaufmann:

»Der Fürst des Elendes? Unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Der ist ja in der Residenz!«

»Sollten Sie wirklich nicht gelesen haben, daß er seit vorgestern und gestern uns sehr nahe gerückt ist?«

»Es hat sich Jemand einen Spaß gemacht!«

»Das glaube ich nicht annehmen zu dürfen. Eines einfachen Spaßes wegen giebt man nicht Tausende aus.«

»Tausende? Alle Teufel! Soviel haben Sie erhalten?«

»Ja.«

»So muß es allerdings Ernst sein. Wie sah er aus?«

»Ich weiß nicht, ob ich befugt bin, Antwort auf diese Frage zu geben. Der edle Spender hat mir nicht ausdrücklich gesagt, daß ich sein Äußeres beschreiben darf.«

»Aber ausdrücklich verboten hat er es auch nicht?« fragte Seidelmann mit auffälliger Dringlichkeit.

»Nein.«

»Nun also, wie sah er aus?«

»Ich werde doch für jetzt noch davon schweigen. Ich werde mir diese Angelegenheit schnell, aber reiflich überlegen, um in der nächsten Gemeinderathssitzung meine Vorlagen machen zu können. Gute Nacht, meine Herren!«


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Er entfernte sich rasch, indem er die Blinde beim Arme nahm und hinausführte. Hinter ihm erschollen laute, lebhafte Stimmen. Mit der Erwähnung des Fürsten des Elendes war ein Thema zur Sprache gekommen, wie so interessant es gewiß kein zweites gab. Dasselbe wurde denn auch auf das Ausführlichste besprochen. Ein Jeder hatte Etwas, was die Anderen noch nicht wußten, von diesem räthselhaften Wesen gehört, und das mußte natürlich Alles erzählt werden.

Darüber kehrte Fritz von seinem Ausgange zurück. Er hatte sich natürlich auf seinem Zimmer wieder aus= und umgezogen. Auch er war nicht wenig betreten darüber, daß der Fürst des Elendes sich im Orte befunden habe oder sich vielleicht sogar noch in demselben befinde. Doch war es ihm unangenehm, sich an diesem Gespräche zu betheiligen, und darum fragte er mit lauter Stimme:

»Apropos, meine Herren, wissen Sie bereits, das uns morgen ein seltener Kunstgenuß bevorsteht?«

Alle wendeten sich zu ihm und fragten ihn, welcher Kunstgenuß dies wohl sei.

»Es ist eine Gymnastikertruppe angekommen, nämlich in der Nachbarstadt. Die Leute wollen über die Grenze, vorher aber erst eine Vorstellung geben, jedenfalls, um sich das Reisegeld zu verschaffen.«

»Das wird ihnen schwer fallen, zumal bei den jetzigen Zeiten.«

»Warum? Der Pöbel hat allerdings kein Geld zu so Etwas. Hier bei uns sind solche Vorstellungen äußerst selten, und so ist es die Pflicht Derer, welche die Mittel dazu haben, diese Leute zu unterstützen. Ich werde mir die Sache mit ansehen. Du auch, Vater?«

»Ja. Wann ist es?«

»Morgen Abend. Und Du, Onkel?«

»Die Freuden der Welt sind nicht die meinigen. Trachtet am Ersten nach dem Reiche Gottes! Aber vielleicht gelingt es mir, den sogenannten Künstlern, welche doch nur verlorene Seelen sind, ein echtes, rechtes Missionswort an das Herz zu legen. Ich gehe mit, denn ich denke an die Zeilen: Ach Gott, wie muß das Glück erfreun, der Retter einer Seele sein!«

Auch Eduard Hauser hatte mit seinem Vater sich den Vortrag mit angehört. Auf dem Nachhauseweg fragte er diesen:

»Was sagst Du dazu, Vater?«

»Ein rauschendes Wasser, welches keine Mühle treibt. Es glitzert und funkelt im Sonnenlichte, aber es ist nichts nütze.«

»Du hast Recht. Ich kann diesen Schuster nicht leiden, nicht ausstehen. Es ist mir immer, als sei ich, sobald ich ihn sehe, der Vogel, der von einer Klapperschlange angeblickt wird.«

»Er ist ein Heuchler, ein Gottloser. Er mag seine Predigten seinem Bruder, seinem Neffen und dem Baron halten. Die nur allein sind schuld an unserem Elende. Hast Du Geld gegeben?«

»Zehn Kreuzer.«


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»Ich auch. Er guckte Einen so an, daß man es gar nicht wagen konnte, gar nichts oder nur einen Kreuzer zu geben. Und wir brauchen das Geld ja selbst so sehr nothwendig.«

»Gott wird helfen, Vater, wenn auch der Schuster nicht!«

»Was thust Du heute Abend noch? Gehst Du vielleicht zum Nachbarn hinüber?«

Eduard schwieg ein Weilchen und antwortete dann:

»Nein.«

Dieses kleine Wörtchen kam so gepreßt zwischen seinen Lippen hervor, daß es dem Vater auffiel.

»Nicht?« fragte er. »Warum nicht? Du bist doch sonst alle Abende drüben gewesen.«

»Er sieht es nicht mehr gern!«

»Ja, ich habe es bemerkt, als ich Kohlen und Holz von ihm borgte. Höre, Eduard, ich glaube zu wissen, weßhalb!«

»Vielleicht irrst Du Dich!«

»O nein. Er wird denken, daß Du Absicht auf das Engelchen hast.«

»Er mag es denken!«

Das stieß der junge Mann so rasch und rauh hervor, daß sein Vater sofort fragte:

»Wie kommst Du mir vor? Ich selbst und auch die Mutter haben gedacht, daß Du mit ihr einverstanden bist. Ist das etwa nicht der Fall?«

»Nein. Fällt mir gar nicht ein!«

»Na, na! Das Engelchen ist ein gutes und braves Mädchen. Sie wäre uns als Schwiegertochter recht gewesen. Was hat es denn gegeben, daß Du so unwirsch auf sie bist?«

»Hm! Nichts als nur Eins. Aber lassen wir das, Vater! Es muß überwunden werden, und dann denke ich nicht mehr daran.«

»Ah! Sie will Dich nicht? Oder hat sie gar bereits einen Anderen? Nun, ich menge mich nicht gern in solche Angelegenheiten, aber ich will Dir sagen, daß Gott alles Herzeleid zu stillen vermag. Hat man wo sein ganzes Herz gelassen, so mag es wehe thun, wenn es verschmäht wird; aber die menschliche Liebe ist doch nur ein geringes Abbild der Liebe Gottes, und der heilige Apostel sagt ja: An Ihm laßt Euch genügen. Und irgendwo anders, ich glaube, es ist in den Psalmen, sagt die heilige Schrift: Wenn ich nur Dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde, und wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist Du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil! Kommst Du mit herein zu uns, Eduard?«

Sie waren, als der Vater diese Worte sagte, bei ihrem Häuschen angekommen.

»Nein, Vater. Ich gehe in den Wald.«

»In den Wald? Was hast Du da zu thun?«

Er fragte das im Tone des Erstaunens. Er hätte beinahe ein Miß=


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trauen hegen mögen, wenn er es überhaupt für möglich gehalten hätte, daß sein guter, wohlgerathener Sohn falsche Wege gehen könne.

»Ich habe gar nicht daran gedacht, daß ich des Försters Schlitten noch hier habe. Ich will ihn hinausschaffen.«

»Warum heute Abend noch? Es ist ja morgen am Tage noch Zeit!«

»Laß mich, Vater! Wenn ich so allein mit mir bin, kann ich meinen Gedanken ganz anders nachhängen.«

»Ganz wie Du willst. Nur laß uns nicht zu lange auf Dich warten. Bei diesem Schnee ist bald ein Unglück geschehen.«

Der Schlitten stand hinter dem Häuschen. Eduard spannte sich vor und fuhr zum Orte hinaus.

Arndt war direct aus der Versammlung nach Hause gegangen. In der Försterei wartete das Abendbrot auf ihn. Als sie bei demselben saßen, meinte der alte Wunderlich:

»Nun, was hat er vorgebracht?«

»Nichts Gescheites und Positives. Ich glaube sehr, daß es auf eine Geldprellerei abgesehen ist.«

»Das mag möglich sein. Diesem Hallunken ist Alles zuzutrauen. Er hat wohl Missionsgelder eingesammelt?«

»Ja.«

»So soll der Teufel den Kerl holen, wenn er die armen Hungerleider um ihre Kreuzer prellt. Ich hänge ihn lebendig bei den Beinen auf, mit dem Kopfe in einen Ameisenhaufen!«

»Das würde Ihnen jetzt im Winter schwer werden, lieber Vetter!«

»So warte ich den Sommer ab; aber hängen muß er! Wohin?«

Diese Frage war an Arndt gerichtet, der sich vom Tische erhob.

»In meine Stube,« antwortete er. »Bekümmert Euch nicht um mich. Es ist möglich, daß ich einmal in den Wald gehe.«

Draußen auf dem Flur begegnete ihm Eduard, welcher dem Förster melden wollte, daß er den Schlitten gebracht habe. Er dankte auf den Gruß, den ihm der junge Mann sagte, und stieg dann die Treppe empor. Droben in seiner Stube trat er an das Fenster und blickte hinaus auf die schneehelle, winterliche Landschaft. Er mußte etwas Auffälliges entdeckt haben, denn er murmelte:

»Was ist das? Hm! Täusche ich mich etwa?«

Er trat ein Wenig vom Fenster zurück, um auf keinen Fall gesehen zu werden, und blickte wieder hinaus.

»Ja, das ist eine menschliche Gestalt, in ein weißes Betttuch gehüllt!« fuhr er fort. »Der Kerl scheint das Forsthaus zu beobachten. Oder sollte er vielleicht auf den Eduard Hauser warten? Wollen doch einmal sehen!«

Er öffnete rasch einen Koffer, steckte ein Betttuch und einige Bärte zu sich und nahm auch zwei eigenthümliche Gegenstände hervor, über deren Bestimmung der Uneingeweihte sicherlich nicht in's Klare gekommen wäre. Es waren nämlich zwei Schneeschuhe, nicht so lang wie die in Norwegen gebräuchlichen, aber desto breiter.


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Er eilte hinab, trat durch die vordere Thür und legte da die Schneeschuhe an, mit deren Hilfe man in größter Geschwindigkeit, völlig geräuschlos und ohne eine auffallende Spur zu hinterlassen, über den tiefsten Schnee hinwegzugleiten vermag.

Dann wickelte er das weiße Betttuch um sich und setzte sich in Bewegung.So schnell wie auf Schlittschuhen schlug er einen weiten Bogen um das Forsthaus, in der Absicht, hinter die Gestalt zu gelangen, die er bemerkt hatte.

Hier war der Wald nicht dicht. Der Schnee lag selbst zwischen den Bäumen über eine Elle hoch; darum kam Arndt außerordentlich schnell vorwärts. Als er den Ort erreichte, nach dem er getrachtet hatte, nahm er das Tuch wieder ab. Dieses gewährte auf freiem Feld mehr Schutz, als zwischen den Bäumen. Im freien Felde war es nicht von dem Schnee zu unterscheiden, im Walde aber stach es so von den dunklen Baumstämmen ab, daß der Träger Gefahr lief, bemerkt zu werden. Dies war ja auch schuld gewesen, daß Arndt die Gestalt bemerkt hatte.

Jetzt duckte er sich nieder und bewegte sich nur sehr langsam und vorsichtig weiter. Ja, da stand sie vor ihm, die Gestalt, bis über den Kopf in das Tuch gehüllt, bewegungslos.

»Er scheint auf Hauser zu warten,« dachte Arndt. »Ah, das Gesicht ist verhüllt! Sollte es der Waldkönig sein? Ich darf ihn auf keinen Fall aus dem Auge lassen. Will er mit Hauser reden, so thut er es nicht in der Nähe des Forsthauses, sondern er wird warten, bis der Bursche aus dem Hause tritt und sich dann unter den Bäumen schnell parallel mit der Straße hinabziehen, um dann plötzlich auf diese Letztere hinauszutreten und Hauser zu überraschen. In diesem Falle muß ich aber hören, was er mit ihm zu sprechen hat!«

Seine Vermuthung erwies sich als ganz richtig. Als Eduard nach einiger Zeit drüben aus der Thüre des Forsthauses trat, setzte sich die Gestalt in Bewegung, in weiten, schnellen Schritten durch den tiefen Schnee watend. Arndt folgte ihm, indem er hinter jedem Baume vorsichtig Deckung suchte. Er konnte nicht bemerkt werden, da die hohen Stiefel des Anderen in dem tiefen Schnee ein nicht unbeträchtliches Geräusch hervorbrachten.

Eduard Hauser hatte keine Ahnung davon, daß er beobachtet werde. Er schritt langsam und in Gedanken versunken die Straße hinab, bis ihn plötzlich ein lautes, barsches Halt! aus seinem düsteren Sinnen emporschreckte. Er blieb stehen. Rechts aus dem Walde kam eine schwarze Gestalt über den zugewehten Straßengraben gesprungen und stellte sich vor ihn.

Er erschrak und trat einen Schritt zurück. Die Gestalt war mit einer schwarzen Maske versehen und sah ganz genau so aus, wie man den Pascherkönig zu beschreiben pflegte.

»Was machst Du hier?« fragte der Verhüllte, welcher allerdings jetzt sein Betttuch abgeworfen und hinter sich liegen gelassen hatte.

Seine Stimme klang dumpf und tief unter der Larve hervor. Selbst


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ein Bekannter hätte ihn an derselben nicht zu erkennen vermocht. Eduard antwortete furchtlos:

»Nichts. Ich gehe nach Hause.«

»Wo warst Du?«

»Beim Förster.«

»Was hast Du denn da zu thun?«

»Was geht denn Dich das an?«

»Oho, sehr viel! Kennst Du mich?«

»Nein.«

»Ich bin der Waldkönig und muß wissen, was in meinem Reviere geschieht. Was? Du erschrickst nicht vor mir?«

»Nein. Ich habe ein gutes Gewissen.«

»Wer bist Du?«

»Auch das geht Dich nichts an!«

»Bursche, rede manierlicher, sonst sollst Du bald begreifen, wie man mit mir umzugehen hat! Ich kenne Dich. Du bist der Hausers Eduard. Du arbeitest für den Seidelmann?«

»Jetzt nicht mehr.«

»Ah! Hat er Dich ab gelohnt?«

»Ja.«

»Das ist recht! Ich habe längst ein Auge auf Dich gehabt. Du mußt in meine Dienste treten.«

»Ich muß? Wer sagt das?«

»Ich!«

»So sage ich Dir, daß Du mir nichts zu befehlen hast. Von einem Müssen ist hier gar keine Rede!«

»Nur nicht so hitzig, mein Junge! Hast Du vielleicht einmal gehört, wie wenig ich mir aus einem Menschenleben mache?«

»Ja; Du bist ein gottvergessener Bösewicht!«

»Hallunke! Wenn ich Dir nun für diese Beleidigung eine Kugel durch den Kopf jage!«

»So ist's aus mit mir, weiter nichts! Was mache ich mir daraus! Übrigens scheinst Du gar nicht daran zu denken, daß man sich seiner Haut wehren kann!«

»Gegenwehr würde Deine Lage nur verschlimmern. Hier rechts und links stehen meine Leute, die ihre Gewehre auf Dich gerichtet haben. Also, willst Du in meine Dienste treten?«

»Nein!«

»Warum nicht?«

»Weil ich ein ehrlicher Kerl bin, aber kein Spitzbube!«

»Ein dummer Mensch bist Du, aber kein gescheidter Kerl! Hältst Du denn den Schmuggel für ein Verbrechen?«

»Ja.«

»Haha! Warum denn?«


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»Weil er vom Gesetze verboten ist.«

»Einfaltspinsel! Warum haben sie diese Gesetze gemacht, um unser gutes Geld in ihre Taschen zu stecken. Ist es etwa Recht, daß das Fleisch, das Leder und andere Dinge hier an einem Punkte doppelt so theuer sind, als eine Viertelstunde davon? Das ist nicht Natur, das will Gott nicht, sondern die Menschen haben es gemacht.«

»So haben sie ein Recht dazu. Der König versteht mehr davon als Du und ich. Er wird schon wissen, was er thut.«

»Nichts weiß er, gar nichts. Nur ärgern will er uns!«

»Laß Dich nicht auslachen! Dem König wird viel daran gelegen sein, ob Du Dich ärgerst oder nicht! Er will haben, daß wir uns Alles, was wir machen können, selbst machen, und nicht das Geld dafür aus dem Lande hinaustragen.«

»Schau, schau, was Du für ein gescheidter Kerl bist! Na, das ist mir lieb, denn solche Leute brauche ich! Ich werde Dich in meine Dienste nehmen!«

»Das magst Du nur bleiben lassen! Mich bekommst Du nicht!«

»Oh, ich werde Dich zwingen!«

»Versuch's!«

»Ich habe schon manchen anderen Widerspenstigen gezwungen, und dann ist er ein ganz tüchtiger Kerl geworden.«

»Ein Spitzbube ist er geworden! Laß mich! Ich muß nach Hause gehen!«

»Warte noch ein Weilchen! Erst müssen wir fertig sein. Du weißt, daß ich Herr über Leben und Tod bin?«

»Dieses Recht hat Dir Keiner gegeben!«

»So habe ich es mir genommen und werde es ausüben, so lange es mir gefällt. Ich gebe Dir drei Tage Bedenkzeit. Sagst Du bis dahin nicht Ja, so lasse ich Dich erschießen!«

»Das erschreckt mich nicht. Schieße lieber gleich zu!«

»Gut, so lasse ich Deine Eltern und Geschwister sterben!«

»So bist Du der Mörder und nicht ich bin es!«

»Oder ich erschieße Dir die Liebste!«

»Ich habe keine!«

»Oho! Hofmanns Angelica!«

»Die geht mich nichts an!«

Da legte der Waldkönig seine Hand auf die Schulter Eduards und fuhr fort:

»Mensch, bist Du denn nicht gescheidt? Hast Du noch nicht gehört, wie viel bei der Pascherei verdient wird?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nun, Du bist kein unebener Kerl, und ich will Dir sagen, daß so Einer, wie Du, sich jährlich wohl an die dreitausend Gulden verdienen kann!«

»Das ist Lüge!«


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