Der Weg zum Glück - Teil 36

Lieferung 36

Karl May

2. April 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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»So möchte ich gar bezweifeln, daß Sie Talent besitzen. Schade, daß man Ihre Pastellzeichnung nicht ansehen darf!«

Er warf einen fast bittenden Blick auf den jungen Menschen. Der alte Heiner sagte daher:

»Na, Hanns, einmal ist halt doch nicht immer. Laß doch dem Herrn das Bildwerk sehen!«

»Nein, Vatern, das geht nicht!«

»Warum denn nicht?«

»Weils noch nicht fertig ist. Ich muß mich ja schämen. Es ist einstweilen nur so dera Entwurfen da, und dera Elephant und das Flußpferd und die beiden Löwen sind ausgeführt. Die Dum- und Talebpalmen und die Talha und der Affenbrodbaum haben noch gar keine Schatten, und dera Geist, welcher den Fischern hinabzieht in das Wassern, ist erst nur in dera Contur angeben.«

»So weit ists schon fertig!« sagte der König. »Nun, da kann man ja doch bereits sagen, ob es nach der Vollendung Werth haben werde oder nicht!«

»Ja, dazu muß man aberst ein Kenner sein!«

Er sagte das in einem so naiv eindringlichen und auch ein Wenig selbstbewußten Tone, daß der König ein fröhliches, kurzes Lachen nicht unterdrücken konnte.

»Nun,« sagte er, »es giebt eine ganze Anzahl von Künstlern, welche mich für einen Kenner halten!«

»Obs aberst auch wahr ist?«

»Ich denke, diese Herren werden Recht haben.«

»So? Wie heißens denn diese Herren?«

»Ich will nur Lehnbach, Piloty, Kaulbach und Defregger nennen.«

Hanns fuhr empor, so weit seine Schwäche es ihm zuließ, und rief überrascht:

»O, Jerum! Das sind ja grad die berühmtesten!«

»Haben Sie bereits von ihnen gehört?«

»In denen Büchern, die ich mir borgt hab, hat gar viel von ihnen gestanden, und dera Herr Lehrern hat dann von ihnen erzählt. Also diese Künstlern sind Ihnen bekannt?

»Persönlich sogar!«

»Dann sinds halt ein gar glücklicher Herr! Wanns diese Leute kennen, so müssens vielleicht wohl aus dem München sein?«

»Ja, ich bin aus der Hauptstadt.«

»So möcht ich Sie beneiden. Wann ich mir mal so eine Gemäldesammlung anschauen, oderst gar mal mit so einem Künstlern reden könnt, gleich ein Jahr oder auch zwei thät ich von meinem Leben hingeben!«

Der König war tief gerührt von der Begeisterung des kranken Jünglings. Er sagte in mildem Tone:

»Vielleicht läßt es sich bewerkstelligen, daß dieser Wunsch Ihnen erfüllt werden kann.«


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»Nein; das ist leidern gar nicht möglich. Ich bin ja krank und kann nicht aufi von meinem Platz. Ich muß die größt Anstrengung machen, wenn ich mal in dera Stuben umhergehen will. Und selbst wann ich gesund wär, so sind wir doch so sehr arm. Ich könnt das Geldl gar nimmer derschwingen, was man braucht, um nach dem München zu fahren.«

»So wenden Sie sich doch an einen wohlhabenden Mann! Man hört ja so oft, daß ein Reicher einen Armen unterstützt hat.«

»Das klingt schon ganz gut und ganz schön. Aberst die Sache hat einen Haken oder gar zwei.«

»Welche?«

»Zunächst bin ich arm, aberst betteln könnt ich wohl nimmer, und sodann, wann ich auch bitten möcht, so wüßt ich doch gar nicht bei wem. Ich kenn nur einen einzig reichen Mann. Das ist dera Silberbauern. Von dem möcht ich keinen Pfennig haben, selbst wann ich darum sterben müßt.«

»Das glaube ich Ihnen. Aber es giebt doch noch Andere.«

»Die kennen wir nicht.«

»Nicht? Wirklich nicht? Hm! Einen kennen Sie doch.«

»Einen? Wer sollt das sein?«

»Der, welcher der Vater aller seiner Landeskinder ist und der allen Bedrängten und Hilfsbedürftigen gern eine Hand der Unterstützung bietet.«

»Landeskindern? Also meinens wohl unsern Landesvater, den König?«

»Ja.«

»O, der ist wohl gut. Ich hab ihn noch nie sehen, aber ich weiß, daß er ein gar milder und gütiger und barmherziger König ist. Das ganze Land weiß es, und darum halt ein jeder brave Bayer gar große Stücken auf seinen Landesherrn. Aberst wissens, das hat auch grad wiedern zwei Haken.«

»So! Gleich zwei? Welche sind das?«

»Zuerst weiß ich nicht, ob er grad auch mir helfen thät, und sodann weiß ich sehr wohl, daß er so gar sehr Vielen helfen muß, daß es eine Sünden und Unverschämtheiten war, wann grad dera dumme Elephantenhanns ihn auch belästigen wollt. Da sind noch gar Anderen da! Odern nicht?«

»Nein. Ein jeder Unterthan hat dasselbe Recht, sich an seinen König zu wenden.«

»Meinens? Hm! Wissens, dera Herr Lehrern hat auch davon sprochen, daß unser gutern König vielleicht ein Einsehen haben möcht, wann er wissen thät, daß ich arm bin und doch eine gute Anlage zum Malen hab.«

»So, hat er das gesagt? Das freut mich von ihm.«

»Ja, ich glaub gar, daß er mit dem Pastellbild eine gewisse Absichten hat, die sich auf den König bezieht.«

»Will er es ihm vielleicht zusenden?«

»Es ist möglich, daß er daran denkt.«

»Und würden Sie Ihre Einwilligung dazu geben?«

»Wenn ich halt wüßt, daß es dem Majestäten nicht gar so viel Störung machen thät, so wollt ich gar wohl einwilligen, denn unsera guter Ludwigen ist


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wohl dera Einzigen, vor dem ich mich nicht schämen thät. Darum geb ich mir halt eine große Mühen jetzund, und darum solls auch Keiner sehen.«

»Auch ich nicht?«

»Auch Sie nicht.«

»Es freut mich, daß Sie so einen festen Willen haben. Aber es wäre wohl sehr gerathen, es mir einmal zu zeigen. Ich kann Ihnen auch erklären, weshalb.«

»Nun, warum?«

»Wenn Sie Ihr Werk dem Könige senden, so wird er es doch immer erst einigen hervorragenden Künstlern zeigen, um auf deren Ansichten zu hören. Diese Herren aber sind Bekannte von mir. Könnte ich nun ihr Bild sehen und vorher mit ihnen von demselben sprechen, so würde das nur vortheilhaft für Sie sein.«

»Ja, hörst, dera Herr hat Recht!« fiel der Finkenheiner ein. »Zeigs ihm also doch mal, Hanns!

»Nein, nun grad erst recht nicht,« entgegnete der junge Mann, dessen Gesicht sehr ernst geworden war.

»Aberst warum nicht?«

»Weil ich meinen König nicht täuschen will.«

»Was fällt Dir ein! Es ist ja gar kein Gedank dran, ihn zu täuschen.«

»O, freilich! Was sonsten? Jetzund zeig ich dem Herrn da mein Bild. Aus Mitleid giebt er den Künstlern ein gutes Worten, und diese geben nachhero wiederum dem König aus Mitleid mit mir und aus Freundschaften mit dem Herrn da ein guts Wörtle. Nachhero sagt dera König Ja. Niemand hat ihn täuschen wollt, und dennoch ist er täuscht worden.«

»Bist ein dummer Talk!«

»Nein; ich hab Recht. Ists nicht so?«

Diese Frage war an den König gerichtet. Dieser streckte ihm die Hand entgegen und antwortete:

»Ja, Sie haben Recht. Ich sehe, daß Sie trotz Ihrer Jugend ein sehr reges Ehrgefühl besitzen. Damit haben Sie sich meine Hochachtung verdient, und ich will sehen, ob ich nicht selbst Etwas für Sie thun kann, auch ohne daß wir den König belästigen.«

»Sie? Könnens denn auch was thun für mich, für den Elephantenhanns, dens hier Alle auslachen?«

Der König nickte ihm zuversichtlich lächelnd zu.

»Trauen Sie mir gar nichts zu?«

»O, gar wohl. Ein guter Herrn sinds auf alle Fällen. Wann man Ihnen so ins Angesichten schaut, so hat man zuerst eine kleine Angsten vor Ihnen, denn Sie haben halt ein gar ernst Anschauen; aberst wenn man länger in Ihre Augen geschaut hat, und wanns nachher gesprochen haben, da geht Einem das Herz auf, denn man ist Ihnen recht gut worden inzwischen. So ists, wanns das wissen wollen.«

»Wenn Sie das ehrlich gemeint haben, so freue ich mich von Herzen, daß ich Ihr Vertrauen besitze.«


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»Ja, ehrlich hab ichs meint. Sie haben ein Aug, ein Aug, so tief und voller Geheimnissen - - wissens, grad so wie dera Tsad-See, den ich malen soll. Da sind auch Geistern und Nixen und allerhand Räthseln darinnen, und an seinem Ufer stehen tausend und abertausend Bäumen und Sträuchern, die sich an seinem Wasser derlaben und derquicken. So ists, ganz so!«

Der König war fast betroffen über die Wahrheit, welche in diesem Vergleiche lag. Er betrachtete den jungen Mann mit einem seiner mächtigen Blicke, die Keiner, auf dem das königliche Auge einmal geruht hatte, wieder vergessen kann, und sagte:

»Dieser Vergleich überzeugt mich, daß Sie eine tief und künstlerisch beanlagte Seele besitzen. Ich werde mich Ihrer annehmen.«

Ueber das bleiche Gesicht des Kranken ging ein sehr glückliches Lächeln, aber dennoch fragte er mit fast neckischer Betonung:

»Na aberst, wie werdns das anfangen?«

»Indem ich für Sie sorge.«

»Das könnens nicht. Das ist gar schwer.«

»Ja, es mag schwer sein, denn diese Sorge muß sich sowohl auf Ihren Geist als auch auf Ihren kranken Körper erstrecken. Das Letztere ist vielleicht noch schwieriger als das Erstere. Ich habe gehört, daß die Aerzte der Ansicht seien, nur eine Klimaveränderung könne Ihnen Heilung bringen.«

»Freilich wohl. Ich soll nach dem Süden.«

Er sagte das traurig, im Tone schmerzlicher Entsagung.

»Wohin?« fragte der König.

»Das hat Keiner sagt. Was solls auch nützen, wanns mir ein Land nennen? Sie wissens halt doch, daß ich im ganzen Leben nicht hinkommen kann.«

»Nun, wenn es durchaus nothwendig ist, daß sie unser Klima verlassen, so bin ich wohl erbietig, Ihnen das Fahrgeld auf der Eisenbahn zu bezahlen,« scherzte der König.

»O weh! Das könnens gar leicht sagen!«

»So? Ich halte es nicht für leicht.«

»Schwer ists halt nicht. Was kanns eintragen, wann ich hinfahren kann? Ich muß doch dort bleiben, und dazu gehört wohl gar ein größeres Geldl als für nur das Hinreisen erforderlich ist.«

»Das ist sehr richtig. Und was sagen Sie dazu, wenn ich Ihnen verspreche, auch das zu bezahlen?«

Hanns blickte ihn mit zaghaft forschenden Augen an. Sein Blick umschleierte sich feucht.

»Hörens,« bat er mit gesenkter Stimme, »machens keinen Scherz mit mir. Man darf einem Kranken nicht den Arzt und die Arzneien zeigen und ihn nachhero auf dem Schmerzenslager liegen lassen; das wäre eine gar große Grausamkeiten!«

»Gott soll mich behüten, grausam gegen Sie zu sein! Nein! Ich will Ihnen sagen, daß ich ziemlich wohlhabend bin. Ich habe keine Kinder; also macht es mich nicht arm, wenn ich für ein fremdes Kind einmal eine kleine


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Summe ausgebe. Zeigen Sie mir Ihr Bild, und dann werde ich Ihnen sagen, ob Sie Anlage zum Künstler besitzen. In diesem Falle werde ich Sie ausbilden lassen. Auf alle Fälle aber, selbst wenn Sie kein Talent für die Malerei besitzen sollten, werde ich dafür sorgen, daß Sie körperlich hergestellt werden, so weit es in der Möglichkeit liegt.«

Die beiden magern, bleichen Hände, welche der Kranke ihm jetzt entgegenstreckte, zitterten heftig.

»Ists wahr? Ists wahr?« fragte er.

»Ja. Ich spreche im Ernste.«

»Vater, Vater!« jubelte Hanns laut auf.

Er biß sich auf die Lippen, um nicht weinen zu müssen. »Hanns, mein lieber Hanns!« rief der Heiner, auf ihn zuspringend und die Arme um ihn schlingend.

»Hasts hört? Hasts deutlich hört?«

»Ja, ja! Du sollst gesund werden! O, Herrgott, wer hätt denken konnt, daß heut so ein großes Glücken einkehren könnt in unsera arme Stuben hier!«

Hanns legte seinen Kopf an das Herz seines Vaters und sagte, auf den König deutend:

»Schau, wie gut er ist! Er weint! Der Herrgott mags ihm vergelten, daß er nur Freudenthränen kennen soll in seinem ganzen Leben!«

Ja, die Augen des Monarchen standen voller Thränen. Er trat an das Fenster und blickte stumm hinaus. Er fühlte ganz und voll das Glück, der Wohlthäter braver Menschen sein zu können. Die Beiden wagten es nicht, ihn in seinem Schweigen zu stören. Sie hielten einander still umschlungen, und erst, als er sich wieder zu ihnen umwendete, trat der Heiner zu ihm, streckte ihm seine Hand entgegen und sagte aus überfließendem Herzen:

»Ich bin nur dera Finkenheiner, ein armer Deixsel, der Aermste wohl unter denen Armen hier; aberst da nehmens meine Hand! Ich muß sie Ihnen geben, sonst thät mirs das Herz abidrucken. Was Sie für meinen Hanns thun wollen, das kann er Ihnen gar nie vergelten, und ich kanns auch nicht. Es giebt nur Einen, der das lohnen kann; das ist dera Herrgott im Himmel droben. Zu dem werden wir halt beten alle Tagen und alle Nächten, daß er seine Hände so über Ihnen halten mag, daß nie kein Leid auf Ihr Haupt herabkommen mag. Er mag der Vergelter sein, hier im Leben und hernach auch droben in dera Ewigkeiten!«

Der König schüttelte ihm tief gerührt die Hand und sagte:

»Ich danke! An Gottes Segen ist Alles gelegen, und ohne seinen mächtigen Schutz ist selbst ein König machtlos und ein Millionär arm. Was den Hanns betrifft, so habe ich bereits die Absicht, einen Arzt kommen zu lassen, welcher den Balzerbauer untersuchen soll. Dieser Herr ist einer der berühmtesten Doctoren, welche wir besitzen, und er wird uns auch ganz genau sagen, was unserm jungen Maler frommt. Ich brauche jetzt eine Person, welche in die Stadt gehen kann, um mir eine Depesche zu besorgen - - -«

»Ich, ich werd das thun,« fiel der Heiner freudig ein. »Ich hab zwar


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nur einen Arm, aberst ich hab meine zwei Beinen, und mit denen werd ich springen, daß es auf dera Erden noch gar keine schnellere Stafetten geben hat als mich.«

»Gut! Vorher aber - - wie steht es nun mit dem Bilde? Darf ich es ansehen?«

»Freilich, freilich! Nicht wahr, Hanns?«

»Das versteht sich ganz von selberst! Hols schnell herbei, Vatern, schnell!«

Der alte Heiner ging hinaus in die Kammer und brachte die Zeichnung herein. Sie war mit einem dünnen Bogen bedeckt. Als der König nach demselben griff, um ihn zu entfernen, ging ein schwerer Seufzer durch die Stube:

»O Gott!«

Hanns hatte ihn ausgestoßen und dabei angstvoll die Hände gefaltet. Der Augenblick war ja da, an welchem entschieden werden solle, ob er Talent besitze oder nicht. Es öffnete sich die Zukunft für ihn, aber welch eine Zukunft!

Der König hörte den leisen Ausruf des Jünglings. Sein Auge mild auf denselben richtend, tröstete er:

»Seien Sie ruhig! Wie diese Prüfung auch ausfallen möge, Ihren Krankenplatz sollen Sie hier auf jeden Fall nicht länger mehr innebehalten. Und nun wollen wir getrost den Schleier lüften!«

Er schlug den Bogen zurück und ließ sein Auge prüfend auf die Zeichnung fallen. Kein Zug seines Gesichtes bewegte sich. Mit zuckenden Wimpern blickte Hanns ihn an. Es wurde ihm Angst, als der König nichts sagte. Der Heiner konnte es nicht aushalten. Er ging hinaus in die Kammer, sank in die Kniee, erhob seinen einen Arm und betete:

»Mein lieber Herrgott, gieb Deinen Segen dazu; gieb ihn, o gieb ihn! Dann will ich alles Herzeleid vergessen, was ich tragen hab, und auch noch mehr, noch viel mehr tragen bis an mein Sterbensend!«

Dann kehrte er in die Stube zurück.

Der König hatte das Bild vom Tisch hinweggenommen. Er hielt es gegen das Licht. Noch immer sagte er kein Wort. Hanns preßte auch die Lippen zusammen. Sie bebten ihm, als ob er unter einem Gesichtskrampf leide.

Endlich, endlich legte der König den Zeichenbogen wieder auf den Tisch und deckte das andere Papier darüber. Der Ernst seines Gesichtes machte einem heiteren, milden Lächeln Platz. Er bemerkte die Angst, mit welcher die Blicke der Beiden auf ihn gerichtet waren, und fragte:

»Das waren jetzt wohl böse Minuten?«

»Ei wohl!« antwortete der Heiner. »Fünf Minuten sinds gewest, volle fünf Minuten! Fast hab ichs nicht aushalten konnt. Mir ist gewest, als ob ich ein Mördern sei, der auf sein Urtheil warten muß. Und dem Hanns wirds nicht gar viel besser gewest sein in seinem Herzen!«

»Nun, ein Todesurtheil ist es glücklicher Weise nicht, was ich zu fällen habe.«

»Gott sei Dank! Also wirds halt gar nicht so sehr schlimm lauten?«

»Nein, sondern im Gegentheil sehr gut, besser wohl als Hanns es erwartet hat.«


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Er trat zu dem Kranken, legte diesem die Hand auf den Kopf und fuhr fort:

»Gott hat Ihnen eine Gabe verliehen, wie nur sehr Wenige sie besitzen. Wenn Ihr Körper erstarkt ist, so daß Sie die Kraft besitzen, welche zu den Anstrengungen, die nothwendig sind, erforderlich ist, so werden Sie bald einen Platz erobern unter Denen, welche eine Zierde der Gesellschaft sind. Ich werde das Meinige thun, Ihnen den Weg zu ebnen und die Anstrengungen zu erleichtern. Von heut an, von dieser Stunde an, sorge ich für Sie.«

Hans holte tief, tief Athem, als ob er dem Erstickungstode nahe sei, stieß einen lauten, schrillen Schrei aus und legte den Kopf hintenüber an die Lehne des Stuhles. Todesbleich und mit geschlossenen Augen lag er da. Er war ohnmächtig geworden.

»Hanns, Hanns! Mein Bub, mein lieber, einziger Bub!« schrie der Heiner auf. »Stirb mir nicht! O mein Herrgott, stirb mir nur nicht!«

Er sprang auf ihn zu und zog den bleichen Kopf an seine Brust.

»Haben Sie keine Angst,« tröstete der König, nachdem er den Puls des Ohnmächtigen befühlt hatte. »Er lebt; es geschieht ihm nichts. Die Freude ist zu groß für seine schwache Constitution gewesen. Er hat nur die Besinnung verloren, wird aber sehr bald wieder zu sich kommen.«

»Meinens? Denkens das wirklich?«

»Ja, ich bin überzeugt davon.«

»Aber wanns sich irren! Wann er mir dennerst stirbt, grad heut, wo alle Sorg und alles Elenden ein End haben soll!«

»Er stirbt nicht. Da öffnet er ja schon die Augen!«

Hanns schlug die Augen auf, warf einen langen Blick in das Gesicht des Königs und schloß sie dann wieder. Ueber sein hageres Gesicht legte sich das Lächeln des Glückes, des Entzückens.

»O Du mein lieber Gott!« flüsterte er. »Wie herrlich das ist! Ich hör die Engel singen, und der Himmel ist offen, und alle Sonnen leuchten herab. Vater, Vater, hörsts auch?«

»Nein, Hanns,« meinte der Heiner. »Wach auf, wach auf! Mir ist so gar sehr bang um Dich!«

»Bang? Warum? Ich bin so selig! Ich soll ein Malern werden dürfen, ein großer Künstlern, eine Zierden von dera Gesellschaften, wie dera Herrn hier sagt hat! O Gott, o Gott! Jetzt weiß ich halt nimmerst, was ich denk und was ich thu. Ich bin wie im Traum und wie in allen Himmeln, und fast wird mirs zu schwer, wieder auf die Erd herab zu steigen. Ich möcht am Liebsten da bleiben, wo es so ein Wonnen giebt und solche Seligkeiten!«

Der König wendete sich ab. Am Fenster faltete er die Hände, blickte empor zum heitern Morgenhimmel und flüsterte im leisen Gebete:

»Allliebender, ich danke Dir für diese Stunde! Ich danke Dir, daß Du mir die Macht und die Mittel verliehen hast, Menschen glücklich zu machen. Verleihe mir die Gnade, mein ganzes Volk glücklich zu sehen. Wie so gern


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möchte ich die Hungernden speisen, die Durstenden tränken, die Beladenen entlasten und die Irrenden auf den rechten Weg führen. Verleihe mir dazu die Kraft und die Weisheit, und bleibe bei mir mit Deinem starken Schutz und Schirm, denn Du, o Allmächtiger, bist es, ohne den ich nichts vermag!«

Da begannen die Kirchenglocken zu läuten. Es waren nur zwei kleine, armselige Glöcklein, welche im schwanken Kirchthurme ihre dünnen Stimmen ertönen ließen, aber es klang den drei Anwesenden doch, als ob diese Stimmen voll und gewaltig vom Thurme eines Domes erschallten. Und da fuhr der Heiner sich mit der einen Hand über die thränenden Augen und begann mit leiser, nach und nach stärkerer Stimme:

»Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut,
   Dem Vater aller Güte,
Dem Gott, der große Wunder thut,
   Dem Gott, der mein Gemüthe
Mit seinem reichen Trost erfüllt,
   Dem Gott, der alle Jammer stillt.
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Und der Elephantenhanns, welcher wieder zu sich gekommen war und die Augen geöffnet hatte, fuhr fort:

»Ich rief den Herrn in meiner Noth:
   »Ach Gott, vernimm mein Schreien!«
Da half mein Helfer mir vom Tod
   Und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank, ach Gott, drum dank ich Dir!
   Ach danket, danket Gott mit mir!
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Als jetzt nun die Stimmen des Vaters und des Sohnes zusammen erschallten, drehte sich der König nach ihnen um und fiel mit ein:

»Es danken Dir die Himmelsheer',
   O Herrscher aller Thronen,
Und die auf Erd', in Luft und Meer
   In Deinem Schatten wohnen,
Die preisen Deine Lieb und Macht,
   Die Alles, Alles wohl gemacht.
Gebt unserm Gott die Ehre!«

Das Geläute war verhallt und still standen die Drei, still wie in der Kirche, bis der König sein Notizbuch aus der Tasche zog. Er nahm einen Zettel heraus, beschrieb ihn, steckte ihn in ein Couvert, welches er verschloß, versah dasselbe mit der Aufschrift >Telegramm< und gab es dann dem Heiner.

»Hier, dieses Couvert muß nach der Stadt und dort auf dem Telegraphenamte abgegeben werden,« sagte er.


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»Ich werd gleich laufen, was nur die Beine hergeben. Hab ich dort was zu zahlen?« fragte der Alte.

»Ja. Hier ist das Geld.«

Er zog seine Börse und schüttete den Inhalt derselben auf den Tisch aus. Der Alte warf einen fast erschrockenen Blick auf das viele Geld und fragte:

»Was? Wie? Kostet eine telegräfliche Depeschen ein solche Summen?«

»Nicht ganz. Was übrig bleibt, das soll als Botenlohn gelten.«

Der Alte blickte auf das Geld, in des Königs Angesicht, wieder hin und abermals her und rief:

»Na, wieviel wird da wohl übrig bleiben?«

»Ich hab es mir nicht genau ausgerechnet. Jetzt muß ich fort. Sobald der Arzt da ist, komm ich mit ihm her. Da können wir ja zusammenrechnen, Heiner.«

Ja, das werden wir thun. Ich brings halt ehrlich wieder, was ich herausbekomm. Und wanns etwan gar zu viel verlangen, so kommens bei mir grad an den Rechten. Ich werd mit ihnen gut reden und so viel abhandeln, wie nur möglich ist!«

Der König ging, und dann konnte man den Heiner forteilen sehen, auf der Straße nach der Stadt, als ob er mit Hasen um die Wette zu laufen habe. -

Unterdessen war der Wurzelsepp mit der Frau Bürgermeisterin nach der Kirche gegangen. Er hätte gar so gern gewußt, was sie mit dem König gesprochen hatte; aber er besaß doch zu viel Zartgefühl, als daß es ihm eingefallen wäre, sie zu fragen, und da sie still und wortlos neben ihm herging, so achtete er ihr Schweigen und sagte auch nichts.

Die Dame hatte, wie bereits bemerkt, ihr einfachstes Kleid angelegt. Dennoch fiel ihre Erscheinung im Dorfe auf, zumal der Sepp mit ihr ging. Beide aber machten sich nichts aus der Aufmerksamkeit, welche sie erregten.

Das kleine Kirchlein stand inmitten des Gottesackers. Dort pflegten die Kirchengänger sich vor dem Beginn des Gottesdienstes einzufinden, um einige stille Minuten an den Gräbern ihrer Verstorbenen zuzubringen. Als der Sepp die Blicke bemerkte, welche ihm und seiner Begleiterin von diesen Leuten zugeworfen wurden, sagte er:

»Wollen doch lieber hineingehen in die Kirchen. Hier schaun halt Alle nach uns her, als ob wir so gar große Wunderthieren wären.«

»Das stört mich nicht,« antwortete sie.

»Mich auch nicht. Wanns Ihnen recht ist, so hab ich halt auch nix dagegen.«

»Ich möchte hier bleiben, um den Lehrer sehen zu können, wenn er kommt. In der Kirche kann ich ihn jedenfalls nicht so genau betrachten.«

»Wanns das ist, so gehen wir da um die Eck. Dort geht die Thüren hinaufi zur Orgeln, die er schlagen thut. Dahin muß er halt kommen.«

Sie stellten sich also so, daß sie ihn sehen konnten.


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Noch ehe die Glocken läuteten, kam der Pfarrer langsam aus seiner Wohnung herbei. Die Anwesenden grüßten ihn und er verschwand in der Sacristei. Nur einige Augenblicke später kam Max Walther. Die anwesenden Bauern rissen ihre Hüte und Mützen in ganz anderer Weise herab, als vorhin beim Erscheinen des geistlichen Herrn, und die Frauen machten ihre respectvollen Knixe.

»Schauens,« flüsterte der Sepp. »Das ist er. Vor dem habens noch eine ganz andere Höflichkeiten, als vor dem Hochwürden. Er hats halt gar prächtig verstanden, sich in dera Ambitionen hineinzulegen. Ists nicht ein schmucker Bub?«

Sie standen Beide an einem Grabe, zu dessen Häupten sich ein Holzkreuz erhob. Die Bürgermeisterin sah den Sohn. Sie fühlte sich plötzlich so schwach, daß sie sich an das Kreuz lehnen mußte, um nicht zu wanken.

Der Lehrer mußte an ihnen vorüber. Der Sepp zog seinen mit Blumen und Kräutern besteckten Hut vor ihm vom Kopfe. Walther bemerkte den Gruß, dankte und trat herbei.

»Gut, daß ich Sie treffe, Wurzelsepp,« sagte er. »Ich habe Sie gestern vergebens gesucht.«

»Brauchens mich, Herr Lehrern?«

»Ja, Sie wissen doch, wozu.«

»Wohl wegen dera Geschichten, dort unterm Wassern?«

»Ja.«

»Nun, dann bin ich allzeit bereit.«

»Sehr gut! Wir müssen doch nachschauen, was dort zu finden ist, sonst kann sich leicht eine Störung ergeben.«

»O nein. Dera - na, Sie wissen halt doch, wen ich meine, der liegt ja ohne Bewußtsein und kann also nix thun.«

»Wir müssen dennoch vorsichtig sein. Ich bin heut in die Mühle zu Tische geladen. Wollen wir uns dort treffen?«

»Ja, ich werd schon kommen. Und da - - ich hab nämlich hört, wann Zwei sich treffen, die sich noch nicht kennen, so muß dera Dritt ihnen sagen, wers sind. Das ist nobel und fein und man nennts halt eine Vorstellungen. Also werd ichs jetzundern auch machen. Dieser Herrn ist nämlich dera Herr Lehrern Walther, und diese Damen, die ist die Frau Bürgermeisterinnen Holberg in Steinegg, drüben über dera Grenzen hinüber. So, jetzunder hab ich meine Sachen brav macht. Wars halt so richtig?«

Die Bürgermeisterin hatte seitwärts am Kreuze gelehnt, so daß Walther vorher nur einen kurzen Blick auf sie geworfen hatte. Jetzt zog er den Hut und verbeugte sich. Sein Blick fiel forschender auf sie. Es glitt ein ganz eigenthümlicher Zug über sein Angesicht.

"Wir müssen uns gesehen haben!"

»Grüß Gott, Frau Bürgermeisterin,« sagte er. »Ich kann mich nicht besinnen, wo es geschehen ist, aber wir müssen uns bereits einmal gesehen haben.«

Er stand so frisch, so kräftig in ahnungslosem Selbstbewußtsein vor ihr.


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Sie hätte ihn an ihr Herz ziehen mögen mit größtem Entzücken, aber sie durfte es doch nicht. Sie gab sich alle Mühe, ihre Bewegung zu beherrschen, und dennoch zitterte ihre Stimme ganz hörbar, als sie antwortete:

»Ich möchte das bezweifeln.«

»O doch! Ich pflege mich da niemals zu täuschen. Es ist mir sogar, als ob wir uns nicht nur gesehen, sondern sogar auch gesprochen hätten.«

Sie war leichenblaß.

»Ich könnte mich wirklich nicht besinnen.«

»Ich leider auch nicht; aber ich möchte schwören, daß ich bereits Ihre Stimme gehört habe. Wir müssen uns jedenfalls einmal getroffen haben, und zwar unter Umständen, welche mir sympatisch gewesen sind. Aber da läutet es. Ich muß zur Kirche. Entschuldigen Sie! Er entfernte sich. Sie legte die Hand auf die klopfende Brust. Das Herz wollte ihr zerspringen.

»Habens ihn wirklich schon mal sehen?« fragte der Wurzelsepp.

»Nie.«

»Aberst er sagts doch!«

»Das ist die Stimme des Herzens. O Gott, wenn er wüßte, wer ich bin!«

»Nun, das müssens ihm halt sagen!«

»Nein. Jetzt noch nicht.«

»Wann sonst?«

»Später, später.«

»Hat er Ihnen etwan nicht gefallen?«

»Wie können Sie so fragen! Ich bin unendlich glücklich und ganz entzückt von ihm. Ich bin nicht werth, einen solchen Sohn zu haben.«

»Papperlapappen! Sie sagens ihm, daß Sie seine Muttern sind und nehmen ihn beim Kopf. Nachhero ist Alles gut. Anders könnens gar nix machen!«

»Ich fürchte mich!«

»So? Eine Muttern, die sich vor ihrem Buben fürchtet? Das ist eine Dummheiten, die ich gar nicht leiden mag. Wanns selberst nix sagen, so sag ichs halt. Verstanden!«

»Um Gotteswillen, nein!«

»Wir werdens ja sehen. Jetzunder aber wollen wir hinein in die Kirchen.«

»Gut, aber vis-à-vis der Orgel, damit ich ihn sehen kann. Zeig mir einen passenden Ort.«

Das that er. Sie setzte sich gleich auf den ersten Platz an der Thür, um möglichst wenig aufzufallen, und lauschte mit Andacht dem Gesange und dem Orgelspiele ihres Sohnes.

Als später der Pfarrer die Kanzel betrat und über die heutige Bibelstelle predigte, sprach er über die heilige Kirche als Mutter der Gläubigen. Der alte Herr sprach sehr eindringlich, da ihm selbst ein jedes seiner Worte aus


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dem Herzen kam. Im Laufe seiner Rede hatte er Gelegenheit, mehrere Male das Bibelwort zu wiederholen: »Kann auch eine Mutter ihr Kind vergessen?«

Wie mit glühenden Lanzenspitzen traf diese Frage das Herz der Bürgermeisterin. Der hochwürdige Herr schilderte das Mutterherz in all seiner Liebe, in all den Entbehrungen und Aufopferungen, in denen es so groß, so unvergleichlich ist. Und so sorgt auch die Kirche für die Gläubigen.

Es war, als ob ein jedes Wort eigens für die Bürgermeisterin berechnet sei. Sie befand sich in einer geistlichen Folter und fühlte Qualen, welche kaum zu ertragen waren.

Dann sprach der Redner von Gottes Güte, welche ohne Ende ist; er sprach davon, daß der Herr seine Sonne aufgehen lasse über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte, und wie hingegen der Mensch den Götzen Selbstsucht anbete und sein Herz verhärte dem Nächsten und sogar den Seinen gegenüber.

Für die Bürgermeisterin bewährte sich die Stelle der heiligen Schrift: »Das Wort Gottes ist wie ein Hammer, welcher Felsen zerschmettert. Jedes Wort des Predigers war ein solcher Hammerschlag für sie. Welche Liebe, wie viele Liebe hatte sie ihrem Kinde erwiesen? Gar keine. Hinausgestoßen hatte sie es in die weite Welt, hilflos unter fremde Menschen. Und jetzt, nachdem sie es wiedergefunden hatte, scheute sie sich, es an ihr Herz zu nehmen! Sie fühlte, daß es ihre Pflicht sei, keinen Augenblick zu zögern, und doch und doch kam dieser Schritt ihr so schwer, so unendlich schwer vor!

Am Schlusse der Predigt stellte der Pfarrer die unendliche Liebe Gottes als Aufforderung hin, ihr nachzueifern und in der Liebe zu den Menschen nicht zu ermüden und zu wanken. Dann verließ er die Kanzel. Trotzdem und trotz Alledem fühlte die Bürgermeisterin den Gedanken, daß sie ihren Fehler eingestehen und ihr Kind um Verzeihung anflehen müsse, schwer auf sich lasten.

Da ertönten mild und weich die Klänge der Orgel. Es war ein armes Instrument von nur vier Registern. Die Gemeinde hatte kein theureres zu beschaffen vermocht. Aber Walther war ein ausgezeichneter Orgelspieler. In seinem Vorspiele klang es wie eine Wiederholung des soeben Gehörten, wie eine innige, herzliche Mahnung zur Liebe, und dann begann der Gesang:

»Wie groß ist des Allmächtgen Güte!
   Ist der ein Mensch, den sie nicht rührt,
Der mit verhärtetem Gemüthe
   Den Dank erstickt, der Gott gebührt?
Nein, seine Liebe zu ermessen,
   Sei ewig meine größte Pflicht.
Der Herr hat mein noch nie vergessen;
   Vergiß, mein Herz, auch seiner nicht!«

Wer noch niemals den Eindruck einer einfachen, ergreifenden Melodie an sich erfahren hat, der kann es auch nicht begreifen, welche Macht sie auf ein


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vorbereitetes Menschenherz auszuüben vermag. Und das Herz der Bürgermeisterin war vorbereitet. Was die Predigt nicht vermocht hatte, das erwirkte diese Melodie. Sie schlich sich in die Seele der angstvollen Frau ein, stimmte sie ruhig und schmeichelte ihr alle Bedenken hinweg. Und was die erste Strophe noch unbesiegt gelassen hatte, das zerschmolz unter den Klängen der zweiten:

»Und diesen Gott sollt ich nicht ehren
   Und seine Güte nicht verstehn?
Er sollte rufen, ich nicht hören,
   Den Weg, den er mir zeigt, nicht gehn?
Sein Will ist mir ins Herz geschrieben
   Und bleibt mir in der Seele ruhn:
Wie er mich liebt, will ich auch lieben
   Und meine Pflicht getreulich thun.«

Es stand nun fest in ihr, nicht eher nach Steinegg zurück zu kehren, als bis sie sich ihrem Sohne zu erkennen gegeben habe. Als der Gottesdienst beendet war, saß sie so in Sinnen versunken da, daß sie gar nicht bemerkte, daß die Gemeindeglieder sich von ihren Sitzen erhoben, um die Kirche zu verlassen.

Ganz hinten, da wo es keinen Sitz mehr gab, hatte der König gestanden, unbemerkt von den Anwesenden. Er war erst später gekommen und hatte nicht stören wollen. Darum ging er auch eher, als die Andern.

Als er aus dem Thore des Kirchhofs trat, kam in demselben Augenblicke ein städtisch gekleideter Herr das Dorf herauf, den Ueberrock am Arme tragend und eine Tasche an der Seite. Diese Letztere schien sehr gefüllt zu sein. Er trug eine goldene Brille und hatte ein sehr gelehrtes, dabei aber ziemlich joviales Aussehen. Als der König ihn bemerkte, blieb er überrascht stehen. Der Andere sah ihn und beschleunigte seine Schritte. Als er herangekommen war, zog er den Hut und machte eine tiefe, respectvolle Reverenz.

»Pst! Keine Complimente!« warnte der König. »Es darf mich hier Niemand kennen. Aber Ihre Ankunft überrascht mich. Sie können doch unmöglich mein Telegramm bereits erhalten und in Folge dessen hier angekommen sein, Herr Medizinalrath.«

»Ein Telegramm habe ich allerdings nicht erhalten,« antwortete der Rath. »Umsomehr freue ich mich, ganz unbewußt dem hohen Rufe gefolgt zu sein.«

»Nichts vom >hohen< Rufe, bitte ich! Ich wiederhole, daß ich hier nur ein gewisser Herr Ludwig bin, und ich werde Sie einfach Doctor nennen. Ihre Gegenwart ist hier dringend nöthig. Sie werden Interessantes zu thun bekommen. Aus welchem Grunde aber befinden Sie sich bereits jetzt schon hier?«

»Aus dem einfachsten: Meine Pflicht gebot mir, nach Hohenwald zu kommen!«

»Ah, das ist dankbar anzuerkennen!«


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»Nachdem ich Eure Maje - - -«

»Pst, pst!«

»Entschuldigung! Also, nachdem ich Ihnen einen kurzen Aufenthalt in dieser herrlichen Waldluft angerathen hatte, verstand es sich von selbst, nachzusehen, wie mein Patient sich befinde, und ob er auch meine Verordnung in Ehren halte.«

»Das thut er sehr!« lächelte der König.

»So wird der Erfolg nicht ausbleiben.«

»Ich bemerke das bereits jetzt. Kommen Sie, damit wir nicht unter die Dorfbewohner gerathen, welche eben jetzt die Kirche verlassen. Sie begleiten mich nach meiner Wohnung.«

»Die ich mir hätte erfragen müssen, da ich sie nicht kannte.«

»Der Wurzelsepp hat sie mir besorgt. Ich wohne in einer Mühle bei sehr braven Leuten. Sie werden einem feinen Diner mit beiwohnen.«

»Von Herzen gern. Ich bin in der Stadt aus dem Coupee gestiegen und habe es vorgezogen, den Weg nach hier zu Fuß zurückzulegen. Das und die Gebirgsluft machen Appetit. Darf ich fragen, ob es ein Diner unter vier Augen sein werde?«

»O nein. Ich habe den Müller veranlaßt, den alten, würdigen Pfarrer zu laden und auch den Lehrer, einen sehr hoffnungsvollen, jungen Mann, von welchem ich überzeugt bin, daß er ein Dichter von Gottes Gnaden ist.«

»Ganz recht! Wieder einen Künstler entdeckt!«

»Zwei sogar. Einen Maler auch. Sie werden an demselben Ihre Kunst und Wissenschaft zu erproben haben. Doch davon später. Wir werden ferner speisen mit einigen guten Leuten, deren Namen Ihnen vielleicht ein Wenig prosaisch klingen werden.«

Der Medizinalrath freute sich außerordentlich, seinen hohen Patienten bei so vortheilhafter Stimmung zu finden. Er warf, während sie das Dorf verlassen hatten und nun über die Wiesen schritten, einen Blick umher und sagte:

»Hier in dieser Gottesnatur sollte Einem eigentlich gar nichts prosaisch erscheinen dürfen.«

»Namen doch wohl. So speisen wir zum Beispiel mit einem gewissen Müllerhelm. Das ist mein Wirth, der Müller, welcher Wilhelm heißt. Sodann mit dem Wurzelsepp - - -«

»Auf diesen freue ich mich bereits.«

»Und mit einem gewissen Finkenheiner.«

»Also Heinrich der Finkler, der Vogelsteller, aus dem sächsischen Herrscherhause.«

»O, mein Finkenheiner ist ein sehr guter Bayer. Er hat meine an Sie gerichtete Depesche nach der Stadt getragen und wird dennoch zur rechten Zeit zur Tafel kommen.«

In dieser wohlgemuthen Weise machte der König den Arzt mit den hiesigen Verhältnissen und Personen bekannt, während Beide langsam nach der Mühle spazierten.


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Der Müller war auch in der Kirche gewesen. Als er aus der Thür derselben trat, sah er den Sepp stehen, welcher auf die Bürgermeisterin wartete. Er ging zu ihm hin und fragte:

»Hasts doch nicht vergessen, Sepp, daßt heut mit zum Mittag essen mußt?«

»Nein. Aberst ich kann trotzdem nicht kommen.«

»Das fehlt grad noch! Dera Herrn Ludwigen hats extra gewunschen, daßt mit dabei bist.«

»Mag wohl sein; aberst es geht dennerst nicht, weil ich heut ein Kavallerirer bin.«

»Wie? Was bist?«

»Ein Kavallerirer.«

»Was meinst? Ein Kaviller oder ein Kavallerist?«

»Keins von Beiden. Weißt, ein Kavallerirer, das ist ein feiner Herrn, der eben einer feinen Damen ihr Begleitern und Beschützern und Kavallerirern ist.«

»So! Hast etwan eine feine Damen da im Dorf?«

»Ja.«

»Wohl die alte Feuerbalzern?«

»Nein, diese nicht. Aber wannst vielleichten meinst, daß ich mich mit dera schämen thät, so irrst Dich gar gewaltig. Die ist ein gar braves Weibsenbild, und es wär halt sehr gut, wann sich auch die Andern nach ihr richten thäten.«

»So ists eine Andere?«

»Ja, aberst keine Hiesige.«

»Was Teuxel! Gehst etwan auf Freiersfüßen? Da würdest bei meiner alten Barbara schön ankommen.«

»Hat sich was! Es ist eine sehr feine Damen, eine Bürgermeisterin drüben aus Steinegg, welche hier zu thun habt hat und nun wiederum nach Haus will. Ich soll mitgehen.«

»Das geht nicht. Du mußt mit bei mir essen. Der Herr Ludewigen hats so befohlen.«

»Ich möcht freilich gern mit dabei sein, denn die Barbara wird sich heut mit ihrer Küchen sehen lassen.«

»Freilich! Die Liesbetherl hat gar sehr mit helfen mußt. Es wird hergehen fast wie auf einer Hochzeiten oder Kindtaufen.«

»Du, da möcht ichs freilich nicht versäumen; aberst meine Bürgermeisterin darf ich auch nicht im Stich lassen, und wannst ein gescheidter Kerlen bist, so weißt, wast nun da zu machen hast.«

»Was denn wohl? Das möcht ich fragen.«

»So bist eben halt kein gescheidter Kerlen, wannst erst fragst! Ohne sie kann ich halt nicht mit zu Dir. Also mußts mit einiladen.«

»Verbuxbaumi! Eine Frau Bürgermeistrin?«

»Jawohl!«


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»Das kann doch wohl Dein Ernst nicht sein.«

»Grad ists mein allergrößter Ernst.«

»Das kann ich doch gar nicht wagen! Eine solche Damen, die noch dazu einen Bürgermeistern zum Mann hat! Wo denkst hin!«

»Sie hat den Mann nimmer mehr. Sie ist Wittwe!«

»Desto schlimmer! Die Wittwen, die haben gar viele Haar auf denen Zähnen. Vor denen hab ich immer einen großen Respecten habt.«

»O, die meinige beißt nicht.«

»So, also meinst, daß sie fürlieb nehmen wird?«

»Ganz gewiß. Schau, da kommts aus dera Kirchen. Sie kommt herbei. Nun kannsts ihr sagen.«

»Himmelsakra! Die hat so einen vornehmen Gang. Da fallt mir gleich die Buttern vom Brod, und ich weiß gar nicht, wie ich anifangen soll.«

»Ich werd Dir schon einihelfen. Paß nur aufi!«

Die Bürgermeisterin schritt auf die Beiden zu. Es war ihre Absicht nicht, bereits jetzt Hohenwald zu verlassen. Sie wollte vielmehr den Sepp fragen, ob es nicht möglich sei, den Lehrer wie durch einen blosen Zufall noch einmal zu treffen. Der alte Wurzelhändler hatte sich das bereits gedacht und darnach seine Vorkehrungen getroffen. Er ging ihr einige Schritte entgegen und sagte:

»Schauns, Frau Bürgermeistrin, hier Der ist dera Müllerhelm, mein bester Freund im Ort. Kennens den noch nicht?«

»Nein,« antwortete sie lächelnd, da er recht wohl wissen konnte, daß sie den Müller nicht kannte.

»Das ist Derselbige, bei dem halt der Herr Ludewigen wohnt. Er hat ein großes Essen bei sich. Wollens da nicht auch mitthun?«

»Ich? Ich bin ja fremd.«

»Fremd? Na, wanns dem Wurzelseppen seine Freundin Frau Bürgermeistrinnen sind, so sinds hier halt Keinem fremd. Der geistliche Herr speist mit und dera Herr Lehrern auch.«

»So! Aber dennoch kann ich es nicht unternehmen, in der Mühle Störung zu bereiten.«

»Störung? Sappermenten noch mal! Da giebts gar keine Störungen; da setzt man sich hin, nimmt das Messern und schneidet tüchtig ab. So ists hier Sitten, und so muß mans machen.«

»Hm! Du thust ja grad, als ob Du der Müller seist!«

»Ich? Wieso?«

»Weil Du mich einladest. Wenn dieser Herr es wirklich wünschte, daß ich mitkommen solle, so würde er es mir doch selbst sagen.«

»Der? Na, da kommens an den Rechten. Der hat gar die richtige Schneid nicht dazu. Der hat Angst vor Ihnen, weils eine Frau Bürgermeisterin sind.«

»Du!« rief der Müller, indem er ihm die Faust in die Seite stieß.


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»Ja! Was hast mich da zu stoßen? Ists etwan nicht wahr?«

»Nein,« antwortete der Müller, indem er sich Muth anschaffte. Er zog den Hut, machte einen schiefen Knix und sagte:

»Wissens, gnädige Frauen, einen Roggen kann ich von einer Gerste unterscheiden und einen Weizen von einem Hafern auch. Aberst mit denen großen städtischen Complimentern hab ich mich leider nicht gar viel abgeben konnt. Wanns zu mir kommen wollen und tüchtig mit essen, so solls mir halt eine Ehren sein und auch eine Freuden. Also sagens Ja, so wird halt noch ein Tellern mehr geschafft.«

Sie wäre gar zu gern mit gegangen. Aber schickte es sich denn? Darum wendete sie nochmals ein:

»Ich bin Ihnen ja fremd!«

»Nein, denn Sie sind hier beim Sepp. Und wen Der uns bringt, der ist grad, als ob er mein Brudern oder meine Schwestern oder Onkeln oder alte Tanten wär.«

»So,« lachte sie. »Dann will ich versuchen, Ihre Tante sein zu können.«

Der Müllerhelm kratzte sich verlegen am Ellbogen und raisonnirte über sich selbst:

»Sacra! Jetzund hab ich einen Bock schossen! Mit dera Tanten bin ich gar schön ankommen. Das mach ich gewiß nicht gleich wiedern! Lieberst sag ich da gleich Großmuttern, anstatt dera Tanten!«

»So soll ich als Großmutter kommen?«

Er sah sie erschrocken an.

»Donner und Doria! Jetzt hab ichs nun gar noch viel schlimmer macht! Nein, Frau Bürgermeistrin, mit dera Tanten und Großmuttern sinds halt nicht gemeint. Das weiß doch dera Teuxel! Mit dera Liesbetherl kann ich reden; das geht wie auf Butter; aberst sobald ich ein ander Weibsbild vor mir hab, so bin ich dera größt Dummrian auf dera Erden. Also nehmens, wie's gemeint ist, und kommens mit. Wollens die Güten haben?«

»Wenn Sie Ihre Einladung im Ernst meinen, so will ich Ja sagen.«

»Natürlich mein' ichs im Ernsten, denn zum Spaß wird bei mir nicht gessen; das werdens schon gar sehr bald wegbekommen. Wollens gleich mit mitnander? Da kommt auch schon der Herr Lehrern.«

Ein kleines Bedenken hatte die Bürgermeisterin in Beziehung auf den König. Aber nach Dem, was sie ihm heut für ein Geständniß abgelegt hatte, sagte sie sich, daß es ihm nicht unerwünscht sein werde, falls sie mitkomme. Ihr Sohn war ja anwesend und der König war incognito.

Während des kurzen Gespräches waren die Drei aus dem Gottesacker heraus auf die Dorfstraße getreten. Der Lehrer war herbeigekommen und hatte die letzten Worte gehört.

»Ja,« sagte er, »da komme ich bereits. Freilich will ich noch nicht nach der Mühle. Dazu wär es jetzt noch zu früh. Ich werde vorher noch einen kleinen Spaziergang machen.«

Das paßte dem Sepp. Er sagte sofort:


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»Das ist sehr gut, Herr Lehrern. Wollens etwan allein spazieren?«

»Wollen Sie mit?«

»Nein, ich nicht. Ich muß hier mit dem Müllern gehen, weil wir noch Eins und das Andre zu besprechen haben. Aberst hier die Frau Bürgermeistrin kommt auch mit zum Schmauß; sie hat auch noch Zeit und kennt die hiesige Gegend noch nicht. Wanns galant sein wollen, so könnens sie halt einladen zum Mitgehen.«

Sie erröthete. Der Lehrer warf ihr ein bittendes Lächeln zu und sagte:

»Sie entschuldigen, Frau Bürgermeisterin! Unser Sepp hat so seine eigene Weise. Man darf ihm nichts übel nehmen.«

»Das fehlt auch noch, wann ichs nur gut meint hab!« rief der Alte. »Komm, Müllern! Die Beid werden keinen Andern brauchen, der so seine eigene Weise hat. Vorwärts!«

Er nahm den Müllern beim Arme und zog ihn fort.

»Da sehen Sie!« lachte Walther. »Hier oben in den Bergen wohnt ein kräftiger Menschenschlag; aber gut ist es doch gemeint.«

Sie mußte sich große Mühe geben, auch ein Lächeln zu zeigen, und fast nur leise antwortete sie:

»Ich bin überzeugt davon. Nur befürchte ich, Ihnen Störung zu bereiten, wenn Sie den Wunsch unsers eigenthümlichen Freundes erfüllen.«

»Störung? O nein! Es ist mir im Gegentheil recht lieb und aufrichtig angenehm, daß Sie mir erlauben, mich Ihnen anzuschließen. Ich befinde mich noch gar nicht lange hier oben in Hohenwald, aber doch fühle ich bereits jenen Wunsch nach Anderem, welchen Jeder empfindet, dem sein täglicher Umgang kein Genügen bringen kann. Man ist hier wirklich von Allem abgeschlossen.«

Sie kamen in diesem Augenblicke an dem Gasthofe vorüber. Die Wirthin stand unter der Thür.

»Grüß Gott, Herr Lehrern!« rief sie erfreut. »Wollens spazieren gehen?

»Ja, ein Wenig.«

»Das machens gar recht,« meinte sie, indem sie langsam näher kam. »Das Spazieren habens gar sehr nöthig zu dera Erholungen.«

»Meinen Sie?«

Ja. Ich weiß halt sehr gut, was für eine Anstrengung Sie haben in dera Schulen. Die Buben sind kaum zu zähmen und die Maderl kaum zu bändigen. Aberst freuen thuts mich doch, daß sie bei Ihnen an den richtigen Mann kommen sind. Wissens noch, als Sie kamen, was ich Ihnen da für einen Rath geben hab?«

»Ja, sehr gut noch.«

»Schauns, da hat ich gar ernst meint, Prügel müssens haben, ganz gewaltge Prügel, hab ich denkt. Und nun Sie bringens das Alles ganz anderst fertig, ohne nur einen Stock anzugreifen. Sagens doch, wie bringens das nur eigentlich fertig?«


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»Hm! Das ist nicht so schnell zu erklären. Man muß ein Wenig Psycholog sein.«

»Da wollt ich, ich wär auch ein solcher Phixologen. Meine Zwei wachsen mir über denen Kopf zusammen. Wann ich da nicht zuhauen thät, so kriegt ich selberst noch die Prügel. Das muß hier heroben so in dera Luft liegen. Nicht?«

»Gewisser Maßen haben Sie Recht. Eine kräftige Luft zeitigt auch kräftige Charactere.«

»Ja freilich, kräftig sinds bei uns. Mein Bub, der kaum zehn Jahren zählt, frißt mir bereits eine ganze Pfannen von Dampfnudeln aus und fragt hernachers auch noch, ob ich keinen Eierkuchen hab. Der ist kaum mehr zu derfüttern. Was sollens hernach in dera Schulen lernen? Ein voller Bauch wird kein Magistern.«

»Nein; darum gewöhnen Sie Ihre Kinder lieber an eine mäßige Speisekarte.«

»Da käm ich schön an! Ja, eine Karten wollens schon bereits haben, aberst keine Speisekarten, sondern eine ganz andre. Da sitzen die Zwei am Tisch und spielen Sechsundsechzig mit nander, und wanns dann fertig sind, so hauens sich den Gewinn mit denen Holzpantofferln um den Kopf herum. Meiner Seel, es kracht oft so, daß es mir Angst wird um die armen Köpfen. Aberst das hält schon was ab hier in dera Gegend! Also habens Besuch erhalten, Herr Lehrern?«

»Besuch? Wieso?«

»Nun, diese Damen hier?«

»Die Dame ist kein Gast von mir. Wir haben uns an der Kirche getroffen.«

»Ach so! Ich hab denkt, daß es ein Besuch ist, vielleicht wohl gar Ihre Muttern, weils sich gar so ähnlich sehen. Na, nix für ungut! Machens sich viel Vergnügen, die Herrschaften!«

Sie knixte und kehrte in das Haus zurück.

Bei ihren letzten Worten hatte es der Bürgermeisterin einen Stich ins Herz gegeben. Sie setzten ihren Weg fort, zunächst schweigsam. Walther warf von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick in das ernste Gesicht seiner stillen Begleiterin. Dann sagte er:

»Eigenthümlich! Die Wirthin hat Recht. Erst deren Aeußerung hat mich auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Bemerken Sie nicht auch, daß wir einander außerordentlich ähnlich sehen?«

Sie hatte das auch bereits bemerkt.

»Wirklich?« fragte sie.

»Ja, und zwar ganz auffällig. Man sollte kaum glauben, daß zwei Personen, welche einander in jeder Beziehung fremd sind, eine solche Aehnlichkeit besitzen können.«

»Ein Naturspiel,« sagte sie in unterdrücktem Tone.


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»Sie müssen also aus diesem Grunde die Wirthin entschuldigen, daß sie Sie in eine solche Beziehung zu mir bringen wollte!«

»Das bedarf keiner Entschuldigung. Ich halte es vielmehr für ein Glück, einen Sohn zu besitzen, welcher die Achtung Andrer in der Weise besitzt wie Sie.«

»Es ist mir nicht leicht geworden, sie mir zu erringen. Ich hatte es, als ich hier ankam, mit einem sehr harten Materiale zu thun.«

»Also darum Ihre vorige Bemerkung, daß Sie keine Genüge finden!«

»Nein, darum nicht, sondern aus einem andern Grunde. Einen guten Reiter macht es ganz glücklich, ein wildes Pferd zu bändigen! Ungefähr in ähnlicher Weise fühlt der Lehrer eine innige Befriedigung, wenn es ihm gelingt, solche spröde Seelen gefügig zu machen. Aber in meiner Erholungszeit finde ich nicht Das, was ich suchen möchte. Ich mußte mir das freilich vorher sagen.«

»Und dennoch haben Sie sich um diese schlimme Stelle beworben!«

»Dennoch!«

»Sie müssen einen sehr zwingenden Grund dazu gehabt haben?«

»Ich hatte ihn. Leider sehe ich ein, daß ich ein großes Opfer gebracht habe, ohne die erwartete Entschädigung dafür zu finden.«

Es legte sich ein herber, fast bitterer Zug um seinen Mund. Er blickte vor sich nieder. Sie fand nicht gleich einen neuen Anknüpfungsbund, und so schritten sie eine Weile stumm neben einander her.

Sie hatten den Wald erreicht, da wo der bereits mehrere Male erwähnte Weg in denselben führte. Der Lehrer blieb stehen und sagte, nach rechts deutend:

»Dort, jenseits der Wiesen liegt hinter den Büschen die Mühle versteckt. Bis zum Essen ist noch über eine Stunde Zeit. Bestimmen Sie, wohin wir unsere Schritte lenken wollen!«

»Ich schließe mich Ihnen an.«

»Dann also grad aus. Ich befinde mich so gern im Walde.«

»Wohl vielleicht, weil sich Ihre Heimath in einer waldigen Gegend befindet?«

»Nein. Es ist mir leider eigentlich nicht erlaubt, von einer Heimath zu sprechen.«

»Wie?« hauchte sie. »Es hat doch ein jeder Mensch eine solche.«

»Wenn Sie den Ort, an welchem man die Jugend verlebt, Heimath nennen, ja. Ich aber verstehe unter Heimath den Ort der Geburt.«

»Und Sie kennen diesen Ort nicht?«

»Nein. Ich bin ein - Findelkind.«

»Sie Aermster! Welch ein Verbrechen ist da an Ihnen begangen worden!«

»Ein Verbrechen keineswegs!«

»So meinen Sie also, daß Sie von Ihren Eltern verloren oder gar geraubt worden sind?«


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»Ich meine nichts Bestimmtes; aber ich bin überzeugt, daß von einem Verbrechen keine Rede ist.«

Sie befanden sich jetzt mitten im Walde, durch welchen der Weg führte. Es hatte sie Beide eine ganz ungewöhnliche Stimmung ergriffen. Bei der Bürgermeisterin hatte das seinen guten Grund; bei dem Lehrer aber war es weniger leicht erklärlich.

Bereits als er sie neben dem Sepp an der Kirche zum ersten Male erblickt hatte, war dieser Anblick von einer ganz eigenartigen Wirkung auf ihn gewesen. Nur war es ganz und gar unmöglich, diese Wirkung in Worten zu beschreiben. Wie er es ihr offen gesagt hatte, war es ihm gewesen, als ob er sie bereits gesehen, als ob er schon mit ihr gesprochen habe. Und doch, nun er jetzt neben ihr herging, wußte er ganz genau, daß er ihr noch niemals begegnet sei. Und doch der tiefe, tiefe Eindruck, welchen ihre Gestalt, ihre Stimme, ihr ganzes Wesen auf ihn machte. Besonders wirkten ihre Augen mächtig auf ihn ein. Aber warum? Er konnte sich diese Frage nicht beantworten. Hatte er sie denn bereits einmal gesehen? Nein! Oder hatte er von ihnen geträumt? Hatte ihr Blick im Traume auf ihm geruht, so innig und so warm, mit dem Blicke der Liebe, wie Augen der Geliebten, wie - Mutteraugen?

Bei diesem letzteren Gedanken war es ihm, als ob ein galvanischer Strom sein Inneres durchzucke. Er blickte schnell auf, in ihr Gesicht, in ihre Augen, so scharf und forschend, daß sie den Blick senkte.

Sie fuhr fort:

»Ist es denn nicht möglich, daß Ihre Mutter Sie mit Absicht verlassen hat?«

»Möglich ist es.«

»Dann ist es aber ein Verbrechen!«

»Nein!«

»Erlauben Sie, daß ich anderer Meinung bin!«

»So werde ich stets eine andre als Sie besitzen. Sie waren heut in der Kirche. Denken Sie an das Wort: Kann auch eine Mutter ihr Kind vergessen?«

»Vergessen wohl nie, nie, nie! Aber macht dies die That weniger verdammlich?«

»Kann ein Mensch über eine That richten, für welche er kein Verständniß hat? Die Mutterliebe ist eine große Macht, eine aus der göttlichen Liebe fließende Macht. Wenn eine Mutter ihr Kind verläßt, so müssen gewaltige Motive vorhanden gewesen sein, und dann ist die That eben kein Verbrechen, sondern sie ist in den andern Verhältnissen begründet, mögen dieselben nun rein äußerliche oder seelische sein.«

»Sie denken sehr mild!«

»Ich habe kein Recht, anders zu denken.«

»Und doch haben Sie unter den Folgen einer solchen That schwer zu leiden gehabt!«


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»Nein. Ich habe die Mutterliebe nicht vermißt, weil ich sie niemals kennen gelernt hatte. Andre Liebe habe ich reichlich gefunden.«

»So sind Sie also nicht zu beklagen?«

»Nein.«

»Und folglich kann Ihnen daran, Ihre Eltern zu finden, gar nichts gelegen sein.«

»Hierin irren Sie freilich. Ich möchte viel, sehr viel darum geben, wenn ich nur ein Weniges über meine Eltern erfahren könnte.«

»Sie leben wohl Beide nicht mehr. Sonst hätten sie doch nach Ihnen gesucht.«

»Sie haben gesucht, mich aber nicht gefunden.«

»Sonderbar! Wenn Sie das wissen, so sind Sie es, der sich nicht hat finden lassen.«

»Auch hier irren Sie. Ich habe erst vor ganz Kurzem erfahren, daß ich gesucht worden bin.«

»Das ist ja hoch interessant!«

»Gewiß für mich, weniger für Fremde.«

»Warum? Ich kann mich für einen solchen Fall so interessiren, als ob ich selbst dabei in Mitleidenschaft gezogen sei. Ganz besonders erregt Ihr Fall mein Mitgefühl.«

»Warum der meinige?«

»Weil - weil - -«

Er war stehen geblieben und blickte ihr mit großen, offenen Augen in das Gesicht. Vor diesem Blicke senkte sie den ihrigen. Sie hatte fast im Begriffe gestanden, ihm die Wahrheit zu sagen. Jetzt aber antwortete sie nur:

»Weil der Wurzelsepp davon gesprochen hat.«

»Der! Und ich habe es ihm streng verboten!«

»Sie dürfen es ihm verzeihen. Wir sind so alte und vertraute Bekannte, daß es uns sehr schwer fallen würde, ein Geheimniß vor einander zu haben.«

»Und doch sollte er nichts sagen. Das Geheimniß gehört nicht blos mir und ihm, sondern auch den Personen, welche ihm Auftrag gegeben haben, nach mir zu forschen.«

»So verzeihen Sie mir, daß ich in dasselbe eingedrungen bin! Haben Sie denn Hoffnung, die Ihrigen zu finden?«

»Ja. Nun der Wurzelsepp mich gefunden hat, braucht er ja nur Denen, in deren Auftrag er handelt, meine Adresse zu sagen.«

»Richtig. Daran dachte ich nicht. Sie werden also Ihre Eltern sehr bald kennen lernen.«

»Wohl die Mutter, den Vater nicht.«

»Warum denken Sie das?«

»Meine Mutter hat mich fremden Händen überlassen. Sie muß sich in großer Noth und Bedrängniß befunden haben. Sie hätte das jedenfalls nicht


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gethan, wenn der Vater ihr zur Seite gestanden hätte. Er hat sie verlassen. Entweder war und ist er todt, oder - es ist noch viel, viel schlimmer.«

»Was meinen Sie?«

»Er ist ein Schurke, der sie verlassen hat.«

»Mein Gott! Welch ein Gedanke!

»Liegt er nicht nahe?«

»Vielleicht. Aber wenn es so wäre, würden Sie Ihrem Vater verzeihen?«

»Ich würde ihm verzeihen, denn er ist mein Vater, und ich bin ein Christ und Mensch, der die heilige Pflicht hat, Jedem und Jedes zu verzeihen. Aber ich würde ihn - - verachten.«

Er sagte das so ernst und in festem Tone, daß sie erschrocken einsehen mußte, daß er nicht in leeren Worten gesprochen habe. Sie standen vor einander, er finster vor sich niederblickend, sie blaß und erregt, das Auge angstvoll auf sein Gesicht gerichtet. Sie fragte weiter:

»Und ebenso würden Sie Ihre Mutter verachten?«

Da erhob er den Kopf. Sein Gesicht erhellte sich. Sein Auge begann zu leuchten.

»Ihr zürnen? Sie verachten? Meine Mutter? Wie wäre das möglich! Was sie gethan hat, das that sie gezwungen. Vielleicht hat sie gewußt, daß ich unter Fremden besser aufgehoben sei, als bei ihr. Und wenn das Alles auch gewesen wäre, der Vater ist ein Mann, den kann und muß man verachten. Eine Frau aber, eine Mutter verachten, das liegt ganz außerhalb der menschlichen Natur. Sagt doch der Dichter mit Recht:

Wenn Du noch eine Mutter hast,
So danke Gott und sei zufrieden.
Nicht Jedem auf dem Erdenrund
Ist so ein hohes Glück beschieden!

Wenn Du noch eine Mutter hast,
So sollst Du sie mit Liebe pflegen,
Daß sie dereinst ihr müdes Haupt
In Frieden kann zur Ruhe legen.«

Er sagte das so innig, so herzlich! Sie kämpfte mit sich selbst. Sollte sie sich ihm mittheilen? Jetzt schon? Es zog sie mit jeder Faser ihres Herzens zu ihm hin. Und doch zitterte sie bei dem Gedanken, daß er sein mildes Urtheil zurücknehmen könne. Nein, sie wollte ihn noch weiter ausforschen, ehe sie das entscheidende Wort sagte.

»Und wenn Ihre Mutter aber wirklich schlecht an Ihnen gehandelt hätte?«

»Das hat sie nicht!« antwortete er bestimmt.

»Wenn sie Sie verlassen hätte aus Leichtsinn, ohne Noth und zwingende Gründe?«

Sie hatte die Hände gefaltet. Er ließ seinen Blick über sie schweifen, nicht beobachtend und forschend, sondern blitzschnell, aufleuchtend. Und als er


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dann antwortete, strahlte ihr förmlich eine seelische Wärme aus seinem Gesichte entgegen.

»Meine Mutter leichtsinnig? Nein, das ist sie nie gewesen, und das ist sie nicht. Ich habe den Charakter meiner Mutter geerbt, und ich bin nicht leichtsinnig. Meine Mutter ist ein gutes, herrliches, einziges Wesen. Ich liebe sie von ganzem Herzen und mit meiner ganzen Seele. Ich könnte mein Leben für sie geben zu jeder Zeit, gleich jetzt! Ich bete sie an! Oder soll ich das nicht? Soll ich Dich nicht lieben, Mutter, Mutter, meine Mutter?«

Er schlang die Arme um sie und zog sie an sich.

»Herrgott!« schrie sie auf.

Er aber drückte sie inniger und inniger an sich. Sie schloß die Augen, aber ein unendlich glückliches Lächeln legte sich über ihr Gesicht.

»Mutter, meine liebe, liebe Mutter!« jauchzte er abermals auf. »Endlich, endlich hab ich Dich gefunden!«

Sie antwortete nicht. Es war ihr, als ob sie in einem unendlich glücklichen Traum befangen sei, aus dem sie aber nicht erwachen dürfe. Da legte er den Mund nahe an ihr Ohr und flüsterte in inniger Bitte:

»Mutter, antworte! Sag nur ein Wort, ein einziges, allereinziges!«

»Max, mein Max!« antwortete sie leise.

»Herrgott! Das ist das erste Mal, daß ich meinen Namen aus dem Munde der Mutter höre! Wie glücklich bin ich, wie unendlich glücklich!«

»Wirklich?« fragte sie zaghaft.

»Ja. Ich kann es nicht beschreiben, wie glücklich ich bin. Bitte, bitte, öffne die Augen! Blicke mich an!«

Da schlug sie langsam die Augen auf, und es traf ihn ein Blick voll solcher Liebesgewalt, daß er innerlich zusammenschauerte.

»Ich danke Dir! Das ist das Mutterauge! Das ists, ja das ist es! Jetzt ist mein Leben nicht mehr öd und verlassen. Jetzt habe ich eine Mutter, welche mit mir denken und empfinden kann. Nun ist Alles, Alles, Alles gut!«

Da entwand sie sich seinen Armen, blickte ihn mit einem Blicke an, welcher nach und nach in Thränen ertrank, sank langsam vor ihm in die Kniee, erhob flehend die Hände und rief:

»Max, Max, vergieb mir, vergieb!«

Er aber stieß einen Jubelruf aus, hob sie rasch zu sich empor, legte ihren Kopf an seine Brust und antwortete:

»Wie namenlos glücklich wäre ich, wenn ich Dir etwas zu vergeben hätte! Aber das ist leider nicht der Fall! Leider? Welch ein schlimmer Gesell ich bin! Glücklicher Weise ist es nicht der Fall. So muß ich sagen. Mutter, Du bist schuldlos. Kein Vorwurf kann Dich treffen. Du kannst nie bös gewesen sein!«

»Nein, bös war ich nicht, aber unglücklich, namenlos unglücklich!«

»Das weiß ich, denn ich sehe Dich!«

»Ich werde Dir Alles, Alles erzählen, Max. Höre mich an!«

»Nein, nein! Ich mag nichts hören; ich mag nichts wissen; wenigstens


Ende der sechsunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

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