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HELMUT SCHMIEDT

Der Schatz, der Frosch und der Pope - Zur Dialektik
der Aufklärung in Mays Kolportageroman
»Deutsche Herzen - Deutsche Helden«



Zu den zahlreichen Merkwürdigkeiten und Widersprüchen, auf die der aufmerksame Leser in Karl Mays exotischer Romanwelt stößt, gehört es, daß gerade die größten Helden sich als ausgesprochen unexotische Wesen präsentieren. Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, aber auch Figuren wie Old Firehand und Old Surehand gleichen in Bildung, Verhalten, Sprache, Denkgewohnheiten eher dem Ideal des kulturell hochstehenden Europäers als dem durchschnittlichen Typus des in rauher Umgebung aufgewachsenen und geformten Wilden, und Winnetou und Hadschi Halef Omar, die besten Freunde des führenden Genies, entwickeln sich im Verlauf ihrer Abenteuer deutlich nach seinem Bild; Shatterhand/Kara Ben Nemsi, der Beschützer der Indianer und der arabischen Nomadenstämme, führt darüber hinaus Waffen mit sich, deren Mechanismus das Begriffsvermögen der Beschützten bei weitem übersteigt. Als charakteristische Repräsentanten der Wildnis Nordamerikas und des Orients erscheinen uns die Indianer mit ihren gläubig befolgten Ritualen, ihrer blumigen Sprache, ihrem unbeugsamen Stolz, der sich vernunftgeprägten Argumenten nur schwer öffnet; die Westmänner vom Schlage eines Sam Hawkens, die ohne Ausnahme irgendwelche persönlichen Marotten pflegen, den Aufenthalt in den Städten verabscheuen, sich nur auf ihren eigenwilligen Reisen durch die dark and bloody gronnds der Prärie und des Felsengebirges wohl fühlen und dabei kaum in der Lage sind, mit anderen als mit ihresgleichen zu kommunizieren; die Araber, die den Indianern in vielem gleichen und dabei die Welt ringsumher nur insoweit registrieren, als sie die Urwüchsigkeit des eigenen Lebens, die Sicherheit und Qualität der Weideplätze und die Integrität der jeweiligen Glaubensrichtung berührt. Ganz anders Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi: er weiß geläufig über die unterschiedlichsten Wissensbereiche von der Astronomie bis zur Theologie zu reden, bewegt sich im Salon des südamerikanischen Caballero ebenso gewandt wie im Zelt des Hadde-


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dihn-Arabers und vermag die Eigentümlichkeiten im sozialen, politischen und kulturellen Leben des einen Weltteils dank seiner umfassenden Erfahrungen aus übergeordneter Perspektive souverän und gelassen zu kommentieren. Es sind, bei diversen Zwischenstufen, zwei ganz entgegengesetzte Konzeptionen des Menschen, denen der Leser begegnet: während die typischen Vertreter der Wildnis, ob moralisch gut oder böse, ganz unmittelbar dem Einfluß ihrer engeren Umwelt ausgesetzt sind und keine anderen Reaktionen zeigen können als die, die die gerade herrschenden Verhältnisse ihnen ohne jede Möglichkeit zur Distanz aufzwingen, steht Mays Ich-Held fast immer über den Dingen, beherrscht zumindest intellektuell die Szenerie, der die meisten Aktionspartner hilflos ausgeliefert sind. Zwei Kulturstufen treffen aufeinander, deren Trennung durch den Begriff der Aufklärung am sinnfälligsten zu benennen ist. Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi ist der aufgeklärte Mensch, wie er in Persönlichkeitsidealen des 18. Jahrhunderts entworfen wurde. Rationalität, Selbstgewißheit und umfassendes Wissen steuern sein Handeln, das auf dieser Grundlage der sozialen Verantwortung unterworfen ist. Die anderen dagegen können über einen engen Horizont nicht hinausblicken, orientieren sich am Immergleichen, von dem es stets nur neue Details zu erkennen gilt; Sinn und Zweck ihres Lebens erfüllen sich in einem festgelegten Rahmen, den der deutsche Held jederzeit verlassen kann. Shatterhand/Kara besichtigt so, cum grano salis, in der zu seiner Zeit an anderer Stelle herrschenden Kultur die Vergangenheit der eigenen Heimat, entdeckt in der Ferne Elemente der mitteleuropäischen Geschichte aus vor-aufklärerischer Zeit. Die Expeditionen des Helden sind Wege in frühere Epochen, deren Kenntnis allerdings erst die sinnvolle Planung der Zukunft ermöglicht.

Daß es sich bei der Charakterisierung der Heldenfigur, selbst wenn wir alle genrebedingten Übertreibungen zum machtvollen Superstar abstreichen, ausschließlich um ein utopisches Konstrukt, ein Wunschbild des rational gelenkten Europäers handelt statt um die Reproduktion der durchschnittlichen Denkformen in der realen europäischen Zivilisation, ist so selbstverständlich wie banal, und wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir die Hypertrophierung dieses Ideals gerade auf die große Entfernung zurückführen, die es von der alltäglichen Wirklichkeit trennt. Dies gilt im Blick auf die Biographie Karl Mays(1) ebenso wie vor dem Hintergrund der allgemeinen soziokulturellen Entwick-


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lung: der literarische Entwurf meldet Ansprüche an auf die Emanzipation des Mannes, für den der Romanheld steht, und auf die Emanzipation der Schicht und Klasse, die er vertritt und denen er die Konstituenten seines Verhaltens als vorbildlich und hilfreich suggerieren will; namentlich die Kolportagetheorie Ernst Blochs(2) hat auf diese Zusammenhänge, auch in Verbindung mit Karl May, aufmerksam gemacht.

Der grundlegende Kontrast, in dem sich die Protagonisten in der Wildnis darstellen, bleibt keineswegs folgenlos. Er wird rasch zum Konflikt, beeinflußt die Streitigkeiten, die allerorten ausbrechen, ja er prägt sie oft nachdrücklich. Der deutsche Held steht durchaus nicht auf der Seite derer, die die Eingeborenen und ihre Freunde mit Gewalt »zivilisieren« wollen. Schon im Vorwort zum ersten »Winnetou«-Band vertritt er engagiert das Recht der Indianer auf eine eigenständige Entwicklung ihrer Kultur, und wenn er gleich zu Beginn dieses Romans weiter ausführt, daß ihn unerquickliche Verhältnisse in der Heimat(3) nach Amerika getrieben haben, dann vermuten wir zu Recht, daß seine Beziehungen zur Wildnis einerseits und zu Europa andererseits keineswegs so eindeutig sind, wie es in anderem Zusammenhang den Anschein hat. Vielmehr entsteht ein scharfer Gegensatz zwischen der Überzeugung von der Superiorität des eigenen kulturellen Niveaus und dem Wunsch, die Originalität der ganz anderen Verhältnisse zu verteidigen. May versucht häufig, diesen Widerspruch durch umfangreiche Bekenntnisse zur Toleranz(4) zu überspielen. Aber er kommt nicht daran vorbei, daß sein Held die Verwirklichung des aufgeklärten, humanen Menschenbildes in einem Umfeld einleitet, das sich gegen derartige Konzeptionen sperrt, während er zugleich darauf insistiert, die Unversehrtheit der Wildnis zu verteidigen. Der Konflikt spitzt sich zu, wenn böse Menschen das Streben nach materiellem Gewinn in die Exotik importieren, ein herausragendes Merkmal der abendländischen Wirklichkeit also, oder wenn behördliche Unternehmungen dem Ziel dienen, Indianern und Nomaden eine Ordnung nach obrigkeitlichen Vorstellungen zu oktroyieren. Am Ende wäre es einer sorgfältigen Analyse möglich, nahezu alle Streitigkeiten in der Wildnis auf den Zusammenprall zwischen der älteren und der jüngeren Kulturstufe, insbesondere auf das ständige Gegeneinander und Ineinander ihrer vom Erzähler als negativ und positiv bewerteten Elemente zurückzuführen; die Undenkbarkeit einer definitiven Lösung begründet die rastlose Dynamik, die May Abenteuer an Abenteuer reihen läßt.


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Die fünf Kolportageromane, die Karl May, überwiegend wohl aus materieller Not, in den Jahren 1882-87 für den Dresdener Verleger Münchmeyer schrieb, weisen zum Teil starke Parallelen zu den Reiseromanen auf, weichen andererseits aber auch beträchtlich von ihnen ab. Drei dieser Werke (»Der verlorene Sohn«, »Die Liebe des Ulanen«, »Der Weg zum Glück«) verlassen nur selten den Raum Deutschlands oder seiner engeren Umgebung, die beiden anderen (»Das Waldröschen«, »Deutsche Herzen - Deutsche Helden«) schicken ihre edlen Protagonisten rund um die Welt. Dabei finden diese Akteure - und darin liegt der auf den ersten Blick sichtbarste Gegensatz zu den Erzählungen um Shatterhand/Kara Ben Nemsi - ihr endgültiges Glück nicht im abenteuerlichen Leben in der Fremde, sondern daheim und fast immer im Stand der Ehe. Für Shatterhand und seine Freunde ist das ungebundene Westmannsleben das endgültige Ziel ihrer äußeren Existenz, für die Kolportagehelden ist das Abenteuer ein Durchgangsstadium. Indessen können auch sie ihre Individualität und ihren persönlichen Wert allein auf diesem Wege beweisen und sich als Individuen realisieren, und so stellen sich dann doch zahlreiche Übereinstimmungen zwischen den beiden Werkgruppen ein.

Der Gegensatz zwischen hochgebildeten Europäern und naiv handelnden Eingeborenen tritt in den Kolportageromanen gleichfalls zutage; allerdings wird er nicht im Hinblick auf die Existenz der Exotik schlechthin thematisiert, eben weil das fremde Terrain für die meisten Europäer kein ständiger Aufenthaltsort ist. Sternau, der Held des »Waldröschen«, erscheint als berühmter Arzt, ist bei den besten Lehrern seines Faches in die Schule gegangen und auch sonst mit überragenden Kenntnissen ausgestattet. Steinbach, der Held in »Deutsche Herzen«, entpuppt sich im Finale, nachdem er überwältigende intellektuelle und physische Fähigkeiten aller Art bewiesen hat, als deutscher Prinz. Sein erfolgreichster Gefährte, Sam Barth, der nicht die Vorzüge fürstlicher Abkunft genießt, zeigt sich ihm häufig ebenbürtig, und in solchen Szenen wird auch er zum Muster des intelligent und überlegen kalkulierenden Akteurs. Steinbach und Barth haben sich die Aufgabe gestellt, die durch ein Verbrechen in alle Welt verstreuten Mitglieder der deutschen Adelsfamilie von Adlerhorst wieder zu vereinen (und daß der Erzähler, nachdem der Leser den verworrenen Fall über zweieinhalbtausend Seiten verfolgt hat, jede Erklärung schuldig bleibt, wie denn nun die das traurige Ereignis auslösende Intrige im einzelnen


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ausgesehen hat; daß er darüber hinaus zahllose Rätsel aufgibt, von denen kaum eines je gelöst wird; daß May also am Ende vor den Verwirrungen der eigenen Phantasiewelt kapituliert - das alles kann als typisch für die Machart der Münchmeyer-Romane angesehen werden(5)). Zum Schluß gilt es noch, den als »Kosak Nummer zehn« nach Sibirien verbannten Georg von Adlerhorst in die Freiheit zurückzuführen, und bei diesem Unternehmen zeichnet sich erneut Sam Barth aus.(6)

Adlerhorst ist nach dem öffentlichen Zusammenprall mit einem Offizier ins Gefängnis gesteckt worden und wird von zwei Kosaken bewacht. Sam Barth belauscht deren Gespräch und erfährt dabei von ihrem Aberglauben: heute, so meinen sie, am Tag des heiligen Iwan Wassiljewitsch(7), sei für sie als Sonntagskinder die Gelegenheit gegeben, einen tief in der Erde verborgenen Schatz zu heben, wenn sich nur ein gütiger Geist bereitfände, ihnen die entsprechende Stelle zu zeigen; der Großmutter des einen soll vor langer Zeit einmal ein solches Glück ganz nahe gewesen sein, wobei der Geist die Gestalt eines Frosches besessen habe. Sam Barth, der die Dunkelheit der Nacht geschickt ausnutzt, zögert nun nicht, das Quaken eines Frosches zu imitieren, die Wächter fortzulocken und in größerer Entfernung vom Gefängnis dazu zu veranlassen, nach dem vermeintlichen Schatz zu graben. Die scheinbar so einfache Befreiung des Gefangenen wird unerwartet erschwert, als der amtierende Kreishauptmann und sein Sohn, Rittmeister der Kosaken, die Szene betreten und die Unbotmäßigkeit der Wächter entdecken, für deren Aberglauben sie nur Spott ührig haben. Als sie freilich das Gefängnis kontrollieren wollen, werden sie von Barth und seinen Gefährten überwältigt, anstelle des Gefangenen gefesselt und zur Strafe für ihre diversen Untaten obendrein noch nach Westmannsart geteert. Am nächsten Morgen entdeckt man im Gefängnis zwei rätselhafte, gräßlich aussehende Gestalten, denen sich niemand zu nähern wagt und die folglich auch niemand erkennt: Ihre Haut war mit langen, stinkigen Haaren bewachsen(8), beobachtet ein mutiger Lieutenant, und für die Einheimischen kann kein Zweifel daran bestehen, daß es sich um den Teufel und seine Großmutter handelt. Der Pope des Ortes wird herbeizitiert, um die unwillkommenen Gäste auszutreiben. Den düpierten Opfern, die eine Blamage um jeden Preis vermeiden wollen, bleibt keine andere Wahl, als die angetragenen Rollen weiterzuspielen und die versammelte Menge so lange


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auf Distanz zu halten, bis sie die eigene Wohnung erreicht haben, wo man die höllischen Eindringlinge in aller Ruhe durch die Feueresse ausfahren lassen kann; nur noch ein penetranter Gestank kündet von dem denkwürdigen Besuch.

Schon der flüchtige Blick auf die Figuren dieser Episode zeigt, wie grundsätzlich unterschiedlich denkende Menschen hier aneinandergeraten. Sam Barth vertritt das Ideal nüchterner Reflexion: er handelt rational, besonnen, mit weitsichtiger Planung und nach der von der Aufklärung geprägten Maxime des gemäßigten Affekts, die keine emotionale Hingabe an rasche Entschlüsse, keine unbedachten Regungen zuläßt. So wie Old Shatterhand seine Überraschung in verwirrenden Situationen stets schnell zur vernünftigen Überlegung nach einem Rettungsweg sublimiert, so reagiert Sam Barth ohne jeden Anfall von Irration; selbst die zunächst infantil aumutende Bestrafung von Vater und Sohn erhält im Kontext der Handlung einen einsichtigen Sinn, denn das Ungemach ist den beiden, die sich mehr und mehr als üble Schurken herausstellen, wohl zu gönnen. Ganz anders steht es mit den Einheimischen. Die beiden Wächter pflegen magische, schwach christlich durchsetzte Vorstellungen, mit denen sie sich der Lächerlichkeit preisgeben. Die gesamte Bevölkerung des Ortes flüchtet in abergläubischer Angst vor den vermeintlichen Teufeln, und selbst der Pope sucht in alten, vergilbten Büchern und Handschriften . . . Anweisungen über das Austreiben und Bannen des Satanas(9), bevor er zur Tat schreitet, repräsentiert also eine Stufe des christlichen Glaubens, die gegenüber den Denkformen des Helden hoffnungslos antiquiert wirkt. Ein wenig reifer erscheinen da schon der Kreishauptmann und der Rittmeister. Zwar sind auch sie keineswegs frei vom Aberglauben(10), aber sie bringen es immerhin fertig, mit der ihnen aufgezwungenen Rolle als Teufel zu spielen, sie sich zunutze zu machen, und damit beweisen sie eine Distanz zu den vor-rationalen Überzeugungen, die man in ihrer engeren Umgebung sonst vergebens sucht. Noch höher allerdings rangiert Sam Barth, der weder an Beschwörungsformeln für gute Geister noch an verborgene Schätze, an den Teufel und seine Großmutter oder an das besondere Glück von Sonntagskindern glaubt, sondern die Rede von all diesen Dingen nur ins Kalkül zieht, um sie der Förderung der eigenen Pläne einzuordnen; so ist es auch nicht weiter erstaunlich, daß er bei der Rückverwandlung der Teufel in Beamte wiederum heimlich anwesend ist und für die


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Zukunft wichtige Neuigkeiten erlauscht. Wie Sam Christentum und eigene Aktivität zu verbinden gedenkt, zeigt sich an späterer Stelle, als er eindringlich davor warnt, sein Schicksal allein dem Vertrauen auf die Gottesmutter auszuliefern; statt dessen gehe es darum, selbst zu handeln(11). Auch dieser Gedanke, daß die christliche Bewährung in erster Linie durch die Tat erfolgen müsse, hat seine wichtigsten Wurzeln in der historischen Aufklärung.

Das moderne, rationale Denken triumphiert über magische, mythische, primitiv-religiöse Überzeugungen. Aber May begnügt sich nicht damit, die Superiorität des deutschen Helden kommentarlos zu registrieren. Mit ihr verbunden ist die Verspottung, ja Verhöhnung der anderen Kulturform. Sie erscheint nicht nur als etwas, das zwar im Konfliktfall von der europäischen Macht überrollt werden könnte, aber immerhin den moralischen Anspruch besitzt, in seiner Eigenart ernst genommen und respektiert zu werden, das Recht, sich in sozialer . . . Beziehung nach seiner Individualität zu entwickeln(12), sondern sie wird in allen ihren Teilen verächtlich gemacht. Hier fehlt, zunächst jedenfalls, jeder Ansatz zu der Toleranz, die May in anderem Zusammenhang so angelegentlich vertritt; Helden und Leser dürfen sich auf Kosten der sibirischen Bevölkerung amüsieren; wir entdecken bei May deutliche Spuren des Nationalismus, wie er in der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts und auch später weit verbreitet war. Der Erzähler äußert, daß der sibirische Kosak ein treuherziger, gutmütiger, kindlicher, abergläubischer und auch - dummer, einfältiger Mensch . . . ist(13), und dabei bleibt es. Die Wächter des Georg von Adlerhorst sind typische Vertreter dieser Spezies, ächt russische Soldaten: reine Maschinen, welche nicht denken können(14), wie Sam Barth bemerkt. Sogar ihren Vorgesetzten, die sie bei der Schatzsuche erwischen, erscheinen sie so dumm, daß es Einen eigentlich erbarmen müßte(15), aber unter denen, die so rüde zu urteilen vermögen, entdeckt Barth auch wieder einen Schafskopf ersten Ranges(16). Das Bewußtsein der eigenen Überlegenheit ist verbunden mit dem Verzicht auf die Erklärung des Andersartigen. Es führt zur Arroganz, zur nationalen Überheblichkeit und, im Rahmen der weiteren Abenteuer, zur starren Hierarchie von Mächtigen und Ohnmächtigen, wobei die deutschen Helden selbst geringfügige Erfolge der Gegner stets zur neuen Demonstration ihrer Machtfülle ausnutzen dürfen. Das aufklärerische Denken hat den emanzipatorischen und, im weiteren Sinne, altruistisch-sozialen Zug


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eingebüßt, der ihm historisch von Anfang an eigen war; es dient nur noch sich selbst, der Bestätigung seines Glanzes, ohne Rücksicht auf andere, und es wird pervertiert. In dieser Form hat es Teil an der von Adorno und Horkheimer diagnostizierten Dialektik der Aufklärung, der Verselbständigung einer Bewegung, die am Ende, indem sie wieder zum Mythos wird, die ursprünglichen Intentionen rücksichtslos liquidiert. Freilich ging es den genannten Autoren in erster Linie um Konflikte innerhalb der vom Rationalismus geprägten Gebiete, um das Europa und Nordamerika des 20. Jahrhunderts. Aber dennoch zeigt sich in Mays Sibirien-Episode eine ähnliche Tendenz, wie anders die Voraussetzungen des fremden Landes in seiner Beschreibung durch den Erzähler auch sein mögen und ungeachtet des krausen Argumentationsgangs der Kolportage, der uns vor allzu weitgreifenden Interpretationen warnen muß: eine Tendenz fort von den Idealen der Toleranz, des Verständnisses für das Fremde, der Freiheit und Gleichheit und hin zum Chauvinismus, zur Inhumanität. Kein Gedanke wird verschwendet an die notwendige disparate Entwicklung des Menschengeschlechts, die, wie besonders Lessing eindringlich formulierte, zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Territorien eben unterschiedliche Phänomene zeitigen muß. So ist auch das historische Bewußtsein diesen Aufklärern abhanden gekommen; das Fremde erscheint nur noch als schlechthin minderwertig und im Vergleich primitiv und wird bestenfalls als Ansammlung harmloser Albernheiten abgetan. Erzähler und Held sind sich in dieser Haltung einig.

Wir werden, nach diesen Beobachtungen, Ekkehard Bartsch nicht folgen können, wenn er Mays »deutsche Helden« »in ihrer Haltung anderen Rassen gegenüber vorbildlich«(17), weil ganz unchauvinistisch, nennt. Doch May geschähe unrecht, wollte man es bei diesem Kommentar belassen. Die eingangs getroffenen Feststellungen über den Konflikt zwischen abendländisch sich gerierenden Helden und ihrer Zuneigung zur Wildnis gelten für die Kolportageromane zwar nur in begrenztem Maße, aber auch diese Werke kommen, wie angedeutet, ohne einschlägige Widersprüche nicht aus. Gerade die Erlebnisse in der Exotik qualifizieren die guten Menschen für jenes Glück, das sie am Ende erreichen, und oftmals wird gar in der Ferne altes Unheil, das sich in der Heimat zugetragen hat, korrigiert. So findet Steinbach, der Überheld des »Herzen«-Romans, seine Lebensgefährtin mitten im Orient, und Sam Barth entdeckt im Wilden Westen die Frau wieder,


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die einstmals seine Liebe nicht zu erwidern schien, so daß er Deutschland verließ, die nun aber bereit ist, ihn zu heiraten. Die Wildnis, und sei es durch die Widrigkeiten, mit denen man darin zu kämpfen hat provoziert die Situationen, in denen das happy end vorbereitet wird, sie ist die conditio sine qua non für eine zufriedenstellende Zukunft, auch wenn sich die Protagonisten dieser ihrer Funktion nicht bewußt sind. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn der weitere Blick auf Mays sibirische Welt auch in Einzelheiten Gegenbewegungen zu den bisher eindimensional scheinenden ideologischen Linien verzeichnet. Der Bauer Sergius Propow zum Beispiel besitzt - das weiß Jedermann - Bildung und Kenntnisse(18), aber dennoch agiert er als eine überaus lächerliche und dazu hinterhältige Person, während sein bescheidenerer Nachbar und Kontrahent Peter Dobronitsch die volle Sympathie des Erzählers genießt; umgekehrt sind der Tungusenfürst Bula und seine Frau von geradezu kindlicher Naivität, doch niemand wird ihnen die beste Gesinnung absprechen können, die sich in ehrenwerten Taten ausspricht. Es geht May mithin doch nicht nur um die schlichte Propaganda, die sich aus manchen seiner angeführten Räsonnements herauslesen läßt, und es zeigt sich, daß viel eher als die Überzeugungen von der kulturellen und sozialen abendländischen Superiorität Fähigkeiten zur praktischen Bewältigung des abenteuerlichen Lebens den Gang der Ereignisse steuern; diese Fähigkeiten aber bleiben keineswegs nur den deutschen Helden vorbehalten. Peter Dobronitsch gelingt es, den klugen Propow und einen weiteren Feind in seiner Räucherkammer einzuschließen und sie dann so zu behandeln, daß auch sie später wie zwei Teufels(19) aussehen. Die Parallele zur Gefängnisepisode veranschaulicht eindringlich, daß derartige Erfolge kein Privileg der Sam Barths sind.

Schließlich hat auch die Frosch-Geschichte selbst noch ein Nachspiel, das die Haltung des Autors in einem anderen Licht erscheinen läßt. Barth greift nämlich den Aberglauben der beiden Gefängniswächter wieder auf, nun aber in ihrem wohlverstandenen Interesse. Er kauft sie uneigennützig aus ihren soldatischen Verpflichtungen frei, rettet sie damit vor einer Bestrafung wegen ihrer Unaufmerksamkeit und stattet sie auch noch mit einem reichen Geldgeschenk aus(20), das ihnen fürs erste eine sorgenfreie Zukunft garantiert; die Mittel dazu will er einer zweiten Erscheinung des Frosches zu verdanken haben, der den Kosaken zunächst so großes Unglück bescherte. Nebenbei


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rehabilitiert Barth auch noch den Stand der Popen: der Pope werde die schriftlich fixierte Entlassung aus dem Militär gegen einen etwaigen Widerruf von dieser Seite verteidigen. Gewiß wird hier die Überlegenheit Sam Barths gegenüber den Einheimischen nicht eingeschränkt. Aber sie wird doch, am Ende der Episode, an den Gedanken geknüpft, daß der Stärkere dem Schwachen zu helfen habe, erfährt also eine inhaltliche Ergänzung, die zu den ursprünglichen Absichten der Aufklärung zurückführt. Damit verwischen sich die Konturen endgültig. Die Exotik wird verurteilt und verspottet, weil sie nicht so ist wie das Heimatland der deutschen Helden: In Sibirien verhält man sich leider so, als ob das Wasser Gift sei und ein Pfund Seife eine ganze Million koste(21); aber viele ihrer Einwohner verdienen sich die Zuneigung der edlen Protaponisten. Andererseits sind alle deutschen Helden von der Sehnsucht nach einem friedlichen Leben im Vaterland erfüllt, obwohl sie, im Innersten ihrer Existenz, auf das Abenteuer angewiesen sind und durch ihre zahllosen Reisen in die Ferne zugleich der Heimat eine Absage erteilen. Die maßgeblichen Konstituenten und Merkmale der deutschen, abendländischen Verhältnisse und der Exotik relativieren sich so in ständiger Konfrontation, und die daraus folgende Bewegung ist das letzte Agens aller Handlung. Überschaut man Mays Gesamtwerk, so werden die Verhältnisse noch komplizierter. Kaum etwas in Mays Sibirien erscheint dem Leser inhumaner und den Protagonisten qualvoller als die an Georg von Adlerhorst, dem Kosak Nummer zehn, demonstrierte Regelung, nach der die verbannten Sträflinge ihren Namen einbüßen und nur noch mit Zahlen bezeichnet und gerufen werden. Nichts verdeutlicht eindrucksvoller die Neigung, Individualität und Persönlichkeit dessen zu zerstören, der den sozialen Normen nicht hat standhalten können, aber wie selbstverständlich gibt es eine ausgesprochen vernünftige Begründung für solche Verfahren: wer eingesperrt wird, gilt als Strafvollzugsobjekt, das man zur besseren Übersicht mit einer Zahl bezeichnet.(22) Diese Erklärung findet sich allerdings nicht im »Helden«-Roman; ein deutscher Zuchthausdirektor rechtfertigt, in einer frühen Dorfgeschichte Mays, mit solchen Worten die Zustände in deutschen Strafanstalten. Was in der Exotik beklagt wird, ist ein Charakteristikum noch der deutschen Zivilisation; was er darin erlebt hat, projiziert May in jene Verhältnisse, in denen die stolzen Besitzer deutscher Herzen erst zu Helden werden.

Dies alles mag auf den ersten Blick verwirrend wirken. Das gängige


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Urteil, Trivialliteratur verhalte sich affirmativ und im Sinne opiumhaltiger Beruhigungsmittel zu den Verhältnissen, in denen sie entstanden ist, läßt sich für Mays Kolportageroman offensichtlich nicht halten; aber auch nicht die Alternative, die ihm in erster Linie den Charakter von Ausbruchsliteratur, die gegen heimatliche Zwänge opponiert, zuerkennen will. Dennoch können wir für beide Meinungen eindrucksvolle Belege finden. Es gilt daher, die Widersprüche dieses Werkes in ihrer Gesamtheit, in ihrer ganzen Breite und Ernsthaftigkeit zu akzeptieren. Mays Ausführungen sind nicht mit einem dialektisch vorwärtsschreitenden Erkenntnisgang zu verwechseln; es ist nicht so, daß May den verschiedenen Territorien mal die besseren, mal die schlechteren Seiten abgewinnt. Er konstrniert de facto eine Tendenz, die die Heimat ohne Einschränkungen idealisiert, aber im nächsten Augenblick bringt er es fertig, das Gegenteil vorzubereiten. Die virtuos mobilisierten Inkonsequenzen werden dabei völlig unbewußt ausgetragen. Ihre Eigenart verweist aber auf die Situation derer, die sie genießen, sei es produzierend als Autor oder rezipierend als Leser. Wer so intensiv von der Ferne träumt, der bezeugt sein Leiden an der Wirklichkeit, in der er lebt, und wer dann doch sogleich wieder der Verherrlichung der Heimat zustimmt, der zeigt die Grenzen seines Fluchtdrangs und die Gebundenheit an den Alltag. Daß der Erfolgsschriftsteller Karl May die seltsame Vermittlung solcher Haltungen in ihren extremen Ausuferungen illustriert und dabei nichts retuschiert, weil er den ausgedehnten Akt seiner Selbstentblößung gar nicht erst wahrnimmt, macht seine Werke zu einem Erkenntnisobjekt ersten Ranges. Indessen kann der forsche Aktionismus der Romanhandlung ihre Brüche nicht dauernd verschleiern, und das Werk bedarf des über alle Grenzen gesteigerten Heros, um im Gewirr der Ereignisse nicht stecken zu bleiben: nicht wenn Sam Barth, aber wenn Steinbach kommt, werden Zeichen und Wunder geschehen. Der Niedrige wird erhöhet und der Hohe erniedrigt werden, ganz genau so, wie es in der Bibel steht.(23) Dies ist der Punkt, an dem der Erzähler ahnungslos kapituliert und Aufklärung endgültig in Mythos zurückschlägt.



1 Den umfassendsten Überblick zur Biographie Karl Mays vermittelt Hans Wollschläger, Karl May, Zürich 1976.

2 Vgl. besonders Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit. (Gesamtausgabe Bd. 4) Frankfurt a. M. 1962, S. 168-186 und Gert Ueding, Glanzvolles Elend. Versuch über


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Kitsch und Kolportage. Frankfurt a. M. 1973.

3 Karl May, Winnetou. 1. Band (Gesammelte Reiseerzählungen Vll), S. 9

4 Vgl. Heinz Stolte, Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May, in: Jb-KMG 1977, S. 17-57

5 Vgl. dazu Walther Ilmer, »Mißratene« Deutsche Helden, in: Karl Mays Deutsche Herzen und Helden. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft, Hamburg 1977, S. 4-40

6 Zitiert wird im folgenden nach dem Reprint der Erstausgahe, Dresden 1885/86: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Hrsg. v. Roland Schmid, Bamberg 1976. Ferner liegt neuerdings wieder vor ein Reprint der gegenüber der Erstveröffenthchung leicht veränderten Ausgabe Dresden 1901/02: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. 5 Bde., Hildesheim-New York 1976 (zur Entstehungsgeschichte der Ausgaben vgl. das Vorwort von Ekkehard Bartsch ebd., Bd. 1, S. 1-9). Eine stark bearbeitete und gekürzte Fassung des Werkes enthält die vom Karl-May-Verlag vertriebene Bamberger Ausgabe mit den Bänden 60-63 (Karl May's Gesammelte Werke).

7 Karl May, Deutsche Herzen, Erstausgabe, S. 1637

8 Ebd. S. 1692

9 Ebd. S. 1695

10 Ebd. S. 1765

11 Ebd. S. 1781

12 Karl May, Winnetou I (wie Anm. 3), S. 2

13 Karl May, Deutsche Herzen, S. 1635

14 Ebd. S. 1690

15 Ebd. S. 1644

16 Ebd. S. 1648

17 Ekkehard Bartsch, Vorwort (wie Anm. 6), S. 8

18 Karl May, Deutsche Herzen, S. 1993

19 Ebd. S. 2086

20 Vgl. ebd. S. 1762 ff.

21 Ebd. S. 1696

22 Karl May, Des Kindes Ruf, in: Erzgebirgische Dorfgeschichten. Dresden-Niedersedlitz o. J. (1903), S. 69 (Reprint: Hildesheim-New York 1977)

23 Karl May, Deutsche Herzen, S. 2229


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