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HELMUT SCHMIEDT

Ein zweites Jahrbuch

Konkurrenz für die Karl - May- Gesellschaft?




Die heftigen Angriffe gegen die Karl-May-Gesellschaft, wie wir sie bis in die jüngste Zeit in den Grazer »Blättern für Volksliteratur« und im ehemaligen »Graff-Anzeiger« und jetzigen »Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur« finden(1), scheinen mir von einem Mißverständnis, ja sogar einer Selbsttäuschung getragen zu sein, die um so mehr überrascht, als ihre Aufklärung für niemanden ehrenrührig wäre. Die Karl-May-Gesellschaft, so lesen wir, publiziere zu viele Arbeiten mit absurden, modischen Trends ergebenen wissenschaftlichen Ansätzen; die Ergebnisse seien oft lächerlich und provokativ, und wer daran Anstoß nehme und dies öffentlich ausspreche, der werde mit Arroganz zurückgewiesen, denn Opposition im Sinne ernsthafter Kritik sei nicht erlaubt, Toleranz werde nicht geübt. Richtig an dieser Meinung ist, daß eine Auseinandersetzung der Karl-May-Gesellschaft mit solchen Kritikern seit längerem nicht mehr stattfindet; schief und unzutreffend wird sie aber dadurch, daß ihr überhaupt die Grundlage, nämlich eine umfassende Fundierung der Kritik, eine auch nur annähernd das Prädikat »argumentativ« verdienende Ausführung fehlt, auf die die Karl-May-Gesellschaft antworten könnte. Mit ganz wenigen Ausnahmen steht die oft polemische Schärfe der Anwürfe namentlich gegen die sozialgeschichtlichen und psychologischen Arbeiten, die die Gesellschaft publiziert, in kuriosem Widerspruch zu ihrer inhaltlichen Begründung; es werden mit großer Geste umfangreiche und subtile Untersuchungen in ein paar Zeilen vom Tisch gewischt, ohne daß auch nur der Versuch unternommen würde, sich mit den vorgefundenen Analysen im Detail auseinanderzusetzen. Dazu nur ein Beispiel: der Herausgeber von Rudolf Beissels jüngst erschienenem Buch »Von Atala bis Winnetou« (über das in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft kontrovers diskutiert wurde!) kündigt im Vorwort an,


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Beissel äußere sich »kritisch«(2) gegenüber der psychoanalytischen May-Forschung der letzten Jahre; eine solche Bemerkung läßt nun, da wir immerhin ein kompaktes Werk eines ausgewiesenen May-Experten vor uns haben, eine einigermaßen umfassende Auseinandersetzung mit den gewiß nicht unproblematischen Thesen von Schmidt, Wollschläger und Bach erwarten. Beissels »kritische« Äußerung beläuft sich dann auf etwa neun Zeilen, konstatiert »kindische Firlefanzerei«(3), und damit hat es sein Bewenden.

Eine solche Form der »Argumentation« mag in vielen Fällen mit den persönlichen Aversionen zusammenhängen, von denen wir in der May-Forschung gelegentlich hören, aber ihr letzter Grund dürfte noch ein anderer sein: am Ende geht es gar nicht so sehr um das Unbehagen gegenüber dieser oder jener wissenschaftlichen Methode und daraus folgenden Einzelstudien; es geht um den analytischen Untersuchungsrahmen überhaupt, um das Bemühen der Karl-May-Gesellschaft, bei aller Liebhaberei dem Forschungsgegenstand May und seinem Umfeld doch energisch zu Leibe zu rücken und dabei vor »entlarvenden« Beobachtungen aller Art nicht zurückzuschrecken (wobei die sämtlichen Entlarvungen dem Autor bisher, meine ich, gut bekommen sind). Gewiß wäre es verfehlt, den Beginn einer akzeptablen May-Forschung mit der Gründung dieser Gesellschaft zu datieren. Aber trotz solch herausragender Arbeiten wie der von Forst-Battaglia und den Dissertationen von Stolte und Böhm galt doch für fast alle früheren May-Studien, daß sie eben jene Direktheit nicht schätzten, daß sie über die selbstgenügsame Liebhaberei nicht hinausgelangten. Solch harmlose Beschäftigung mit einem verehrten Phänomen ist zweifellos legitim; nur verkennt sie sich, wenn sie die eigenen Bemühungen, sich zu artikulieren, mit ernsthafter Arbeit gleichsetzt. Auch eine derartige Auseinandersetzung mit einem Thema mag viel Lesenwertes erbringen, aber ihre Grenzen zeigt sie, wenn sie, wie im vorliegenden Fall, an auf den ersten Blick befremdliche, gar abstoßende Argumentationszusammenhänge gerät und sie in Frage stellen möchte. Die Idolairie überwuchert dann um so angestrengter die ernsthafte Reflexion, und was sich als »Kritik« ausgibt, dementiert in seiner Maßlosigkeit noch jeden gerechtfertigten Ansatz, das kritisierte Objekt zu problematisieren. Noch einmal sei's gesagt: es geht nicht darum, vom hohen Roß der (sicher in mancher Hinsicht angreifbaren) Wissenschaftlichkeit in der Arbeit der Karl-May-Gesellschaft verächtlich auf die herabzublicken,


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die Populärwissenschaft oder ähnliches betreiben; beide Ausgangspunkte sind wünschenswert und statthaft, doch sollten die, die zu der zweiten Art der Betrachtung neigen, dies auch zugeben und ihren Wunsch, eigenen Intentionen zu folgen, nicht voreilig in eine radikale Abwohr dessen verwandeln, was die andere Abteilung der May-Interessenten zutage fördert; in diesem Fall hätten sie die Argumentationsebene zu wechseln.

Es trifft sich nun (zur möglichen Freude einer gewissen »linken« Kulturkritik) nicht gerade zufällig, daß mit solchen Kritikern der Karl-May-Gesellschaft der Karl-May-Verlag kooperiert. Er hat jahrzehntelang von dem Bild prosperiert, das er der Öffentlichkeit von seinem Autor und dessen Werken darbot, und da die Karl-May-Gesellschaft energisch versucht, das tradierte Image vom mehr oder minder harmlosen »Jugendschriftsteller« zu zerstören, mögen seine Vorbehalte ihr gegenüber verständlich sein. Dies festzustellen, heißt noch nicht, es zu tadeln: der Karl-May-Verlag ist ein kommerzielles Unternehmen, seine Inhaber leben vom Absatz ihrer Bücher, müssen die May-Forschung daher unter generell anderen Aspekten sehen als die Karl-May-Gesellschaft, und wenn die Vorstellung von May sich wandelt, so könnte vielleicht auch die Geschäftsgrundlage einmal ins Schwanken geraten; so jedenfalls scheint man, m. E. völlig zu Unrecht, im Karl-May-Verlag zu vermuten. Die Verbindung mit den oben erwähnten May-Interessenten lag daher vielleicht nahe: die Abwehr aller irritierenden Bewegungen der Forschung einigt die Liebhaber alter Schule und die, deren Interessen zu wesentlichen Teilen betriebswirtschaftlich bestimmt sind.

Ein erstes umfassendes Produkt dieser Zusammenarbeit, was den Sektor der »Forschung« betrifft, liegt nun vor: das Karl-May-Jahrbuch 1978, erschienen im Karl-May-Verlag und im Verlag A. Graff.(4) Das Vorwort räumt gleich ein, man wolle sich nicht »nur an einen kleinen Kreis von Spezialisten«(5) wenden, sei auch um »Unterhaltung«(6) bemüht; man zielt also aufs leicht Eingängige, aber die beiden Herausgeber können sich trotz dieser Selbstbeschränkung auch nicht verkneifen, May »gegen einige seiner allzu eifrigen "Freunde"«(7) zu verteidigen, und jeder Eingeweihte wird schnell erraten, wer damit gemeint ist. Der oben skizzierte Geist prägt auch Erich Mörths Anwurf gegen »arrogante Besserwisser«(8), die Karl May nationaler Vorurteile gegen Griechen und Armenier geziehen haben, und im Zusammenhang mit sol-


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chen Formulierungen berührt es recht befremdlich, wenn in den eingangs zitierten Publikationsorganen, in denen zum großen Teil die gleichen Autoren wie im Jahrbuch zum Thema May schreiben, über die Unduldsamkeit der Karl-May-Gesellschaft geklagt wird. Sehr viel exakter und ernsthafter argumentiert da schon Werner Poppe, wenn er einer These Wolf-Dieter Bachs im Jb-KMG 1975 über die Herkunft des Namens Winnetou widerspricht.

Und sonst? Ich habe selten ein Buch gelesen, das mich vom Thema her so sehr hätte fesseln können und in der Ausführung dann so wenig befriedigte. Die Kontinuität zu den alten Karl-May-Jahrbüchern der Jahre 1918-33, auf die das Vorwort abstellt, wird durch den Neudruck von Amand von Ozoróczys »Karl May und der Friede« betont, und dies ist gewiß eine verdienstvolle Abhandlung, deren erneute Wiedergabe auch unter dem Aspekt der Rezeptionsgeschichte gerechtfertigt erscheint. Die Originalbeiträge aber enttäuschen beinahe allesamt: wer sich mit dem Thema May einigermaßen auskennt, wird kaum neue Perspektiven oder auch nur unerwartete Informationen entdecken, und wer eine in populärer, leicht verständlicher Form gehaltene Verarbeitung der in den letzten Jahrzehnten geleisteten Forschungsarbeit erwartet - und das zumindest wäre doch als unabdingbare Voraussetzung die Grundlage einer solchen Publikation -, wird sich gleichfalls nicht bestätigt sehen können. Ein lockerer, unverbindlicher Plauderton herrscht vor, ebenso die Neigung zu Anekdoten, und wenn ein solcher Stil, geschickt gehandhabt, auch manches Wissenswerte erbringen kann, so bleibt dieser Effekt hier doch fast gänzlich aus, weil immer dann, wenn es »zur Sache« gehen müßte, die Akzente merkwürdig verschoben werden. Die Geschichte und Vorgeschichte der alten Karl-May-Jahrbücher ist sicher ein interessantes Thema, aber während Rudolf Beissel uns in seinem Beitrag dazu z. B. mitteilt, wann welcher Professor den Aufriß zu seiner Dissertation gebilligt hat, entläßt er uns ohne Informationen bei der hier unvergleichlich wichtigeren Frage, warum er 1920 die Beziehungen zum Karl-May-Verlag für Jahrzehnte abbrach; solches Ausweichen, mag es im Einzelfall aus Pietätsgründen gerechtfertigt sein, ist leider typisch für die Tendenz der ganzen Unternehmung. Siegfried Augustins »Karl May in München« ergänzt nur Claus Roxins Studie über May in der Zeit der Old- Shatterhand-Legende (Jb-KMG 1974) um ein paar Details, Josef Mittermayers Darstellung der Beziehung zwischen May und dem Fo-


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tografen Nunwarz (ein fast unveränderter Neudruck seines Aufsatzes im »Historischen Jahrbuch der Stadt Linz« 1962) vermittelt auch kaum Neuigkeiten, und Axel Mittelstaedts Ausführungen über May und den Spiritismus lassen sich bestenfalls als Materialsammlung lesen, der nun exaktere Beobachtungen zu folgen hätten; nicht viel weiter führen Fritz Maschkes »Bausteine zu einer Klara-May-Biographie«. Welchem Sinn es dient, daß Anton Haider auf über zwanzig Seiten summarisch aufzählen kann, wo May autobiographische Erfahrungen in seiner Literatur spiegelte, ohne daß nun über das spezielle Verfahren solcher Transformation nachgedacht wird, und zu welchem Zweck Erich Mörth über einen Stambul-Aufenthalt in den dreißiger Jahren berichtet, bei dem er sich lebhaft an »Von Bagdad nach Stambul« und dessen Qualitäten erinnert fühlte, ist mir nicht recht einsichtig geworden. Wie wenig das ganze Werk bietet, wie informativ es sich dagegen im günstigen Fall hätte entwickeln können, wird bei den gelegentlichen Hinweisen auf die ungehobenen Schätze im Bamberger Archiv des Karl-May-Verlages sichtbar: der Abdruck etwa der »Studie« über Emma, meinetwegen mit hundert Entschuldigungen, warum May seine erste Frau so rüde beurteilte, hätte fast alles wettgemacht.

Es ist, mit einem Wort, nicht viel herausgekommen bei diesem Buch, und nur der wird sich daran erfreuen, der über May etwas lesen will, was nun tatsächlich in so gut wie keiner Hinsicht aufregend oder gar »entlarvend« ist. Die Karl-May-Gesellschaft hat von diesem »Konkurrenz«-Jahrbuch, das wohl auch nach den von ihm selbst gesetzten Maßstäben kaum reüssiert, nichts zu befürchten und nichts zu profitieren; sie sollte nur Sorge tragen, daß die Titelähnlichkeit mit der eigenen Publikationsreihe nicht zu Verwechslungen führt, die dem Ansehen der avancierten May-Forschung schaden könnten. Und doch hat auch dieses Graff/Karl-May-Verlag-Werk seine faszinierenden Stellen: immer dann, wenn die heutigen Autoren sich zurückhalten und alte Dokumente sprechen lassen, wird es interessant; der Forschungsgegenstand Karl May mit all seinen skurrilen Zügen sprengt die Lethargie, in die ihn seine »Freunde« einhüllen. Da wird z. B. berichtet über den May des Jahres 1898, wie er die Shatterhand-Legende ausufern läßt, indem er von seinen fiktiven Reisen in die Exotik berichtet: der Hund werde, so teilt May seiner Zuhörerschaft mit, bei den Indianern auch »als medizinisches Mittel (verwendet). Durch den Hund werden nämlich aus den Verwundeten, wenn man mit dem Messer


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nicht beikommen kann, die Kugeln herausgezogen. Er wird, nachdem ihm der Kopf abgeschlagen ist, sofort ausgenommen und über die Wunde gebunden. Durch die Zuckungen der sog. Lebensgeister wird die Kugel aus der Wunde herausgepumpt, was sehr schmerzhaft ist«.(9) Eine solche Stelle birgt den Triumph des Meisters über seine allzu biederen Apologeten.


1 Vgl. Friedrich Thaler: Das verflixte neunte Jahr oder Von einigen, die auszogen, Karl May zu erforschen, in: Blätter für Volksliteratur 3/1978, S. If., Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft im 10. Janrgang, in: Magazin für Abenteuer-, Reise- und Unterhaltungsliteratur 18/1978, S.61 ff. (dieser Beitrag erschien anonym).

2 Thomas Ostwald, Vorwort zu Rudolf Beissel: Von Atala bis Winnetou. Die »Väter des Western-Romans«, Bamberg-Braunschweig 1978, S.5

3 Beissel, ebd., S.275

4 Siegfried Augustin und Thomas Ostwald (Hg.): Karl-May-Jahrbuch 1978, Bamberg- Braunschweig 1978

5 Ebd. S.4

6 Ebd. S. 5

7 Ebd. S.4

8 Erich Mörth: Ein Höhepunkt der Erzählkunst, ebd. S.179

9 Zitiert bei Siegfried Augustin: Karl May in München, ebd. S. 91


N a c h b e-m e r k u n g  d e r  R e d a k t i o n :

Unabhängig von jeder wertenden Kritik sei angemerkt, daß sich in den Band auch direkte Fehler, sowie eine große Anzahl von Unkorrektheiten, falschen Zitierungen, falschen Band- oder Seitenangaben usw. eingeschlichen haben. Für die Zukunft sei den Herausgebern mehr Sorgfalt bei der redaktionellen Betreuung empfohlen. Einige Beispiele: Wenn auf S.76 ein May-Brief in Faksimile wiedergegeben ist und in der Abschrift auf S. 65 nicht nur orthographische Abweichungen zu finden sind, sondern ein halber Satz völlig vergessen wurde, so mahnt das zu Skepsis gegenüber Abschriften, deren Wortlaut nicht anhand von Faksimiles kontrollierbar ist. Und weshalb S. 21ff. der »Verlorene Sohn« stets nach der sogenannten »Fischer-Ausgabe« zitiert wird, muß unverständlich bleiben. Mühelos hätten sich die Zitate auf den authentischeren und heute jedermann zugänglichen Münchmeyer-Erstdruck umstellen lassen.

Zu empfehlen wäre den Herausgebern auch (wie wir es bei der redaktionellen Arbeit am Jb-KMG grundsätzlich tun), stets alle May-Zitate mit den Originaltexten zu vergleichen. Mittermayer etwa behauptet (S. 111), May habe »wörtlich« gesagt: ». . . ich habe eine Schwäche für jeden Österreicher«. Nein, May schreibt wörtlich (Bd. XXX, 189): . . . ich habe ein Faible für jeden Oesterreicher. Oh, diese Fremdwort-Vertilger!

Wenn Fritz Maschke auf S.260 behauptet, Klara Mays Mutter Wilhelmine Beibler sei nicht in der Radebeuler Gruft bestattet worden, so ist das unrichtig. Sowohl Richard Plöhn als auch Wilhelmine Beibler waren dort beigesetzt; sie wurden gemeinsam, nachdem ihre Namen schon 1940 getilgt worden waren, im Jahre 1942 aus der Gruft entfernt, eingeäschert und am 13. Mai 1942 im Urnenhain des Friedhofs Dresden-Tolkewitz, Heckenwandstelle Nr.45, erneut bestattet.


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