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CHRISTOPH F. LORENZ

»Das ist der Baum El Dscharanil«
Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays
"Im Reiche des silbernen Löwen III und IV"



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»Nun befand ich mich auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses. An der sehr, sehr hohen Mauer standen herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen schienen. Aber da ich keinen Duft bemerkte, schaute ich schärfer hin, und da sah ich denn, daß es keine wirklichen, sondern nur gemalte waren. Nur ein einziger von allen war ein wirklicher Baum, aber ein höchstsonderbarer. Er war sehr niedrig, doch unendlich breit. Blüten und Früchte trug er nicht, aber tausende von eigentümlichen Blättern, welche die Form menschlicher Köpfe hatten, die lebendig zu sein schienen, denn sie bewegten die Augen immerfort, wobei sie mit den nie schweigenden Lippen plapperten. Ich drehte mich und fragte einen der Dastehenden, was das für eine seltsame Pflanze sei. "Das ist der Baum El Dscharanil", wurde mir geantwortet. "Kennst du ihn nicht? Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradiese stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitze oder nicht. Denn nur sie allein sind es, denen er alle Geheimnisse seines Ratschlusses anvertraut, sonst niemandem weiter auf der ganzen Erde." Kaum hatte ich dies erfahren, so wurde ich von einigen der Blätter gesehen. Es erhob sich erst ein unverständliches Flüstern. Dieses wurde immer lauter, je mehr Augen sich auf mich richteten, bis sich endlich alle Lippen bewegten, und meinen Namen riefen. Infolge dieses vereinten Geschreies thaten sich alle in der Nähe liegenden Thüren auf, und über mich ergoß sich eine Menge von Gestalten ( . . . ). Die mich Umringenden waren ( . . . ) in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein "heiliges Buch" nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei. Ich aber machte kurzen Prozeß mit ihnen allen und verlangte die Unterschrift dessen zu sehen, von dem man diesen Himmel gepachtet habe. Das hatte noch niemand gethan, und darum waren sie von dieser meiner


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Forderung so verblüfft, daß sie alle wieder in ihren Thüren verschwanden. Ich konnte also ungehindert durch das Thor des Paradieses reiten. Doch als ich an dem Baum der Neugierde und Geschwätzigkeit El Dscharanil voraberkam, riefen alle seine Köpfe in einem und demselben Tone: "Er kommt zwar hinein, doch niemals wieder heraus. Wer dieses Himmelreich betritt, der ist verloren. Dafür haben wir gesorgt, wir, die Gottesstimmen!." Hier machte der Ustad eine Pause. Welch ein Bild er mir da vor die Augen stellte! Fremdartig, aber nicht ganz unwahr. (1)

   Liest man diesen Text ganz unvoreingenommen und stellt sich dazu vor, man kenne den Verfasser nicht, so wird man nur schwerlich darauf kommen, daß er von Karl May stammen könnte. In der Tat sind die beiden letzten Bände von Mays Tetralogie "Im Reiche des silbernen Löwen", mit denen May den Schritt zum »symbolischen Roman« endgültig und dezidiert wagte, zumindest auf den ersten Blick ganz anders geraten als Mays übriges Werk. In seinem für die Interpretation der letzten beiden Bände des "Silberlöwen" so aufschlußreichen Brief an Fehsenfeld vom 24.12.1902 schreibt denn May auch stolz: Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? ( . . . ) Sie werden dann finden, daß Sie etwas ganz Anderes drucken ließen, als Sie glaubten!( . . . )Also:  M e i n e  Z e i t  i s t  e n d l i c h  d a !(2)

   Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? die ganze Ironie des Satzes, dieser rhetorischen Frage wird wohl so recht erst dem bewußt, der sich selber unter allerlei Schwierigkeiten mit der Exegese der beiden letzten "Silberlöwe"-Bände beschäftigt hat und sich schon bald darüber klar wurde, daß es eine ganz besonders diffizile Aufgabe ist, herauszufinden, wie man Karl May lesen muß. Der Autor hat es da der Nachwelt auch nicht leicht gemacht, als er nach den unter nicht gerade übersichtlichen Verhältnissen entstandenen ersten beiden Bänden des "Silberlöwen"(3) im dritten Band zunächst einmal das Geschehen und den Ton der alten Reiseerzählungen aufgriff und den Leser erst allmählich von der für den wohlbekannten »Reiseerzählungs-May« so typischen Schilderung einer Schmugglerschenke in Basra über die doppelbödig-hintergründige "Wüstenräuber"-Parabel der Kapitel 2 und 3 ("Ueber die Grenze" und "Am Tode"(4)) hinüberführte über die Felsspalte, die das Reich der Dschamikun von dem Gebiet, in das ihre Feinde vorgedrungen sind, trennt; dieser »Sprung über die Vergangenheit«, wobei nicht nur der Weg von der Reiseerzählung zum symbolischen Erzählkunstwerk gemeint ist, ist May doch wohl schwerer gefallen, als er selber zugeben wollte, und so ist auch manches Element seines früheren Erzählens mit hineingekommen in die letzten Bände des "Silberlöwen".


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   Nicht nur die verwickelte Entstehungsgeschichte und das Hineinwirken von Erzählelementen der früheren Reiseerzählungen in die symbolischen Schlußbände hat den Erfolg der Tetralogie "Im Reiche des silbernen Löwen" entscheidend behindert; die »alten« May-Leser waren durch die komplizierte Verschlüsselung persönlicher Erlebnisse und durch die Entwicklung mehrerer Lese- und Handlungsebenen schon im "Silberlöwen III" merklich verstört, was man ihnen nicht verdenken kann. Zu abstrakt, philosophisch, ja unverständlich mußte dem Leser von "Durch die Wüste" usw. schon der größte Teil des "Silberlöwen III" erscheinen; im 4. Band geht May ja sogar noch einen Schritt weiter in diese Richtung.

   Auch May durchaus wohlgewogene Kritiker waren dem "Silberlöwen III und IV" gegenüber ratlos, ja verärgert. 1908 äußerte sich Dr. Lorenz Krapp, der spätere Mitarbeiter des Karl-May-Verlages, in einer Rezension der Erzählung "Abdahn Effendi" mit unverkennbarer Bezugnahme auf den "Silberlöwen" wie folgt: »Seine frisch zugreifende Art der ersten 20 Romane war zuletzt einer für den künstlerischen Wert verderblichen (!) Sucht nach Mystischem, Dunklem, Geheimnisvollem gewichen. Ich weiß zwar, daß ich die Erbitterung manches Verehrers Mays erwecke, wenn ich sage, daß mir das mystische Dunkel vieler Partien aus dem "Reich des silbernen Löwen" geradezu körperlich peinlich war. Aber das kann mich nicht beirren. Mag sein, daß es sich da um ein Licht handelt, "das von jenseits unseres heutigen Horizontes kommt" ( . . . ). Ich bekenne, daß mir das Organ noch fehlt, dies jenseitige Licht in mich aufzunehmen, und wie mir, so jedem anderen Unbefangenen ( . . . ). Ich gebe um die Gestalt Winnetous einige hundert jener Schemen und Traumgestalten aus den "Grotten des versteinerten Gebetes" in den letzten Bänden.«(5)

   Krapp wurde hier ausführlich zitiert, weil seine Ansicht durchaus symptomatisch ist für die verständnislose Aufnahme, die die »symbolischen« Bände des "Silberlöwen" auch heute noch finden. Dabei haben sich die Argumente wenig gewandelt: der "Silberlöwe IV" insbesondere gilt als »blutleer«, »mystizistisch«, »gewollt symbolisch«, und ein namhafter Fachgermanist hat in einem Vortrag auf einem internationalen Symposion Karl Mays Traum von Edelmenschentum verglichen mit dem »identischen Gnostizismus« der Jahrhundertwende (Jugendstil, besonders Fidus). Dabei konstatiert er eine Verwandtschaft zwischen Mays Idee vom »Edelmenschentum« und dem elitären Rassedenken im Dritten Reich.(6) Das scheint stark übertrieben zu sein, aber Mays Spätwerk hat schon häufiger zu Mißverständnissen und Fehlinterpretationen geführt. Besonders die »dunklen« Passagen des "Silberlöwen"


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lenkten, da sie nicht nur auf den ersten Blick mehrdeutig sind, auf ebensoviele interpretatorische Irrwege, wie sie andererseits bei manchen völlige Ablehnung hervorriefen.

   May macht es seinen Lesern im "Silberlöwen III und IV" nicht leicht; den ernsthaften Exegeten stellt er aber nun geradezu vor einen Berg von Problemen. So schien es lange Zeit, als biete E. A. Schmids Kapitel "Der Schlüssel" im Anhang zu dem Radebeuler Band »Ich« von 1916 mit seinen recht allgemein gehaltenen Erläuterungen(7) den einzigen ernsthaften Interpretationsansatz für das symbolische Spätwerk Mays dar, und selbst Wollschläger vertritt in der Nenauflage seiner May-Biographie noch diese Meinung.(8) Dabei wird gerne übersehen, daß Adolf Droop bereits 1909 in seinem lesenswerten Werk "Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen"(9) interessante und wertvolle Interpretationsansätze gerade zu den letzten beiden Bänden des "Silberlöwen" vorgelegt hatte.(10) Da Droops Schrift jedoch weitgehend unbeachtet blieb, konnten seine Hinweise auch nicht fruchtbringend ausgewertet werden. Erst in den fünziger Jahren, nach mancherlei Mißverständnissen, (hier seien nur die entschiedene Ablehnung des Alterswerks durch Otto Forst-Battaglia in der 1931 erschienenen ersten Fassung seiner May-Biographie sowie Otto Eickes Theorie vom "Bruch im Bau" und sein daran anschließender Versuch, den "Silberlöwen" in seiner ursprünglichen Gestalt fortzuführen(11), genannt) wurden entscheidende Anstrengungen gemacht, das Alterswerk Mays der Vergessenheit zu entreißen. An dieser Stelle muß auf Arno Schmidts bahnbrechendes Funkessay "Der vorletzte Großmystiker" (Erstsendung 25. 05. 1956) hingewiesen werden, in dem Schmidt eine Lanze für die letzten beiden Bände des "Silberlöwen" und für "Ardistan und Dschinnistan" brach. Aufgrund seines "Sitara"-Buches ist Schmidt ja für manchen May-Kenner ein »rotes Tuch«, doch gebietet es die Fairneß, darauf hinzuweisen, daß Schmidt in seinem Funkessay, das später auch in gedruckter Form erschien(12), den hohen literarischen Rang gerade der letzten Bände der "Silberlöwen"-Tetralogie unmißverständlich deutlich gemacht hat - ein Verdienst zweifellos ganz besonderer Art! Als erster hat Schmidt hier jedenfalls aufgezeigt, daß der "Silberlöwe III und IV" ein Buch mit mehreren Leseebenen ist und Ansätze zu einer Entschlüsselung des Textes geliefert; Schmidt nennt die letzten Bände "Silberlöwe" mit einigem Recht »eine Auto- und Psychobiographie einziger Art«.(13) Diesen Aspekt hat Schmidts Freund Hans Wollschläger aufgegriffen, der in unserer Zeit die bedeutendsten Versuche zu einer gerechten Neuinterpretation des Mayschen Spätwerks gemacht hat: zunächst, in den 50er Jahren, als Mitarbeiter des Karl-May-Verlages in einer Reihe von


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Nachworten für die "Gesammelten Werke"(14), später in den beiden Fassungen seiner May-Biographie und vor einigen Jahren in einem längeren Aufsatz für das "Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft", der sich bescheiden "Erste Annäherung an den »Silbernen Löwen«" nennt.(15) Die wohl neueste Arbeit zu diesem Thema legte Volker Krischel vor, der sich in seiner 1981 entstandenen Staatsexamensarbeit in zusammenfassender Form mit Mays »Schattenroman« befaßt und einen vorzüglichen Überblick über die bisherigen Forschungsergebnisse gibt.(16) Leider berücksichtigt Krischel die autobiographische und »psychobiographische« Ebene der letzten beiden Bände "Silberlöwe" kaum und befaßt sich etwas einseitig mit den anthropologischen, philosophischen und menschheitsgeschichtlichen Aspekten des Werkes. Aber das ist ja auch schon viel für ein Buch, an dem nach den Worten Claus Roxins »noch mehrere Germanistengenerationen ( . . . ) zu arbeiten haben« werden.(17)

   Man sieht, bereits frühere Generationen in der May-Forschung hatten ihre liebe Not mit der Analyse der »symbolischen« Bände des "Silberlöwen"-Zyklus, sofern sie es überhaupt für notwendig befanden, sich damit zu befassen. In der Tat bietet die bisherige interpretatorische Arbeit der May-Exegeten zwar manche Anhaltspunkte für eine Interpretation etwa der Parabel vom Baum El Dschararnil, die sich im ersten Kapitel des 4. Bandes "Silberlöwe" findet - doch besteht auf der anderen Seite bei den Forschern nicht einmal Einigkeit darüber, wieviel »Leseebenen« und welche im "Silberlöwen" überhaupt unterschieden werden müssen. Die frühe May-Forschung neigte dazu, im "Silberlöwen" eine relativ einfache »Doppelbödigkeit« zu konstatieren, wobei einmal die oberflächliche Tatsachenhandlung, die Elemente aus den früheren Reiseerzählungen Mays aufgreift, auf der anderen Seite aber eine zweite allegorisch-symbolische Schicht, die dieser »Realhandlung« übergeblendet ist, freigelegt wurde. Differenzierter sah Wollschläger das Problem bereits bei der Abfassung seiner May-Biographie: hier ist nun von einer »Handlungsfläche I« die Rede, die »Manier und Stoff der liegengebliebenen Reiseerzählung« wieder aufnehme, ferner von der »Lese-Ebene II«, die Wollschläger als die »bedeutendste der verbleibenden« bezeichnet und die er wiederum unterteilt in zwei Einzeldimensionen: »die erste enthält ein (freilich nicht vollständiges) Gesamt-Biogramm Mays, die zweite eine detailreiche Bilderprojektion der Jahre 1900-03«. Schließlich spricht Wollschläger noch von einer »Leseebene III«, »der des psychodramatischen Mysterienspiels«, die er aber - im Gegensatz zu früheren Forschern - für nicht so bedeutend erachtet wie die »Leseebene II«, die autobiographische Verschlüsselung.(18) Damit gibt Wollschläger dem am "Silberlöwen" ar-


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beitenden[arbeitenden] Forscher ein interessantes und brauchbares Interpretationsschema in die Hand, mit dem man zurechtkommt - aber nur unter Schwierigkeiten! In der Tat nämlich durchdringen sich die Leseebenen ständig, und man weiß manchmal nicht, wie man dieses oder jenes Bild deuten soll: als biographische »Spiegelung«, oder als menschheitsoder religionswissenschaftliche Parabel, als Kunstphilosophie, oder als alles dieses gleichzeitig? Die Schwierigkeiten häufen sich, wenn man sich allzu eng an das »vorgeschriebene« »3-Ebenen-Schema« Wollschlägers hält. Hinzu kommt, daß man wohl kaum eine Wertung vornehmen kann, welche Leseebene denn nun bedeutender oder wichtiger für den Interpreten sei; eine rein autobiographische Interpretation des "Silberlöwen" stößt ebenso schnell an ihre Grenzen wie eine rein auf der Ebene des »Mysterienspiels«. Will man den "Silberlöwen III und IV" etwa als autobiographischen Schlüsselroman lesen, so ergeben sich alsbald große Probleme. Daß May in dem Ahriman Mirza des "Silberlöwen" etwa »das kleine "m" aus dem Frankfurter Feuilleton«, also Fedor Mamroth, gemeint habe, wird heute kaum ernsthaft mehr bezweifelt(19); dennoch trägt Ahriman so unverkennbar die Züge des bösen Widersachers, daß man mit Ausnahme der biographischen Spiegelung allein nicht die Figur Ahriman Mirza in ihrer ganzen Komplexität erklären kann. Noch schwieriger ist das bei dem Scheik ul Islam, in dem Wollschläger die Züge von Karl Muth, dem "Hochland"-Herausgeber, zu entdecken glaubte.(19a) Franz Cornaro hat überzeugend deutlich gemacht, daß Karl May bei der Figur des Scheik ul Islam wohl kaum nur an Karl Muth dachte, und es ist auch wenig ergiebig, mit Droop zu glauben, daß im Scheik ul Islam »der unserem Schriftsteller feindliche Teil der katholischen Presse« verkörpert werden sollte.(20) Nicht einmal die Annahme, daß Karl May in den Gestalten des Scheik ul Islam und seiner Taki-Kurden den Katholizismus insgesamt habe treffen wollen, will so ganz zutreffen, denn May will ja hier wohl auch das Problem eines religiösen Fanatismus überhaupt aufzeigen. So erweist sich der "Silberlöwe" als noch weitaus vielschichtiger, als dies die Annahme mehrerer Leseebenen allein vermuten läßt.

   Spätestens mit dem Kapitel "Ueber die Grenze" (und wie doppeldeutig ist allein dieser Titel!) beginnt die Erzählung "Im Reiche des silbernen Löwen III" doppelbödig und doppelsinnig zu werden: die räuberischen Beduinen, die da nach wenigen Seiten die Helden Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar ausrauben und ihnen sogar ihre Pferde stehlen, sind in Wahrheit deutsche Kolportageverleger (Münchmeyer-Fischer) und katholische Publizisten, wie der Kölner Verlag Bachem, der Mays "Gum" als "Die Wüstenräuber" nachdruckte und mit dem


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May im Jahre 1900 brach. Wenn May also von den "Wüstenräubern" spricht (und nicht nur in diesem zweiten Kapitel des "Silberlöwen Ill") so sind die Verleger gemeint, die ihm (seiner Meinung nach!) feindlich gegenüberstanden, und auch Wölfe im Schafspelz treten plötzlich im Buch auf, wie Nafar Ben Schuri, der sich als Scheik der (friedlichen) Dinarun ausgibt, aber in Wirklichkeit der Anführer der Ausgestoßenen ist: erkennt man nicht gleich die ultramontanen Heuchler, die May erst unterstützten und ihn zu einem Lieblingsautor der »katholischen Lesewelt« machten, ihn aber prompt fallen ließen, als Cardauns in den katholischen "Historisch-politischen Blättern" mit seinen maßlosen Angriffen gegen May und seine »unsittlichen« Kolportageromane begann? Diese Art von Bildlichkeit ist recht leicht zu durchschauen. Aber es gibt noch andere Formen bildhaften Erzählens im "Silberlöwen", die meist eine so eindeutige Interpretation wie die erwähnten »Doppeldeutigkeiten« nicht zulassen.

   Es lohnt sich, einmal einen Blick auf die Vielfalt der »Abbildungen« biographischer Tatsachen oder geistesgeschichtlicher und philosophischer Ideen zu werfen, die der Leser im "Silberlöwen" vorfindet. Da ist zum einen die Parabel, die gleichnishafte Erzählung mit meist didaktischem Charakter. Die vielleicht wichtigste Parabel des "Silberlöwen" ist die vom »Baum El Dscharanil«, die ich an den Anfang meiner Untersuchung gestellt habe, auszugsweise, versteht sich, denn es handelt sich um einen sehr umfangreichen Text. Die Parabel vom Baum El Dscharanil findet sich an repräsentativer Stelle, nämlich zu Beginn des "Silberlöwen IV", in dem langen Nachtgespräch zwischen dem Ustad (»Meister«), dem »höheren Ich« Karl Mays, und Kara Ben Nemsi Effendi, dem Schriftsteller May zur Zeit der Niederschrift des "Silberlöwen". Bei diesen 194 Seiten handelt es sich also im eigentlichen Sinne um ein Selbstgespräch in Dialog-Verkleidung, und Verkleidung ist überhaupt ein Grundprinzip des Buches. Zu Beginn des "Silberlöwen IV" darf Kara Ben Nemsi einen Blick in die obere Etage des »hohen Hauses« werfen, in die »Gruft« des Ustad. Was hier - weiter in mystischer Verkleidung - beschrieben und geschildert wird, ist zweifellos die eigene Vergangenheit Karl Mays, was in dieser Gruft begraben ist, sind die Jahre der Selbsttäuschung und der Zwitterexistenz als »Dr. Karl May, alias Old Shatterhand«, alias »Kara Ben Nemsi Effendi« . . . In der Tat ist die Beschreibung der »Gruft« des Ustad denn auch an Karl Mays eigenem Arbeitszimmer und seiner Bibliothek in der »Villa Shatterhand« orientiert. Es geht hier, im ersten Kapitel des 4. Bandes "Silberlöwe", also weitgehend um Selbstläuterung und Selbstfindung, aber auch um Abrechnung mit den Gegnern. Diejenigen, die die ent-


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sprechenden[entsprechenden] Passagen des "Silberlöwen" für eindeutige Dokumente eines zügellosen Hasses halten, seien daran erinnert, daß am Beginn der Auseinandersetzung mit den Feinden für Karl May die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit lag. In der »Gruft« des Ustad ist das begraben, »was in mir abgestorben ist«(21), auch die Teile des früheren Werks, die May nun nur noch in einem höheren Lichte verstanden sehen wollte (so wie das Pferd Kiss-y-Darr, der Schundroman, sich am Ende des Buches vor den Geistesaugen des Ustad als »edles Blut«, aber »verhunzt, besudelt, beinahe zur Karrikatur gemacht«(22) durch die Schinder - H. G. Münchmeyer & Co. - entpuppt). Mag das auch vielleicht eine Selbsttäuschung sein, so ist doch die Geste, mit der Karl May in einem späteren Abschnitt des »Nachtgesprächs« die eigene Vergangenheit (als »Jugendschriftsteller«) ablegt, von großer Suggestivkraft: »Du bist Old Shatterhand?« fragte er. »Ich habe diesen Namen von meinem Freunde Dschafar gehört. « »lch war es, « antwortete ich ruhig, aber bestimmt. Er machte, als er hörte, daß ich sein Präsens in das Imperfectum verwandelte, eine Bewegung der Ueberraschung. Dann fahr er fort: »Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?« »Ich war es,« erwiderte ich abermals. »Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?« Bei diesen Worten leuchteten mir seine Augen vor erwartungsvoller Erregung förmlich entgegen. »Beides nicht mehr!« nickte ich. »Seit wann? Sage es mir?« »Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menscheits-lch wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat. «(23)

   Bescheiden klingt das ja nicht, und viele Kritiker haben dem Mayschen Alterswerk gerade das scheinbar übergroße Selbstbewußtsein, mit dem hier die »Karl-May-Frage« als Menschheitsfrage schlechthin verstanden wird, übelgenommen. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß Karl Mays »Sprung über die Vergangenheit« seine Kämpfe mit sich selber und zahlreichen, teils eingebildeten, teils realen Feinden aus allen politischen Lagern und konfessionellen Richtungen, also das merkwürdige Drama von Mays letzten Lebensjahren, wirklich bedeutsame geistige Auseinandersetzungen ausgelöst hat, in die wiederum nicht unbedeutende Persönlichkeiten wie Ferdinand Avenarius, Karl Muth, Robert Müller und Bertha von Suttner verwickelt waren. Daß May der Ansicht war, seine »Ich-Fiktion« als wundersamer Orientheld und schlagkräftiger Westmann habe ihren Zweck erfüllt, daß er ferner nun zu ganz neuen, wenn auch weniger vordergründig abenteuerlichen Fiktionen aufbrach, davon legt der "Silberlöwe IV" beredtes Zeugnis


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ab. Nach dem feierlichen Bruch mit der Vergangenheit folgt denn auch die bemerkenswerte Evokation einer Zukunft, in der »Leib, Geist und Seele nicht ineinander gekästelt und ineinandergeschachtelt sind, sondern Hand in Hand nebeneinander stehen und miteinander wirken«.(24)

Das ist zweifelsohne ein interessantes anthropologisches Programm, das seine »Abbildung« im Werk in dem harmonischen Zusammenwirken zwischen dem Geist (Ustad Kara Ben Nemsi), der Seele (Schakara) und dem Körper (Halef bzw. Kara Ben Halef als Halefs »höheres Ich«) auf der Seite des »Lichtes« (auf der Seite des Bösen entspricht dem die Kooperation zwischen Ahriman-Geist/Gul-i-Schiras-Seele und Ghulam el Multasim-Körper) gefunden hat. Am Ende gelingt diesem »Team« im Zusammenwirken mit den Kräften der Natur denn auch die »Auferstehung« des unter den Ruinen der Religionen, Konfessionen, Dogmen und Lebensmeinungen begrabenen Versteinerten Gebetes, während auf der Seite der Schatten alles in sich zusammenbricht. Aber das kommt ja im Buch wesentlich später; haben wir eben die Selbstkonfession Kara Ben Nemsis etwas genauer in den Blick genommen, so kommen wir nun zu der Erzählung des Ustad von seinem Martyrium, in deren Verlauf sich das Bild vom Baum el Dscharanil findet. Wir blättern also wieder 40 Seiten im "Silberlöwen IV" zurück.

   »Die Geschichte einer jeden Anbetungsform hat eine Zeit des Martyriums, der Verfolgung um des Glaubens willen, aufzuweisen. Ich meine hier die Verfolgung mit der Todeswaffe. Wenn dem Religionshasse diese Waffe entzogen worden ist, zieht er sich, rachsüchtig grollend, in den Schutz seiner Lehrsätze zurück, um aus ihnen heraus, die er für uneinnehmbare Mauern hält, auch fernerhin die Andersgläubigen nach Möglichkeit zu schädigen.«(25) So beschreibt der Ustad seine Gegner, die religiösen Fanatiker, die an die Stelle der »reinen Gottesidee«, die der Ustad freizulegen sucht, ihren persönlichen, nach den jeweiligen Dogmen »zurechtgemachten« Gott setzen und den Andersgläubigen gegenüber behaupten, im Besitze der »alleinseligmachenden« Wahrheit zu sein. Es fällt kaum schwer, diese Sätze auf orthodoxe Strömungen in der katholischen Kirche zu beziehen. »Im Besitze dieser Offenbarung gebärdet man sich, als ob man den Himmel mit seiner ganzen Seligkeit in Pacht genommen habe und nun ganz nach eigenem Gutdünken am Eingange zu demselben eine Warnungstafel anbringen müsse, auf welcher in den drohendsten Worten zu lesen ist: "Der Zutritt ist nur solchen bevorzugten Personen gestattet, welche mit einer eigenhändig unterschriebenen Erlaubniskarte seiner Pächterlichen Hochgnaden versehen sind. Wer ohne diese Bescheinigung hier einzudringen wagt, der wird augenblicklich mit dem leiblichen, geistlichen und ewigen Tode bestraft!"«(26)


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Das ist sehr deutlich formuliert und weder »verkleidet« noch symbolisch; man ist durchaus versucht, hier eine konventionell protestantische Kritik an dem »alleinseligmachenden« Gebaren der katholischen Amtskirche zu erblicken. Allerdings muß man sich vor voreiligen Schlußfolgerungen hüten, denn noch hat die eigentliche Parabel nicht begonnen. Der Ustad spricht nun von den gepachteten Himmeln, den Paradies(en) der Selbstgerechtigkeit, wie er sie nennt.(27)

   Von nun an wird auch der Erzählton anders; jetzt befinden wir uns mitten in einem Gleichnis, einer Parabel mit unverkennbar an orientalischen Vorbildern orientierter Bildlichkeit: »Ich kam auf meinem Pferde Imtichat vom Dschebel Din herab in ebenliegendes Menschenland. Da kehrte ich ein und erfuhr, daß hier der Weg zum nahen Paradiese sei. Ich ließ mir diesen Weg zeigen und folgte ihm. Die Leute, welche mir begegneten, schienen alle sehr fromm zu sein. ( . . . ) Bewohnte Zelte und Häuser gab es gar nicht mehr, dafür aber lauter Gebäude, welche Allah geweiht waren, wenn auch unter anderen Namen. Ich sah Moscheen neben hochfensterigen Bauten, an denen Türme standen, indische Tempel und chinesische Pagoden, malayische Götterhäuser und amerikanische Medizinzelte, hottentottische Götzenhütten und die in die Erdegegrabenen Andachtslöcher der Australen. Viele, viele Menschen strömten vor mir her. Sie alle wollten in den Himmel. Aber fast ebenso viele kamen traurig zurück, weil sie nicht hineingedurft hatten. Ich fragte sie, warum, und erfuhr, daß sie nicht im Besitze von Erlaubnisscheinen gewesen seien. Da ritt ich weiter. Das Gewühl wurde immer größer, bis ich das Thor des Himmels vor mir sah. Da hielt die Menge an, weil sich quer über den Weg das Chabl el Miloa spannte. Ich war nicht da, um schon jetzt in den Himmel zu kommen und dort zu bleiben, sondern nur, um ihn zu prüfen. Darum ging mich dieses Seil nichts an. Ich spornte mein Pferd, und es sprang darüber weg.«(28) Hier wird deutlich, daß man diese Parabel in ihrer ganzen Bedeutung nur verstehen kann, wenn man sie nicht zu eng und tendenziös als Polemik gegen den Katholizismus auffaßt. Der Ustad begibt sich vom Berg des Glaubens herab in ebenliegendes Menschenland. Man kann in diesem Bild einen Hinweis darauf erblicken, daß der Ustad sich bereits auf einer hohen geistigen Stufe befindet (die Metapher des »Berges« bedeutet im Spätwerk Mays stets eine hohe Stufe der Geistigkeit, ein Fernziel, das man als Mensch in »Erdental« nur unter Anstrengungen erreichen kann). Man kann das aber auch anders deuten, vielleicht als Glaubens- und Lebenskrise des Ustad = Karl May, der nun auf dem Pferd Imtichat (Die Prüfungen) und nicht mehr auf Rih oder Hatatitla einen neuen, geistigen Ritt unternimmt, um festzustellen, welche der vielen Gottesvorstellungen die wahre ist. Auf


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dem Weg in dieses Paradies begegnet er Gotteshäusern aller Religionen und Nationen, muß aber feststellen, daß man in das Paradies nur gelangen kann, wenn man einen Erlaubnisschein hat, sprich: die Gebote und Normen der jeweiligen Kirchen befolgt. Vor dem Himmelstor spannt sich nun nämlich das Seil der Konfessionen, das Chabl el Milal, und man kommt auf dem Weg zur Erkenntnis nur weiter, wenn man sich wie der Ustad um das Seil überhaupt nicht kümmert, den Glaubenszwist ignoriert, um selber prüfen zu können, was das denn für ein Himmel sei, der von den Klerikern aller Religionen so hoch gepriesen wird. Offenbar übt May hier Kritik an allen institutionalisierten Religionen und plädiert für eine vom Konfessionszwist unbeeinflußte Annäherung an Gott. In der Bildersprache der Mayschen Parabel heißt das: das Seil wird übersprungen.

   Nun steht der Ustad also endlich »auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses«(29), und wir sind zu dem Textausschnitt zurückgekehrt, von dem wir ausgegangen waren. Das Paradies der Selbstgerechtigkeit wird nun näher besichtigt: vor seinen Toren stehen »herrliche Palmen, Bäume und Sträucher, welche prächtig zu blühen scheinen.«(30) Aber es sind keine wirklichen Bäume, sondern nur gemalte, d. h. das Paradies der selbstgerechten Fanatiker aller Religionen, ob sie Ayatollah Chomeini oder Ian Paisley heißen, ob sie Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems oder Sektenführer sind, ist umgeben von Illusionen und Schein. Nur ein einziger Baum ist real, der Baum des Geschwätzes und der Neugierde, El Dscharanil. Das ebenso seltsame wie großartige und kühne Bild vom Baum mit den vielen Köpfen, die alle permanent reden (vom unverständlichen Flüstern bis zum Geschrei, das die Pächter des Paradieses auf den Plan ruft), scheint eindeutig biographisch-polemisch gemeint zu sein. Schließlich interpretiert Kara Ben Nemsi den Baum El Dscharanil ja wenige Seiten später recht unmißverständlich: »Ich kenne ihn! Du hast ihn an das Paradies der Selbstgerechtigkeit gesetzt; das heißt, an seine rechte Stelle. Auch ich habe ihn dortstehen sehen, diesen Baum der sehenden und sprechenden Blätter, der Zeitungen, der öffentlichen Presse.«(31) Hier wird ein eindeutiges Feindbild vorgestellt; die Gegner, die May mit der wirksamen Waffe der öffentlichen Presse zu Leibe rückten, ob sie nun - wie Cardauns und Muth - für die ultramontan gesinnte Presse schreiben oder Freigeister waren wie Mamroth, erschienen ihm wie die Blätter eines neugierigen und geschwätzigen Baumes, und - mit Anspielung auf die katholischen Gazetten - ist in der Parabel ja von den Gottesstimmen(32) die Rede.

   So ganz einfach kann man es sich mit den Bildern, die May uns hier vor Augen führt,-allerdings nicht machen. Immerhin ist das Bild vom


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Baum El Dscharanil mythisch unterbaut, und sicherlich ist auch Mays Anspruch, die volle Wahrheit(33) sagen zu wollen und menschheitsgeschichtliche Perspektiven  f ü r  d i e  Z u k u n f t  aufzuzeigen, nicht ganz unberechtigt. Wir erfahren also über den Baum El Dscharanil noch folgendes: »Er wurde hierher gepflanzt, weil der Baum der Erkenntnis, der einst mitten im Paradiese stand, abgestorben ist. Seitdem muß man die Blätter des El Dscharanil fragen, wenn man wissen will, ob man das Wohlgefallen Allahs besitze oder nicht.«(34) Karl May macht es seinen Exegeten hier wieder gar nicht leicht. Der Baum der Erkenntnis stand nach dem Bericht der Genesis im Paradies. Solange die Menschen sich noch ganz im göttlichen Schutze wußten (im Paradies), brauchten sie die Erkenntnis von Gut und Böse nicht. Mit der Versuchung aber kam die Erkenntnis und mit ihr die »Erbsünde«: »und sie wurden wie Götter«. Karl May knüpft an das uralte Wissen der Menschen, das dem Bericht der Genesis zugrundeliegt, an; im Paradies der Selbstgerechtigkeit hat der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse keinen legitimen Platz mehr, er ist abgestorben. Erkenntnis wird durch Lügen und Heuchelei, durch Geschwätz und Neugierde ersetzt; so gewinnt der Baum El Dscharanil als Kontrastbild zu der Wahrheit und Aufrichtigkeit, die in der reinen Gottesidee verborgen liegt, auch durchaus überpersönliche Bedeutung. Wieder ist die biographische Spiegelung nur »Einstieg« in eine höhere Aussage. Mit dem Baum El Dscharanil stehen die Fanatiker in enger Verbindung, die ihre jeweilige Religion als die beste und ihr »heiliges Buch« als das einzig heilige von allen preisen: »Die mich Umringenden waren ( . . . ) auch in die Trachten aller Völker gekleidet. Jeder von ihnen hatte etwas in der Hand, was er sein "heiliges Buch" nannte, und jeder von ihnen versicherte, daß er der einzig und allein berechtigte Aussteller der hier vorzuzeigenden Erlaubniskarte sei.«(35) Aber die Legitimität dieses Anspruchs kann niemand beweisen, denn keiner kann die Unterschrift dessen zeigen, »von dem man diesen Himmel gepachtet habe«.(36) May zweifelt also am Alleinvertretungsanspruch der bestehenden Religionen, denn keiner kann den Beweis dafür erbringen, daß nur sie von Gott allein eingesetzt sei; die Nähe zu Lessings berühmter »Ringparabel« ist zu auffällig, um noch besonders darauf hinweisen zu müssen.

   Nunmehr ist der Ustad in Mays Parabel in die Lage versetzt worden, das vielgerühmte Paradies mit eigenen Augen betrachten zu können; er stellt fest, was man nun schon erwarten konnte: jenseits der verlockend bemalten Mauer liegt eine wüste Einöde. »Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasserf loß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sande ( . . . )«(37)


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Bedenkzeit freilich gibt es keine für den Neuangekommenen: »Es war dafür gesorgt, daß kein am Eingang Stehengebliebener den Nachfolgenden diese seine Bangigkeit verraten konnte. Es gab hier schnellbereite Wesen, welche ihn sofort wegzuschaffen hatten. Sie standen zu beiden Seiten des Thores, um, hinter der Mauer versteckt, bei jeder neuen Ankunft als vorzüglich auf den Mann dressirte Kameele und Esel schnell herbeizueilen ( . . . )«(38)

   Es folgt sofort ein neues, seltsames Bild: »Die Esel waren alle von tiefdunkelster Farbe, klein, fast winzig, doch mit so hochgehendem Sattelgestell, daß der Hinaufgekleuerte sich sehr wohl erhaben vorkommen konnte. Anstan des gebräuchlichen Riemenzeuges gab es nur eine kurze Aufsatzleine, welche das Maul des Esels so in die Höhe zog, daß die Augen nichts mehr von der Erde, sondern nur noch den Himmel sehen konnten.«(39) Ganz anders dagegen verhält es sich mit den Kamelen: »Ihre tiefhängenden Köpfe waren mit Doppelstricken an beide Kniee gefesselt, so daß sie nie den Himmel, sondern nur die Erde in den Augen hatten. ( . . . ) Die Sättel waren hohe Throngestelle, mit farbenreichem Teppichwerk belegt, mit Fransen- und mit Federschmuck behangen, so daß der Reiter ( . . . ) sich leicht als Allahs Liebling dünken konnte.«(40) Der Ustad führt in einer Parabel also verschiedene Verhaltensweisen des selbstgerechten religiösen Fanatikers vor; einmal verliert er über seinen Spekulationen auf den ihm gewiß vorbestimmten gerechten Lohn die Erde aus den Augen und schaut nur noch auf den Himmel, fühlt sich in elysische Höhen emporgehoben, obwohl er doch nur auf einem kleinen, schmutzigen Esel sitzt, zum anderen bleibt er (auf den Kamelen) ein Sklave der Erde, an irdische Begierden und Neigungen gefesselt, ohne Chance, jemals den Himmel wirklich in den Blick zu bekommen, wähnt sich aber in religiösem Wahn (auf dem hohen Throngestell sitzend) bereits im siebten Himmel, als Gottes persönlicher Auserwählter. Was May hier in poetischen Bildern vorführt, entspricht interessanterweise dem, was die anthroposophische Geisteswissenschaft festgestellt hat, die von zwei Grunderscheinungsformen des Bösen spricht: »Erdsucht und Erdflucht sind die beiden Lebensirrtümer, denen der Mensch verfallen kann.«(41) Die sogenannte »luziferische Komponente« des Bösen ist nach diesen Erkenntnissen das Fliehen aus der realen Erdenexistenz in bloß erträumte höhere Welten, eine Art Rausch (»luziferische« Seite des Bösen, Esel in der Parabel des Ustad), die »Ahrimanische Komponente« aber stellt eine Art »Versteinerung« durch zu starke Bindung des Menschen an die Erde dar (»ahrimanische« Seite des Bösen, Kameele bei Karl May). Damit keine Mißverständnisse entstehen: hier soll May nicht zum »ersten Anthroposophen« hinaufstili-


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siert[hinaufsilisiert] werden; vor allzu raschen Vergleichen zwischen Mays Alterswerk, der »mystizistisch« angehauchten Theosophie der Jahrhundertwende und der anthroposophischen Geisteswissenschaft ist zu warnen. Dennoch muß festgehalten werden, daß in Mays "Silberlöwen" geistige Erkenntnisse in reichem Maße eingegangen sind, ohne daß man daraus sofort eindeutig auf die Provenienz dieser Erkenntnisse aus gewissen philosophischen Richtungen schließen kann (lediglich die Beeinflussung des Spätwerks durch Swedenborg ist unverkennbar).(42) Wie May zwar die Dreiteilung des Menschen in Körper, Seele und Geist kannte, sie aber sicher nicht bis ins letzte reflektiert hat, so ahnte er wohl auch, daß es ein Doppelantlitz des Bösen gibt, was ihn nicht daran hinderte,  A h r i m a n  Mirza mit den unverkennbaren Zügen  L u z i f e r s, des schönen Versuchers, auszustatten. Dadurch wird die tiefe Wirkung seiner Bilder aber nicht beeinträchtigt. Betrachtet man die Parabel vom Baum El Dscharanil und vom Paradies der Selbstgerechtigkeit einmal als ein Ganzes, so mag sie als Gleichnis verstanden werden, das sich auf die Verhaltensweisen der selbstgerechten religiösen Fanatiker bezieht. Freilich ist es unverkennbar, daß May in allen Religionen, wie sie geschichtlich geworden sind und sich ihm am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts präsentierten, Züge der Selbstgerechtigkeit und des Fanatismus erblickte. Anders verhält es sich mit der überkonfessionellen Religion der Toleranz, wie er sie für die Zukunft erhoffte, und so läßt er Kara Ben Nemsi dann dem schrecklichen Paradies der Selbstgerechtigkeit mit den endlosen Grabesfeldern, »aus deren Höhlen das irre Gekicher der Unduldsamkeit schrillte«(43), ein ganz anderes Paradies gegenüberstellen: »Vor meinem Himmel giebt es kein Seil El Milal, keinen Baum El Dscharanil und keine Wandmalereien. Ihn hat sich auch kein Pächter angemaßt, und an der Straße, die zu ihm führt, stehen keine Götzenhäuser. Auch giebt es keine Mauer und kein Thor. Es führen so viel Wege hinein, wie es Menschen giebt. Er steht ihnen allen offen, wenn sie nur kommen wollen. In diesem meinem Gedankenparadiese ist nichts versunken, vernichtet und vergessen. Da ragen die Gottesideen vergangener Jahrtausende noch so hoch wie damals im Morgenrot empor. Und in der Abendröte erglänzen die neuen, hohen Ideale zukünftiger Jahrhunderte, um zu Wirklichkeiten zu werden ( . . . )«(44) May hat Recht: es ist  n o c h  ein Gedankenparadies, was er hier beschreibt, zunächst nur eine Idee, ein schöner Traum von einem friedlichen Nebeneinander der Religionen und Konfessionen, von einem überkonfessionellen Christentum der Zukunft, das die Ruinen vergangener Lehrmeinungen und Dogmen überwindet. Im Roman "Silberlöwe IV" erstrahlt diese neue Religion der Zukunft am Ende als Alabasterzelt in der Höhe, auf-


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gestiegen[aufgestiegen] aus den dumpfen Regionen der Ruinen, die unter sich den Scheik ul Islam und sein Paradies der Selbstgerechtigkeit begraben.

Es gehört nicht zu den geringsten Leistungen der Mayschen Parabeln vom falschen und wahren Paradies, daß in ihnen die ganze kommende Handlung keimhaft angelegt ist. Die Parabel vom Baum El Dscharanil führt direkt weiter zur Takikurden-Handlung späterer Kapitel; die »Ultras« unter den Takikurden, angeführt vom Scheik ul Islam, sind genau so wie die Pächter des Paradieses, vor dem der Baum El Dscharanil steht: sie schmeicheln sich mit schönen Reden ein, um Macht auszuüben, sie heucheln, sich unter die Führung des Ustad begeben zu wollen, und planen doch die »Machtübernahme« bei den Dschamikun, sie täuschen die anderen mit lammfrommer Miene und geheuchelter Bescheidenheit, sie reden von der Seligkeit, meinen aber die öden Ruinen der überlebten Religionen, die sie um jeden Preis erhalten wollen. Wer diese Parabel vom Baum El Dscharanil aufmerksam liest und versteht, braucht sich um die Deutung der ganzen Takikurden-Episode nicht zu sorgen; wer Kara Ben Nemsis »Gegenparadies« aufmerksam studiert hat, der versteht die Bedeutung des Alabaster-Zeltes am Ende des "Silberlöwen". Die Kunstform der Parabel mit ihrem lehrhaften Charakter mag problematischer sein als die »unschuldige« Bildlichkeit des von allegorischen Absichten meist unbelasteten  M ä r c h e n s; daß Mays Parabeln aber in konzentrierter Bildfülle die Richtung der ganzen Handlung des "Silberlöwen IV" vorwegnehmen, gehört nicht zu Mays geringsten Kunstleistungen.


2

Schon bald nach ihrem Erscheinen lösten die beiden Abschlußbände des "Silberlöwen" eine Reihe von Mißverständnissen aus; so wurden (und werden) die Bücher gerne als verschlüsselte Abrechnung mit Mays Gegnern, als symbolische »verkleidete« Polemik gewertet. Sicher trifft ein solches Urteil zum Teil auch zu, aber eben nur  z u m  T e i l. Eine Interpretation des "Silberlöwen", die sich vor allem auf die zahlreichen im Text versteckten Detailanspielungen und Seitenhiebe (auch der Pedehr alias Fehsenfeld bekommt am Ende des langen Nachtgesprächs noch einen Hieb ab, als er Ghulam el Multasim die Flucht aus dem sicheren Gewölbe ermöglicht)(45) stützen würde, ginge einfach am gesamten Anspruch des Textes, an seiner Komplexität und Vielschichtigkeit vorbei. Freilich hat May selber solchen Interpretationen dadurch Vorschub geleistet, daß er in seinem Text den ganzen


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Komplex des beginnenden »May-Kampfes« mit eingehen ließ und vielleicht im Bemühen, auch noch dem unbedeutendsten Gegner literarisch einen Seitenhieb zu versetzen, manchmal seine philosophischen und anthropologischen Anliegen aus den Augen verlor. Die Gegner griffen denn auch jede Blöße, die er sich gab, begierig auf: in seinem Artikel "Die »Rettung« des Herrn Karl May" genügte Hermann Cardauns ein einziger Satz, um den "Silberlöwen" abzukanzeln: »Ich erinnere mich nur noch, daß er in der Einleitung zu einem Romane seine literarischen Gegner höchst geschmackvoll mit Maden verglich, die sich untereinander auffressen, bis die letzte und fetteste zerplatzt.«(46) Dabei hilft es wenig, darauf hinzuweisen, daß so ziemlich alles in Cardauns Wiedergabe von Halefs Madentraum nicht stimmt. Er findet sich nicht »in der Einleitung zu einem Romane«, sondern ziemlich im letzten Drittel des "Silberlöwen III"(47); die Maden fressen sich auch keinesfalls gegenseitig auf, sondern fressen lediglich das alte Fleisch Mays, also das, was May selber in sich als sterblich und vergangen betrachtete. Schließlich zerplatzt keine der Maden, sondern Halef wacht im Augenblick ihrer größten Wut auf. Dies alles beweist, daß Cardauns keineswegs der objektive May-Gegner war, für den ihn so gegensätzliche Kritiker wie E. A. Schmid und Arno Schmidt hielten, sondern ein ziemlich dreister Fälscher von Belegen, Daten und Fakten. Aber richtig ist zweifellos, daß May dem Haß gegen seine Gegner auch in seinem »Schattenroman« freien Lauf ließ. Wie autobiographisch eindeutig er selber die Parabel vom Baum El Dscharanil interpretierte, beweist ein interessantes Dokument, der Brief Mays an Fehsenfeld vom 24. 12. 1902: Bemerken Sie, daß mit Band IV eine neue Aera angebrochen ist? Der bisher so schweigsame »Silberlöwe« tritt endlich, endlich aus seiner Felsenverborgenheit hervor. Das drohende »Rrrrad!« erklingt. Auf wen hat er es wohl abgesehen? Seine Zeit ist gekommen. Wird er wohl hinabspringen in jenes »Paradies«, vor dessen Thür der »Baum des Geschwätzes« steht? Die armen Esel und Kameele! Was wird er mit den »lammesblickenden« Füchsen und schleichenden Hyänen machen? Mit den »Seligen«, die Einlaßkarten hatten? Mit den »Fischern«, die im Trockenen angeln, obgleich sie an der Elbe und am Rheine wohnen? Diese Thoren glauben, gewonnen zu haben! Es hing nur ein Fröschlein niedrigster Instanz am Haken! Da posaunen sie von gewonnenen Beleidigungsprozessen! Nur warten! Im »hohen Hause« ist ganz Anderes beschlossen! Da stehen Todte auf, die nie gestorben sind! Es werden von dort aus die Geister niedersteigen, die man so thöricht war, aus ihrer Ruhe aufzustören. Das giebt dann andere Beleidigungsprozesse, geführt vor jener höheren Instanz, die jeden ärmlichen »Vergleich« vernichtet und nichts ver-


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schenkt[verschenkt], auch keine »fünfzig Mark«! - Biffe, lesen Sie Band IV aufmerksam. Und wenn Sie ihn gefunden haben, so sagen Sie mir, wie mein Verleger Fehsenfeld in diesem »Fausthieb« heißt! - Vielleicht wird meine Leserwelt, die »Dschamikun«, nun endlich klug! »Jugendschriftsteller«! Lächerlich! »Bärentödter«, »Henrystutzen«? Tausende kamen, um sie bei mir zu sehen. Keiner dachte an eine höhere Bedeutung! Wehe, wenn der Ustad sie mir wiedergeben muß! Man hat Kara Ben Nemsi nicht gekannt. Man glaubte, kurzen Prozeß mit ihm machen zu können. Man überlieferte ihn dem »Löwen der Blutrache«. Er stieg getrost den Todesweg hinauf. Doch was geschah da oben und dann unten? Weissagung! Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? Schreibt er nur für dumme Jungens? Bitte, lesen Sie ihn ja noch einmal! Von vorn, von ganz vorn! Aber geistig! Sie werden dann finden, daß Sie etwas ganz Anderes drucken ließen, als Sie glaubten! Unsere Bücher sind für Jahrhunderte bestimmt. Man wird das endlich zuzugeben haben. »Am Jenseits«, zweiter Band, »Et in terra pax« und »Marah Durimeh« mussen selbst der Blindheit beide Augen öffnen. - Also:  M e i n e  Z e i t  i s t  e n d l i c h  d a !(48)

   Dies ist eine sehr eindrucksvolle Selbstinterpretation, und sie sollte hier einmal bewußt meiner Ausdeutung der »El Dscharanil«-Parabel gegenübergestellt werden. Scheinbar ist dieser Brief ja ganz eindeutig; da bezeichnet May ganz freimütig den "Silberlöwen IV" als verkleidete Abrechnung mit seinen Gegnern. Der bisher so schweigsame »Silberlöwe« ist May selbst, der mit dem "Silberlöwen IV" endlich, endlich aus seiner Felsenverborgenheit hervor tritt, und in der Tat sind ja die behandelten Passagen des "Silberlöwen IV" höchst eindeutig zu lesen, wenn man das Paradies der Selbstgerechtigkeit auf Mays ultramontane Gegnerschaft, allen voran die "Kölnische Volkszeitung", ihren Chefredakteur Hermann Cardauns und den Kölner Verlag Bachem, bezieht. So weit, so klar; aber das Denken in Bildern ist für May offenbar bereits so selbstverständlich geworden, daß er in seinem Brief nun gleich weitere Metaphern erfindet, die sich im Buch nicht finden. Die »lammesblickenden« Füchse und schleichenden Hyänen sind Mays heuchlerische Gegnerschaft, die überall »Unsittlichkeit« erblickt, aber die betreffenden Texte offenbar nie korrekt gelesen hat (denn Cardauns' summarische »Inhaltsangaben« der Münchmeyer-Romane sind meist frei erfunden). Die im Trockenen angelnden »Fischer« aber finden sich nicht im "Silberlöwen": die Herren Fischer (der an der Elbe wohnt) und Bachem (der am Rheine wohnt) waren Fehsenfeld wohlbekannt, und May beweist hier bemerkenswertes Talent, was das Extemporieren von Doppeldeutigkeiten angeht. Doch dann wird der Briefton ernster: wieder


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einmal bekommt Fehsenfeld von seinem Autor den Beleidigungsprozeß "Kölnische Volkszeitung" contra F. E. Fehsenfeld vom Januar 1902 warnend und klagend vorgesetzt (noch kann ja der Verleger nichts vom ominösen Da' wa'l Ihana ahnen, denn gerade erst sind die ersten 40 Manuskriptseiten des "Silberlöwen IV" fertig geworden).(49) Aber zugleich macht er auch deutlich, daß es nun um ganz andere Beleidigungsprozesse geht, die vor jener höheren Instanz geführt werden, die wir als »Große Literatur« zu bezeichnen pflegen. Natürlich wird dort nichts verschenkt, auch nicht die formelle Buße von 50 Mark, die Fehsenfeld im Verfahren gegen die "Kölnische Volkszeitung" zu erlegen hatte.(50) Doch die höhere Instanz der Literatur hat nun einmal ihre eigenen Gesetze; diese brachten es auch mit sich, daß der literarische »Fausthieb« ganz andere Dimensionen annahm, als von May ursprünglich wohl beabsichtigt war. Denn der Brief Mays an Fehsenfeld mit seinem eindeutigen Schwerpunkt auf dem Aspekt des »Schlüsselromans«, der verkleideten Abrechnung mit den Gegnern, hat ja selber den Charakter einer Abrechnung oder zumindest Ermahnung, gerichtet an die Adresse eines von vornherein als verständnislos eingestuften Verlegers. Insofern trieft der Brief geradezu von Ironie: . . . sagen Sie mir, wie mein Verleger Fehsenfeld in diesem »Fausthieb« heißt! oder, noch um einiges schärfer: Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? Wie Literatur zur Waffe werden kann, das lehrt nicht nur der "Silberlöwen"-Text, das lehrt auch Mays Brief an Fehsenfeld. Wehe, wenn der Ustad sie mir wiedergeben muß! (die Wunderwaffen Bärentöter und Henrystutzen nämlich) - und zeitweilig sieht es ja tatsächlich so aus, als wolle May seine Gegner wieder mit konventionellen Waffen (natürlich nicht mit dem Gewehr, wohl aber mit Prozessen) in die Knie zwingen. Daß unter dem Druck gerichtlicher Auseinandersetzungen und polemischer Briefwechsel hin und her die eigentliche Konversion zur »hohen« Literatur immer wieder erschwert wurde in den folgenden Jahren bis zu Karl Mays Lebensende, ist eine unbestreitbare Tatsache; aber als sein Stil erst einmal durchlässiger geworden war für die Einflüsse geistiger Welten, als er begann, nicht bloß »doppelsinnig«, sondern im wahrsten Wortsinne  a u f  m e h r e r e n  E b e n e n  z u  schreiben, da hatte sich das Werk in gewisser Weise selbst unangreifbarer gemacht gegen die Vorwürfe der Gegner, es handele sich jetzt nur noch um »Tendenzschriftstellerei«.

   Mays Weihnachtsbrief an Fehsenfeld setzt also die vorhin an die »El Dscharanil«-Parabel geknüpften Interpretationsversuche nicht außer Kurs; er dokumentiert allerdings, daß in Mays Händen die letzten beiden Bände des "Silberlöwen" jederzeit wieder umgemünzt werden


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konnten zu einer tödlichen Waffe gegen die Gegner (oder den uneinsichtigen Verleger). Auf der anderen Seite klingt es aber aus Mays Brief geradezu beschwörend, wenn er verlangt, geistig gelesen zu werden; im Bemühen, die Integrität seines Werkes zu retten, schrieb er nun auch den ersten Bänden geistige, höhere, symbolische Bedeutung zu, und wenn uns das auch merkwürdig vorkommen mag, so beweist doch gerade die in den letzten Jahren erschienene Sekundärliteratur etwa zu den Orienterzählungen, daß in den »frühen« Werken unter der abenteuerlichen Oberfläche ebenfalls allerhand verborgen liegt, von den autobiographischen "Spiegelungen" bis zu ganz archetypischen Urängsten und Urwünschen, die sich in das bunte Gewand der orientalischen Reiseerzählung kleideten.

   Immerhin hat May ganz radikale persönliche Konsequenzen aus dem gezogen, was er in den letzten "Silberlöwen"-Bänden in Form von vagen oder konkreten Bildern und Symbolen aussagte. Ich mache mich jetzt an den Baum El Dscharanil, schreibt er im letzten Absatz des Briefes vom 24. 12. 1902. Die Wurzel desselben stand in meinem eigenen Hause. Sie haben sie bedauert, doch mußte sie heraus.  G r a d  S i e  hätten sich am Meisten darüber freuen sollen!!! Immer stärker kreisen Mays Gedanken (z. B. in den unzähligen Notizen des Jahres 1902, die sich u. a. in den Mappen "Schetana", "Weib", "Wüste" usw. finden) um den Menschen, den er als den "Dämon" seines Lebens zu hassen begann, um seine Frau Emma, geb. Pollmer. Daß er sie als Wurzel des Baumes der Neugierde und der Geschwätzigkeit bezeichnete, mag nicht verwundern, wenn man weiß, daß er sie späterhin verdächtigte, während der Orientreise wichtige Geschäftsbriefe in »Sachen Münchmeyer« verbrannt oder gar an den Gegner, sprich: Pauline Münchmeyer, ausgeliefert zu haben: Meine erste Frage, als ich mit ihr zusammentraf, war, ob sie die Münchmeyerbriefe heilig aufgehoben habe. Sie antwortete bejahend, und als ich die Frage ihrer Wichtigkeit wegen wiederholte, wurde sie grob. Und doch hatte sie sie verbrannt, ganz absichtlich verbrannt, oder, was noch wahrscheinlicher ist, der Frau Münchmeyer ausgeliefert! Sie wußte, wenn ich das erfuhr, würde ich sofort nach Hause reisen. ( . . . ) Sie hatte das, was sie that, nur der Frau Münchmeyer zu Liebe gethan ( . . . ).(51) Ob diese Beschuldigungen der Wahrheit entsprechen, kann hier nicht untersucht werden; wichtiger ist, daß May sich so in sie hineinsteigerte, daß die Pekala des "Silberlöwen IV" nun so ganz andere Züge aufzuweisen beginnt als die des "Silberlöwen III". Nun ist sie nicht mehr die unbedarfte und naive, aber liebenswürdige Köchin des dritten Bandes, sondern (und hierin ist denn wirklich mit Band IV eine neue Aera angefangen) diese geistige Nichtigkeit, zehnfach, hun-


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dertfach[hundertfach] nichtig grad durch ihre strahlend freundliche Gestalt! Diese Null war hohl; hierüber gab es keinen Zweifel. Aber hinter ihr stand eine ganze Finsternis bereit, sie mit dem Verderben für uns vollständig anzufüllen!(52) Das ist der blanke Haß, und genau wie Emma Pollmer in der "Studie" als vom Pollmerschen Dämon besessen dargestellt wird, ist sie auch hier im "Silberlöwen IV" dem Reich der Finsternis zugeordnet, indem sie den Ustad (im Auftrag des »Aschyk« alias Max Moritz Welte alias Pauline Münchmeyer) ausspioniert, um seine Entmachtung vorzubereiten. Daß May Emma vorwarf, sie arbeite für die gegnerische Partei und habe seine Vernichtung geplant, läßt sich dem Buch "Silberlöwe IV" mit unübertrefflicher Deutlichkeit entnehmen. Aber wieder spielt die Literatur ihm einen Streich: im wirklichen Leben kann er sich an den Baum El Dscharanil ganz eindeutig machen, seine Wurzel (Emma) mußte hinaus, und am 2. 2. 1903 wird Emma das Scheidungsurteil zugestellt (durch die Scheidung wird die Arbeit am "Silberlöwen" unterbrochen, nachdem May den größten Teil des Nachtgesprächs fertiggestellt hatte und auf Seite 176 der Erstausgabe angelangt war(53)), doch im Buch ist der Köchin ein anderer Abgang erlaubt. Zwar muß sie tatsächlich hinaus, und mit ihr verläßt auch Tifl, das Kind (d. h. alles das, was May in sich selber als unreif erkennt und - um in der Sprache des "Silberlöwen" zu bleiben - zum Sterben verurteilt hatte) den Ustad, doch wird sie nicht wahnsinnig wie Ahriman und kommt nicht in den Ruinen um wie der Scheik ul Islam, endet auch nicht wie die »Gul-i-Schiras«, die in den Säbel gestürzt(54) ist. Abseits vom Geistigen zwar, getrennt vom hohen Haus, sucht sie eine neue Existenz und eine neue Liebe (den dicken »Kerek«); das ist zwar ein ironisches Ende, aber doch irgendwie ein versöhnliches. So sehr der "Silberlöwe" auch als ein Dokument des Hasses erscheinen mag (in manchen Passagen), so erscheint doch im Lichte der höheren Instanz Literatur manches verklärter und dadurch  k l a r e r. So geschieht es, daß die Parabel vom Baum El Dscharanil über die eng begrenzte Biographie des Karl May heraus Bedeutung gewinnt: als Zustandsbeschreibung überlebter alleinseligmachender Religionsformen, als Kritik an dem religiösen und politischen Fanatismus, an Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit der Presse: Unsere Bücher sind für Jahrhunderte bestimmt(55) - das ist buchstäblich wahr, wenn man die im "Silberlöwen" versteckten unveränderlichen Wahrheiten nimmt und sich nicht über Karl Mays scheinbare Überheblichkeit mokiert. Die Angriffe gegen mich lassen mich vollständig kalt. Ich bin überzeugt, daß man sich später ihrer schämen wird. Es ist nur  e i n e  e i n z i g e  S e i t e  eines späteren Bandes nöthig, um alle diese Lästerer und Verleumder zum


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Schweigen zu bringen. Diese Waffen habe ich mir auf meiner letzten Reise geholt.(56) Auch diese Worte Mays aus seinem Brief an Fehsenfeld, den er nach seiner Rückkehr von der großen Orientreise schrieb, haben sich ja bewahrheitet; nicht in dem Sinne, daß er seine Gegner mit dem "Silberlöwen" zum Schweigen gebracht hätte, im Gegenteil: sie ignorierten das Buch und schrieben munter weiter, Angriff auf Angriff. Aber der "Silberlöwe" ist auch nach 80 Jahren noch literarisch bedeutsam; den Namen Cardauns dagegen kennt man nur noch im Zusammenhang mit Karl May . . . Wie heißt es doch im "Silberlöwen IV": »Der Kampf mit geistigen Waffen ist der höhere, der edlere ( . . . )«(57) Der Rest des Zitates ist hier unwichtig, denn Mays Patronen waren zu seinen Lebzeiten unwirksam, die geistigen Waffen ("Silberlöwe", "Ardistan und Dschinnistan") treffen immer noch . . .


3

Dieser Blick auf einige Bilder des "Silberlöwen" wäre noch unvollständiger, als er sowieso schon bleiben muß, wenn man nicht neben der Parabel auch noch eine weitere literarische Form erwähnen würde, in die May seine Bilder gießt: die des Märchens. Im Märchen, dieser uraltehrwürdigen Form des Erzählens, sind tiefe Wahrheiten in ein schlichtes, manchmal buntes Gewand gehüllt. Das Prinzip des Märchens ist das der immerwährenden Verwandlung; der Bettler ist König, der König Bettler, der Frosch ein verwunschener Prinz und der unscheinbare Junge ein Königssohn. Im Märchen kann sich die Phantasie am reinsten bewegen und am freiesten; nicht umsonst läßt May Schakara, die Seele und Schülerin Marah Durimehs, der Menschheitsseele, zunächst das schöne Bild von dem Roß mit der knisternden Funkenmähne, der Himmelsphantasie, bringen(58), bevor sie das Märchen von Chodeh, dem Eingeschlossenen erzählt. Märchenhaft und uferlos war ja Mays Phantasie immer, und märchenhaft wirkt alles, was er erzählt; von den ersten Bänden der "Gesammelten Reiseerzählungen" spannt sich ein Bogen der grenzenlosen Phantasie. Mit Recht heißt es in Mays Gedicht vom "Alabasterzelt", das als Abschluß des "Silberlöwen" geplant war: Wenn ich belehrte, schien ich nur zu plaudern / vom fernen, märchenhaften Morgenland.(59) Im Alterswerk, wo sich die Phantasie frei macht von der Bindung an die konventionelle Form der Reiseerzählung, wird das Märchen zum beherrschenden Formprinzip. Mays "Märchen von Sitara", seiner Selbstbiographie vorangestellt, im "Silberlöwen" vorausgeahnt und in "Ardistan und Dschinnistan" ausgearbeitet, bietet ein ge-


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schlossenes[geschlossenes] Bild des ganzen Lebens in märchenhafter Form, so wie May es sah. So lassen sich auch aus dem "Silberlöwen IV" unzählige kleine Märchenpartikel herauslösen; nicht alle Märchen brauchen überhaupt erzählt zu werden (der Ustad erwähnt das Märchen »von dem Sonnenstrahl, der hier auf Erden König wurde und so mild und gut regierte, daß alle seine Unterthanen, sobald sie starben, sich in helle Sonnenstrahlen verwandelten und zum Himmel stiegen«(60), aber er erzählte es nicht weiter, da Kara Ben Nemsi es kennt), andere bedeuteten auch dasselbe, wie das Märchen (May spricht von der »Sage«) von dem verzauberten Gebet und die Sage von Chodeh, dem Eingemauerten.(61) Nie aber sind Märchen bedeutungslos, denn sie tragen in sich einen Schimmer der göttlichen Wahrheit. »Die eine Wahrheit geht in Tiergestalt als Fabelwesen durch Wald und Feld, kommt vielleicht auch in Haus und Hof des Menschen, um ihm im Bilde mitzuteilen, was ihm in anderer Weise zu sagen ein Wagnis ist. Die andere ist kühner. Sie nimmt die Form des bekannten Körpers an, der als das Ebenbild Gottes so berühmt geworden ist, und sucht die Städte und Dörfer auf, wo sie sich für ein bescheidenes Märchen ausgiebt ( . . . ) Sie hat scheinbar ( . . . ) gar nicht viel zu sagen ( . . . ). Doch wenn sie fortgegangen ist, beginnt man unwillkürlich nachzusinnen. Dann kommt es freilich an den Tag, daß dieses sogenannte Märchen ein Himmelskind gewesen ist ( . . . ).«(62) Die Form der Parabel ist kunst- und anspruchsvoller; Parabeln wollen in Bildern belehren. Das Märchen ist scheinbar anspruchsloser und verbirgt seine Wahrheiten in schlichtem Gewand - auch darum hat der in der Welt der Himmelsphantasie wohlbewanderte Karl May die Form des Märchens so geliebt. In seinem ambitioniertesten Werk, dem Drama "Babel und Bibel", tritt neben dem alten Märchenerzähler, dem weisen Hakawati, die Phantasie selber auf. Sie erscheint freilich nicht jedem Menschen: »Die Phantasie ist keine Bettlerin / Und keine Narretei, die man belächelt. / Nur wer Sitara kennt, das wunderbare / Und hochgelegne Land der Sternenblumen, / Der wird von ihr besucht, keinAnderer.«(63) Was aber haben die Märchen im "Silberlöwen" zu sagen?

   Das wohl wichtigste Märchen im "Silberlöwen IV" wird von Schakara erzählt, die als Seele zu der Welt des Märchens eine ganz besonders enge Beziehung hat; das Märchen von Chodeh, dem Eingemauerten berichtet von einem Plan des Teufels. Er will Baumeister werden und übt sich nun an frommen Werken, um den Menschen in Form eines großen Bauwerkes sich selber als Gott vorzusetzen. Das Werk gelingt. »Der Felsen gab das Fundament; die Mauer klammerte sich fest; sie wuchs empor. Der Teufel saß als Gott im Heiligtume. Doch seine Scharen regten sich, ihn eiligst für das Volk hier einzumauern. Das Bauwerk stieg ihm


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immer höher, bis an den Leib - - - bis an die Brust - - - bis an den Hals! Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen! Der Kopf verschwand nun auch. Fast war der Berg verschlossen. Da schwang ein dunkler Flederhäuter sich aus der letzten Oefinung und flatterte in das Verschwundensein. Und in demselben Augenblick erschien der Architekt vor seinem Werke und lobte laut, daß er zufrieden sei. - - - Was war es für ein Bau? Kein Mensch vermags zu sagen. «(64) Das ist ein schönes, nachdenkliches Bild, das der Erläuterung bedarf. Der Bau, an dem der Teufel mitgewirkt hat, indem er sich als Gott ausgab, ist die Erde selbst. Überall dort, wo die reine Idee in die Verhärtung der Materie kommt, haben die Widersacher ihre Hand im Spiel. So verhält es sich auch mit den Ruinen, den überlebensgroßen Bildern für die vergangenen und gegenwärtigen Religions- und Anbetungsformen. In allen steckt ein Keim der Wahrheit, aber er ist zugeschüttet worden durch menschliche Überheblichkeit und die Selbstgerechtigkeit kirchlicher und weltlicher Amtsträger. In seinem »Großen Traum« entdeckt Kara Ben Nemsi, daß die Ruinen leer und ausgeraubt(65) sind; das bedeutet, daß die modernen Religionen und Philosophien das Vergangene nicht heilig gehalten haben, sondern daß sie die vergangenen Religionsformen und Weltanschanungen für den eigenen Zweck nutzbar machten und ausplünderten. Aber, so lehrt das Märchen von Chodeh, dem Eingemauerten, irgendwo in den Ruinen der ausgeplünderten und gottfreien Welt wohnt noch ein Funke der Wahrheit, ein winziger Gottesfunke. »Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen. ( . . . ) Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat, so liegt hinter diesem Scheine sicher etwas Wahres verborgen.«(66) Dieses Wahre zu finden, das »versteinerte Gebet« aus seiner Verzauberung zu lösen und es emporsteigen zu lassen aus dem Dunkel der Unterwelt in das Licht der im Alabaster-Zelt abgebildeten und sichtbar gemachten reinen Gottesidee, ist die Aufgabe der Menschen für die Zukunft. Am Ende des "Silberlöwen" hat diese Zukunft in kühnem Vorgriff schon Gestalt angenommen; doch um das "Versteinerte Gebet" aus seinem Schlaf zu erlösen, bedarf es nicht nur der Bilder, wie sie uns in Parabeln und Märchen entgegentreten. Hier tritt nun noch eine dritte Form der Bildlichkeit in ihre Rechte: die des Traumes.

   Von Alters her haben die Menschen ihre Träume ernst genommen, und in ihnen eine Verbindungsmöglichkeit zur geistigen Welt erkannt. Die »Traumliteratur« aller Epochen (von den "Somnialien" des Mittelalters bis zu Sigmund Freuds gewichtiger "Traumdeutung" vom Anfang dieses Jahrhunderts) ist voluminös. Auch im "Silberlöwen" wird viel ge-


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träumt[geträumt] und auffallend viel geschlafen (im "Silberlöwen IV" schläft Kara Ben Nemsi häufig bis in den Mittag hinein, was er sogar ausdrücklich vermerkt(67)), weil Karl May erkannt hat, daß dem Menschen im Traum andere Augen (Geistes- und Seelenaugen) gegeben werden. So darf Schakara mit Recht sagen, da sie ja die Seele ist: »Was nennsf du Schlaf, Effendi? Ich schlafe wohl auch, indem ich hier bei dir wache; aber so oft du die Augen öffnest, wirst du die meinen auch offen sehen.«(68) In diesem Sinne wird das Geheimnis der Ruinen Kara Ben Nemsi denn auch erst in seinem »Großen Traum« offenbart, dem man in seiner grandiosen Bilderfülle dringend eine eingehende Studie widmen müßte. Hier können nur ganz wenige Andeutungen gemacht werden: in seinem Traum erforscht Kara Ben Nemsi als Ustad, als Beherrscher der Geisterwelt, die Ruinen. Er stellt fest, daß sie leer und ausgeplündert sind und muß sich nun im Kampf gegen die dort hausenden Schattenwesen, die Chimären, die unvollkommenen und zu Skeletten versteinerten Abbildungen der wahren Gottesidee, bewähren. Er tut dies, indem er Christi Heilstat nachvollzieht: er schwimmt den Skeletten voran durch das eiskalte Wasser des Todes und erlöst sie vom Tode zu neuem Leben im Licht: ein wunderbarer, heiliger Farbenton(69) erscheint als Abbild des göttlichen Lichtes, er zeigt den Schatten den Weg ins Freie.(70) Die Erlösung kann nur von dem gebracht werden, der den Schlüssel Hephata(71) besitzt. Das ist aber nur einer: der Christus, der dem Taubstummen den Mund auftat mit dem heilenden »Epphata«: »Und er nahm ihn aus der Menge heraus beiseite, legte ihm seine Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel, blickte zum Himmel auf, seufzte und sprach zu ihm: "Epphata", das heißt: "Tu dich auf!" Da öffneten sich seine Ohren, und das Band seiner Zunge löste sich ( . . . ).«(72) Es ist gewiß kein Zufall, daß Karl May hier an das Markus-Evangelium anknüpft. Der einzige Weg heraus aus dem Dunkel der Ruinen in das Licht neuer Gotteserkenntnis führt über ein neuverstandenes Christentum, frei von Dogmen und Konfessionsgrenzen, nur dem verpflichtet, der den Schlüssel »Epphata« besitzt. Das ist die Botschaft des Großen Traums, und es ist auch vielleicht die zentrale Botschaft des "Silberlöwen" überhaupt.


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Wirft man am Ende dieser Überlegungen noch einmal einen Blick zurück vom Spätwerk Mays auf die "Reiseerzählungen", so scheint in Mays Werk doch so gar keine Kontinnität erkennbar zu sein. Die Bil-


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derwelt[Bilderwelt] der Märchen, Träume und Parabeln des "Silberlöwen" auf der einen, die bunte Abenteuerwelt der ersten Bände der "Gesammelten Werke" auf der anderen Seite - das sind doch offenbar zwei grundverschiedene Welten ohne ersichtliches Bindeglied. Zu allem Überfluß machte May es sich und seinen Lesern doppelt schwer: einerseits versuchte er, Distanz von seiner Vergangenheit zu gewinnen und bezeichnete kurzerhand nach der Orientreise alles, was er vorher geschrieben hatte, als Vorübung und unfertige Skizze: Zu Ihrer Orientirung kurz Folgendes: Alle meine bisherigen Bände sind  n u r  Einleitung, nur Vorbereitung. Was ich eigentlich will, weiß außer mir kein Mensch, auch  S i e  nicht. Es ist also Unsinn, über mich und meine Werke schon jetzt zu urtheilen, weil jedes jetzige Urtheil später  l ä c h e r l i c h  erscheinen wird.(73) Das sind starke Worte, und sie berechtigen offenbar dazu, nur das Spätwerk als das eigentliche Werk Mays anzusehen. Andererseits war May überaus bemüht, seine früheren Werke zu »retten«, indem er sie ebenfalls als »gleichnishaft« bezeichnete: Also alle meine Reiseerzählungen, die ich zu schreiben beubsichtigte, sollten bildlich, sollten symbolisch sein. Sie sollten Etwas sagen, was nicht auf der Oberfläche lag.(74)

   Die beiden Formen der Selbstinterpretation, die wir hier aufzeigten, gehen ins Leere und tun dem »frühen Werk« Gewalt an; weder die "Reiseerzählungen" noch das symbolische Spätwerk lassen sich als eigentliches Werk Mays ansehen. Sie gehören untrennbar zusammen. Darum ist es absurd, die ersten Bände der "Gesammelten Werke" mit Gewalt auf allegorische Bedeutungen zu untersuchen.

   Nicht minder abwegig war in den dreißiger Jahren der Versuch Otto Eickes, das symbolische Spätwerk als Sackgasse und "Bruch im Bau" zu diskreditieren und gewagte Spekulationen darüber anzustellen, wie Karl May den "Löwen von Farsistan", das spätere Kapitel "In Basra", hätte fortsetzen können, wenn er nicht, wie Eicke es ausdrückt, »die Flucht in die Symbolik«(75) angetreten hätte. Eickes Kritik und sein Versuch, May zu verbessern, gehen ins Leere; May ist nicht einfach vor seinen Gegnern in die Symbolik geflohen. Die ungeklärten psychologischen »Wandlungen« auf der Orientreise gaben seinem Werk eine neue Richtung. Archetypische Urbilder psychischer Grundsituationen finden sich immer wieder in seinen frühen Erzählungen: Gefangenschaft und Befreiung, Ölbrand und Blindheit - diese Bilder verfehlen ihre Wirkung nicht, weil sie mit Urängsten und Urhoffnungen der Menschheit in enger Verbindung stehen. Der Alptraum des Todesrittes über den Salzsee und Kara Ben Nemsis Kriechen durch den engen Kanal in den Brunnen, der im Hof Abrahim Mamurs steht - diese ele-


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mentaren[elementaren] Angstsitutationen finden sich gleich zu Beginn des ersten Bandes "Durch die Wüste", und sie haben seitdem auf Millionen Leser unvergilbte Suggestivkraft ausgeübt. Im Alterswerk werden die Bilder nun bewußt hergestellt, obwohl auch in sie manches Unbewußte eingegangen ist - sie werden vor allem von einem festen Kunstwillen umgegossen in künstlerisch anspruchsvolle und auf der anderen Seite schlichte Formen: Märchen, Traum, Parabel.  D a s  ist die eigentliche Leistung des Alterswerkes; es bedurfte keiner Gegner von außen, um May zur Symbolik zu zwingen. Aber abgehalten haben sie ihn von so vielen fruchtbaren Plänen seines Alters: von "Marah Durimeh", von "Am Jenseits", 2. Teil, von "Winnetous Testament" . . . Getrieben von Prozeß zu Prozeß, mußte Karl May das Spätwerk Torso bleiben lassen, aber es ist ein gewaltiger Torso geworden. Wenn nun ein May-Leser wissen will, wie man das erlernen kann, das Spätwerk zu lesen und zu erkennen, wie Karl May gelesen werden muß, so gibt es darauf nur eine Antwort: lesen, lesen und nochmals lesen . . . Band III und IV des "Silberlöwen" warten auf viele verständnisvolle Leser.



1 Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen, 4. Band. Freiburg o. J. (6.-10. Tausend),

2 Brief Karl Mays an Friedrich Ernst Fehsenfeld vom 24. 12. 1902. Mit freundlicher Genehmigung des Karl-May-Verlages Bamberg werden dieser Brief sowie später (s. Anm. 56) ein Brief vom 10. 9. 1900 nach den im Archiv des Verlages aufbewahrten Original-Manuskripten zitiert und im Anschluß an diesen Beitrag als Faksimiles wiedergegeben. Die Filme dazu hat der Karl-May-Verlag dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.

3 Der Vorabdruck im "Deutschen Hausschatz" begann im März 1897 ("Erste Abtheilumg. Die Rose von Schiras. Einleitung.), wurde ab Weihnachten 1897 fortgeführt und mit dem Bruch zwischen May und der Redaktion des "Hausschatzes" hastig abgebrochen. Die Buchausgabe ist mit den Worten Wollschlägers »eine grobe Klitterung flüchtig zum Buchformat zusammengeschoben und nicht zu retten« (Wollschläger Karl May. Zürich, S. 117); May hat in der Tat den 2. Band zusammengestellt aus dem zweiten Teil des endlosen "Am Turm von Babel"-Kapitels und der "Marienkalender"Erzählung "Die 'Umm ed Dschamahl" die May zum Abschlußkapitel "Ein Rätsel" umarbeitete, dazwischen stellte er noch die kleinere Reiseerzählung "Scheba et Thar". Die Buchausgabe der ersten beiden Bände, im Herbst 1898 von May vorbereitet, ist also schon als Konglomerat verschiedener Reiseerzählungen anzusehen, die alle nur vage miteinander verbunden sind. Zusätzlich hat May dann noch das bereits in den Händen der "Hausschatz"-Redaktion befindliche Textmaterial zu dem Kapitel "Am Turm von Babel" des "Hausschatz"-Vorabdruckes, das er im Juli 1901 zurückerhielt, zum ersten Kapitel des 3. Bandes gemacht, »obwohl es zum Spätwerk ebenfalls noch nicht gehört« (Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den "Silbernen Löwen" In Jb-KMG 1979 S. 121). Diese nahezu unüberschaubaren Zusammenhänge sind am besten dargestellt in dem eben erwähnten Aufsatz von Hans Wollschläger, Jb-KMG 1979, S 119-130 Die dort niedergelegten Fakten hatte Wollschläger freilich schon 1962 im September heft der Zeitschrift "Konkret" ("Herr Karl May von der anderen Seite") in nahezu identischer Formulierung mitgeteilt.

4 Das Kapitel 2 sowie der größte Teil des Kapitels 3 des 3. Bandes "Silberlöwe" erschienen als Vorabdruck in der Zeitschrift ,Rhein- und Moselbote", Koblenz (55 Folgen,


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vom 15. 2. 1902 bis 29. 4. 1902), der Text ist, wie Stichproben ergaben, mit der ersten Buchausgabe so gut wie identisch.

5 Dr. Lorenz Krapp in der "Augsburger Postzeitung" vom 2. 10. 1908, hier nach Thomas Ostwald: Vorwort zum Reprint "Abdahn Effendi/Schamah". Bamberg/ Braunschweig 1977, S. Sf.

6 Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900. In: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915 (ed. by Gerald Chapple and Hans H. Schulte). Bonn 1981, S. 171-196

7 Gesammelte Werke, Band 34 (1. Auflage Radebeul 1916, S. 569ff.). Der Text soll nach Mitteilumg von Wollschläger: Karl May. S. 199 (Anm. 209) nicht von E. A. Schmid, sondern von Wilhelm Koch stammen.

8 Wollschläger ebd.

9 Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen. Köln 1909. Ein Reprint dieses vielleicht wichtigsten Werkes unter der früheren Sekundärliteratur zu May sollte vom KMV spätestens Anfang 1983 vorgelegt werden.

10 Droop a. a. O. S. 75-96 (Kapitel "Typische und symbolische Elemente")

11 Otto Eicke. "Der verschüttete Quell" und "Der Bruch im Bau". In: KMJB 1930 (dazu folgt weiter unten noch Genaueres).

12 Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker. In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958; hier zitiert nach: Der sanfte Unmensch. Unverbindliche Betrachtungen eines Überflüssigen. Frankfurt (Main)-Berlin 1963.

13 Schmidt: Der sanfte Unmensch. S. 67

14 Hans Wollschläger: Das Alterswerk. In Karl May: »Ich«. Gesammelte Werke, Band 34, in der 22. Auflage (1959) und 23. Auflage (1963) enthalten auf S. 355-370; Hans Wollschläger: Karl Mays »Schattenroman«. In: Das versteinerte Gebet. Bamberg 1957, S 586-588 und Hans Wollschläger: Nachwort zu "Der Mir von Dschinnistan" (Gesammelte Werke, Band 32, 51.-70. Tausend. Bamberg 1955).

15 Jb-KMG 1979, S. 99-136

16 Volker Krischel: Karl Mays »Schattenroman«. Sonderheft der KMG Nr. 37. Hamburg 1982

17 Jb-KMG 1976 S 225

18 Wollschläger: Karl May, S. 117f. (dort finden sich alle diese zitierten Stellen).

19 Ebd. S. 118

19a Ebd. S. 121

20 Droop a. a. O. S. 90

21 Silberlöwe IV S. 9

22 Ebd. S. 463

23 Ebd. S. 67

24 Ebd. S. 67

25 Ebd. S. 21

26 Ebd. S. 21f.

27 Ebd. S. 36

28 Ebd. S. 24f.

29 Ebd. S. 25

30 Ebd. S. 25

31 Ebd. S. 36

32 Ebd. S. 27

33 Ebd. S. 33

34 Ebd. S. 26

35 Ebd. S. 26f.

36 Ebd. S. 27

37 Ebd. S. 28

38 Ebd. S. 28

39 Ebd. S. 28

40 Ebd. S. 30

41 Alfred Schütze: Das Rätsel des Bösen. Stuttgart 21969, S. 59

42 Krischel a. a. O. S. 11


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43 Silberlöwe IV S. 31

44 Ebd. S. 35

45 Ebd. S. 189: »Der Pedehr wird ihm wie in einer Da' wa 'l lhana (Beleidigungsprozeß) in die Hände gegangen sein und nicht den richtigen Vergleich zwischen sich und ihm getroffen haben.« In der Tat hatte Fehsenfeld sich im Streit mit der "Kölnischen Volkszeitung", die May auch im Zusammenhang mit dem "Gum"-Nachdruck durch den Verleger der "Volkszeitung", die Firma Bachem in Köln, in seiner Broschüre "»Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May«" scharf angegriffen hatte, zu einem eiligen Vergleich überreden lassen (am 24. 1. 1902; vgl. Wollschläger: Karl May, S. 114).

46 Hermann Cardauns: Die "Rettung" des Herrn Karl May. In: Historisch-politische Blätter 140,4 (1907; hier zitiert nach: Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 195).

47 Silberlöwe III. Freiburg o. J. (11.-15. Tausend), S. 488ff.

48 Brief von May an Fehsenfeld vom 24. 12. 1902.

49 Vgl. Hans Wollschläger: Herr Karl May von der anderen Seite. In: Konkret, September 1962

50 Der Streit zwischen May und Bachem um den Nachdruck der "Wüstenräuber", der den »Beleidigungsprozeß« erst auslöste, ist jetzt durch Herbert Meier ausführlich dokumentiert worden (Vorwort zum Reprint "Kleinere Hausschatz-Erzählungen". Regensburg 1982, S. 13f.).

51 Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie (1908; Manuskript im KMV, S. 899); der KMV Bamberg hat diesen wichtigen Text (wenn auch ursprünglich als Privatissimum nur für den späteren Biographen bestimmt) Ende 1982 in einer dankenswerten Doppelausgabe (Reprint des Ms  u n d  Textausgabe) wieder zugänglich gemacht.

52 Silberlöwe IV S. 202

53 Wollschläger: Herr Karl May von der anderen Seite, a. a. O.

54 Silberlöwe IV S. 632

55 Brief von May an Fehsenfeld vom 24. 12. 1902

56 Brief von May an Fehsenfeld vom 10. 9. 1900 (s. Anm. 2)

57 Silberlöwe IV S. 477

58 Ebd. S. 208f.

59 Karl May: Lichte Höhen (Gesammelte Werke, Bd. 49). Bamberg o. J.

60 Silberlöwe IV S. 75

61 Ebd. S. 644

62 Ebd. S. 74

63 Karl May: Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten. Freiburg 1906, S. 44

64 Silberlöwe IV S. 214

65 Ebd. S. 316

66 Ebd. S. 217f.

67 Ebd. S. 523: Es ist eigentlich eine Schande, von Tag zu Tag sagen zu müssen, daf man erst gegen Mittag auf gewachts ei; aber ich muß dieses Geständnis schon wieder machen, wünsche aber, zum letzten Male.

68 Ebd. S. 505

69 Ebd. S. 346

70 Ebd. S. 347

71 Ebd. S. 346

72 Mark. 7, 33-35 (in der Übersetzung der Herder-Bibel von 1965)

73 Brief Mays an Fehsenfeld vom 10. 9. 1900

74 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910, S. 141

75 Otto Eicke: Der Bruch im Bau. In: KMJB 1930, S. 79

Diese Ausführungen sind Herrn Prof. Dr. Claus Roxin gewidmet. Meinem Freund Herbert Fischer, Lübeck, danke ich herzlich für seine Mitarbeit.


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