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EKKEHARD KOCH


»Famoses Land, dieses Sibirien, und allerliebste Verhältnisse!«1
Zum historischen Hintergrund von Mays Sibirien-Abenteuer in ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹



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Karl Mays sogenannte Kolportageromane wurden bisher unter vielen Gesichtspunkten untersucht, speziell literaturästhetisch, literaturpsychologisch und literatursoziologisch. Man verglich die in ihnen enthaltene Weltanschauung mit der in Mays Spätwerk, man fahndete nach Spiegelungen aus Mays eigenem Leben, man ging ihrer Entstehungsgeschichte und den zahlreichen Umarbeitungen nach, und man untersuchte mögliche Wirkungen auf die Leser. Einen Aspekt allerdings hat man bisher nur gestreift: den geographischen und historischen Hintergrund. Zu kunterbunt, zu phantasievoll, zu verworren - »daß May . . . am Ende vor den Verwirrungen der eigenen Phantasiewelt kapituliert ­ das kann als typisch für die Machart der Münchmeyer-Romane angesehen werden«2 - erscheinen diese Werke, als daß man es ohne weiteres für möglich halten würde, May habe bis auf ein paar allgemeine und oberflächliche Kenntnisse tiefergehendes geographisches und historisches Wissen in sie einfließen lassen. Wenn Schmiedt über ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹ zu Recht schreibt: » . . . und daß der Erzähler, nachdem der Leser den verworrenen Fall über zweieinhalbtausend Seiten verfolgt hat, jede Erklärung schuldig bleibt, wie denn nun die das traurige Ereignis auslösende Intrige im einzelnen ausgesehen hat; daß er darüber hinaus zahllose Rätsel aufgibt, von denen kaum eines je gelöst wird«3 ­ da sollte man noch einen Gedanken an die Möglichkeit verschwenden, May könnte überhaupt je Zeit gehabt haben, sich näher mit Geographie und Geschichte der Schauplätze seiner Kolportageromane zu befassen?

   Wenn wir bei unserem genannten Romanbeispiel ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹ bleiben, so gehen die darüber vorliegenden Arbeiten auf den geographischen und historischen Hintergrund tatsächlich auch nur am Rande ein.4 In seinen Anmerkungen zum Sonderheft


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der Karl-May-Gesellschaft Nr. 6 über ›Karl Mays Deutsche Herzen und Helden‹5 teilt Amand von Ozoróczy mit, daß er sich bei einer Vergleichslesung der Münchmeyerschen und Radebeuler Ausgabe auf wirklich historisch-geographische Fehler beschränkt habe, aber Näheres über Ozoróczys Erkenntnisse ist daraus nicht zu entnehmen. Speziell Schmiedt, den wir schon zitiert haben, greift das Sibirien-Abenteuer aus ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹ auf und untersucht das Bild, das May von der sibirischen Bevölkerung, speziell den Kosaken, Soldaten und Eingeborenen liefert. Er führt den Leser zuerst zu dem Schluß: »Hier fehlt, zunächst jedenfalls, jeder Ansatz zu der Toleranz, die May in anderem Zusammenhang so angelegentlich vertritt; Helden und Leser dürfen sich auf Kosten der sibirischen Bevölkerung amüsieren; wir entdecken bei May deutliche Spuren des Nationalismus, wie er in der Unterhaltungsliteratur des 19. Jahrhunderts und auch später weit verbreitet war.«6 Und: »So ist auch das historische Bewußtsein diesen Aufklärern abhanden gekommen; das Fremde erscheint nur noch als schlechthin minderwertig und im Vergleich primitiv und wird bestenfalls als Ansammlung harmloser Albernheiten abgetan. Erzähler und Held sind sich in dieser Haltung einig.«7 Zwar relativiert Schmiedt im folgenden diesen Schluß und zeigt, daß es May »doch nicht nur um die schlichte Propaganda« gehe8: »Das gängige Urteil, Trivialliteratur verhalte sich affirmativ und im Sinne opiumhaltiger Beruhigungsmittel zu den Verhältnissen, in denen sie entstanden ist, läßt sich für Mays Kolportageroman offensichtlich nicht halten; aber auch nicht die Alternative, die ihm in erster Linie den Charakter von Ausbruchsliteratur, die gegen heimatliche Zwänge opponiert, zuerkennen will«9; doch die Frage, ob die Darstellung Sibiriens nur der Phantasie und der wie auch immer gearteten Tendenz Mays entsprungen sei oder ob May nicht doch auch Quellen benutzte, die ihm eine derartige Schilderung erleichterten, stellt er nicht; im Gegenteil, er legt den Schluß nahe, daß sie offenbar Maysches Phantasiegebilde sei. Noch deutlicher wird der Verzicht auf die Herstellung jedes weiteren historischen Bezugs, wenn er schreibt: »Kaum etwas in Mays Sibirien erscheint dem Leser inhumaner und den Protagonisten qualvoller als die an Georg von Adlerhorst, dem Kosak Nummer zehn, demonstrierte Regelung, nach der die verbannten Sträflinge ihren Namen einbüßen und nur noch mit Zahlen bezeichnet und gerufen werden. . . . Was in der Exotik beklagt wird, ist ein Charakteristikum noch der deutschen Zivilisation; was er darin erlebt hat, projiziert May in jene Verhältnisse, in denen die stolzen Besitzer deutscher Herzen erst zu Helden werden.«10 Aber hat May dabei wirklich nur projiziert? - Wir werden noch aus-


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führlicher auf Mays Darstellung der Verbannten zurückkommen, aber es sei jetzt schon verraten: er hat nicht ­ die als Schwerverbrecher eingestuften Verbannten wurden tatsächlich nur mit Zahlen bezeichnet.

   Die Frage, wie weit Mays Sibirien den historischen Tatsachen entspricht, wie weit er sich von Quellen hat beeinflussen lassen, ist bisher noch nie ernsthaft gestellt worden. Die vielen Ergebnisse detaillierter Quellenforschung bezüglich der Authentizität Mayscher Darstellungen, die u. a. von Bernhard Kosciuszko und dem Verfasser der vorliegenden Arbeit vorgestellt wurden, lassen diese Frage jedoch alles andere als abwegig erscheinen. May bediente sich völkerkundlicher, geographischer und historischer Werke und Reisebeschreibungen in vielfältiger Weise bei Abfassung seiner Erzählungen. Sollte er derartige Werke dann beim Niederschreiben seiner Kolportageromane so wenig genutzt haben? - Das erscheint in Anbetracht seiner uns bekannten Arbeitsweise nicht als wahrscheinlich. Und wenn er sogar für seine Erzählungen, die in Südamerika und Südafrika spielen11, Schauplätzen also, denen er sich nur ganz kurz während seiner Schriftstellerlaufbahn zuwandte, solche Quellen benutzt hat, sollte er dies dann nicht auch bei Sibirien getan haben, auch wenn er hier für Münchmeyer Seiten um Seiten mit ›Kolportage‹ füllte?

   Die folgende Darstellung wird erweisen, daß May auch bei seinem Sibirien-Abenteuer in ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹ sorgfältiger vorgegangen ist, als es bei oberflächlicher Lektüre den Anschein hat, und auch, als bisher in der May-Forschung angenommen wurde.



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Hinter diesen Beiden kam oder vielmehr leuchtete und glänzte, blitzte und flimmerte es herein, so rein, so zart, so schön und herrlich wie die Morgenröthe, wenn sie mit Gold und Purpur das jungfräuliche Weiß eines Gletschers bestrahlt. Ein Mädchen war es, hoch und stolz gewachsen . . . 12 Das ist Karparla, Tochter des Tungusenfürsten Bula, eine der Hauptgestalten in Mays Sibirien-Abenteuer. Der Leser merkt sehr schnell, daß dieses Mädchen nicht nur von außergewöhnlicher Schönheit ist, sondern auch über außergewöhnliche Eigenschaften verfügt. Sie ist eine verwegene Reiterin13 und in ihrem Auftreten mutig und besonnen. Man wird nicht lange auf die Folter gespannt: Karparla ist der ›Engel der Verbannten‹14: »Alle Stämme der Tungusen helfen mir. . . . Wir nehmen die entflohenen Verbannten bei uns auf, verbergen sie einzeln an verschiedenen Orten und holen sie dann zusammen, wenn wir


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nach der Grenze ziehen. Sie sind dann als Tungusen verkleidet und können nicht erkannt werden.«15 So weich und herzlich, ja mitunter verlegen16 Karparla sich gibt - als sie dies erzählt, scheint sie eine ganz Andere geworden zu sein. Um den weichen, vollen Mund ging ein kurzes, energisches Zucken, und aus den Augen blitzte eine Entschlossenheit, der man schon etwas Ungewöhnliches zutrauen konnte.17

   In der Tat: ungewöhnlich mutet Karparla dem Leser schon an, mehr noch: regelrecht sonderbar, und an dieser Stelle hat man einmal mehr das Gefühl, daß mit May hier erneut die Phantasie durchgegangen sei: passend ist Karparla sicher für einen Trivialroman, gut erfunden erscheint sie auch, ja, man mag der Ansicht sein, daß Karparla auf den Geschmack des Lesepublikums solcher Art Kolportage ganz gut zugeschnitten sei. Auf den Gedanken, daß sie ein historisches Vorbild haben könnte, wird man kaum kommen. Und doch: Es hat eine ›Karparla‹ in der sibirischen Geschichte gegeben.

   Die Eroberung Sibiriens durch die Russen im 17. Jahrhundert verlief sehr grausam und läßt sich mit der Unterwerfung Südamerikas durch die Konquistadoren oder Nordamerikas durch die Kolonisten durchaus vergleichen.18 Die niedergezwungenen Völker wurden vielfach brutal unterdrückt und zur Zahlung des Jassak, des Pelztributes, gezwungen. Wie bei den Indianern kam es auch bei den sibirischen Stämmen zu heftigen Aufständen, die dann zumeist blutig niedergeschlagen wurden. Die hervorragenden Führer der Aufständischen sind hierzulande, im Gegensatz zu einigen außergewöhnlichen indianischen Häuptlingen wie Crazy Horse, Sitting Bull, Tecumseh oder Geronimo, unbekannt geblieben. Zwar nicht bei den Tungusen, die in Mays Abenteuer eine bedeutende Rolle spielen, wohl aber bei ihren Nachbarn, den am Baikalsee lebenden mongolischen Burjäten, hat es eine Frauengestalt gegeben, die ein Vorbild für Mays Karparla hätte bilden können. Dabei handelte es sich um Martha Nagalowa19, die 1696 die Seele eines Aufstandes einer Reihe burjätischer Verbände (»alle Stämme der Tungusen helfen mir«) wurde. Ursache für die Erhebung waren die Erpressungen des griechischen Händlers Kaftarov, der die Festung Bratsk verwaltete. Um Martha versammelten sich die Stämme, und vereint sollen sie damals Irkutsk belagert haben. In diesem Fall ging der Aufstand unblutig zu Ende: Eine staatliche Kommission untersuchte die Gründe für die Erhebung und ließ den Burjäten und ihren russischen Verbündeten Gerechtigkeit widerfahren: Kaftarov wurde verhaftet.

   Karparla - eine erfolgreiche Beschützerin der unterdrückten Verbannten ­ Martha ­ eine erfolgreiche Verteidigerin der unterdrück-


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ten Burjäten und deren russischer Freunde: doch es gibt noch mehr Ähnlichkeiten. Karparla ist eine tungusische Fürstentochter, Martha ist mit burjätischen Edlen verwandt; Karparla verfügt über weitreichende Beziehungen, und dasselbe war auch von Martha bekannt. Letztere war mit einem russischen Dolmetscher verheiratet, und Karparla erzählt über sich: »Jetzt nun vor einiger Zeit kam der Schamane auf den Gedanken, daß das Alles (die Hilfe für die Verbannten) für uns leichter sein würde, wenn ich die Frau eines russischen Offiziers wäre, und so mußte mein Vater ihm versprechen, daß ich das Weib des Rittmeisters werden solle, um Alles, was gegen die Verbannten unternommen wird, sofort zu erfahren.«20 Schließlich: Martha ist Christin geworden und beinahe europäisch anzusehen bezüglich ihrer Lebensweise und ihrer Beziehungen zur russischen Welt, und bei Karparla stellt sich schließlich heraus, daß sie europäischer, sprich deutscher Abkunft ist.

   Die Ähnlichkeiten zwischen Karparla und Martha liegen auf der Hand, auch wenn die erstere den ihr zugedachten Rittmeister ablehnt und letztere sich weniger um Verbannte als um ihr eigenes Volk kümmert, die eine Tungusin, die andere Burjätin ist. Kann May von Martha gewußt haben, hat er sich von ihrer Lebensgeschichte inspirieren lassen? M. E. ist es nicht ausgeschlossen, daß May Kenntnisse über Martha Nagalowa gehabt hat, wenn er sich etwas näher mit sibirischer Geschichte befaßt hat. Wenn sie aber seine ureigenste Erfindung war, dann hat er ein sicheres Gespür dabei bewiesen. Nur wenige Jahre später schrieb er seine Südamerika-Erzählungen: Die Königin der Toba, Unica, im ›Sendador‹ trägt unzweifelhaft Züge von Karparla, und andererseits hat auch Unica erstaunlicherweise ein historisches Vorbild.21

   Nun mag man vielleicht gerade noch einräumen, daß May Kunde von Marthas Belagerung von Irkutsk gehabt haben könnte; daß die Eingeborenen um die eigene Freiheit kämpften, wird man ohnehin sofort zugestehen; aber daß sie Verbannten zur Flucht und Freiheit verhalfen, wie May es spannend schildert ­ darin wird man ihm aber wohl kaum mehr folgen wollen oder können . . . 



3


»Der ganze Plan (zur Rettung befreiter Verbannter) entspricht meinem Character und meinen Eigenheiten. Welche Wonne, allen diesen Häschern so ein außerordentliches Schnippchen zu schlagen! Und welches Aufsehen, wenn das Vorhaben gelingt! Daß eine Schaar flüchtiger Verbannter offen mitten durch das Gebiet des Zaaren reitet, dieser Fall ist


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noch gar nicht da gewesen. In aller Herren Länder wird man davon erzählen und in allen Zeitungen davon berichten«.22 Und als der Plan geglückt ist, heißt es: Es war ihnen ein Streich gelungen, welcher in der Geschichte der Verbannung nach Sibirien geradezu beispiellos dastand.23 Schon vorher war es zu einem Kampf zwischen Flüchtlingen und Kosaken gekommen, der durch das Eingreifen der ›Deutschen Helden‹ zum Sieg über die russische Kavallerie führte: Die ganze Kavallerieabtheilung gerieth in Unordnung, kam erst ins Stocken und wendete sich dann um, um dem gefährlichen Feinde zu entgehen.24 Bemerkenswerterweise finden dieser Kampf und der nachfolgende beispiellose Streich in der Nähe des Baikalsees statt. Hier hat es tatsächlich einen Aufstand Verbannter gegeben, der großes Aufsehen erregte und weit über die Grenzen Rußlands hinaus bekannt geworden ist. Es handelte sich um die sogenannte Krugobaikalsker Erhebung im Sommer 1866, die vor allem von Teilnehmern des polnischen Aufstandes 1863 ­ diese waren nach dessen Niederschlagung ­ etwa 22000 an der Zahl ­ nach Sibirien deportiert worden ­ getragen wurde. »Die Vorbereitung des Aufstandes war sehr breit angelegt. In verschiedenen sibirischen Städten, u. a. in Tobolsk, Omsk, Tomsk, Irkutsk, existierten illegale russisch-polnische Gruppen, die mit Hilfe der örtlichen Bevölkerung vielfache Aktivitäten entwickelten. Sie organisierten Fluchtversuche, besorgten den Flüchtlingen Papiere, unterhielten Kontakte mit den Truppen der Armee, besorgten Waffen . . . Der Aufstand begann am 25. Juni am Baikalsee . . . , wo 50 politische Sträflinge bei Straßenarbeiten an der Krugobaikalsker Straße eingesetzt waren. Es gelang ihnen, die Wachen zu entwaffnen und zur nächsten Poststation vorzustoßen. Die Nachricht über den Aufstand erreichte jedoch sehr schnell die Regierungstruppen. 3 Kosakenabteilungen und 3 Infanterieregimenter wurden zur Niederschlagung der sich inzwischen ausbreitenden Unruhen eingesetzt. Der erste Zusammenstoß mit den Kosaken ereignete sich schon am 28. Juni . . . «25 Man meint, bei dieser Schilderung habe Karl May Pate gestanden. Allerdings nahm der Aufstand einen anderen Verlauf als bei ihm: er wurde schon im Juli niedergeschlagen, seine Anführer wurden am 15. November erschossen. Ist es ein Zufall, oder hat May von diesem berühmtesten aller Aufstände Deportierter in Sibirien gewußt, als er ›seinen‹ Aufstand am Baikalsee spielen läßt und mit glücklichem Ausgang versieht? Offenbar hat er über das Schicksal der Verbannten tiefere Kenntnisse gehabt, die er auch in seinen Roman hat einfließen lassen.

   Einer der berüchtigsten Verbannungsorte in Sibirien war Nertschinsk, wo die Deportierten in den Bergwerken arbeiten mußten.


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Mehrfach erwähnt May diese Stadt; die Flüchtlinge, die am Ende seines Sibirien-Abenteuers glücklich entkommen, sind sämtlich aus den fiskalischen Bergwerken in Nertschinsk, wo fast lauter Verbannte unter der Erde arbeiten,26 entwichen, den gräßlichen Bergwerken von Nertschinsk27, wie es an anderer Stelle heißt. Die Verbannten waren in vier Kategorien je nach ihrer Straftat eingeteilt. Die schwersten Verbrecher (Katorschiniki) galten als moralisch tot, sie wurden mit Nummern belegt und in den Bergwerken auf unbestimmte Zeit als Zwangsarbeiter eingesetzt.28 Hier hat also May die Situation richtig wiedergegeben, wenn auch diese Sträflinge wohl nur in den seltensten Fällen als Zobeljäger oder Kosaken Verwendung fanden. Die wegen geringerer Verbrechen Verbannten (Posselenzy oder Strafkolonisten) wurden eine Zeitlang zu öffentlichen Arbeiten (Wegebauten, Salzsieden, Kalkbrennen) herangezogen und dann dort angesiedelt. Alle übrigen Verbannten (Ssylnyje oder ›einfach Verbannte‹) oder Freiwillige, d. h. Familienmitglieder, die den Verurteilten aus freien Stücken folgten, wurden sofort angesiedelt und kamen von Anfang an in den Genuß der meisten Vorteile der übrigen Kolonisten, allerdings standen sie wie die Strafkolonisten unter ständiger polizeilicher Aufsicht und durften ihre Kolonie nicht verlassen. In den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kamen jährlich etwa 12-14000 Verbannte nach Sibirien, darunter bekanntlich viele politisch mißliebige Personen wie die berühmten Dekabristen (benannt nach dem Aufstand gegen die Zarenherrschaft am 14. Dezember 1825). Die erste Gruppe der nach Sibirien verbannten Dekabristen ­ acht Mann ­ wurde in Fußfesseln in Marsch gesetzt und war 37 Tage bis nach Irkutsk unterwegs. Sie mußten in den Nertschinsker Bergwerken arbeiten, ohne daß ihnen die Ketten abgenommen wurden; ihr Arbeitstag dauerte von 5 Uhr früh bis 11 Uhr abends, und die kurze Nachtzeit waren sie in kleine Gefängniszellen gesperrt, wo sie von Hunger, Erschöpfung, Gestank und Ungeziefer heimgesucht wurden.

   Das Schicksal der Verbannten ist im vorigen Jahrhundert in Deutschland durchaus nicht als so schrecklich angesehen worden wie es tatsächlich war. Pierers Universal-Conversations-Lexikon spricht 1879 nur von »Verwiesenen« und stellt ihr Schicksal, mit Ausnahme der Katorschiniki, relativ harmlos dar. In weiten Kreisen der deutschen Öffentlichkeit sah man in den Verbannten, den Verschickten oder Verwiesenen, reine Verbrecher und in Sibirien eine Art Strafkolonie. Der große Gelehrte und Weltreisende Alexander von Humboldt z. B., der auch Sibirien bereiste, wies zwar den russischen Minister Cancrin brieflich auf die Zustände hin, aber öffentlich enthielt er sich jeder Kritik an


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der Deportation.29 Unter diesen Voraussetzungen bezog Karl May nicht nur einen unkonventionellen Standpunkt, sondern bewies - ähnlich wie mit seinem Eintreten für fremde Völker ­ gehörigen Mut, indem er die Dinge beim Namen nannte30: . . . es ist also für einen flüchtigen Verbannten, selbst wenn es ihm gelungen sein sollte, aus seiner schweren Gefangenschaft im Innern des Landes zu entkommen, keineswegs leicht, den letzten, erlösenden Schritt zu thun und über die doppelt besetzte und scharf bewachte Grenze zu gelangen. Und selbst wenn ihm dies mit Aufbietung allen Fleißes, aller List und allen Muthes glückt, so steht er allein und ohne alle Hilfsmittel da, hinter sich ein Land, in welchem ihn eine fürchterliche Strafe erwartet, falls er zurückkehrt, und vor sich eine unendliche Wüste . . . Daher können Männer, welche aus Sibirien wirklich und glücklich entkommen, leicht an den Fingern hergezählt werden. Aber in Sibirien selbst giebt es viele, viele, welche entflohen sind, ohne daß es ihnen gelingen will, aus dem Lande zu entkommen. Ihr einziger Schatz ist die Weite, die Oede des Landes, wo sie tausend Verstecke finden können. Sie führen ein armseliges, elendes Leben und gehen meist, in die tiefen Sümpfe gehetzt, vom Hunger und Durst gepeinigt, von den fürchterlichen Mückenschwärmen bis auf den Tod geschröpft und zerstochen, auf ganz unbeschreibliche Weise zu Grunde. Und doch sind auch sie nicht ohne allen Schutz. Wenn schon der Russe gutmüthig ist, so besitzen die sibirischen Völkerschaften diese lobenswerthe Tugend in noch weit höhrem Grade. Es fällt diesen Leuten nicht ein, den Verbannten zu verurtheilen. Sie wissen recht gut, daß bei der Weise, in welcher das unendliche Reich regiert und verwaltet wird, gar Mancher völlig unschuldig oder wohl nur wegen einer sehr zu entschuldigenden Ursache nach Sibirien verbannt wird. Der freie Bewohner schenkt sein Mitleid gern diesen Menschen . . . Er darf sie zwar nicht direct beschützen, darf ihnen keine augenfällige Hilfe gewähren, desto mehr nun thut er dies indirect und heimlich, indem er z. B. in ein von innen und außen zu öffnendes Fensterchen, hinter dem nachts ein Lichtchen angezündet wird, Speise und Trank und anderes setzt, das sich der Flüchtende heimlich holen kann.

   Daß den Verbannten von der örtlichen Bevölkerung geholfen wurde, hat nicht nur der Aufstand am Baikalsee 1866 bewiesen. Und die Gastfreundschaft der Sibirier ist legendär geworden: »Beim Verlassen des Winterquartiers in der Taiga ließ der Jäger unbedingt trockene Holzscheite zum Anheizen des Ofens, Zündhölzer, Salz und Essen zurück: wer weiß, wie es dem Wanderer ergeht, der sich hierher verirrt. Dieses Gesetz wurde jahrehundertelang strikt eingehalten. . . . Den Vagabunden, die dem Altsibirier so sehr zusetzten, vergaß er aber


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nicht, bevor er die Tür für die Nacht verschloß, einen Krug Milch und einen Laib Brot in einer eigens dafür im Zaun offen gelassenen Nische bereitzustellen: Iß, Wanderer, und zieh weiter. So verfuhr er vor allem aus Mitleid, dann erst, um die böse Hand von seinem Hof abzuwenden«.31 Ob nun Fenster oder Nische: May hat auch hier Nachprüfbares wiedergegeben.

   Wenn May darauf hinweist, daß die sibirischen Völker noch gutmütiger waren als das russische, so hat er recht, wenn er die Gastfreundschaft und das Mitleid mit Reisenden oder Flüchtlingen meint. »Noch in den 1890er Jahren betrachtete auch der ärmste Jakute eine Bezahlung der Speisung oder Unterbringung eines Reisenden als Beleidigung. Auch bestand unter den Jakuten noch im späten neunzehnten Jahrhundert kaum ein Privatbesitz an Wohnräumen: Wanderer konnten in jede Behausung zu jeder Tages- oder Nachtzeit eintreten und kostenlos Nahrung bzw. Unterbringung erhalten.«32 Ähnliches ist auch für die Burjäten bezeugt, deren Volkseinrichtungen bei den Russen Aufsehen erregten »wegen ihrer Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe, in denen die ganze Geschlechtergemeinde die Armen und Hilflosen unterstützte, wobei die Reichen die Armen kostenlos mit Vieh ausstatteten.«33 Von den Tungusen heißt es: » . . . Nahrung, Kleidung und Werkzeuge konnten von Nachbarn aus jedem tungusischen Vorratsraum genommen werden, selbst noch im neunzehnten Jahrhundert.«34 Wir können noch weitergehen: May hatte auch recht, wenn er schrieb, daß die sibirischen Völker die Verbannten unterstützten. Von den Jakuten ist sogar bekannt, daß die politisch nach Sibirien verschickten Russen, auch wenn sie von den Jakuten verpflegt werden mußten, bei diesen regelrecht beliebt waren. Dekabristen wurden zu Lehrmeistern der Jakuten und ihrer Kinder, und diese haben ihrer stets dankbar gedacht. Als Verbannter lebte der bedeutende Historiker Schtschapow unter den Burjäten; dadurch, daß er ihre Institutionen idealisierte, trug er zur Bildung ihrer nationaldemokratischen Bewegung entscheidend bei. Nicht nur in der russischen Bevölkerung in Sibirien, sondern auch unter den Eingeborenen entstanden »Dekabristenschulen« - und das in den tiefsten sibirischen Weiten und z. B. in einer jakutischen Jurte, wie es von dem Dekabristen Murawjow-Apostol überliefert ist. So gewinnt auch schließlich Mays Darstellung der Höhle am Baikalsee, in der die Flüchtlinge verborgen werden, so ohne weiteres nicht vermutete historische Wirklichkeit35: Er befand sich in einer - Bibliothek! Ja, wirklich in einer Bibliothek! . . . »Aber Mila!« rief Georg. »Ist denn so Etwas möglich! Oder träume ich?« . . . »Ja, Du siehst, daß wir uns Mühe geben, es unsern heimlichen Gästen so angenehm wie


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möglich zu machen. . . . Wenn die Tungusen sich in der Nähe befinden, ist Karparla die Königin dieser Höhle. Oh, die ist klug! Die hat viel gelernt von den gelehrten Herren, welche bereits hier gewesen sind!«

   Karparla, die Tungusin, hat von den gelehrten Herren, also den Gebildeten unter den Verbannten, den Dekabristen vor allem, gelernt. Wohl betraf das Lernen von den Russen besonders die Jakuten und Burjäten ­ der erste russisch gebildete Burjäte, Dordschi Banzarov (1822-55), der Französisch, Deutsch, Englisch und Latein las, promovierte mit einer noch heute bedeutenden Dissertation über den Schamanismus - und weniger die Tungusen, aber May hat auch hier keine Münchhausiade erzählt. Die Frage erhebt sich jedoch, warum May in seinem Roman nicht jakutische oder burjätische ›Helden‹ auftreten läßt, auf die seine Darstellung besser gepaßt hätte, sondern tungusische.



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Das ist gewiß ein richtiges Völkerragout, bei dem es selbst dem Kenner aller dieser Elemente angst und bange werden kann. Aber es ist nicht so schlimm36, und was diese Völker betrifft, so ist der Trapper . . . ja aus einem ganz andern Zeuge gemacht als der russische Verbannte oder gar der Ostjacke, Tunguse und Buräte37: im Ganzen genommen aber zeichnen sich diese sibirischen Völkerschaften mehr durch ihren friedlichen Sinn als durch gefährliche Eigenschaften aus. . . . Da gab es Russen, Kossaken, Kirgisen, Chinesen, sogar einige Japaner, ferner Wogulen, Samojeden, Sojoten, Kalmücken, Tataren, Karakirchisen, Kirgis-Kaisaken, Bucharen, Jakuten, Tschuktschen, Korjäken, Kamtschadalen, Aïnos, Giljaken, Jukahiren und Jenissei-Ostjaken.38 Allerdings ist May hier nur der Freude an den eigenen Kenntnissen erlegen; dort, wo seine Abenteuer spielen, gab es diese Völker39 bis auf Buräten, Jakuten und Tungusen im allgemeinen nicht. Im Mittelpunkt seiner Erzählung steht allerdings nur ein Volk: die Tungusen, und wie wir eben sahen, hat May verschiedene Eigenschaften der Burjäten und Jakuten auf die Tungusen überschrieben. Diese Verfahrensweise ist nicht neu: Was für die Guarani-Indianer in Paraguay zutraf, hat May in seinem ›Sendador‹ auf die Toba überschrieben.40 Wollte er mit einem derartigen Vorgehen seine Eigenständigkeit unter Beweis stellen bzw. von den von ihm benutzten Quellen ablenken? Oder brachten ihn gerade die Quellen, aus denen er schöpfte, dazu, noch mehr in die Tungusen hinein zu projizieren, als sie ohnehin schon an für May passenden Eigenschaften


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besaßen? Eines ist sicher: hat sich May auch mitunter in der Wahl der Völker, die er zu Staffage seiner Romane benutzte, vergriffen ­ bei den Tungusen lag er richtig: sie waren die ›Indianer Sibiriens‹.


   Sehen wir uns Mays Schilderung näher an.

   Vorgestellt werden als erste die Tungusen Fürst Bula und seine Frau sowie ihre Tochter Karparla. Der Fürst nebst Gattin werden nicht gerade als Respektspersonen gezeichnet: Diese Peitsche aber schien bei ihm nicht sehr gefährlich zu sein, denn sein kleines Näschen zuckte außerordentlich naiv in die Welt und um seinen breiten Mund lag ein Lächeln, welches gar nicht gutmüthiger hätte sein können. Und das Gesicht seiner Frau war womöglich noch gutmüthiger als dasjenige ihres Mannes.41 Allerdings stellt sich später heraus, daß auch Bula es faustdick hinter den Ohren hat und die Verbannten massiv unterstützt. Und auch wenn sich Karparla zuletzt als von europäischer Herkunft entpuppt und daher ihre Eigenschaften nicht unbedingt dem tungusischen Volkscharakter zugeschrieben werden können, ist May über die Tungusen des Lobes voll: Die Tungusinnen sind ausgezeichnete Schwimmerinnen.42 Er (ein Tunguse) ist der Treueste unter unsern Männern.43 Gisa. Er gehört zu den Tapfersten und Klügsten unseres Stammes.44 Die Tungusen hatten also schnelle Arbeit gemacht und waren dem heimkehrenden Kreishauptmann nicht begegnet.45 Und es kommt noch deutlicher: Im Gespräch zwischen Sam Barth und Steinbach sagt letzterer über Karparla: »Mich freut es außerordentlich, daß sie der Engel der Verbannten ist, denn nun darf ich darauf rechnen, daß ihr Vater mir seine Unterstützung nicht versagen wird.« . . . - »Sie meinen also, daß wir die Tungusen brauchen werden?« - »Ganz gewiß. . . . ich hatte doch eine Ahnung, daß ich des Beistandes einer hiesigen Völkerschaft bedürfe . . . «46 Und beinahe an Wellingtons angeblichen Ausruf47 bezüglich der Ankunft der Preußen in der Schlacht von Waterloo erinnert die Aussage des Vaters von Mila, Karparlas Freundin: »Ich wollte, die Tungusen wären schon da. Da hätten wir reichlichen Schutz.«48

   Ein bedeutender Sibirienforscher, Georgi49, schrieb über die Tungusen: »Gesicht und Gehör sind fast unglaublich scharf, Gefühl und Geruch aber auch desto mehr abgehärtet und stumpf . . . Sie sind geschickte Reiter, Jäger und Bogenschützen (man denke an die Reiterkunststücke, die May über Karparla erzählt50; an anderer Stelle spricht er von den reitgewandten Tungusen51). Im Gebiet ihrer Züge kennen sie fast jeden Baum, Stein usw. Sie erkennen die Spuren des Wildes an niedergedrücktem Moos, Gras oder Zeichen auf bloßer Erde, wo kein anderer das geringste unterscheidet.« Ein anderer Gelehrter berichtet: »Als einst ein Reisender in Sibirien die Verfinsterung des Jupiters mit


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Hilfe eines Teleskops beobachtete, konnte der Eingeborene den gleichen Vorgang mit unbewaffnetem Auge erkennen . . . «, und ein Kosak, der lange Zeit bei den Tungusen lebte und von ihren Jägereigenschaften fasziniert war, erzählte: »Es gibt Tungusen von so scharfem Gesicht, daß sie weithin von Berg zu Berg, von Stein zu Stein auf über sieben Kilometer hinaus schauen, eine Herde wilder Rentiere zählen und ohne zu fehlen ihr Wild erlegen.«52 »Die Tungusen oder Ewenken (ihr eigener Name! d. Verf.), wie sie seit 1917 genannt werden, wurden wegen ihrer Ehrlichkeit, Intelligenz und anderer guter Eigenschaften von Ethnologen und Reisenden . . . gerühmt. ›Die Tungusen stehlen nicht‹, war die einhellige Meinung. Sie waren bekannt für ihre gute Laune, ihre Schlagfertigkeit und den reichen Schatz an Volksüberlieferung und Sagen. Auch die Zuneigung, die Männer und Frauen ihren Kindern entgegenbrachten, sowie die großzügige Haltung der Männer ihren Frauen gegenüber, wurden gerühmt. Außerdem genossen die Tungusen den Ruf, sich bei bewaffneten Auseinandersetzungen großmütig zu verhalten. Wenn sie siegreich blieben, ließen sie das Eigentum ihrer Gegner unangetastet und fügten ihnen auch sonst keinen Schaden zu. Alte Männer, Frauen und Kinder der Besiegten wurden freigelassen.«53 Die Tungusen galten »als tapfer und doch gutmütig, redlich und ehrliebend, geistig begabt und regsam.«54 Die Tungusen waren auch außerordentlich flexibel. Es gab unter ihnen reine Jäger ebenso wie Steppen- oder Polarnomaden und seßhafte Ackerbauer und Viehzüchter, und »Renntiertungusen, die durch Seuchen ihre Herden verloren, haben sich der Hundezucht zugewendet, Ackerbauer, die nach nördlicheren Gegenden vordrangen, haben sich zu reinen Jägern und Fischern zurückgebildet.«55

   Daß May ausgerechnet den Tungusen in seinem Roman die Hauptrolle zuschrieb, ist somit einsichtig, und offenbar ist auch, daß May nähere Kenntnisse über sie gehabt hat. Weiter unten wird auf seine Quellen noch näher einzugehen sein.

   Ein paar Worte über die Tungusen sollten noch notiert werden. May schreibt: Die Tungusen haben von allen Turk-Völkern die Sprache am reinsten erhalten.56 Hier irrt er, genauso wie ihm einmal der Fehler unterläuft, Karparla als echte Jakutin57 zu bezeichnen, es sei denn, er hat dies sinnbildlich gemeint: die Jakuten trieben nämlich intensive Pferdezucht: »Das nordöstliche Asien wurde auf (bis 1765 unentgeltlich gestellten) jakutischen Pferden entdeckt und erobert.«58 Und in ihren Reitkünsten waren sie den Tungusen ebenbürtig oder sogar überlegen (In ihrer rosigen Stimmung war Karparla zu einem Scherze (in Form eines Reiterkunststückes) geneigt, wie er eben nur einer Jakutin oder Tun-


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gusin in den Sinn kommen kann.)59 Aber die Sprache der Tungusen gehört zur Mandschu-Familie und unterscheidet sich somit von den Turksprachen, eher ist sie mit der mongolischen verwandt.

   Die Tungusen waren von den Flüssen Ili bzw. Ob im Westen bis zum Pazifik und zur Insel Sachalin im Osten, vom Baikalsee und der Mandschurei im Süden bis zum Nördlichen Eismeer verbreitet ­ kein anderes Volk außer dem russischen nahm in Sibirien so einen großen Lebensraum ein. 1926 zählten sie knapp 80000. Zwei bedeutende, sogar ungeheuer bedeutende kulturelle Leistungen hat Sibirien den Tungusen zu verdanken: Sie ›erfanden‹ die Rentierzucht in Ost-Sibirien (wie die Nenzen unabhängig davon in West-Sibirien39), wahrscheinlich aus dem Kontakt mit Pferde züchtenden Völkern der südsibirischen Steppenbereiche heraus schon im 1. Jahrhundert v. Chr., und verbreiteten sie zusammen mit der Eisentechnik, wahrscheinlich schon im 1. Jahrhundert n. Chr. oder früher nach Ost-Sibirien. Erst durch Vermittlung dieser Kenntnisse wurde der Mensch der Beherrscher der Taiga und Tundra. Alteingesessene Völker wie die Tschuktschen und Korjaken übernahmen die Rentierzucht von den Tungusen, vermutlich erst vor wenigen hundert Jahren. Das Rentier bildete ­ wie der Bison bei den Prärie-Indianern ­ die wichtigste Lebensgrundlage der Völker in OstSibirien. Es ist daher merkwürdig, daß May ausgerechnet über Rentiere in Sibirien nichts Näheres berichtet.

   Die zweite wichtige Leistung war die Ausbildung des Schamanentums, das bei keinem anderen sibirischen Volk derart stark ausgeprägt war wie bei den Tungusen. Die Schamanen sind die Priester der Tungusen und haben mehr Einfluß auf die Gewissen der Laien und selbst der Fürsten als unsere christlichen Priester auf die Glieder ihrer Gemeinden60, schreibt May in aller Kürze und hat damit im Prinzip recht. Mehrere andere Völker übernahmen von den Tungusen Elemente der Schamanentracht und -ausrüstung, allerdings schrieben sie den Schamanen nicht immer die hohe gesellschaftliche Stellung zu wie die Tungusen. Hier war der Schamane nicht nur Beschwörer der Naturgewalten, Krankenheiler, Hellseher und Weissager, sondern durch seinen ›Kontakt zu den Geistern‹ wichtigster Ratgeber der Sippe, in dessen Aktivitäten man große Hoffnungen setzte und der auch den Lebensablauf stark mitbestimmte. Um mit der Welt der Geister in Verbindung zu treten, versetzte sich der Schamane in Ekstase. Bei Festlichkeiten aller Art berauschten sich im übrigen auch die Stammesangehörigen, und wenn May schreibt: Die Völkerschaften Sibiriens genießen nämlich den Fliegenschwamm in verschiedenen Gestalten als Reiz- und Betäubungsmittel61, so hat er damit ins Schwarze getroffen. Der Bärenkult


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spielte wie bei anderen Völkern auch bei den Tungusen eine wichtige Rolle. Der Bär hatte mythische Bedeutung: er opferte sich auf, um den Tungusen die Rentiere zu erhalten, und wenn sie ihn jagten (Ein Tunguse hat sie (die Höhle, die das Versteck für die Verbannten bildete) entdeckt, als er einen Bären verfolgte62), führten sie nach seiner Tötung Beschwichtigungsriten aus. Im allgemeinen lebten die Tungusen nicht in Jurten, wie May schreibt63, sondern in ›Tschums‹, d. h. konischen Stangenzelten, die mit Birkenrinde oder Rentierfellen bedeckt waren; unter dem Einfluß von Jakuten und Burjäten mögen sie aber auch Jurten bewohnt haben.

   Wie bei den Indianern galt Land bei den Tungusen nicht als Eigentum. Zwar kannten sie Privatbesitz an Vieh, Pferden und Rentieren, aber zu Notzeiten wurden die Rentiere unter Arme verteilt und waren nicht verkäuflich. Ebenso wurde wie bei vielen Indianerstämmen der Jagdertrag verteilt. Die Frauen erfreuten sich großer Freiheiten. Sippen schlossen sich zu Verteidigungszwecken zusammen und unterstellten sich einem Anführer, ansonsten hatten die Tungusen kaum politische Organisation und auch selten gewählte oder erbliche ›Häuptlinge‹. Erst nach dem Erscheinen der russischen Eroberer schlossen sie sich enger zusammen.

   Bezüglich der Geschichte der Tungusen muß auf die Literatur64 verwiesen werden. Sie kann hier nur grob umrissen werden:

   Am Jenissei trafen die Russen 1607 zum ersten Mal auf die Tungusen. Dort und an der Angara leisteten diese 1615 und 1627 bis 1629 heftigen Widerstand. Andererseits führte der Tungusenhäuptling Mozheul 1640 die Russen gegen die Burjäten, da viele Tungusen diesen tributpflichtig waren und dies zu der Zeit noch bedrückender empfanden als die russische Vorherrschaft. Später vermittelte er zwischen Russen und Burjäten. Die Verhältnisse kehrten sich bald um, und die Tungusen zahlten lieber den Burjäten Tribut als den Russen und schlossen sich jenen auch im Kampf gegen die Russen an. So kam es zu schweren Aufständen: 1649 bis 1650 unter Zelemej Kowyrin ­ 1666 erhoben sich die Tungusen der Nordküste des Ochotskischen Meeres und des Indigirka-Flusses - zwölf Jahre später belagerten rund tausend Tungusen Ochotsk, und erst 1684 wurden sie aufgrund ihrer schlechten Bewaffnung und Organisation besiegt. Nur am Jenissei gelang es dem Tungusen Danul, den Widerstand besser zu koordinieren - er führte 300 Krieger in Pelzuniformen und teilweise sogar in Eisenrüstungen gegen die ›Moskowiter‹.

   Die südlichen Tungusen blieben aufgrund ihrer Verwandtschaft mit den Mandschus lieber unter der chinesischen Herrschaft als unter der


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russischen. Eine Ausnahme bildete Gangtemir, der 1667 in die Gegend von Nertschinsk zog und sich dort zum russischen Glauben bekehrte - und das trotz des Einflusses des bekannten Schamanen Muhteokan, der mit ihm zog und von dem es hieß, er könne selbst im Sommer Schnee erzeugen. Gangtemir wurde vom Zaren in den russischen Erbadel aufgenommen ­ seine Nachkommen waren in der Verwaltung in Tschita noch Anfang unseres Jahrhunderts von Bedeutung. Vielleicht hat May bei seiner Gestalt Bula ein wenig Gangtemir vor Augen gehabt?! Jedenfalls setzte nun eine Entwicklung bei den Tungusen ein, die zu ihrer Krise im 19. und 20. Jahrhundert führte. Unter der russischen Herrschaft entwickelten sich bei den Tungusen Verwaltungseinheiten, an deren Spitze gewählte ›Fürsten‹ standen, die u. a. ihre Sippen vor der russischen Verwaltung vertraten, dieser gegenüber aber auch zur Eintreibung des Jassak verpflichtet waren, und für die Armen zu sorgen hatten. Im Lauf der Zeit entstanden auch an der chinesischen Grenze eine tungusische Grenzwacht und tungusische Regimenter. In der Mitte des 19. Jahrhunderts »wurden solche tungusische Kosakenregimenter in eine regelrechte Kosakenarmee Transbaikaliens eingegliedert«65 ­ wie May richtig schreibt: Mehrere der halbwilden, asiatischen Stämme, welche in der Nähe des Baikalsees wohnen, sind militärisch organisirt, und müssen unter dem Namen der Baikalkosaken den Grenzdienst versehen.66

   Der Übertritt zum Christentum bei vielen Tungusen hatte die Zerstörung der Tabus zur Folge, die der Erhaltung der Tierwelt, speziell der Pelztiere, gedient hatten, was eine Ausplünderung der tungusischen Jagdgründe nach sich zog. (Diese Jäger sind entweder Eingeborene, welche jagen müssen, da sie dem russischen Herrscher ihren Tribut und ihre Abgaben nur in Pelzwerk bringen dürfen, oder sie sind Deportirte67.)

   Mehr als die Jakuten und Burjäten hatten die Tungusen unter der russischen Verwaltung zu leiden. Besonders in Transbaikalien verfielen ihre Kultur und ihr Volkstum, erfolgte eine völlige Russifizierung. Wie alle Völker Sibiriens wurden auch sie im Laufe der Geschichte von Seuchen aller Art und Alkohol nicht verschont. »Die Trunksucht verbreitete sich schlimmer als alle Epidemien, die seit dem 17. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen wie eine tödliche Flut Sibirien heimgesucht hatten. Sie sorgte für eine weitere Herabsetzung der Produktivität bei den russischen Siedlern und für die völlige Verarmung der Eingeborenen, deren letzte Widerstandskraft vom Alkohol zerstört wurde.«68 Die Russen haben, wie May mit Recht schreibt, die eingeborenen Völkerschaften Sibiriens natürlich vor allen Dingen mit dem Branntwein bekannt gemacht. Der Sibirier aber kann nicht viel vertragen. . . . 69


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   Nach der Revolution von 1917 wurden die Reste der ursprünglichen tungusischen Lebensweise und ihrer gesellschaftlichen Struktur zerstört. Aber Denkweisen und Kultur wurden nicht völlig vernichtet, und manche der Reformen waren auch zum Vorteil der Ewenken, wie sie nun hießen. Vor allem wurden die Krankheiten, unter denen sie zu leiden hatten, bekämpft, und es wurden Schulen für sie eingerichtet und eine Schrift für sie entwickelt. Heute gibt es noch rund 27000 Tungusen, und sie sind noch immer ein starkes und lebendiges Volk.

   Unsere Darstellung zeigt mehreres: Zum einen hat May, wie gesagt, die richtige Wahl getroffen, daß er die Tungusen zu seinem sibirischen Lieblingsstamm wählte; er muß auch Quellen über sie benutzt haben, denn seine Schilderung ist im großen und ganzen richtig. Und schließlich: Auch wenn einem verschmähten Liebhaber an den Kopf geworfen wird: »Geh, und laß Dich nicht auslachen! Da sieht doch ein jeder Korjake oder Tunguse hübscher (aus) als Du!«70 - als sich herausstellt, daß Karparla nicht die leibliche Tochter des Tungusenfürsten ist, als sie ihre leiblichen Eltern endlich gefunden hat, passiert das Erstaunliche: Da riß Karparla sich von den Eltern los und eilte zu ihm (zu Bula!). Ihn umschlingend, bat sie: »Weine nicht, Vater, weine nicht, Mutter! Ihr seid ja auch meine Eltern und sollt es stets bleiben.«71

   Noch deutlicher hätte sich Mays Toleranz und Achtung bezüglich anderer Völker, selbst den verachteten sibirischen gegenüber, nicht ausdrücken können. Diese Leistung Mays, mit der er die meisten seiner Zeitgenossen weit überragt, wird niemals geschmälert werden können. Soll man dann glauben, daß sich May über die Sibirier absichtlich köstlich amüsiert hat und er bei der Schilderung der sibirischen Kosaken, Soldaten, Verwalter und Siedler bewußt oder aus Unkenntnis so ganz daneben gegriffen hat?



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Zu Anfang des 19. Jahrhunderts konnte man in Sibirien, und zwar in Nishneudinsk, eine vom heutigen Standpunkt aus, mit Abstand betrachtet, eher ›köstliche‹ Szene beobachten. Für die Betroffenen war es allerdings weniger erheiternd. Der Stadthauptmann hatte vor die Kutsche, mit der er fuhr, Beamte gespannt - diese hatten es allesamt gewagt, sich über ihn zu beschweren. Als 1819 der bedeutende russische Staatsmann Graf Michail M. Speranskij Generalgouverneur von Sibirien wurde, kam er nach eingehendem Studium der Lage zu dem Schluß: »Hatte ich in Tobolsk alle Beamten zu verklagen, so bleibt hier


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in Tomsk nur, jeden von ihnen aufzuhängen!«72 681 Personen wurden von ihm verklagt (darunter waren übrigens auch 255 burjätische Fürsten). Unter anderem setzte er den Gouverneur von Irkutsk Treskin (1806 - 1819) ab, der sich hier wie ein Lehnsherr gebärdet hatte und sich dabei der Unterstützung des damaligen Generalgouverneurs von Sibirien, Iwan Pestel, sicher sein durfte. Dieser hatte von Petersburg aus ganz Sibirien regiert, was ihm auch die Möglichkeit gegeben hatte, Beschwerden gegen seine örtlichen Beamten abzufangen ­ am Schluß beachtete er auch keine Befehle der Regierung mehr.

   Wie wahr schrieb Karl May über den Kreishauptmann und seinen Sohn, die tüchtig Hiebe erhalten hatten: . . . Sie haben es reichlich verdient. Es giebt nicht einen einzigen Armen hier, welcher nicht die Knute erhalten hätte, und die Wohlhabenden haben nun auch nichts mehr zu geben, weil ihnen bereits Alles abgenommen worden ist. . . . Der Kreishauptmann hat seine Stellung nur dazu benutzt, sich Geld und immer wieder Geld zu verschaffen. Wer beim geringsten Vergehen nicht zahlen konnte, der erhielt die Knute . . . 73 Kreishauptleute dieser Art waren in Sibirien gang und gäbe. Treskin z. B. zwang die Burjäten am Baikalsee, ihre Herden zu verkaufen, um auf diese Weise Zwangsarbeiter für den Straßenbau rund um den See zu bekommen. Einer seiner Bundesgenossen war ein burjätischer ›Fürst‹, Dymbyl Galsanov (1815 - 1822); Treskin sah in ihm zum einen einen Reformer, da er die Burjäten zivilisieren und christianisieren und sogar in ›deutsche Kleidung‹ stecken wollte, und zum anderen ein willfähriges Werkzeug. Treskin arbeitete auch mit Schwarzhändlern zusammen und war in deren Spekulationen um Brot verstrickt; doch wurde ihm das zum Verhängnis: eine darauf zurückzuführende Hungersnot ließ die Irkutsker Intelligenz und einen Teil der Kaufmannschaft wach werden: es gelang, einen Boten nach Petersburg durchzuschmuggeln, und so wurden sie alle nacheinander fallengelassen: Treskin, Pestel und auch Galsanov. Noch schlimmer trieben es vor ihnen der Kommandeur von Balagansk, der Händler Pochabov (um 1660), der nicht nur die Burjäten, sondern auch russische Soldaten und Siedler foltern ließ und schließlich verhaftet wurde, oder der schon erwähnte griechische Kaufmann Kaftarov, der die Burjäten unter Martha Nagalowa zum Aufstand veranlaßte. Berühmter als sie waren indes der Woiwode (d. i. oberster Beamter einer Verwaltungseinheit) Peter Zinowjev (1688-1691), der vor Gericht gestellt wurde, und vor allem Fürst Iwan Gagarin (1691-1695), der Woiwode von Jakutsk ­ er belagerte sogar einen Untersuchungsinspektor der Regierung, um zu verhindern, daß er mit ihn belastenden jakutischen Zeugen nach Moskau zurückkehrte, und wurde schließlich wegen Unter-


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schlagung gehenkt! Wie Sarkisyanz schreibt74: »Russische ›Unternehmer‹ vernichteten mehr Pelztiere als die einst von der Jagd lebenden ›Fremdstämmigen‹. Schon bald erschöpften sie Sibiriens Pelzreichtum. Vergeblich verboten die Zaren ihnen, den Fremdstämmigen Alkohol, Tabak und Spielkarten zu verkaufen. Denn das moskowitische Element in Sibirien war einschließlich der Beamten, Schutzmannschaften und Priester von Anfang an händlerisch und erwerbsgierig eingestellt.« Nur ein Beispiel sei hierzu noch erwähnt: Als Speranskij in das eingangs genannte Nishneudinsk kam, um die Verhältnisse zu überprüfen, bot sich . . . eine Scene, wie sie nur unter solchen Leuten vorkommen konnte75: er stellte fest, daß der dortige Polizeivorsteher von allen Einwohnern Tinte und Papier hatte einziehen lassen. Der Grund für dieses in unseren Augen beinahe ›amüsante‹ Verhalten bestand darin, daß er damit die Einreichung von Beschwerden verhindern wollte und das ›mit Recht‹: immerhin hatte er an die 140000 Rubel und viele Wertgegenstände, darunter aus Gold und Silber, unrechtmäßig an sich gebracht.76 Und da sage einer, in Sibirien hätten nicht die von May geschilderten Verhältnisse geherrscht.

   Schmiedt hält in seinem Jahrbuch-Beitrag2 May dessen abfällige Bemerkungen über die sibirischen Einwohner vor, und tatsächlich ging May damit nicht gerade sparsam um: Man muß wissen, was für ein treuherziger, gutmüthiger, kindlicher, abergläubischer und auch ­ dummer, einfältiger Mensch der sibirische Kosak ist, um sich in seine Anschauungen hineindenken zu können77; oder: »So dumm wie diese Menschen kann man wirklich nur in Sibirien sein«78; oder: Die dummen Gesichter dieser beiden Kerls, das nicht viel intelligentere des Lieutenants, die ganze Situation, das war doch viel zu lächerlich, als daß man dabei hätte ernst bleiben können! Das waren ächt russische Soldaten: reine Maschinen, welche nicht denken können . . . 79 Und auch der ›typische Russe‹ wird nicht gerade überwältigend freundlich geschildert: Er war ein ächter Russe, lang, breitschulterig, mit niedriger Stirn, stumpfer Nase, dicken Lippen und struppigem Vollbarte.80 Schmiedt findet besonders die Szene der ›Teufelsaustreibung‹81 überzogen - der Leser könne sich auf Kosten der Sibirier köstlich amüsieren. Sicher ist hier mit May die Freude am Fabulieren und Karikieren durchgegangen, aber zu seiner Ehrenrettung muß man konstatieren, daß seine zeitgenössischen Quellen die Grundlage für eine derartige Darstellung durchaus lieferten:

   Wir wollen nur am Rande erwähnen, daß der von May bzw. Sam Barth in Szene gesetzte ›Frosch-Geist‹, von dem sich die den ›Helden‹ Adlerhorst bewachenden Kosaken die Hebung eines Schatzes erhof-


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fen82, bei den sibirischen Völkern, vor allem den Chanten und Mansen, eine wichtige Rolle spielte und May offenbar auch dabei nicht von Unkenntnis getrübt war ­ die gesamte Szene des ›Schatzsuchens‹ und der anschließenden ›Teufelsaustreibung‹ hat m. E. nichts Despektierliches, sie ist zwar von derbem Humor, aber sie hat ihren historischen Hintergrund. Wenn man sich die Geschichte Sibiriens vor Augen führt, so erscheinen solche Schilderungen nicht sonderlich merkwürdig. Je tiefer die Russen nach Sibirien eindrangen, desto mehr vermischten sie sich mit den Ureinwohnern. In Jakutien übernahmen russische Verbannte häufig Lebensweise, Baustil und Kleidung der Einheimischen, mitunter sogar ihre Sprache - noch heute gibt es in der Nähe von Jakutsk Dörfer, deren russische Bewohner in jakutischer Sprache verkehren.83 Europäische Reisende wußten oft nicht, ob sie Russen oder Eingeborene ­ Jakuten bzw. Burjäten ­ vor sich hatten. Selbst die Polygamie übernahmen derart ›verwilderte‹ Russen, und natürlich gediehen unter ihnen Aberglauben und Fetischismus, ja selbst das Schamanentum hielt bei ihnen Einzug. »Zusammen mit den Eingeborenen schamanisierten sie und versteckten hinter ihren Heiligenbildern Götzen. Turuchansker Kosaken hatten unbeschreibliche Angst vor Naturgeistern (vgl. die Frosch-Szene!) und opferten jedem hohen Berg einige Zobel, damit er ihre Reise nicht aufhielt.«84 Nein, man kann es May nicht übelnehmen: er hat in Romanform gekleidet, was die Reisenden an Kenntnissen, an Amüsierendem über Sibirien mitgebracht hatten. »›Gleich den Burjäten, die weit von Irkutsk wohnen‹, schreibt der Völkerkundler Schtschapow, ›zeichnen sich diese Russen . . . (die sich mit Eingeborenen vermischt haben. d. Verf.) durch eine hochgradige Verwilderung und Stumpfheit aus. Bei jedem unerwarteten und neuen Eindruck staunen sie; mit einer Empfänglichkeit, wie sie nur bei Wilden anzutreffen wäre, klatschen sie in die Hände, sperren den Mund auf und rufen: Ah-ah ah!‹«84 Muß man bei dieser Schilderung nicht unwillkürlich an Mays Teufelsaustreibungs-Szene denken?



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Die Vermischung der Russen mit den Ureinwohnern Sibiriens führte zur Entstehung eines Menschenschlages, der sich durch hohes Selbstwertgefühl, scharfe Beobachtungsgabe und Gutmütigkeit auszeichnete. Die Sibirier waren bekannt für raschen Stimmungswechsel, sie konnten in kürzester Zeit zwischen Arbeitsbesessenheit und Lustlosig-


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keit schwanken. Die russischen Emigranten, die sich in Sibirien niederließen, waren vielfach religiös, gesellschaftlich, ethnisch, geschäftlich, politisch oder persönlich Verfolgte. Aber nicht alle konnten in dem rauhen Land Fuß fassen. Das extreme Klima und das harte Land selbst bewirkten eine Auslese. Nur die Hartnäckigen blieben, deren Körper und Geist dem ›Naturgeist‹ entsprachen. Etwas Bildung brachten erst die politisch Verfolgten in das Land. Überschwemmt war es von Kriminellen, und seine ärgste Plage war das Vagabundentum. Daher war der Sibirier auch argwöhnisch, verschlossen und teilweise hochmütig. Daß er dennoch die Gastfreundschaft sehr hoch hielt, verdient uneingeschränkte Anerkennung. Darüber hinaus war der Sibirier stets auf Freiheit bedacht. Leibeigenschaft gab es in Sibirien nicht; zwar wurde mit den Eingeborenen gehandelt wie mit Sklaven, und auch der Sibirier wurde vielfach ausgebeutet, erpreßt und wie ein Leibeigener behandelt; dennoch setzte er seine persönliche Freiheit über alles.31 Die Gegensätze der Naturgegebenheiten und des Klimas spiegelten sich auch in seinem Wesen wider, und so widersprüchlich, wie er war, fielen auch die Meinungen über ihn aus. So urteilte Schtschapow: »Der Geist der Sibirjaken ist gänzlich von materiellem Gewinn beherrscht, ihn reißen nur alltägliche praktische Ziele und Interessen mit. Diese kühle Berechnung und eigennützige Leidenschaften haben in der Bevölkerung jede ideale Stimmung und Gemeinschaftlichkeit unterdrückt«, während der Revolutionär Bakunin meinte: »Man muß Sibirien Gerechtigkeit zollen. Bei allen Mängeln, die in ihm durch den ständigen Anstrom verschiedener, oft recht unsauberer Elemente verwurzelt sind ­ wie Ehrlosigkeit, Egoismus, Verschlossenheit, gegenseitiges Mißtrauen ­, zeichnet es sich durch eine besondere Weite des Herzens und des Denkens, durch wahrhaften Großmut aus.«85

   So wie hier geschildert sind auch die Typen in Mays Sibirien-Abenteuer. Es sind typisch Maysche Gestalten, aber sie passen in die historische Landschaft: die abergläubischen Kosaken, die korrupten Beamten, die geldgierigen Kaufleute, die verfolgten Deportierten. Und auch der freiheitliche Zug des Sibiriers kommt nicht zu kurz: Peter Dobronitsch ist Herr seiner Besitzung und sagt von sich: »Ich bin nur ein Bauer, aber ich kenne meine Rechte!«86 Gerade der Bauernstand wird besonders herausgekehrt: ›lst ein Zobeljäger etwa etwas viel Besseres als ein Landwirth? . . . Der Zobeljäger dient nur dem Luxus, der Landwirth aber ernährt die Menschen.«87 Auch von den Vagabunden erzählt May: Gleich den alten Barden und den späteren Troubadours ziehen fahrende Sänger durch die bewohnten Gegenden Sibiriens.88 Daß viele dieser Vagabunden Kriminelle waren, die der allgemein schwachen


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Polizeiaufsicht entkommen waren, erzählt May nicht ­ er sieht in den Verbannten in erster Linie die zu Unrecht Verfolgten.

   Der Eindruck, den May von Sibiriens Einwohnern vermittelt, ist vielfältig und läßt sich, wie wir gesehen haben, mit den historischen Gegebenheiten mehr oder weniger gut in Einklang bringen. Weniger läßt sich May über die geographischen Verhältnisse aus. Seine Geschichte beginnt in Platowa: In der ostsibirischen Kreisstadt Platowa war der Tag des Herbstjahrmarktes. Platowa hat zwei berühmte Jahrmärkte. . . . In jenen unendlichen Ebenen, welche mit dem Namen Tundra bezeichnet werden, kann nur im Winter gejagt werden, weil man sie nur beschreiten kann, wenn sie zugefroren sind. Im Frühjahr tauen sie auf, und ein Jeder, der es wagen wollte, den Fuß auf sie zu setzen, würde sofort in ihren unergründlichen, bodenlosen Sümpfen untersinken und verschwinden. Aber wenn der Winter eine feste Decke gefroren hat, dann thun sich die Zobel- und auch andere Jäger zusammen, um in Gesellschaften von zehn bis zwanzig Mann dem Fange derjenigen Thiere obzuliegen, deren kostbarer Pelz auf den russischen und chinesischen Märkten so sehrgesucht ist. . . . In der Tundra sind fünfundvierzig bis fünfzig Grad Kälte nach Réaumur gar keine Seltenheit; fürchterliche Schneestürme sausen über Sibirien dahin und belasten die Bäume mit Schneemassen, welche den Wald meilenweit niederbrechen und zusammendrücken. In milden Tagen steigen Nebel auf, durch deren dicke, greifbare Massen man kaum zwei Schritte weit zu sehen vermag, und bleiben wochenlang auf der Ebene liegen . . . 89

   An anderer Stelle wird von Platowa gesagt, die Stadt liege an der Amgha, welche sich in den Altan, einen Nebenfluß der Lena ergießt.90 Erwähnt werden an weiteren sibirischen Städten Nertschinsk (vgl. Abschnitt 3), Irkutsk (nach Mays Angaben westlich von Platowa gelegen), wo, wie er richtig erwähnt, der Gouverneur residiert,91 und Werchnei Udinsk92 im Land der Burjäten. Über die Landschaften weiß May wenig zu berichten. Kurz geschildert wird der Mückenfluß: »Der Fluß heißt so wegen den vielen Mücken, die zur Zeit des Frühjahres dort so schrecklich sind, daß sich kein Rennthier da aufzuhalten vermag.«93 Und einmal wird erwähnt, in der Gegend gäbe es nicht eine Unterbrechung: »Keinen Wald und gar nichts. Nur eine gute Stunde von hier liegen viele Felsen wirr durch einander. Es ist eine feuchte Gegend; darum wachsen zahlreiche Weiden dort.«94 Eine kurze Schilderung findet sich vom Baikalsee, worüber aber später zu sprechen sein wird: ansonsten viel Handlung und wenig BeschreiLung des Landes.

   Sicher ist die allgemeine Einführung über Tundra und Taiga, wie sie oben zitiert wurde, in dieser Kürze pauschal richtig. Wenn auch die


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Mücken eine der schlimmsten Plagen Sibiriens darstellten, über einen Fluß am Baikalsee, dessen Name in der Übersetzung ›Mückenfluß‹ bedeutet, war nichts zu ermitteln.95 Und ebenso konnte ich nichts über einen sibirischen Ort namens Platowa in Erfahrung bringen. Weder die sowjetische Enzyklopädie noch der Atlas Mira noch andere Quellen weisen einen Ort dieses Namens aus. Dagegen ist dem Atlas Mira ein Ort namens Platowo gleich zweimal zu entnehmen: östlich von Swerdlowsk (was für uns nicht infrage käme) und etwa 100 km östlich von Blagowjeschensk bzw. 50 km nördlich vom Amur.96 Zwar liegt letzteres Platowo in Ost-Sibirien, aber doch sehr weit von dem Schauplatz der Mayschen Erzählung entfernt. Woher also stammt der Name? Wie kam May darauf?

   Es könnte sein, daß May auf den Ort Platowo gestoßen war und ihn einfach mit einer kleinen Abwandlung benutzte. Es könnte auch sein, daß eine sibirische Stadt, die früher Platowa hieß, jetzt einen anderen Namen trägt, wie z. B. Werchneudinsk, und daß noch weitergehende Forschungen eine Klärung bringen würden. Es könnte aber auch sein, und das ist m.E. am wahrscheinlichsten, daß May den Namen einer Stadt für seine Zwecke abwandelte. Dabei ist an die bedeutende ukrainische Stadt Poltawa zu denken; sie wurde nicht nur durch die vernichtende Niederlage berühmt, die Zar Peter der Große im Nordischen Krieg 1709 dem schwedischen Heer unter Karl XII. beihrachte, sondern seit 1852 auch durch ihre großen Jahrmärkte. Und berühmte Jahrmärkte schreibt May auch Platowa zu89, wobei zu bemerken ist, daß bis in die zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts Jahrmärkte in Sibirien für den Handel sehr entscheidend waren.97 Vielleicht hat aber May bei der Namensgebung auch den General und Donkosaken-Hetman Graf Matwej I. Platow (1751-1818) vor Augen gehabt, der heute nicht mehr besonders bekannt ist, aber im vorigen Jahrhundert durch seine Teilnahme an den Türkenkriegen und vor allem an den Feldzügen gegen Napoleon in England, Frankreich und Deutschland ungewöhnlich populär war.98

   Wie dem auch sei: Platowa gab es so, wie es May schildert, offenbar nicht. Aber in Details war er überwiegend recht genau. So war eine Kibitka99 in der Tat ein Pferdewagen, wie er schreibt; auch seine Bemerkung, daß ein Tabun eine Herde halbwilder Pferde bezeichnete100, stimmt. Und wenn er schreibt: Stanitza werden die befestigten Dörfer der Grenzkosaken genannt101, so hat er ebenfalls recht. Seine Beschreibung eines Kosakenlagers102 oder seine Bemerkung über die Kosaken, sie seien eng mit ihren Pferden verwachsen103 ist richtig, während seine Meinung: der Anführer gab sich Mühe, seine Leute in Ordnung zu hal-


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ten; aber der Kosak ist eben ein Kosak, kein gut gedrillter, regulärer Soldat104, so daß in seinen Reihen leicht Unordnung zu stiften sei, nicht ohne weiteres stehen bleiben kann. Zwar ließen sich die Kosaken nicht leicht in eine Drillordnung pressen, aber in den russischen Kriegen und speziell während der Eroberung Asiens bildeten sie zumeist den Stoßtrupp und gaben wiederholt den Ausschlag für den Sieg der regulären Armee. Über die Kosaken hat May u. a. noch notiert: Diese Kosaken (aus Eingeborenen rekrutiert) sind theils Kavalleristen, theils unberittene Schützen, theils auch Artilleristen. Insbesondere ist ihnen der Schutz der reichen Erzgruben von Nertschinsk und die Bewachung der großen Karavanenstraße übertragen, welche von Pecking aus durch die Mongolenwüste, über Kolang und Kiachta nach dem russischen Gebiete führt . . . 105

   May erwähnt den chinesischen Grenzort Kiachta. Das Zitat weist erneut darauf hin, daß er auf eingehendere Beschreibungen Sibiriens als Quellen zurückgegriffen und nicht nur aus seiner Phantasie und aus Nachschlagewerken geschöpft hat. Es wird nun Zeit, einen Versuch zu unternehmen, einigen dieser Quellen nachzuspüren.



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Wer sich mit der Geschichte Russisch-Asiens beschäftigt hat, vermag die Maysche Erzählung unschwer zeitlich richtig einzuordnen. Sie kann nur Ende der siebziger, wahrscheinlicher noch Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts spielen. Das dafür entscheidende Stichwort liefert May ganz unauffällig: »Wie ist Dein Name?« - »Skobeleff«. - »Donnerwetter! Da hast Du ja einen sehr berühmten Namen!« - »Allerdings.« - »Bist wohl gar der General Skobeleff!« - » . . . Er ist mein Vetter.«106 Der Sibirienkundige weiß Bescheid. Mehr über ihn zu sagen, war nicht nötig, denn der Name Skobelew war zu der Zeit, da Mays Roman erschien, noch in aller Munde.

   ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹ kam 1885/86 heraus. Im Jahre 1884 hatten die Russen die Eroberung Zentralasiens mit der Übergabe der turkmenischen Siedlungen Aschchabad und Merw abgeschlossen. Damit war ein Kapitel langwieriger verlustreicher Feldzüge beendet. Ihr Beginn fiel schon in die Zeit Peters des Großen; Erfolg war den Russen jedoch erst ab den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts beschert, besonders seit der Eroberung von Taschkent 1865 und Samarkand 1868. Chiwa wurde 1873 eingenommen, und nun leisteten nur noch die Turkmenen erbitterten Widerstand. Aber auch ihr Ende war


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nur eine Frage der Zeit. Um die Jahreswende 1880/81 wurde ihre Oase Gök-Tepe gestürmt - der Sieger hieß Skobelew. Der ›weiße General‹, wie er wegen seiner weißen Uniform genannt wurde, galt als der glänzendste General während der Feldzüge in Zentralasien und war bei seinen Leuten ungewöhnlich beliebt. Man könnte ihn den ›Custer Zentralasiens‹ nennen: »Unausgeglichen und in den Stimmungen wechselnd, exzentrisch und kapriziös, intrigant und brutal, skrupellos und sittenlos . . . , schneidig und unbeherrscht, stark und schwach zugleich, stieg die Gestalt auf wie ein strahlendes Licht, um ohne dauernde Wirkung schnell wieder zu verlöschen. Sein - nicht sehr rühmlicher - früher Tod beendete wohl zur rechten Zeit ein Leben, das zu wahrhaft Großem die Fähigkeit nicht in sich trug.«107 Aber er war auch sehr tapfer, maßlos ehrgeizig, voller Charme und von seltener Theatralik, dabei ohne größere Fähigkeiten in Verwaltung und Politik. Zu seiner Zeit hielt man ihn für einen der hervorragendsten Militärs in Russisch-Asien.108 Es ist nicht ausgeschlossen, daß May gerade durch die Vorgänge in Zentralasien, die damals durch alle Zeitungen gingen, animiert wurde, Sibirien zum Schauplatz eines Romans zu machen. Immerhin schreibt er auch über den Fluchtweg der Verbannten: »Sodann gelten wir für kaiserliche Kosaken und können in aller Gemüthlichkeit bis in das Gouvernement Orenburg gelangen. Von da geht es durch Turkestan nach Persien, wo wir dann gerettet sind.«109

   Weitere historische Querbezüge finden sich in Mays Roman nicht. Allenfalls könnte man die Hinweise auf den Militärdienst im Kaukasus so deuten: »Sagen Sie mir schnell, wo Sie ihn getroffen haben!« - »Am Kaukasus. Er stand in russischen Diensten und bekleidete den Rang eines Hauptmannes.«110 Und: Er gedachte seiner Flucht aus der Heimath, des wilden, gefahrvollen Soldatenlebens im Kaukasus, des Herzeleides, welches er dort ertragen hatte . . . 111 Wild und gefahrvoll war das Soldatenleben im Kaukasus in der Tat: Die Eroberung durch die Russen zog sich etwa ein halbes Jahrhundert lang hin, die Freiheitskämpfe der kaukasischen Bergvölker unter dem legendären Schamil (ca. 1797-1871), die erst 1859 beendet waren - in anderen Teilen des Kaukasus 1864 - waren für die russische Armee sehr verlustreich - die kaukasische ›Grenze‹ war für das russische Reich vergleichbar mit der indischen für das britische Weltreich. Halbe Heere sind im Kaukasus umgekommen, und zehntausende von Soldaten erhielten hier ihre Feuertaufe und ihr Training.112 Mays Zeitgenossen genügte der Hinweis; wir wissen mit solchen Querbezügen heute nichts mehr anzufangen - Schamil wird nur noch in den ganz großen Lexika erwähnt.113


Nicht nur über Zentralasien wurde zu der Zeit ­ u. a. auch wegen


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des Interessenkonfliktes zwischen Rußland und England ­ in den Zeitungen ausführlich berichtet, sondern auch über Sibirien selbst. Der Bau der transsibirischen Eisenbahn warf seine Schatten voraus, zwischen 1880 und 1892 wanderten rund 470000 Bürger nach Sibirien aus, wo sie sich ein besseres Leben erhofften. 1884 starb der Naturforscher Alfred Brehm, der Begründer von ›Brehms Tierleben‹, der seit 1876 zoologische Untersuchungen in West-Sibirien vorgenommen hatte. Es war auch die hohe Zeit der Expeditionen von Nikolai M. Prschewalski (1839 - 1888), der 1879/80 nach Lhasa gekommen war und auf seiner letzten großen Forschungsreise 1884/85 erneut die Wüste Gobi durchquerte und zum Kunlun, zum oberen Jangtsekiang und zum ›Wandernden See‹, dem Lobnor, gelangte. Und nicht zuletzt lag die Fahrt des schwedischen Polarforschers und Geographen Adolf Erik von Nordenskjöld (1832-1901), der als erster 1878/79 die Nordost-Passage, d. h. die nördliche Durchfahrt im Eismeer von Westen nach Osten, den 6500 km langen Sibirischen Seeweg zwischen Nordpolarmeer und Pazifik bezwang, nur wenige Jahre zurück.

   Interessant und aktuell war der Schauplatz Sibirien zu der Zeit also in der Tat. May hätte es sich in Anbetracht der vielen aktuellen Zeitungsartikel, die zu dieser Zeit über die Verhältnisse in Sibirien zu berichten wußten, gar nicht leisten können, ungetrübt von jeder Vorkenntnis darüber zu schreiben. Diese Berichte lieferten ihm Stichwörter und Informationen. Weitere Quellen waren ihm sicher die Konversationslexika. Nach allem, was vorstehend berichtet wurde, kann aber kein Zweifel bestehen, daß May darüber hinaus auch tiefergehende Literatur ausgewertet hat.

   Die Palette der Reisenden, die über ihren Aufenthalt in Sibirien berichteten und deren Werke May im Prinzip zur Verfügung standen, war groß und vielfältig, und die Auswahl an Deutschen darunter war nicht gerade gering. May schrieb für ein deutsches Publikum, und noch dazu heißt sein Roman ›Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden‹. Dem Leser mag dennoch die große Rolle Deutscher, die zur Vollbringung von Heldentaten quer durch Sibirien ziehen, etwas merkwürdig erschienen sein, und May war sicher bewußt, daß er seinem Publikum dabei so manches zumutete. Nicht von ungefähr kommt es immer wieder zu Feststellungen wie den folgenden. »Grad diese verfluchten Deutschen sind es, denen man auf Schritt und Tritt und an allen Ecken und Enden begegnet«114, oder: Ein Deutscher hier in Sibirien! Der ihren Namen kannte und auch noch Weiteres von ihr zu wissen schien, das war ihr etwas ganz Unbegreifliches115, oder: »Und ein Deportirter bist Du? Wie kann man einen Deutschen nach Sibirien verbannen!«116 Karparla und


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andere vermeintliche Sibirier sind deutscher Abkunft, und die guten Tungusen staunten nicht wenig, als sie die hohe, edle Gestalt des Deutschen erblickten.117 Als aber Steinbach gleich darauf auch den Ueberrock abwarf, so war keiner der Anwesenden mächtig, einen Ruf des Schreckes, der Angst oder der freudigen Ueberraschung zu unterdrücken, denn er stand da in der brillanten Uniform eines russischen Generals der Cavallerie, die breite, mächtige Brust mit zahlreichen, funkelnden Orden geschmückt.118

   Bevor man angesichts solcher Äußerungen ein »Ach du meine Güte« ausstößt, ist es einmal mehr angebracht, hinter die Kulissen der Geschichte zu schauen: Es gab sie tatsächlich, die Deutschen in Sibirien oder Zentralasien, und auch in Uniform.119

   Schon Jermak hatte bei seinem Feldzug gegen Kutchum kriegsgefangene Deutsche in seinem Haufen dabei. In den Kämpfen zwischen Russen und Chinesen am Amur 1686/87 zeichnete sich der Deutsche Beuthen, der Befehlshaber von Albasin, aus, der ursprünglich in polnischen Diensten gestanden hatte, von den Russen gefangen genommen worden und dann in die russische Armee eingetreten war. Besonders Peter der Große lernte außerordentlich viel von den Deutschen - bezeichnenderweise trug die neue Hauptstadt, die er bauen ließ, nicht die russische Form des Namens, sondern die deutsche: St. Petersburg. Und auch unter seinen Nachfolgern wurden deutsche Ratgeber und Minister sehr einflußreich. Auf die Anregung des deutschen Philosophen Leibniz hin stiftete Peter eine Akademie der Wissenschaften, die dann kurz nach seinem Tode entstand. Schon vorher war in seinem Auftrag der erste wissenschaftliche Forscher nach Sibirien gereist, der deutsche Arzt Daniel G. Messerschmidt (1685-1735), der sich von 1720 bis 1727 dort aufhielt. Während der sogenannten Großen Nordischen Expedition, die mit Unterbrechungen von 1725 bis 1762 dauerte, wurde Sibirien von Wissenschaftlern erkundet, zu denen eine Reihe namhafter Deutscher gehörte, wie z. B. Johann Georg Gmelin (1709-1755), Gerhard Friedrich Müller (1705-1783) und besonders Georg Wilhelm Steller (1709-1746); letzterer wurde vor allem durch seine Forschungen auf Kamtschatka, seine Parteinahme für die dortigen Eingeborenen gegen die russischen Verwalter und seine Teilnahme an Berings Alaska-Expedition bekannt. Weitere bedeutende deutsche Forscher in Sibirien und Zentralasien waren Johann Georgi (1729-1802), Johann A. Güldenstädt (1745-1781), Samuel G. Gmelin (1745-1774) oder J. E. Fischer (1697-1771), besonders aber Peter Simon Pallas (1741-1811), der Ostrußland, den Ural, die Hüttenwerke am Altai, den Baikalsee und die Gebiete am Amur erforschte.


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   Zu der Zeit gab es auch prominente deutsche Verbannte in Sibirien, wie den aus dem Oldenburgischen stammenden Politiker und Feldmarschall Burkhard Christoph Graf Münnich (1683-1767), der, ursprünglich Wasserbauingenieur, seit 1721 in russischen Diensten stand und es zum Minister, Präsidenten des Kriegskollegiums und erfolgreichen Heerführer brachte, was ihn nicht davor bewahrte, von 1741 bis 1762 im westsibirischen Pelym in der Verbannung zu hausen. Er nutzte jedoch die Zeit und leitete dort zwei Jahrzehnte lang eine Schule für alle, die kommen wollten. Hat May bei seinem Roman auch sein Schicksal vor Augen gehabt? Oder das seines Schriftstellerkollegen August von Kotzebue (1761-1819), der, im russischen Staatsdienst stehend, ebenfalls eine Zeitlang nach Sibirien verbannt war und in Tobolsk Russen, Tataren und Deutsche sowie von den 23 Kirchen dort eine deutsche (eine evangelische) antraf? Deutsche Kaufleute waren in Sibirien unterwegs. Deutsche, die aus allen möglichen Gründen nach Sibirien verbannt waren, gab es mehr als genug; viele waren ehemalige Kriegsgefangene. Deutsche Emigranten zog es nicht nur nach Amerika, sondern auch nach Rußland und mitunter in den Kaukasus (»Sie werden gehört haben, daß vor einigen dreißig Jahren viele Deutsche nach Rußland auswanderten, besonders nach dem Kaukasus?«)120 und nach Sibirien. Viele Deutsche standen im russischen Militärdienst, teilweise sehr prominent und teilweise namenlos. David Ziegler (1748-1811) aus Heidelberg z. B. kämpfte auf russischer Seite gegen die Türken und wurde später nach seiner Teilnahme am amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und an Indianerkriegen erster Bürgermeister von Cincinnati.121 Lange vor ihm war Hauptmann Buchholtz 1715 den Irtysch stromauf gezogen und hatte im weiteren Verlauf seiner Expedition Omsk gegründet. Im Kaukasus diente General Freitag (gest. 1851) oder der Österreicher General von Klugenau, der 1837 vergeblich versuchte, Schamil zum Frieden zu bewegen; der Chefarzt während General Skobelews Turkmenen-Feldzug war der Deutsche Dr. Oscar Heyfelder (1828-1890), und die bedeutendste Gestalt während der Eroberungen in Zentralasien, der Sieger von Samarkand, Chiwa und anderswo, der erste Generalgouverneur von Turkestan, war General Konstantin von Kaufmann (1818-1882), der aus einer holsteinischen Familie stammte ­ er hat nicht nur die Belange Rußlands in Asien wie kein zweiter vertreten, sondern sich auch stets der einheimischen Bevölkerung angenommen122: Nicht nur die Russen, auch die Usbeken und Tadschiken wußten ihm Dank.

   Es hat auch noch weitere bedeutende deutsche Forscher in Sibirien gegeben. 1828 bis 1829 durchquerte Adolph Erman das Land vom Ural


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bis Kamtschatka, nachdem vorher schon (1821-1824) Graf Lütke (1797-1882) das Nordpolarmeer erforscht hatte. 1829 kam Alexander von Humboldt mit den Professoren Christian Ehrenberg (1795-1876) und Gustav Rose (1798-1873) nach West- und Süd-Sibirien. 1842 bis 1845 bereiste der russische Zoologe deutscher Herkunft Alexander von Middendorf (1815-1894) Nord- und West-Sibirien. Deutscher Herkunft war auch Leopold von Schrenck (1826-1894), der Ost-Sibirien, vor allem das Amur-Gebiet und die Insel Sachalin bereiste, und von 1855 bis 1860 erkundete der Danziger Gustav Radde (1831-1903) u. a. das Gebiet um den Baikalsee, am Amur und östlich des Sajanischen Gebirges. Bald danach, 1861 bis 1863, nahm der Sprachforscher und Völkerkundler Wilhelm Radloff (1837-1918) ethnographische Studien in Sibirien vor, und 1876 begann der deutsche Wissenschaftler Otto Finsch (1839-1917), begleitet von Alfred Brehm (1829-1884), mit ethnographischen und zoologischen Forschungen in West-Sibirien.123

   Wie gesagt: eine reiche Palette! Jeder dieser Forscher schrieb natürlich seinen Bericht, und May dürfte wohl kaum Zeit gehabt haben, sie alle zu lesen. Welche hat er also benutzt?

   Ich meine, daß er, wenn er auch unterschiedliche Quellen verwandt haben mag - es können nur wenige gewesen sein - vor allem auf dem Werk Adolph Ermans fußte, vielleicht auch auf dem Middendorfs. Die Ähnlichkeiten mit Schilderungen Ermans in seinem Roman sind aber so auffällig, daß sie nicht übersehen werden können.124

   Erman wurde am 12. Mai 1806 in Berlin geboren und studierte Naturwissenschaften in Berlin und Königsberg. Zwar wollte er auf Dauer die Universitätslaufbahn einschlagen, aber er gehörte zu jener Generation deutscher Gelehrter, die dem Vorbild Alexander von Humboldts nacheiferten und erst einmal auf Forschungsfahrt gehen wollten, bevor sie sich in Deutschland etablierten. Er war erst 22 Jahre alt, als er zur großen Expedition aufbrach, und hatte das Ziel, möglichst genaue erdmagnetische Bestimmungen rund um die Erde vorzunehmen. Tatsächlich hat er dann nicht nur die Längenangaben mehrerer Orte berichtigt, sondern auch Paß- und Gipfelhöhen des Aldanischen Gebirges vermessen, festgestellt, daß der Ural bis zum Eismeer reicht, und vor allem erkannt, daß die Halbinsel Kamtschatka nur halb so breit war wie vorher angenommen. Über Kalifornien, Tahiti, die Südsee, Kap Horn und Brasilien kehrte er nach Deutschland zurück, wo er 1834 außerordentlicher Professor der Physik wurde. Die Auswertung seiner Messungen führte ihn zu bedeutenden Beiträgen zur Theorie des Erdmagnetismus. Von 1841 bis 1867 leitete er - und das war seine wichtigste


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Leistung ­ die Herausgabe der Zeitschrift ›Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland‹, eine einzigartige Informationsquelle für viele Bereiche und das einzige Publikationsorgan dieser Art, mit großer Bedeutung für Mittel- und Westeuropa. Kein Zweifel: Erman gehörte zu den hervorragendsten deutschen Gelehrten, die in die Fußstapfen Humboldts traten, und ist heute ­ wie viele andere - zu Unrecht vergessen. Er starb am 12. Juli 1877 in Berlin.

   Erman war wie Humboldt ein universeller Geist. Deshalb schilderte er neben den naturkundlichen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse Sibiriens und hat mit seiner Darstellung viele Vorurteile über das Land berichtigt. Vor allem wandte er sich gegen die Meinung, die nach Sibirien Verbannten seien alle Kriminelle gewesen. Er rühmte die Ehrlichkeit der Eingeborenen ­ Jakuten, Tungusen und Kamtschadalen ­, die ihn nicht bestahlen, obwohl sie wußten, daß er eine beträchtliche Summe Geldes und wertvolle Ausrüstungsgegenstände mit sich führte, und er nahm Partei für die aus politischen Gründen ›Verschickten‹, die ›Staats- und Majestätsverbrecher‹, flocht Hinweise über die Deportierten im allgemeinen und über die Schicksale einzelner Verbannter ein und schilderte seine Begegnungen mit solchen ›Unglücklichen‹. Zwar hielt er sich mit eindeutiger Parteinahme zurück, aber seine Stellungnahme war entschiedener als z. B. die Humboldts, und er bewies Engagement in dieser Zeit dadurch, daß er überhaupt so eindringlich berichtete. Und Sätze wie der folgende: »Die Fähre am Irtysch ist verhängnisvoll für die zahlreichen Verbannten, welche sie jährlich betreten; denn diese Überfahrt erst wird als Symbol des politischen Todes betrachtet«125, bedurften damals schon einigen Mutes.

   Ermans Grundhaltung ist die, die auch aus Mays Roman spricht, bei May noch unbedarfter, noch direkter. Sowohl Erman als auch May widersprachen dem Zeitgeist, und dieses Verbindende zwischen beiden ist der erste deutliche Hinweis darauf, daß May aus dem Bericht Ermans geschöpft hat.



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Eine Zusammenstellung entsprechender Zitate gibt m. E. klare Indizien dafür, daß May Ermans Bericht für seine Zwecke nutzbar gemacht hat. Er hat nicht ›abgeschrieben‹, aber er hat Passagen daraus umgearbeitet, wie er es in vielen anderen Fällen auch getan hat, jedoch so, daß die Verwandtschaft nicht zu leugnen ist.


Erman schildert z. B. den Kopfputz von Burjäten-Mädchen126: »Der


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Kopfputz der Weiber zeigte einen bewunderungswürdigen Reichtum. Sie trugen zwei starke Haarflechten, welche von den Schläfen nach vorn über die Schultern hinabhingen, außerdem aber über der Stirn eine Binde, auf welcher Kugeln aus Perlmutter und aus uralischem Malachit genäht und durch rundlich geschliffene Stücke von edlen Korallen getrennt sind. Bei den Unverheirateten sahen wir auch die Haarzöpfe mit Schnüren durchflochten, auf denen dieselben kostbaren Substanzen aufgereiht sind. Die Schönheit der Frauen war dieses Schmuckes nicht unwert. Wir sahen lebhafte und ausdrucksvolle Augen, und trotz der bräunlichen Hautfarbe waren ihre Wangen gerötet. Ein eng anliegendes Kleid ließ das Ebenmaß ihrer schlanken Gestalten erkennen . . . «

   May hat anscheinend nur ausgemalt, was ihm hier vorgegeben war, als er Karparla schilderte127: Diese wunderbar schöne, schlanke und doch . . . volle Gestalt trug eine ganz eigenartige Kleidung. Die kleinen Füßchen staken in langen, feingearbeiteten Schnürstiefeletten aus rothgegerbtem Leder vom Bauche des Elennthieres. Blendend weiße Strümpfe umschlossen die drallen Waden, welche man sehen konnte, weil das Röckchen nur wenige Zolle über die Kniee herabreichte. Dieses Röckchen aber bestand aus dem kostbarsten Zobel, jener seltenen und darum so theuren Art. . . . Über diesem Röckchen . . . umschloß ein Mieder von demselben Pelzwerk die feine Taille . . . Die langen Aermel dieses Mieders waren, nach orientalischer Art, nach den Händen zu immer weiter gehalten und bis oben in die Nähe der Achsel aufgeschnitten. Goldene Spangen hielten den Aufschnitt so weit zusammen, daß der weiße, verführerisch gerundete Arm wie Schnee aus dem glänzenden Dunkel des Pelzwerkes hervorleuchtete. Um den nackten . . . (schlanken) Hals flimmerte ein Schmuck von viereckigen Goldplatten. Das schwarze, lange, schwere Haar war mit eben solchen Goldplatten und silbernen Ketten durchflochten, sonst aber unbedeckt. . . . Dafür aber lagen um die hohe, schön gewölbte Stirn mehrere Lagen von Goldmünzen, von silbernen Kugeln zusammen gehalten, auf deren jeder ein Diumant funkelte.

   Daß Kiachta an der chinesisch-russischen Grenze einer der wichtigsten Handelsplätze für den Warenverkehr zwischen dem russischen und dem chinesischen Reich darstellte, war z. Z. Mays bekannt. Von Erman stammt eine der schönsten Schilderungen des Lebens in dieser Stadt. May schrieb128, wie schon früher zitiert: Mehrere der halbwilden, asiatischen Stämme, welche in der Nähe des Baikalsees wohnen, sind militärisch organisirt, und müssen unter dem Namen der Baikalkosaken den Grenzdienst versehen. . . . Insbesondere ist ihnen . . . die Bewa-


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chung der großen Karavanenstraße übertragen, welche von Pecking aus durch die Mongolenwüste, über Kolang und Kiachta nach dem russischen Gebiete führt. Und Erman berichtet im Zusammenhang mit Kiachta: »Der Kosakendienst in den Grenzprovinzen des Irkutsker Gouvernements wird von Urbewohnern geleistet. Die Burjäten stellen zu diesem Zwecke vier Regimenter zu 600 Mann und die Tungusen des Nertschinsker Kreises ein fünftes von 500 Mann, welche sich wechselseitig ablösen . . . «129

   An einer Stelle schreibt May130: Die Männer ritten alle. Für die Frauen aber waren Wagen vorhanden, Wagen jener primitiven Art, wie sie bei jenen halb wilden Völkerschaften gebräuchlich sind. Und Erman berichtet ebenfalls von primitiven Karren: »Es waren Drogi (vierrädrige Personenfuhrwerke. d. Verf.) mit langen Tragbalken und zweirädrige burjätische Karren, auf denen man chinesische Waren von Kjachta hierher befördert hatte . . . «131 »Auch alle Bauernfuhren aus der Umgegend geschahen auf zweirädrigen Wagen, deren Bauart die hiesigen Russen von den Burjäten entnommen haben. Die hohen und unbeschlagenen Räder dieser Fuhrwerke haben nur kurze Speichen und sehr breite Felgen . . . «132 Bedenkt man auch Ermans Schilderung der Pferde: »Die Pferde sind hier äußerst feurig, nur von mittlerer Größe und ausgezeichnet durch weit geöffnete Nüstern und funkelnde Augen. Helle Brauen mit pechschwarzen Mähnen sieht man am häufigsten. Ihr stattliches Ansehen erklärt genugsam die Leidenschaft zu Wettritten, die bei den hiesigen Burjäten stets üblich waren und nun auch unter den russischen Bauern bei Nertschinsk stark in Aufnahme gekommen sind«133, dann fallen sofort die Reiterkunststücke Karparlas ein oder Mays Bemerkungen über die Reitkünste von Tungusen und Jakuten, wie sie früher zitiert wurden, weiterhin seine Aussage: Der Wirth . . . hatte . . . zwei kleine, schwarze, kräftige Steppenpferde zu verkaufen134, vor allem aber seine Schilderung des wilden Tabun-Hengstes135: Die Augen des Thieres, welche zuvor wild gefunkelt hatten, wurden sofort sanfter. Es schnaubte wohlgefällig durch die Nüstern. Wer Mays Arbeitsweise kennt, wird diese Gemeinsamkeiten nicht als Zufall abtun.

   Wie schon früher ausgeführt, hat May in seinem Sibirien-Abenteuer nur wenig Landschaft geschildert. Eine Ausnahme bildete der Baikalsee und seine Umgebung: Er sah das Baikalgebirge und konnte zwischen den Lücken desselben erkennen, wie die mongolische Wüste sich starr und leer nach Süden zog. Weiter westlich lag der See. Seine Wasser schimmerten wie flüssiges Silber im Sonnenstrahle, und aus dieser silberglänzenden Fluth stiegen grüne, bewachsene Inseln auf.136 Sie stieg


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an der Kraterwand empor, um von da oben aus einen Blick nach dem Flusse zu werfen. Die Ufer desselben waren in dichten Nebel gehüllt . . . Sie setzte sich nieder, um zu warten, bis die Nebel sich verziehen würden. So saß sie lange, lange. Die Sonne stieg im Osten empor, und von ihrer Wärme gehoben, stiegen die feuchten Schwaden über den Fluß empor, wurden von dem erwachenden Winde erfaßt und wie wirbelnde Wolken davongewälzt.137

   Auch hier kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe May Anleihen bei Erman gemacht: »Im glänzenden Morgenlicht gewährte der Baikal bei Possolsk einen reizenden Anblick. Farbig und in mancherlei Richtungen wurden die Sonnenstrahlen in der Nähe des Ufers gebrochen durch ein Gewirr zertrümmerter Eismassen und platter Schollen, die senkrecht über die umgebende Ebene hervorragten. Dann folgt eine spiegelglatte Fläche, die sich gegen Norden und Südwesten unbegrenzt bis zum dunkelblauen Himmel erstreckt. Im Westen aber tauchen aus dem Spiegel des Sees die schimmernden Bergspitzen des anderen Ufers, deren untere Teile durch die Krümmung der Erde verdeckt sind . . . «138 »Dichter Nebel erhob sich wie Rauch über dem Wasser (des Angara-Flusses. d. Verf.) und schien zugleich mit den Wellen zu rollen, aber hinter ihm schimmerte in der Ferne die unabsehbare Eisfläche des Baikal.«139

   Erman schildert ausführlich mittelsibirische Brunnen; diese Beschreibung zusammen mit der eines uralischen Bergwerkes könnte Anstß für Mays Brunnenschilderung140 gewesen sein. Interessanter erscheint jedoch noch folgende Darstellung Ermans141: »Die auf 10000 Seelen angegebene Bevölkerung von Newjansk besteht größtenteils aus Leibeigenen. Es sind wohl meistens Abkömmlinge von Verbannten, welche von der Regierung den hiesigen Hüttenbesitzern als Arbeiter untergeben wurden. Eine andere Tradition über die Herkunft der Arbeiter des Werkes gebe ich so, wie sie uns hier von mehreren Einheimischen mitgeteilt wurde . . . In der Nähe des Schlosses sieht man einen aus Bruchsteinen hoch aufgemauerten Wachtturm, in dessen Inneres noch jetzt eine halb verfallene Treppe hinaufführt. In diesem sollen die ersten Besitzer des Hüttenwerkes die landstreicherischen Flüchtlinge vor der Verfolgung russischer Soldaten verborgen haben, welche sie gegen den Willen der Regierung aufnahmen und als nützliche Arbeiter belohnten.« Wer wird bei dieser Beschreibung nicht an das von May geschilderte Versteck: die Felsenhöhle in großer Höhe, hoch über dem Baikalsee, erreichbar über eine Treppe, denken, wo die Verbannten Zuflucht finden konnten?

   Nicht zuletzt sollte der Hervorhebung der Tungusen durch Erman


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gedacht werden, der u. a. schrieb: »Ich blieb in dieser malerisch gelegenen Niederlassung drei Tage lang und hatte auch noch während der vier folgenden mehrere Bewohner derselben zu Reisegefährten. So entstand zwischen uns jene gegenseitige Gewöhnung und Vertrautheit, deren Wert man nur in der Fremde vollständig empfindet und welche auch später die schönsten und bleibendsten Erinnerungen an das Reiseleben begründet.«142 Hat May u. a. Erman die Anregung zu verdanken, die Tungusen in den Mittelpunkt seiner Sibirien-Abenteuer zu stellen?143



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Die vorliegende Darstellung hat erwiesen, daß May auch bei der Niederschrift seiner Kolportage-Romane bezüglich des zeitgeschichtlichen, völkerkundlichen und geographischen Hintergrundes sorgfältiger vorgegangen ist, als bislang angenommen wurde. Er hat selbst für diese flüchtigen, künstlerisch nicht sehr anspruchsvollen Werke Quellenstudien betrieben. Nachdem für Mays Reiseerzählungen schon lange nachgewiesen ist, daß er dafür sogar munter aus verschiedenen Werken ›abgeschrieben‹ hat, wird nun deutlich, daß dasselbe, wenn auch nicht in diesem Umfang, auch für seine Kolportage-Romane, zumindest für die Sibirien-Episode in ›Deutsche Herzen - Deutsche Helden‹ zutrifft. Müssen wir uns auf ein neues Karl May-Bild, ein neues Bild seiner Kolportage-Romane einstellen? Ich glaube nicht. ­ Wir haben allerdings aufgrund von mehr oder minder großen Vorurteilen bisher von May ganz einfach nicht angenommen, es ihm nicht zugestehen wollen, daß er bei seinen Kolportage-Romanen ähnlich, wenn auch mit minderer Qualität, verfuhr, als bei seinen übrigen Werken.

   Wir sollten diese Abhandlung nicht beschließen, ohne eine Einzelheit noch zu erwähnen, die ebenso denk- wie merkwürdig ist. Hören wir Sarkisyanz144: »Nach der tungusischen schamanistischen Kosmologie entsprang in der ›Oberwelt‹ der große mythische Strom Endekit, der durch die ›Mittelwelt‹ floß und in der ›Unterwelt‹ mündete. Die Oberwelt wurde zum Sitz des Hauptgottes (Seweki) und der Seelen von noch Ungeborenen (Omi), während der Unterlauf des Weltflusses die Seelen der Dahingeschiedenen beherbergen sollte.« Ober-, Mittel- und Unterwelt - wer kennt sie nicht, der sich mit May befaßt hat? Ardistan, Märdistan und Dschinnistan: ein Anflug davon auch bei den Tungusen?


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Ich widme diese Arbeit meinen Eltern in Denkhof und meinen Schwiegereltern in Ravensburg in Dankbarkeit.


1 Karl May, Deutsche Herzen ­ Deutsche Helden, Dresden 1885/86; im folgenden abgekürzt mit ›DHH‹. Zitiert wird nach der Originalausgabe, die mir freundlicherweise von Herrn Prof. Dr. C. Roxin, Stockdorf, zur Verfügung gestellt wurde. Zitat: DHH 1800.

2 Helmut Schmiedt, Der Schatz, der Frosch und der Pope. Zur Dialektik der Aufklärung in Mays Kolportageroman ›Deutsche Herzen - Deutsche Helden‹, in: Jb-KMG 1978, 142-153; 146

3 ebd. 145f.

4 vgl. Ekkehard Bartsch, Vorwort zum Reprint ›Deutsche Herzen - Deutsche Helden‹, 5 Bde., Hildesheim-New York 1976, Bd.1, 1-9; Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 6, Hamburg 1977, mit Beiträgen von Walther Ilmer, Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul; Walther Ilmer, Das Adlerhorst-Rätsel - ein Tabu? M-KMG Nr. 34, Dez. 1977, 25-37; H. Schmiedt a.a.O. (wie Anm. 2)

5 Amand von Ozoróczy, Karl Mays Deutsche Herzen und Helden, in: M-KMG Nr. 33, Sept. 1977, 32-35

6 Schmiedt a.a.O. 148

7 ebd. 149

8 ebd. 150

9 ebd. 151f.

10 ebd. 151

11 vgl. Ekkehard Koch, Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren. Zum historischen Hintergrund von Mays Südamerika-Romanen, in: Jb-KMG 1979, 137-168; ders., Der Weg zum ›Kafferngrab‹. Zum historischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund von Karl Mays Südafrika-Erzählungen, in: Jb-KMG 1981, 136-165

12 DHH 1589

13 ebd. 1674

14 ebd. 1789f.

15 ebd. 1790

16 ebd. 1675f., 1789

17 ebd. 1790

18 Die Konquistadoren in Sibirien waren die Kosaken. Die Eroberung begann mit dem Feldzug des Kosaken-Hetmans Jermak Timofejewitsch (gest. 1584), den die Kaufmannsfamilie Stroganow - sie besaß im westlichen Ural Sonderrechte zur wirtschaftlichen Erschließung des Landes - ausgerüstet hatte. Mit etwa 300 bis 500 Kosaken unterwarf er die Völker West-Sibiriens und eroberte Sibir (oder Isker) am Irtysch, die Hauptstadt des Tataren-Chans Kutschum (gest. 1600). Wenn auch die Eroberungen nach Jermaks Tod zeitweilig wieder verloren gingen, festigten die Kosaken, unterstützt durch russische Truppen, doch allmählich ihre Position. 1586 wurde als erste russische Stadt in Sibirien Tjumen gegründet (die Stadt feierte also gerade den 300. ›Geburtstag‹, als Mays ›Abenteuer in Sibirien‹ erschien), ein Jahr später am Irtysch die Stadt Tobolsk. Schon 1597 erreichten Kosaken den mittleren Jenissei, und bald danach brachen die Pioniere weiter nach Osten auf. Innerhalb einer Generation erreichten sie den Pazifik. Ihre Stationen waren: Tomsk (1604), Jenisseisk (1618), Krasnojarsk (1628), Bratsk (1631), Jakutsk (1632), Ochotsk (1647), Irkutsk (1652), Nertschinsk (1653). Anfang der dreißiger Jahre des 17. Jahrhunderts erforschten Kosaken die Lena und ihren Nebenfluß Aldan, 1639 gelangte Iwan Moskwitin an das Ochotskische Meer, 1643 entdeckte Kurbat Iwanow den Baikalsee, und von 1643 bis 1646 drang Wassili Pojarkow von Jakutsk aus ins Amur-Gebiet und zum Ochotskischen Meer vor. Der Kosak Semjon Deschnjew (ca. 1605-1673) durchquerte 1648 als erster die heutige Beringstraße. Neben Abenteuerlust und Entdeckergeist war die Haupttriebfeder für die kosakische Expansion die Jagd nach Pelzen. Aus dem Land zwischen Ural und Ob wurde seinerzeit jährlich ein Tribut von rund 10000 Schwarzfuchs-, 200000 Zobel- und 500000 Eichhörnchenfellen den Eingeborenen abverlangt und nach Europa gebracht; die


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einheimischen Völker wurden überwiegend grausam unterdrückt und zum Teil ausgerottet.

Literatur zur Geschichte Sibiriens (Auswahl), die auch für den vorliegenden Bericht benutzt wurde:

Gitermann, V., Geschichte Rußlands, 3 Bde., Hamburg 1949

Gröper, K. J., Die Geschichte der Kosaken. Wilder Osten 1500-1700, München 1976

Hoetzsch, O., Rußland in Asien. Geschichte einer Expansion, Stuttgart 1966

Mirskij, D. S., Rußland von der Vorgeschichte bis zur Oktoberrevolution, Essen 1975

Sarkisyanz, E., Geschichte der orientalischen Völker Rußlands bis 1917, München 1961

Schurtz, H., Hochasien und Sibirien. Durchgesehen von V. Hantzsch, mit Ergänzungen von E. v. Baelz, in: Helmolts Weltgeschichte, begründet v. H. F. Helmolt, hg. v. A. Tille. 2. neubearb. u. vermehrte Auflage, 9 Bde. Bibliographisches Institut, Leipzig-Wien: Bd. 1 (1913)

Scurla, H. (Hrsg.): Jenseits des Steinernen Tores. Reisen deutscher Forscher des 18. u. 19. Jahrhunderts durch Sibirien, 4. Aufl. Berlin (Ost) 1976

Sowjetunion. Hrsg. v. Geographisch-Kartographischen Institut Meyer, bearb. v. W. Jopp (›Meyers Kontinente und Meere‹). Mannheim-Wien-Zürich 1969

Stökl, G., Russische Geschichte, 3. Aufl. Stuttgart 1973

Thomas, L., Geschichte Sibiriens. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Berlin (Ost) 1982

Völkerkunde für jedermann, hg. v. VEB Geogr.-Kartographische Anstalt Hermann Haack, Gotha-Leipzig (ca. 1966)

Waldschmidt, E. et al., Geschichte Asiens, München 1950

York v. Wartenburg, M. Graf, Das Vordringen der russischen Macht in Asien 2. Aufl., Berlin 1900

Woodbridge, B. et al., A History of Asia, 3 Bde., Boston 1965 Zierer, O., Neue Weltgeschichte, 3 Bde., 2. Aufl. Olten o. J.

19 vgl. Sarkisyanz a.a.O. (Anm. 18) 376

20 DHH 1791

21 vgl. Koch, Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren, a. a. O. (Anm. 11). Auch spätere Frauengestalten bei May wie Aschta in Winnetou IV weisen noch Ähnlichkeiten mit Karparla auf.

Auffallend ist, daß Karparla die gleichen sozialen Ambitionen hat wie Martha Vogel in ›Satan und Ischariot‹, die eine ›Heimat für Verlassene‹ gründet. Außerdem heißt das mutmaßliche Urbild der Karparla ebenfalls ›Martha‹. Martha Vogel hat wiederum ein mutmaßliches Urbild in Mays Biographie: Marie-Thekla Vogel (die mutmaßliche Mutter seiner mutmaßlichen Tochter). Nun ist aber Karparla auch noch eine wiedergefundene Tochter, die bei fremden Eltern aufgewachsen ist. Diese Zusammenhänge, auf die mich freundlicherweise Hansotto Hatzig, Oftersheim, aufmerksam machte, werfen auf die Gestalt der Karparla, deren Name übrigens bereits in der sogenannten ›Fischer-Ausgabe‹ in Karpala geändert und so auch in spätere Bearbeitungen übernommen wurde, noch ein besonderes Licht.

22 DHH 2188

23 ebd. 2203

24 ebd. 2146

25 Thomas a.a.O. (Anm. 18) 82f.

26 DHH 1580; Nertschinsk wird auch auf 1791 sowie 1959 u. 2002 erwähnt.

27 ebd. 1909

28 Thomas a.a.O. 73; Pierers Universal-Conversations-Lexikon, neuestes enzyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe; 6. vollstd. umgearbeitete Auflage, Berlin u. Leipzig, Literarisches Institut 1879. Bd. 16, Art. Sibirien. - Einblick in dieses Lexikon wurde mir dankenswerterweise von Irmgard und Heinz Vennekold, Essen, gewährt.

29 vgl. Scurla a.a.O. (Anm. 18) 264


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30 DHH 1946f.

31 Valentin Rasputin, Hier, hinterm Ural in der Ferne, in: Fred Mayer, Sibirien, Zürich-Schwäbisch Hall 1983, 16. - Dieses Werk wurde mir dankenswerterweise von Frau Bertram, Essen, zur Verfügung gestellt.

32 Sarkisyanz a. a. O. 367

33 ebd. 386

34 ebd. 389

35 DHH 2031ff.; Zitat 2033f.

36 ebd. 1580

37 ebd.

38 ebd.

39 Der Vollständigkeit halber seien einige Ergänzungen gebracht. Näheres enthält folgende Literatur: Schurtz a.a.O., Sarkisyanz a.a.O., Gröper a.a.O., Meyers Kontinente und Meere: Sowjetunion (alle vgl. Anm. 18) sowie: Bild der Völker. Die Brockhaus Völkerkunde in 10 Bänden, Bd.9,2. Teil; Wiesbaden ca.1974; Bernatzik, H. A. (Hg.), Neue Große Völkerkunde, Einsiedeln 1974; Gnuva P., Völker. Menschen und ihre Schicksale, Gütersloh 1974. Speziell bezüglich der Wogulen und Ostjaken vgl. das reizende Buch: Sokolowa, S., Das Land Jugorien, Leipzig 1982. - Einen Teil der Literatur verdanke ich Familie Rosenblatt, Berlin.

Man macht sich in Deutschland, wenn man von diesen Völkern überhaupt je etwas gehört hat, meist falsche Vorsteilungen davon. Diese Völker waren nicht ›primitiv‹, sondern verstanden es meisterhaft, mit den Unbilden ihrer Umgebung und dem extremen Klima fertig zu werden, und haben darüber hinaus eine reichhaltige Mythologie entwickelt. Ihre Geschichte, ihre ruhmreichen Kämpfe gegen die russischen Eindringlinge und ihre spätere Anpassung an die neuen Verhältnisse sind hierzulande nur in Fachkreisen bekannt. Allenfalls durch die Brockhaus Völkerkunde ist ein Schimmer vom Leben und Denken dieser interessanten Stämme auch weiteren Kreisen nähergebracht worden. Ihre Geschichte in volkstümlichem Stil muß erst noch geschrieben werden.

Ostjaken und Wogalen waren die Bezeichnungen für Chanten bzw. Mansen, die heute ca. 21000 bzw. 7600 Menschen zählen. Sie sprachen finno-ugrisch und waren der nördliche Zweig des Volkes, dessen südlicher zu den Ungarn wurde. Von den Russen wurden sie als Ob-Ugren oder Jugrier bezeichnet. Sie lebten und leben östlich des Ural in West-Sibirien entlang des Ob und seiner Nebenflüsse. Früher waren sie nomadische Pferdezüchter, Jäger und Fischer. Im 15. Jahrhundert übernahmen ihre nördlichen Teile auch die Rentierzucht. Als erste sibirische Völker hatten sie unter den kosakischen Eroberern zu leiden. Beide Stämme besitzen eine reiche Überlieferung an Mythen und Sagen. In der Gegend, in der Mays Abenteuer spielt, waren sie nicht zu Hause.

Die Samojeden (eine eigene Sprachfamilie), deren Hauptvertreter die Nenzen sind (heute 29000) ›erfanden‹ die westsibirische Rentierzucht und leben bis heute in der unwirtlichen Tundra und Taiga Nord-Sibiriens bis hinauf zum Karischen Meer und nach Nowaja Semlja, also weit von Mays Sibirien-Schauplätzen entfernt. Dasselbe gilt für die (turksprachigen) Sojoten (Tuwiner oder Urianchen, heute 139000) in Süd-Sibirien, an der Grenze der Sowjetunion zur Mongolischen Volksrepublik, die Weidewirtschaft trieben und als Jäger, Fischer und Ackerbauer lebten. Sie wurden durch ihre Schmiedekunst und Holzschnitzereien bekannt. Die Kalmücken schließlich waren ein westmongolisches Volk, das aus der Dsungarei (West-China) in das Gebiet nordwestlich des Kaspischen Meeres auswanderte, wo es heute noch größtenteils lebt (ca.120000).

Ein besonders interessanter Stamm waren die ebenfalls mongolischen Burjäten (Buräten) am Baikalsee. Von den in Mays Roman genannten Völkern sind sie, die Tungusen und die Jakuten in den richtigen geographischen Raum gesetzt. Die Burjäten, die den eindringenden Russen heftigen Widerstand entgegensetzten, lebten östlich des Baikalsees als Hirtennomaden (Rinder, Schafe, Pferde, Kamele), westlich davon betrieben sie überwiegend Ackerbau. Schamanismus und lamaistischer Buddhismus bildeten ihre religiöse Grundlage. Bezüglich ihrer reichhaltigen Geschichte und ihres


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Gemeinschaftswesens, mit dem sie russische Reformer inspirierten, muß vor allem auf Sarkisyanz a. a. O . verwiesen werden. Sie zählen heute rund 350000 Seelen. Etwas weniger (rund 300000) zählen die turksprachigen Jakuten (mit mongolischem Einschlag in der Sprache), die im Becken der mittleren Lena in 0st-Sibirien wohnen. Sie nannten sich ›Sacha‹, d. h. ›Menschen‹. Sie kamen vom Süden her; möglicherweise wurden sie durch die Burjäten abgedrängt. Sie nahmen das Rind mit in die neue Heimat (einschließlich Stallhaltung mit Heubereitung), das sich an das rauhe Klima anpaßte. Sie führten auch Pferdezucht und in einigen Tälern der Lena Ackerbau ein, und damit und mit ihrem Schuß nomadischen Geblütes - sie lebten als Halbnomaden - haben sie es verstanden, sich eine bessere Daseinsgrundlage zu schaffen als die alteingesessenen sibirischen Völker. Hoch entwickelt waren auch Töpferei, Eisenverarbeitung und - wie bei den Burjäten - Anfertigung von Silberschmuck.

In ihrer Wirtschaft und Kultur, im anthropologischen Typ und besonders in ihren Sprachen bildeten die sogenannten Paläoasiaten (früher nannte man sie Hyperboreer, die ›jenseits des Nordwinds Wohnenden‹) eine Gruppe für sich. Heute zählen sie zusammen keine 30000 Menschen mehr. Hierzu gehören die Tschuktschen, Korjaken, Kamtschadalen (Itelmen), Giljaken und Jukagiren - sie lebten von der Jagd, teilweise auch von der Fischerei oder - wie die Tschuktschen - von der Rentierzucht. Sie hausten im unwirtlichen Nordost-Sibirien, die Jukagiren lebten an der Angara, die Giljaken z.T. auf Sachalin. Der tragische Kampf der Kamtschadalen gegen die russischen Eroberer wurde durch die Anteilnahme des deutschen Forschers Steller um 1740 besonders bekannt. Die Tschuktschen konnten sich rühmen, teilweise von den ›Moskowitern‹ nie besiegt worden zu sein.

Am Mittellauf des Jenissei lebte und lebt das Jagd- und Rentierzüchtervolk der Keten, von denen es heute nur noch rund tausend gibt. Sie wurden früher Jenissei-Ostjaken genannt. Ihre Sprache weist keine Beziehung zu den übrigen sibirischen Sprachen auf; bemerkenswert ist ihr Gesichtsschnitt, der an die nordamerikanischen Indianer gemahnt.

Die übrigen Völker, die May nennt, können in diesem Rahmen nur mehr kurz gestreift werden. Die Aïnos gelten als der östlichste Überrest einer europiden Altschicht. Etwa 17000 leben noch auf Hokkaido, Sachalin und den Kurilen. Von den Kasachen - May nennt sie entsprechend dem damaligen Sprachgebrauch Kirgisen (damit identisch sind die Kirgis-Kaisaken) - gibt es heute noch etwa 5 Millionen, vor allem in Kasachstan; sie waren kriegerische, muslimische Hirtennomaden, und es dauerte lange, bis sie Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts befriedet waren. Zu Mays Zeiten nannte man die turksprachigen Kirgisen in Mittelasien Kara-Kirgisen; sie waren nomadisierende Vieh-, Schaf und Pferdezüchter und zählen heute etwas über eine Million. Unter Tataren verstand man unterschiedliche Völker, i. allg. heute jedoch ein turksprachiges Mischvolk (aus Mongolen, Türken, Resten anderer Turkvölker, Wolgafinnen und Ostslawen entstanden), wobei man vor allem die Muslims an der Wolga mit dem Zentrum Kasan vor Augen hat. 5,3 Millionen leben - zumeist als Ackerbauer mit hoher Kultur - im Wolgagebiet, auf der Krim und in Sibirien. Mit Bucharen meint May vermutlich die Bewohner Zentralasiens (Chiwa, Buchara, Samarkand, Taschkent etc.), also Usbeken und Tadschiken, die eine reichhaltige Geschichte und Kultur haben und auf die hier nicht näher eingegangen werden kann.

Es ist natürlich nicht auszuschließen, daß einzelne Vertreter der von May genannten Völker auch einmal zu einem Jahrmarkt ins ferne Sibirien kamen.

40 vgl. Ekkehard Koch, Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren . . . , a.a.O. (Anmerkung 11)

41 DHH 1588f.

42 ebd. 1606

43 ebd. 1658

44 ebd. 1668

45 ebd. 1869

46 ebd. 1904f.

47 Nach Hertslet, W. L. u. Hofmann, W., Der Treppenwitz der Weltgeschichte. Geschichtliche Irrtümer, Entstellungen und Erfindungen, 13. neubearb. Auflage. Berlin


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1984, 224, soll Wellington folgende Ordre ausgegeben haben: »Unser Plan ist ganz einfach: die Preußen oder die Nacht!« Die Überlieferung machte daraus den bekannten Spruch: »Ich wollte es würde Nacht, oder die Preußen kämen!«

48 DHH 1980

49 Johann Georgi (1729-1802) nahm teilweise zusammen mit dem Gelehrten Pallas Forschungen im Südosten Rußlands, im Altai-Gebirge und besonders rund um den Baikalsee vor. Zitat bei Gröper a.a.O. 207.

50 DHH 1674

51 ebd. 2237

52 beide Zitate bei Gröper a.a.O. 207f.

53 Bild der Völker a.a.O. (Anm. 39) 242

54 Schurtz a.a.O. (Anm. 18) 329

55 ebd.

56 DHH 1592

57 ebd. 1674

58 Sarkisyanz a.a. O. 366

59 DHH 1674

60 ebd. 1596

61 ebd. 1708, s. auch 1841

62 ebd. 2032

63 ebd. 1611, 1873

64 speziell Sarkisyanz a.a.O.

65 ebd. 394

66 DHH 1945. Auch die Burjäten wurden zum Kosakendienst herangezogen (vgl. Sarkisyanz a.a.O. 378f.)

67 DHH 1579

68 Gröper a.a.0.229

69 DHH 1581

70 ebd. 1999

71 ebd. 2298f.

72 zit. bei Sarkisyanz a.a.O. 384. Speranskij (1772-1839) war seit 1803 Staats-Sekretär beim russischen Reichsrat. Das von ihm neu organisierte Innenministerium diente den übrigen Ministerien bezüglich der Organisation als Vorbild. Von 1808 bis 1812 war er Direktor der Kommission für Zusammenstellung der Gesetze; 1810 ordnete er den Reichsrat neu, und in den folgenden Jahren war er der führende Reformator unter dem Zaren Alexander I. Die Neuordnung des Steuersystems, des Zivilrechts, der Kriminal- und Handelsgesetzgebung waren überwiegend sein Werk, speziell zwischen 1810 und 1812, als er Reichs-Sekretär war. Dies alles und seine Pläne, die Leibeigenschaft abzuschaffen, trugen ihm zahlreiche Feindschaften ein. Der Freundschaft mit Frankreich verdächtigt, wurde er 1812 gestürzt und auf brutalste Weise nach Sibirien verbannt. Es gelang ihm jedoch, sich zu rechtfertigen, und 1816 wurde er rehabilitiert. Drei Jahre später wurde er (bis 1821) Generalgouverneur von Sibirien, wo er eine neue Organisation und Verwaltung schuf. Er war der einzige Generalgouverneur Sibiriens, der sich auch der Eingeborenen annahm und für sie wichtige Verbesserungen veranlaßte. Sein ›Sibirisches Statut‹ galt bis 1917. Später (1826-1839) führte er als Leiter der Kodifikationsabteilung unter Zar Nikolaus I. die Kodifizierung und Edition der russischen Gesetze durch.

73 DHH 1856f.

74 a.a.O. 398

75 DHH 1860

76 Thomas a.a.0.71f.

77 DHH 1635

78 ebd. 1646

79 ebd. 1690

80 ebd. 1595

81 ebd. 1691ff.; vgl. die Zusammenfassung bei Schmiedt a.a.O. (Anm. 2) 146f.

82 DHH 1635ff.


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83 Thomas a. a. O. 64

84 Gröper a.a.O. 236

85 zit. bei Mayer a.a.O. (Anm. 31) 13

86 DHH 2091

87 ebd. 2212

88 ebd. 1950

89 ebd. 1579

90 ebd. 1605

91 ebd. 1583 u. 1753; Erwähnung von Irkutsk auch auf S. 1787

92 ebd. 2090; Werchneudinsk ist Hauptstadt der Burjätischen ASSR und heißt seit 1934 Ulan-Ude

93 DHH 1659f.

94 ebd. 1781

95 Nach Auskunft des Brockhaus-lnformationsdienstes, Wiesbaden, v. 31. 10. 84. Der Firma F. A. Brockhaus sei an dieser Stelle für ihre Nachforschung gedankt.

96 Für diese Auskünfte habe ich ebenfalls dem Brockhaus-lnformationsdienst zu danken. Ferner war mir bei der Suche behilflich Herr Peter Richter, dem ich für seine Mühe danke.

97 Thomas a. a. O. 58

98 vgl. z. B. Pierers Universal-Conversations-Lexikon (Anm. 28), Bd. 14

99 DHH 1582

100 ebd. 1602

101 ebd. 2018

102 ebd. 2184

103 ebd. 2177

104 ebd. 2145

105 ebd. 1946

106 ebd. 2016; vgl. auch 2020

107 Hoetzsch a.a.O. (Anm. 18), 91

108 Michail D. Skobelew (1843-82) hatte sich vor allem während der Eroberung Chiwas und dann als Leiter des Feldzuges gegen die Turkmenen ausgezeichnet. Letzterer war aufgrund des erbitterten Widerstandes der Turkmenen mit höheren Opfern auf seiten der Russen verbunden als die übrigen Eroberungszüge. Insgesamt waren mehrere hundert, möglicherweise sogar etwa 1100 russische Soldaten gefallen oder verwundet; an die 10000 Turkmenen kamen ums Leben - sie erlagen vor allem der russischen Artillerie, die mit Petroleum geladene Granaten verwendete.

Zur Geschichte der Feldzüge der Russen in Asien vgl. die Literatur in Anm. 18 (speziell Gitermann, Schurtz, Mirskij, Wartenburg sowie vor allem Sarkisyanz und Hoetzsch), ferner: Rohrbach, P., Die russische Weltmacht in Mittel- und Westasien, Bd. I der Monographien der Weltpolitik, Leipzig 1904. Insgesamt ist die Geschichte der Eroberung Zentralasiens durch die Russen hierzulande wenig bekannt; sie läßt sich durchaus mit der Expansion der Europäer in Amerika, in der Südsee usw. von der Härte gegen die Ureinwohner her vergleichen.

109 DHH 2069

110 ebd. 1656f.

111 ebd. 2041

112 vgl. besonders Hoetzsch, Sarkisyanz sowie Seton-Watson, H., The Russian Empire 1801-1917, Oxford 1967

113 Eine Ausnahme bildet die historische Jugenderzählung von Barbara Bartos-Höppner: Sturm über dem Kaukasus. Würzburg 1978. Von dieser Autorin stammt auch ein Roman für die Jugend über die Eroberung Sibiriens: Kosaken gegen Kutschum-Khan (Würzburg ca. 1975).

114 DHH 2105

115 ebd. 1829

116 ebd. 1648

117 ebd. 1895

118 ebd. 1922


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119 Einen Überblick über die Rolle der Deutschen in Rußland gibt L. Sievers: Deutsche und Russen. Tausend Jahre gemeinsame Geschichte. Stern-Bücher Hamburg 1980. Auf die Deutschen in Sibirien wird hier allerdings nur am Rande eingegangen. Die Geschichte der Deutschen im Kaukasus ist zusammengefaßt in: Krause, K., Das Deutschtum im Auslande, in: Die neue Volkshochschule. Bibliothek für moderne Geistesbildung, (4 Bde.), Bd. 2; Leipzig 1927 - dieses Werk entstammt dem Erbe von Herrn Hans Stemplinger (verschollen 1942) und wurde mir freundlicherweise von Frau Marie Stemplinger († 1972) überlassen (beide Hamburg). Folgende Ergänzung ist noch interessant: Nach R. Pipes: Rußland vor der Revolution. Staat und Gesellschaft im Zarenreich, München 1977, 187, waren von den 2867 Beamten, die zwischen 1700 und 1917 die obersten Ränge im Zarenreich innehatten, 37,6 % Ausländer, zumeist westeuropäischer und vorwiegend deutscher Nationalität. Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Frau Bertram, Essen.

120 DHH 1904

121 vgl. Koch, Ekkehard, Karl Mays Väter. Die Deutschen im Wilden Westen, Husum 1982

122 vgl. die Würdigung bei Hoetzsch a.a.O. 91ff.

123 vgl. zu dem Abriß der Geschichte der deutschen Forscher in Sibirien vor allem Scurla a.a.O. (Anm. 18). Dieses ausgesprochen hilfreiche Buch verdanke ich Herrn Peter Richter, Dresden.

124 A. Erman: Reise um die Erde, durch Nordasien und die beiden Ozeane in den Jahren 1828, 1829 und 1830, ausgeführt von Adolph Erman; Berlin 1833-1848. Im folgenden werden Auszüge des Berichtes zitiert, die veröffentlicht sind in Scurla a.a.O. 281-413

125 zit. in Scurla a.a.O. 264

126 in: Scurla a.a.O. 328

127 DHH 1589

128 ebd. 1945f.

129 in: Scurla a.a.O. 330

130 DHH 2230

131 in: Scurla a.a.O. 329f.

132 ebd. 325f.

133 ebd. 324

134 DHH 1780

135 ebd. 1603

136 ebd. 2041

137 ebd. 2207f.

138 in: Scurla: a.a.O. 322f.

139 ebd. 321

140 DHH 1972

141 in: Scurla a.a.O. 291f.

142 ebd. 352

143 1882 erschien in Dorpat ein wissenschaftliches Buch von Hiekisch: Die Tungusen. Ich halte es nicht für besonders wahrscheinlich, aber nicht für unmöglich, daß May es gekannt hat.

144 a.a. O. 388f.




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