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HANS WOLLSCHLÄGER

Das zweiundzwanzigste Jahrbuch



sollte nach dem Brauch, und diesmal besonders im Gedenken an den 150. Geburts- und 80. Todestag Karl Mays, mit einem Blick auf die Gewinne eröffnet werden, die der Forschung auch in diesem Jahr wieder zugewachsen sind, und es muß statt dessen mit der Meldung eines Verlusts beginnen, der sie besonders schwer getroffen hat: Heinz Stolte, erster Dissertant über Karl May und Gründungsmitglied unserer Gesellschaft, ist am 2. März 1992 gestorben: ein Gelehrter von besonderer Art, ein vielen von uns nahestehender Mensch.

   Er hatte sich, wie der von ihm lebenslang geliebte und bedachte Autor, einen Lebensabend bis ins 90. Jahr erhofft und konnte nun doch nur fast das 78. erreichen, obwohl er sich bis zuletzt im Vollbesitz seiner geistigen und körperlichen Energie fühlte: aus einer ganz plötzlich notwendig gewordenen Herzoperation ist er nicht wieder aufgewacht.

   Heinz Stolte wurde am 22. März 1914 in Huckingen bei Duisburg geboren. Nach seinem 1932 bestandenen Abitur studierte er an den Universitäten Königsberg, Halle und Jena die Fächer Deutsch, Geschichte, ev. Religionslehre, Philosophie und Erziehungswissenschaft und promovierte im Februar 1936, erst 21-jährig, in Jena >magna cum laude< zum Dr. phil. - mit einem »Beitrag zur literarischen Volkskunde«, dem es beschieden sein sollte, der Grundstein der akademischen Karl-May-Forschung zu werden: >Der Volksschriftsteller Karl May<. Dieses damals im Radebeuler Verlag veröffentlichte und seither wie kein anderes zitierte und gewürdigte Buch bildete den Ausgangspunkt einer reichen Gelehrtentätigkeit. Nach zwei Jahren Arbeit als wissenschaftlicher Assistent am Deutschen Seminar bestand Heinz Stolte 1938 >mit Auszeichnung< das Staatsexamen für das Lehramt an höheren Schulen in den Hauptfächern Deutsch und Geschichte und promovierte im Folgejahr mit einer Arbeit >Eilhart und Gottfried - Studie über Motivreim und Aufbaustil< zum Dr. phil. habil. Die Kriegs-Einberufung im November 1940 kostete ihn, wie viele andere, wertvolle Jahre, doch hatte er im Mai 1944 das Glück, aufgrund einer Verfügung zur Erhaltung des akademischen Nachwuchses nach Jena freigestellt zu werden, wo er als Universitätsdozent lehren konnte. 1946 wurde er dort zum außerordentlichen, 1949 zum ordentlichen Professor für Germanistik ernannt. Als er im Oktober 1949 einer Berufung als Ordinarius an die


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Humboldt-Universität Berlin folgte, nahm sein Schicksal eine Wendung: schon nach einem halben Jahr stellte er sein Amt »wegen versuchter widerrechtlicher Einschränkung seiner Lehrfreiheit« zur Verfügung und ging in den Westen, wo er als politischer Flüchtling anerkannt wurde. Die Folgezeit war für ihn nicht leicht: er arbeitete als Volksschullehrer, Handelsschullehrer und Lehrbeauftragter in Hamburg; 1953 wurde er dort zum Studienrat, 1957 zum Dozenten und endlich 1970 zum Wissenschaftlichen Rat und Professor der Universität ernannt. Diese Jahre waren außerdem von umfangreichen literarischen Aktivitäten geprägt: seit 1962 war Heinz Stolte zwanzig Jahre lang Erster Vorsitzender und zeitweilig Präsident der Hebbel-Gesellschaft und 1974-82 verantwortlicher Herausgeber ihrer Jahrbücher; 1969 half er die Dänisch-Deutsche Akademie in Hamburg begründen, deren stellvertretender Vorsitzender er seither war, und 1969 auch gesellte er sich zu den Gründern der Karl-May-Gesellschaft: ihrem Vorstand gehörte er bis 1987 an, und bis zum vorliegenden Band, dessen Fahnen er noch las und auf dessen Titel sein Name zum letztenmal steht, gab er ihre Jahrbücher mit heraus. 1976 wurde er Mitbegründer und Vorstandsvorsitzender der Hamburger Constantin-Brunner-Stiftung; auch ihre Schriftenreihe hat er als Mitherausgeber getragen. 1976 zog er sich von der aktiven Lehrtätigkeit zurück. Aber er wurde nur äußerlich >in den Ruhestand versetzt<; seine Aktivität blieb unermüdlich, und bis zuletzt bewegten ihn neue Pläne.

   Eine Fülle von Publikationen, 474 insgesamt, bezeugt Heinz Stoltes tätiges Gelehrtenleben. Sie können hier nicht alle verzeichnet werden; nur an seine wichtigsten Bücher sei erinnert. Drei von ihnen sind Friedrich Hebbel gewidmet, der ihm wie keinem anderen seine heutige Gegenwärtigkeit verdankt: >Friedrich Hebbel - Welt und Werk< (4 Essays, Holsten-Verlag, Hamburg 1965), >Friedrich Hebbel - Leben und Werk< (monographische Darstellung, Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 1977, 21987) und >Im Wirbel des Seins - Erkundungen über Hebbel< (22 Abhandlungen, Boyens & Co., Heide 1991). Mit dem Essay >Vom Feuer der Wahrheit - Der Philosoph Constantin Brunner< trat er für eine erneute Beschäftigung mit dem jüdischen Schriftsteller und Denker aus Altona ein (1968; um einen Essay zu Brunners Schopenhauer-Auseinandersetzung erweitert: Hansa-Verlag, Husum 31990); die Schrift wurde (1969) auch ins Holländische übersetzt. Drei Monographien verwirklichten in der Folge die Vermittlungsform, die Stolte immer als die ideale erschien, nämlich die kunstvoll verflochtene Einheit von biographischer, gesellschaftlicher und werkindividualer Geschichte: >Hermann Hesse - Weltscheu und


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Lebensliebe< (Hansa-Verlag, Hamburg 1971), >Detlev von Liliencron - Leben und Werk< (Husum Druck- und Verlagsgesellschaft, Husum 1980) und >Matthias Claudius - Leben und Werk< (ebd., Husum 1988) - dies letzte ein besonders persönliches Werk, das vielen als wertvollste seiner Schriften gilt. Die Arbeiten über Karl May schließlich haben die Geschichte unserer Gesellschaft durch alle 23 Jahre ihres Bestehens begleitet und geprägt: als Abhandlungen für die Jahrbücher wie als Festreden zu den Kongressen, bei denen Stoltes Auftreten zur festen Institution wurde. Sie bedürfen hier keiner Aufzählung, weil sie längst zum lebendigen, immer wieder zitierten Bestand der Forschung gehören; vor drei Jahren erschienen sie noch einmal als Sammelband unter dem Titel >Der schwierige Karl May - Zwölf Aspekte zur Transparenz eines Schriftstellers< (Hansa-Verlag, Husum 1989). Was Heinz Stolte als Redner auszeichnete, geben auch alle seine Arbeiten zu erkennen: die Fähigkeit, den Hörer und Leser gleichsam bei der Hand zu nehmen und fast unmerklich zu Einsichten gelangen zu lassen, sowie das Bestreben, den untersuchten Autor aus der abstrakten Ferne des bloßen >Forschungsgegenstands< in die persönliche Nähe zu holen und dem mitmenschlichen Verständnis zu erschließen. Dies geschah in einem Stil, der alle Tonlagen zwischen strenger Definition und humorvollem Parlando umfaßte und seine Vorträge und Essays über die Kunstwerke selber zu Werken der Kunst werden ließ. Sie werden bei allen, die ihn hörten und lasen, unvergessen bleiben.

   Die persönliche Trauer zu bekunden, die ich selber empfinde, die meine Kollegen im Vorstand bewegt, ist hier nicht der Ort. Nur Heinz Stoltes Mitarbeit in der Gesellschaft soll noch gedacht werden: sie war bereichernd und fördernd in allen Jahren. Viele Verschiedenheiten der Meinung wurden durch ihn geschlichtet, Konflikte gelöst, Krisen - besonders in den Auseinandersetzungen mit dem Karl-May-Verlag, dessen Inhabern er wie uns freundschaftlich verbunden war - zu einem guten Ende gebracht. Wohlwollen und Weisheit waren der Eindruck, den jeder empfing, der sich an ihn wandte. Seine großartige Selbstsicherheit bildete für viele eine Autorität; von vielen wurde sein Rat gesucht und dankbar angenommen. Wohl für alle Mitglieder darf ich sagen: Wir trauern um einen unersetzlichen Freund, Ratgeber und Förderer unserer Sache.

   Die Arbeit geht weiter; die Texte dieses Bandes mögen diesmal ohne Einführung für sich selber sprechen. Ihren Mittelpunkt bilden die Vorträge vom Wiesbadener Kongreß Ende September 1991, unter ihnen Heinz Stoltes letzter Festvortrag. Ich danke herzlich allen Beiträgern und Mitarbeitern.


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