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MARTIN NICOL

Karl May als Ausleger der Bibel
Beobachtungen zur ›Old Surehand‹-Trilogie*



I. Sprachspiele


›Old Surehand‹ habe ich jetzt, nach etwa drei Jahrzehnten, wiedergelesen. Damals war der Roman natürlich nicht als Trilogie auf dem Buchmarkt. Wie alle Jugendlichen habe ich Karl May nach der Bamberger Ausgabe gelesen, und da segelte der Mittelteil des Romans unter der Flagge von ›Kapitän Kaiman‹. Aber die wesentlichen Figuren und Geschichten der einen großen Story um Old Surehand waren doch auch in den damaligen zwei Bänden da. Ich habe jetzt gestaunt, wie viel noch vorhanden war in den verborgenen Abgründen meines Gedächtnisses von den Bildern, Figuren, Ereignissen in ›Old Surehand‹.1

  Wenn ich die Bände heute lese, freue ich mich natürlich zunächst, wie damals auch, an der spannenden Handlung. Zugleich aber bringt es mich ins Nachdenken, wie stark Karl May offenbar die Entwicklung meiner Persönlichkeit geprägt hat. Ich weiß nicht, wie sich meine religiöse Biographie heute darstellen würde, wenn ich nicht schon früh Karl Mays Reiseerzählungen verschlungen hätte.

  Als Textgrundlage für diese Untersuchung habe ich die ›Old Surehand‹-Trilogie gewählt. Zum einen gehört sie zu den vielgelesenen klassischen Reiseerzählungen Karl Mays, bevölkert von wichtigen Figuren der Wildwest-Erzählungen, allen voran Winnetou und Old Shatterhand. Zum anderen kommt der ›Old Surehand‹-Trilogie (1894-1896), vor allem im dritten Teil, eine Schlüsselstellung zu an der Schwelle zum Spätwerk Karl Mays. In meinem Kontext bedeutet das, daß die Zeichnung der Figuren an Tiefenschärfe gewinnt und daß gleichzeitig die religiöse Fragestellung immer stärker zu einem Faktor der epischen Dramatik wird.

  Für mein theologisches Interesse an ›Old Surehand‹ scheinen sich zwei methodische Optionen anzubieten. Ich könnte der religiösen Prägekraft, die Karl Mays Figuren auf den Leser ausüben, entwicklungspsychologisch nachgehen. Ich könnte aber auch, wie es in der Forschung offenbar überwiegend der Fall ist, biographisch vorgehen. Letzteres




* Vortrag, gehalten am 20. 9. 1997 auf der 14. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Erlangen.


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würde bedeuten, daß ich in historischer oder psychologischer Perspektive frage, wo die Religiosität der Romanfiguren in Person und Leben des Autors Karl May ihre Wurzeln hat. Beide Wege will ich hier nicht einschlagen. Vielmehr möchte ich dem Geheimnis der religiösen Prägekraft von Karl Mays Figuren näherkommen, indem ich nach den Sprachspielen frage, die der Autor, bewußt oder unbewußt, in seinen Texten veranstaltet. Genauer frage ich nach intertextuellen Bezügen zwischen biblischer Sprache und der Sprache Karl Mays. Welche Rolle kommt, so meine Leitfrage, den Fragmenten biblischer Sprache im literarischen Sprachspiel Karl Mays zu? Unter der Hand wird, wenn ich so frage, Karl May nicht nur als der religiöse Mensch in den Blick kommen, der er zweifellos war, sondern auch als ein Autor, den wir, seine Leserinnen und Leser, durchaus als wirkungsvollen Ausleger2 biblischer Texte ernstnehmen können. Auslegung der Bibel - das heißt für mich nicht primär, sie in ihren historischen Kontext zurückzuversetzen, sondern sie ins Leben hereinzunehmen, sie fürs Leben in Gebrauch zu nehmen. Wie Karl May solche Auslegung der Bibel betreibt, will ich im folgenden aufzeigen.



II. Sprache der Bibel als Ferment des Sprechens


Daß Karl May die Bibel besser kannte als vermutlich jeder von uns, braucht kaum eigens nachgewiesen zu werden. Seine Biographie enthält genügend Hinweise. Die Großmutter hatte mit ihren biblischen Geschichten eine frühe und tiefe Spur hinterlassen.3 In der Grundschule stellte Bibellesen einen zentralen Unterrichtsinhalt dar;4 darüber hinaus hatte der Vater ihn zu möglichst vollständiger Bibellektüre angehalten.5 Auch im Lehrerseminar zu Waldenburg war Bibelkunde zu betreiben,6 und bei den verschiedenen Aufenthalten im Gefängnis gehörten die religiösen Vollzüge zur Pflicht der Gefangenen.7 Der Glaube des als lutherischer Christ getauften Karl May war ebenso selbstverständlich wie intensiv von Sprache und Vorstellungswelt der Bibel geprägt. Es verwundert nicht, daß dann in seinen Romanen vielfach die Bibel zur Geltung kommt. Auch in der ›Old Surehand‹-Trilogie findet sich eine Fülle von biblischen Spuren. Old Shatterhand selbst, die Figur, in der Karl May sich porträtiert, erweist sich mehrfach als exzellenter Kenner der Bibel. Besonders schön ist das zu sehen an der großen Naturbetrachtung Old Shatterhands im Anblick der Rocky Mountains.8 Sie stellt geradezu ein Gewebe aus Bibelzitaten dar.

  Wie sehr in ›Old Surehand‹ die Sprache der Bibel zur Sprache des Autors May gehört, mag zunächst eine Beobachtung am Rande erhellen. Als Old Shatterhand und Old Wabble sich taktisch trennen, um Old Surehand aus der Hand feindlicher Indianer zu befreien, verabschiedet


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sich der Alte folgendermaßen: »Ja, vorwärts, Sir! Ihr sollt mit mir zufrieden sein. Ueber ein Kleines, so werdet Ihr mich nicht mehr sehen!« (I, 104f.). In den älteren Luther-Bibeln kündigt Jesus den Jüngern seinen Abschied mit den Worten an: »Über ein kleines, so werdet ihr mich nicht mehr sehen« (Joh 16, 16).9 Old Wabble, die religiöse Negativfigur des Romans, präsentiert sich hier zwar eindeutig mit einem Jesuswort im Mund, aber eine religiöse Absicht Karl Mays ist an dieser Stelle beim besten Willen nicht auszumachen. Vermutlich floß dem Autor die Sprache der Bibel unbewußt in die Feder. Dieser unspezifische Gebrauch ist die eine Seite der Bibelverwendung bei Karl May. Am anderen Ende der Skala steht das Bibelzitat, mitunter sogar ausdrücklich als solches gekennzeichnet. In einem der Gespräche mit Old Wabble, in denen es in Sachen Religion hart auf hart geht, beruft sich Old Shatterhand auf die Schrift: »Es wird Euch, wie die heilige Schrift sagt, schwer werden, gegen den Stachel zu lecken ...« (I, 403). Hier ist die Redensart ›wider den Stachel löcken‹ explizit als Bibelzitat kenntlich gemacht (Apg 26, 14).

  Auf dem Spannungsbogen zwischen jenem unspezifischen und diesem expliziten Bibelgebrauch reiht sich eine Fülle weiterer Möglichkeiten. Da gibt es beispielsweise die lange Rede des Farmers Harbour,10 der seine Sicht vom Wesen des Christentums mit vielen Bibelzitaten stützt. Oder es geschieht häufig im launigen Jargon des Freundespaares Pitt Holbers und Dick Hammerdull, daß ein Bileam oder die heiligen drei Könige,11 die Propheten Joel und Hosea12 oder der reiche Mann aus dem Gleichnis13 die Bühne des Romans bevölkern. Das alles kann freilich noch als Lokalkolorit verstanden werden, als Schilderung von Menschen in einem bibelfrommen Amerika. Der für eine theologische Karl-May-Interpretation wirklich interessante Bibelgebrauch scheint mir erst dort vorzuliegen, wo biblische Figuren, Geschichten oder Motive als Deutehorizont für die Ereignisse im Roman aufleuchten. Was ich mit einem solchen ›Deutehorizont‹ meine, mag ein Vergleich deutlich machen. Und zwar muß man sich den Roman und die Bibel wie zwei Folien auf dem Overhead-Projektor vorstellen. Erst wenn die Bibelfolie unter die Romanfolie geschoben wird, wenn also beide Folien auf die jeweils andere hin durchsichtig werden, dann erschließt sich der volle Sinn der Vorgänge im Roman. Und umgekehrt wird an solchen Stellen der Roman als Auslegung der Bibel wahrnehmbar. Um dieses Verfahren von lediglich theologisierender Spekulation abzuheben, ist auf die biblischen Spuren zu achten. Das Recht nämlich, die beiden Folien überhaupt aufeinander zu legen, ergibt sich daraus, daß in solchen Romanpassagen biblische Spuren deutlich auf die Hintergrundfolie Bibel verweisen.

  Wenn nicht alles täuscht, dann müssen wichtige Figuren in der Trilogie auf biblischer Hintergrundfolie interpretiert werden. Drei solcher Figuren greife ich für diese Untersuchung heraus: Old Shatterhand, Old Wabble und Kolma Puschi.


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III. Old Shatterhand contra Old Wabble


Für Old Shatterhand gibt es eine große Deutefigur in der Bibel: das ist Jesus selbst. Diese These ist nicht völlig neu.14 Aber die biblische Spurensuche nach Shatterhand-Jesus mag helfen, die Konturen dieser Identifikation nachzuzeichnen.

  In einem bereits erwähnten Streitgespräch mit Old Wabble reagiert Old Shatterhand erregt auf dessen Beharren auf einem ›Fact‹, einem Beweis also für die Realität des Glaubens:


»Ihr sagt, daß Ihr weder Gott noch Glauben braucht; ich aber sage Euch und bitte Euch, meine Worte wohl zu merken: Es wird Euch, wie die heilige Schrift sagt, schwer werden, gegen den Stachel zu lecken, und ich sehe es kommen, daß der Herrgott Euch einen Fact entgegenschleudern wird, an welchem Ihr zerschellen müßt wie ein dünnes Kanoe am Felsenrande ...« (I, 403).


›Ich aber sage euch ...‹: Das ist genau die Struktur der Rede Jesu in den sogenannten Antithesen der Bergpredigt (Mt 5, 21-48). Mit den berühmten Gegenüberstellungen nach dem Muster ›Ihr habt gehört, daß gesagt ist ...  I c h  a b e r  s a g e  e u c h  ...‹ beansprucht Jesus die ihm eigene Autorität. Old Shatterhand präsentiert sich, indem er, sprachlich identisch mit Jesus, in einer Antithese redet, als der autoritative Verkünder von Wahrheit. In diesem Fall prophezeit Old Shatterhand dem alten Wabble, was noch kein Mensch wissen kann: sein furchtbares Ende samt der möglichen Umkehr zum Glauben.15

  Wenn ich von der These ausgehe, Old Shatterhand sei vor dem Hintergrund der biblischen Jesus-Figur gezeichnet, dann stelle ich mir als Theologe die Frage, ob, dogmatisch gesprochen, nur die Eigenschaften der menschlichen Natur Jesu zur Geltung kommen oder auch die seiner göttlichen Natur. Natürlich gibt es Hinweise, daß der Figur des Old Shatterhand gleichsam göttliche Eigenschaften zugeschrieben werden. Karl-May-Lesern bekannt sind beispielsweise seine faktische Unverletzlichkeit, seine an Allwissenheit grenzende Umsicht oder sein wundersames Eingreifen in aussichtslos erscheinenden Situationen. Ich will diesen Zug an der Shatterhand-Figur wieder mit einigen biblischen Spuren belegen. So preist Old Wabble, als er noch zum Freundeskreis Shatterhands gehört, diesen mit den Worten: »Macht, was Ihr wollt; ich werde nicht wieder daran mäkeln. Und wenn Ihr Euch vornehmt, dem Monde auf die eine Backe eine Ohrfeige zu geben, so bekommt er von mir auf die andre Backe auch eine; denn was Ihr für möglich haltet, das ist auch möglich; th'is clear!« (I, 294)

  ›Was Ihr für möglich haltet, das ist auch möglich‹ - da klingt die Rede Jesu mit: »Bei den Menschen ist's unmöglich; aber bei Gott sind alle Dinge möglich.«16 Eine andere biblische Spur weist auf den Gedanken von der Sündlosigkeit Jesu. In Hebr 4, 15 heißt es: »Wir haben nicht ei-


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nen Hohenpriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.« Kolma Puschi rühmt Old Shatterhand, er sei ein »berühmtes Bleichgesicht ..., welches noch nie eine böse That begangen hat ...« (III, 184).

  Freilich, das alles sind Wahrnehmungen anderer. Zwar kann auch Old Shatterhand selbst, als er in Gefangenschaft geraten ist, verkünden: »... ich weiß, daß meine Zeit, zu sterben, jetzt noch lange nicht gekommen ist.« (III, 206) Da klingt wieder die Bibel durch, die von Jesus sagt: »(...) niemand legte Hand an ihn, denn seine Stunde war noch nicht gekommen.« (Joh 7, 30; vgl. 8, 20) Aber in der Regel ist Shatterhand selbst eher zurückhaltend. Als der Farmer Fenner die Blutsbrüder wie Berühmtheiten behandeln will, hält Old Shatterhand ihm entgegen: »Wir sind Menschen wie alle Menschen ...« (II, 640). Fast gleichlautend hatten sich Paulus und Barnabas in Lystra gewehrt, als man sie wie Halbgötter behandeln wollte: »Wir sind auch sterbliche Menschen wie ihr (...)« (Apg 14, 15). Und vollends da, wo sich der Autor Karl May hinter Old Shatterhand zu erkennen gibt, kommen keine göttlichen Eigenschaften ins Spiel, sondern eine ungewöhnlich starke, aber eben doch ganz und gar menschliche Frömmigkeit: Nicht wahr, lieber Leser, ich bin doch ein ganz übermäßig frommer Mensch? So wirst du vielleicht denken; aber du wirst dich da wohl irren. Uebermäßig? Nein! Die wahre Frömmigkeit kennt kein Uebermaß; sie kann überhaupt gar nicht gemessen werden ... (III, 342).

  Wie verbindet sich nun beides an diesem Shatterhand-Jesus: die übermenschlichen Züge und die ganz menschliche Seite? Karl May legt Old Shatterhand selbst die theologische Deutung in den Mund. Dieser hat soeben dem gefangenen Schiba-bigk eine eindringliche Predigt über die Feindesliebe gehalten und ihm Winnetou als leuchtendes Vorbild präsentiert. Danach aber stellt er sich selbst, ganz im stillen, die folgende Frage:

  Warum hatte ich ihm nur Winnetou, einen Menschen, einen Indianer, zur Nachahmung genannt? Gab es nicht höhere Vorbilder? Warum hatte ich nicht das höchste, das heiligste erwähnt? (I, 370).

  Mit dem höchste(n), ... heiligste(n) Vorbild ist natürlich Jesus gemeint. Zwei theologische Termini fallen auf: Nachahmung und Vorbild. Christus ist demnach das  ›V o r b i l d‹,  dem der Glaube nachzufolgen hat.17 Wir betreten mit diesem Hinweis den Bereich der ›imitatio Christi‹  (N a c h a h m u n g  Christi). Diese Ausprägung christlicher Spiritualität18 sieht im irdischen Jesus das entscheidende Vorbild für die Lebensgestaltung, ohne deswegen die menschliche Existenz mit göttlichen Eigenschaften schmücken zu wollen. Was nun in dem oben angeführten Zitat über Winnetou gesagt ist, er sei ein Vorbild zur Nachahmung, kann ohne weiteres für seinen Blutsbruder gelten: Old Shatterhand ist ein Mensch, der mit seinen Worten und Taten das Beispiel Jesu verkör-


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pert und so zum christlichen Vorbild wird, zum lebendigen Hinweis auf Christus selbst. Wir sahen, wie andere ihn als Vorbild so intensiv wahrnehmen, daß sie ihn mit nahezu göttlichen Zügen ausstatten. Und wir müssen zugeben, daß der Autor Karl May nicht ungern an Old Shatterhand, seiner eigenen Identifikationsfigur, diesen Zug ins Übermenschliche mit dicken Strichen nachzeichnete.

  Die Lichtfigur Shatterhand-Jesus wird von einer dunklen Gegenfigur kontrastiert. Natürlich spreche ich von Old Wabble, der mit Recht als die heimliche »Hauptfigur« der Trilogie hervorgehoben wird.19 Hartmut Vollmer hat, Mays Wort von unserer ideals- und glaubenslosen fin de siècle (III, 151f.) aufgreifend, ihn als Repräsentanten eines gottlosen Zeitalters gezeichnet. Vor allem hat er ihn, indem er einen tiefenpsychologischen Deutehorizont anlegte, als Personifikation dunkler Seiten des Autors Karl May verstanden.20 Auf unserer biblischen Hintergrundfolie freilich ergibt sich gerade für die dramaturgische Funktion des alten Wabble eine weiterführende Einsicht: Old Wabble ist zu verstehen vor dem Hintergrund des biblischen Judas. Auch diese These hat schon Gert Ueding vertreten.21 Mit einigen biblischen Spuren will ich die These vom Wabble-Judas konkretisieren.

  Zunächst gehört es zur biblischen Judas-Figur, daß er ein Apostat ist, einer also, der, bevor er sich zum Gegner wandelt, seinem Herrn und Meister bedingungslos nachfolgt. So ist das auch bei Old Wabble. Wir haben bereits gesehen, daß er zu Shatterhand-Jesus sagen konnte: »... was Ihr für möglich haltet, das ist auch möglich; th'is clear!« (I, 294) Dem Ton und der Struktur nach handelt es sich bei diesem Zitat und seinem unmittelbaren Kontext um ein Bekenntnis zum Herrn und Meister.22

  Einen kleinen biblischen Fingerzeig auf Judas erwähne ich nur im Vorübergehen. Im Johannesevangelium hält Jesus am  A b e n d  das letzte Mahl mit seinen Jüngern. Dabei identifiziert er Judas als den Verräter, von dem dann berichtet wird: »Als er nun den Bissen genommen hatte,  g i n g  e r  a l s b a l d  hinaus. Und es war  N a c h t«  (Joh 13, 30). Und in der ›Nacht‹, im Schein von Fackeln, kommt er dann wieder, zusammen mit der Schar derer, die Jesus gefangennehmen (Joh 18, 2f.). Judas, die Figur des nächtlichen Verräters, klingt mit, wenn Winnetou, mitten in den Vorbereitungen für das Abendessen (!) auf Fenners Farm, über Old Wabble sagt: »Sein Blick war Haß und Rache ... Old Wabble hat gesagt,  e r  g e h e  f o r t;   aber er kommt  i n  d i e s e r  N a c h t  zurück.« (II, 641; Hervorhebung M. N.)

  Von besonderem Gewicht für die Deutung der Figur des alten Wabble ist die Schilderung seines Todes. Ich komme auf ein besonders unerquickliches Detail zu sprechen: die Todesart. Die Indianer hatten ihn in eine gespaltene Fichte geklemmt: ... und nun steckte der unglückliche Alte in horizontaler Lage und mit entsetzlich zusammengepreßtem Un-


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terleibe, hüben die Beine und drüben den Oberleib hervorragend, in dem Spalt. (III, 488) Hartmut Vollmer deutet tiefenpsychologisch und schließt nicht aus, daß sich in der Zerquetschung des Unterleibs die Angst des alten Karl May vor sexueller Impotenz symbolisiert.23 In meinem intertextuellen Deutungshorizont eröffnet sich eine weitere Möglichkeit der Deutung. Und zwar bietet die Bibel eine legendenhafte Notiz über das Ende des Judas: »Er ist vornüber gestürzt und mitten entzwei geborsten, so daß alle seine Eingeweide hervorquollen.« (Apg 1, 18) Die Parallelität ist verblüffend: Bis auf den Sturz als Ursache stirbt Old Wabble im wesentlichen den Tod des Verräters Judas.

  Berechtigt die Todesart Wabbles dazu, vom Wabble-Judas zu sprechen, so ist doch gerade im Blick auf den Tod eine wichtige Differenz zwischen Judas und Wabble hervorzuheben: Old Wabble stirbt, im Gegensatz zu seiner biblischen Hintergrundfigur, im Frieden mit Gott. An dieser Stelle endet zwar die Deutekraft der Judasfigur, aber biblische Spuren können durchaus noch ein Stück weiterführen.

  Der Tod Old Wabbles hat bekanntlich ein Pendant: den Tod von Dan Etters. Beide sterben qualvoll, freilich mit einem religiös bedeutsamen Unterschied: Etters stirbt als Gottesleugner, Wabble dagegen als der, wie es ausdrücklich heißt, verlorene Sohn, der ins Vaterhaus zurückkehrt (III, 498; vgl. Lk 15, 11-32). Den Unterschied bringt Karl May auf eine kurze Formel: Old Wabble war ein Engel gegen ihn. (III, 565) Zwei Verbrecher also sterben zur selben Zeit einen qualvollen Tod - auf religiös entgegengesetzte Weise. Als biblischer Deutehintergrund bietet sich das Sterben der beiden Verbrecher an, die mit Jesus gekreuzigt worden waren. Der eine erkennt die Unschuld Jesu an, und ihm verheißt Jesus: »Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein.« (Lk 23, 43) Das ist, der Sache nach, dieselbe Verheißung, die Old Shatterhand dem sterbenden Wabble zuspricht: »Geht also heim in Frieden! Ihr habt im Traum das irdische Vaterhaus gesehen; es steht Euch nun die Thür des himmlischen offen.« (III, 500) Der andere Bösewicht des Romans, Dan Etters, wendet sich nicht zum Glauben. Er spie Shatterhand an (III, 565), wie die Soldaten Jesus »anspien« (Mt 27, 30), und noch im Sterben lästerte er Gott (III, 565), wie der Verbrecher am Kreuz Jesus »lästerte« (Lk 23, 39). Dan Etters starb, nach menschlichem Ermessen, erbärmlicher als die allerniedrigste Kreatur (III, 565), also in Gottesferne wie der andere Verbrecher am Kreuz von Golgatha.

  Ich habe die Konturen von zwei Hauptfiguren des Romans, Old Shatterhand und Old Wabble, vor dem Hintergrund der biblischen Gestalten Jesus und Judas nachgezeichnet. Shatterhand-Jesus und Wabble-Judas bestimmen in ihrem anfänglichen Miteinander und ihrem langen, heftigen Gegeneinander wesentlich die epische Dramaturgie. Der Leser nimmt, auf der Ebene des Wildwest-Abenteuers, teil am religiös zu


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begreifenden Kampf zwischen Gut und Böse einschließlich der Frage, ob denn der Böse nicht am Ende doch noch Gnade finden könne.

  Nun gibt es darüber hinaus Gestalten, die das Geschehen erheblich beeinflussen, die aber, im Roman wie im wirklichen Leben, noch niemals leicht zu fassen waren: die Engel. Biblische Spuren im Roman weisen auf ihre geheimnisvolle Präsenz.



IV. Vom Wind, von Engeln und Geschichten des Lebens


Als Old Shatterhand, noch ziemlich am Anfang der Trilogie, von Indianern gefragt wird, wohin er aufbrechen werde, antwortet er: »Frag den Wind, wohin er geht! Er weht bald hierhin, bald dorthin. So ist's auch mit dem Jäger des Westens, der nie heut sagen kann, wo er sich morgen befinden wird.« (I, 174) Das ist eine deutliche Anspielung auf das Johannesevangelium, wo Jesus beim nächtlichen Besuch des Nikodemus sagt: »Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist.« (Joh 3, 8)

  Freilich, die inhaltliche Differenz zwischen Karl May und der Bibel bei dieser »kleinen Bildrede«24 vom Wind springt ins Auge. Während sie bei Johannes auf das Wirken des Heiligen Geistes in der Taufe hinweist, steht sie im Fall des Westmanns schlicht für die Unbestimmtheit der Zukunft. Noch könnte es sich hier wieder um den Fall handeln, daß biblische Sprache dem Autor May gleichsam unter der Hand in die Feder fließt.

  Die Bibelstelle gewinnt freilich an Gewicht, wenn ich sehe, wie sie sich im Roman vor allem einer bestimmten Figur zuordnen läßt: Kolma Puschi, der Frau, die sich in die Männerrolle hinein verborgen hat. Sie kommt und geht - wie der Wind. Sie bzw. er benutzt dem neugierigen Dick Hammerdull gegenüber zweimal das Bildwort vom Wind: »Kolma Puschi kommt von daher und von dorther; er ist wie der Wind, der alle Wege hat.« (III, 187) Und wenig später bedeutet sie ihm freundlich, aber bestimmt: »Der dicke Mann scheint den Westen nicht genau zu kennen. Es ist da stets gut, wenn niemand weiß, woher man kommt und wohin man will.« (III, 188) In diesem Fall scheint Kolma Puschi selbst noch genau zu wissen, was ihrem Gegenüber verborgen bleiben soll, nämlich Herkunft und Ziel.

  Gegen Ende der Trilogie, als die Aufklärung der komplizierten Lebensverhältnisse Old Surehands unmittelbar bevorsteht, will Kolma Puschi wieder entschwinden. Old Shatterhand sucht sie bzw. ihn zurückzuhalten. Aber der geheimnisvolle Indianer vergleicht sich wieder mit dem Wind: »Er ist wie der Wind: Er muß dahin gehen, wohin er soll!« (III, 518)25 Hier hebt Kolma Puschi das Bild ins Religiöse. Der


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Wind und Kolma Puschi - beide unterstünden einer lenkenden Macht: Er muß gehen, wohin er soll!

  Das Bildwort vom Wind beschreibt jetzt einen Spannungsbogen, der von einer scheinbar unspezifischen Verwendung als bloßes Naturbild bis zum religiösen Gleichnis reicht. Der Autor selbst sagt klar, wie er das Bildwort versteht, nämlich dezidiert theologisch. Das wird deutlich an einer Stelle in der großen Naturbetrachtung Old Shatterhands im Anblick der Rocky Mountains:


Und die Winde, welche uns bei jeder Biegung des Weges entgegenwehten und die Wangen kühlten, sie säuselten uns zu: »Du weißt nicht, von woher wir kommen und wohin wir gehen; uns leitet der Herrscher aller Dinge. So ist auch das Leben des Menschen; du kennst weder seinen Beginn noch seinen Verlauf; der Herr allein weiß es und leitet es!« (III, 342)26


Jetzt ist völlig klar: Der Mensch ist wie der Wind. Gott allein kennt die Wege des Windes, die Wege des Menschen. Das Bildwort vom Wind steht bei Karl May im Dienst der Glaubensüberzeugung von der lenkenden Macht Gottes im Menschenleben (providentia Dei).

  Das Bildwort vom Wind verbindet sich in der Gestalt von Kolma Puschi mit einem Motiv, das in der Bibel, aber auch darüber hinaus vielfältig begegnet: das Motiv des geheimnisvollen Besuchers.27 Beim ersten Zusammentreffen denkt Old Shatterhand im stillen über das Geheimnis jenes Indianers nach: Er jagte bald hier und bald dort, und wo man ihn sah, da verschwand er, wie Schillers »Mädchen aus der Fremde«, ebenso schnell, wie er gekommen war. (III, 182)

  Diese kurze Reflexion enthält einen Hinweis, wie der geheimnisvolle Indianer zu deuten sei. Mit Kolma Puschi sei es, so Karl May selbst, wie mit dem ›Mädchen aus der Fremde‹ aus Schillers Gedicht: »Sie war nicht in dem Tal geboren, / Man wußte nicht, woher sie kam, / Und schnell war ihre Spur verloren, / Sobald das Mädchen Abschied nahm.« Ein Geheimnis, rational nicht aufzulösen,28 ist um dieses Mädchen. Sie kommt plötzlich, um ebenso unerwartet wieder zu verschwinden.

  Das Motiv des geheimnisvollen Besuchers begegnet in der Mythologie, im Märchen und eben auch in der Bibel. An einer biblischen Gestalt ist es besonders gut zu beobachten: an Philippus, der dem Kämmerer aus dem fernen Äthiopien unerwartet begegnet und ebenso unerwartet wieder entschwindet (Apg 8, 26-39). Ein Engel, so die Bibel, hatte ihm den Weg zu dem fremden Reisenden gewiesen, und der Heilige Geist selbst ist es, der ihn wieder entschwinden läßt: Da »entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Kämmerer sah ihn nicht mehr.« (Apg 8, 39)

  Derart geheimnisvoll verhalten sich in der Bibel Menschen, wenn der Geist sie führt, verhält sich der Auferstandene selbst, als er den beiden


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Männern auf dem Weg nach Emmaus begegnet, und verhalten sich - Engel aller Art. Sie kommen, oft kaum unterscheidbar von Menschen, und verschwinden, bevor man sie fassen kann. Muß Kolma Puschi auf biblischem Hintergrund als eine Engelsgestalt gedeutet werden?

  Zunächst ist festzustellen, daß die Engel-Thematik dem Roman alles andere als fremd ist. In einem langen religiösen Gespräch mit Old Surehand verteidigt Old Shatterhand die Engel als Bestandteile seines Kinderglaubens, die er sich auch als Erwachsener nicht nehmen lassen will: »Ich könnte Euch viel erzählen, von höchst sonderbaren Wünschen, die ich da dem lieben Gott vorgetragen habe; er hat seine Engel, und wenn es Menschen sind, auch solche Bitten zu erfüllen.« (I, 407)

  Wichtig ist der Zusatz: und wenn es Menschen sind. Karl May beläßt die Engel genau in jener Schwebe, die Schillers ›Mädchen aus der Fremde‹ ebenso kennzeichnet wie beispielsweise den Philippus der Apostelgeschichte. Engel - das sind Menschen, gehüllt ins göttliche Geheimnis, oder, umgekehrt, göttliche Boten in der Gestalt von Menschen. Schön entfaltet Karl May genau diese schwebende Engelsvorstellung in einer längeren Passage des dritten Bandes, in der er ausführlich über die Schutzengel nachdenkt.29

  Das Bildwort vom Wind hat uns auf die Spur des Gottes gebracht, der souverän die Lebensgeschichte der Menschen schreibt. Er lenkt sie wie den Wind, dessen Herkunft und Ziel er allein kennt. Ein hervorgehobenes Mittel der göttlichen Führung sind die Engel. Auch sie, Menschengestalten im göttlichen Geheimnis, kommen wie der Wind, um ebenso schnell, wie sie erschienen waren, wieder zu entschwinden. Mit der Vorstellung von Gott, der Lebensgeschichte schreibt und dafür, dann und wann, auch seine Engel einsetzt, steht der rote Faden der Trilogie in Rede. Es geht im Roman um göttlich gelenkte Lebensgeschichte,30 und zwar um die zunächst undurchsichtige Lebensgeschichte Old Surehands, wie sie sich nach und nach Old Shatterhand, den Lesern und auch Surehand selbst entbirgt.



V. Karl May als Ausleger der Bibel


Ich will nun ausdrücklich tun, was der Titel ankündigte und was ich bisher eher implizit verfolgt habe: Karl May würdigen als Ausleger der Bibel. Das soll nicht in allgemeinen Sätzen geschehen, sondern am Beispiel einer bestimmten biblischen Geschichte.

  Es gibt im dritten Band eine längere Erzählung des Farmers Harbour.31 Er erzählt, wie er und zwei Kameraden in einer wilden Berggegend unterwegs waren. Ein Kamerad stürzte ab, der andere kam in einem Wildwasser ums Leben. Er selber war zum Sterben matt:


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»Ich warf mich in das feuchte Moos nieder und hätte am liebsten weinen mögen. Wasser gab es ja, aber zu essen hatte ich nichts, denn mein Gewehrschloß war kaput; es war mir unmöglich, ein Wild zu erlegen, und so hatte ich schon seit zwei Tagen keinen Bissen über die Lippen gebracht. Die Mattigkeit überwältigte mich, und ich schloß die Augen, um zu schlafen und vielleicht nicht wieder aufzuwachen.« (III, 134)


Unversehens öffnet er doch noch einmal die Augen. Dabei entdeckt er Schriftzeichen im Fels, das Grab des Padre Diterico. Was er bisher erzählt habe, so Harbour, sei »noch gar nicht verwunderlich. Unbegreiflich« aber sei das, was ihm dann geschah (III, 135f.). Wieder war er vor Hunger und Mattigkeit dem Sterben nahe. Lediglich ein paar Pilze aß er, um dann sofort wieder einzuschlafen. Dann geschah es:


»Als ich abermals erwachte, war der Abend nahe; neben mir lag ein halbes, gebratenes Bighorn. Wer hatte es hingelegt? Das war gewiß eine nicht unwichtige Frage; aber ich legte sie mir nicht mehr als einmal vor, sondern griff zu und aß, aß, aß und aß, bis ich satt war und wieder ein- und bis zum nächsten Morgen schlief, wo ich gestärkt erwachte.« (III, 136)


Harbour suchte den freundlichen Retter, fand aber niemand und machte sich auf den gefährlichen Heimweg.

  Die Struktur der Geschichte ist einfach. Ein Mensch, völlig erschöpft, droht in einsamer Bergwelt einzuschlafen und zu sterben. Zweimal erwacht er auf wundersame Weise. Beim zweitenmal findet er neben sich gebratene Nahrung. Er kann sich ausreichend stärken und macht sich, ohne den Retter identifiziert zu haben, auf den Heimweg.

  Das ist genau die Struktur einer Geschichte aus dem Alten Testament. Hier ist es der Prophet Elia, der in der Wüste unter einem Wacholder sitzt und sterben will:


Und er legte sich hin und schlief unter dem Wacholder. Und siehe, ein Engel rührte ihn an und sprach zu ihm: Steh auf und iß!

  Und er sah sich um, und siehe, zu seinen Häupten lag ein geröstetes Brot und ein Krug mit Wasser. Und als er gegessen und getrunken hatte, legte er sich wieder schlafen.

  Und der Engel des Herrn kam zum zweitenmal wieder und rührte ihn an und sprach: Steh auf und iß! Denn du hast einen weiten Weg vor dir.

  Und er stand auf und aß und trank und ging durch die Kraft der Speise vierzig Tage und vierzig Nächte (...) (1Kön 19, 5-8)


Die Parallelität der beiden Geschichten ist evident. Karl May hat, so meine These, das Erlebnis des Farmers Harbour nach dem Muster der alttestamentlichen Geschichte gestaltet.

  Die These bestätigt sich, wenn wir sehen, daß eben jene biblische Geschichte Karl May mehrfach beschäftigt hat.32 Besonders aufschlußreich ist eine Stelle aus dem dritten Band von ›Im Reiche des sil-


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bernen Löwen‹. Hier legt der Kontext keineswegs die Bezugnahme auf Elia und sein Schicksal nahe.33 Im Rahmen einer Naturschilderung erwähnt Kara Ben Nemsi den Duft eines Strauches. Der sei identisch mit dem Wacholder des Alten Testaments. Zum Stichwort ›Wacholder‹ führt Karl May dann, nahe am biblischen Wortlaut, eine Kurzfassung genau der Episode an, die uns hier beschäftigt. So wichtig war ihm diese Geschichte, daß er sie den Lesern weitergeben wollte, obwohl er im Duktus einer reinen Naturschilderung keinerlei Anlaß dafür gehabt hätte.

  Karl May dürfte also die Harbour-Episode parallel zur biblischen Geschichte von Elia gestaltet haben. Das bedeutet für mich, den Leser des Romans: Nur wenn ich Karl May und die Bibel sozusagen gleichzeitig lese, wird die Episode aus dem Leben des Farmers Harbour durchsichtig für göttliche Regie in einem Menschenleben. Es könnte sein, daß dann, durch die Nach-Erzählung Karl Mays hindurch, die alte biblische Geschichte dazu einlädt, eigene Lebensgeschichte zu entdecken als eine Geschichte, in der Gott seine Hand im Spiel hat. So wird Nacherzählung zur Auslegung.

  Welchen Rang nun der Schriftsteller Karl May als Ausleger der Bibel einnimmt, möchte ich aufzeigen, indem ich seine Nach-Erzählung der Elia-Geschichte vergleiche mit der Kanzelrede zeitgenössischer Prediger.

  Der geheimnisvolle Engel der Elia-Geschichte hatte auf den Kanzeln in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen schweren Stand zwischen der Skylla von Kitsch und der Charybdis rationalistischer Erklärung. Für den Kitsch führe ich Friedrich Wilhelm Krummacher (1796-1868) an, ab 1853 Hofprediger in Potsdam, dessen Predigtsammlung zur Elia-Gestalt von 1828 bis 1874 sechs Auflagen erlebte und damit zu einer Art Erbauungsbuch wurde:


Zu dem schlummernden Propheten unter sein grünes Dächlein tritt leise und unvermerkt eine leuchtende Gestalt mit holdseliger Gebehrde. - Ein himmlischer Bote ist's. - Schweigend, mit einer Miene, als wäre es Liebe und Ehrerbietung zugleich, steht er eine Weile da vor dem Mann in der rauhen Haut, und sieht ihm freundlich in's bleiche, abgehärmte, schlummernde Antlitz. - Dann neigt er sich freundlich zu ihm nieder, rührt ihn an mit leiser Hand und spricht: ›Stehe auf, und iß.‹34


Frommer Kitsch - das war die eine Option, den Engel zur Sprache zu bringen. Die andere Option klingt wiederum erbaulich, ist aber im Kern rationalistisch. Sie löst das Geheimnis des Engels auf, indem sie es erklärt. Das Wirken des Engels wird auf die Ebene kleiner Alltagsfreundlichkeiten heruntertransponiert und dergestalt zur Nachahmung präsentiert. Ich führe Leopold Witte an mit einer Predigt von 1888: »O Dank allen den treuen Gottesboten, welche die müden Hände stärken


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und die strauchelnden Knie erquicken. Hier ein scheues, leises Wort der Zustimmung (...) Dort ein Händedruck, ein freundlicher Blick, oder ein Brief aus weiten Fernen (...)«35

  So löst sich das Geheimnis des Engels auf in frommen Kitsch oder erbauliche Erklärung. Umgekehrtes passiert mit Speise und Trank. Sie bleiben nicht einfach Nahrung, sondern sie werden kräftig spiritualisiert. Ich lasse wieder Friedrich Wilhelm Krummacher zu Wort kommen: »Das Brod und Wasser, womit Gott Seelen nährt in der Wüste, ist sein Wort. Aber auch dieses Brod muß Er selbst erst uns zubereiten und schmackhaft machen durch den Geist, geröstet muß es sein (...)«36 Ähnlich kann sich dann auch der Wacholderstrauch in geistliche Realität verwandeln: »Flüchtet auch ihr euch in das Schweigen der Einsamkeit, und ich will euch einen Wacholderstrauch zeigen, da werfet euch d'runter. Es ist das Kreuz. Ja, ein Wacholder, mit Dornen übersäet und Stacheln (...)«37

  Konkretes, Welthaftes wird aufwendig spiritualisiert, Geheimnisvolles eingeebnet. Ich will es bei diesen Hinweisen belassen und auf den Bibelausleger Karl May zurückkommen. Er ist, wie alle seine Bewunderer wissen, den Versuchungen der Moralpredigt keineswegs immer entgangen. Aber die Geschichte von Elia verwendet er mit künstlerischem Takt. Karl May hat die Bildwelt der biblischen Geschichte nicht durch kitschiges Detail, durch Erklärung oder fromme Anwendung zerredet. Er hat sich von eben jener Bildwelt anregen lassen zum Erzählen einer Geschichte, und zwar einer Geschichte aus dem wirklichen Leben: Todesverzweiflung bleibt Todesverzweiflung, Essen bleibt Essen, Lebensrettung bleibt Lebensrettung. Und letztlich bleibt auch der Engel ein Engel. Sicher, Karl May schloß, wie wir gesehen haben, in seinen grundsätzlichen Ausführungen zum Problem der Engel nicht aus, daß auch Menschen einander zu Engeln werden.38 Dementsprechend werden wir später erfahren,39 daß es Kolma Puschi, jene geheimnisvolle Indianer-Gestalt, gewesen ist, der oder die den Farmer Harbour in der Bergeinsamkeit vor dem Tode errettet hat. Aber wir haben an der Figur von Kolma Puschi auch gesehen, wie diese Gestalt literarisch in der Schwebe bleibt zwischen Mensch und Engelwesen, zwischen Mann und Frau: eine Gestalt, gleichsam ins Geheimnis gehüllt mit jenem biblischen Bildwort vom Wind.

  Ich fasse in drei Punkten zusammen, wie sich mir nach dem genauen Studium der ›Old Surehand‹-Trilogie Karl May als Ausleger der Bibel darstellt:

  1. Karl May interpretiert die Bibel  n a r r a t i v. Seine Reiseerzählungen können in wichtigen Passagen gelesen werden als ein Stück ›erzählender Theologie‹.40 An solchen Stellen reduziert Karl May die Wirklichkeit des Glaubens nicht auf abstrakte oder moralisierende Sätze, sondern er erzählt Geschichten des Lebens, Lebensgeschichten. In-


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dem sich Karl May in unaufdringlicher Weise der Sprechhilfe durch biblische Worte, Bilder und Geschichten bedient, bleiben diese Geschichten nicht eindimensional. Sie werden lesbar als Geschichten, in denen, wie auch immer, Gott Regie führt.

  2. Karl May bringt im Fall der Elia-Harbour-Geschichte keine ›Anwendung‹, die dem Leser vorschreiben würde, welche Moral er aus der Geschichte zu ziehen hätte. Karl Mays Erzählkunst eröffnet den Lesenden vielmehr einen weiten Raum. Er läßt ihnen mit seinen behutsamen Fingerzeigen die  F r e i h e i t, in der erzählten Geschichte wie in der eigenen Lebensgeschichte etwas vom Wirken Gottes zu entdecken.

  3. Solche Erzählkunst zieht die Lesenden durch  I d e n t i f i k a t i o n  in den erzählten Raum hinein. Man durfte sich mit dem Helden Old Shatterhand identifizieren, man mußte Old Wabble verachten und am Ende mit ihm fühlen. Nicht zuletzt lädt die Nebenfigur des Farmers Harbour zur Identifikation ein. Er gibt ein Beispiel, wie auch der Leser oder die Leserin die eigene Lebensgeschichte so erzählen könnte, daß Spuren Gottes kenntlich werden. Durch solche Identifikationen bei der Lektüre Karl Mays dürften vielfach, keineswegs nur bei mir, religiöse Prägungen abseits der Kanzel entstanden sein.

  Ich meine, so mein Fazit, Karl May dürfe mit gutem Gewissen als Ausleger der Bibel gewürdigt werden. Manchmal geht es auch bei ihm einigermaßen massiv zu; der erhobene Zeigefinger und die laute, direkte Rede mancher Predigt sind dann nicht fern. Aber oft genug gestaltet Karl May mit literarischer Kunst ein Stück erzählender Theologie. Das mag dann auch Predigt sein, aber von der feinen und seltenen Art.



1 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894; Ders.: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895: Ders.: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896; Zitatnachweise im Text mit Angabe von Band (I-III) und Seitenzahl

2 Vgl. zu meinem Verständnis von Schriftauslegung durch Schriftgebrauch: Martin Nicol: Engel im Kaffeehaus. Zur Schriftauslegung durch Lyrik. In: Kirche - Geschichte - Glaube. Festschrift für Hermann Pitters. Hrsg. von Hans Klein u. a.. Erlangen 1998, S. 310-19.

3 Vgl. Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Leben und Werk. Paderborn 1994, S. 45.

4 Vgl. ebd. S. 51.

5 Vgl. ebd. S. 55.

6 Vgl. ebd. S. 63.

7 Vgl. ebd. S. 96 u. ö.

8 Siehe May: Old Surehand I, wie Anm. 1, S. 339-42.

9 Lutherbibel 1912 (Die Bibel oder die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testamentes nach der deutschen Übersetzung D. Martin Luthers. Stuttgart 1912): »Über ein kleines, so werdet ihr mich nicht sehen«; Lutherbibel 1984 (Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers. Stuttgart 1984): »Noch eine kleine Weile, dann werdet ihr mich nicht m e h r sehen.« (Hervorhebung M. N.) Karl May dürfte die Bibel nach dem Gedächtnis angeführt haben. Seine biblischen Spuren interessieren nicht als wörtliche Zitate. Insofern ist es angemessen, wenn ich die biblischen Spuren im folgenden nach


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der Lutherbibel von 1984 zitiere, die wieder hinter die umstrittene Revision von 1973 zurückgeht. In Karl Mays Bibliothek in Radebeul befinden sich eine katholische Bibelversion und drei Übersetzungen nach Luther (1892, 1872 und o. J.). Auskünfte über die Bestände im Karl-May-Museum in Radebeul verdanke ich Hans Grunert, Kustos der Karl-May-Sammlung.

10 Siehe May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 127f.

11 Siehe ebd., S. 114.

12 Siehe ebd., S. 224f.

13 Siehe ebd., S. 235.

14 Vgl. Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1982. Husum 1982, S. 15-39; besonders S. 36f.

15 Siehe auch May: Old Surehand II, wie Anm. 1, S. 646f.

16 Siehe Mt 19, 16. Denkbar wäre als biblische Spur auch Mk 9,23: »(...) alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt«. Hier werden zwar prinzipiell alle Glaubenden durch die Aussage erfaßt. Im Kontext der erzählten Heilungsgeschichte aber deutet Jesus mit dem Wort primär sein eigenes Handeln.

17 In 1Petr 2,21-24 wird Christus als »Vorbild« (1Petr 2, 21; Vulg.: exemplum) kenntlich, dem man nachfolgen solle.

18 Vgl. Martin Nicol: Meditation bei Luther. Göttingen 21991, S. 120-24 u. ö. In Karl Mays Bibliothek in Radebeul befindet sich ein Exemplar der ›Imitatio Christi‹ des Thomas von Kempen. Als Beweis für das Interesse Mays an der ›Imitatio‹ zur Zeit der Abfassung von Old Surehand kann es aber nicht dienen. Es wurde erst im Jahr 1900 von einem Pfarrer Leusch Frau May zum Geschenk gemacht.

19 Walther Ilmer: Sichere Hand auf wackligen Füßen: ›Old Surehand‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 29/1976, S. 4-19 (14)

20 Vgl. Hartmut Vollmer: Die Schrecken des ›Alten‹: Old Wabble. Betrachtungen einer literarischen Figur Karl Mays. In: Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1995, S. 210-42 (220ff.) (zuerst in: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 155-184).

21 Vgl. Ueding: Die Rückkehr des Fremden, wie Anm. 14, S. 30.

22 Vgl. Mt 16, 16.

23 Vgl. Vollmer, wie Anm. 20, S. 236.

24 Siegfried Schulz: Das Evangelium nach Johannes. In: Das Neue Testament Deutsch. 4. Bd. Göttingen 41983, S. 57

25 Im übrigen greift Old Shatterhand geschickt das Bildwort auf, um Kolma Puschi zum Bleiben zu veranlassen: »Ja, er ist wie der Wind, den man wohl kommen fühlt; wenn er aber fort ist, weiß man nicht, wohin er ging«. (May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 518)

26 Vgl. insgesamt die Fülle der expliziten biblischen Spuren in dieser Naturbetrachtung ebd. S. 339-42.

27 Vgl. Dieter Wittmann: Philippus der Götterbote und der äthiopische Eunuch oder: Von der Individuation des verschnittenen Menschen. Tiefenpsychologische Auslegung zu Apostelgeschichte 8. In: Pastoraltheologie 72 (1983), S. 276-84, hier bes. S. 276f. zum Motiv des unbekannten Besuchers.

28 Vgl. das Gedicht selbst und die schöne Interpretation von Gert Ueding in: 1000 Deutsche Gedichte und ihre Interpretationen. Bd. 3. Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. Frankfurt a. M./Leipzig 1994, S. 25-29. Ich habe oben die zweite Strophe zitiert.

29 Siehe May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 150-57.

30 Siehe auch Gerhard Neumann: »Ich spreche überhaupt alle Sprachen, wie Ihr von früherher wißt«. Die Kunst des Anfangs in Karl Mays Romanen. In: Jb-KMG 1993. Husum 1993, S. 135-170 (163f.).

31 Siehe May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 132-36.

32 Vgl. Karl May: Geographische Predigten. In: Schacht und Hütte. 1. Jg. (1875/76), S. 165; Reprint Hildesheim-New York 1979, und Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898, S. 614f. An diesen Stellen geht es um 1Kön 19, aber nicht exakt um unsere Episode (vv. 1-8), sondern um


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die unmittelbare Fortsetzung mit der Gottesbegegnung Elias im »stillen, sanften Sausen« des Windes (vv. 9-13a).

33 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 159f.

34 Friedrich Wilhelm Krummacher: Elias der Thisbiter. Elberfeld 41851, S. 177f.

35 Leopold Witte: Der rechte Gott zu Zion. Predigten aus dem Alten Testament. Leipzig 1891, S. 26

36 Krummacher, wie Anm. 34, S. 181

37 Ebd., S. 169

38 Vgl. die oben zitierte Stelle aus I, 407.

39 Siehe May: Old Surehand III, wie Anm. 1, S. 526.

40 Vgl. Wohlgschaft, wie Anm. 3, S. 273.





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