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JÜRGEN HAHN


Last Exit to ›Dschinnistan‹
Ein Beitrag zur Konstruktion des ›Neuen Menschen‹ um 1900


Ein natürlicher, musterhafter Mensch ist ein Dichtertraum
Novalis: Dialoge 5



der in der Wendezeit zum zwanzigsten Jahrhundert in vielfacher Form - so grotesk wie heroisch - geträumt ward. Das Phantom eines ›musterhaften‹, eines ›Edelmenschen‹ ging um, zu dem sich der ›Gewaltmensch‹ emporzuläutern habe; gleichzeitig aber gibt der Glaube der Zeitgenossen an den zu schaffenden ›Neuen Menschen‹ eindeutig Auskunft über dieses »durch irgendeinen unaussprechlichen Zusammenhang« von Zucht und Ordnung generierte »Bedürfnis nach Totschlag«,1 das, weltgeschichtlich gesehen, nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Vignette des Erlöserbedürfnisses darstellt. Dieses manifestiert sich in Begriffen wie ›Reich‹ und ›Edelmensch‹, an denen, gerade weil sie mit einer höchst kontingenten ideengeschichtlichen Hypothek belastet sind, kein Weg vorbei führt, will man erfassen, wie die Menschen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sich ihren weltanschaulichen Hausrat finanzierten. »Größeres Gewicht als den oft schnell wechselnden und gelegentlich nahezu austauschbaren politischen Optionen kommt den Erfahrungen der Modernisierung und deren Verarbeitung in Phantasien über das Zeitalter zu.«2 Was das heißt, wird man, den Stand der Dinge zu erkunden, gerade auch bei den ›poetae minores‹ nachfragen müssen. So erweist sich das Spätwerk von Karl May (der Autor stirbt 1912) in seiner für den Roman des 19. Jahrhunderts typischen öffentlichen Form intimer Kommunikation geradezu als ein Laboratorium im Umgang mit Phantasien, als penetrant kryptopolitische Erzählwelt: und das um so mehr für den, der ihr ästhetisch nur einen mediokren Status zubilligen will. Die Kunst des Genies kann, zumindest zeitweise, den Zeitgeist überwinden. In zweitrangigen Werken hingegen findet sich ein genaues Abbild ideologischer Obsessionen einer Zeit, werden oft mit erschreckender Klarheit Ideen ausgebreitet, die zu den monströsesten Klischees ihrer Epoche zählten. Dazu gibt es buchstäblich Illustrationen und Kunstwerke aus ganz Europa, die sich, unterstützt durch pseudo-intellektuelle Aufsätze und Bilder, mit den gleichen Voreingenommenheiten beschäftigen: Geschlecht, Klasse, Rasse und Mystizismus. Man wird freilich für Mays spätes Schaffen zugeben müssen,



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daß, verglichen mit dem letzten, den drei ersten Themen kaum mehr als applikative Funktion zukommt.

Dennoch wickelt gerade die Bilderwelt dieser letzten Erzählungen Mays - und nur ein flüchtiger Blick auf das Gesamtwerk bestätigt, daß sie sich schon im frühen und mittleren Werk gleichsam maskiert vorfindet - Mythen, Symbole und Phantastereien von unheimlicher politischer Kontingenz ab. Unheimlich deshalb, weil Phantasien einen Status historischer Kausalität erlangen können, wenn sie in Glauben und Werten von sozialen Gruppen verankert werden. Man kann sie als wichtige Symptome für bevorstehende kulturelle Veränderungen und politische Prozesse betrachten. Sie zu beleuchten, folgen wir dem Ruf: Empor ins Reich der Edelmenschen!3 des Fackelträgers populären Fortschritts, wie er um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert auf seinem Weg durch Nacht zum Licht, in nietzscheanischem Überschwang blitzartig das nächtliche Firmament bürgerlicher Schläfrigkeit und Vertröstung stürmend, den Weg nach Sitara weist, und nähern uns ihnen zunächst auf dem Boulevard der Alltagsmythen, an dem sich die dschinnistanische Herberge als ein hochtechnisiertes Casino der Happy-Few präsentiert, ein Grandhotel, dem Schloß des Schech el Beled zum Verwechseln ähnlich. Noch 1912 fand es in Karl May einen erbaulichen Agenten, der luxuriöses Wohnen über dem Abgrund verhieß.4


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Vor wenig mehr als hundert Jahren, am 14. April 1900, lernte die Treppe öffentlich das Laufen. Der Prototyp des von George Wheeler entwickelten ›Escalator‹ war eine Attraktion der Pariser Weltausstellung. Und der Andrang des Publikums war so groß, daß die Herstellerfirma der ersten Rolltreppe der Welt für eine Probefahrt zehn Centimes verlangen konnte. Aber schon 1896 hatte der ›Endless Conveyor or Elevator‹ des Ingenieurs Jesse W. Reno, dessen Transportleistung 9000 Personen je Stunde betrug, im New Yorker Vergnügungspark Coney Island Premiere. Der ›Elevator‹ transportierte die Passagiere auf gummierten Holzplanken. Halt fanden sie an einem beweglichen Handlauf aus Plüsch. Wen der Mut bei dieser Art Himmelfahrtskommando verließ, der konnte auf eine parallel geführte gewöhnliche Treppe wechseln. Unkomfortabel war eine Fahrt mit dem Fließband vor allem deshalb, weil die Füße der Passagiere entsprechend der Steigung der Diagonale nach oben angewinkelt waren.

Mochte das zunächst noch wenig kommod sein - was tat's! Dem zunehmenden Massenandrang auf dem Weg nach oben, dem der elitäre Vertikaltransport in der Liftkabine nicht gewachsen war, öffnete sich somit ein ausreichendes Ventil: empor in die Konsumetagen. Denn Wirkungsstätten dieser im wahrsten Sinne des Wortes erhebenden Installationen waren vor allem die Kaufhäuser, aber auch die Vergnügungsparks, die rasch einmal



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den Charakter von Ersatzparadiesen annahmen. Hier zelebrierten die Mengen den Aufstieg in die Einkaufsparadiese und stellten so ihren Anspruch auf einen Platz an der Sonne - metaphorisch - zur Schau. Das Zeitalter zeigte sich von einem Höhenrausch erfaßt, den, ihre Existenzlust zu steigern, die Massen in der Beletage der Konsumtempel der Metropolen, die Eliten mutatis mutandis in den Hotelpalästen des alpinen Hochgebirges zu befriedigen suchten. Hinter der materiellen Gestikulation verbarg sich ein spirituelles Bedürfnis. Denn im Trivialmythos von der Rolltreppe vereinigt sich allegorisch alles, was das Lebensgefühl des vorletzten Fin de siècle ausmacht, das zwischen Abgrundahnung und Luftschifferglück pendelnd nach einem Wort von Hermann Glaser »den Kohlepreis aufs Seelische hin zum Transzendieren brachte«:5 zuvörderst jener Drang nach oben, den 1871 - im Jahre der Reichsgründung - Conrad Ferdinand Meyer im Versepos ›Huttens letzte Tage‹ als Imperativ: »Empor ins Licht!«6 thematisierte und den 1912 - im Abendrot eben dieses Reiches - Karl May als Titel seines Wiener Vortrags ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ symbolistisch instrumentalisierte.

Dazu ist zu vermerken: ›Empor!‹ war die Devise dieses Zeitalters: ein Aufruf freilich eher eskapistischer als realistischer Natur. Aus den Niederungen, den Ussulistans und Ardistans, der Demontage des theologischen, mithin anthropozentrischen Weltbildes, aus den Devastationen jener drei von Freud diagnostizierten ›großen Kränkungen‹ der ›naiven Eigenliebe‹ des Menschen durch die Wissenschaft: jener durch Kopernikus, Darwin und ihn selbst verursachten, aus der Ohnmacht oder Arroganz, sie nicht verarbeiten zu können oder zu wollen - aus diesem öden Tiefland metaphysischer Verarmung und technizistischen Totalitarismus galt es zu entkommen: die Jakobsleiter - engelgeschützt (1. Mose 28, 12) - oder auch die Rolltreppe hinauf in das Hochland geistiger Tröstung - Dschinnistan gehört dazu -, wo so mancher Prophet, Visionär, Führer und neuer Heiland seiner Gemeinde neue Siedlungsgebiete versprach - und mochte es auch nur ein Hotelier oder schlimmstenfalls nur ein Kellner sein, der seine kranke Kundschaft in den Sanatorien des Hochgebirges zur Kur empfing, oder ein verhinderter Maler, der ihren Gesichtskreis mit idyllischer oder auch heroischer Postkartenkonfektion staffierte. - Die Zeit erwies sich für Surrogate empfänglich: banal oder erhaben - sie mußten nur über den Wolken - oben! - die Verheißungen verwalten, die auf Erden ein Überleben sinnvoll zu machen versprachen. Dieser himmelstürmende Drang, nach ›Wolkenkuckucksheim‹ zu emigrieren, fand gleichzeitig in dem ikarischen Unternehmen Ausdruck, das sich damals endlich verwirklichen ließ: dem Flug, genauer dem Vogelflug. Für Otto Lilienthal endete er 1896 noch ganz nach den Maßgaben des Mythos, nämlich tödlich; am Reichsparteitag 1934 in Nürnberg - in Form einer korrumpierten Theologie - transportierte er in der Anfangsszene von Leni Riefenstahls Propagandafilm ›Triumph des Willens‹ die Vision eines im Flugzeug herabschwebenden Erlösers Hitler,



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am von Karl May 1910 als Menschheitsberg verklärten Mount Winnetou lenkte der Indianer Junger Adler


seinen Flieger wie ein sicher gehendes, äußerst gehorsames Pferd. Er glitt einige Male in Bogen- oder Schlingenformen vor mir hin und her ... und entfernte sich so schnell, daß er schon nach kurzer Zeit meinem Auge als kleiner Punkt entschwand. Das versetzte mich in eine ganz eigenartige Stimmung. Ich fühlte mich als Mensch so stolz, und doch auch wieder so klein, so außerordentlich klein! Es lag in mir wie ein Sieg über alles Hemmende und Niedrige und doch auch zugleich wie eine Angst, ob das Große, was wir uns vorgenommen hatten, wohl auch gelingen werde.7


Das Tremolo ist verräterisch, und um es gleich vorwegzunehmen: aus der Sicht vom Jahrhundertende auf den Jahrhundertanfang ist dieses Große - die Expedition nach Dschinnistan wohl - gründlich mißlungen.

Dazu hat die Angst - von ihrer Wirkung wird noch zu sprechen sein - das Zeitalter zu sehr im Griff, gezeugt aus dem Konflikt zwischen Technikstolz und reaktionärer Mutlosigkeit, einem geistigen Reduktionismus, der, in Furcht vor den destruktiven Folgen der Technik, sein Heil im Antidot der Atavismen und Mythologien sucht, deren Antimodernismus den ideologischen Wahn gebiert, den Stupor, es möchte über den Wolken das Paradies sich als nicht mehr denn eine gemalte Wand erweisen und es möchten die Sterne - nach einem Hegel zugeschriebenen Wort8 - ›nur ein leuchtender Aussatz am Himmel‹ sein, last Exit to Dschinnistan in eine Sackgasse führen.


»Sobald ich das Thor hinter mir hatte, blieb ich, mich umschauend, halten. Wie groß war mein Erstaunen, als ich nichts, aber auch gar nichts zu entdecken vermochte, was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Ich befand mich in einer unbeschreiblich kahlen, öden, leblosen Traurigkeit. Man hatte es nicht einmal für der Mühe wert gehalten, die Innenseite der Mauer ebenso zu bemalen wie die äußere. Die Malereien da draußen waren angebracht worden, durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken. Da man aber keinen, der das Chabl el Milal hinter sich hatte, wieder zurückkehren ließ, so hielt man es nicht für nötig, diese Beschönigungen dann im Paradiese fortzusetzen. Ich sah weder Baum noch Strauch. Kein Wasser floß. Kein Weg war zu erkennen. Nichts als verwehte Spuren im ausgetrockneten, unfruchtbaren Sande, so lag vor meinen Augen das sogenannte Eden, von welchem die ›Erleuchteten des Herrn‹ in hundert Zungen der Verzückung sprachen! Es mußte jedem Fuße grauen, einen Vorwärtsschritt in diese wüste Hoffnungslosigkeit zu wagen.«9

Karl May hat 1903 einen schonungslosen Ausblick auf ein Dschinnistan als die Abraumhalde menschlicher Verlogenheiten beschrieben. Er gestaltete damit eine Obsession der Epoche, die ihre Angst, über die letzte Ausfahrt in eines der noch verbliebenen Reservate und Paradiese vermeintlicher Sinnerfüllung - sei es solcher des Nationalismus, Kommunismus, Sozialismus, Ästhetizismus, der Kunstreligionen, der heroischen Zirkel der Einge-



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weihten, der nietzscheanischen Weltübermenschen, der Mystagogen und Ersatzheiligen, der spirituellen Cagliostros und Mesmer-Jünger -, beim Surfen also durch verschiedenste utopische Auslaufmodelle in den Entsorgungsarealen theologisch-philosophisch-ideologischer Konstrukte zu landen, die dieses unterschwellig rumorende Unbehagen mit dem Arrangieren immer neuer, zugegeben pittoresker und origineller weltanschaulicher Kulissen zu sublimieren versuchte. Eine der beliebtesten Soffitten - mit ehrwürdiger Tradition - war das Hochgebirge, das sich schon topographisch am besten dazu eignete, dem Weltflüchtigen den Ausblick auf eine nihilistische Unendlichkeit zu verstellen und gleichzeitig die Nähe des Göttlichen zu garantieren. Wo, wenn nicht auf der Berge Gipfel, war seit Mose und des olympischen Zeus Zeiten die Gottheit zu orten?



M a l o j a


They were beautiful mountains but they were hard. She did not think they would forgive many mistakes.
Stephen King: The Shining


Empor ins Reich der Edelmenschen! Das ist zunächst eine montane, eine bergsteigerische Metapher, die um die Jahrhundertwende weltanschauliche Konjunktur hat und der sich auf der ideologischen Metabühne das Erlöserdrama verbindet. Beides ist Gestalt geworden auf einem überlebensgroßen Wandgemälde in der Vorhalle des ›Rammelsbergs‹, jenes altehrwürdigen Silberbergwerks bei Goslar, als Allegorie des Steigers, frontal mit nacktem Oberkörper ekstatisch die Arme reckend. Die ›Lichtgestalt‹ des Fidus gibt für diesen Erlöser, der die Wirklichkeit der Bergleute verklärt, das Vorbild ab. Von beidem ist zu handeln: zunächst vom alpinen Bereich, den Gletschern als Glacis, über die der Weg »in eine vermeinte Einheit«10 führt, die Dschinnistan (ver)heißt.


Das Hochland ... ist gebirgig, gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes, ein Garten Eden, ein Paradies. Man nennt es Dschinnistan. Dschinni heißt Genius, wohltätiger Geist ..., und bildlich bedeutet es den angeborenen Herzenstrieb nach Höherem ... Dschinnistan ist also das Territorium der wie die Berge aufwärtsstrebenden Humanität und Nächstenliebe, das einst verheißene Land der E d e l m e n s c h e n .11


Tiefland-Hochland: die uranische Kulisse hat ehrwürdiges Alter. »Vom Himmel kommt es, / Zum Himmel steigt es« (Goethe12) - und zwischendrin: der Mensch, von seinem Schöpfer ausgesetzt und der Ethik dieses Berglandes überlassen:



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ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor in quam malueris tu te formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare, poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari.13


Das allegorische Hochland ›Dschinnistan‹ ist zunächst die Region göttlicher Inspiration (»superiora quae sunt divina«), wo ein gnostischer Dualismus Regie führt und ein Garten Eden, ein Paradies in den Orient verweist, Persien als ›Reich des silbernen Löwen‹ imaginiert. Hier sind die Menschen religiös und streben zum Licht. Lexikalisch heißt das: auf einem Hochplateau von durchschnittlich 1500 Metern weist der kosmische Magnetismus der Sonne möglicherweise eine stärkere Anziehung auf als die Schwerkraft des Erdkerns, die ihre Bewohner hinab zur Materie zieht. Auf der sich über anderthalb Millionen Quadratkilometer erstreckenden Hochebene Irans ist die Sonne faßbarer, das Licht heller als in den meisten anderen Ländern. Es ist ein uraltes Licht, die Urenergie, aus der der Religionsstifter Zarathustra einst die Welt entstehen ließ. Ahura Mazda nannte er diese Energie: Schöpfer, Erhalter und Zerstörer der Welt. Am Anfang, so lehrte Zarathustra, stand die Urkraft aus Licht und Klang, das Wort, das im Kusse des Sonnenstrahles, in Glauben und Kunst als dem angeborenen Herzenstrieb nach Höherem Gestalt annimmt.

Hier erscheint das Hochgebirge als Grenzgebiet zum Göttlichen, und schon früh bedienen sich Mythos und Tourismus einträchtig der Alpen als eines prominenten Exempels aus den Musterbüchern coelester Erhabenheitstopographie: zum Beispiel Hölderlin, der sich zur Entfaltung seiner mythischen, organologischen Naturansicht vor allem die schweizerischen Gebirgspanoramen instrumentiert. In Hölderlins Vision ist die Aura des Erhabenen, welche das bisherige - auf Haller zurückgehende - Alpenbild bestimmte, verwandelt in den Glanz des Schönen. In der Hymne ›Patmos‹ bezeichnet er das Gebirge als »hochgehoben, ein silbern Geländer«,14 womit er zwar die Gipfel Asiens meint, für sie aber die schweizerischen Churfirsten als reales Modell nimmt, wie Lothar Kempter überzeugend nachweist.15 In der Sicht der organologischen Natur- und Kunstphilosophie Schellings und Hölderlins wechseln die Alpen aus dem kategorialen Bereich des Erhabenen in den des Schönen, in dem sich das Vollkommene, letzten Endes das Göttliche manifestiert.

Die gleiche Überblendung von schweizerisch-alpinem und iranisch-asiatischem Hochland vollzieht sich auch in den Prospekten Dschinnistans. Hier wie in der alpinen Inszenierung Hölderlins und in seiner Gefolgschaft der Landschaftsmalerei des neunzehnten Jahrhunderts - vor allem Caspar David Friedrichs - liegt das Göttliche transmontan. Hölderlin ›malt‹ in der Elegie ›Heimkunft‹ regelrecht die Szenerie: »Ruhig glänzen indeß die silbernen Höhen darüber, / Voll mit Rosen ist schon droben der leuchtende Schnee. / Und noch höher hinauf wohnt über dem Lichte der reine / Seelige Gott vom Spiel heiliger Stralen erfreut.«16 Der Wandernde nach Dschin-



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nistan bewegt sich in dieser äußerst dünnen, äußerst lichten Höhenluft. Wir aber wendeten unsern weitern Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unsrem hohen, weiteren Ziele zu.17Intendiert ist hier natürlich auch allegorisch eine ›Heimkunft‹ über ein platonisches Itinerar, um dem Göttlichen zur Seite in einer Art Ideenteichoskopie die Ideale des Friedens zu erschauen. »Und der Horizont / Ein silbern Geländer«:18 Dort ... sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. (34, 403A)19

Die alpine Kammlinie, deren Macht 1757 schon Edmund Burkes Abhandlung über das Erhabene huldigte, ist der Logenplatz der göttlichen Inspektion. Insofern erscheint der Titel von Hölderlins Elegie ›Heimkunft‹ durchaus doppeldeutig: im gnostischen Sinne eine ›Heimkunft‹ der Seele zu ihrem Ursprung, in der Terminologie des Origenes eine ›Apokatastasis‹. Und als Zeichen ihrer Verwandtschaft mit dem Göttlichen wird im Zeichen der Sonne über das Wasser der Seele der rote Teppich ausgerollt: der Führer nach Dschinnistan bemüht den Glanz des katzenmächtig springenden, ja zarathustrahaft tanzenden Tagesgestirns als Evokation des Transits ins Empyreum:


Zu gleicher Zeit zuckte es im Osten leuchtend auf. Die Sonne erschien. Sie erschien nicht nach und nach, sondern sie stand gleich mit einem Male über dem Horizonte. Nun lagen nicht nur die Kuppen und Spitzen im Morgenrot, sondern das Rot verwandelte sich in flüssiges, ganz plötzlich wie vom Himmel niedersinkendes Gold, und das ganze Gebirge und die ganze, um uns sichtbare Welt stand in hellem, glücklichem Tagessonnenlichte. (35, 923A)

Sprachmächtig hat das der Visionär auf ›Patmos‹, der sich ›Asia‹ als das gelobte Land imaginiert, schon getan: »Im goldnen Rauche blühte / Schnellaufgewachsen / Mit Schritten der Sonne / Mit tausend Gipfeln duftend / Mir Asia auf (...)«.20 Das tut es dann auch - den Vorhof zum Empyreum mit Dante entliehenen Bildern ausmalend - für die Reisenden nach Dschinnistan, indem auch ihnen über den Wassern der rote Teppich leuchtet und damit ihren Eintritt in den Bereich des Göttlichen legitimiert. Erstmals wird dieser ›rote Teppich‹ im Jahre 1850 in der ›Königlich-Preußischen Ceremonialverordnung‹ für Krönungen, die Erhebung in den Adelsstand und die ›Reception regierender Souveräne‹ erwähnt. Seine Funktion ist mythischen Ursprungs, sahen doch schon Kelten und Germanen im Blutrot des ausgerollten Bodenbelages ein Zeichen für die Bindung von Familie und Gefolgschaft. Wer ihn betritt, gehört zur Gemeinde, ist eingeweiht. Potenziert wird seine Wirkung hier durch die Verbindung mit Wasser, hinter dem Dschinnistan liegt und wo die Sonne im Untergehen begriffen ist, und in der Symbolträchtigkeit des Pferdes. Dann zügelte sie ihren Zelter nach West, der untergehenden Sonne entgegen, die jetzt dem Horizonte so nahe stand, daß strahlende Feuergarben über das Wasser zuckten und der ganze dortige Himmel in Flammengluten stand. (35, 932A)



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Soweit die spirituell-morgenländisch-mystische Kulisse der Allegorie ›Dschinnistan‹; dahinter freilich eröffnet ein eher utilitaristisch-abendländischer, kapitalistisch-protestantischer Prospekt den Blick auf ein alpines Kanaan, und dieses steht in Einklang mit den Versprechungen der Tourismusindustrie. Die Emblematik hebt den ›Bürgersinn‹ über die Poetisierung in den Stand des Theologischen; dem Topos widerfährt eine Sakralisierung vor aus dem metonymischen Magazin der Heraldik entliehenen Bergkulissen, wonach wer Berge sagt, schon immer Schweiz meinte. Denn Dschinnistan trägt neben den persischen auch unverkennbar helvetische Züge: und sicher hat für El Hadd die Schweiz Modell gestanden. Erhabene Gletscher, naive Schäfer und reiche Bürger: arkadisch war die Schweiz, die Jean-Jacques Rousseau nicht ohne Sinn für ihr touristisches Potential pries: »Nur die Schweiz bietet ihrem Besucher diese großartige Mischung von wilder Natur und menschlichem Fleiß.«21 Und schon die europäischen Eliten des 18. Jahrhunderts folgten dem Lockruf. Das alpine Événement befriedigt bereits in seiner infrastrukturellen Absicherung das große Verlangen der Wendezeit vom 19. zum 20. Jahrhundert nach der Synthese von Naturwissenschaft und Eschatologie, um die Errungenschaften der modernen Technik mit einer religiösen Haltung auszusöhnen, die versprach, daß das Begonnene sich vollendete und das Gehoffte sich erfüllte (35, 935A): Marah Durimeh träumt davon im Anblick der Berge des Berner Oberlands, wo die Epiphanie Dschinnistans »(w)ie ein Alpenglühen im Himmelreich!« (35, 935B) - im Vorhof des Empyreums: El Hadd - sich vollzieht, nämlich im Lauterbrunnertal, unter dem Gipfel der Jungfrau (35, 935Af.): »(...) darunter (...) ist man erst auf dem rechten Fleck.«22 Dazu gehören ebenso Pilatus, Rigi und Vierwaldstädter See (sic! 35, 930B). Sie evozieren für Dschinnistan - je steiler um so theophaner - eine malerische, touristische Szenerie, ein Entkommen in Lichte Höhen von des Hoteliers Gnaden. »(...) dahin dringt jeder große Austritt aus dem kleinen Leben.«23 Das Ergebnis profaner Spekulation ist der »Ort« im alttestamentarischen Sinne als Identität Gottes, der Eintritt »in eine vermeinte Einheit«24 gewährt. Und die verklärende Sicht der ›Rigi‹ als die heil'ge Stufe, / die mich dem Himmel heute näherbringt, als Säule, worauf die Macht der Liebe ... felsenfest sich ... baut, wie es die versifizierte und gereimte Vedute aus der Edition ›Lichte Höhen‹ beschwört,25 wird nun wortwörtlich Panorama, Programm und baedekerhafter Leitfaden für die Visualisierung ›Dschinnistans‹. Eine die Grenze zum Grellen immer wieder überschreitende Kreuzung aus Merian und Mystik.


Der Kessel, der nun unter uns lag, war nichts als der wohlterrassierte, plötzliche Absturz der weit vorherrschenden Ecke eines Hochplateaus, an dessen Südseite sich das eigentliche Dschinnistan nun erst zu erheben begann. Die Füße aller der Berge, die man da sah, standen im Wasser. Ungefähr so, aber in gigantischer Vergrößerung, wie der Vierwaldstädter See sich derart innig um die Fundamente des Rigi, des Pilatus und anderer Berühmtheiten legt, daß sehr oft zwischen Wasser



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und Fels kein gangbarer Pfad zu ermöglichen ist, so windet sich auch da oben im südlichen Grenzgebiet von Dschinnistan eine vom tiefsten Blau bis zum hellsten Grün zu den Menschen sprechende Flut in der Weise zwischen den hochstrebenden Felskolossen hin, daß man behaupten möchte, diese letzteren seien nicht durch die Füße der Sterblichen, sondern nur auf ähnliche Weise zu erreichen, wie der Gegensatz von diesen Bergen, nämlich die Unterwelt, einst nur durch Charons Kahn zu erreichen war. (35, 930B)


In Umkehrung des Mythos wandelt sich Charon zum Funktionär einer coelesten Reiseagentur: zum Psychopompos ins Empyreum, das an dieser Stelle nicht mehr bietet als eine Teichoskopie paradiesischer Pyrotechnik. An die Bergerlebnisse Nietzsches und C. F. Meyers, die sich vor allem auch den Schweizer Alpen verdanken, ist hier also ebenso zu erinnern wie an die Bergmythologie eines Roland Barthes. Sie alle verwenden als Material die Legierung von Theologie und Orographie bei Dante und Petrarca. Denn:


malerisch ist alles, was uneben ist. Man begegnet hier der bürgerlichen Rangerhöhung des Gebirges wieder, dem alten Alpenmythos (er stammt aus dem 19. Jahrhundert), den Gide zu Recht mit der helvetisch-protestantischen Moral in Verbindung brachte und der immer wie eine bastardhafte Mischung von Naturismus und Puritanismus wirkt (Erholung durch die reine Luft, moralische Ideen beim Anblick der Gipfel, der Aufstieg der Bürgertugend usw.).26


Das Hochgebirge als Kulisse für ›the pilgrim's progress‹. »Wie der Kleinbürger begann, sich an den Alpen zu erbauen, von Bergriesen schwärmte und von Gebirgsmajestäten, so wurde auch seine mechanistische Weltanschauung poetisiert«:27 und die materialistische oder kapitalistische neuplatonisch psychologisiert: angesichts des Staubbach-Falls - »Es ist ein sehr erhabener Gegenstand«28 - malt sich Goethe 1779 aus, wie »des Menschen Seele (...) vom Himmel kommt«;29 nämlich - in den Worten Mays - von den Bergen herab, die gen Himmel ragen, in Gestalt des klaren, reinen, hellschimmernden Wassers und des sich von den Felsenwänden milchweiß abhebenden Reiterzuges, dessen Helme und Lanzenspitzen goldene Strahlen zu uns sandten. (35, 851B)

Das Bergerlebnis garantierte denen, die es wagten, und das hieß oft nur, die dazu finanzkräftig genug waren, in eine Welt einzudringen, wo nur das Große, Erhabene Platz zu finden, die alles Kleine, Gewöhnliche zu erdrücken, zu zermalmen schien,30 Teilhabe an Anachoreten- und Heroentum, an der Mystik des Wasserzyklus, dem ›Gesang der ›lieblichen‹ Geister über den Wassern‹ des Staubbach-Falls oder ›in der Wüste‹, wo ihn Goethe in der Abschrift Charlotte von Steins31 erklingen ließ - eine wie auch immer zu bewertende Prolepsis der Quell- und Strommetaphorik Dschinnistans -, an der Hygiene, Sublimation religiöser Erbauung, sittlicher Aufrüstung, geistiger Erneuerung - kurz Entkommen aus den entsittlichenden Hippodromen des Kapitalismus, die das industrialisierte ›Ardistan‹, das Mittelland, beherrschten und von wo man in den Luxusschiffen der Belle-



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Epoque-Hotels freilich dann auch zu einem neuen ›embarquement pour Cythère‹ aufbrach.

Und sei's auch nur, daß man auf diesen Luxuslinern in die Reaktion segelte auf der Flucht vor der proletarischen Bedrohung, die aus den Sümpfen der Großstädte aufzusteigen schien und ein ganzes Set von Reformbewegungen stimulierte; diese ermöglichten eine »Regression aus der sozialen in die natürliche und biologische Realität«;32 ob nun in den Luzerner Gletscher- oder den Pfitznerschen Liebesgarten. Der ›alpine Tourismus nach Dschinnistan‹ war eine Form der Fluchtbewegungen unter vielen. Die Vignetten, die er zum raschen, ungehinderten Fortkommen auf den Ideen-Bahnen nutzte, boten sich in ihrer Ikonographie als austauschbar an. ›Dschinnistan‹ selbst gar dient ähnlich wie etwa ›Jugend‹ »als Beschwörungswort einer neuen Erdenbürgerschaft, die sich in den weiten Räumen des Alls eher als in der städtischen Enge zu Hause fühlte«33 und nur zu gerne aus den Ruinen einer untergehenden Sittlichkeit in das utopische Reservat eines heilen Lichtreiches emigrierte, um auf »blumige(m) Anger« und an »eine(m) blauen See«, wo »auf kleiner Felseninsel ein Tempel sich erhebt«34 - in einem elysäischen Glyndbourne sozusagen - zu picknicken, geschützt von den auserwählten Hütern des Lichts, nach dem »ja das All mit Schmerzgewalt (ringt)«.35 Ihr haben Hans Pfitzner und sein englischer Librettist James Grun, nach kräftigen Explorationen in den Gralsgärten des Wagnerschen ›Parsifal‹, den »Liebesgarten« als jenen »andere(n) planeten« - ›Sitara‹ significata praesumptaque - eingerichtet, von dem 1907 Stefan George nur ›Luft‹ spürte, indessen Karl May schon 1902, ein Jahr nach der Uraufführung von der ›Rose vom Liebesgarten‹, im dritten ›Silberlöwen‹-Band die transitorische Wirkung der ›Rose‹ erfuhr, die als einzige Zutritt gewährt zu dem »Reich (...), daraus mit nie gebeugter Macht / die ew'gen Siegeskräfte gehn / und jährlich durch den Weltbau wehn, / um frisch, in wunderbarem Streit, / zu ringen mit der Sterblichkeit«;36 einem »Reich«, dessen Inventar wir auch prompt in den späten, ab 1900 den weiten plains and mountains eines gnostischen Mystizismus gewidmeten Reisehandbüchern Karl Mays begegnen: Sitara wird zum »Liebesgarten«, wo - wenn vor der Macht der ›Rose‹ »die Schranke sinkt - Sphäre auf Sphäre in grenzenloser Weite sich dem Blick (öffnet)«, im »All (...), im Mutterherzen, der ew'ge Friede und das Weltgeschick (ruht)« und »die Kreatur (...) zur Gottesjugend siegreich auferblüh'n (darf)«.37 - Die Utopie als glanzvolles »Splendide-Hôtel« für die Geistes- und Lichtheroen, »bâti dans le chaos de glaces et de nuit de pôle«.38 Aber wie jedes Unternehmen waren auch diese ›Operetten‹-Inszenierungen nicht sicher vor dem Konkurs, wenn auch nicht alle fallierenden Entrepreneurs sich - wie vom Grafen de Renesse erzählt wird - im Champagnerrausch in ein tiefes Tobel stürzen sollten. Von ihm sei im folgenden kurz die Rede, zeigt er doch eindrücklich, daß die Stücke vom ›Neuen Menschen‹ aus dem Repertoire der Semiseria stammen.


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Die Analogie hat ihre durch den Zeitgeist soufflierten, ebenso grotesken wie aufklärenden Züge. Das wird am Beispiel des ›Hotel-Kursaal de la Maloja‹ deutlich: der semitragische Held, der belgische Graf Camille de Renesse, reist 1880 der Gesundheit wegen ins Engadin, wo zur selben Zeit an »eine(m) der ergreifendsten und großartigsten Orte nicht nur des Engadins, sondern der ganzen Schweiz«39 im Peripatos Friedrich Nietzsche seine zoroastrischen Gedanken pflegte, und ist sofort »erstaunt von dem Glanz dieses Landstrichs, (...) von den unermeßlichen Schätzen, die er für ein klug geleitetes Unternehmen bereithielt (...)«;40 eben vom kanaanitischen Versprechen Dschinnistans: gesund, ewig jung und schön im Kusse des Sonnenstrahles, reich an Gaben der Natur und Produkten des menschlichen Fleißes.41 Im Heimatland von Puritanismus und protestantischer Ethik braucht es nicht viel, um vom Geist des Kapitalismus raptim spiritaliterque inspiriert zu werden, und so reift schnell in ihm der Plan zu einer kompletten touristischen Erschließung der Umgebung von St. Moritz.

Der nun folgenden Inszenierung eines kapitalistischen Dschinnistan durch den Grafen entspricht seine verblüffende metaphysische Umdeutung durch Karl May. Das muß den Intuitionen des Zeitgeistes geschuldet sein; denn beide Herren wußten ja nichts voneinander. Hinter den Fenstern des ›Hotel-Kursaal de la Maloja‹ (›Maloja Palace‹), eines fünfgeschossigen Riesengebäudes, das der Graf de Renesse in der Rekordzeit von zwei Jahren hatte errichten lassen, wohlgemerkt mit zusammengeborgtem Kapital - und um dieses zurückzuzahlen, nahm er offenbar den Tod seiner Frau (man kolportierte einen Mord) in Kauf -, ging die Sonne niemals unter; denn das Haus war als eines der ersten der Gegend elektrifiziert und besaß mangels Stromnetz auch sein eigenes kleines Wasserkraftwerk: nicht anders als, um den Fluß des Gewinnes sicherzustellen, 1890 der ›Felsenkessel‹ unterhalb des ›Silbersees‹ in den Rocky Mountains, dessen Kapazitäten Old Firehand und die Seinen erschließen, weil dort »Millionen (liegen)«.42 Das war zugleich der passende Ort, die nötigen Maschinen und Werkzeuge einzusetzen.43 Damit die Aussicht der Gäste auf den See durch nichts gestört wurde, befahl der Graf einen nicht ganz unbeträchtlichen Hügel abzutragen, und auf daß der Strom der Gäste niemals versiege, projektierte er eine Paßstraße von gigantischen Ausmaßen und eine Eisenbahnlinie. Einfach sind die lichten Höhen dieses Hotels ›Dschinnistan‹ dennoch nicht zu erreichen. ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ - was in diesem Falle zunächst die Reichen, aber nicht unbedingt die ›Guten‹ bedeutete -: das bedingte vor allem eine moderne Energie- und Verkehrsinfrastruktur,44 die sichert, daß alles fließt. Sie garantierte 1884 den Fluß der Gäste und damit des Geldes wie die Talsperre, die der ›Silbersee‹ ja ist, oberhalb des vegetationslosen ›Felsenkessels‹ 1890 den Fluß des Goldes, der ›Brunnenengel‹ zu Häupten des toten Felsenkessels (35, 927A) von El Hadd 1909 den Fluß des Friedens besorgt. Maloja, Silbersee, Dschinnistan:



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die Metaphorik läßt die Kulissen in eine Paradiesesskyline konvergieren. Da in ihr - nicht anders als in Wotans mit geliehenen Mitteln von Fafner und Fasolt errichtetem Walhall - eine problematische Transzendierung des Kapitalismus zur Darstellung kommt, kann sie nur ein Spekulationsobjekt sein -: Dschinnistan ein elysäischer Digging-Platz,45 an dem sich ein ›pursuit of happiness‹ phantasiert. Dschinnistan also auch ein amerikanischer Traum? Geld ist Gold, Gold ist Friede und Friede ist Glück: ›geschürft‹ wird es nicht in den Klüften von proletarischen Nibelungen, sondern es wird droben - caelo sereno - vor eine(r) gewaltige(n) Scenerie, die dem Beschauer die Augen übergehen46 macht, durch eine geringfügige Manipulation des heroischen Personals gleichsam ›geflutet‹.


Der Digging-Platz war also gegeben, und es hieß nun nur, ihn in Arbeit zu nehmen. Das sollte möglichst bald geschehen. Das gab ein Schwärmen und ein Hoffen ... Endlich ... kam die Botschaft, daß die Maschinen abgeholt werden könnten. ... Dann, als man alles oben am See beinander hatte, begann der Ingenieur seine Thätigkeit zu entwickeln.47


Nahezu zwanzig Jahre später - 1909 - kommandiert im Vorhofe Dschinnistans Marah Durimeh das Ingenieurbüro:


»Nun an das Rad! Du und der 'Mir von Ardistan!«

Sie folgten dieser Aufforderung, der Schech schnell und bewußt, der 'Mir aber langsam, wie ein Träumender. ...

Das Rad drehte sich, ganz leicht, ohne alles Geräusch, als ob es sich nur um etwas Kleines, Gewöhnliches handle.

»Komm, und sieh!« flüsterte Schakara mir zu. (35, 932Bf.)


Da kann man nur mit der Tante Droll sagen: »Das Geschäft geht brillant.«48 Anders als diese hatte der Graf freilich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, und wo beim Hobble-Frank die »Villa ... mehrschtendeels schon fertig (is)«, aber nur »im Koppe«,49 verwirklicht der Graf seine touristische ›Kopfgeburt‹.

So fand dann am 1. Juli 1884 die Eröffnung des größten und modernsten Grand Hotels der Alpen, eines kuppelgekrönten Palastes, in Maloja statt, zu der der Graf die Hochfinanz und den Adel aus aller Welt lud. Fünf Monate später hatte er falliert und nach heutiger Kaufkraft 100 Millionen Franken verloren. Die Veranstaltung entpuppt sich als Semiseria von etwelchem zeitdiagnostischen Gewinn: Ein Hochstapler also gründet in den Bündner Alpen ein »Himmelreich« in der ›Waldröschen‹-Zeit 1882/1884, falliert und - der Rest ist Operettentraktat - schreibt (welche Wandlung!) sechzehn Jahre darauf in Monte Carlo und Nizza, ein verspäteter Nachbar Nietzsches, als Consolation über den Tod der Gräfin, ein erfolgreiches Jesus-Traktat, einen europäischen Bestseller, der sich sicher besser als ›Ardistan und Dschinnistan‹ verkaufte. Der Konkurs verhilft dem Frauentausch des Mythos - so beanspruchen die Riesen angesichts der Zahlungs-



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unfähigkeit der Götter Freia, die Göttin der ewigen Jugend, als Pfand - zumindest zu einer metaphorisch interessanten Realität. Auch May trennt sich von seiner ersten Gattin Emma, um aus den Niederungen des ›Mammons‹ mit Hilfe einer neuen Muse - Klara - in den astralenen Rayon der Edelmenschen Dschinnistans emporzusteigen, denen nach seiner Wandlung vom kapitalistischen Saulus zum idealistischen Paulus auch der Graf 1900 in besagtem Werk über ›Jesus Christus, seine Apostel und Jünger im 20. Jahrhundert‹ nachspürte.


Im Kern ging es dem gealterten Aristokraten darum, die helle Gestalt des ursprünglichen Christus von den neunzehn Jahrhunderten christlicher Geschichte zu lösen. Er wollte die reine Lehre ›der Urchristen, des Franziskus von Assisi und anderer tief redlicher Jünger‹ der offiziellen Kirche gegenüberstellen, in der er ›Aberglauben, Fanatismus, Unwissen und Routine‹ erkannte.50


Mithin ein in seinen Absichten May durchaus vergleichbarer Reisender in Dschinnistan auf der Suche nach Jüngern, die seiner messianischen Botschaft folgen sollten, nach einem Kreis der »wertvollsten und sonst höchstentwickelten Personen«,51 auf den sich May in seinem Spätwerk immer wieder (vgl. 34, 925A) berufen wird: »einen Kreis der bedeutendsten Männer«, den Diotima einladen will, um »die schwierigste Frage der Welt zu beantworten«;52 eine »Société des Esprits«,53 in der »einst die Wohlmeinenden aller Nationen sich zu vereinigen haben (werden)«;54 »Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes« (35, 932A), nach denen in der Zwischenkriegszeit (1918-39) die Autoren der ›Entretiens‹ auf der Suche sind: »hommes qui sont voués aux travaux de l'esprit, (...) hommes (...) voués aux recherches des lois ou à la construction des œuvres«.55 Kurz: ›Edelmenschen‹.



M ä r d i s t a n


Die Angst regt von allen Leidenschaften die Phantasie am stärksten an.
Robert Burton:
Die Anatomie der Melancholie


May übernimmt den Begriff aus dem Werk der Bertha von Suttner, ihrem pazifistischen Erfolgsroman ›Die Waffen nieder!‹, und mit ihm auch den ›biagenen‹ Charakter der Tugenden: »Aus der Art, wie er von den Grausamkeiten sprach, deren Zeuge er im Kriegsgetümmel gewesen war, hörte ich die Verheißung der Edelmenschlichkeit heraus, welche berufen ist, erst bei einzelnen, später bei vielen, endlich bei - allen die Barbarei zu über-



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winden«.56 ›Überwunden‹ muß werden. Der ›Neue Mensch‹, gar der ›Edelmensch‹, ist auch in der Utopie Mays nicht gewaltlos zu haben. Der Weg in »das weiter hinauf liegende Schöne«57 bedingt nach Dantes Dreistufenmodell zur Erreichung des Paradieses, dem May hier folgt, das ›Purgatorio‹ und damit Prüfungsrituale, die, den ›gewaltfreien Menschen‹ zu erziehen, nicht gewaltfrei sein können. Das Vokabular dieser Erziehung klingt agonal, mehr noch: bellizistisch. Daß der Gewaltmensch sich zum Edelmenschen emporzubilden habe, ist eines meiner Ideale (35, 887A), ist der Basso continuo, über dem der ›'Mir von Dschinnistan‹ seine ideelle Thematik variiert. ›Emporzubilden‹ heißt »herausreißen und von Dir werfen, weil Du es sonst nie zum Edelmenschen bringst ...« (34, 726A)

Die Interpretationsvariante, daß wir es hier mit landwirtschaftlichem Sprachgebrauch beim Erschaffen des »Edelmenschen« zu tun haben, ist eigentlich noch eine harmlose. »Du mußt hacken, düngen, pflanzen und bewurzeln, ganz gleich, ob dies denen, die keine Gärtner sind, gefällt oder nicht!« (34, 928A) lautet der Imperativ einer monastischen Kolonisation. Jedoch: Märdistan ist weder Pflanzort klösterlicher Kultur noch landwirtschaftlicher Betrieb: sondern ein Köppelsbleek unterhalb der Marmorklippen von Dschinnistan, wo die Feinde (lauern), die man, einen nach dem anderen, zu besiegen hat, wenn man aus Ardistan nach Dschinnistan entkommen will.58 ›Lauern‹, ›Besiegen‹, ›Entkommen‹ sind an diesem Ort der Säuberung die Aktivitäten, die den Aufstieg ins Reich der Edelmenschen begleiten. Und dann mitten in jenem Walde von Kulub ist jener Ort der Qual,59 der - transitorisch - die Sinnerfüllung von Fegefeuer und Heimsuchung durch die Gegenwart Gottes erfährt, ja geradezu Gott selbst ist. Denn der ›Ort‹ bedeutet in der hebräischen Tradition eine der Metaphern für den unaussprechlichen ›Gott‹. Was aber, wenn Gottes Sitz sich als leer enttarnt, wenn es bei der Qual - deo absente vel abscondito - bleibt? Einer Aktion purer Hygiene, die über die Reinheitsrituale zur Entpersönlichung führt? Wenn Ortsbeschreibung, Geographie sich nicht als Homilie, die zu schreiben der Reiseschriftsteller Karl May vorgibt, sondern als nihilistische Pathographie entpuppt, als allegorische Vedute der elenden Existenz des Autors in seiner Zeit? Denn diese Orte sind der Spiegel, sie reflektieren - man ist versucht zu sagen: mit Hinterlist - die Topographie des Elends, eine Ruinenlandschaft, in der die Lebenswelt des Autors zerbrochen ist: nicht nur seine, sondern die seiner ganzen Epoche. Was wir Kultur nennen - die Ordnung der Dinge, der Rahmen einer unbefragten, unbelasteten Gewohnheit -, birst plötzlich. Vergangenes kehrt zurück, bohrt sich ins Dasein als Tagtraum einer seltsam diffusen über Generationen laufenden Schuld, wie sie auf dem 'Mir von Ardistan lastet. So erstaunt es nicht, daß Geographie in den Llanos der schriftstellerischen Existenz die foci einer merkwürdigen Introspektion kartiert, wo Epochales sich im Persönlichen zu erklären versucht. Der Autor reist, ohne Ruhe zu finden, sich zuletzt einer inneren Gegend hingebend: dem Hin und Her



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des Wahns. Solche ›inneren Gegenden‹ sind Ardistan, Märdistan, Dschinnistan - hier arbeitet einer wahrhaft seine seelischen Nöte ab, entstehen Projektionen einer Psyche, die sich als Zeitgeist begreift, im gewaltigen Feuerordal der Schmiede zu Kulub, wo ein parsisch inspirierter Endzeitritus die Guten wie die Bösen in Strömen geschmolzenen Metalls der Läuterung unterwirft.

In der ›Cronaca del Luogo‹ Ardistans und Dschinnistans wird die Schmiede zu Märdistan, im Walde von Kulub,60 zu einer Folterfabrik, Ort eines Fegefeuers der Utopie, woselbst die Tugend- und Friedensutopie in den Spagat von Güte und Gewalt gerät. In der Abwesenheit Gottes bleibt nur die Gewalt, bleibt am Ende vom heroischen Pneuma nichts als die tödliche Banalität des Gases. Denn: das Jahrhundert der Gulags desavouiert die Ideale als kontingent. Die Idee des Guten scheint ja, schon als Grundtugend, wie sie Platon verordnet, Gewalt zu kodieren, per se eine Vignette der Gewalt zu sein. »Ideale haben merkwürdige Eigenschaften und darunter auch die, daß sie in ihren Widersinn umschlagen, wenn man sie befolgen will«, sinniert Diotima im 57. Kapitel des ›Mannes ohne Eigenschaften‹.61 General Stumm von Bordwehr, der gleichfalls zu dessen personeller Ausstattung gehört, kann daraus während der sich selbst verordneten Klausuren in seinem Arbeitskabinett nur hellsichtig schließen, daß die Kontingenz der Ideen die Ideenlaboratorien zu Schlachthöfen werden läßt; »denn würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos, so daß von der Gegenidee nichts übrig bleibt, Ernst gemacht, unsere Kultur wäre wohl nicht mehr unsere Kultur«.62 Der Idee, selbst vom sanftmütigsten Phänomen, ist offenbar ein Gewaltpotential eingeschlossen: wie den Windsäcken des Aiolos. Folglich denn:


Zu Sitara gehört auch das ... weit ausgestreckte Gebiet von M ä r d i s t a n mit dem geheimnisvollen W a l d e v o n K u l u b , in dessen tiefster Schlucht, wie man sich heimlich erzählt, die G e i s t e r s c h m i e d e liegt, in der die Seelen durch Schmerz und Qual zu Stahl und Geist geschmiedet werden. (34, 81A)


Ohne Gewalt kann es offensichtlich bei dieser Seelenbildnerei nicht abgehen. Das Ideale ist mit dem Gewalttätigen eng liiert, der ›Edelmensch‹ ein Phantasma der Folter, bei dem »durch irgendeinen unaussprechlichen Zusammenhang Ordnung zu einem Bedürfnis nach Totschlag führ(t)«.63 Nüchtern beschreibt Jahrzehnte später Cioran die Korrespondenz von Ordnung und Totschlag: »Legte man auf den einen Teller einer Waage das Unheil, das die ›Reinen‹ in der Welt stifteten, und auf den anderen Teller das Übel, das ihr die Prinzipien- und Skrupellosen zufügten, die Waage würde sich nach dem ersteren hin neigen. Jede Heilslehre errichtet in dem Geist, der sie ausspricht, ein Blutgerüst«,64 von dem aus er behauptet, die Wahrheit zu verkünden. Daher:



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»Das ist nicht Sage und nicht Märchen, sondern Wahrheit! Das ist wirklich und wirklich die Schmiede, in der ein jeder, der nach Sitara will, vom Schmerz und seinen riesigen, erbarmungslosen Gesellen geglüht, gehämmert, gefeilt und gestählt werden muß, um aus einem Gewaltmenschen in einen Edelmenschen verwandelt zu werden! Nur wer dies geworden ist, der weiß, durch welche Leiden, Qualen und Martern er gehen mußte ...« (34, 604B)


Was auffallen muß, ist die gewaltsame Männerphantasie, die diese ›Bilder‹ generiert. Um die Frauenfreundlichkeit dieser Utopie kann es naturgemäß nicht besonders gut bestellt sein. Märdistan, in der Trias des dante-inspirierten Welterklärungsmodells Mays das Purgatorio zwischen Ardistan, dem Inferno der G e w a l t - u n d E g o i s m u s m e n s c h e n , und Dschinnistan, dem Land der E d e l m e n s c h e n ,65 liegt im Lichte der affrösen Zeughäuser eines Klaus Theweleit. Märd ist ein persisches Wort; es bedeutet »Mann«. Märdistan ist das Zwischenland, in welches sich nur »Männer« wagen dürfen; jeder Andere geht unbedingt zu Grunde.66 Märdistan, das Zwischenland des Fegefeuers, ist also ›Mannes‹(Macho)-Land, und in seinem sadomasochistischen Laboratorium im Walde von Kulub erweist sich Läuterung als ein spezifisch männliches Geschäft, das nicht etwa die eurhythmisch im Ausdruckstanz bewegten Schöpfungen Ferdinand Hodlers, sondern wohl eher die Sylvester-Stallone-Mutationen aus dem ›Kraft-Kunst-Institut‹ Sascha Schneiders in Dresden besorgten. Und so liest sich die Schilderung dieser Schmiede gleichzeitig auch wie eine Allegorie auf das sich männlichem Ordnungstrieb verdankende Konzentrationslager der Solowetski-Insel, »in dem die neuen Methoden der ›Umerziehung zum neuen Menschen‹ durch Liquidierung der alten Klassen erprobt wurden - ein wahres Laboratorium des Todes«.67 Maxim Gorki sollte es im Juni 1929 besuchen und war - nach eigenem Bekunden - beeindruckt vom Enthusiasmus der neuen Menschen und von den Erfolgen bei der »Umschmiedung des Menschenmaterials«.68

Der Reinigungswahn schlägt als ›terreur‹ einer intrusiv wirkenden ›épuration‹ - sie kann jederzeit jeden einzelnen, jede Gruppe treffen - schnell in Liquidierung um. Dabei handelt es sich nicht um Regressionen, sondern konzertierte Aktionen gnostischer Reinheits- und Erlösungsentwürfe: Feldzüge gegen die Kontamination und Penetration durch das Lichtlose und schlechthin Böse, das sich mephistophelisch im intellektuellen Habitus cachierte. Die Massenvernichtungen des 20. Jahrhunderts, die sich diesen hygienischen Phantasien verdanken, sind nicht als archaische Rückfälle, sondern eher als Teil einer Politik der totalen Modernisierung zu verstehen, geradezu als ›kreativer Akt‹ zur Konstruktion homogener Nationen oder widerspruchsfreier, perfekter Gesellschaften. So betrachtet, erscheinen die stalinistischen wie die nationalsozialistischen Lager als »große experimentelle Labors«69 des modernen Traums der totalen Ordnung. Dieses furchtbare Paradigma ist in Märdistan als Metapher bereits angelegt: zumindest wird dort ein totalitärer Traum geträumt, dem zur Realität zu verhelfen, die Zeiten mit Beginn des Ersten Weltkrieges den fatalen Kairos lieferten. Vor



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allem die russische Revolution eröffnete Werkstätten dieser ›épuration‹, deren Programm die Hygiene-Vorstellungen der kommunistischen Heilslehre lieferten. »Im Zuge seiner Weiterentwicklung führt der Mensch eine Säuberung von oben nach unten durch« - hier fügt sie sich schon die Konjunktion von ›Säuberung‹ und Evolution, die offenbar dem ›Reinheitsgebot‹ folgt. »Zuerst säubert er sich von Gott, dann säubert er die Grundlagen des Staatswesens vom Zaren, dann die Grundlagen der Wirtschaft von Chaos und Konkurrenz und schließlich seine Innenwelt von allem Unterbewußten und Finsteren.« Es ist sozusagen eine handmade Gnosis, die mit diesen an Hybris kaum zu überbietenden Worten Leo Trotzki70 als die bolschewistische Utopie skizziert, die sich um den Begriff der ›Säuberung‹ rankt und deren Folgen ihren Autor später einholen sollten.71 Diesem Programm entsprechend ließ Lenin fast sämtliche führenden russischen Philosophen nicht marxistischer Ausrichtung als Gefahr für den ersten reinen Arbeiter- und Bauernstaat - »auf einem großen bolschewistischen Dampfer« - 1922 in die Verbannung davonschwimmen. Es gab also die Fegefeuer- und die Wassermethode der Reinigung. Im Fegefeuer schmolz man um, im Wasser, über das Wasser schaffte man aus. Diese letzte Dampferfahrt, die Ausschaffung der Intellektuellen auf zwei Schiffen aus Petrograd nach Deutschland, war eine Geistesaustreibung, die den großen Exodus der deutsch-jüdischen Intelligenz 1933 nach Amerika vorwegnahm. Das erklärte Ziel des Kremlführers bestand darin, »Russland für lange Zeit zu säubern«. Die »hochgelehrten Sklavenhalter« und ihr »reaktionärer Unsinn« müssen »zerschmettert«, »vertrieben«, »ausgemerzt«72 werden. Das letzte Ziel dieser Ausfahrt hieß ›Reinigung‹.

Was in der Reinheitsphantasie von ›Dschinnistan‹ zum Ausdruck kommt, in der Polarität von ›rein‹ und ›unrein‹, dem binären Weltbild von ›Dschirbani‹ und ›Panther‹, ist kultisch-rituellen Charakters und dürfte das kulturelle Gedächtnis der Menschheit insgesamt bestimmen, in welcher Eigenschaft es 1902 in Schwabing das Forschungsinteresse der ›Kosmischen Runde‹ um Stefan George und Karl Wolfskehl auf sich zog. Es ist daher weniger die Utopie der Säuberung als vielmehr der blutige Versuch, die Sauberkeit tatsächlich herzustellen, der das eigentliche Charakteristikum des zwanzigsten Jahrhunderts darstellt. Insofern war z. B. der Kommunismus tatsächlich »nicht das Ziel, sondern der Weg«, um ganz andere Absichten umzusetzen: Machtausübung, Staatsgründung oder die Legitimation imperialer Politik. Man wird sich dieser Kontingenz der Ideen stets bewußt sein müssen, in der permanent die Gefahr eines Terrors der guten Gesinnung anwesend ist. Daß gerade der Intellektuelle sich häufig dafür blind zeigt, liegt wohl in der durch ihren übermenschlichen Moralitätsanspruch enthemmenden Wirkung säkularer Heilsversprechen, alle Menschheitsprobleme mit einem Schlag lösen zu können. Nicht die Hoffnungen, für welche die »Befreiungsbewegungen« gekämpft hätten, seien der Irrtum gewesen, sondern »die Ungeduld«, das Ziel selbst noch zu erreichen, führte



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noch am 10. Januar 2000 vor dem Berliner Gericht der Terrorist Johannes Weinrich aus. Die Vision einer »menschenwürdigen Gesellschaft« verlange von dem, der nach Auschwitz den Anfängen wehren wolle, »etwas Menschliches in sich zu überwinden«.73 1932 formulierte Bert Brecht sein Credo in diesem Sinn, als er die Gegner des Kommunismus schlicht als »Gegner der Menschheit« apostrophierte. »›Güte‹ bedeutet heute (...) die Vernichtung derer, die Güte unmöglich machen.«74 Und diese Vernichtung rechtfertigt in den Augen Karl Mays auch »den heiligen Krieg, den Gott gesegnet hat und immer segnen wird! Das ist der Krieg, in dem die Menschheitsseele in eigener Person zum Schwerte greift, um den Entwickelungsgang der Sterblichen zu schützen.« (34, 721B)

Wie schnell dieser Schutz der Evolution zum ›Edelmenschen‹, das Versprechen totalen Glücks in den totalen Terror münden, der Hochofen der sittlichen Läuterung zum Gasofen physischer Vernichtung umgewidmet werden, das reinigende Fegefeuer der Utopie zum apokalyptischen Weltenbrand sich wandeln kann, war in der Fülle von Erlösungsphantasmen immer wieder Stoff der Träume, aus denen das 20. Jahrhundert in seine Katastrophen stürzte. An dessen Anfang stehen oft teils simpel verschroben, teils skurril verrenkt anmutende Reformbewegungen, die in messianischem Eifer den ›Neuen Menschen‹ als Erlöser propagieren, denen alles zur ›Seele‹ werden muß - selbst in der Produktion der Eisenwalzwerke -, zu »Geist ..., der ... aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag ... ruhig, dankbar froh entgegenlächelt« (34, 604B), und wo im Atelier Ferdinand Hodlers in einem »Prozeß bewußter Entwirklichung«75 Figuren entstehen, an denen 1905 Theodor Heuss des Malers Fähigkeit, »die Körper zum Ausdruck der Seele zu steigern«,76 pries. Am Ende mündet dieser »Prozeß bewußter Entwirklichung« in eine épuration, einen Vorgang der ›Scheidung‹, der in seiner Hybris diesen ›Neuen Menschen‹, ein gesäubertes, ein schlackenrein-geadeltes Geschöpf, »geglüht, gehämmert, gefeilt und gestählt ..., um aus einem Gewaltmenschen in einen Edelmenschen verwandelt zu werden« (34, 604B), als Produkt eines darwinistischen pyrogenen Verfahrens diskreditiert. Der Dschirbani ... war dann an die Balustrade getreten. Er schaute geradewegs in das soeben wieder hoch emporlodernde Feuer der Berge hinein. Seine riesige Gestalt stand wie in Flammenglut. (34, 726B) - In der Mandorla Rienzis. - Avant-la-lettre mag hier auch schon eine »bereits von [Albrecht] Schöne als ns-typisch diagnostizierte Glut-, Brand- und Feuermetaphorik (...) voll zum Tragen«77 kommen. »Kommen wird der Tag...« Was sieht der Dschirbani? »Brennen die heilige Ilios« oder »den Saal Walhalls, in welchem (...) helle Flammen aufzuschlagen (scheinen)«? Oder eine neue Morgenröte, die dem ›Neuen Menschen‹ den neuen Tag bringt: im neuplatonischen Glanz des Feuers, das »den Rang der Idee im Verhältnis zu den anderen Elementen«78 hat? Und das im August 1914 die Verschmelzung der Deutschen zum großen Ganzen illuminierte, wie sie Nationalisten und Pathetiker von den Kanzeln und Kathedern zele-



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brierten, zum ›Volk der Unendlichkeit‹, als das im Sommer 1914 Rudolf Eucken in einer Rede über die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes eben diese Deutschen apostrophiert hatte. Gleichzeitig eröffnete die Schmiede von Kulub ihre Filialen in den Schützengräben an den Fronten, die zu einer tödlichen Allegorie der in Philosophie und Kultur des 19. Jahrhunderts vorerfahrenen Unvereinbarkeit von sinnlicher Wahrnehmung und ›höherem‹ Sinn gediehen, indem Ästhetisierung die Politik dekonstruierte und um Recht und Moral brachte, indessen Wille, Geist und Seele das ideologische Phantom der ›Menschheitsseele‹ legierten, die Individuen zur Volksseele verschmolzen und in Führern wie dem Dschirbani ihre pfingstliche Epiphanie feierten, während ihre Körper in den Schützengräben geopfert wurden. Das Vertrackte, ja das Verteufelte ist aber, daß dieses luziferische Schicksal der deutschen Kultur, ihr Abfall vom Humanismus, nicht einfach die Verneinung der Bildung ist, sondern zugleich ihr Ergebnis. Nur deshalb konnte der Krieg, konnten die pyrogenen Reinigungsriten in Märdistan mit theologischen Formeln überhöht werden, weil das Bildungsbürgertum einer Religion der Immanenz vertraute, der selbst in Dschinnistan die Altäre der Läuterung gerichtet waren.

In dieser Wahnwelt des Imaginativen ist die Religion in der Höhe furchtbar faszinierender Aufgipfelungen Dschinnistans angesiedelt; freilich stets in der Gefahr, ihrer verwiesen und den Mühen der Ebene ausgesetzt, um ihre unmittelbare Wucht gebracht und profaniert zu werden. In der Profanation lauert die Perversion, ist - weit entfernt vom politischen Faschismus - schon die ganze kultische Ikonographie versammelt, die emphatischen Gesten des Lichts, der Flammenlohe wie der Körper, die rhetorische Figur der Arabeske, das Arrangement einer zersplitterten Welt zum heilen-heiligen Weltbild, zur ›Weltanschauung‹, die Aufhebung der schrecklichen Vereinzelung und Einsamkeit am warmen Lagerfeuer der Gemeinschaft, das schnell auflodert zum Schmiedefeuer, die verstreuten Bruchstücke zu einem Schwert Nothung zu verschmelzen, das Siegfried im Namen des ›Neuen Menschen‹ schwingt. Viele dieser Siegfriede sind in Märdistan beschäftigt.

Kein Zweifel jedenfalls, daß auch der ›Edelmensch‹, wie ihn May im Dschirbani entwirft, in diese Galerie aus der épuration geläutert elaborierter sittlicher Heroen gehört. Das beweist schon die auffallende Kompatibilität von Metaphorik und Diktion seines Auftretens mit den Manifesten seines Zeitgenossen Marinetti, »des alten Impresario des Futurismus«.79 Und wo etwa Marah Durimeh synästhetisch in der Finsternis den »Dschebel Muchallis seine unhörbare, aber leuchtende Stimme« (35, 935A) sich erheben hört, dort sieht auch der Verfasser des futuristischen Manifests eine neue Morgenröte dämmern, erklingt - die Grammatik ist identisch - der gleiche Hortativ, Zarathustra abgelauscht: »Gehen wir! Da, seht auf der Erde, die erste aller Morgenröten! Nichts gleicht dem Glanz des roten Sonnenschwertes, das zum erstenmal in unsere tausendjährige Finsternis hin-



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einsticht!«80 Nur daß im Kontrast zu Marah Durimehs Vision diese hortativische Metaphorik durch und durch bellizistisch wirkt, Inszenierung von Parusie und endzeitlicher Abrechnung durch einen Erlöser aufruft. »Ἔσσεται ἦμαρ - Es wird kommen der Tag«, schmückte als prophetische Verheißung 1922 Johannes Hallers Schrift über Kontinuitäten und Zäsuren in der Geschichte der Deutschen. Die Erinnerung an Bismarck, den die »Nation als ihren Erlöser erkannt (hat)«,81 sollte da »zur Aussaat für die Zukunft werden, die reiche Früchte trägt, wenn ihre Zeit gekommen ist«.82 Der Fundort des Zitats wird nicht angegeben. Es stammt aus der ›Ilias‹ (VI 448), und seine Amputation - der zweite Teil des Verses wird unterschlagen - transportiert eine kryptoapokalyptische Botschaft von etwelchem Zynismus: »Einst wird kommen der Tag, da die heilige Ilios hinsinkt«. Der Tag der Parusie des Führers ist der Tag der pyrogenerierten épuration eines monströsen Märdistan. »(...) ein unheimlicher Lichtschein verbreitete sich über die Atmosphäre, als sei Rom selbst der Scheiterhaufen d e s l e t z t e n d e r r ö m i s c h e n V o l k s t r i b u n e n «,83 schließt das Epos einer gescheiterten Erlöserfigur aus dem heroischen Sortiment des Stichwortgebers für das Ideentheater der Madame Blavatsky und die musikdramatische Bühne von Hitlers Lieblingskomponisten. Märdistan als Schule der zu erlösenden Heroen, die herakleisch die Metamorphose vom Gewalt- zum Edelmenschen erleben, kann aber nicht genügen. Es braucht zur wirksamen Offenbarung des Messias den Bund der treusorgenden Engel. »›Nur wer einen Schutzgeist, einen führenden Engel findet, gelangt nach Dschinnistan!‹« (34, 726B) und findet Aufnahme in jenen Kreis »von höher stehenden, weiter denkenden und tiefer fühlenden Menschen« (34, 925A), von Gefolgsleuten eines gütigen Titanen (34, 726B). Es läßt sich dabei nicht übersehen, daß den Edelmenschen Dschinnistans wie dem Dschirbani als einem ihrer exquisiten Vertreter aus den intellektuell anrüchigen ›Ostara‹-Traktaten des Jörg Lanz von Liebenfels der Jahre 1908 und 1909, in denen übrigens auch die Schriften Mays Erwähnung fanden und annonciert wurden und der junge Hitler in seiner Wiener Obdachlosigkeit Erbauung fand,84 die Vertreter »eine(r) rassisch-religiöse(n) Sippengemeinschaft« über die Schulter schauen, »die vorwiegend reines Blut besaßen (...) und eine ›ario-heroische‹ Figur (...) aufwiesen«.85 - Man werfe einen Blick auf das Äußere und die Abkunft des Dschirbani - und erkennt nebenbei, daß die »einmalige und charismatisch ›kleine schaar‹« des George-Kreises ebenso hätte seine geistige Heimat sein können, daß, was diesen ausmacht, »Gefolgschaft und Jüngertum, Herrschaft und Dienst, sowie eine neue Gesamtschau auf ›das Volk‹ im Gegensatz zur ›Menge‹ oder ›Masse‹ als Idee einer Gesellschaft«86 ›Dschinnistan‹ ebenso widerspiegeln wie der ariosophische Templerorden des Wiener Mystizisten: »Diese aristokratische Gesellschaft existierte, um Wissenschaft, Kunst und Moral im Rahmen einer gnostischen Religion in Einklang zu bringen (...). Ihr erstes Gebot ermahnte jeden seinen Nächsten zu lieben (...). Die Pflichten der Brüder um-



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faßten berufliche, soziale, wissenschaftliche und religiöse Aktivitäten.«87 Sie konnten also als »Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes« (35, 932A) gelten. Und gegenseitige Hilfe war oberstes Gebot in einer Utopie, die dem anbrandenden Nihilismus bald nicht viel mehr als den Glauben an die zur Nation aufgeblähte Familie oder Sippe entgegenzusetzen hatte.

Dieser verdankt sich dem religiösen Vakuum um die Jahrhundertwende, der Absage an die welterklärende Kraft der Religion und der Kunst, die sich im neunzehnten Jahrhundert diese Fähigkeit, Welt zu deuten und somit auch zu transzendieren, angemaßt hatte - mit verheerenden Folgen für den geistigen Haushalt der ›gebildeten Welt‹, die der Surrogate nicht entbehren konnte und wollte. Nüchtern diagnostizierte Max Weber die Ausdifferenzierung der Wertsphären. Er bezeichnete es in seiner Rede ›Wissenschaft als Beruf‹ als »Alltagsweisheit (...), daß etwas wahr sein kann, obwohl und indem es nicht schön und nicht heilig und nicht gut ist«.88 Wer sich für die Wissenschaft entscheidet, muß der welterklärenden Kraft der Religion eine Absage erteilen; auch die Kunst kann nach dem Tode Gottes ihren Sinn nicht mehr aus einer jenseitigen Quelle schöpfen und dort Ganzheitserfahrungen simulieren, wo nach Einsicht Kants die Erkenntnis des Ganzen und die letzte Wahrheit nicht zu haben ist. Das bedeutete einen Identitätsverlust. Denn ohne Zweifel hatten die verschiedenen religiösen Traditionen bis anhin dem Menschen zu einer Identität verholfen; ihren Absturz in den Nihilismus zu verhindern, lieferte hier der Nationalismus das Antidot, avancierte zur Religion - ›aut Christus aut natio‹ in Abwandlung eines Diktums von Gerhard Nebel89 - und instrumentierte sich aus der ideellen Asservatenkammer des Juden- und Christentums den Messianismus als Waffe, um sich dort im Messias und Führer zu verkörpern, wo der Verkünder Dschinnistans weniger die messianische Erwartung als die messianische Tat im ›Edelmenschen‹, fähig zu wachsen wie ein organisches Wesen, oder wenigstens zu kristallisieren wie ein anorganisches, wie ein edler Stein (35, 136B), eine kollektive Gestalt annehmen ließ. Dabei konnte es nicht bleiben. Der Begriff geriet zwischen die Mühlsteine der unheiligen Koalition jener Ritter vom Geist, der ›Société des Esprits‹90 und der Jünger der Erlösung, wie sie General Stumm von Bordwehr charakterisiert.


(Es) gab natürlich auch noch das einfache und in jeder Weise unzerfaserte Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze. So war es eine rechte messianische Zeit, die damals kurz vor dem großen Kriege, und wenn selbst ganze Nationen erlöst werden wollen, so bedeutete das eigentlich nichts Besonderes und Ungewöhnliches.91


Dieser Erlösungsdrang der Massen favorisierte eine Sakralisierung des Politischen, selbst dort, wo dieses sich nicht in einer charismatischen Führerfigur kristallisier(te) wie ein edler Stein (35, 136B). - In diesem Zusammen-



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hang gereicht es Pius IX. zur Ehre, 1864 in Absatz 64 eines ansonsten chaotischen Syllabus über die Irrtümer der Zeit unter dem Trommelwirbel seiner antimodernistischen Anathemata zumindest eine großartige Erkenntnis formuliert zu haben, nämlich die Verurteilung der Auffassung, daß jede verbrecherische und schändliche Tat, die dem ewigen Gesetz widerstreitet, völlig erlaubt und höchst lobenswert sei, wenn sie aus Liebe zum Vaterland geschehe. - So dachten etwa katholische Theologen während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland auch kaum in Metaphern, in denen aus dem Führer ein Gott gesandter Retter wurde. Bezeichnenderweise wurde für sie nicht der National-, sondern der Reichsgedanke, vermittelt in seinen Institutionen, Zone der Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Ideologie. Die Repräsentanten einer katholischen Reichstheologie meinten durch die Erneuerung der Reichsidee dem Ungeist eines materialistischen Zeitalters Einhalt gebieten, den modernen Individualismus überwinden und den weltlichen Staat in die christliche Erlösungsordnung einbinden zu können. Das Reich wurde in diesem Zusammenhang als eine von Gott gewollte ganzheitliche Form politischer Ordnung zum Abbild des Gottesreiches, eine politische Analogie zum ›ewigen Reiche‹, mit anderen Worten: Dschinnistans. Als Träger dieser Ordnung erschien die Demokratie ungeeignet, wie ja auch zugegebenermaßen Dschinnistan nicht gerade Urbild demokratischer Gesinnung ist. Der Staat war ein Heide, das Reich eine sakrale Idee, der die mythische Kraft einer mehr als tausendjährigen Idee Glanz und Wärme gab. Dem »einen Gott« entsprach konsequenterweise der »eine Führer«, »der idealische Regent als reiner Geist der Gesellschaft«,92 der als Garant von Identität und unveränderlicher Einheit das Zeitalter von seiner ›Weltenangst‹ befreien würde.



M i l l e n n a r i s c h e G e f i l d e


tuus iam regnat Apollo.
Vergil: Ecloga IV 10


Auch Mays Friedensutopien sind in diesem Sinne Kinder der Angst. Die Diagnose hat Plausibilität, wenn man bedenkt, daß die europäische Gesellschaft um 1900, der Entstehungszeit von Mays Spätwerk, wie die antike Welt der Zeitenwende in einem Klima der Angst obsessionellen Ausmaßes lebte: verursacht durch große sozio-kulturelle Umbrüche und Instabilitäten im damaligen modernen Europa. Nur extreme Unsicherheit und Angst können den Aufschwung von Magie und Mystik, die narzißtischen, paranoiden und übersteigerten Wahnvorstellungen erklären, die nach der Herrschaft von gnostischen Eliten und Orden, nach einer Gliederung der Gesellschaft gemäß der rassischen Reinheit und okkulten Einweihung verlangten: eschatologische Halluzinationen, wie sie etwa in den Lehren der



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Wiener Ariosophen zum Ausdruck kamen und die nur eine Gesellschaft von pathologischer Befindlichkeit hervorzubringen vermochte oder mit einer speziellen Disposition zur »chaotischen Fruchtbarkeit«.93 Das Motto der Epoche nach dem ›Tode Gottes‹ könnte heißen: ›Säe Lügen, und du wirst Mythen ernten‹, die später für die Nationalsozialisten zur ideologischen Geschäftsgrundlage wurden. Die Gründe, warum das so war, protokolliert George L. Mosse:


Verwirrt und herausgefordert versuchten die Menschen ihre eigene Persönlichkeit wieder stärker hervorzuheben. Aber seitdem der Grad der industriellen Umwandlung als auch deren Auswirkungen sich dem Zugriff der Vernunft zu entziehen schienen (...), wandten sich viele von dem Versuch einer rationalen Lösung ihrer Probleme ab und tauchten statt dessen in ihre eigenen emotionalen Tiefen. Diese Sehnsucht nach einer eigenen Identität (...) wurde von dem diesem Anspruch widersprechenden Wunsch begleitet, einen Stellenwert in einem größeren Gesamtsystem zu erlangen und nicht nur sich selbst zu gehören. (...) weil die bestehenden sozialen Umstände verwirrend und erdrückend erschienen, versuchten die Romantiker, die größere, alles umfassende Einheit außerhalb der bestehenden sozialen und ökonomischen Verhältnisse zu finden.94


Die ›Romantiker‹ betrieben ihr kosmisches Geschäft freilich als ›Neu-romantiker‹, und dieser Begriff läuft Gefahr, ebenso in die Irre zu führen wie der der ›Neuro-Mantik‹ ins Irrenhaus, so »als würde hier noch die Mistel gebrochen, als gärte, wässerte, raunte, schwätzte eine Art verlottert Druidisches auf Zeitungspapier«,95 wie Ernst Bloch süffisant notiert (über Rudolf Steiner). Unleugbar diktiert auch hier die Angst den Drucksatz, und ihr Echo widerhallt selbst in den krausesten Instrumentationen, die sich die Erlöserpartituren der damaligen Ideenkonzerte verordnen - der An- und Aufruf einem zu beschwörenden Messias, und mochte er sich auch nur als ›Halbmond‹ zeigen, der als Symbol Christi auf den naturmystischen Bildern Caspar David Friedrichs die Nacht, den Tod, erhellt. Das Zeitalter war eben stern- und erlösungssüchtig. Schon 1891 entdeckte Guido von List96 eine Strophe der ›Wöluspa‹, die von einer ehrfurchtgebietenden und gütigen messianischen Figur sprach:


Da reitet der Mächtige zum Rat der Götter,
Der Starke von Oben, der alles steuert,
Den Streit entscheidet er, schlichtet Zwiste,
Und ordnet ewige Satzungen an.97


Dieser »Starke von Oben«, dem der Schech el Beled nur eine von vielen Masken leiht, besaß besondere Anziehungskraft und wurde zu einem stehenden Begriff in einer Zeit, die an der Schwäche von Unten, an der Sklerose ihrer geistigen Fundamente litt. Und wie ›luziferisch‹ er sich dann auch immer gestaltet hat im Versuch, von Licht zu Licht bis direkt vor Gottes Thron zu gelangen (35, 740A), entkam er doch nie ganz den mephiti-



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schen Dünsten aus den Katakomben ideologischer Alchimie der Jahrhundertwende, wo Guido von List und Jörg Lanz von Liebenfels, die Wiener Ariosophen, mit Theosophie, Gnosis, Okkultismus und Nationalismus experimentierten und wie Siegfried an Mimes Amboß am »roten Sonnenschwerte, das zum erstenmal in unsere tausendjährige Finsternis hineinsticht«, werkelten.98 Es ist durchaus nicht so, daß solches ideologische Gewölk die Gebirge von Dschinnistan nicht umlagert hätte. Magie und Mystik in den Lehren von Theosophen und Ariosophen, der Reformbewegungen und -gesellschaften und elitären Zirkel vom Forte- bis zum George-Kreis zeigten zwei Gesichter und den widersprüchlichen Geist des Romantizismus als literarische und spirituelle Antwort auf die Herausforderung, in der Sehnsucht nach dem ›großen Ganzen‹ sich einen holistischen Welterklärungsansatz zu schaffen. Dazu diente in der Regel ein Pantheismus, als dessen philosophisches Fundament sich der zeitgenössische Monismus dechiffrieren läßt.

Der Zerfall der geistig-sittlichen Werte der alten Welt zeugte den Okkultismus als Wurzel religiösen Denkens und künstlerischen Wirkens bis hinein selbst in die Kompromißlosigkeit und Radikalität der Avantgarde.99 Hinter all den Arabesken und Applikationen eines wunderlichen gedanklichen Designs lag das große Verlangen, die Errungenschaften der modernen Naturwissenschaft mit einer religiösen Haltung auszusöhnen, die den Menschen in ein Sein inmitten des Zentrums des Universums zurückführen könnte. Noch einmal, aber als Epilog um so schriller, wird ein wie auch immer motiviertes göttliches Herrschaftsprinzip aufgerufen, das Unfaßbares und Unmeßbares zu berechenbarer Ordnung hypostasiert. »Das nimmt die Angst und gibt dem Menschen die Gewißheit, alles sei zum Besten geregelt, selbst eben das Chaos am Ende.«100


Daß dieser Kreis immer kleiner und enger wurde, kam mir nicht als Wirklichkeit, sondern wie eine optische Täuschung vor und verdoppelte, verzehnfachte, ja, verhundertfachte die wirkliche Höhe des Tempels. Es war, als sei er mitten in den Himmel hineingebaut und als könne man von Licht zu Licht bis direkt vor Gottes Thron gelangen. Und diesen Weg stieg ich jetzt hinauf! (35, 739Bf.)


Eben: Empor ins Reich der Edelmenschen! Im Tempel der ›Stadt der Toten‹ siegt auf dem Weg zu Gott die optische Täuschung über die Wirklichkeit - wie im Talkessel von El Hadd, in einer Parallelaktion und in Umkehrung der ›Staubbach‹-Metaphorik, die Goethe aus dem Lauterbrunnen-Erlebnis101 entwickelt, die akustische (da brauste ein Jubel los, der laut, wie das donnernde Branden eines Ozeans von Stufe zu Stufe bis hinauf zum Engel stieg und dort wie nach dem Himmel zu verhallte; 35, 927A) - und ermöglicht eine Cyberspace-Installation avant-la-lettre. Zelebriert wird auf diesem Bildschirm eine Art ›theologisches Design‹. Er liefert - nota bene - die mythische Basis, auf der auch die Mayschen Romane ihre Wirklichkeit bildende Kraft entwickeln, ihre massenmedial sich ausdifferenzierende



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Ontologie. »Sie geben ein Bild von den bedrohlichen Mächten der Welt und weben ein Sicherheitsnetz aus Stories.«102 Das garantiert ihren mythopoetischen Erfolg: die Umkodierung von politisch-atavistischem Konservativismus auf Grund der biographischen Entwicklung des Autors wie der historischen seiner Epoche in einen so exotischen im mittleren wie pazifistischen im späten Werk. Die Umkodierung bemächtigt sich auf breiter Front seit Ernst Haeckels 1899 erschienenen ›Welträthseln‹ auch der Naturwissenschaften und gewinnt Macht über das Weltbild ganzer Generationen.

Diese physikalischen, psychischen, weltanschaulichen Interferenzen führten zu allen möglichen skurrilen Allianzen und Mystifikationen: Sogar die Entdeckung der Radioaktivität und der Röntgenstrahlen erfuhr Umdeutungen ins Spiritistische, Okkulte, Eschatologische. Das Erscheinen von Freuds Traumdeutung 1900 und Mays ›Jenseits‹-Dichtung 1899 ist beileibe nicht nur eine zeitliche Beliebigkeit. Beide Werke stehen in einer für ›die geistige Situation der Zeit‹ aufschlußreichen Opposition zueinander.

Die Sehnsucht nach dem Licht, die Mays Werk erfüllt, bestätigt eine dialektische Wirkung der illuminierenden Emblematik. ›Licht‹, das steht für ›Transparenz‹, ›Durchleuchtung‹: diese leisten die seit 1895 aufkommende Röntgentechnik und Psychoanalyse, aber schon eine sich über das ›Licht‹ definierende Disziplin wie die Photographie oder Kinematographie arbeitet häufig genug mit den Mitteln der Verschleierung und des Okkulten, und je mehr die Astronomie die Sternenwelt des Himmels ›durchleuchtet‹, um so unfaßbarer und als Aufenthalt für den metaphysisch gesonnenen Geist unwirtlicher wird sie in ihrer Entgrenzung. Daß Lanz von Liebenfels die Entdeckungen auf den Gebieten der Elektronik und Radiologie für seine ariosophischen Lehren in einer geradezu schamanenartigen Inszenierung ausbeutete, steht auf einem anderen Blatt, das sich freilich im zweiten Band von ›Ardistan und Dschinnistan‹ als Protokoll der »Dschemmah der Lebenden« (35, 784B) eingebunden findet mit der zu supponierenden Begründung, »daß die Phantasie hellere und schärfere Augen habe als der alterssichtig gewordene Verstand«.103 Das hieß dem Zeitgeist unreflektiert nach dem Munde geredet und exilierte den Verstand in die Seniorenresidenz. Antiaufklärerisch ist May dabei nicht eingestellt, aber er verweist auf die Symptome. Und die waren in der Tat erschreckend. Das Unternehmen Aufklärung hatte abgewirtschaftet, zeigte jedenfalls dramatische Materialermüdungserscheinungen. Nur so kann es erklärt werden, daß ›Erlösung‹ mit ›Wirklichkeit‹ so frivol wie in der Überzeugung kombiniert wird: »Nur wir allein können ... erlösen; wir fußen in und auf der Wirklichkeit«,104 wenn das auch - es muß zu Mays Ehre gesagt werden - ausgesprochen polemisch gemeint ist. Dennoch: der messianisch inspirierte Zeitgeist war danach, den Wunsch zum Vater des Gedankens, die Fiktion zur Wirklichkeit, d. h. zur Grundlage des Handelns zu machen. Es war das Zeitalter des Erlösungswahns. Verstand durch Wahn zu ersetzen: das hatte am Ende auch die



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touristische ›Erwähltheitsarche‹ des Grafen de Renesse stranden und sinken lassen, als deren monströse Übersteigerung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das rein national - ethnisch sauber - getakelte Staatsschiff - ›pictis puppibus‹105 - vom Stapel lief: ohne Aussicht - wie man heute weiß - auf ›Meeresstille und glückliche Fahrt‹ war diesem ›fliegenden Holländer‹ auf seiner Kreuzfahrt nach Dschinnistan keine Erlösung beschieden.

Das war vor dem großen Schiffbruch freilich schon manchem gewitzten Zeitgenossen klar: zum Beispiel dem schon erwähnten hellwachen Zeit- und Sprachkritiker General Stumm von Bordwehr, der mit Skepsis die zunehmende »Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung« beobachtete.


So waren [die geistigen Menschen] schließlich überzeugt, daß die Zeit, in der sie lebten, zu seelischer Unfruchtbarkeit bestimmt sei und nur durch ein besonderes Ereignis oder einen ganz besonderen Menschen davon erlöst werden könne. Auf diese Weise entstand damals unter den sogenannten intellektuellen Menschen die Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung. Man war überzeugt, daß es nicht mehr weiter gehe, wenn nicht bald ein Messias komme (...), der (...) von voraussetzungslosester geistiger Hoheit sein sollte (...).106


Seiner bedurfte man, weil »der zivilistische Geist den Vorteil, eine feste Weltanschauung zu besitzen, offensichtlich verloren (hatte)«. Dieser hatte mit der Verabschiedung Gottes auch die Liquidation religiösen Vermögens erfahren müssen.


Das kam davon, daß alle Religionen in der Erläuterung des Lebens, die sie dem Menschen schenkten, einen irrationalen, unberechenbaren Rest vorgesehen hatten, den sie Gottes Unerforschlichkeit nannten: ging dem Sterblichen die Rechnung nicht auf, so brauchte er sich bloß an den Rest zu erinnern, und sein Geist konnte sich befriedigt die Hände reiben. Dieses Auf die Füße Fallen und Sich die Hände Reiben nennt man Weltanschauung, und das hat der zeitgenössische Mensch verlernt. Er muß sich entweder des Nachdenkens über sein Leben ganz entschlagen, woran sich viele genugtun, oder er gerät in jenen sonderbaren Zwiespalt, daß er denken muß und scheinbar doch nie recht damit zum Ende der Zufriedenheit gelangen kann. Dieser Zwiespalt hat im Lauf der Zeiten ebenso oft die Form eines vollständigen Unglaubens angenommen wie die der erneuten vollständigen Unterwerfung unter den Glauben (...).107


Eine solche fand dort statt, wo man sich einen »Messias der starken Hand für das Ganze«108 erhoffte, der wiederherstellen sollte, was die moderne Zivilisation zerstört hatte: die Ganzheit der (deutschen) Seele. Musil diagnostiziert: Zeiten der Krise sind Geburtsstunden von messianischen Heilsbringern und Erlösern: ›Edelmenschen‹, die im ›Alpenglühen des Himmelreiches‹ einherschreiten. Für den Verlauf solcher Geburtsgeschichten bleiben die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts und besonders die Jahrhundertwende ein Lehrstück von ungebrochener Aktualität. Und das trotz - philosophisch gesehen war dieses Jahrhundert anfangslastig - der



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phänomenologischen Neubegründung der Philosophie und der Wissenschaft durch Edmund Husserl, die die langsame Selbstauflösung des Neukantianismus begleitete, trotz der logischen Analyse von Gottlob Frege und Wittgenstein, des Positivismus von Mach und Schlick und des Wiener Kreises, trotz der Daseinsanalyse Martin Heideggers. All diese Formen radikaler Neubegründung der Philosophie entstanden in einem geistigen Milieu, das noch der Bildungswelt des 19. Jahrhunderts entstammte und in den Philologien, in Historie und Kunstwissenschaft höchst lebendig war. Der spirituellen Entropie verfallen, vermittelte dieses ›geistige Milieu‹ längst keine Mitte mehr: die Janusgesichtigkeit seiner philosophischen Rettungsstrategien zeigt sich gerade darin, daß sie Energien freisetzten, sich Führerbilder wenn nicht verschwommenen Profils, so doch von einer auffallenden Ambiguität zu erphantasieren: die dann durch das politische Terrain geisterten, z. B. als ein völkischer Messias mit den markigen Konturen Bismarcks, in denen sich das Übermenschenpathos Nietzsches blähte. Den philosophischen Geistern blieb nicht mehr, als sich einen Führer spirituellen Zuschnitts zu erhoffen, der darauf bedacht sei, dem Ethos des Wahren, Guten und Schönen Geltung zu verschaffen. Max Weber suchte zu Beginn der Zwanzigerjahre die Normen und Organe einer plebiszitären Demokratie mit dem Wirken einer außerordentlichen Persönlichkeit zu verbinden, die als charismatische Kraft des Wandels erstarrte Strukturen aufbricht: »Von welchem punkt aus die heilung erfolgt, das heil kommt, das ist sekundär (...). Wie der künftige herr und heiland aussieht«, schrieb der in Heidelberg lehrende Germanist Friedrich Gundolf, »weiß man erst, wenn er wandelt.«109 Viele glaubten es aber schon eindeutig zuvor zu wissen - nicht zuletzt Gundolf selbst, der zu Weltkriegsbeginn bekennt, nur dort »ganz froh zu (sein), wo (er) einen Helden und führer verehren kann« - und fühlten nicht so sehr »luft von anderem planeten«,110 als daß ihnen das Licht im Osten aufging. Das intellektuelle Milieu war bestimmt von einem russischen Antagonismus. Denn nicht nur in Max und Marianne Webers Heidelberger Kreis, zu dem neben Lukács auch Ernst Bloch gehörte, kam in diesem Zusammenhang der Auseinandersetzung mit russischer Politik und Literatur ein zentraler Rang zu. Russisch pazifistisches und symbolistisches Denken hatte schon um die Jahrhundertwende, in der Entstehungszeit des ›Ardistan‹-Romans, das westeuropäische Geistesleben stark beeinflußt. Es war vor allem die Entscheidung zwischen Tolstoi und Dostojewski, die zum Lackmustest einer ganzen Generation wurde. Da stand etwa Tolstois totaler Gewaltverzicht im Geiste der Bergpredigt gegen Dostojewskis Rechtfertigung ›sinnlosen Terrors‹ als erlösender ›Tat‹, wie sie Naphta in Thomas Manns ›Zauberberg‹ doziert: »Nicht Befreiung und Entfaltung des Ich sind das Geheimnis und Gebot der Zeit. Was sie braucht, wonach sie verlangt, was sie sich schaffen wird« - es liegt nahe hinzuzufügen: als erlösende Tat -, »das ist - der Terror.«111 In der Dialektik des ›Ardistan‹-Romanes findet sich hier die Position des Panthers:



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»(...) selbst der Krieg, mein Herr, hat schon dem Fortschritt dienen müssen«,112 konzediert selbst Settembrini, was dem Panther dann zum Glaubensbekenntnis gedeiht: »Für mich ist der Krieg also das größte Friedenswerk, welches es auf Erden gibt.« (35, 99B) Da so viele Lektüren wie Leser sind, wurde Politik zu einer Frage der Hermeneutik. Der Anarchist Gustav Landauer entlehnte seinen radikalen Pazifismus bei Tolstoi und hielt später als Minister der Münchner Räterepublik doch nicht die andere Wange hin, und Lukács werden Dostojewskis Helden zu Kündern einer neuartigen ›ethischen Demokratie‹, einer Gemeinschaft der Güte und Brüderlichkeit, jenseits des ›abstrakten‹ Rechts einer utopischen Religion ohne Kirche, wie sie der ›Ardistan‹-Roman recht unverhüllt einfordert. Der schweigende Jesus der Parabel vom Großinquisitor aus den ›Brüdern Karamasow‹, die den Zeitgenossen zum Paradigma der Exegese gedieh und in der Konfrontation zwischen Jesus und dem Inquisitor Max Weber den Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik erkennen ließ, gilt Lukács als Repräsentant einer alle Institutionen ablehnenden Haltung. - Die Konstellation spiegelt sich in der Auseinandersetzung zwischen dem Sahahr und dem Dschirbani wider.113 - Nicht der von einer selbst ›luziferischen‹ Kirche vereinnahmte Christus, sondern nur der gegen den Vatergott rebellierende Jesus kann Erlöser einer gottverlassenen Welt sein. Carl Schmitt las in ›Römischer Katholizismus und politische Form‹ umgekehrt aus der Figur des Großinquisitors die ethische Notwendigkeit von Institutionen ab und leistete damit kräftig der Heiligung von Machtstreben und Machterhalt Vorschub, der die Resakralisierung des Politischen oder die Politisierung des Religiösen dienten.

Das hatte jüdische Tradition, denn die Vorstellung, daß sich Erlösung in der Öffentlichkeit auf dem Schauplatz der Geschichte abspielt und nicht - wie im Christentum - im Innern der Seele, gehört bis in die Gegenwart zur Tradition des jüdischen Messianismus. Publizisten und Gesellschaftstheoretiker des neunzehnten Jahrhunderts benutzten religiös besetzte Grundvorstellungen jüdisch-christlichen Geschichtsdenkens als Beschreibungs- und Deutungsmuster politischer Hoffnungen und gesellschaftlicher Prognosen. Für Ferdinand Lassalle sind 1862 die Arbeiter »der Fels, auf welchem die Kirche der Gegenwart gebaut werden soll«.114 Konservativ und national denkende Kreise, die an der Geschichtsmächtigkeit des gewaltigen Einzelnen festhielten, hofften auf eine ganze Galerie von Wiedergeburten, sei es Armins des Cheruskers, sei es diverser Friedriche - Barbarossa, der große Preußenkönig oder Schiller - sei es Bismarcks. ›Hermann, erwache!‹ riefen die Volksfreunde im Vormärz, im Ersten Weltkrieg dann: ›Bismarck, erwache!‹ Und jedesmal war den Vaterlandsvätern, die irgendwo in der ›Stadt der Toten‹ in einer ›Dschemma der Lebenden‹ des Aufrufs harrten, aufgetragen: ›Komm dein Volk zu erretten!‹ Das Volk aber? - Erschien dann Lohengrin endlich, so verriet ihn Elsa - »Die Nation hat ihren Erlöser nicht erkannt«115 -, oder die Jungfrauen verschliefen die Ankunft



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des Bräutigams. Die nationale Heilserwartung drohte sich immer wieder - einem Wort Holsteins zufolge - durch eine »Politique à l'operette«116 zu kompromittieren. Deshalb hieß es nach der Götterdämmerung des Ersten Weltkriegs: ›Deutschland erwache!‹ Und die an Deutschlands Universitäten lehrenden Historiker klonten sich gleichsam aus geistiger Geschlossenheit, ständischer Ordnung und Lenkung durch kraftvollen Herrscherwillen das Mittelalterbild eines neuen Jerusalems. Johannes Haller, der Gießener Mediävist, hieß seine Hörer und Leser 1923 hoffen auf »de(n) rechten Mann zur rechten Zeit«, »der alle Gebrechen« von Staat und Gesellschaft »mit der Wunderkraft des Genius (zu) heilen«117 versteht: unter dem Motto: »Ἒσσεται ἦμαρ - Es wird kommen der Tag«. Es sollte bekanntlich ein Flammentag werden, heraufgeführt von dem »geheimen Kaiser«, dessen Ideal als eines sendungsbewußten, heroischen Tatmenschen Ernst Kantorowicz 1927 in seiner Biographie des Stauferkaisers Friedrich II. im Auge hatte. Wie auch immer man dieses brillant geschriebene und auf subtiler Quellenkenntnis beruhende Buch einschätzt, seine Botschaft war nicht demokratiefreundlich, sondern stärkte das Sehnen nach einem heroischen Mann der Tat, der, gestützt auf eine Elite treuer Helfer, das Volk der Deutschen in eine bessere Zukunft führt: »als die in Ewigkeit erwartete Kraft, als der Messias, der Herr des Endes«.118 Diese ›erwartete Kraft‹ verkommt dann bei Joseph Goebbels - Ζεύς, ὁ θεὸς ὓει (Zeus, der Gott, regnet/lässt es regnen) - zur mythologisch-meteorologischen Metapher: »Deutschland sehnt sich nach dem Einen, dem Mann, wie die Erde im Sommer nach Regen«, notiert er am 4. Juli 1924 in sein Tagebuch.119 Diesen »Einen« glaubte er in der Person Adolf Hitlers gefunden zu haben, der »in der Zeit tiefster Schmach und Zerrissenheit das erlösende Wort einer ganzen Generation« fand und deshalb zum »Bahnbrecher und Gestalter der noch unklaren Sehnsüchte der deutschen Jugend nach dem Kriege« wurde. Solch messianisches ballyhoo hatte noch im Kriege, am 7. November 1917, Max Weber in einem Vortrag über ›Wissenschaft als Beruf‹ vor dem ›Freistudentischen Bund in Bayern‹ als Konstrukt irrationaler Sehnsüchte entlarvt: »(...) nur ein Prophet oder Heiland« könne die Frage beantworten, »welchem der kämpfenden Götter wir dienen (sollen.) Oder vielleicht einem ganz anderen, und wer ist das?« Wenn aber der Prophet und Heiland »nicht da ist oder wenn seiner Verkündigung nicht mehr geglaubt wird, dann werden Sie ihn ganz gewiß nicht dadurch auf die Erde zwingen, daß Tausende von Professoren als staatliche besoldete und privilegierte kleine Propheten in ihren Hörsälen ihm seine Rolle abzunehmen versuchen«.120 Das war auch nicht zu besorgen, denn eine solche Rolle, Handlanger zur Verwirklichung ihrer Träume zu sein, trauten die Wortführer der Jugendbewegung in ihrem Willen - »von jungen Messiaskronen das Haupthaar umzackt«121 -, den Thron der Alten zu stürzen und so die endgültige Destruktion der bürgerlichen Lebenswelt zu gewinnen, gerade den Professoren wohl ganz zuletzt zu. Dazu schien eher der Dichter berufen. Freilich nicht einer, der wie



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Tucholsky befand, daß »es notwendig (sei), der Ekstase zu wehren, nicht sie zu fördern«, da die »Jungen schon ohnedies eine hysterisch-übertriebene Auffassung vom Kriege (hätten)«,122 sondern eher der Poet als vates in augusteischer Zeit, der von sich sagen konnte - und noch war die Jugend humanistisch genügend geschult, den Zuruf zu verstehen -:


(...)
favete linguis: carmina non prius
audita Musarum sacerdos
virginibus puerisque canto. (Horaz, c. III,1)123


Und dieser poeta vates redemptorque war ja auch schon längst aufgetreten: denn Sehnsucht nach Führerschaft und Reich ist in der Literatur der ersten Jahrhunderthälfte notorisch. Es gediehen sowohl die mythischen als auch die poetischen Gewächse der Reichs- und Führersehnsucht, der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die durch die Tat eines heroischen »einzigen, der hilft«,124 herbeigeführt werden soll, nicht nur auf dem Boden demokratiefeindlicher Vorurteile, sondern wurzelten auch entschieden im Sumpf rassistischer Mythen, Blumen des Bösen, deren florales Design die Tempel der Edelinge in ihren ›Liebesgärten‹ allenthalben überwucherte. Dafür hatte der um 1908 in Ussula reisende, im Kalendergeschichtenton über das Seelenleben der Pflanzen orakelnde Florist dann doch ein entschieden distinktes Gespür: daß


alle diese Herrlichkeit ... sich aus stehendem Wasser (entfaltete), auf sumpfigem Boden, und allen diesen Blumen muß doch, so schön sie sind und so heilig sie gehalten werden, jene feinere und reinere, jene zugleich höhere und tiefere Art der Herzenswirkung abgesprochen werden ... (34, 643A)


Der ästhetische Haushalt konsultierte ebensowenig Rezepte in den Gesinnungsküchen, wie der ›Stern des Bundes‹ und ›Sitara‹ im gleichen Planetensystem zu lokalisieren sind und die Sultanin dieses Reiches (34, 81A) 1907 etwas gemein hat mit »oestliche(n) Wirren«, wo »sich inmitten ziellosen geschreis / Der Eine hebt...«:125


Der mann! die tat! so lechzen volk und hoher rat.
Hofft nicht auf einen der an euren tischen ass!
Vielleicht wer jahrlang unter euren mördern sass,
In euren zellen schlief: steht auf und tut die tat.126


»die tat«: 1921 besteht sie darin, »das wahre sinnbild auf das völkische banner« zu heften und »seiner treuen schar«127 das »Neue Reich« zu pflanzen. Dabei: die menschenformende Kraft, die von George auf seine Schüler und Verehrer ausging, ist nicht zu unterschätzen. »Sie haben dem Nationalsozialismus Wege bereitet, die sie dann selbst nicht gingen«.128 Am Ende dieser euphorischen Aufbruchsstimmung führt die letzte Ausfahrt nicht nach



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›Dschinnistan‹ über den See von El Hadd in den Strahlenjubel eines neu beginnenden Tages, der alles paradiesisch eint, sondern über ein ›lang entseeltes Meer‹ ins ›glanzlos Leere‹. Was heroisch in George anhub, ›kehrt‹ sich seinem Jünger und Gefolgsmann Wolfskehl katastrophisch in den Zerfall.


Eine schwarze Barke sticht
In das Starre, glanzlos Leere,
Eine Barke, lang in Sicht.
Heisst sie Ausfahrt? Heisst sie Kehre?
Fragt die Barke, fragt sie nicht.129


Die Barke mit dem weißen Segel, die Marah Durimeh über den abendsonnenbestrahlten See von El Hadd trägt, erfährt hier ihre Metamorphose zum ›Totenschiff‹, auf dem eine Innung von Edelingen den ›Reichs‹gedanken ins »glanzlos Leere« verabschiedet. Was blieb, war eine Schar von Totengräbern übernutzter Ideale.

Das läßt sich von den Edlen von El Hadd und Dschinnistan so jedenfalls nicht sagen, sie waren keine Reichsgründer. Dschinnistan bedeutet keine verordnete, sondern eine erworbene - nicht Erneuerung, vielmehr - Rückkehr und Wiederauferstehung, in der Terminologie des alexandrinischen Theologen Origenes, eine ?p??atastas?? (›Wiederbringungslehre‹), wo »das Ende aller Dinge aller Schuld Vergessung sein, das Land der Hölle der Glückseligkeit der Welt zurückgegeben«130 werden wird und am Ende alle Menschen erlöst sind, selbst die Bösen, die auf Erden keine Buße taten. (Daß am Ende des Romans den »Panther« ... kein Auge jemals wieder (sah) (35, 936A), bedeutet nicht, daß er nicht am Ende aller Tage seinen Auftritt haben wird.) Hier findet sich in Mays Utopie durch die Überblendung von Gut und Böse der eschatologische Fokussierungszwang auf einen Messias entschärft. Ein solcher muß per se bellizistisch sein. Und in diesem Punkt erweist sich ›Ardistan und Dschinnistan‹ dann doch als ein - vielleicht in sich nicht ganz schlüssiges - großes Friedensbuch, in dem nichts nachzulesen ist von einer nationalen Revolution als messianischem Ereignis, das keinesfalls einen Beitrag liefert zur Bildung idealisierter Retterfiguren, die - ein Kollektivphänomen im Mythenhaushalt europäischer Nationen - die gebeugten Völker aufrichten und persönliches Glück erreichbar machen sollen und unter denen sich kaum einer findet, »der sein Schwert zurückhält vom Blute!«.131 Über dem Dschirbani, dem Schech el Beled, schließlich auch dem 'Mir von Ardistan - und gerade ihm - liegt der abendliche Glanz des Pietismus; George L. Mosse sieht Mays Romane in dessen Tradition stehen, die »stets die Grausamkeit seiner triumphierenden Helden (mildert)«.132

Hier ergibt sich denn auch der entscheidende Unterschied zu den gängigen Panegyrika um den Neuen Menschen, dessen Barden »weit unter dem trivialkulturellen Niveau eines Karl May (lagen)«.133 Denn ›Empor ins



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Reich der Edelmenschen‹, so wie May diesen Cantus firmus seines Spätwerkes intoniert, ist keine Evokation des Nationalstaats, in dem ein auserwähltes Volk seine Reinheit pflegt und damit den Humanismus verabschiedet: Barbarei treibt. Wenig ist im ›Ardistan‹- wie auch im ›Friede‹-Roman spürbar von der Aggressivität des Rechten Glaubens. Weder eignen sie sich als Libretti für eine National-Oper oder als liturgische Texte für eine ›Erlöser‹-Messe geschweige denn als Anweisungen eines messianischen Tatellah-Satah für ein »wahnwitziges Kriegsspiel germanischer Karl-May-Leser«,134 deren »ganze, glühende Sehnsucht unserer Rasse«135 »Europa als Kinderspielplatz mutwillig zertrampelt«.136 In derartigen Verdikten bekundet sich nichts weniger als die Polemik ignoranten Sackschlagens, diktiert von einer unkontrollierten Idiosynkrasie. Die Edelmenschen dieses Reiches, in das es emporzusteigen gilt, verwalten nicht Nationalität und damit dann bald einmal - nach Grillparzer - Bestialität, sondern Humanität.



M y t h e n e n t s o r g u n g a u f d e r › M a l l ‹


Bücher, die man zu Ende schreibt, haben keinen Schluss.
Hugo Loetscher: Wann hört ein Buch auf?


Der Begriff - Humanität - läßt innehalten. Vermag uns Heutigen ein kanonisiertes kulturelles Erbe, dem er wesentlich Stütze ist, überhaupt noch etwas anderes zu zeigen als die ungebrochene Bannkraft des Unwahren, die einer überholten und in ihrer Zeit schon leergelaufenen Metaphysik verpflichtet ist, von deren Prämissen, dem Glauben an den Sinn und die Kultur, schon Nietzsche wußte, daß sie gerade das Nihilistische an der deutschen historischen Religion waren; und finden sich nicht eben hier die Musterbücher für die leeren Appelle an eine Erbauungskultur, deren auch die Werbeagenturen modernen Kulturmanagements nicht entbehren können und denen wir bürgerlich zugerichtete Menschen seit Generationen willig und lammfromm folgen? - Schwierig die Antworten, die auf die »inventio veri« (Augustinus), das »Wahre« in der Kunst abzielen, vor allem dort, wo sie sich als ›Religion‹ etabliert hat: um den Preis ethischer Destabilisation.

Schon einmal hatte Kultur, wie gezeigt, als Religionsersatz gedient. Im Zeitalter des Symbolismus. Weltflucht weht einem da entgegen, der Lufthauch von Engelsflügeln gewissermaßen, die in einem Tugendreich hehrer Wesen ihren Dienst versehen: voll hoher Frauen, Taldscha oder der Priesterin, Göttinnen und reiner Mädchen. Die Symbolisten verband kein einheitliches Stilwollen, sondern die Haltung. Eine Jahrhundertwende zog auf und führte in ihrem Gefolge die offenbar unausbleiblichen finsteren Zukunftsvisionen. Rasanter technischer Fortschritt, industrielle Revolution und Positivismus der Naturwissenschaften stimmten bang. Wo der Mate-



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rialismus Religion und ethische Werte verdrängt, stellt sich die Frage nach dem Überleben der Seele. Und da haben erneut die Engel ihren Auftritt. Wo bleiben die Träume, wenn die ratio allein regiert? Lange nach Literatur und Musik eröffnet auch die bildende Kunst Refugien für Mystik und Ideale und beginnt der Irrationalität Reservate zu schaffen - ein solches wiederum ist Dschinnistan -, wo die Phantasie sich laben soll. Mehr noch: die Kunst selbst wird zum Heilsbringer erhoben. Joséphin Péladan, der exzentrische »Patriarch« des Pariser Symbolisten-Hortes der Salons de la Rose et Croix, der sich persisch ›Sâr‹ (vgl. Sahahr; 34, 205B), also ›Zauberer‹ tituliert, stürmt im Manifest der Rosenkreuzer göttliche Bastionen: »Der hehre Enthusiasmus des Künstlers überlebt die erloschene Frömmigkeit von einst. Elende Moderne, haltet ein in eurem Lauf zum Nirwana (...) eure Gotteslästerungen werden den Glauben nie töten. Ihr könnt die Kirchen schließen - doch die Museen? Der Louvre wird die Messe lesen, wenn Notre Dame profaniert ist.«137 Die Künstler sind die Priester. »Maler der Seele« nennt sie eine Ausstellung, die 1896 teilweise aus den Reihen der Rosenkreuzer heraus organisiert wird.

Als Anwälte jedoch einer Verödung des Ethischen durch das Ästhetische konnten auch sie eine geistige Umweltkontamination nicht aufhalten, die zu einem Crash of Civilization führen mußte, und zu einer - angesichts des Weltkrieges mit seinen »mit heraushängenden Gedärmen im Stacheldraht verendeten« Kämpfermarionetten und der brutalen Liquidierung demokratischer Institutionen allenthalben - allerdings verspäteten »Wendung des Lebens vom Ästhetischen, in dem es nur Möglichkeiten gibt, zum Ethischen, in dem man Aufgaben erkennt«.138 Schon 1958 hatte der Politologe Eric Voegelin in seiner Münchner Antrittsvorlesung die modernen Bewegungen wie Marxismus, Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus des intellektuellen Schwindels und der religiösen Korruption geziehen. Er sah in ihnen nicht viel mehr als »gnostische Massenbewegungen«139 aus der wilden Wurzel eines versehrten, krank gewordenen Christentums: spirituelles Unkraut, das zur Devastation auf den Feldern des Geistes führe, zur Opferung von Vernunft und individueller Mündigkeit auf dem Altar kollektiver Erlösungsversprechen, die einen Status idealer Erkenntnis einfordern, den es aus keiner Perspektive geben kann, genauso wenig wie den idealen Menschen und den idealen Gesellschaftszustand. Alle Utopie ist Selbstexplikation, perspektivisch zu denken - den idealen Beobachter, die eine Außenperspektive gibt es nicht. Sie zu ›erschaffen‹ bedeutet das Risiko der Vernichtung.

Für Voegelin war es klar, daß der hohe Abstraktionsgrad der ›großen Idee‹, die Überzeugung, daß die Utopie auf Erden möglich sei, den Sinn für die Wirklichkeit getrübt und zu den großen Katastrophen geführt habe und daß gerade Intellektuelle eine seltsame und konsequente Vorliebe für allumfassende Gewaltanwendung entwickelt hätten. Er teilt damit den Augustinischen Geschichtspessimismus und spricht ihm - unter gewandelten



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Vorzeichen - letztlich die bessere Chance der Geschichtsdeutung in christlichem Geiste zu. Schon das Mittelalter kennt zwei gegenläufige Erwartungen, die miteinander im Streite liegen. Hier ein ›millennaristischer‹ Optimismus, der das Heil der Welt als das Zeitalter des Geistes bei sich weiß; dort die von Augustinus machtvoll geprägte Theologie der Skepsis, daß Erlösung jemals - und v o r dem Ende aller Zeiten - zum Geschehen ›in der Geschichte‹ werden könnte. Für Augustinus, dessen Lehre vom Gottesstaat (›De civitate Dei‹) für ein rundes Jahrtausend die verbindliche Geschichtstheologie des Christentums werden sollte, geht es um den ewigen Widerstreit von ›civitas terrena‹ und ›civitas Dei‹ (allenfalls mit einer ›civitas permixta‹ dazwischen), angesichts dessen erst in utopischer Transzendenz zu erwirkender Auflösung alle irdischen Kriege sündhaftes Teufelszeug sind.

Der im übrigen destruktive Drang, Erlösung gleichsam sublunar zu erzwingen, beruht für Augustinus auf einem ›fleischlichen Mißverstehen‹ des mosaischen Gesetzes: auf dem Nicht-Begreifen, »daß seine irdischen Verheißungen Sinnbilder himmlischer Dinge sind«, daß »(n)icht auf Erden, sondern im Endgericht« Gute und Böse ihren Lohn empfangen,140 »erst nach der Auferstehung des Fleisches (...) jenes Gericht stattfinden wird, in dem die Guten und Bösen endgültig voneinander geschieden werden«.141 In diesem Sinne muß er auch einen gleichsam schlaraffisch generierten Chiliasmus, die Vorstellung eines auf Erden himmlische Zustände simulierenden tausendjährigen Reiches (Off. 20, 1-6), verwerfen, das in einer fast konsumistischen Emphase auch nicht mehr als einen zwangsverordneten Frieden bringen kann:


Aber wenn man sagt, die dann Auferstehenden würden ihre Muße mit maßlosen leiblichen Tafelfreuden hinbringen und solche Fülle von Speise und Trank genießen, daß von keinem Maßhalten mehr die Rede wäre, ja ein mehr als unglaubliches Schwelgen anfinge, so können doch nur fleischlich gesinnte Menschen derartiges glauben. Die geistlich Gesinnten pflegen die, welche dieser Meinung huldigen, mit einem griechischen Wort Chiliasten zu nennen.142


Ein solcher Zustand entbehrt »der Ruhe der Ordnung«,143 die den wahren Frieden hervorbringt und mit ihr den Stand der befreienden Erlösung. Denn auch für Augustinus, der in ›De civitate dei‹ eine ganze Anzahl von Friedensdefinitionen auflistet, besteht »der Friede des Staates in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen, der Friede des himmlischen Staates in der bestgeordneten, einträchtigsten Gemeinschaft des Gottesgenusses und gegenseitigen Genusses in Gott«.144 Diese ›bestgeordnete, einträchtigste Gemeinschaft‹ der Guten in Gott hat May in Dschinnistan, im Vorschein des ›Gottesstaates‹, an den Ufern des mächtigen Stromes Ssul angesiedelt. Er garantiert nicht nur den Frieden, er verkörpert ihn vielmehr in einer Weise, die vermuten läßt, Jesaia selbst habe dem bibelkundigen Autor die Allegorie gestiftet. »Denn also spricht der



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Herr: Siehe, ich breite aus den Frieden bei ihr wie einen Strom und die Herrlichkeit der Heiden wie einen ergossenen Bach.«145 In der Mayschen ›Dschinnistan‹-Allegorie wird Gott in ganz ähnlicher Weise - übrigens in jambengetragenem Redefluß - aktiv:


»Da spricht der Herr: ›Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!‹ Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen.« (34, 401B)


Und es mag einem kollektiven - unbewußten - Bildergedächtnis geschuldet sein, daß des Augustinus Auslegung der Jesaia-Stelle sich wie ein Kommentar zu ›Ardistan und Dschinnistan‹, dem Tief- und dem Hochland, als allegorische Umsetzungen der Zwei-Reiche-Theorie von ›Welt- und Gottesstaat‹ liest.


Bei der Verheißung an die Guten müssen wir unter dem Strom des Friedens sicherlich die Überfülle jenes Friedens verstehen, den nichts übertreffen kann. Mit ihm werden wir am Ende gelabt werden (...). Diesen Strom, sagt Gott, werde er auf diejenigen herableiten, denen er solch große Seligkeiten verheißt; so zweifeln wir nicht daran, daß in jenem glückseligen himmlischen Gefilde alles durch diesen Strom gesättigt werden wird. Weil aber auch von daher den irdischen Leibern Friede der Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit zufließen soll, spricht er von einem Herableiten dieses Stromes, der sich also gewissermaßen aus der Höhe in die Tiefe ergießt und die Menschen den Engeln gleichmacht.146


Die ethische Ökologie Ardistans bietet - abgesehen von den Brunnenengeln -, wie wir wissen, da nun einige Schwierigkeiten. Denn der von May in seiner Dschinnistan-Allegorie zitierten Legende scheint in diesem Sinne eine ›Erlösung‹ gleichfalls erst ›ultra apocalypsim‹ möglich.


»Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug- und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt- und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben.« (34, 402B)


Es ist das nach wie vor ein Friede, der - defizient - in einem mangelnden Vermögen, kriegerische Ziele durchzusetzen, ›nicht im Herzen der Menschheit wurzelt‹, im inneren einträchtigen Zusammenhalten, der vielmehr auf ein beständiges Gleichgewicht politischer Kräfte angewiesen ist und mithin nicht aus einem Mangel an kriegerischen Motiven hervorgeht, in welchem Kant den dauerhaften Frieden begründet sieht: garantiert durch eine »republikanische«147 Verfassung. Tatsächlich ist ja die Beobachtung,



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daß gefestigte Demokratien keine Kriege miteinander führen, eine der wenigen gut konfirmierten Regelmäßigkeiten der internationalen Politik. Wobei gilt, daß ebensowenig »ein Welt- und Völkerfriede (...) herbeigezwungen werden« kann (34, 402B) wie ein demokratischer Konsens, der ihn generiert. Für Kant geht es dabei bezeichnenderweise um »keine leere Idee, sondern (um) eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in denen gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt«.148 Es bleibt beim Diktum des Atomphysikers Niels Bohr,149 daß es angesichts der erst in der Endzeit einmal überwindbaren Widersprüche der menschlichen Existenz in der Jetztzeit nur darauf ankomme - und auch genügen müsse -, nach Harmonie zu streben, jener Harmonie, die nach Pauly-Wissowa150 das lateinische Wort ›pax‹ meint. Gefordert wird also desgleichen hier wie von Kant und May der evolutionäre Weg der Erziehung. Voegelins postdschinnistanische Empfehlung als »Bahnbrecher und Gestalter der noch unklaren Sehnsüchte der deutschen Jugend nach dem Kriege« lautete dementsprechend kompromißlos aufklärerisch: »Die Erziehung junger Menschen« - schreibt er 1971 lange nach seiner Rückkehr aus München in die Vereinigten Staaten in einem Brief an Hans Maier -


war der wichtigste und erfreulichste Teil meiner Tätigkeit in München. Aus der Münchner Erfahrung weiß ich, daß junge Leute (...) Rat und Hilfe in der intellektuellen Konfusion der Zeit suchen und annehmen, daß sie bereit sind, schwer zu arbeiten, um das geistige Rüstzeug zu erwerben, das sie befähigt, dem Druck des ideologischen Irrenhauses, in dem alle aufwachsen, Widerstand zu leisten, sobald sie verstanden haben, daß diese Arbeit notwendig ist, um die Freiheit und Ordnung ihrer Existenz als Menschen zu gewinnen. Der Erfolg war im besonderen an denen zu bemerken, mit denen ich jahrelang zusammengearbeitet hatte. Sie litten nicht mehr unter theoretischer Hilflosigkeit gegenüber dem aggressiven Ideologieunfug (...) Sie verfielen weder dem Stupor der Ideologieerregung, noch machten sie opportunistische Konzessionen, noch waren sie gezwungen, dümmliche Allerweltsweisheiten von sich zu geben, weil sie nichts Besseres gelernt hatten. Sie konnten Widerstand leisten und selbst zu Helfern werden. Nur diese - ihrer Sache intellektuell sichere - geistige Haltung, die jahrelange Erziehung fordert, ein Training, das von Platon und Aristoteles bis zu Jaspers und Bergson als die Umkehr, als die Revolution des Bewußtseins verstanden ist, kann uns heute helfen.151


Eine bündische Welt mit einem Anflug Aroma des George-Kreises bleibt dabei spürbar. Doch werden die Gebote Dschinnistans im Sinne des ›sapere aude‹ einer ›praktischen Vernunft‹ vermittelt, wird auch hier abgestellt auf den »Kreis von höher stehenden, weiter denkenden und tiefer fühlenden Menschen, bei dem ein jeder verpflichtet ist, der gute Engel eines seiner Nächsten zu sein ...« (34, 925A)

Nach Mißbrauch und Ausverkauf aller Erlösungsmodelle, unmittelbar nach der Stunde Null, imaginierte Thomas Mann in seiner berühmten Ant-



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wort auf Walter von Molos Einladung, aus der Emigration nach Deutschland zurückzukehren, ebenfalls eine milde, moderate Entwicklung nach dem Kollegialitätsprinzip. Es gelte, »in einen neuen Lebenszustand überzugehen, der vielleicht nach den ersten Schmerzen der Wandlung und des Überganges mehr Glück und echte Würde verspricht, den eigensten Anlagen und Bedürfnissen der Nation günstiger sein mag als der alte.« Es sei sehr zu hoffen, »daß zwangsläufig und notgedrungen die ersten versuchenden Schritte geschehen werden in Richtung auf einen Weltzustand, in dem der nationale Individualismus des 19. Jahrhunderts sich lösen, ja schließlich vergehen wird (.) Weltökonomie, die Bedeutungsminderung politischer Grenzen, eine gewisse Entpolitisierung des Staatenlebens überhaupt, das Erwachen der Menschheit zum Bewußtsein ihrer praktischen Einheit, ihr erstes Ins-Auge-Fassen des Weltstaates -« in diesem an Hans Küngs ›Weltethos‹ erinnernden »über die bürgerliche Demokratie weit hinausgehende(n) soziale(n) Humanismus, um den das große Ringen geht«,152 sieht er die Bedingungen für ein neues Dschinnistan erfüllt. Die Prophezeiung sollte sich in gewissem, freilich degenerativem Sinne, in einer Art Banalisierung und mit einem nicht unbedenklichen Hang zur geistigen Sklerose, wenn nicht gar Entropie, erfüllen, indem der Wohlfahrtsstaat den »soziale(n) Humanismus«, der ihn gebar, bald einmal in den Konsumismus überführte, der den Imperativ ›sapere aude‹ mehr behauptet als lebt. Kein Krieg mehr, weil keine Ideologien, reiner Konsum, den nichts Geistiges mehr stört, ist doch das Geistige auf unberechenbare Weise, wie wir gesehen haben, kontingent. Dementsprechend brachten die manisch produzierten Mythen und Spiritualismen, mit denen man sich paradoxerweise gegen die unaufhaltsame Entzauberung der Welt wehrte, nicht mehr als einen apokalyptischen Kollaps, dem - ironisch genug - als Phönix der turnschuhmobile Konsumadonis unserer Tage entstieg. So gegenwärtig uns noch heute von diesen Weltgefühlen des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts jenes der - von Sascha Schneider ingeniös gemalten - Abhängigkeit gesellschaftlicher Existenz ist, so fremd geworden erscheint uns die rastlose, von verwegenen Phantasien getragene Suche nach einem großen, definitiven Ausweg. In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt sich eine Strömung, die der amerikanische Soziologe Robert Inglehart als ›postmateriellen Wertewandel‹ bezeichnet. Dem Vorrang von Sinn- und Wertefragen korrespondiert der meist als ›postmodern‹ charakterisierte Trend zur Ästhetisierung der Lebenswelt, weitergefaßt zu dem, was Panajotis Kondylis die ›analytisch-kombinatorische Denkfigur‹ des nachbürgerlichen Zeitalters genannt hat, in dem sich jeder nach eigenem Gusto aus einer Menge an kulturellen Offerten bedient. Das Leben selbst bekommt dabei Festivalcharakter, inszeniert sich als Rummelplatz, auf dem die meisten Menschen als Idioten, als Laien, auf der Suche sind nach dem Außergewöhnlichen beim Festival der Sinn- und Beziehungsfetische. Der smarte Turnschuhadonis annihiliert die Sprengsätze der Ideologien im



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permanenten Versuch, sich die Warenwelt zu transzendieren. Seine Religion, seine Konfession ist der Konsum, und als wichtigsten Artikel ihres Credos bekennt er die Fitneß, deren Fanfare er bläst, womit er freilich am Horizont der Totalitarismen als neue Heilsutopie der zivilisierten Gesellschaft die Gesundheit aufruft.

Einzigartigkeit, Norbert Bolz sagt es mit dankenswerter Offenheit, ist nur als Kopie zu haben. »So muß das Kopieren als Weg zur Einzigkeit gelebt werden. Maßanfertigung als Massenware - nur du trägst diese Jeans.«153 Vom Himmel aber ist nichts mehr zu erwarten. Der letzte Weg dorthin, nach ›Dschinnistan‹, ist durch Kaufhäuser und Boutiquen versperrt. Sie verwalten das Heil, und der Theologe und in ihm der Ideologe feiert seine Wiedergeburt im Designer, während der Philosoph sich völlig verabschiedet und in Markenimages verschwindet. »In der Wirtschaft des Unsichtbaren werden Marken philosophieren«154 und - souffliert von Mephistopheles - das Ende aller Utopien verkünden Denn: Alles, was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht. »Wirft weg, damit du gewinnst.«155 Ist damit auch das Ende der Geschichte erreicht? Jedenfalls:

Nach der Bankrotterklärung der Ideale teilweise sehr rückwärtsgewandter Mythologien erleuchtet die Grandhotels und Luxusliner nicht mehr eine ideenüberhöhte histrionenhafte Lebenskunst, sondern der demokratisierte Konsum, liegt Dschinnistan als ›Endstation Sehnsucht‹ in all den schönen Geschäften und verführerischen Schaufenstern an feinen Modemeilen: und der 'Mir von Dschinnistan verantwortet Sponsoring von Segelregatten und Golfturnieren. Leitfigur ist - wenn man heute überhaupt noch solch hierarchienstiftenden Begriffs bedürfte - nicht mehr der Athlet, der auf den geistigen Foren die Hydra rückwärtsgewandter Mythologien bändigt, um damit die Zukunft zu züchtigen, sondern der smarte Konsument, ein der Traditionen entbundener Freizeit-Freak, der »ganz vergessener Völker Müdigkeiten«156 schon längst von seinen Lidern abgetan hat, voll damit beschäftigt, harmoniesüchtig die Messe seines Outfits zu zelebrieren. Er verwirklicht damit eine Vision zur Zeitenwende, die schon 1895 Paul Signac in einem Riesengemälde gestaltet hat mit dem bezeichnenden Titel: ›Die Zeit der Harmonie. Das goldene Zeitalter liegt nicht in der Vergangenheit: es liegt in der Zukunft‹. Die Verbindung dort von Arbeit im Freien, Lesen, friedlichem Spiel von Erwachsenen und Kindern, Tanzen und Malen enthält alle Elemente eines künftigen Zeitalters ohne Rückgriff auf die Vergangenheit. Dschinnistan ist Shoppyland. Es inszeniert sich als Mall und ist dabei von den Hotelpalästen, den Schauplätzen künstlicher Paradiese, wie sie die hyperaktive Lebenslust, der Champagner-Elan, des vorletzten Fin de siècle konstruierte, nicht weit entfernt.

Erinnern wir uns an die Funktion der Rolltreppe. Zur rechten Zeit rollte exakt 1900 die erste auf der Pariser Weltausstellung. Nach oben. Und beförderte ein ehrfurchtsvoll staunendes Publikum in den Konsumtempel oder auch hundert Jahre später - wo postmodern alles sich mit allem ver-



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linken läßt - in den Kunst- und Museumstempel, wie ihn Frank Gehry als architektonische Phantasmagorie für das Guggenheim Museum über dem East River plant. Vor dem vertrauten Gebirgsmassiv der New Yorker Skyline schwebt eine silbrig glitzernde Wolke aus Titanblech - Hölderlins ›hochgehoben, ein silbern Geländer‹ der alpinen Kammlinie zitierend -, über die hinaus muß, wer zwischen Picasso und Beckmann, Beuys und Anselm Kiefer des Wahren, Guten und Schönen teilhaftig werden will. Ein Anblick nicht von dieser Welt, den in hölderlinschem Pathos die Überschreitung dieses Grats, der ›Utopienteststrecke‹ des 19. und 20. Jahrhunderts, um nach Dschinnistan zu gelangen, einst verheißen hatte. Dieser point de vue sollte den Ausblick eröffnen über das von Hölderlin emphatisch verkündete Kanaan eines »neue(n) Geistesbund(es)«. »Die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben, und diesen Platz erobern wir gewiß.«157 Peter Sloterdijk sieht darin die Schlüsselsätze einer Ästhetisierung des Politischen, einer »Schönen Politik«, die einerseits »über ihren moralischen Wert hinaus ›als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird‹«, andererseits »von einem Hunger nach Verwirklichung«158 dessen, was sie als ›schön‹ erkannt hat, angetrieben ist. Verglichen mit den Positionen Hirschbergs159 ist das pure Restauration. Denn ›Dschinnistan‹ als ästhetische Provinz, als ›Freistaat einer Theokratie des Schönen‹, die den realen Staat nach Drehbüchern der Schönen Politik inszeniert, konnte - je nach Wechsel der Moden, Justierung der ästhetischen Parameter und unter Hintanstellung ethischer Vernunft - auf der Suche nach dem Glück sowohl zur Schädelstätte, zum Schauplatz gigantischer Greuel werden (in Erfüllung der Versprechen Märdistans) als auch zum Vergnügungspark, zum Boulevard dandyhafter Lifestyles und eines sybaritischen Exhibitionismus. Allenfalls im Traum begegnete man wohl solch wundersamen Gebilden oder aber in ›Dschinnistan‹. Dort jedoch sollen sie nicht bleiben. Dschinnistan konkretisiert sich in der allgemeinen tempelarrondierten Verfügbarkeit und im gesicherten Zugriff auf das paradiesische Sein in ›Fun-Reservaten‹, den McDonald's und Getty garantieren; zum Beispiel im ›Land der Glücklichen‹, das der russisch-litauische Schriftsteller Yan Larri in einem 1931 erschienenen utopischen Roman beschrieb. Bald schon werde die Menschheit ein Leben führen, so meinte er, das vorwiegend aus Gelächter und einem musikuntermalten Picknick am Seerand bestünde. Zum Wohnen stellte er die Hotels ›Zum glücklichen Fischer‹ und ›Zum fröhlichen Piloten‹ zur Verfügung (Etablissements, die Stalin so wenig gefielen, daß er den utopischen Hotelier in einem sehr realen Straflager internieren ließ). Hier vollendet sich in den Scheinwelten konsumierbaren Erlebens die Inszenierung der Freizeit, die von den Gartenparadiesen der Renaissance, den höfischen Parkanlagen - von der Villa d'Este in Tivoli bis zum Hohenheimer Park bei Stuttgart - über die Szenerien des Klassizismus und ihrer in antikisierenden und arkadischen Kulissen kultivierten Illusion des ›Goldenen Zeitalters‹ bis hin



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zu Disney World stetig an Bedeutung gewonnen hat. Und hier wird am Konzept des fallierenden und konvertierten Grafen de Renesse weitergeschrieben. Für Komfort und Erbauung ist gesorgt, Natur und Kunst in den Zustand der Austauschbarkeit übergeführt; das Möglichkeitsprinzip hat über das Wirklichkeitsprinzip obsiegt. Alpenpanorama und Wolkenkratzer-Skyline entwickeln gegenseitig ihre Synergien und gestalten ein Programm, dessen Mehrwert die im Cyberspace simulierte und generierte Göttlichkeit ist. Im Tempel der ›Stadt der Toten‹ hat Karl May den Code dieser Simulation schon durchbuchstabiert.


Es war inzwischen draußen Abend geworden. Darum befand ich mich hier unten im Innern des Tempels nicht nur in vollständiger Stille, sondern auch in ebenso vollständiger Dunkelheit. Aus dieser Finsternis stieg grad von da aus, wo ich stand, die Lichterlinie empor, einen immer weiter aufwärts dringenden, sich scheinbar unendlich oft wiederholenden und doch niemals zu sich selbst zurückkehrenden Kreis beschreibend. Daß dieser Kreis immer kleiner und enger wurde, kam mir nicht als Wirklichkeit, sondern wie eine optische Täuschung vor und verdoppelte, verzehnfachte, ja, verhundertfachte die wirkliche Höhe des Tempels. Es war, als sei er mitten in den Himmel hineingebaut und als könne man von Licht zu Licht bis direkt vor Gottes Thron gelangen. Und diesen Weg stieg ich jetzt hinauf! (35, 739Bf.)


Last Exit: »Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist«, hatte sechs Jahre nach dem Erscheinen von ›Ardistan und Dschinnistan‹ Georg Lukács geschrieben.160 Empor ins Reich des Edelmenschen, nicht sich ›fort‹, sondern, dem Imperativ Zarathustras folgend, sich ›hinauf‹ pflanzen, sich, so Mays Wortwahl, ›emporbilden‹ (man habe sich zum Edelmenschen emporzubilden; 35, 887A); ›supra hominem‹ - dem Menschen überlegen - in einen Raum, wo schon Leibniz den von ihm erdachten apparativen Übermenschen wirksam sah. - Nach seinem ikarischen Absturz in der politischen Realität der ersten Jahrhunderthälfte bleibt: ein sich Hinaufschrauben im Cyberspace. Der Eudaimonismus erfüllt sich in der Virtualität des Bildschirms. Warum nicht? Offenbar scheint der Friede in der Banalität internetgesicherten Konsums besser gewahrt als im Halluzinieren von Menschheitsidealen. Gleichwohl muß nicht Stillstand des politischen Motors befürchtet werden.

Dafür sorgt Carl Schmitt: nach seinem weltanschaulichen Konstruktionsplan betreut Politik grundsätzlich den Antagonismus von Freund und Feind, von - manichäisch formuliert - Gut und Böse und müßte sich im Willen zum Gewaltverzicht selbst liquidieren. Zu befürchten ist das - trotz des allenthalben verbreiteten Konsumpazifismus - nicht. Denn dieser Wille scheint weltweit paralysiert, weil häufig die Bereitschaft dazu weniger den Regierungen als der Bevölkerung selbst gerade dort abgeht, wo in den im pazifistischen Pathos gestikulierenden, meinungsbildenden öffentlichen Diskursen politisches und kritisches Bewußtsein längst in ritualisierten Klischees, im ›hohen Ton schöner Politik‹ erstarrt ist. In der Freizeitgesell-



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schaft findet sich dem, der hier nach dem Trost der Reflexion sucht, der kritische Impuls allenfalls als ironischer Modus öffentlicher Repräsentanz kodiert und bleibt so in gewissem Sinne doch wirksam und politisch abrufbar, wenn er Subkulturen, alte und neue Lifestyles und Freizeitverhalten als die berühmten harten Fakten versteht, als politische Willensbekundungen, die sich nur noch nicht in diskursiver Gestalt entpuppt haben: als den härtesten Faktor der Politik, denjenigen nämlich, von dem sie ihren Namen hat, als die ›Polis‹, die ›res publica‹, das Publikum. Cornelius Castoriadis nannte diesen Faktor ›das gesellschaftliche Imaginäre‹. Es ist der utopienentrümpelte Raum der ›Mall‹, in den die Einkaufspassagen und Amüsiermeilen eines dekonstruierten Dschinnistan münden. Hier bleibt - in den Hinterzimmern der Diskotheken - der ›Panther‹ sprung- und die emblematische Fauna der exotischen Terrarien aktionsbereit.161 Mit anderen Worten: In ›Dschinnistan‹, welcher Art auch immer, lauert die Schlange der Langeweile und mindert mit ihrem Versprechen, die Wechsel auf Erkenntnis einzulösen, den Ewigkeitswert der Paradiese beträchtlich. Dank ihr hat niemand zu besorgen, es könnte ein ›finis historiae‹ geben.


1 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1970, S. 521
2 Gert Mattenklott: Körperkultur, Ökosophie und Religion. In: Janos Frecot/Johann Friedrich Geist/Diethart Kerbs: Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Fluchtbewegungen. Hamburg 1997, S. X - »Tatsächlich führen die üblichen Epochenbegriffe für das erste Jahrhundertdrittel, führen ›Wilhelminismus‹ und ›Weimarer Republik‹ leicht zu einer Überschätzung des im engeren Sinn Politischen. Breite Bevölkerungsschichten, mit Sicherheit die meisten der im wissenschaftlichen und künstlerischen Bereich Tätigen, haben über die eigene Zeit eher in Begriffen allgemeiner Weltanschauung als solchen der Politik nachgedacht.« (Ebd.)
3 Karl May zit. nach Ekkehard Bartsch: Karl Mays Wiener Rede. Eine Dokumentation. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1970. Hamburg 1970, S. 52 - ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ lautet der Titel von Mays legendär gewordenem Vortrag in Wien 1912.
4 Dazu Günter Scholdt: ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹. Eine Menschheitsidee im Kontext der Zeit. In: Jb-KMG 2000. Husum 2000, S. 94-111
5 Hermann Glaser: Die Kultur der Wilhelminischen Zeit. Topographie einer Epoche. Frankfurt a. M. 1984, S. 20
6 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage. In: Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe Bd. 8: Huttens letzte Tage. Eine Dichtung. Hrsg. von Hans Zeller/Alfred Zäch. Bern 1970, S. 125 (LX, 5)
7 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 604f.; Reprint Bamberg 1984
8 Siehe Heinrich Heine: Geständnisse. In: Sämmtliche Werke. Ausgabe in 12 Bänden. Vierter Band: Deutschland II. Hamburg 1876, S. 38.
9 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 27f.; Reprint Bamberg 1984
10 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band. Frankfurt a. M. 1959, S. 1356
11 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 2; Reprint Hildesheim/New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul



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12 Johann Wolfgang von Goethe: Gesang der Geister über den Wassern. In: Goethe: Sämtliche Gedichte 1756-1799. Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1998, S. 318
13 Giovanni Pico della Mirandola: Oratio de hominis dignitate. Hrsg. und übers. von Gerd von der Gönna. Stuttgart 1997, S. 8; Pico sieht nicht in Schönheit, Anmut oder Verstand die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, sondern in seiner Freiheit: »Gleichsam als Bildner deiner selbst in Unabhängigkeit und Würde dich in der Form erschaffend, die dir die liebste ist. Es bleibt dir freigestellt, dich in die wüsten Niederungen des Tierischen hinabzubegeben oder in die göttlichen Höhen - ganz entsprechend dem Begehren deiner Seele - hinaufzuläutern.« (Übersetzung J. H.)
14 Friedrich Hölderlin: Patmos (Erste Fassung). Entwurfsvariante, 1. Ansatz zu Vers 26-45. Variante ‹a›: »Und der Horizont / Ein silbern Geländer«, Variante ‹b›: »Und hochgehoben, ein silbern Geländer«. In: Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Michael Knaupp. Bd. 3. München 1992, S. 273
15 Lothar Kempter: Hölderlin in Hauptwil. St. Gallen 1946, S. 79
16 Hölderlin: Heimkunft (Zweite Fassung, Vers 19-22). In: Hölderlin: Werke, wie Anm. 14, Bd. 1. München 1992, S. 368
17 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909, S. 651; Reprint Bamberg 1984
18 Hölderlin: Patmos, wie Anm. 14, S. 273
19 Karl May: Der 'Mir von Dschinnistan. In: Deutscher Hausschatz. XXXIV./XXXV. Jg. (1908/09); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 21997; Verweise auf diesen Zeitschriftendruck im Text unter Angabe von Jahrgang und Seite/Kolumne.
20 Hölderlin: Patmos, wie Anm. 14, S. 274
21 (Übersetzung J. H.) Jean-Jacques Rousseau: Deux Promenades Solitaires. In: Le voyage en Suisse. Anthologie des voyageurs français et européens de la Renaissance au XXe siècle. Hrsg. von Claude Reichler/Roland Riffieux. Paris 1998, S. 377: »Il n'y a que la Suisse au monde qui présente ce mélange de la nature sauvage et de l'industrie humaine.«
22 Johann Wolfgang von Goethe: Über das Lauterbrunnertal am 9. X. 1779 an Charlotte von Stein: »(...) aber wenn man darunter ist, wo man weder ›künstlerisch‹ bilden noch schreiben kann, dann ist man erst auf dem rechten Fleck.« Zit. in: Goethe: Gedichte, wie Anm. 12, S. 1032 - Vgl. ebd., S. 744.
23 Bloch, wie Anm. 10, S. 1355f.
24 Ebd., S. 1356
25 Karl May: Rigi. In: Karl-May-Jahrbuch 1931. Radebeul bei Dresden o. J., S. 452f.
26 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964, S. 59
27 Bloch, wie Anm. 10, S. 1356f.
28 Goethe: Lauterbrunnertal, wie Anm. 22, S. 1032
29 Goethe: Gesang der Geister über den Wassern, wie Anm. 12, S. 318
30 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 540; Reprint Bamberg 1984
31 Goethes ›Gesang der Geister über den Wassern‹ verarbeitet die Begegnung mit dem Lauterbrunnertal. Die Abschrift der Frau von Stein trägt den Titel: ›Gesang der lieblichen Geister in der Wüste‹. Goethe: Gedichte, wie Anm. 12, S. 1030
32 Walter Benjamin: Rückblick auf Stefan George. In: Gesammelte Schriften Bd. III. Hrsg. von Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972, S. 194
33 Mattenklott, wie Anm. 2, S. XXVIII
34 James Grun/Hans Pfitzner: Die Rose vom Liebesgarten (Vorspiel). In: Programmheft des Zürcher Opernhauses (unpaginiert). Zürich 1998



//199//
35 Ebd.
36 Ebd.
37 Ebd.: Nachspiel
38 Arthur Rimbaud: Après le déluge. In: Gedichte. Hrsg. von Karl Heinz Barck. Leipzig 1991, S. 116 (Übersetzung ebd. S. 117: »Das Splendid-Hotel wurde im Chaos von Eis und Nacht am Nordpol errichtet.« - Das ›Splendid-Hotel‹ ist das Emblem einer gescheiterten Hoffnung.)
39 Camille de Renesse zit. in: Peter Böckli: Bis zum Tod der Gräfin. Das Drama um den Hotelpalast des Grafen de Renesse in Maloja. Zürich 1998, S. 23
40 Ebd., S. 19
41 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 2
42 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 582
43 Ebd., S. 643
44 Vgl. Böckli, wie Anm. 39, S. 23.
45 May: Der Schatz im Silbersee, wie Anm. 42, S. 643; gemeint ist bei May freilich der Ort, wo die Maschinen bestellt werden: Fillmore City, in der Nähe des Silbersees. Vgl. Hans-Henning Gerlach: Karl-May-Atlas. Bamberg/Radebeul 1998, S. 246 (B2).
46 May: Der Schatz im Silbersee, wie Anm. 42, S. 576
47 Ebd., S. 643f.
48 Ebd., S. 644
49 Ebd.
50 Böckli, wie Anm. 39, S. 127
51 Sigmund Freud: Über Psychotherapie (1905). In: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Ergänzungsband. Frankfurt a. M. 1975, S. 116
52 Musil, wie Anm. 1, S. 231
53 Paul Valéry: Préface à ›La Lutte pour la paix‹. In: Œuvres. I. (Paris) 1957, S. 1147 - Vgl. Jean-Marc Houpert: Völkerbund und Vereinigung des Geistes. In: Forschungen zu Paul Valéry/Recherches Valéryennes 9/1996, S. 49-118 (insbes. 61).
54 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXX: Und Friede auf Erden! Freiburg 1904, S. 279; Reprint Bamberg 1984
55 Allocution de Paul Valéry [Paris 1928]. In: Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur. Hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt. Tübingen 1999, S. 13 (Übersetzung ebd. S. 18: »Menschen (...), die sich der Arbeit des Geistes verschrieben haben, (...) Menschen (...), die sich der Suche nach Gesetzmäßigkeiten und der Erschaffung von Werken verschworen haben«.)
56 Bertha von Suttner: Die Waffen nieder! Berlin 1914, S. 111 (Erstausgabe 1889) - Ausführlich zur Herkunft von Mays Begriff des ›Edelmenschen‹ bei Hans-Rüdiger Schwab: Der Sieg über den Panther. Karl Mays Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche. In: Jb-KMG 2002. Husum 2002, S. 235-274 (245f.)
57 Plotin: Das Schöne. In: Schriften Bd. 1. Übersetzt von Richard Harder. Hamburg 1956, S. 11
58 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 4
59 Ebd.
60 Karl May: Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten. Freiburg 1906, S. 78
61 Musil, wie Anm. 1, S. 229
62 Ebd., S. 521
63 Ebd., S. 521f.
64 Emile Michel Cioran: Lehre vom Zerfall. Essays. Übertragen von Paul Celan. Stuttgart 1978, S. 113
65 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 11, S. 2
66 Ebd., S. 4
67 Sonja Margolina/Karl Schlögel: Solowki. Ein Elefant im Paradies, am nördlichsten Rand der Welt. In: Frankfurter Allgemeine Magazin, 25. Juli 1997, Heft 908, S. 39



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68 Maxim Gorki zit. in: Ebd. - Vgl. auch Gerd Koenen: Utopie der Säuberung. Was war der Kommunismus? Frankfurt a. M. 2000, S. 261.
69 Vgl. dazu Zygmunt Bauman: Die Lager - östliche, westliche, moderne. In: Lager, Zwangsarbeit, Vertreibung und Deportation. Dimensionen der Massenverbrechen in der Sowjetunion und in Deutschland 1933 bis 1945. Hrsg. v. Dittmar Dahlmann/Gerhard Hirschfeld. Essen 1999, S. 53-65 (60)
70 Leo Trotzki zit. in: Koenen, wie Anm. 68, S. 133
71 Über den Exodus der Intellektuellen notiert er: »Geschmäht und mit den Füßen getreten wird auch die Lauterkeit, ohne die jedwede theoretische Arbeit unmöglich ist.« In: Die verratene Revolution. Zürich 1937. Zit. in: Felix Philipp Ingold: Auf dem Philosophenschiff. Lenins große Operation gegen die russische Intelligenz. In: Neue Zürcher Zeitung, 6. VI. 2000, Nr. 130, S. 66. Vgl. auch ders.: Aktion Philosophenschiff. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 293, 17. Dezember 2003, S. N4; dort auch der Hinweis auf die Dokumentation von Lenins Vorgehen durch W. G. Makarow und W. S. Christoforow in der Zeitschrift ›Voprosy filosofii‹ (Probleme der Philosophie), 2003, Heft 8.
72 Zit. nach ebd.
73 Weinrich hält sein Schlußwort. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 8, 11. Januar 2000, S. 4
74 Bertolt Brecht: Schriften. 4. Texte zu Stücken. (Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe Bd. 24.) Frankfurt a. M. 1991, S. 131f.; auch zit. in: Richard Herzinger: Angst vor dem letzten Menschen. Bertolt Brecht, Ernst Bloch und die apokalyptische Faszination des Kommunismus. In: Der rote Holocaust und die Deutschen. Die Debatte um das »Schwarzbuch des Kommunismus«. Hrsg. von Horst Möller. München 1999, S. 213
75 Wilhelm Waetzold in: Hamburger Korrespondenz, 6. XI. 1907. Zit. in: Jura Brüschweiler: Hodler im Urteil der deutschen Presse. In: Ferdinand Hodler. Hrsg. von Rudolf Koella. München 1999, S. 221
76 Theodor Heuss: Ferdinand Hodler. In: Die Hilfe. Berlin 1905; zit. in: Brüschweiler, wie Anm. 75, S. 218
77 Günter Scholdt: Autoren über Hitler. Deutschsprachige Schriftsteller 1919-1945 und ihr Bild vom Führer. Bonn 1993, S. 76
78 Plotin, wie Anm. 57, S. 9
79 Jorge Luis Borges über Filippo Tommaso Marinetti zit. in: Franz Haas: Der Bibliothekar von Babylon. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 193, 21./22. VIII. 1999, S. 83
80 Filippo Tommaso Marinetti: Gründung und Manifest des Futurismus. In: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909-1938). Hrsg. von Wolfgang Asholt/Walter Fähnders. Stuttgart 1995, S. 3
81 Johannes Haller: Die Epochen der deutschen Geschichte. Stuttgart/Berlin 1922, S. 372
82 Ebd., S. 374
83 E. L. Bulwer: Rienzi, der letzte Tribun. Leipzig o. J., S. 596
84 Vgl. Nicholas Goodrick-Clarke: Die okkulten Wurzeln des Nationalsozialismus. Graz 1997, S 169ff.
85 Ebd., S. 99
86 Karl Hans Kluncker: Einführung. In: Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel mit Friedrich Gundolf 1899-1931. Bd. I. Amsterdam 1977, S. 14
87 Goodrick-Clarke, wie Anm. 84, S. 99
88 Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Berlin 1992, S. 27
89 Vgl. Scholdt: Autoren über Hitler, wie Anm. 77, S. 548.
90 Valéry zit. nach: Houpert, wie Anm. 53, S. 61
91 Musil, wie Anm. 1, S. 520f.
92 Novalis: Dialoge. In: Werke und Briefe. Hrsg. von Rudolf Bach. Leipzig 1942, S. 502



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93 Sebastian Haffner: Germany: Jekyll & Hyde. 1939 - Deutschland von innen betrachtet. Berlin 1996, S. 43 - Ebd.: »In Westeuropa hat man kaum eine Vorstellung von der chaotischen Fruchtbarkeit dieses Landes, das Deutschland heißt und jeden Tag dazu bereit ist, das Leben von neuem zu beginnen, sein gestriges Ich zu verleugnen und sich voll und ganz in den Dienst eines neuen Experiments - zum Guten oder zum Bösen - zu stellen.«
94 George L. Mosse: Die völkische Revolution. Über die geistigen Wurzeln des Nationalsozialismus. Aus dem Amerikanischen von Renate Becker. Frankfurt a. M. 1991, S. 21f.
95 Bloch, wie Anm. 10, S. 1396
96 Vgl. Guido von List: Deutsch-Mythologische Landschaftsbilder. Berlin 1891, S. 88.
97 Hier in der Übersetzung Karl Simrocks in: Die Edda. Berlin 1927, S. 173
98 Marinetti, wie Anm. 80, S. 3
99 Vgl. dazu: Hellmut Seeman in: Okkultismus und Avantgarde. Von Munch bis Mondrian 1900-1915. Frankfurt a. M. 1995, S. 10.
100 Klaus Berger: Qumran. Funde - Texte - Geschichte. Stuttgart 1998, S. 78
101 Vgl. dazu: Goethe: Gesang der Geister über den Wassern, wie Anm. 12, S. 318.
102 Norbert Bolz: Die Wirtschaft des Unsichtbaren. München 1999, S. 90
103 May: Und Friede auf Erden!, wie Anm. 54, S. 16
104 Ebd.
105 Horaz: Ode I, 14, V. 15
106 Musil, wie Anm. 1, S. 519f.
107 Ebd. S. 520f.
108 Ebd., S. 520
109 Friedrich Gundolf: Wesen und Beziehung. In: Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte. Hrsg. von Victor A. Schmitz/Fritz Martini. Darmstadt 1980, S. 174; das folgende Zitat: Friedrich Gundolf an Karl Wolfskehl am 15. IX. 1914. In: Karl und Hanna Wolfskehl: Briefwechsel Bd. II. Amsterdam 1977, S. 104
110 Stefan George: Entrueckung. In: Der Siebente Ring. Berlin 1920, S. 122
111 Thomas Mann: Der Zauberberg. Berlin 1926, S. 523 (Erstausgabe 1924)
112 Ebd., S. 501
113 Vgl. dazu: Jürgen Hahn: ›Verschroben und privat‹ - Panoptikum und Schamanenspiel. Karl Mays ›Ardistan und Dschinnistan‹ als groteskes Modell kaleidoskopischer Permutation des Zeitgeistes oder eines ›Dinosauriers in schwieriger Zeit‹. In: Jb-KMG 1998. Husum 1998, S. 321-388.
114 Ferdinand Lassalle: Arbeiterprogramm. In: Reden und Schriften. Hrsg. von Friedrich Jenaczek. München 1970, S. 58
115 Haller, wie Anm. 81, S. 372
116 Zit. in: Max Hirschberg: Jude und Demokrat. Erinnerungen eines Münchener Rechtsanwalts 1883 bis 1939. Bearbeitet von Reinhard Weber. München 1998, S. 166
117 Haller, wie Anm. 81, S. 372
118 Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich der Zweite. Hauptband. Düsseldorf 1973, S. 629
119 Joseph Goebbels: Die Tagebücher. Hrsg. von Elke Fröhlich. München 1987. Bd. 1, S. 34
120 Weber, wie Anm. 88, S. 33
121 Ernst Wilhelm Lotz: Aufbruch der Jugend (1913). In: Menschheitsdämmerung. Symphonie jüngster Dichtung. Hrsg. von Kurt Pinthus. Berlin 1919, S. 174
122 Zit. in: Viktor Ott: Privatlehrer Tucholsky. Unbekannte Texte zeigen den



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Dichter als Reformpädagogen. In: Neue Zürcher Zeitung Nr. 182, 8. Aug. 2000, S. 56
123 Quintus Horatius Flaccus: Oden und Epoden. Erläutert von Adolf Kiessling. Besorgt von Richard Heinze. Berlin 101960, S. 250 (»Lauscht! Noch nie Gehörtes singe ich, der Musen Priester, euch, Jungfrauen und Jünglingen.«)
124 Stefan George: Der Dichter in Zeiten der Wirren. In: Drei Gesänge. Berlin 1921, S. 6
125 George: Der Siebente Ring, wie Anm. 110, S. 209
126 Ebd., S. 208
127 George: Drei Gesänge, wie Anm. 124, S. 6
128 Karl Löwith: Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Stuttgart 1986, S. 24
129 Karl Wolfskehl: Von umflorten Berges Kimme. In: Gesammelte Gedichte Bd. 2: »Die Stimme spricht«. München 1997, S. 79
130 Zit. in (Werkartikel:) Apokatastasis. In: Alfred Bartholet: Lexikon der Religionen. Hrsg. von Kurt Goldammer. Stuttgart 1976, S. 41
131 Mann: Der Zauberberg, wie Anm. 111, S. 526
132 George L. Mosse: Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit. Frankfurt a. M. 1997, S. 181
133 Glaser, wie Anm. 5, S. 25
134 Erich Kästner: Notabene 45. In: Gesammelte Schriften für Erwachsene. Bd. 6. München/Zürich 1969, S. 173
135 May: Winnetou IV, wie Anm. 7, S. 580
136 Kästner, wie Anm. 134, S. 174
137 Philippe Jullian: Der Symbolismus. Köln 1974, S. 30ff., S. 235ff.
138 Hirschberg, wie Anm. 116, S. 142
139 Eric Voegelin zit. in: Hans Maier: Ein Schwieriger zwischen den Fronten. Politikwissenschaft in universalistischer Absicht: Erinnerungen an Eric Voegelin. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 84, 8. April. 2000, Beilage ›Bilder und Zeiten‹, S. II
140 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat. Buch 11 bis 22. Übersetzt von Wilhelm Thimme. München 1997, S. 663 (XX 28)
141 Ebd., S. 646 (XX 21)
142 Ebd., S. 600 (XX 7)
143 Ebd., S. 552 (XIX 13)
144 Ebd.
145 Jes. 66, 12; vgl. Aurelius Augustinus, wie Anm. 140, S. 640 (XX 21)
146 Ebd., S. 641 (XX 21)
147 Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. In: Werke Bd. 9. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1968, S. 204
148 Ebd. S. 251
149 Vgl. Itzhak Englard: Demokratie und Judentum: Ein Widerspruch? In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 286, 7. Dez. 2000, S. 5.
150 Der kleine Pauly: Lexikon der Antike. Auf der Grundlage von Pauly's Realencyklopädie der classischen Altertumswissenschaft hrsg. von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Bd. 4. München 1972, Sp. 576
151 Voegelin zit. in: Maier, wie Anm. 139
152 Thomas Mann: Warum ich nicht zurückkehre! In: Johannes Franz Gottlieb Grosser: Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland. Walter von Molo - Thomas Mann. Hamburg u. a. 1963, S. 35
153 Bolz, wie Anm. 102, S. 158
154 Ebd., S. 196
155 Ebd., S. 230



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156 Hugo von Hofmannsthal: Manche freilich ... In: Die Gedichte und kleinen Dramen. Leipzig 1958, S. 21 (Erstausgabe 1907)
157 Friedrich Hölderlin: Hyperion oder der Eremit in Griechenland. In: Sämtliche Werke. Leipzig o. J. (1927), S. 522
158 Peter Sloterdijk: Die schöne Politik und der hohe Ton. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 230, 4. Okt. 2000, S. 68
159 Siehe das in Anm. 116 genannte Werk Hirschbergs.
160 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Darmstadt 1981, S. 21 (Erstausgabe 1916)
161 Und der apokalyptische Hinterhalt ist ja als Palimpsest überall gegenwärtig: ausformuliert in den Endzeitvisionen der russischen Intellektuellen. Für Igor Smirnow ist der große Zusammenbruch im heutigen Rußland identisch mit dem weltweiten Triumph des gleichmacherischen Totalitarismus (der auch im westlichen Konsumismus auszumachen wäre), den die Menschen - man denke an die zahlreichen Utopien vom idealen Staat, von der idealen Gesellschaft - schon immer gewünscht, zugleich aber gefürchtet haben. Philosophie und Kunst, Technik und Wissenschaft arbeiten seit einem Jahrhundert daran, den Menschen von der Welt, die Welt vom Menschen zu befreien. Der Mensch soll nicht mehr über sich nachdenken, nicht mehr sich selbst erkennen, nicht mehr um sein Seelenheil besorgt sein müssen, auch soll er nicht mehr zum Maß aller Dinge genommen werden, Anthropomorphismen jeglicher Art sind zu überwinden, ja der ›Begriff des Menschlichen‹ schlechthin ist zu verwerfen, der Auftritt und die Leistung des Christentums zurückzunehmen, die sich in eben den von ihm generierten Utopien vom Endzeitglück, der unendlichen Eudaimonie selbst negiert und aufhebt. Eudaimonie endet im Zustand der Entropie. Vielleicht sollte man Dostojewskis Großinquisitor an den Beginn dieser Genealogie von Nietzsche bis zu den Dekonstruktivisten stellen, die die Auslöschung eines Bildes vom Menschen betreiben, der sich selbst zu verantworten hat. »Der Mensch, durch Stammzellenklonung organismisch perfektioniert, wird zurücksinken in eine sterile ›Biomasse‹, aus der nicht eine einzige Idee mehr geboren wird.« (Smirnow: zit. in Felix Philipp Ingold: Russische Taschenapokalypse. In: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 220, 21. Sept. 2000, Nr. 220, S. 65)



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