[Der folgende Text bietet eine überarbeitete Fassung des vom Autor in den M-KMG Nr.116/1998, S.3-13, und Nr.117/1998, S.3-11, veröffentlichten Aufsatzes.]

Jürgen Hahn, Winterthur

Die Kelchallegorie aus 'Ardistan und Dschinnistan'

Ein Bericht von den Lichtspielen am Dschebel Allah,
"im Bild' die Zeit der Kraft und That zu schildern"(1).

"Aber die wahre Natur der Dinge, die werden wir nie, nie erkennen."(2)
"Die Bilder werden die Wahrheit sprechen."(3)


Am Ende dieses hydrophilen Buches, als solle es dokumentieren, daß die Seele des irdischen Gesteines kein anderes Verlangen habe als nur nach Wasser, Wasser, Wasser |314a(4), und dessen System von Flüssigkeitsmetaphern der Leser aus seiner Perspektive mühelos in Bezug zur jeweiligen Zeitgeschichte setzen kann, am Ende der Reise nach Dschinnistan also, deren Aufgabe darin besteht, stets von dem Äußeren auf das Innere (...zu) schließen (XXXI 334), was nichts anderes heißt als Brunnen zu bohren, aus denen mit dem befruchtenden Wasser der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft (durchtränkt werden) (503): ebenda ereignet sich etwas Festliches, ein spektakulärer - und ebenso symbolisch bedeutsamer - Wechsel des Aggregatszustandes von Wasser zu Gas, von liquider zu ätherischer Sphäre des 'Geistigen', gar eine Epiphanie des Göttlichen: etwas so unbeschreiblich Schönes (...), daß keine Sprache der Menschen die Worte besitzt, welche nötig wären, es zu schildern |306b, obgleich diese Worte May im folgenden überreichlich zufließen und den coelesten Topos gleichsam halluzinieren. Denn Dschinnistan ist, wie Martin Lowsky nachgewiesen hat(5), der unmittelbaren Anschauung 'unzugänglich', und so kann es sich bei der Beschreibung des unbeschreiblich Schöne(n) um mehr als das, was den Betrachter - platonisch - in den Zustand einer erotischen Katatonie versetzt - im Bilde Diotimas: "an die Ufer des großen Meeres der Schönheit gebracht"(6) -, nicht handeln; um eine fragmentarische "Poetik im Dienste Gottes", als die Petrarca "Theologie"(7) definiert, und wie bei jeder 'Theologie' also nur um eine Annäherung (der Mathematiker würde sagen der Kurve an die Asymptote), einen Vorschein, in dessen Lichte die Grenzüberschreitung ins Transmontane cisalpin simuliert wird: um eine 'theologische' Cyberspace-Installation mithin, woselbst "vom Anschauen alles ausgehen muß"(8).

   Daraus erhellt: Die Bemühung dieses späten Werkes, in das Wesen der Dinge einzudringen, um das Äußere mit dem Innern in Einklang zu bringen(9), entsprungen gleichsam einem Zustand mentaler Ohnmacht: da (...das Bewußtsein) sich das, was außen geschehen ist, noch einmal innerlich betrachtet! |44b, läßt den Roman seine Gestaltungslegitimität aus dem Paradoxon beziehen, aus der "Identität des Nichtidentischen"(10), aus einem "Neben- und Ineinander des scheinbar Unvereinbaren", das in Paradoxien und Ambivalenzen, einer widerspruchsvollen Verbindung von Beharrung und Modernität, einer "Mixtur aus Kraftbewußtsein und Zukunftsangst"(11) das "Grundgefühl" des wilhelminischen Deutschland und dessen geistiges Klima in einer Kohabitation von regressiven und progressiven Strömungen bestimmt. Wie ja auch Mays antiindividuelles mystisches Dekor durchaus einer vorindustriellen Weltenschau verpflichtet ist - "Überall hin, nur nicht zwischen Fabriken und Kapitalien"(12) - und bei ihm so etwas von jener Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen faßbar wird, vom Nebeneinander verschiedener Zeiten und Lebenswelten, wo "dieses räderschnurrende Elend" des Kapitalismus als wundersame Schöpfmechanik einer Nomadenvorzeit mit dem befruchtenden Wasser der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft (durchtränkt) und wo die(se) Vergangenheit (...) unter der Gegenwart (503) in der vertikalen Dimension den Strahlenjubel |131b des Brunnenengels 'nährt', in dessen wunderbaren Gedankeninnern wir in die Tiefe zu steigen haben |136b: in diesen Strahlenjubel, der die Lichtwege Dschinnistans reflektiert, die, so fern sie uns liegen, doch in uns sind und Intersubjektivität stiften. "Die Existenz des Lichtwegs ist abhängig vom Individuum, das ihn entstehen läßt. Objektiv ist dieser Lichtstreifen inexistent. Man kann es auch so ausdrükken: es gibt tätsächlich keinen Lichtweg, diesen aber so oft, so viele Beobachter anwesend sind." (Christoph W. Aigner)(13) Parameter der Erzählung ist, so gesehen, das Paradoxon. Darüber weiter unten ausführlicher. Zunächst bleibt, um das Vorfeld dieses wahrhaft 'neujährlichen' Ereignisses am Dschebel Allah auszuleuchten, vom Paradoxalen als 'erleuchtenden Erlebnissen' zu reden: als Schatten, die das Licht von jenseits in unsere Existenz wirft, in der Gegensätzliches legierenden Bildersprache der Mystikerin Hildegard von Bingen als "umbra viventis lucis", in die getaucht der Dschebel Muchallis zum Symbol einer "Kunst der Existenz" wird.

*

Der Moralist, als der May hier auftritt, definiert sich über eine Ästhetik der Existenz, wie sie - mit anderen Mitteln - schon die 'romantischen Reiseerzählungen' der mittleren Schaffensperiode betrieben haben(14). Das Ziel der narrativen Bebilderung besteht in allegorischer Selbststilisierung darin, die Mitwelt durch exemplarische Lebensführung von der Richtigkeit der den Intarsien des Rebus eingelegten Philosophie zu überzeugen. Dergestalt ist die Reise nach Dschinnistan (1909) wohl jenen "Künsten der Existenz" zuzurechnen, von denen Foucault spricht, "gewußte(n) und gewollte(n) Praktiken (...), mit denen sich die Menschen (...) selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht."(15) Zum Beispiel denen "der >Tradition des Geistes<, die man mit Grund als >goldene Kette der Ideologie< beargwöhnt" hat(16) und deren korrumpierendem Anspruch, es habe das "Werk (...), was die traditionelle idealistische Ästhetik rühmt, Totalität" (17)zu sein, Mays späte Expeditionen, "der Seele Grenzen (yuchV peirata) ausfindig zu machen"(18), nur dadurch entgehen, daß er eine subversive Anatomie der "Selbsttechnologien" betreibt. Ihr Skalpell necessisiert Problematisierung der Perspektive, "das, was man schon dachte, anders zu denken, und unter einem anderen Gesichtswinkel und in einem klareren Licht wahrzunehmen"(19), das der Berge Kuppen und Spitzen im Morgenrot |310b aufleuchten und das Rot sich in flüssiges, ganz plötzlich wie vom Himmel niedersinkendes Gold (verwandeln) |310b läßt. "Man meint sich zu entfernen und findet sich in der Vertikale seiner selber."(20) In der weit hinaus und nach oben gerichtete(n) Perspektive. Sie führte (...) bis zu jenen hohen Bergen hinauf, die auch jetzt, um das geöffnete Paradies anzudeuten, in glühenden Flammen leuchteten, obwohl wir es nicht sehen konnten, weil die Morgennebel des Tieflandes uns noch umhüllten |99b. "Tiefland", wo immer wieder sich Selbsterforschung, codiert in der archäologischen Metaphorik Freuds(21), begibt, deren Magie im Experiment mit Untergründigem und Heraufdringendem eine 'brunnenorientierte' vertikale Dimension eignet; und so, allegorisch, im Hin und Her der Gewissensprüfung, der Stoff ins Epische und in die Weiten des beschreibenden Stils wächst; wo er - man möchte meinen: beiläufig - zwischen dem scheinbar leblosen Fels und dem Engel, den die schaffende Kunst aus ihm formte |314a, zur Chronik einer Weltentwicklung wird und wie sich's gehört die verjüngende Trauerarbeit am Selbst beginnt - eine Konversion, die dem Roman, gerade weil er nicht nur referentiell im Sinne einer Schlüsselgeschichte verstanden werden darf, mit sanftem Nachdruck jede Gemütlichkeit austreibt. "Die Reise verjüngt die Dinge und läßt das Verhältnis zu einem selber altern."(22) - Das verjüngende Element, der Phönixfaktor, ist die Flamme. Und so kommt folgerichtig dann zum Schluß das Feuer, dieses dialektische Element der "Aufklärung (...), zum Wachstum und Fortschreiten alles dessen, was lebt, unentbehrlich, allein - unvorsichtig behandelt brennt es auch und zerstört es auch"(23), Element der Kontingenz, das es ist: die Handlung des Romanes gewinnt ihre akmh im pyrotechnischen événement: das Bouquet auf dem Höhepunkt, sozusagen ante portas paradisi, trägt Züge einer apokalyptischen Operette, nach deren Libretto das gründerzeitliche Bürgertum antritt, seinen 'Abtritt' zu feiern. (Und tatsächlich liefert noch im Frühjahr 1945 - diebus ultimis tertii imperii - zur von Hitler inszenierten Götterdämmerung des 'tausendjährigen Reiches' Géza von Bolváry in seinem 'Fledermaus'-Film den musikalischen Kommentar und läßt Willy Fritsch, Johannes Heesters und Marte Harell den kommenden zwei Dezennien das Motto zur Verinnerlichung empfehlen, daß 'glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist.') So schäumt Silvesterlaune auf, die der reiche Erbe und 'Sohn' Orlowsky garantiert, indem er den Champagner spendiert: Champagner, den "König aller Weine"; denn - als Bild hier durchaus überzeugend nachgestellt - "im Feuerstrom der Reben, tra-la la la la la la la la, sprüht ein himmlisch Leben, tra-la la la la la la" (Fledermaus, Finale II), und antizipiert 1874 die Travestie auf die zehn Jahre später zur Bühnenanschauung gelangende lebenserneuernde Feier um den Gral: "Der für euch fließt,/des Wein's genießt,/und nehmt vom Lebensbrote!"(24). In der Travestie larviert die Epoche (1870-1914) ihre Fortschrittsmelancholie, daß aus der décadence entschieden der Neue Mensch erwachse, "wie (überhaupt) die Jahrhundertwende ein neues geistiges Licht der Menschheit bringen müsse (...) ein Umschlagen des Werdeganges der Menschheitsentwicklung"(25). Amfortas' Abschied geht unmittelbar über in Parsifals Aufbruch zu neuen Ufern. Die Zeit dieser Menschen (...) verschwindet |318a. Neue Wege sind zu beschreiten: dorthin, wo sich "Berge voll Goldadern"(26) erheben, deren goldene() Konturen langsam abwärts liefen und sich wie niederfallende Feuerwerksfäden verzweigten |321b. Hundert Jahre später holt die Romantik so den nach Dschinnistan Reisenden nochmals ein, erfährt mitten in dieser Finsternis über den Bergen von Dschinnistan Gott die Epiphanie im Lichte der, fast möchte ich sagen überirdische(n) Erscheinung dieser Kelchfontäne, die alle Eigenschaften und Effekte des Wunderbaren in sich vereinigte! |306b Man schaut und staunt. Und staunen ist bekanntlich aller Anfang philosophischen Tuns.

   Da wird dann auch die 'Reise' zum philosophischen Itinerarium, der Reisende als Schauender zum Philosophen. Der 'Ardistan'-Roman zitiert ja immer wieder das 'Schauen', die 'Schau', griechisch: die 'Theoria' als Ausdruck kognitiver Kompetenz:

»(...) Kommt, laßt uns unsern Himmel sehen!«

Wir steigen die letzten Stufen vollends empor. Oben gab es eine Plattform mit Geländer. Mehrere Sitze standen da. Darüber zog sich ein kleines, aber vollständig schützendes Dach. Wir setzten uns nieder und hielten Umschau. Ja, die Priesterin hatte recht! Sie hatte sich ganz richtig ausgedrückt, als sie von dem Himmel sprach, den man hier oben schaue! |88a

Oder: - in Konjunktion zu dieser Stelle - als jene Lichterscheinungen, die ich vom Tempel der Ussul aus zuerst gesehen hatte |321a, so im Finalbild des zweiten 'Ardistan'-Bandes:

»Setzt Euch zu uns und seht, wie die alte Paradiesessage sich verabschiedet« forderte Marah Durimeh uns auf. »Sie geht, um der Wirklichkeit Platz zu machen. Die Mitternacht ist vorüber; der neue Tag beginnt. Ich ahne, daß heut der Dschebel Muchallis seine unhörbare, aber leuchtende Stimme erhebt, um uns zu sagen, daß das Begonnene sich vollendete und das Gehoffte sich erfüllte. Man sagt, er glühe nur ein einziges Mal, von Mitternacht bis zum Morgen; dann sei für jeden, der es sieht, der Friede auf Erden und der Friede mit Gott gekommen. Seht! Schon bildet sich das Paradies!«

Es zeigten sich jene Lichterscheinungen, die ich vom Tempel der Ussul aus zuerst gesehen hatte. Sie entwickelten sich in genau derselben Reihenfolge und genau derselben Weise, ein Beweis, daß die Kräfte und Gesetze, denen sie ihre Entstehung verdankten, immer genau dieselben waren. Aber der Schluß gestaltete sich heut ganz anders als bisher. |321a

Bezogen wird hier die Position des Philosophen, des 'Ausnahmemenschen', "der dem Leben in der Welt zusieht", dem "das Sehen die Grundorientierung für die Theoria (ist)", die 'Schau'. Dieses Zusehen hat sich in den Anfangsgründen der Philosophie verbunden: mit der "Reiselust, mit der Augenlust beim Reisen, das heißt" für Griechenland, den Ursprungsort abendländischen Philosophierens, "mit der Entstehung von Geographie, Historie, Wissenschaft", mit einem Erkenntnisweg, dessen Endstadium eben die 'Weltanschauung' ist. Und diese enthüllt sich in den Visionen des 'Ardistan'-Romanes als eine platonisch determinierte, gerade dort, wo er die Geometrie zum Konstruktionsprinzip seiner Welt erhebt. Denn diese "theoretische Grundhaltung hat sich dann scheinbar bestätigt gefunden an der Entdeckung geometrischer Formenverhältnisse. Die Beweise hier sind ja Augenbeweise, man sieht ja Symmetrieverhältnisse. So ist in Griechenland ein Typus von Philosophie entstanden, der sich an dem, was ist, an der Zahl, an dem Beständigen, der Substanz orientiert hat. Diesem Philosophenideal hat dann Platon seine Legitimation zu schaffen versucht durch die Auffassung von der Gottähnlichkeit philosophischen Lebens, und der Gott wird dabei verstanden als einer, der alles sieht, der alles überschaut, der Grundgott der olympischen Religion ist Apollo."(27) (Daß auch Dionysos am >Dschebel Allah< anwesend ist, darüber später.) Und die Blickrichtung, von der sich nicht beschreiben (läßt), was das für eine eigenartige Perspektive gab |99b, und die auf die Bergeshöhen Dschinnistans verweist, definiert sich in diesem Sinne apollinisch und über das theologisch-philosophische Programm hinaus ästhetisch. Als solche aber gehorcht sie den Geboten der Kontingenz und gerät so in die Falle 'zielgerichteter', teleologischer Welterklärung. Denn wem Ziele verliehen seien, der sorge sich nicht mehr darum, welche! befindet in seinen Tagebüchern Goebbels. Eine Kritik der eigenen Ziele falle schon logisch äußerst schwer. "Das hat gar nichts mit Wissen oder gar mit Bildung zu tun", schreibt er in seinem Roman 'Michael'. "Weltanschauung ist: Ich stehe an einem festen Punkt und betrachte unter einem ganz bestimmten Blickwinkel das Leben und die Welt."(28) Der Standpunkt selbst ist dabei unsichtbar. Die Welt und das Leben sind ebenfalls schlecht zu erkennen, denn sie sind eine Projektion der festen Optik. Infolgedessen ist die intellektuelle Wahrnehmung stark vom Irrtum bedroht, der aber zumeist erst auffällt, wenn die eingebildete Welt untergegangen ist und die Lebensvorstellungen nicht mehr so weitergehen. Wie es - so gesehen - übrigens zum schon erwähnten apollinischen Wesen von Mays Roman gehört, daß er über die Netzwerke unterirdischer Ströme, denen er sich verdankt, auch aus dionysischen Quellen gespeist wird, so können die Vulkane Dschinnistans, je nach eingenommener Position, einen höllischen oder auch paradiesischen Glanz ausströmen und dergestalt die Epiphanie Gottes, die sich ja im Licht vollzieht, ins Zwielicht rücken, stellt doch jede Form der Epiphanie eine sehr persönliche Form der Wahrheitssuche und Daseinsfindung dar. Licht ist zwar Gott: aber jeder sieht Gott anders. Auf Christoph W. Aigners erhellenden Vergleich(29) wurde schon hingewiesen, daß "jeder, der vom Strand aus die untergehende Sonne beobachtet, seinen eigenen Lichtweg (hat) und nur diesen (sieht). Den Lichtweg eines anderen kann niemand wahrnehmen." Ein jeder ist Pfadfinder seines eigenen Lichtweges. Dergestalt bedeuten die 'Ardistan'-Romane das Labor einer sehr persönlichen Lichtwegfindung Mays, und für diese Wegerfahrungen nutzen sie ein allegorisches Gestaltungsverfahren, das Heidegger auch als "Lichtung" bezeichnete: wörtlich zu interpretieren als "Lichtung im Walde" wie auch allegorisch "im Sinne der Offenbarung des Lichtes durch die aufgehende Sonne"(30) - in einer bevorzugten Metapher Jean Pauls und Nietzsches - als "hinter den krystallenen Gebirgen loder(nde) Morgenröte"(31). Dabei ist die Anspielung auf die 'Lohe' als erneuernde, reinigende, so revolutionäre wie epochenwendende Kraft nicht zu übersehen. So erscheint das Ende der Reise im Glanze des Morgenrots, welches die Häupter von >Vater<, >Mutter< und >Sohn< überstrahlte |307b. "Ein herrlicher Sonnenaufgang" offenbart - so Hegel in seiner berühmt gewordenen Beschreibung der französischen Revolution(32) -, "daß der Mensch sich auf den Kopf, das ist, auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut." Objektiv ist das alles freilich inexistent und nur Projektion des Schauenden, Evokation der Theoria. Und wie eine Scholie zum Tagebuch der Reisenden in Ardistan liest sich Aigners Hinweis auf die perspektivische Variabilität, wenn er ausführt: "Dies habe ich erzählt, damit man nicht nur glauben soll, die Welt sei bereits fertig vorhanden und wir würden ihre Phänomene nach und nach entdecken und benennen. Es ist auch die Überlegung, daß wir, indem wir suchen, die Welt als Phänomen entstehen lassen, so wie den jetzt in der Farbe der Goldfische in die Dämmerung flimmernden Lichtteppich."(33) 'Ardistan und Dschinnistan' ist auch ein Stück Weltentstehung und Weltfindung im Glanze des Morgenrots |306b, einer höchst persönlichen Weltenillumination, die - den sich in den allegorischen Bildern hochpathetisch inszenierenden Zwiespalt von Allüre und Realität ausleuchtend - den kontingenten Charakter der Utopien enthüllt. Wir aber wendeten unsern weitern Aufstieg nun den Bergen, über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte, und unsrem hohen, weiteren Ziele zu. (XXXII 651) Was den "Weg nach Dschinnistan" betrifft, schließt der Roman auf einer Fermate. 1907 endet Gustav Landauer seinen kultursoziologischen Überblick 'Die Revolution', dessen Mystik in 'Ardistan und Dschinnistan' gleichfalls Schatten wirft: "Im einzelnen wissen wir gar nichts über unsern nächsten Weg; er kann über Rußland, er kann auch über Indien führen. Nur das können wir wissen: daß unser Weg nicht über die Richtungen und Kämpfe des Tages führt, sondern über Unbekanntes, Tiefbegrabenes und Plötzliches."(34) Der Weg bleibt kontingent, den der Ausbruch des >Sohnes< gleichsam in den Himmel baut.

   So ist auch mit Blick auf die Ästhetik des >Kelch<-Bildes zu beachten: Die Eruption, eigentlich eher eine Implosion von Trümmer(n), die (...) nicht nach außen (flogen), sondern nach innen (stürzten und rollten) 306|b, ist von einer geradezu 'heidnischen' Brutalität. Ihr beigegeben, als optische Erläuterung, nicht aus ihr erwachsend, eine Entwicklung findet ja nicht statt ((...)es (stand) vor unseren Augen, ohne daß wir es hatten erscheinen und sich entwickeln sehen 306|b), erscheint das Lichtemblem des Kelches: Salut und Menetekel zugleich. Wie ja diese Lichtspiele über den Bergen Dschinnistans keineswegs unproblematisch sind, haben sie doch die Jahrhundertwendezeit und das ihr folgende saeculum in einer verzehrenden Reinheit erhellt, die zu Weltbränden führte und den Verdacht nahelegt, es könnte sich bei den vulkanischen Ausbrüchen über dem Horizont Dschinnistans auch um die Lohe einer Götterdämmerung handeln. Denn: zum einen ist diese strahlende Erscheinung am Dschebel Allah, Signal der Fortifikation des Religiösen, Ausdruck einer Lebenshaltung wie sie vor allem der Sensualismus Pariser und Wiener 'fin de siècle'-Kultur zeitigte: die empfindungstrunkene Lyrik Baudelaires, die tastende Farbton-Malerei Debussys, die funkelnde Palette Klimts, die blühende Prosa der Huysmans, Hille, Altenberg, in deren von gewaltiger Nervosität, von reflektiertem Aufbruch im Vergehenden zeugendem wahrem ästhetischen Wagemut freilich zum anderen die sedierende, abgestumpfte Deutung der Welt schon angelegt ist, im berauschend schönen élan vital sich das 'Unbehagen an der Moderne', ihre Pathologisierung in dem lustlosen Abbruchunternehmen einer kommenden Theorie des Skepsis schon ankündigt: daß nämlich eine Gesellschaft, die sich moralisch einer "Ethik des Wohlwollens", der unterschiedslosen Anerkennung und dem Erbe der Aufklärung verpflichtet, in ihren Mitgliedern aus Erben Baudelaires besteht, aus Allergikern, die sich zu sprachlosem Ekel verurteilen. Jene hohen weiteren Ziele, die jenseits der Berge(), über deren Pässe der Weg nach Dschinnistan führte (XXXII 651) zu suchen sind, unterliegen im Farbenmix des Champagnerkelches dieser Dialektik von 'Ethik' und 'Ekel': sie gingen allmählich ineinander über und schienen einander so verwandt. Was sich in der >Kelch<-Allegorie ja schließlich auch ankündigt, ist ein manichäisches Modell: allerdings gegenläufig ausgeleuchtet und im metallischen Glanz seiner heraldischen Kolorierung nicht scharf voneinander geschieden, so daß das Gold zuweilen bis ganz nach oben und das Blau zuweilen bis ganz nach unten zuckte. |306b. Der wahre Weg wies in die Verfinsterung des Weltzustandes, der falsche leuchtete totalitär - auch dies eine Dialektik der Aufklärung, die nicht hoffnungsvoll stimmte, indem sie - vom Standpunkt Mays aus gesehen in scheinaffirmativer Anmaßung -, in der Folgezeit parallel zur Liquidation des Individuums, letztlich ins Nichts führte. Nachdem man die Tafeln der Ideologien, zu denen die bengalischen Feuer aller möglichen chiliastischen Vorspiegelungen gelockt hatten, abgeräumt hatte, war lieber kein 'Licht', als ein falsches, eine inhumaner Herrschaft verpflichtete Beleuchtung erwünscht, was dann in Nachfolge der ästhetischen Geschichtsphilosophie Adornos zur Kolportage einer undialektisch nachgebeteten und als 'Leitbild'-Rezept angepriesenen Negativitäts-Teleologie führte, die - obwohl sie den Begriff des "Fortschritts" schon längst magaziniert hatte - durchaus zu wissen vorgab, wohin der 'Weltgeist' stapfte.

Am Dschebel Allah war man 1910 dem allen so ungeheuer fern wie nah.

*

Und dieses "Morgenrot" feiert nun ein vulkanischer 'Champagnertoast', der es in sich hat: ein farbtheologischer Cocktail im Champagnerkelch, kredenzt vom >Sohn< als Vertreter einer eher familiären als dogmatischen Dreieinigkeit, so man sich überhaupt zu diesem Terminus verstehen will. Zwar vereinigen sich im Dschebel Allah |304b die Häupter von >Vater<, >Mutter< und >Sohn< |306b zu einem Familienrat, und die stillschweigende Einvernehmlichkeit religiösen Konsensrituals insinuiert einen Trinitätscharakter, den dann freilich die theologische Realität der Mayschen Erzählungen energisch dementiert: ermangelt der 'Trias' doch der 'Heilige Geist'; gerade ihn beruft May nirgends in seinem Werk.(35) Und es bleibt allenfalls dem Dekonstruktivisten überlassen, seine kryptische Präsenz als das 'Andere' im coloristischen Programm des >Kelches< auszumachen., das in den Farben gold (Gott)>vater<, blau >Mutter< und >Sohn< und, in grün codiert, den 'Heiligen Geist' zitiert.(36) Folgt man Derrida und läßt sich darauf ein, unsere Idole, Ikonen, Mythen und dogmatischen Programme auf das hin zu prüfen, was in ihnen nicht Bild und Symbol geworden ist, dekonstruiert man also, indem man das Andere, Fremde und Abwesende, das sich in unserem Denken einnistet, als Bedingung für das vordergründig Vertraute ausweist, so entpuppt sich der Champagner, den der >Sohn< am Dschebel Allah offeriert, als ein ideologisch eigentümlich explosives Gebräu: in seinem Ausschank zelebriert sich eine Kreuzung von Bühnenweihfestspiel und Operette, deren "Inhalt bei aller Inhaltslosigkeit" - so Adorno - die Verzweiflung ist, und mithin die "Wahrheit", Tralala und Gralsglocken, Fledermaus und Parsifal, Schlemmerbuffet und Abendmahl: den "Feuerstrom der Reben" auf dem Fest des Prinzen Orlowsky mischt dieser Krater (Krathr) "zu Lebens feurigem Blute"(37), das aus der schmerzhaft-unheilbaren Wunde des Amfortas quillt.

Das kam so schnell und so plötzlich, daß es vor unseren Augen stand, ohne daß wir es hatten erscheinen und sich entwickeln sehen. Es glich einem hellen, tadellos geschliffenen Kelchglase, mit perlendem Champagner gefüllt, der oben überläuft. Dieses Glas hatte unten einen Durchmesser von vielleicht nur zwanzig, oben aber einen solchen von gewiß hundert Metern und zeigte eine Höhe, die gar nicht abzuschätzen war. Der Champagner, der in diesem kristallenen Gefäße nach oben schäumte, war unten hell goldig, sodann hell silbern, hierauf sehr hellgrün und ganz oben unendlich fein blau gefärbt. Diese verschiedenen Farben hatten einen metallischen Glanz. Sie waren nicht scharf voneinander geschieden, sondern sie gingen allmählich ineinander über und schienen einander so verwandt, daß das Gold zuweilen bis ganz nach oben und das Blau zuweilen bis ganz nach unten zuckte. Der überfließende Schaum hatte die Farbe der Pfirsichblüte, durch eilt von goldsilbernen Blitzen und Funken. Man denke sich die auf uns liegende Nacht, deren absolute Dunkelheit ich als >Schwärze< bezeichnet habe, und mitten in dieser Finsternis die, fast möchte ich sagen überirdische Erscheinung dieser Kelchfontäne, die alle Eigenschaften und Effekte des Wunderbaren in sich vereinigte! |306b

Zugrunde liegt der Erscheinung ein überlegtes farbensymbolisches Programm(38): Zuunterst Gold als Symbol göttlicher und himmlischer Herrlichkeit, im Christentum für die höchste Tugend, die Liebe. Der Goldgrund auf Tafelbildern des Mittelalters ist stets Ausdruck des himmlischen Lichts, des göttlichen Prinzip (Becker(39) 104); darüber Silber, in Oppostion zu dem männlich sonnenhaften Gold, das weibliche Prinzip, das zugleich Reinheitssymbol ist und in der christlichen Symbolsprache die Läuterung der Seele versinnbildlicht. Auch Maria wird, als reine Jungfrau, mit dem Silber in Verbindung gebracht (Becker 271). Dann folgt Grün: die Farbe für den Heiligen Geist, zuoberst Blau, welches für Gottes Sohn und in Verbindung zu Silber auch für die Gottesmutter Maria steht (81). In diesem Zusammenhang ist auf die blaue Ledergewandung Taldschas hinzuweisen. - Sie war ganz in Leder gekleidet, aber in so feines und weiches, wie ich es noch nie gesehen hatte. Und man denke sich: dieses Leder war blau und wie mit einem überaus feinen Blumen- oder Schmetterlingsstaub bedeckt, der metallisch silbern glänzte. |35a - Die Kelchform der Erscheinung verweist auf die Figur des Dreiecks, die im Altertum symbolisch für das Licht steht, hier auf den Kopf gestellt. In dieser Stellung erscheint das Dreieck oft als Symbol des Wassers und in Verbindung mit dem Auge auch als Trinitätssymbol (58). Die Kelchform assoziiert zugleich die Figur des Kegels, die an der Symbolik von Dreieck und Kreis partizipiert. Dieser repräsentiert das Absolute und Vollkommene, ist Symbol des Himmels im Gegensatz zur Erde, des Geistigen im Gegensatz zum Materiellen (153). Dreieck und Kreis verbinden im Kegel also das Licht mit dem Himmel und dem Geist. Der Kegel selbst in seiner auf die Spitze zustrebenden Form gibt dem Urbild der geistigen Entwicklung Ausdruck, die der Roman ja immer wieder thematisiert hat und die sich so auch in der zeitgenössischen Malerei, vor allem bei Kandinsky, visualisiert (146). Der Kelch selbst als kristallene(s) Gefäß() ist Schauplatz der Epiphanie Gottes - "Wir schauen die Götter in den Kristallen an", heißt es bei Rudolf Steiner -, symbolisiert überströmende Fülle, die der Mensch - nach biblischem Zeugnis - in der Schale des Heils aus der Hand Gottes empfängt. Die Schale des Zornes der Apokalypse, der Kelch, der an Jesus nicht vorbeigeht, ist freilich mitzudenken (252). Denn der Kelch enthält eben auch dieses apokalyptische Element, das - wie auf den Bildern der Expressionisten - im Paradies wie im Inferno zum Ausschank kommen kann, ist erfüllt von der Kompression des Lebensgefühls der damaligen Zeit, ihrer oft verwirrenden Fülle von Ungleichzeitigkeiten: "Abendländische" Besinnung neben Avantgarde, gediegen Wertbeständiges neben Stoffen für den Tag, Hypokrisie und Unruhe. Und vielleicht zählt es zu den ästhetischen Stauwirkungen der modernen Beschleunigungen, daß uns nach einem ganzen Säkulum noch einiges höchst gegewärtig ist, obgleich dessen Verlauf gezeigt hat, daß "Tausende ihre Messer [schärfen], Zehntausende ihren Verstand ungeschärft [lassen]," (Pestalozzi) um zu wissen, wie man den Frieden führt |8b; daß, wie nie zuvor, kein Erbe, keine Bildung, keine Tradition des Wahren, Guten und Schönen, die zu Jahrhundertbeginn noch ein Darwinist wie Ernst Heckel wirkungsvoll zur Fundamentierung einer neuen Geistigkeit zu nutzen empfahl(40), die Katastrophen von Genozid, Vertreibung und Zerstörung zu verhindern vermochten, in deren endzeitliche Nacht den modernen, hochgemuten Phaethon (Lichtträger) zu stürzen keine Schabracke der Kultur das dunkle platonische Seelenroß menschlicher Destruktion bändigen konnte. So entgeht auch das Lichtemblem des 'Kelchglases', diese Erscheinung höchsten geistigen Lebens, nicht dem Soupçon, "Kultur als Alibi" zu betreiben, wie es hier am Ende des Romanes sich in der absolute[n] Dunkelheit [,die] ich als >Schwärze< bezeichnet habe, heraus aus dem Farbraum der Nacht und des Todes (84): als ein unbeschreiblich Schönes entfaltet - aber auch Richtendes, das - mit einem Wort von Max Frisch - davor warnt, die Ewigkeitswerte des Ästhetischen gegen das nackte Diesseits abzugrenzen.

*

Das Schöne aber - so heißt es - ist das Göttliche. Und so geht es in diesem Sylvester-Tableau - sehr platonisch - um die Epiphanie des Göttlichen im "Schönen", gemeint nicht als eine formale Qualität "interesselosen Wohlgefallens", sondern im Sinne der griechischen Tragödie als "Urlust am Schrecklichen, das das Antlitz jener Wahrheit (des Wirklichen) ist"(41). Nach Aristoteles beweist das Schöne in der Erschütterung auch seine dissolute und psychotrope Wirkungskraft. Das Schöne - Krankheit zum Tode - ist kontingent. In dieser Beziehung verschlüsselt das Bild die ganzen Ambivalenzen, von der die Epoche getrieben wird: hin zum Abgrund, an dessen Rand sie ihre Maskenfeste feiert. Wir befanden uns in schwindelnder Höhe. Unter uns gähnte die Tiefe des Kessels. Aber das besorgte Auge wurde durch den Anblick der Häuser und Gärten sofort beruhigt. Auf den Straßen und Plätzen der Stadt herrschte festtägige Bewegung. |318b

   Nur scheinbar ist es nicht das schwarz ausgeschlagene Gemach Prinz Prosperos, wo 'the Masque of the Red Death' sich enthüllt, in dem die Reise "in der Vertikale" endet. Der "Vertikalsturm" findet sein Ziel in einem 'durchlichteten' Raum, einem quasi philosophischen Gelaß, in das eine Fülle des Lichtes herein drang |318b. Aber das dominierende Requisit ist hier wie da das gleiche: das Rad - der Uhr oder des Engels. Und beide Male eignet ihm richtende und zerstörerische Eigenschaft, je nachdem wer in welcher Absicht und wie legitimiert Hand an es legt. Die Hände, die 1914 diese Räder in Bewegung setzten, waren jedenfalls nicht die Marah Durimehs, und das "Schöne", das sie aus der absolute(n) Dunkelheit(, die) ich als >Schwärze< bezeichnet habe, heraus ins Werk setzten, war "des Schrecklichen Anfang"(42), Maske des Richtenden und des Vernichtenden. Am Dschebel Allah spielt sich das alles freilich nicht nach den Regiebüchern einer Betroffenheitsästhetik à la Rilke, sondern more christiano ab, werden Schicksalsfragen um Macht und Ohnmacht, um Gefährdung und Erlösung des Einzelnen, um Vergänglichkeit und Neubeginn verhandelt.

   Und wie im Bild des Kelches die Religion in den Stand der Allegorie erhoben wird, so findet sich in seiner spiegelbildlichen Erweiterung zum Stundenglas der Hinweis auf die Stunde des Gerichts, der Abrechnung Gottes mit den Menschen, verschlüsselt: auf des Menschen »schlechthinnigen Abhängigkeit«. Schleiermacher sieht in ihr die Basisdefinition der Religion. Und diese »Abhängigkeit« wird von May hier so ungemein vital und triumphal inszeniert, daß im allegorischen Kontrapunkt das Dementi katatonischer Depression im berühmten Bild Sascha Schneiders von 1893 nicht zu übersehen ist. Religion manifestiert sich in der Erscheinung des Kelches als Metapher für Kommunikation: eingebunden sein in Zeit und Raum; und auch hier gilt, daß die Zeit sich den Raum nimmt, fließend in die Vertikale nach oben schäumte, gleich wie zu der höchsten Etage der Brunnenengel das Wasser von Trog zu Trog nach oben gestiegen war |137a, wo es als Symbol für die Vergangenheit, um für die Gegenwart fruchtbar zu werden, zur Sonne emporzusteigen (hatte) |136b und in einem Kreislauf, der an C. F. Meyers 'Römischen Brunnen' erinnert, "strömt und ruht"(43).

   Gleichzeitig beutet diese Allegorie den Vanitasgedanken aus. Der Kelch formuliert in all seiner Pracht noch einmal ein memento mori: ein 'Stirb und werde!' Ein Heraufgeschleudert werden und sich Hinabsenken, wie es die Katastrophenikonographie Vergils vorbildet: "imis / stagna refusa vadis" (Aeneis I 125f.). In dem stets sich erneuernden Kreislauf eines Stundenglases, dergestalt daß in der Farbalchemie diese(s) kristallenen Gefäße(s...) das Gold zuweilen bis ganz nach oben und das Blau zuweilen bis ganz nach unten zuckte |306b, repräsentiert er Gedächtniskultur. 'Zum Raum wird auch hier die Zeit', verkörpert im Stundenglassymbol, das aus dem spiegelbildlich symmetrischen Verhältnis von Vulkan und Kelch dem Betrachter sich als eine Bastion gegen die Fluten der Lethe in den Raum baut, wo der Kegel des >Sohnes< aus dem Fundamente des >Dschebel< stieg |310a und von den Glasbläsern seiner vulkanischen Werkstatt - das Bild ist mit Bedacht gewählt - alle Kuppen, die jetzt glühen, wie mit einem einzigen Hauche ausgeblasen werden |305b, um aus dem Krater des >Sohnes< nun ein() helle(s), tadellos geschliffene(s) Kelchglas(), mit perlendem Champagner gefüllt, emporsteigen zu lassen, das unten einen Durchmesser von vielleicht nur zwanzig, oben aber einen solchen von gewiß hundert Metern (hatte) und eine Höhe, die gar nicht abzuschätzen war(, zeigte). 306|b Die Taille dieses Stundenglases bildet mithin der Kratermund, aus dem die Erinnerung daran ihr Prosit, ihr "Stoßt an, stoßt an dem König aller Weine" den Schauenden zuruft, daß es trotz einer manchmal kindlichen Glaubensbereitschaft einerseits und einer engagierten Wahrheitsgewißheit andrerseits Sicherheit nur als Konstruktion gibt, deren Geltung stets neu zu überprüfen ist: gerade dort, wo der Taumel herrscht, wo - so in diesem Bild - der Furor einer Erweckungstheologie, wie ihr Nietzsches 'Vater' anhing, auf den Vitalismus neuerweckter Dionysoskulte hindeutet, mit denen der 'Sohn' ein ersterbendes Christentum wohl zu impfen hoffte, daß "unter dem mystischen Jubelruf des Dionysoskultes die Fesseln der Entwicklung zur Person gesprengt (werden), und der Weg in den innersten Kern der Dinge, in den Mutterschoß des Seins, (offen) liegt."(44) Diesem neuen Gott, "dem König aller Weine", mag wohl auch das "Stoßt an, stoßt an und huldigt im Vereine" gelten, das als Salut am Dschebel Allah in den Himmel gedonnert wird. Es folgte ein Schlag, als ob eine Gigantenfaust gegen das Innere der Erdrinde schmettere |306b. Der Taumel auf dem Vulkan ist einer auf der Schildkröte. Hier erfüllt May die dem Schriftsteller gesellschaftlich vorgeschriebene Funktion eines empfindlichen Aufzeichnungsgerätes: Semaphor und Seismograph, an dessen Notaten die tektonischen Verschiebungen ablesbar werden (: in der Bewegung der Schildkröte, die ja einerseits gemäß den tibetischen Schöpfungsmythen so 'die gelbe Erdfeste'(45) trägt, wie andererseits die Kirchenväter in ihr eine Allegorie auf die subversive Kraft des Sündenpfuhls(46) sehen) und wo - konkret - die Farbdiatonik der 'Explosionen' des 'Sohnes' durch die akustischen 'Gitter' der 'Erd-, d.h. Weltscheiben-, d. h. Schildkrötenbewegung', die uns, als sie uns erreichte, empor(hob), ihren unerbittlich harten Leib immer weiter (schob) und uns hinter sich dann wieder fallen ließ |306a, in die Atonalität des Chaotischen gebrochen wird, indem hinter der verbürgten Tonalität des Bürgertums, wie sie nochmals emphatisch 1910 die Uraufführung von Mahlers 'Sinfonie der Tausend' heraufbeschwört, die anarchische Grausamkeit des Weltkriegereignisses anrückt, ja eine in die andere zwangsläufig - durch die Kompatibilität der Extreme von Liebe und Haß - mündet. Und wie einst in Theben nützt auch hier nicht die Verweigerung; dem Schicksal des Pentheus zu entgehen, dient allein die Versöhnung. Diese nun stiftet der 'Sohn': in durchaus sakraler Manier: Er gibt, die Erde vor dem geistigen Verschmachten zu erlösen, sein Blut hin. Das Blut (XXXI 584) ist hier lebensspendendes, eine Renaissance des Religiösen, ein 'Ergrünen' einleitendes Wasser. In seiner Erscheinung überlagern sich christliche und dionysische Momente. Zu feiern wäre ein christlicher Dionysos in seiner Parusie am Dschebel Allah.

   Ich kenne den >Sohn< und seine Weise |305b, heißt es einmal, die darin besteht, die Wasser von Dschinnistan unter seinem Throne |305b zu sammeln und sie als Wein im Kelchglas, das aus seinem Krater steigt, mit perlendem Champagner gefüllt, der oben überläuft, |306b auszuschenken: was der 'Sohn' hier vollbringt ist nichts Geringeres als das hochzeitliche Kana-Wunder, das sich über das Symbol 'eines hellen, tadellos geschliffenen Kelchglases, dieses an den Gral erinnernden kristallenen Gefäßes', zum Angebot einer Abendmahlfeier weitet, in der der Wandel von Wasser über Wein zu Blut auf eine befruchtende Transsubstantiation hin deutet, die das aride Terrain Ardistans zu neuem Leben erweckt: unerwartet, so wie sich der Stab Tannhäusers durch einen Gnadenakt Gottes neu belaubt. Das kündigt sich schon in der Farbenkonstellation der Kelchflüssigkeit an, wo Grün, die Farbe - wie schon erwähnt - für den Heiligen Geist, eine dominierende Rolle spielt, Signalfarbe für die pfingstliche Metamorphose einer sklerotisch gewordenen Welt, die wie der 'Sohn' grün werden will.


Ludwig Meidner, "Apokalyptische Landschaft", Gemälde 1913 - © Ludwig Meinder-Archiv, Jüdisches Museum der Stadt Frankfurt am Main

Grün will er werden, wieder grün, wie er einstens war, als der Herrgott noch durch Ardistan pilgern konnte. Das Kleid des Lebens, des Glückes, des Segens will er anlegen, nicht nur für uns, die wir in den Bergen wohnen, sondern auch für Euch und alle, die ihn für tot, für kahl, für verödet, für erloschen halten. |305b

Und es sind durchaus auch politische Energien, die Tannhäusers Stab wie den Dschebel Allah zum Ergrünen bringen. Denn: Das ist seine Zeit |305b. Doch was für eine Zeit ist das? Es ist die Zeit der Sehnsucht, nach dem 'großen Geistigen', sich die Welt in einem Ganzheitsdenken wiederzugewinnen und sie spirituell, eben auch religiös zu erneuern.

   Ardistan bietet in dieser geistigen Topographie das Bild einer großen spirituellen Versteppung Europas. Im Wasser, auf dem Grund des 'Sohnes', der die Wasser von Dschinnistan unter seinem Throne sammelt, |305b geborgen, liegt das Angebot, durch Sühne diese Steppe wieder zu einem blühenden Garten zu machen, die geistigen Kräfte zu erneuern - in einer Renaissance des Religiösen wieder Anschluß und Anbindung zu gewinnen an die traditionelle Weisheit, die allen Weltreligionen innewohnende "sophia perennis"; die Schöpfräder in den Brunnenengeln wieder in Betrieb zu setzen: und somit eine Renaissance des Spirituellen einzuleiten. Denn Renaissance ist notwendig im Lebendigwerden vergangenen Denkens ein Schritt ins Zukünftige, mit dem May hier der "tiefsten Paradoxie der Moderne" zu entkommen versucht: der Paradoxie von Freiheit und Wahrheit. Sie besteht darin, daß in der Nachfolge Nietzsches(47) eine als Offenheit begriffenen Freiheit, die als Grundwert oder Grundprinzip der Aufklärung jeden Grundwert und jedes Grundprinzip negiert, jenen Abgrund des Unbegründetseins öffnet, in dem 'die Wahrheit' versinkt. Schon im vierten 'Silberlöwen'-Band hatte das Roß Syrr seinen Reiter über diesen Abgrund getragen und eine Aufrüstung vorbereitet, die nun in Ardistan mit antinietzscheanischer Spitze gegen die Verabschiedung eschatologischer Hoffnung, die Auflösung des Geschichtsdenkens in eine 'Botschaft ohne Finale' betrieben wird; denn diese kann der christlich trinitarische Gottesglaube ebensowenig akzeptieren, wie den heute postulierten postmodernen Verzicht(48) auf die Frage nach der letzten Wahrheit und nach letzten, bleibenden Werten.

   So, gerade in diesem Punkte einer rückschauenden Perspektive, verbindet Mays schöne allegorische Erfindung des Kelchglases, das der Glasbläserei des Vulkanes 'Sohn' entsteigt, am Ende jener vitalistischen Epoche vor dem ersten Weltkrieg aufs originellste ihre wichtigsten Inauguratoren: Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Johann Strauß.

*

Nun, eben die Handschrift Nietzsches stiftet in den Scriptorien des 'Ardistan'-Romanes palimpsesthaft auf vielfältige Weise manche Bilderfindung. Und May wiederum wäre nicht der gewissenhafte, oft auch raffinierte emblematische Mechanikerpedant, wenn sein Bilderinventar sich nicht auf vielen Ebenen dekodieren ließe. So oszilliert das Bild des Schaumweines zwischen dem, was es bedeutet, und dem, was es beschreibt. Das Ganze verquirrlt sich zu einem destabilisierenden Gemisch, von metallische(m) Glanz, in dem es zuckt(), perlt: durch eilt von goldsilbernen Blitzen und Funken. Eine alchemistische Erscheinung: Farben von metallische(m) Glanz (...), einander so verwandt, daß das Gold zuweilen bis ganz nach oben und das Blau zuweilen bis ganz nach unten zuckte. Der überfließende Schaum hatte die Farbe der Pfirsichblüte, durch eilt von goldsilbernen Blitzen und Funken. |306b Das ist nicht ohne Bedeutung: Diese verschiedenen Farben hatten einen metallischen Glanz. Sie waren nicht scharf voneinander geschieden, sondern sie gingen allmählich ineinander über und schienen einander so verwandt, daß das Gold zuweilen bis ganz nach oben und das Blau zuweilen bis ganz nach unten zuckte. Die Grenzen verwischen sich, auch die religiösen, die dogmatischen. Dogmatisch ist diese Epiphanie Gottes jedenfalls nicht, und den Amtskirchen konnte das Gebräu einer Zeitwenden-Silvesternacht kaum munden, welches als Paraklet eine charismatische Führergestalt ausschenkt, die im Dschirbani Züge Nietzsches und Jesus' vereinigt: "ein romantischer Vollblutmystiker", der wie der intuitive Künstler "die unendliche Welt des Unbekannten"(49) erforscht, wie Nietzsche ein "Nomade"(50), der auszieht, der kraftlos gewordenen Gesellschaft, die sich hinter Dogmen von Christentum, Demokratie und Sozialismus verschanzt, Wege durch wüstes Terrain zum Heil eines neuen vitalen Christentums zu bahnen. Denn: Die Zeit dieser Menschen ist dahin. |318a Was bevorsteht ist eine Renaissance der Religiosität. In seinem Roman Doktor Faustus läßt Thomas Mann sie, fiktional zur gleichen Zeit, um 1905 einen Kommilitonen im Gespräch mit dem Hallenser Theologiestudenten Adrian Leverkühn als "vielleicht die Jugend selbst"(51) definieren. Und "Jung sein heißt ursprünglich sein, heißt den Quellen des Lebens nahe geblieben sein, heißt aufstehen und die Fesseln einer überlebten Zivilisation abschütteln können, wagen, wozu anderen die Lebenscourage fehlt, nämlich wieder unterzutauchen im Elementaren." Das Versprechen der Metaphysik eines neuen Menschen, wie es im krisenhaft gestimmten Bewußtsein der Intelligenz vor dem Ersten Weltkrieg virulent war, wird hier verkündet - das Nietzscheprogramm der Helden der Wissenschaft und der Kunst, des wahren Glaubens und der edlen Menschlichkeit, der ehrlichen Arbeit und des begeisterten Bürgersinnes. |318a Und ihnen gilt der Champagnergruß bezeichnenderweise des 'Sohnes', nicht des 'Vaters'.

   Christentum als Pfadfindertum "in voller Vitalität" (Mann 161): es ist dieser élan vital, der bei dem Champagnertoast auf ein neues christliches Zeitalter von Christus wenig die Rede sein läßt, stattdessen davon, daß die Geschichte (...) neue, goldene und diamantene Reifen (schmiedet), damit die Neuen Menschen zu krönen |318a, die gleichsam 'unmittelbar zu Gott' sind. Gefeiert wird ein Dezennium vor Erscheinen des epochemachenden Buches: der Untergang des Abendlandes. Die Zeit dieser Menschen (...) verschwindet, wie die Sonne da vorn verschwunden ist und wie die letzten Farben des irdischen Himmels verschwinden werden. Zwar kommt morgen ein neuer Tag, unaufhaltsam und unwiderstehlich, aber er ist ein ganz anderer Tag als der heutige. Ihm entbietet die Erde(, die) sich nach Ruhe (sehnt) |318a, Champagnersalut. Ein 'neuer Tag' wird begrüßt, hinter dem der Vitalismus einer regressiven "Bildungserneuerung" (Mann 161) lauert. Neujahr der Geschichte. Und das Schmieden der Reifen durch die Geschichte erinnert eine zyklische Weltsicht: Spengler avant la lettre hier am Dschebel Allah und in El Hadd. Dennoch ist nicht ganz sicher, ob der Schmied im Walde von 'Kolub' nicht als Postillon de misère der Geisterschmiede vorsteht und in einem Konzentrationslager der Gewinnung des Neuen Menschen durch Umschmiedung waltet; ob die Schmiedemetapher nicht den Sadismus impliziert, der aus dem Morgenrot des Himmels die Flammen einer saison en enfer auf der Solowki-Insel schlagen läßt, wo Maxim Gorki im Juni 1929 nach eigenem Bekunden beeindruckt war vom Enthusiasmus der neuen Menschen und von den Erfolgen bei der "Umschmiedung des Menschenmaterials."(52) Die expressionistische Qualität der Schmiedemetapher empfahl sie offenbar dem Geist der Zeit, so daß der große Schriftsteller wohl den Geist, der aus der Höllenqual / Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag / Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt, (erkannt) (XXXI 343) haben mochte: auch das ein Beitrag zur Kontingenz der Bilder, deren Begrifflichkeit instabil bleiben muß, wo "das revolutionäre Recht im Namen der Zukunft" richtet (Maurice Merleau-Ponty) und die Wertbegriffe des bürgerlichen Rechts außer Kraft setzt; wie ja auch die Epiphanie des Göttlichen eine sehr persönliche Form der Wahrheitssuche darstellt, auf der der Bildungsbegriff des bürgerlichen Zeitalters gründet.

*

Begleitet vom Sternschnuppenregen nietzscheanischer Vitalismusanfälle, die die Religiosität des alten May im Lichte - und das durchaus im Sinne des Zeitgeistes - "seelische(r) Jugend" (Mann 161) erscheinen lassen, wird diese Epiphanie des Göttlichen nach mühevollem Aufstieg, einem "Dürer'sche(n) Reiten zwischen Tod und Teufel" (Mann 161), Totenstadt und 'Panther', mit dem Sektglas gefeiert: neujährlich gleichsam die Gewißheit, daß morgen ein neuer Tag, unaufhaltsam und unwiderstehlich (kommt). Die Anabasis erfüllt sich im Champagnertoast, und das religiöse Gefühl, das sie verbildlicht, strahlt etwas Vitalistisches, entschieden Subversives aus: aber er ist ein ganz anderer Tag als der heutige. |318a Die manierierte Bilderfolge krönt die Geste eines élan vital, der das Gefühl der religiösen Zeit zweideutig zum Ausdruck bringt: Parusie und Faschingsschwank - Tralala und Gralsglocken. Wie auf dem Hintergrund des zeitgenössischen Nietzschekultes eine vitalistisch gedopte, spirituelle Revolution des Religiösen den 'Neuen Menschen' hervorbringt, dessen Bestimmung es ist, "wegzukommen von der Fremdbestimmung des »Du sollst«"(53) und sich selbst überwindend hinzufinden zu dem »Und ich will - - -! Ich will- - -! Ich will - - -!« der Selbstkonstitution, das, in sich kreisend, aus der Zerstreuung der Stimmen das Unisono der Selbstfindung filtert - so wird aber auch die Verwirklichung dieses Entschlusses, den Alten Menschen in sich zu besiegen, verherrlicht. Was hier in ganz erstaunlicher szenischer Erfindung, einer der in ihrem prozeßualen Charakter anrührendsten Stellen des Romans, in einer "Dramatik der Wahrheit" (Feyerabend) verhandelt wird, kommt einer Willensbildung in statu nascendi gleich, einer phonetischen Fokussierung disparater Lautlichkeit: einer Wortfindung, Sinnfindung, Selbstfindung, Wahrheitsfindung

(...)langsam an dieser Kreislinie hin, deren Durchmesser so groß war, daß die kleine Kerzenflamme schon nach kurzer Zeit im dichten Dunkel verschwand (,... gingen) in seiner inneren Aufregung einige Ausrufungen (...) nicht als abgesetzte Worte, sondern als verworrener Schall zur Höhe, so daß ich sie nicht verstehen konnte. Dort oben aber, wo sich alles Verworrene zusammenfand, um sich wieder aufzulösen, wurden die einzelnen Laute und Worte infolge des Schallgesetzes wieder ordnungsgemäß vereinigt, und kamen zu mir so leise, so vertraulich und doch so deutlich nieder, wie wenn eine teure Person, die wir lieben, ihre Lippen unserm Ohre nähert, um uns etwas Willkommenes mitzuteilen. Es raunte mir zu: »Er hat recht - - -! Und ich will - - -! Ich will- - -! Ich will - - -!«

Das war es, was sich aus seiner Seele herausgerungen hatte, diese Erkenntnis und dieser Entschluß. |242a

Exit, herausgerungen, der in verkrusteten Dogmen versklavt gealterte Mensch, dessen Zeit dahin (ist) |318a und den der élan vital einer neuer Religiosität allerdings zweifelhafter Wirkung beflügelt, "nämlich wieder unterzutauchen im Elementaren" (Mann 161) - generiert er doch Lebens- und Totenfeier zugleich, Apotheose und Tanz auf dem Vulkan, dessen Feuer - in Kelchform wie auf der prophetischen "Apokalyptischen Landschaft" Ludwig Meidners von 1913 - Vorschein der Weltkriegskatastrophe bedeutet und wo der überfließende Schaum (...), durch eilt von goldsilbernen Blitzen und Funken |306b, Signalen der Detonation, bald einmal in den >Schwips< |87a umkippt, perlendem Champagner |306b die Dumpfheit des Simmsemm und der Verheerungen, die er angerichtet hatte, korrespondiert. Es gab hier alle möglichen Sorten dieser Wirkung, vom leisen >Pfiff< und heiteren >Schwips< bis zum schweren >Affenrausch< hinauf. |87a Champagner und Fusel fließen offenbar aus der gleichen ideologischen Quelle.

   Das Sektglas, der Champagnerkelch, ist Ausdruck - auch - eines religiösen Gefühls, das Aufbruch und Restauration paradoxal simultan denkt. Auf dem 'Sohn' wird die neue Renaissance eines Verhältnisses, das auserzählt scheint, gefeiert, und dessen Ableger spirituelles Rinnsal der Religion nur ist. Hier am Ende einer Epoche, in der Peripetie des Religiösen, tritt es auf unter der Schirmherrschaft von Mnemosyne, der Göttin des Gedächtnisses und der Mutter der Musen, aus dem Arsenal der Erinnerung zitiert, und findet in seiner Dürftigkeit und als ein schwacher Abglanz noch wie ein letztes Rufsignal in Mays Roman den Resonanzboden, der es ins Pompöse überhöht und, die allegorische Collage aus der Handlangerremise raffiniert als Präzisionsinstrument nutzend, den schwachen Abglanz seiner Ideale zum furiosen Feuerwerk steigert: das Religiöse befördert dabei "eine Bildungserneuerung" (161), die Thomas Mann im >Doktor Faustus<, aus den Vierzigerjahren zurückblickend, für die Entstehungszeit des Romans 'Ardistan und Dschinnistan' fordern und die dessen Verfasser Karl May nicht als Realität einer starren Rangordnung die Kommunikationsformen bestimmen läßt, sondern als Ideal einer elastischen Zivilisation, wo diese Bildungserneuerung in der Wahrheitsfindung ihr Expeditionsziel erkennt - und mit ihr in einer Anastylose des Religiösen, das in der Ausprägung des Christentums - nach den Worten des Althistorikers Werner Dahlmann - das "letzte lebende Stück Antike in Europa ist", nachdem die in einer Vielzahl von "Renaissancen" dienstverpflichteten Legionen "antiker Schutzengel"(54) von Petrarca bis Nietzsche endgültig verabschiedet zu sein scheinen.

   Denn: Neben der Religionskrise dokumentiert der Roman gerade in seiner Affirmation des Konservativen eine Krisenanalyse, die vor allem den bürgerlichen Bildungsbegriff betrifft, seine Unfähigkeit, höchste Formen intellektueller Freiheit zu entfalten. In letzterer erfüllt sich nach Ulrich Dibelius 'Bildung'. Sie erwächst aus der konsequenten Kritik an vermeintlich objektiven Geltungsansprüchen und der selbstverantwortlichen Suche nach Wahrheit. Sie lebt aus der nicht still zu stellenden "Spannung zwischen alter Bildung und neuer Setzung", die von jedem einzelnen bewältigt werden muß und für die die Schuldanerkennung des 'Mir von Ardistan eine eindrückliche Illustration darstellt.

Wir haben über den Glauben gesprochen, über die Religionen der Erde, über den Wert der Wissenschaften, über die Kunst der Fürsten, ihre Völker glücklich zu machen, über die Verpflichtungen des Menschen seinen Nebenmenschen gegenüber und über alle möglichen anderen Fragen, welche Du als >Menschheitsfragen< zu bezeichnen pflegst. Man hörte ihm das heiße, aufrichtige Verlangen an, sich zu orientieren, über diese Fragen, über uns, über sich selbst. |244b

'Wir haben über Fragen gesprochen.' Fragen aber sind keine Sicherheiten, mit denen sich das Bildungsbürgertum, das May so heftig kritisierte, zufrieden gab: religiös, sozial, ästhetisch wie politisch. Nicht Bildungsbesitz, sondern unaufhörlicher geistiger Kampf ist für Dibelius das Kennzeichen rechtverstandener Bildungsbürgerlichkeit. Einen solchen Kampf kämpft der Mir:

Er kämpfte einen stillen, aber schweren Kampf, den Kampf mit sich selbst, den Kampf mit seiner eigenen, niedrigen Anima, der es noch nicht gelungen war, sich zur Seele zu erheben. |198a

Als Dokument eines solchen läßt sich am Vorabend des ersten Weltkriegs, der für das Bildungsbürgertum die Götterdämmerung bringt, auch Mays 'Ardistan'-Roman auffassen. Ein letztes Plädoyer gegen den Totalitarismus und für das, was 'Bildung' ausmacht. Denn er ist eine Aufruf zur eigenen Wahrheitssuche. Hingegen "(beruht) der Totalitarismus auf dem Verlust des Selberdenkens, also auf der Gedankenlosigkeit und der verhängnisvollen Rolle, die eine gedankenlos übernommene Tradition von Werten wie Ehrlichkeit, Treue und Gehorsam spielten."(55) In ihr bekundet sich das Autonomiebewußtsein, das 'Bildung' konstituiert; mit den Worten des Scheiks Amihn, daß »Wahrheit erst zu prüfen ist, bevor man an sie glaubt!« |28b.

   Dieses Autonomiebewußtsein manifestiert sich besonders in Ernst Troeltschs 1912 erscheinender "Soziallehre der christlichen Kirchen und Gruppen". Es lohnt gerade ein Blick auf dieses Werk, um festzustellen, wie hier das Individualistische, den Amtskirchen so wenig ins Konzept Passende, der 'Ardistan-Religion' ausgeprägt ist. Der religiöse Pluralismus der Zeit wird als legitim ausgewiesen. Glaube sei nur ein anderer Begriff für letzte subjektive Gewißheit. So entspricht es der Grundtendenz des christlichen Glaubens, sich überkommene Symbole und Lehrgehalte individualisierend anzueignen. Es geht um einen freien, ehrfahrungsoffenen Umgang mit der christlichen Tradition, wie er gerade die Mystiker auszeichnet, aber auch Aufklärer vom Schlage Kants und Schleiermachers.

   In der Zeit des späten Bürgertums sieht Dibelius dieses Autonomiebewußtsein ersetzt durch "Einordnung in ein Kollektiv", das die ideologischen Schlachten der Gegenwart bestimmt: durch einen höchst perniziösen Zustand von Theaterkatatonie, deren philosophischer Aktionismus Wahrheitssuche mimt, wo "Dramatik der Wahrheit"(56) gefordert wäre, d. h. - in Anlehnung an John Stuart Mill - Wahrheit zu finden ereigne sich als "Nebenresultat der Suche nach einem vollen Leben". Auch das feiert die Champagnerouvertüre auf dem 'Sohn' und unterlegt der Suche nach der Wahrheit das Medium des Theaters; durchaus in einem metaphorischen Sinn; denn alle philosophischen Entwürfe tragen theatralische Züge in sich und die Dreh- und Angelpunkte, von denen aus einflußreiche Denkgebäude der europäischen Neuzeit immer wieder systematisch entworfen wurden, sind ein theatralischer Ort(57). Und das hängt mit der Doppelbedeutung des Begriffes der Repräsentation als Darstellung und Vorstellung in seiner Beziehung zum Theater zusammen. Wenn ich mir etwa etwas vorstelle, dann sind wir bereits zu viert: ich, mich, etwas und meine Vorstellung von etwas. Stelle ich meine Vorstellung dar, dann tritt ein fremder Leser oder Zuschauer noch hinzu, der sich seine eigenen Vorstellungen bezüglich meiner Darstellung macht. Die verschiedenen Vorstellungen beziehen sich alle auf das Etwas, das aber nur in der Vorstellung, bzw. in der Darstellung auftritt. Die Repräsentation präsentiert demnach etwas Abwesendes. Sie ist zugleich da und nicht da. Dieser paradoxe Charakter der Repräsentation zeigt sich in aller Deutlichkeit in der Theatervorstellung, in welcher Schauspieler, Requisiten und Kulissen sowohl da als auch nicht da sind.

   In diesem speziellen Sinne ist Wahrheitssuche ein Drama und eine Komödie, ein Trauerspiel und eine Farce, fern einer philosophischen Geschäftigkeit, die Sokrates Rechnungen schreiben läßt. Und diesen philosophischen Vitalismus verbindet der Jugendstil zu einer Kohabitation mit der Religiosität und baut beiden in der Kunst ein gemeinsames Haus. Gerade weil Mays spätes Werk programmatisch der Wahrheitssuche verpflichtet ist, kann man nicht sagen, daß es sich in Mitteln der Theatralik abstinent verhält. Wahrheitssuche wird in 'Ardistan', und an welchen Schauplätzen der Erzählung auch immer, auf dem Kothurn exerziert und instrumentalisiert sich, theatralisch höchst kontingent, selbst Merhameh, >die Barmherzigkeit<, und Abd el Fadl, >die Güte<, zu Statisten im Rituale militärischer Demonstration und kollektiver Inbrunst (XXXII 496ff.). Für die Saugnäpfe 'kollektiven' Denkens erweist sich die Schilderung so anfällig, wie auch Dibelius Dictum zu ihr paßt, daß "an die Stelle der Diskussion die Demonstration getreten (ist)"(58). Dafür ist der Roman auffälliger Beleg. In ihm wird eher demonstriert als diskutiert, hat der zum 'Friedensfürsten' konvertierte 'Mir von Ardistan unter Musik die Aufstellung abzureiten. (498)(59), und findet der religiöse Vitalismus seine narrative Vergegewärtigung in einer Metapher aus den Musterbüchern des Kollektivismus: dem breit strömenden Gewässer, das die utopische Geographie von 'Ardistan und Dschinnistan' erst recht erzählbar macht als eine Gleichnis auf das Wesen der 'Religionen'. Diese sind wie der Fluß Ssul Prozesse in der Zeit. Wenn sie sich der Zeitlichkeit entziehen wollen, dann entsteht ein Unglück. Sie vertreiben das Leben. Sie werden zu Mumien. Sie liefern ihre Lebensräume der Desertifikation aus. Dies - und die erzählten Landschaftsräume von 'Ardistan und Dschinnistan' schaffen dafür die eindrückliche Symbolik - ist eine der großen Gefahren dieser wesentlich auf das Überzeitliche und Ewige angelegten Größen, daß sie das, was eigentlich das Fortdauern des entscheidenden Gehalts meint, auf die eigenen Organisationen und Denkmuster anwenden,(60) und, indem sie es als etwas Fundamentales, dem eigenen Ursprung Verhaftetes beharrlich in der Talsperre unter dem "Engel der Wasserscheide" (XXXII 635) hüten, ihm die Gegenwart nehmen, mit der Zeit und für die Zeit als das geschichtlich Fließende, immer neu Gegenwärtige lebendig zu bleiben. Wo diese Wechselwirkung zwischen dem Bleibenden und Fließenden suspendiert ist, droht dem 'geistig Ewigen' entweder der Erstickungstod in den Institutionen oder die unkontrollierte Eruption, die nun freilich am Dschebel Allah im Gleichnis von "einem hellen, tadellos geschliffenen Kelchglase" ihre dem Geschmack der Jugendstil-Epoche gemäße bändigende Ästhetisierung erfährt. Freilich: wenn das nur nicht eine letzte Faschingspose ist. Auf dem 'Sohn' tanzt die Epoche Cancan, bevor in Europa die Lichter ausgehen. Auch hier wiederum das 'Fledermaus'-gefühl des erlöschenden Bürgertums. Religiosität ist dabei aus der Zeit zu verstehen: nicht indem zu allem May der Bischofsstab übergeben wird und um ihn damit womöglich der Abziehbildtechnik von Traktatliteratur gefügig zu machen. Eine solche Eindimensionalität wird ihm nicht gerecht.

*

Davor steht die Naivität dieses Autors. Er erweist sich auch in diesem späten Werk als letzter ernsthafter, aber im Grunde genommen auch naiver Romantiker, der auf der Suche nach der absoluten Freiheit das Wissen und die Intelligenz besaß, seine Obsessionen und Utopien in sich widerspruchsfrei - wenn auch immer repetitiver - auf den Bücherseiten phantasmagorisch wuchern zu lassen. Dabei wird gerne übersehen, daß sich gerade in der Religiosität dieser Dichter eine phantasmagorische Ganzheit erschafft, vor der er seine Urteile legitimiert, d. h. die Religiosität wird selbst wieder eine zum Mythischen tendierende Projektion, in der auf den Höhen des Dschebel Allah der Widerspruch von Freiheit und Bindung, an dem auch May litt, als aufgehoben oder zumindest als abgemildert gedacht werden kann.

   Dabei präsentiert sich die ikonale Rundschau, die May entfaltet, als naiv, "anmutig" - Arno Schmidt ist zuzustimmen - : aber jeden Auftritt in dieser semifiktionalen Welt redigiert das Kalkül. In diesen Bildern regiert die ratio. Und was die 'Widerspruchsfreiheit' betrifft, so besteht sie gerade im Paradoxon, aus dem der Roman 'Ardistan und Dschinnistan' seine Gestaltungslegitimität bezieht. Davon handelt in einem klugen Aufsatz über die Geometrie als Geburtshelferin der Utopie in Mays opus summum, das auch ein Handbuch für die Symbolik der Perspektivenlehre ist(61), Martin Lowsky (62), daß die Fabulierlust hier nur scheinbar planlos vagabundiert; von dem Tatbestand vor allem, daß in einem Buch, welches den 'Topos Dschinnistan' im Titel führt, über diesen Ort nur als einen 'Nichtort', in Stellvertretung, quasi einem Substitutionsverfahren, gesprochen werden kann. Obwohl 'Dschinnistan' der Romanhandlung das Programm liefert, bleibt es ein Land, "in das nicht einmal die Bücherfreunde Zugang haben"(63), das also durch seine Abwesenheit anwesend ist, durch seine Nichtabbildbarkeit ikonisierbar. Denn im Sichtbaren erscheint das Unsichtbare, indem es zur Chiffre und das Göttliche sozusagen als Abwesendes anwesend wird: durch Erzählung. So liefert der Versuch dieses Romanes, angemessen von Gott zu handeln, wie das Werk des Jeremias Gotthelf Anschauungsmaterial dafür, daß über Gott nur metaphorisch geredet werden kann, also indem der Autor von der Welt erzählt. Das Erzählen generiert die Metaphern, und im Gestalten weltlicher Geschichten leuchtet dem dekonstruktivistisch Lesenden auf und ein, wer Gott ist und wo.

   Den Zielort Dschinnistan verkörpert für den Gottsucher und Parakleten des Neuen Menschen "jene Gemeinschaft, wo die Sehnsucht der Sache nicht zuvorkommt, noch die Erfüllung geringer (...) als die Sehnsucht (,...) die Genesis nicht am Anfang, sondern am Ende (ist)"(64). Die Romanhandlung, die ihren Höhepunkt im Geschehen am Dschebel Allah gewinnt, leitet, um Kleist zu paraphrasieren(65), im Überblenden, im 'Durchschnitt' der Bilder auf einer Route durch das Unendliche kreisförmig zum Ursprung zurück. Wir kommen dabei quasi im Rücken unserer selbst wieder an, was soviel heißen mag wie: in uns selbst, im fernen und doch so nahen Lande des Menschen-Innern |31a. Haben wir die Bewegung im mondialen Zirkel von außen nach innen gemacht, betrachten wir - mit den Worten Halefs -, was außen geschehen ist, noch einmal innerlich |44b und finden dort den Eintritt ins Paradies, in unser Inneres, um Gott zu >schauen<: gewinnen vielleicht die heimatstiftenden Räume jener Unschuld, die einst als Vor-Schein in unsere Kindheit fiel. In dieser Welt mag - mit den Worten Ernst Blochs - etwas entstehen, "das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat."(66) Von Ikbal nach El Hadd, die Reise dorthin trägt alle Zeichen einer ins Transzendente verweisenden Ekliptik, die als ein Navigationsverfahren zu denken ist.

   Ein weißes Doppelsegel wird zu Beginn der Erzählung, im Augenblick, an dem die Sonne versank, (XXXI 8f.) zum Anlaß der Berufung Kara Ben Nemsis, so wie, da die Sonne im Scheiden (war,...) an einem weißen Doppelsegel (XXXII 629) ihr Ende in Sichtweite rückt. Dazwischen liegt - über die Wasser - einer langen Reise Nacht in einen neuen Tag: aber er ist ein ganz anderer Tag als der heutige. (XXXII 633) Dazwischen liegen die Landschaften und Städte einer Unterwelt, die der Belebung harrt, der Aktivierung der schöpferischen Potenzen, letzten Endes eines künstlerischen Aktes. Was anderes jedoch unternimmt diese schaffende Kunst (613) als immer wieder verstörend Seltsames zu tun? Denn das Seltsame ist hier endlich einmal als das Natürliche erkannt, während das, was man bisher für natürlich gehalten hat, zur Seltsamkeit, zur Schrulle und zum Hirngespinst wird.(XXXI 24) Kunst war schon immer Vollstreckerin des "Seltsamen" und so 'revolutionär' in des Wortes eigentlichem Sinne. Und Kara Ben Nemsi ist bereit, diesen Weg der "Seltsamkeiten" zu gehen. 'Seltsam' ist im poetischen Inventar von Mays Spätwerk fast alles: merkwürdig, etwa die biblische Flora, und anstößig: Ussulistan, zum Beispiel, das die Reisenden über mit goldfarbenen Papilionaten bestandene Pfade betreten (XXXI 88), die am Ende des Feldzuges in El Hadd unter herrlichen, tausendjährigen Zedern (XXXII 628) ihr Gegenbild finden in einem Park von so eigenartiger Anlage und Schönheit (...), daß es seinesgleichen gewiß nicht weiter gab. (628) In ihrer seltsame(n) Anordnung (629) und eigenartigen Anlage (628) sind das ausgesprochene Topoi der Kunst, Terrains dichterischer Imagination. Seltsamkeit aber ist Synonym für das Paradoxe.

   Und so bleibt all das paradox und ist vorstellbar durchaus nur als eine Möglichkeit des Cyberspaces, Gott zu imaginieren, sich ihn virtuell zu synthetisieren. Paradoxerweise wird dabei im Bild das Bild überwunden. Nochmals mit den Worten Aigners: "es gibt tätsächlich keinen Lichtweg, diesen aber so oft, so viele Beobachter anwesend sind."(67) Und der Weg zu Gott bleibt so nur ein Weg zum Mittelpunkt unserer selbst. "Kinder", heißt es bei Sebastian Franck, dem spiritualistischen Theologen der Reformationszeit, "ihr müßt allen Bildern den Abschied geben, zu Gott einkehren in den Grund der Seele, da sollt ihr Gott finden, denn das Reich Gottes ist in euch."(68) - Dschinnistan, das nicht abbildbare, ist in uns. Und der zitierte Passus betont die Gefahr der Verendlichung Gottes durch Bilder: Jedes Bild bleibt eine Hilfskonstruktion, ein Schatten, der in keiner Ähnlichkeitsbeziehung zu Gott gedacht werden darf. Und so ist die Rede in Bildern, die der 'Ardistan'-Roman entfaltet, immer auch eine Rede von der Bedrohung Gottes durch die Bilder: von ihrer fatalen Kontingenz, wo der Champagnertoast am Dschebel Allah, dieser neujährliche Gruß, ein Liebesmahl so gut wie eine Henkermahlzeit einleiten kann. Von diesem Toast wäre zu reden und von der Transzendierung der Existenz, die er befördert; denn nur so, im Paradoxon, "werden (die Bilder) die Wahrheit sprechen."(69)



1 Franz Schubert: Klage an das Volk. In Briefe, Gedichte, Notizen. Ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Rüdiger Görner. Frankfurt am Main und Leipzig 1996, S. 56

"Nur dir, o heil'ge Kunst, ist's noch gegönnt
Im Bild' die Zeit der Kraft u. That zu schildern,
Um weniges den großen Schmerz zu mildern,
Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt."

2 Albert Einstein: zit. in: Ronald W. Clark: Albert Einstein. München 1974, S. 195

3 Platons Gastmahl. Verdeutscht von Rudolf Kassner. Jena 1913, S 70

4 Karl May: Der 'Mir von Dschinnistan. In Deutscher Hausschatz, Jg. 34 u. 35, 1907-09 (Reprint Hamburg, Regensburg 1976). Zitiert wird dieser Text im folgenden nach der Paginierung des Reprints. Die Siglen a und b beziehen sich auf Seiteneinteilung nach Kolumnen. Zitate nach den Freiburger Erstausgaben der 'Reiseromane' erfolgen unter Angabe der Band- und Seitenzahl.

5 Martin Lowsky: Geometrie und Utopie. Über Abstrakta in Karl Mays Altersroman 'Ardistan und Dschinnistan'. In: Karl Mays 'Ardistan und Dschinnistan'. Hrsg. von Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer, Paderborn 1977, S. 192

6 Platons Gastmahl, wie Anm. 3, S. 63

7 Francesco Petrarca an seine Bruder Gherardo: "Die Poetik ist ganz und gar keine Feindin der Theologie. Du bist erstaunt? Fast möchte ich behaupten, die Theologie sei eine Poetik im Dienste Gottes." Zitiert in: Karlheinz Stierle: Literarische Tradition und die vergessene Religion. In: Neue Zürcher Zeitung, 8./9. 11. 1997, Nr. 260, S. 66

8 Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. In. Schriften. Hrsg. von Andreas Arndt. Frankfurt/M. 1996, S. 102. "[...] und wem die Begierde fehlt, das Unendliche anzuschauen, der hat keinen Prüfstein und braucht freilich auch keinen, um zu wissen, ob er etwas ordentliches darüber gedacht hat."

9 Karl May: Briefe über Kunst. In: Der Kunstfreund. XIII. Jahrgang (1907) Nr. 5, S. 92. Reprint: Karl May-Archiv-Edition. Bad Segeberg o. J.

10 Ernst Bloch: Paradoxa und Pastorale in Wagners Musik. In: Die Botschaft des Merkur. Hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, Stuttgart, S. 96

11 Vgl. dazu: Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches 1871-1918. Frankfurt a. M 1997, S. 580

12 Jacob Burckhardt im Brief vom 9. III. 1846. Zitiert in: René Teuteberg: Wer war Jacob Burckhardt? Basel 1997, S. 158. Dort auch das folgende Zitat.

13 In: Neue Zürcher Zeitung, Dienstag, 22. Juli 1997, Nr. 167, S. 35

14 Man mag staunen: doch was hier gemeint ist, verdeutlicht ein Vergleich mit dem zeitgleichen Schaffen C.F.Meyers. Die Refugien und Hide-spots, die sich Meyer und May in ihrer dichterischen Imagination errichten, sind virtuell identisch in ihrer lebensfeindlichen Hermetik des Eskapismus - in der Hermetik ihrer Kunst heroischer Existenz, sei sie historisch, sei sie exotisch erphantasiert.

15 Michel Foucault: Einleitung zu »Der Gebrauch der Lüste«. In: Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart. Hrsg. von Peter Engelmann. Stuttgart 1990, S. 252

16 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hrsg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1993, S. 312

17 Ebd., S. 311

18 Heraklit, Fragment 45: In: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker Bd. I. Berlin 1968, S. 161

19 Foucault: Einleitung, wie Anm. 15, S. 252f.

20 Ebd., S. 253

21 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt a. M. 1980, S. 69. "Wir greifen etwa die Entwicklung der Ewigen Stadt als Beispiel auf." (etc.)

22 Foucault: Einleitung, wie Anm. 15, S. 253

23 Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher I. Heft J 971. In: Schriften und Briefe Bd. I. Hrsg. von Wolfgang Promies. München 1980, S. 790

24 Richard Wagner: Parsifal. Eingeführt von Wilhelm Altmann. Mainz o. J., S. 24

25 Rudolf Steiner: Mein Lebensgang. Dornach 1986, S. 273

26 Jean Paul: Blumen- Frucht- und Dornenstücke; oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs. Berlin 1818. Zweites Bändchen. S. 228

27 Steffen Dietsch: Gespräch mit Manfred Riedel. In: Sinn und Form, Berlin 1997/I, S. 22

28 Joseph Goebbels: Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern. München 1931, S. 64. Vgl. auch: Goebbels: Die Tagebücher. Hrsg. von Elke Fröhlich. München 1987. Bd. 1, S. 123; Bd. 2, S. 315

29 In: Neue Zürcher Zeitung, Dienstag, 22 Juli 1997, Nr. 167, S. 35. Dort findet sich ein meditatives Aperçu Aigners ohne Titel, das im folgenden vollständig mitgeteilt sei: "Ich erinnere mich sehr an meinen ersten Sonnenuntergang am Meer. Die Sonnenscheibe steckte zur Hälfte hinter der ruhigen, fast glatten Wölbung des Wassers, und über ihr waren einer pastellblauen Fläche fleischrosige Wolken aufgeklebt. Der Lichtweg vom Horizont, wo nun ein blutiger Punkt verglomm, zeigte übers Meer geradewegs auf mich. Was für ein Glück, an der richtigen Stelle zu stehen. Es ist natürlich nicht so. Jeder, der vom Strand aus die untergehende Sonne beobachtet, hat seinen eigenen Lichtweg und sieht nur diesen. Den Lichtweg eines anderen kann niemand wahrnehmen. Man möchte glauben, daß es einen objektiven Lichtstreifen gibt, der für alle gleich erkennbar wirklich da ist, so wie das Wasser, das ihren Lichtteppich trägt. Dies ist leider nicht der Fall. (...)"

30 Steffen Dietsch: Gespräch mit Manfred Riedel, wie Anm. 27, S. 25

31 Jean Paul: Siebenkäs. Zweites Bändchen, wie Anm. 26, S. 228

32 G. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Hrsg. von G. Lasson, Bd. 4. Leipzig 1920, S. 926

33 Aigner, wie Anm. 13 und 29

34 Gustav Landauer: Die Revolution. Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monografien. Hrsg. von Martin Buber. Bd. 13, Frankfurt a. M. 1907. Reprint mit Einleitung von Harry Pross. Berlin 1974, S. 119

35 Hansotto Hatzig macht in einem Schreiben vom 8. X. 1997 an den Verfasser darauf aufmerksam, daß May gegen die >Dreieinigkeit< dogmatisch-kirchlicher Observanz war, ja der Begriff >heiliger Geist< sich wörtlich in seinem ganzen Werk nirgends finde. "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes", könne nicht als eine Trias göttlicher Einzelerscheinungen gewertet werden. "Schon in Band I 180 antwortet May einem Gesprächspartner, der dem Christentum mehrere Götter vorwirft (Der Vorwurf stammt aus dem Koran, in dem selbst Jesus verehrt wird): »Wir haben doch nur einen Gott, denn Vater, Sohn und Geist sind eins.«" Natürlich ist beim >Dschebel Allah<, diesem vulkanischen Familientableau, nicht an eine Repräsentanz von >Dreieinigkeit< im streng dogmatischen Sinne zu denken. Der Begriff >Allah< kann ja nur den einen Gott meinen, der [als] Herrgott noch durch Ardistan pilgern konnte, |305a wenngleich die Trias, die den >Dschebel Allah< bildet, >Vater<, >Mutter< und >Sohn<, zu suggestiv ist, um sich darunter nicht irgendeine Trinität vorzustellen, die unter der Erscheinung >Allah< sich subsumiert. Man sollte statt von >Dreieinigkeit< vielleicht eher vom >Sohn< als Repräsentanten eines >heiligen Familienrates< sprechen, der in dem farbtheologischen Cocktail sowohl eine Evokation des >einen< Gottes als auch ein ideologisch explosives Gemisch bietet.

36 Vgl. Udo Becker: Lexikon der Symbole. Freiburg i. Br. 1992

37 Richard Wagner, wie Anm. 24, S. 28

38 Hierbei handelt es sich nur um eine farbtheologische Skizze, die die Farben eher hinsichtlich ihres heraldischen und ikonalen Wertes auflistet und sich aller Rückschlüsse auf psychologische oder auch charakterliche Indikation bei May enthält. Dazu ist sie in ihrer Flüchtigkeit kaum geeignet. Auch kann von ihr hier um so eher abgesehen werden, als daß Helmut Klar in M-KMG 41 1979, S. 7ff. in gebotener Ausführlichkeit darüber handelt: Karl Mays Farbpräferenzen. Farbpsychologische Interpretation seiner großen Romane 1898-1908. Vgl. auch im folgenden: Jürgen Hahn: "aber ich kenne die Schrift und das geheime Zeichen des letzten Wortes" Prolegomena zu einer Sprache der Zeichen und Bilder in Karl Mays Roman 'Ardistan und Dschinnistan'. In: Karl Mays "Ardistan und Dschinnistan". Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1997 S. 205-249. Dort S. 219ff.

39 Udo Becker: Lexikon der Symbole, wie Anm. 36

40 Ernst Heckel: Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Leipzig o. J., S. 173

41 Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid? In: Antike und Gegenwart - Über die Tragödie. Zürich 1960, S. 58

42 "und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht,/uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich." Duineser Elegien I 6f. In: Rainer Maria Rilke: Ausgewählte Werke Bd. I. Leipzig 1938, S. 231

43 Conrad Ferdinand Meyer: Der Römische Brunnen. In Sämtliche Werke Bd. 2. Berlin o. J., S. 99

44 Ola Hansson: "Nietzsche". Hrsg. von Erik Gloßmann. München 1997, S. 23

45 sa gzhi ser gyi rus sbal: "Schildkröte der gelben Erdfeste". Vgl.: M. Hermanns: Mythologie der Tibeter. Magie Religion Mysterien. Essen o. J., S. 32

46 Becker: Lexikon der Symbole, wie Anm. 36, S. 256

47 Vgl. Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Bd. 1. München 1980, S. 873-890

48 Vgl. Agnes Heller: Undialektische Dialektik - Der Stand der Aufklärung in Europa. In: Leviathan - Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Heft 2. Berlin 1997, S. 233-240. Dort S. 239f.

49 Hansson: "Nietzsche", wie Anm. 44, S. 24

50 Ebd., S. 26

51 Thomas Mann: Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde. Frankfurt a. M. 1980, S. 161

52 Zitiert in: Sonja Margolina/Karl Schlögel: Solowki. Ein Elefant im Paradies, am nördlichsten Rand der Welt. In: Frankfurter Allgemeine Magazin. 30. Woche. 25. Juli 1997. Heft 908, S. 39

53 Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994, S. 133

54 Werner Dahlmann in einem unpublizierten Vortrag über die "antiken Wurzeln des modernen Europa", gehalten an der Herbsttagung 1997 der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.

55 Wolfgang Heuer: Gegenwart im Nirgendwo. Hannah Arendts Weg in die Postmoderne. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 7, 51. Jahrgang, Juli 1997, S. 603

56 Paul Feyerabend-Hans Albert: Briefwechsel. Hrsg. von Wilhelm Braun. Frankfurt a. M. 1997, S. 185 u. 115

57 Vgl. Helmar Schramm: Karneval des Denkens. Berlin 1996

58 Vgl. "Martin Dibelius über die Zerstörung der Bürgerlichkeit. Ein Vortrag im Heidelberger Marianne-Weber-Kreis 1932", herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte Bd. 4, Heft 1. Berlin und New York 1997, S. 114-153. Die nach Dibelius zitierten Begriffe finden sich S. 151f.

59 Auch einen solchen vitalistischen Aplomb der 'Friedenstruppen' feiert das Sektglas.

60 z. B. daß "Allah Gott [ist]" (XXXI 219) und so zum Vollstrecker der Wünsche seiner Gemeinde wird.

61 Vgl. Hahn: Prolegomena, wie Anm. 38

62 Lowsky: Geometrie und Utopie, wie Anm. 5, S.192

63 Ebd.

64 Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Frankfurt a. M. 1959, S. 1628

65 Lowsky: Geometrie und Utopie, wie Anm. 5, S. 182

66 Bloch: Das Prinzip Hoffnung, wie Anm. 54

67 Aigner, wie Anm. 13

68 Zitiert in: Jürgen Müller: Der Judaskuß der Malerei. Pieter Bruegels »Aufstieg zum Kalvarienberg«. In. Neue Zürcher Zeitung, Samstag/Sonntag 19./20. Juli 1997, Nr. 165. Beilage Literatur und Kunst: S. 60

69 Vgl. Platon, wie Anm. 3


Übersicht Sekundärliteratur

Titelseite

Impressum Datenschutz