(Aus: Fricke, Harald: LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT. Beiträge zu Grundfragen einer verunsicherten Disziplin [=E X P L I C A T I O. ANALYTISCHE STUDIEN ZUR LITERATUR UND LITERATURWISSENSCHAFT] Verlag F. Schöningh. Paderborn 1991, S.45-62.)
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Harald Fricke:

WIEVIEL SUGGESTION VERTRÄGT DIE INTERPRETATION ?

Ein Versuch am lebenden Objekt der Karl-May-Forschung

Mit einem Exkurs zur Psychoanalyse



I. Thesen

... ich meines Teils hätte ja beinahe über sie
meiner selbst vergessen; so überredend haben sie
gesprochen. Wiewohl Wahres, daß ich das Wort
heraussage, haben sie gar nichts gesagt.

PLATON: Apologie des Sokrates

(1) Empirische Untersuchungen an literaturwissenschaftlichen Texten belegen, daß der Stil von Interpretationen in hohem Maße von poetischen Techniken der Suggestion und der sprachlichen Assimilation an den literarischen Gegenstandsbereich gekennzeichnet ist - und dies umso mehr, je weniger begriffliche Klärungen und empirische Textnachweise anzutreffen sind.

(2) Durch die semantische Unschärfe der gewählten dichtungssprachlichen Formulierungen schließt diese stilistische Tendenz eine genaue Prüfung und mögliche Widerlegung der vertretenen Behauptungen vielfach von vornherein aus.

(3) Andererseits sorgt die Poetisierung der Interpretationssprache in erheblichem Maße dafür, daß ein Bedürfnis nach einer solchen kritischen Prüfung im allgemeinen gar nicht erst aufkommt, weil die Zustimmung der Leser schon durch den ästhetischen Reiz und die suggestive Überzeugungskraft der mit poetischen Elementen durchsetzten Sprache weitgehend gesichert ist.

(4) Ein empirischer Kontrollversuch mit zwei verdeckt publizierten Interpretationsfassungen belegt, daß die Beurteilung literaturwissenschaftlicher Arbeiten tatsächlich in entscheidendem Maße vom Grad ihrer suggestiven Rhetorisierung abhängt: Die gleiche Interpretation stößt in poetisierter Präsentation überwiegend auf Zustimmung, in schmuckloser Darbietung überwiegend auf Ablehnung.


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(5) Eine angemesscene Antwort wäre nicht ein Aufruf zum puritanischen Bildersturm in der Literaturwissenschaft, sondern die Besinnung auf das kommunikative Ziel der Unmißverständlichkeit anstelle einer gefälligen Scheinverständlichkeit.

(6) Denn nicht die einzelne Metapher oder die gelegentlich eingesetzte rhetorische Figur - etwa zur didaktischen Verdeutlichung oder zusammenfassenden Verstärkung vorangehender Klartext-Passagen, wie in anderen wissenschaftlichen Disziplinen - ist bedenklich, sondern die literaturwissenschaftliche Grundtendenz zur Verwendung poetischer Sprachmittel als funktionaler Ersatz für intersubjektiv überprüfbare Argumentationen.

(7) Psychoanalytische Deutungen von Literatur sind kein Spezialfall wissenschaftlicher Interpretation, sondern ein Spezialfall rhetorischer Suggestion - nämlich die Autosuggestion des Interpreten, der sich in seiner eigenen logischen Falle fängt.


II. Erläuterungen

Verwirrt schüttelte ich den Kopf. Ich hatte bisher
immer angenommen, die Logik sei eine universale
Waffe, und jetzt mußte ich plötzlich erkennen, daß
ihre Kraft und Gültigkeit davon abhängt, wie man
sie einsetzt und gebraucht.

UMBERTO ECO: Der Name der Rose

In seiner "Kritik der Urteilskraft" hat Kant nicht nur die Möglichkeit einer "Wissenschaft des Schönen", also einer intersubjektiv zwingenden Beweisführung für ästhetisch wertende Geschmacksurteile bestritten, sondern zugleich die Idee einer "schönen Wissenschaft" attackiert. Seine Begründung, die an unzeitgemäß deftiger Direktheit nichts zu wünschen übrig läßt, lautet hier: "so ist eine Wissenschaft, die als solche schön sein soll, ein Unding. Denn wenn man in ihr als Wissenschaft nach Gründen und Beweisen fragte, so würde man durch geschmackvolle Aussprüche (Bonmots) abgefertigt."(1)


1 Alle Zitate: Kritik der Urteilskraft § 44, B 176f.


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Genützt hat diese Warnung Kants wenig, zumindest in unserem Fach. Denn daß sich viele Literaturwissenschaftler in der Alternative zwischen literarischem und wissenschaftlichem Schreiben mit mehr oder eher weniger Erfolg für eine Art 'Sekundärpoesie' zu entscheiden pflegen, ist nicht länger etwas, was nur als ein unverbindlicher Topos in akademischen Reden immer wieder beklagt und dafür in Feuilletons immer wieder eingefordert wird. Der sprachliche Anpassungsversuch von Literaturwissenschaftlern an ihren literarischen Gegenstand ist längst die alltägliche Wirklichkeit des Faches, wie ich 1977 anhand von 80 germanistischen Interpretationen aus den letzten hundert Jahren ausführlich belegt habe.(2) Da die Resultate dieser Untersuchung die praktische Grundlage der folgenden Überlegungen bilden, seien sie hier noch einmal knapp zusammengefaßt:

Die etwa 16800 poetischen Sprachelemente (wie Metaphern, Wortspiele oder rhetorische Fragen), die in den 80 germanistischen Arbeiten anzutreffen waren, lassen sich am prägnantesten so resümieren, daß durchschnittlich auf jeden literaturwissenschaftlichen Satz ein solches poetisierendes Element entfällt. Der Sprachgebrauch der Germanisten übertrifft damit schon statistisch um ein Mehrfaches die zu Vergleichszwecken in gleicher Weise untersuchten sprachwissenschaftlichen, sprachphilosophischen und historiographischen Texte. (Annähernd vergleichbare Werte häufiger Poetisierung erreichen diejenigen unter den vertretenen philosophischen Autoren, die - wiewohl untereinander höchst gegensätzlichen Schulen angehörend - einheitlich alle Bemühungen um wissenschaftlich argumentierendes Philosophieren explizit mit dem gelehrten Schimpfwort "Positivismus" oder auch "Szientismus" abtun und in eigenen Texten auf die eine oder andere Weise 'hegelnd', 'heideggernd' oder 'adornisierend' meinen, kontrollierte Argumentation durch die Imitation manierierten Sprechens ersetzen zu können.)

In literaturwissenschaftlichen Arbeiten ist der poetisierende Grundzug zwar von Autor zu Autor, ja sogar von Text zu Text unterschiedlich stark ausgeprägt, aber insgesamt in den letzten einhundert Jahren ausnahmslos und historisch unverändert nachweisbar. Durch die intensive literaturwissenschaftliche 'Methodendiskussion' (besonders zwischen 1965 und 1975) hat die Tendenz zur verbalen


2 Harald Fricke: Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen. München 1977.


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Suggestion nicht etwa abgenommen, sondern ist sogar noch angestiegen - bemerkenswerterweise auch und besonders in der DDR-Germanistik. Seit Erscheinen der Untersuchung hat sich nach internen Vergleichszählungen an dem beschriebenen Sprachgebrauch germanistischer Arbeiten nichts Nennenswertes verändert; allenfalls ist das sprachliche Spektrum unter Etiketten wie 'Diskursanalyse', 'Dekomposition'(3), 'Dekonstruktivismus', 'Poststrukturalismus' oder auch 'Neostrukturalismus' um jene verbalen Amokläufe bereichert worden, die Klaus Laërmann in einer dankenswert schonungslosen Generalabrechnung als "das rasende Gefasel der Gegenaufklärung" beim Namen genannt hat.(4)

Die Darstellungssprache literaturwissenschaftlicher Interpreten wird nun nicht nur dem allgemeinen Objektbereich 'Poesie' angenähert, sondern nach Gattung, Stilregister und autorspezifischen Merkmalen auch dem jeweiligen literarischen Gegenstand(5): Man redet über das Komische witzig, über das Tragische pathetisch, über das Dramatische dialogisierend, über das Lyrische rhythmisierend, über Thomas Mann ironisch, über Brentano klangspielerisch und über Trakl in syntaktischen Ellipsen.

In statistisch eindeutiger Weise verhält sich dabei die Neigung zum Poetisieren bei den einzelnen Autoren umgekehrt proportional zu wissenschaftlicher Eindeutigkeit (etwa durch Angabe von Begriffsdefinitionen) und zu empirischer Nachprüfbarkeit (etwa durch Angabe von Textbelegen): Argumentation wird durch Suggestion ersetzt, Sachadäquatheit durch Stiladäquatheit vorgegaukelt. Auch der vermeintliche 'Tiefsinn' vieler germanistischer Arbeiten beruht zum großen Teil auf der durch rhetorisch-poetische Mittel bewirkten Verschleierung der Voraussetzungen, die stillschweigend in die Untersuchung eingehen. Bei hinreichender Offenlegung solcher unterschobener Prämissen würde sich häufig ergeben, daß die gewonnenen


3 Dies ist übrigens schon ein polemischer Ausdruck aus dem Wortschatz von Goebbels, wie man nicht ohne Überraschung belegt findet bei Christa Wolf: Kindheitsmuster. Weimar 1976. Neudruck Neuwied 1979, S.217.
4 Klaus Laërmann: Das rasende Gefasel der Gegenaufklärung. Merkur 433 (1985). S.211-220. - Ähnlich Wolf Wucherpfennig: We don't need no education. Foucault und die poststrukturalistische Germanistik. In: Germanistik und Deutschunterricht im Zeitalter der Technologie. Vorträge des Germanistentages 1987. Hrsg.v. Norbert Oellers. Tübingen 1988. Bd.1. S.162-174.
5 Ähnlich konstatiert zusammenfassend Hayden White: "interpretative discourse is governed by the same principles [...] as those used in narration" (H.White: The Rhetoric of Interpretation. In: Poetics Today 9 (1988). S.253-274, hier S.270).


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Ergebnisse entweder banal sind (nicht weniger banal jedenfalls, als dies in der Regel jedem Versuch zu einer exakten Literaturwissenschaft vorgeworfen wird) - oder aber daß sie banal falsch und in der Sache unhaltbar sind. Die Funktionen einer der literarischen Sprache angenäherten Redeweise in der literaturwissenschaftlichen Kommunikation lassen sich demnach etwa folgendermaßen zusammenfassen: Der Einsatz poetisierender Elemente dient angesichts ihrer prinzipiellen Vagheit objektiv dazu, die literaturwissenschaftlichen Leser weniger durch Argumente und Belege zu überzeugen als durch rhetorische Suggestion zu gewinnen.

Der zweite Teil dieser These blieb dabei, im Gegensatz zu den harten Fakten des textanalytischen Befundes, zunächst hypothetisch: daß nämlich der Grad an Zustimmung zu germanistischen Interpretationen wesentlich abhängt vom Grad der Poetisierung und individuellen sprachlichen Anpassung an die behandelten Dichtungen - daß also die Leser literaturwissenschaftlicher Publikationen dergleichen geradezu normativ erwarten und ihre Gesamtbeurteilung solcher Schriften stärker an stilistischen als an argumentativen Qualitäten ausrichten. Zur empirischen Überprüfung auch dieser zweiten Hypothese diente ein praktisches Experiment, dessen Versuchsanordnung und dessen Resultate im folgenden zusammengefaßt werden sollen.

Es kam hier vor allem darauf an, das Experiment wirklich unter Ernstfall-Bedingungen durchzuführen - also nicht bloß mit beeinflußbaren Studentengruppen als 'Versuchspersonen' gewisse Trockenski-Tests zu veranstalten, von deren Ergebnissen man sich dann die gerade passenden heraussucht. Es mußte sich vielmehr um echte germanistische Publikationen und um die echten Reaktionen der germanistischen Zunft darauf handeln. Zu diesem Zweck habe ich einen literaturwissenschaftlichen Aufsatz in zwei alternativen Fassungen veröffentlicht, die zwar zu Tarnungszwecken unterschiedlichen Titel, Einleitung und Schluß erhalten mußten, die sich sonst aber im wesentlichen nur in Hinsicht auf den Grad ihrer sprachlichen Poetisierung radikal voneinander unterschieden. Natürlich führt auch ein unterschiedlicher Publikationsort zu zwei nicht völlig austauschbaren Kontrollgruppen - aber so 'klinisch rein' kann man bei diesem Typ von 'participating observation' ohnehin kaum einmal arbeiten.

Ein passendes Objekt für eine derartige listig-abenteuerliche Verstellung zu Erkenntniszwecken bot sich sofort an: für so etwas kommt natürlich vor allem Karl May in Frage. Die eine der beiden


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Fassungen(6) wurde dabei so gut wie vollständig von allen Elementen sprachlicher Poetisierung freigehalten; die andere Fassung hingegen(7) wurde - genau nach dem Rezept der textanalytisch ermittelten Resultate - mit den besonders branchenüblichen Stilfiguren vollgestopft und insgesamt den bewährten suggestiven Leserstrategien germanistischer Interpretationen angeglichen.

Sämtliche 40 Typen poetisierender Sprachelemente, die in den untersuchten germanistischen Interpretationen aufgetreten waren, kommen mindestens einmal vor. Auch die durchschnittliche Häufigkeit der Stilfiguren liegt mit 17,3 poetischen Elementen pro Druckseite gerade im mittleren Bereich des in jüngster Zeit germanistisch Üblichen (etwa zwischen dem ermittelten BRD- und DDR-Durchschnitt); zur Einschläferung der kritischen Aufmerksamkeit des Lesers treten die Figuren freilich am Anfang sehr sparsam, am Schluß dann gehäuft auf - auch dies eine sehr verbreitet zu beobachtende verbale Taktik in germanistischen Arbeiten.

Vor allem aber kam es darauf an, die sprachliche Fassung dieses Aufsatzes in möglichst vielen Zügen der Schreibweise des behandelten Verfassers, also dem - interessierten Lesern wohlbekannten - Personalstil Karl Mays zu assimilieren. Das beginnt mit einigen schon durch Arno Schmidt gebrandmarkten stilistischen Fingerabdrücken wie "derselbe/dieselbe/dasselbe", relatives "welcher/welche/welches" oder das bei May häufig schwach flektierte Prädikatsnomen "Mays Schachzug ist ein ganz einfacher";(8) neben Sam Hawkens' "Wenn ich mich nicht irre!" kamen auch andere, kurz vorher erst zitierte Formulierungen Mays wörtlich in den Text der Interpretation.

Wie beim alten May in seinem mystischen Spätwerk (und wie z.B. bei Richard Alewyn in Gedichtinterpretationen)(9) wurden gelegentlich ganze Versfolgen im Prosadruck versteckt; allgemein bestimmt das explizit hervorgehobene Stilprinzip der Wiederholung nicht nur die Sätze Karl Mays, sondern zunehmend auch die Sätze der literatur-


6 Harald Fricke: Karl May und die literarische Romantik. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 11 (1981). S.11-35.
7 Harald Fricke: Wie trivial sind Wiederholungen? Probleme der Gattungszuordnung von Karl Mays Reiseerzählungen. In: Erzählgattungen der Trivialliteratur. Hrsg.v. Zdenko Skreb und Uwe Baur. Innsbruck 1984. S.125-148.
8 s.Anm.7, S.138.
9 s.Anm.2, S.122f.


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wissenschaftlichen Beschreibung Mays - so daß z.B. statt einfach von "Wiederholungen" synonym häufend von einer "Vielzahl von Wiederholungen, von Spiegelungen und Parallelen, Äquivalenzen und Korrespondenzen" sowie "Wiederholungen, Wiederholungen und nochmals Wiederholungen" die Rede ist, die "immer und immer wieder" anzutreffen seien.(10)

Und schließlich wurde dem ganzen Aufsatz die darin selbst beschriebene typische Ablaufstruktur eines May-Romans als 'abenteuerliche Enträtselung eines Geheimniskomplexes' zugrundegelegt: Am Anfang steht das "dunkle Rätsel" May - ein "nicht ganz geheures Objekt" -, das zu einem "Abenteuer der Erkenntnis von Verborgenem" lockt, bei der man ständig einer "Gefahr entgehen" muß - immer wieder nämlich "droht hier die Gefahr, einer falschen Spur zu folgen", doch mit dem Happy-End ist dann doch "das eigentliche Geheimnis des 'Old Surehand' aufgedeckt."(11)

Die möglichst vollständig gesammelten und protokollierten Reaktionen auf diese beiden Fassungen des Aufsatzes lassen nun an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Bemerkenswert ist zunächst schon einmal die Tatsache, daß auf die durchgehend poetisierte Fassung (deren Merkwürdigkeit, trotz deutlich eingebauter Warnsignale für den Kenner, niemandem auffiel) mehr als doppelt so viele bewertende Äußerungen eingegangen sind: Auf die 'nüchterne' Version haben, obwohl früher und leichter zugänglich publiziert, nur 12 Personen mit insgesamt 37 wertenden Ausdrücken explizit reagiert; auf die 'poetische' Version hingegen 22 Personen mit insgesamt 80 Wertäußerungen. Da es mir im grundsätzlichen Zusammenhang dieses Buches nur um die Demonstration eines generellen Symptoms zu tun ist, übergehe ich Namen und Details(12) und gebe hier nur die vollständigen Listen aller mir bekanntgewordenen Wertäußerungen an.

Hier zunächst sämtliche bewertenden Formulierungen zur poetisierten Fassung des Aufsatzes:


10 s.Anm.7, S.138 bzw. 140 bzw. 141.
11 s.Anm.7, S.125/127/132/140/141.
12 Näher dazu die in den Drucknachweisen angeführte Erstfassung dieses Versuchsberichts.


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POSITIV: sehr guter Beitrag; sehr eigenständiger Beitrag; sehr lesbar; elegant formuliert; Spaß gemacht; guter Aufsatz; wirklich ein toller Stil; mit Begeisterung gelesen; selten eine so angenehme und erleuchtende Lektüre gehabt; die bisher beste Analyse einer Mayschen Reiseerzählung; glänzend; trefflich; hervorragende Bereicherung; nützliche Schlußfolgerungen; wertvolle Bewertungsgrundlagen; vielversprechender Aufsatz; vorzügliche Arbeit; zu wesentlichen neuen Erkenntnissen verholfen; sympathisch; couragiert; mutig und wahr; besonders beeindruckt; am treffendsten charakterisiert; überaus perspektivenreicher Aufsatz; eindringlich; besondere Stringenz und Beweiskraft; Reihe erhellender Detailbeobachtungen; mit großem Vergnügen gelesen; willkommene Bereicherung; außergewöhnliches Lesevergnügen; ohne staubtrockene Wissenschaftlichkeit; mit großem Vergnügen noch einmal gelesen; ein wirkliches Vergnügen; ein sprühender Genuß, nebst der Belehrung; das Beste, was es zum 'Old Surehand' gibt; auch das Beste zur Gattungszuordnung bei Karl May; sein Witz hat mich entzückt; eine ganz wichtige Ergänzung zu vorliegenden Studien; wunderbar; hat hier viele begeisterte Leser gefunden; hochinteressanter Text; mit Freude und Vergnügen; kann ich nur beipflichten; vorzüglich; vorzüglich herausgearbeitet; ein phantastischer Aufsatz; philologische Akribie; weiter theoretischer Horizont; einer der wenigen ernsthaften Beiträge zur Karl-May-Forschung; Vergnügen zu lesen; sehr flott geschrieben; germanistische Belletristik; gelungen; souveräne Überblicksperspektive; ihre Stärke ist die Fülle der Perspektiven; Fragen aufwerfen gehört nicht zu den geringsten Qualitäten des Beitrags; angenehme Unterbrechung; didaktische Hilfe; plausibel und überzeugend; brillanter Aufsatz; einleuchtende Ergebnisse; glänzend geschrieben; Einklang zwischen kurzweiligem Stil und Gegenstand; hat besonders erfreut; Lachen und Einsicht gehen zusammen; Formulierungen sind leserfreundliche Volltreffer; Lesevergnügen; großen Spaß bereitet; geistig anregend; in der Sache vollends überzeugend; Diktion witzig und doch von zulänglicher wissenschaftlicher Genauigkeit; auf tiefernster, profunder Gelehrsamkeit aufgebaut; mit Meisterhand ausgeführt; glänzend; vor Leben und Witz sprühend; Glanznummer des Bandes.

NEGATIV: Gefahr des Verwitzelns; recht vage; mit einiger Skepsis.

Ganz anders sehen die Relationen bei den wertenden Äußerungen auf die nüchterne Fassung des Aufsatzes aus:


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POSITIV: ausgezeichnet; exakte und präzise wissenschaftliche Erkenntnis; zwei Stunden bester Unterhaltung; grandioser Befund; mit Genuß gelesen; geradezu brillante Interpretation; mit Sorgfalt erarbeitet; schöner Aufsatz; wird dem Jahrbuch zur Zierde gereichen.

NEGATIV: apodiktische Behauptung; F. irrt auch, wenn... ; wirkt es merkwürdig, daß F. ... ; nun ersetzen apodiktische Behauptungen nicht Detailkenntnisse; verdächtiger Überschwang; eine Reihe recht problematischer Thesen; ein großes Fragezeichen ist zu setzen; einige Fehler unterlaufen; Hauptthese überzogen; nicht sehr stichhaltig; unverständlich, warum... ; nicht zulässig, daß... ; das Lesen bereitet Schwierigkeiten; Ist das ernst gemeint? ; Unmenge von ganz eindeutigen Fehlern; Beschimpfungen in rüdem Ton; Eulenspiegeleien; Kuckuck ein Ei ins Nest gelegt; aberwitzige Stilisierung Mays; These nicht ernst zu nehmen; will auf sich selbst aufmerksam machen; vielerlei Eitelkeiten; solche alerten Jung-Germanisten; mit einer schicken, ach so gewagten These für den gediegenen Snob; intellektuelle Scherzartikel; geradezu aberwitzig.

Nicht nur solche Formulierungen, sondern schon die rein quantitativen Relationen sprechen eine deutliche Sprache: Die 80 Wertäußerungen zum poetisierten Text sind zu 96% positiv, wobei auch die drei einzigen kritischen Äußerungen im unmittelbaren Kontext eines Gesamtlobes auftreten; dagegen sind die Bewertungen der nüchternen Fassung zu 76% negativ, wobei von den 9 positiven Bemerkungen 6 im unmittelbaren Kontext kritischer Kommentare auftreten. Besonders aufschlußreich sind dabei natürlich die Fälle, in denen derselbe Leser auf beide Fassungen reagiert hat - und erwartungsgemäß ausnahmslos zustimmend auf den poetisierten Text, skeptisch bis ablehnend auf den schlichten. Zu denken sollte auch die Tatsache geben, daß mehrere Leser emphatisch positiv auf die stilistisch elegante Fassung reagiert haben, obwohl sie zugleich seine zentrale These für falsch erklären - dies wäre wohl kaum vorstellbar in anderen Wissenschaften, in denen gerade die Richtigkeit des Gesagten als vorrangiger Beurteilungsmaßstab gilt.

Nun muß man deutlich sagen, daß ein solcher, schwer unter ganz gleichartigen Umständen wiederholbarer Einzelversuch am lebenden Objekt natürlich in empirisch-methodischer Hinsicht nicht vollkommen 'wasserdicht' ausfallen kann - aber komplementär zu den 16800


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Belegen in den stilistisch analysierten Interpretationen anderer Literaturwissenschaftler, sozusagen als praktische Nagelprobe auf den massiven textempirischen Befund, dürfte das Resultat doch von eindeutiger Aussagekraft sein. Alles in allem jedenfalls lassen sich die beschriebenen Reaktionen nicht anders zusammenfassen, als daß die poetisierte Fassung des Versuchstextes mit auffälliger Emphase gelobt wurde, während die nüchterne Fassung desselben Aufsatzes auf deutliche Ablehnung stieß.

Soweit der Kasus; was kann man daraus lernen? Zunächst einmal liegen hier verschiedene Mißverständnisse nahe. Es geht in diesem Zusammenhang nicht um eine puritanische Abstinenzregel etwa nach dem Motto: "Dienst ist Dienst, und Schnaps ist Schnaps." Es spricht gar nichts gegen einen gelegentlichen Schnaps im Dienst, solange er die Erledigung der dienstlichen Obliegenheiten des Wissenschaftlers nicht beeinträchtigt. Dagegen dürfte es diagnostisch sicher sein, daß der Dauerzustand eines poetischen Delirium tremens in manchen germanistischen Interpretationen zu einer chronischen literaturwissenschaftlichen Dienstunfähigkeit führen muß.

Da habe ich doch nicht etwa selbst in Metaphern geredet? Macht nichts - sie fassen ja nur ein vorher argumentativ und empirisch expliziertes Resultat zusammen. Jedoch ich bin kein Ikonoklast: die vorgebrachte Kritik ist keineswegs ein Plädoyer für eine Art sprachlicher Trockenstarre. Es dreht sich hier nicht um irgendeine intellektuelle Prüderie und Berührungsangst gegenüber allen Metaphern oder einem guten Schuß didaktischer Rhetorik - und schon gar nicht spricht etwas dagegen, wenn sich ein Literaturwissenschaftler beim Schreiben als ein im doppelten Sinne witziger Kopf erweist. Bilderstürmerei in der Wissenschaft ist vollkommen unsinnig, wenn sie sich darauf richtet, sozusagen noch die allerletzten Bilder aus der Kirche zu verbannen. Bedenklich wird es nur, wenn man den 'Tempel der Wissenschaft' in ein Museum umfunktioniert, in das die Leute dann nur noch gehen, um sich ein schönes 'Bild der Wissenschaft' anzugucken (oder um den Professor auf der sprachlichen Orgel präludieren zu hören).

Hier liegt das wirkliche Problem: bei dem durch die Textanalysen nahegelegten und durch den praktischen Kontrollversuch bestätigten Befund, daß in der Germanistik poetische Suggestion als Surrogat für begriffliche Präzision und wissenschaftliche Argumentation dient. An die Stelle von 'Literaturwissenschaft' als einem Zweig der Wissenschaft, die dem Ideal der Wahrheit verpflichtet ist, tritt


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'Wissenschaftsliteratur' als ein Zweig von Literatur - nämlich die nur bei uns so genannte 'Sekundärliteratur', die man erst dann als adäquat empfindet, wenn sie sich dem Primärtext möglichst stark anähnelt. Hans Fromm hat leider völlig recht, wenn er in seinen Überlegungen zur "Verantwortung des Philologen" von 1981 mahnt:

Bei der Bestimmung des hermeneutischen Phänomens hat man immer auf die Sprachhaftigkeit der Objekte und darauf hingewiesen, daß der Hermeneutiker mit seinem Gegenstand die gleiche Sprache spreche. Daß er es nicht ganz tut, darauf kommt es an. [...] Geschichtlich hat die gemeinsame Sprachteilhabe zur Folge gehabt, daß die Notwendigkeit einer disziplinspezifischen Begriffssprache erst gar nicht gesehen und ihr Aufbau später ungewöhnlich erschwert wurde. Wir stehen heute immer noch eher am Anfang als am Ende dieser wissenschaftshistorischen Entwicklung.(13)

Wenn Fromm hier die seit langem überfällige Ausbildung einer literaturwissenschaftlichen Fachsprache einfordert, dann kann man sich diesem Postulat nur zugleich mit folgender Warnung anschließen: Eine neuere, bessere Terminologie heißt nicht (und kann für uns, wie im vorigen Kapitel begründet, prinzipiell nicht heißen), man brauche ein neues Vokabular. Der auch von Fromm beklagte "ornatus difficilis von Talmi"(14) in manchen Dissertationen führt hier nicht zum Besseren. Präzision ist keine Frage des verwendeten Wortschatzes, sondern des Umgangs damit.

Weder poetische Suggestion noch pseudowissenschaftliche Imponiergestik helfen der literaturwissenschaftlichen Arbeit weiter, sondern nur die pointierte Nüchternheit des Argumentierens, des begrifflichen Präzisierens und des empirischen Kontrollierens. Der kritische Weg steht allein noch offen.


13 Hans Fromm: Von der Verantwortung des Philologen. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981). S.543-566, hier S.564.
14 Ebenda.


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EXKURS: Thesen zur psychoanalytischen Literaturinterpretation


Nein, unser Denken hat sich die Freiheit
bewahrt, Abhängigkeiten und Zusammenhänge aufzufinden, denen nichts in der
Wirklichkeit entspricht, und schätzt diese
Gabe offenbar sehr hoch, da es innerhalb wie
außerhalb der Wissenschaft so reichlichen
Gebrauch von ihr macht.

FREUD: Der Mann Moses


(1) Gerade im Bereich der Forschungsliteratur zu Karl May stößt man häufig auf eine Sonderform suggestiver Interpretation, auf Deutungen unter Berufung auf diese oder jene Richtung der Psychoanalyse. So allerdings, wie sie dabei von den Literaturwissenschaftlern - die selten über mehr als die zusammengelesene Sachkompetenz des engagierten Amateurs verfügen - eingesetzt wird, handelt es sich nicht etwa um eine 'Hilfswissenschaft' des Philologen, sondern um ein besonders raffiniertes Amalgam von rhetorischer Suggestion und pseudowissenschaftlicher Sprachgebärde.

(2) Das große Renommee der Psychoanalyse im Umkreis der Philosophischen Fakultät und hier besonders in der Literaturwissenschaft beruht in erheblichem Maße auf einem 'Weißen-Kittel-Effekt': auf der Herkunft aus der Medizinischen Fakultät mit ihrem hohen sozialen und wissenschaftlichen Ansehen. Deshalb scheint ein Hinweis darauf vonnöten, daß der weiße Kittel der Psychoanalytiker mittlerweile große bis flächendeckende Flecken aufweist, die vorwiegend von Anwürfen aus zwei Richtungen stammen: (a) von wissenschaftstheoretischen Einwänden gegen die logische Theoriestruktur der Psychoanalyse; (b) von empirischen Einwänden gegen die experimentelle Belegbarkeit bzw. therapeutische Wirkung der Psychoanalyse.

(3) Freuds Anspruch auf wissenschaftliche Wahrheit seiner Theorien wird heute praktisch von keiner wissenschaftstheoretischen Richtung mehr akzeptiert:


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- Selbst Sympathisanten der Psychoanalyse aus dem Lager der 'Hermeneutik' oder der 'Kritischen Theorie' zeihen Freud eines deplaziert vertretenen "funktionalen Erklärungsanspruchs"(15) bzw. eines "szientistischen Selbstmißverständnisses".(16)

- Der späte Wittgenstein als Protagonist der 'Sprachanalytischen Philosophie' kennzeichnet die psychoanalytische Tätigkeit als eine zwar sympathische und möglicherweise nützliche, aber unwissenschaftliche Sprachverwendung, als eine Form von "Mythologie".(17)

- Die konstruktivistische Wissenschaftstheorie der 'Erlanger Schule' straft die Psychoanalyse - als einen Musterfall ungleicher Chancenverteilung im Dialogspiel der Wissenschaft - durch völlige Nichtbeachtung.

- Der 'Logische Empirismus' verlangt für die Erklärungskraft einer Theorie eine entsprechende prognostische Kraft und verwirft deshalb die Psychoanalyse, die weder für einen Einzelfall noch für statistisch analysierte Fallmengen Vorhersagen ermöglicht, sondern immer erst post festum die Fakten interpretiert und so eine reine "Nachhersage" bietet.(18)

- Am schärfsten wird die Psychoanalyse vom 'Kritischen Rationalismus' mit dem Hinweis auf prinzipiell fehlende Falsifizierbarkeit attackiert. Popper formuliert in diesem Sinne nach J.Black: "Eine geschickte Anwendung gewisser Bedingungen wird fast jede Hypothese mit den Erscheinungen übereinstimmend machen; dies ist der Einbildungskraft angenehm, aber vergrößert unsere Kenntnisse nicht"(19); dementsprechend "würde keine logisch mögliche Beschreibung menschlichen Verhaltens mit den psychoanalytischen Theorien von Freud, Adler oder Jung unvereinbar sein".(20)


15 Martin Bartels: Ist der Traum eine Wunscherfüllung? Überlegungen zum Verhältnis von Hermeneutik und Theorie in Freuds Traumdeutung. In: Psyche 33 (1979). S.97-131. - Vgl. dazu Hans-Jürgen Möller: Psychoanalyse - erklärende Wissenschaft oder Deutungskunst? München 1978.
16 Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M. 1968, bes. S.300ff.
17 Ludwig Wittgenstein: Gespräche über Freud. In: L.Wittgenstein: Vorlesungen und Gespräche über Ästhetik, Psychologie und Religion. 2.Aufl. Göttingen 1971. S.73-86, hier S.86. - Vgl. dazu Hans Rudi Fischer: Sprache und Lebensform. Wittgenstein über Freud und die Geisteskrankheit. Frankfurt a.M. 1987.
18 Vgl. dazu u.a. David Rapaport: The Structure of Psychoanalytic Theory. New York 1969. - Paul Kline: Fact and Fantasy in Freudian Theory. London 1972. - Meinrad Perrez: Ist die Psychoanalyse eine Wissenschaft? Bern 1972. - Hans Westmeyer: Kritik der psychologischen Unvernunft. Stuttgart 1973.
19 Karl Popper: Die Logik der Forschung. 2.Aufl. Tübingen 1969, S.50.
20 Karl Popper: Objektive Erkenntnis. Hamburg 1973, S.50.


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(4) Hier liegt wohl in der Tat das entscheidende Manko: schon Freud selbst(21) - und ähnlich jeder seiner Nachfolger bis hin zu Lacan -immunisiert seine Annahmen durch ad-hoc-Erklärungen gegen widerstreitende Fakten (nicht als Akt der Täuschung, sondern der Selbsttäuschung) und entwickelt dafür ein ganzes Repertoire von Ausweichbegriffen zur scheinbar plausiblen Uminterpretation von Widerlegungen in Bestätigungen, von 'Non-A' in eine bloß verkappte Variante von 'A': "Abwehr", "Widerstand", "Zensur", "reaktionsbildung", "Verweigerung", "Verneinung", "Verwerfung", "vertauschung", "Verschleierung", "Entstellung", "Verschiebung", "verdrängung", "indirekte Darstellung", "Darstellung durch Gegensinn", "verschwiegener Wunsch", "kontrapunktische Reaktion", "nicht manifester, aber latenter Inhalt" usw.usf.(22) Sollten also die Fakten es wagen, dem Analytiker zu widersprechen: desto schlimmer für die Fakten. (Schon Wallenstein(23) kannte diese Finte.) Kein Wunder, daß schließlich die Logik auf der Strecke bleibt: für Freud ist das Abstreiten einer Tatsache ein Eingestehen, ein als unsinnig erkannter Traum ergo besonders sinnträchtig, ein männliches Symbol durch 'Vertauschung' nach Bedarf auch ein weibliches(24). Anything goes: es ist wie bei einer Patience mit so lockeren Regeln, daß sie immer aufgeht. Im Geduldsspiel 'Wissenschaft' kann aber nur eine, die korrekte Patience aufgehen - und alle anderen nicht.


21 Am ausdrücklichsten wohl im Aufsatz "Die Verneinung". In: Sigmund Freud: Gesammelte Werke. Hrsg.v. Anna Freud u.a. 4.Aufl. Frankfurt a.M. 1983. Bd. XIV, S.9-15; ähnlich auch: Konstruktionen in der Analyse. Ebenda Bd. XVI, S.41-56.
22 Vgl. dazu Stephen Toulmin: The Logical Status of Psycho-Analysis. In: Philosophy and Analysis. Hrsg.v. A. MacDonald. Oxford 1954. S.132-139. - Alfred Therstappen: Immunisierungsstrukturen bei Sigmund Freud. Ein Beitrag zur wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzung mit Freuds Entwicklung der Psychoanalyse. Diss.phil. Aachen 1980. - Enzo Codignola: Das Wahre und das Falsche. Essay über die logische Struktur der psychoanalytischen Deutung. Frankfurt a.M. 1986. - Literarhistorisch besonders interessant, obwohl aus psychiatrischer Sicht kritisierend: Thomas Szasz: Karl Kraus and the Soul-doctors: A Pioneer Critic and his Criticisms of Psychiatry and Psycho-Analysis. New York 1977.
23 In Schillers Drama (Die Piccolomini II.6) wird Illos Zweifel an der Astrologie von Wallenstein selbst wieder zum astrologischen Defekt erklärt: "Du redst, wie du's verstehst. [...] Dir stieg der Jupiter / Hinab bei der Geburt, der helle Gott; / Du kannst in die Geheimnisse nicht schauen." - Ähnliches dürfte, seit Karl Kraus, schon so manchem Skeptiker durch Senis tiefenpsychologische Erben widerfahren sein.
24 "Manche Symbole bedeuten ein Genitale überhaupt, gleichgültig ob ein männliches oder weibliches, z.B. das kleine Kind, der kleine Sohn oder die kleine Tochter. Ein andermal kann ein vorwiegend männliches Symbol für ein weibliches Genitale gebraucht werden oder umgekehrt. Man versteht das nicht, ehe man Einsicht in die Entwicklung der Sexualvorstellungen der Menschen gewonnen hat." Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. In: Freud (s.Anm.21). Bd. XI, S.159.


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(5) Obwohl Freud selbst sich an experimentellen Widerlegungen und sogar Bestätigungen seiner Theorien desinteressiert erklärte, fehlt es mittlerweile nicht an Versuchen, psychoanalytische Teiltheorien in wissenschaftliche Gesetzeshypothesen umzuwandeln und empirisch auf ihre intersubjektive Stichhaltigkeit zu testen. Die Resultate sind unbefriedigend: Während wohlmeinende Kommentatoren neben vielen Widerlegungen wenigstens für einige Teilbereiche der Freudschen Theorie (bes. Oral- und Analentwicklung, Homosexualität) Indizien für eine empirische Stützung erkennen(25), sehen weniger nahestehende Forscher keinen einzigen stichhaltigen Beweis zugunsten der Psychoanalyse - und eine Menge stichhaltiger Gegenbelege(26). Noch düsterer ist das Ergebnis einer Zusammenfassung von 26 unabhängigen statistischen Untersuchungen zum Heilungserfolg bei psychisch Kranken: "Patienten, die mit Psychoanalyse behandelt wurden, erfuhren Besserungen in einem Ausmaß bis zu 44%; bei Patienten, die eklektisch [sc. gemischt] behandelt wurden, besserte sich der Zustand in einem Ausmaß bis zu 64%; bei Patienten, die nur pflegerisch oder von praktischen Ärzten behandelt wurden, besserte sich der Zustand in einem Ausmaß bis zu 72%. Es scheint daher eine umgekehrte Korrelation zwischen Genesung und Psychotherapie zu bestehen - je mehr Psychotherapie, desto kleiner die Genesungsrate."(27)

(6) Die für die Literaturwissenschaft interessanten Annahmen Freuds über einen regelmäßigen Zusammenhang zwischen kindlicher Sexua-


25 z.B. H.Thomä/H.Kächele: Wissenschaftstheoretische und methodologische Probleme der klinisch-psychoanalytischen Forschung. In: Psyche 27 (1973). S.205-236, 309-355. - Eliot Slater: The Psychiatrist in Search of a Science. III: The Depth Pychologies. In: British Journal of Psychiatry 126 (1975). S.205-224. - S.Fisher/R.P.Greenberg: The Scientific Credibility of Freud's Theory and Therapy. New York 1977.
26 z.B. Hans Juergen Eysenck: The Decline and Fall of the Freudian Empire. London 1985. - Christof T.Eschenröder: Hier irrte Freud. Zur Kritik der psychoanalytischen Theorie und Praxis. 2., erw.Aufl. München 1986. - Robert Langs: Die psychotherapeutische Verschwörung. Stuttgart 1987. - Dieter E.Zimmer: Tiefenschwindel. Die endlose und die beendbare Psychoanalyse. 2., erw.Aufl. Reinbek 1990 (zuvor als Serie in der "Zeit" unter dem angemesseneren, weil weniger insinuierenden Titel: Der Aberglaube des 20.Jahrhunderts). - Pierre Debray-Ritzen: La psychanalyse, cette imposture. Paris 1991 (bes. Kap.2: Les superstitions psychanalytiques ou Les sept plaies d'Egypte). - Zum unangemessen eifernden Ton und oft wahllosen Vorgehen mancher Opponenten der Psychoanalyse vgl. hingegen Thomas Köhler: Abwege der Psychoanalyse-Kritik. Zur Unwissenschaftlichkeit der Anti-Freud-Literatur. Frankfurt a.M. 1989.
27 Hans Jürgen Eysenck/Glenn D.Wilson: Experimentelle Studien zur Psychoanalyse Siegmund Freuds. Wien 1979, S.442f.


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lität und späteren Verhaltensformen bis hin zur Sublimation in künstlerischen Manifestationen haben sich bisher in keiner Weise wissenschaftlich erhärten lassen. Demgegenüber sind die empirisch eher gesicherten Theorieteile (Ablauf der frühkindlichen Sexual- und Sozialentwicklung, Ursachen der Homosexualität) für die Literaturwissenschaft im allgemeinen ohne Belang. Psychoanalytische Vermutungen über einen Zusammenhang zwischen Autorpsyche und Werk sind deshalb wissenschaftlich haltlos.(28) Hinzu kommt, daß wir über die frühkindliche Entwicklung von längst verstorbenen Dichtern noch weitaus weniger genau, zuverlässig und vollständig informiert sein können als der Analytiker bei seinem Patienten. Psychoanalytische Interpreten erschließen daher häufig aus dem Werk des Dichters seine traumatischen Erlebnisse und erklären zirkulär daraus dann wieder das Werk; so hat man z.B. im Falle Karl Mays in konkurrierenden Spekulationen aus denselben Abenteuerromanen schon auf Homosexualität des Verfassers(29), auf zu frühes Abstillen(30) und auf die 'Urszene' des beobachteten mütterlichen Ehebruchs mit resultierender Ich-Spaltung(31) geschlossen - ohne jede Aussicht auf Entscheidung.

(7) Eine völlig andere Frage ist es, ob in einem speziellen Fall wie demjenigen Karl Mays die literaturwissenschaftliche Textanalyse unter anderen auch sexuelle (nicht: 'psychische'!) Aspekte einbeziehen sollte. Hier muß man sorgfältig differenzieren zwischen überprüfbaren literaturwissenschaftlichen Behauptungen und bloß spekulativen Konstruktionen. Ich möchte diese Differenzierung in Hinsicht auf drei Bereiche exemplarisch andeuten, nämlich auf Karl Mays Landschaften, seine Personenstrukturen und das sprachliche Material seiner Texte:

- Was zunächst die Landschaftsinterpretationen aus psychoanalytischer Sicht angeht, so weist hier meist schon die Willkürlichkeit der Ergebnisse auf die Beliebigkeit des Verfahrens hin. Denn in unserer Spra-


28 Hierzu und zum folgenden vorbildlich rational abwägend Hendrik Birus: Psychoanalyse literarischer Werke? Alternativen der Freudschen Literaturinterpretation. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII.internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg.v. Albrecht Schöne. Bd.6. S.137-146.
29 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Neuausgabe Frankfurt a.M. 1969.
30 Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 2 (1971). S.39-73.
31 Hans Wollschläger: "Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt". Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 3 (1972). S.11-92.


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che können wir ausnahmslos jede Landschaftsform habituell als Körperform (oft sogar als mehrere verschiedene) auffassen: jeder Berg ein Busen, jeder Baum ein Phallus, jede Schlucht eine Vulva, jeder Talkessel ein Gesäß, jede Blume harrend der Defloration usw.usf.(32) Wenn der Dichter aber Landschaften gar nicht ohne potentielle sexuelle Assoziationen des Lesers beschreiben kann, dann sind auch die Zuordnungen der Interpreten auf keine Weise falsifizierbar und damit nichtssagend. Und wenn sich die Landschaften in einer Dichtung, wie bei Karl May, schon aus der Oberflächenhandlung völlig zureichend erklären lassen (z.B. als strategisch günstige Örtlichkeiten), dann sind tiefenpsychologische Umdeutungen schlicht überflüssig - nach dem 700 Jahre alten wissenschaftstheoretischen Grundsatz, den man 'Occams Rasiermesser' nennt: "Entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem." (Auf gut Deutsch: Was man nicht braucht, das ist auch nicht brauchbar.)

- Dagegen hebt sich das Personal in Mays "Reiseerzählungen" so auffallend von anderen Texten verwandter Gattungen ab, daß man wohl einfach nicht umhin kann, das Fehlen der abenteuertypischen Liebesgeschichten und die vielen zärtlichen Männerfreundschaften bei der Untersuchung der Produktion und Rezeption von Mays Werken entsprechend in Rechnung zu stellen. Hier scheint Arno Schmidt in der Tat auf eine ziemlich heiße Spur gestoßen zu sein; seine 'Elbogensche Hypothese' erweist sich als textanalytisch fruchtbar und führt in jedem Band zu einer Vielzahl bestätigender Textbefunde.

- Im Beispielfall der beiden 'Verkehrten Toasts' entspricht dem schon nicht mehr zweideutigen Gehabe des männlichen Pärchens überdies eine unmißverständliche Anordnung des sprachlichen Materials bei der - dem Dichter ja besonders viel Freiraum lassenden - Namengebung. Wenn Arno Schmidt nämlich im Rahmen seiner tiefensprachpsychologischen 'Etym-Theorie' Dick Hammerdull über "Hammer" als maskulin und Pitt Holbers über "hole/hohl" als tuntig-feminin deutet, dann hat er dabei ein viel stärkeres Faktum noch übersehen: Im amerikanischen Slang steht von altersher "dick" für Penis und "pit" (eigentlich 'Schacht') für Vagina; Vor- und Zuname der beiden sind also jeweils gleich konnotiert. Aber bei solchen lexematischen Deutungen ist wiederum eine Vorsichtsmaxime zu beachten: Die


32 Hellsichtig dazu Alberto Moravia: "Du weißt doch sehr gut, Vladimiro, daß es nichts gibt, das sich nicht im sexuellen Sinn deuten ließe. [...] Zum Beispiel: gibt es etwas weniger Sexuelles als eine Landschaft? Berge, Ebenen, Flüsse, Täler..." (Ich und Er. Übs.v. Piero Rismondo. Reinbek 1973, S.86.)


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sprachliche Deformation muß vom Dichter stammen, nicht vom Interpreten. Wenn Schmidt hingegen auf eigene Faust alle Kuriosa in Culiosa und jedes "vollständig" in "voll ständig" umwandelt, so argumentiert er damit, so in-ständig er auf seinem Stand-Punkt be-steht, voll-ständig unver-ständig.

(8) Generell scheitert die Möglichkeit, unter Absehung vom Autor das Werk selbst und sein Personal psychoanalytisch zu interpretieren, regelmäßig daran, daß jeder tiefenpsychologische Vorstoß unter die 'Oberfläche des Textes' bei dichterischer Fiktion ins Leere stößt. Die Frage nach Hamlets 'heimlichen Wünschen' ist sinnlos, weil Hamlet kein wirklicher Mensch mit bekannten und unbekannten Seiten ist, sondern eine fiktive Dramenfigur, die nur genau so und genau soweit existiert, wie sie durch den Dramentext erschaffen wird. Alle weitergehenden Fragen nach dem im Text 'Verschwiegenen' bewegen sich auf der Ebene von "Wo sind denn die Eltern von Max und Moritz?" oder der berühmten Debatte "How many children had Lady Macbeth?"

(9) Aus den genannten Erwägungen ergibt sich, daß die Psychoanalyse eine geradezu ideale literarische Interpretationsmethode für denjenigen bereitstellt, der als einzelner Leser für sich allein ein originelles, plausibles und emotional befriedigendes Verständnis einer Dichtung - ohne die Gefahr einer Widerlegung durch Fakten - gewinnen will. Für die Erlangung wissenschaftlich gesicherten Wissens über Literatur hingegen ist eine beliebig manipulierbare Pseudotheorie wie die Psychoanalyse offenkundig von geringem Nutzen.


Harald Fricke: Ein wirkungspsychologisches Stilexperiment
Inhaltsverzeichnis Jahrbuch 1981


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