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Günter Scholdt


brother o brother
Anmerkungen zu einem Karl-May-Kapitel in Alfred Guldens Amerika-Roman ›Greyhound‹





Als 1982 in der neugegründeten Reihe ›Poesie und Prosa‹ des List Verlags Alfred Guldens Roman ›Greyhound‹ erschien, machte er den Autor mit einem Schlag in der Kritikerszene bekannt. Der ›Merkur‹ hatte bereits ein Kapitel vorabgedruckt. ›FAZ‹, ›Süddeutsche Zeitung‹, ›Tagesspiegel‹, ›Neue Zürcher Zeitung‹ und knapp drei Dutzend weitere Zeitungs- oder Rundfunkredaktionen waren aufmerksam und rezensierend tätig geworden, in aller Regel voller Lob. Dass gerade dieser Text so große Aufmerksamkeit fand, ist nicht unverständlich. Es lag gleichermaßen am virtuos komponierten Thema ›Amerika‹ wie an der besonderen sprachlichen Form, die diesen Roman auszeichnet.

›Greyhound‹ erzählt in zehn Kapiteln voller psychologischer Spannung von einer Busreise durch die USA und einer sich dabei zunehmend enthüllenden Beziehungsgeschichte, die mit Trennung endet. Man könnte sie als privat betrachten, wenn nicht ein Teil dieses Scheiterns zugleich als europäisch-amerikanisches Verständnisproblem bzw. Krisenszenario konzipiert wäre. Geht es doch bei entscheidenden Reibungspunkten auch um Empfindungsdifferenzen und das Verhältnis zwischen ›neuer‹ und ›alter‹ Welt, wie es auf politischer Ebene jüngst wieder ins Zentrum medialer Aufmerksamkeit gerückt ist. Der Roman, der nun in erweitertem Zusammenhang wieder aufgelegt wurde,1 enthält auch ein - wie der sächsische Hakawati gern formulierte - ›hochinteressantes‹ Karl-May-Kapitel, das im Folgenden abgedruckt und knapp erläutert wird.

Beginnen wir mit einer Kurzbiographie.2 Alfred Gulden wurde 1944 in Saarlouis geboren und lebt heute wechselweise in Wallerfangen (Saarland) und München. Sein bislang rund vier Dutzend selbständige Veröffentlichungen umfassendes literarisches Werk kennzeichnen erregende Sprachexperimente auf der Basis einer forciert rhetorischen Prosa (exemplarisch 1991: ›Ohnehaus‹). In seiner Person vereinigen sich eigentlich zwei Autoren seines Namens: einer, der auszog nach München, Rom, New York, Bordeaux oder auf die Seychellen und sich dort als Theaterrevolutionär, Erzähler oder (Dokumentar-)Filmer ästhetisch verwirklichte, und ein anderer, der den heimatlichen Winkel neu entdeckte und als Chance zur literarischen Kreativität begriff. Dutzende einfühlsamer Filme mit saarländisch-lothringischen Themen, wie etwa die ›Osterreise‹ auf Fontanes Spuren



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(1990), zeugen davon, desgleichen etwa ›Die Leidinger Hochzeit‹ (1984), ein Roman, der als regionale Kuriosität ein Dorf behandelt, dessen Straßenmitte Grenze ist. Ein weiterer Schwerpunkt seines Schaffens liegt in der Mundart, die er als Mitgründer des Internationalen Dialektinstituts in Wien und durch eigene moselfränkische Produktionen nachhaltig förderte (z. B. 1981: ›et es neme wiit freja wòòa‹). In Essays und als Preisrichter, vor allem aber mit faszinierenden Gedichten und Liedern (2000: ›Onna de langk Bääm‹) wurde er zum Nestor einer neuen, sozialkritisch akzentuierten literarischen Bewegung und schrieb z. B. mit dem Gedicht ›De Grenz‹ einen mehrfach übersetzten Dialekt-Klassiker.

Doch wie bereits angedeutet, kennzeichnet regionale Sesshaftigkeit nur einen Teil seines Wesens, Aufbruch und Reisen einen anderen. Die USA, die ihm durch ausgiebige Jugendlektüre, später durch Beat Poets und Popmusik zunächst als Land unbegrenzter Freiheit erschien, hat er insgesamt viermal besucht: erstmals 1967 zusammen mit seiner amerikanischen Freundin und späteren ersten Ehefrau im Rahmen einer 99-tägigen Rundreise. Es ging im Überlandbus von New York über New Orleans und San Diego bis Seattle und zurück, von Texas über Montana bis nach Kanada. 1969 hielt er sich erneut in den USA auf. 1987 folgte er einer universitären Einladung als Rhetorikdozent der Sommerakademie Taos und bereiste mit seiner heutigen Frau wochenlang den Südwesten der Staaten. 1990 schließlich weilte er im Rahmen eines Literaturpreisstipendiums drei Monate lang in New York, woraus ein Film und zahlreiche Stadtgeschichten entstanden.

In Amerika traf Gulden auch verschiedentlich mit Indianern zusammen und fand so Gelegenheit, die jugendliche Begeisterung mit den gegenwärtigen Realitäten in Einklang zu bringen. Bereits ›Greyhound‹ spiegelt solche endgültige Desillusion, wie der ganze Roman ohnehin darauf hinausläuft, den American Dream Zug um Zug zu enthüllen. Thematisiert wird zugleich eine Art Abschied von der Jugend und ihren literarisch stimulierten Tagträumen, der im 5. Kapitel besonders sinnfällig wird.3 Dabei zerstört ›brother o brother‹ frühe Vorstellungen und Ideale sogar in zweifacher Hinsicht: zunächst durch den Zusammenprall von sozialer und literarischer Realität am Beispiel eines mit Karl-May-Idolen wenig kompatiblen Reservatsbewohners, sodann durch Konfrontation einer imaginierten Buch- mit einer konkret inszenierten Filmlandschaft.

Ohnehin entfaltet sich der Text aus der Verbindung von mehreren Erzählebenen. Neben derjenigen aktueller sozialer Realität (mit jeweils einem authentischen Cowboy, Barmann und alkoholversessenen Indianer) stehen die Jugenderinnerungen und frühen Lektüreeindrücke. Darüber hinaus gibt es die Film- sowie eine aktuelle Bezugsebene, die zuletzt wiederum mit der Erinnerungsebene verschmilzt. Die Einbeziehung früherer Reminiszenzen und vor allem Gefühle in die gegenwärtige Handlung formt eine Art literarischer Dreiecksgeschichte, die sich im Romanfortgang später auf andere Weise wiederholen wird (Kapitel 7: ›Kamars zwei Seiten der Hände‹).



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Grundsätzlich ist Guldens Erzähltechnik durch konsequente Intertextualität gekennzeichnet. Literatur oder Film, in anderen Kapiteln auch Gemälde, begleiten durchweg seine Beobachtungen außerhalb der ästhetischen Sphäre, ergänzen, kommentieren oder durchdringen sich wechselseitig. Auffallend sind temporeiche, rhythmisierte, rhetorisch gesteigerte Bewusstseinsströme sowie der abrupte Beginn medias in res, der eine immer nur stückweise Enthüllung der Vorgeschichte einleitet. Dabei werden jeweilige Textanfänge durch Schlüsselworte akzentuiert, die später schrittweise erläutert werden. Guldens innovative Mischung unterschiedlicher Kunstgattungen, das rastlose Sprachtempo und die klanglich-rhetorischen Qualitäten begeisterten nicht wenige Kritiker des Romans. Ihm sei ein »großer, leitmotivisch komponierter Prosagesang« gelungen, schrieb z. B. Rolf Seeliger.4 Als »Nachfahr der Rhapsoden«5 pries Ludwig Harig den Autor, und Juliane Sattler ergänzte:


Gulden beschreibt diese zunehmende Entfremdung, diese Anatomie einer Krise, in stakkatohafter Prosa. Er jagt und hetzt den Leser ohne Punkt (und Komma) durch seine Wörter und Sätze, schafft Sprache, einem strudelnden Sog gleich. Alfred Guldens Roman verrät ohne Zweifel die Handschrift eines Autors, der in der Synthese von Sprache, Musik und Film den Inbegriff zeitgenössischer Ausdrucksmöglichkeiten gefunden hat. Dieses Buch gleicht mal einem Hörspiel, mal einem Film, und ist doch nur bewußt geformte Sprache. (...) Sein »Greyhound« ist im wahrsten Sinne des Wortes ein mitreißender, atemloser Monolog bis zum ekstatischen Ende.6


Mit besonderem Bezug auf das 5. Kapitel schloss sich auch Ulrich Janetzki solchen Urteilen an:


Dieses Romandebüt ist in einer Sprache abgefaßt, die an einen mit Überblendungen und harten Schnitten arbeitenden Experimentalfilm erinnert. Fast staccatoartig folgen die Sätze aufeinander. Mitunter sind verschiedene Zeitebenen ineinander verschachtelt. Das Simultaneität suggerierende Verfahren wird besonders im fünften Kapitel augenfällig, wo der Erzähler inmitten eines Indianerreservats einen Winnetoufilm sieht und sich dabei seiner wildwestbewegten Kindheit erinnert. Da geht alles ineinander über, ist zugleich wahr und irreal; der »stream of consciousness« ist hier bildhaft gemacht.7


Ein letzter Blick mag dem Text unter Rezeptionsaspekten gelten. Denn ›brother o brother‹ enthält schließlich im Kern auch eine literarische Auseinandersetzung mit dem Phänomen ›Karl May‹. Dessen über ein gutes Jahrhundert hinweg nachhaltiger Einfluss, vor allem auf Jugendliche, ist hinlänglich verbürgt, wobei jede Leserschaft neben zeitübergreifenden Attraktionen zugleich auch ganz Spezifisches mit dem Karl-May-Erlebnis verband. Gewiss ließen sich mit einigem Erkenntnisgewinn idealtypische Lesergenerationen ausmachen, die jenseits vielfältiger individueller Zugänge an bestimmten repräsentativen Rezeptionshaltungen ihrer Epoche teilhatten.8

So fanden sich unter den ersten Jahrgängen der zeitgenössischen May-Jünger noch zahlreiche Vertreter der Old-Shatterhand-Legende als au-



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thentischer Reiseerzählung, während die nachfolgenden bereits eher mit dem Zweifel leben mussten und dafür den altersweisen ›Großmystiker‹ und Verkünder des ›Edelmenschen‹ kennen lernten. Die ›expressionistische‹ Generation schätzte in Mays Werk gerade die Abweichung von der etablierten Ästhetik oder die in Phantastik wie Kolportage vermittelten Sozialträume. Die ›neusachliche‹ Generation, deren Epochentyp durch Erich Kästners ›Jahrgang 1899‹ exemplarisch fixiert wird - bezeichnenderweise ein May-Verächter -, war gespalten und vor allem die älter Gewordenen zeigten später manche Distanz. Ihnen folgten Jahrgänge, für die das May-Erlebnis bereits tendenziell politisiert und im Laufe ihres Lebens sogar in eine Pro- und Anti-Hitler-Polemik integriert wurde.

Damit kämen wir nun zu einer Lesergeneration, die zwar im Dritten Reich geboren wurde, ihren favorisierten Autor jedoch weitgehend nach dem 2. Weltkrieg rezipierte. Alfred Gulden oder auch Hans Christoph Buch, beide Jahrgang 1944, ließen sich stellvertretend für andere nennen, unter den Ältesten dieser Gruppe etwa Hans-Jürgen Syberberg oder Hans Wollschläger, beide Jahrgang 1935. Im Gegensatz zu den nachfolgenden Generationen erfolgte ihr erster Zugang zu Karl May noch relativ authentisch über die Lektüre der Bücher, wobei sie allerdings in aller Regel bearbeitete Ausgaben in die Hände bekamen. Spätere Generationen werden häufig zunächst mit den Verfilmungen vor allem der 1960er Jahre konfrontiert, was die Phantasien über die jeweiligen Helden, Handlungen oder Landschaften stärker begrenzt. Doch um genau zu sein: Ganz ohne optische Vorprägungen vollzog sich die May-Sozialisation auch nicht in weitgehend9 film- und fernsehloser Zeit. Denn die auf Massenresonanz zielenden farbigen Buchdeckel und diverse Reklamebildserien haben so manche Orient- oder Wildwestvorstellung mitbestimmt, wenngleich nicht mit dieser individuelle Phantasien bedrohenden Dominanz, wie dies später geschah.

Dass der Zugang zu May also vornehmlich über dessen Bücher erfolgte, hatte für die Jugendlichen nicht zuletzt sprachliche Konsequenzen. Sie übernahmen von ihren Helden Winnetou und Co. nämlich typische Redeweisen in ihren altersgemäßen Soziolekt. Nach Guldens Erinnerung an seine Konviktjahre in Prüm, wo sämtliche im Buchhandel verfügbaren May-Bände in der Schulbibliothek standen und reihum begierige Leser fanden, gab es Schüler, die sich sprachlich in vollkommene Phantasiebewohner des Wilden Westens verwandelten. Die mächtige Suggestion einer freiheitverheißenden Gegenwelt, die in Namen und Floskeln wie ›Iltschi‹, ›Henrystutzen‹ oder ›by Jove‹ jederzeit abrufbar war, gehört zu Mays Erfolgsgeschichte ebenso wie ihre identifikationsstiftende Wirkung. Andeutungen genügten, Zitate dienten als Verständigungszeichen, um sich in einer Gemeinschaft der Eingeweihten und Kenner geborgen zu fühlen. Auch das belegt das ›Greyhound‹-Kapitel.

Mays Romanfiguren wie ihre Waffen besitzen Fähigkeiten, die ans Magische grenzen und darin fast schon spätere Leistungen Harry Potters vorwegnehmen. Sie gewannen zunehmend an mythischer Qualität, immer aufs



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Neue bestätigt durch einen quasi rituellen Nachvollzug im leidenschaftlichen Spiel. Wir finden, um nochmals eine Brücke zu heute zu schlagen, allenfalls bedingt Vergleichbares in manchen Leserzirkeln des ›Herrn der Ringe‹, den Zuschauer-Maskeraden der ›Rocky Horror Picture Show‹ oder beim Fankult um Filmserien des Fantasy- oder Science-Fiction-Bereichs, von ›Star Trek‹ bis ›Star Wars‹. Dennoch erreichen solche Anhängerschaften nur ansatzweise jene Intensität, die seinerzeit ganze May-Jahrgänge im Bann hielt, Gruppen stabilisierte und in Blutsbrüderschaften gipfelte. Allein aus der relativen Konkurrenzlosigkeit des damaligen Unterhaltungsangebots lässt sich dies wohl nicht erklären.

Ebenso bedeutsam ist der Umstand, dass Mays Werke immer auch Kompensationstexte gewesen sind. Dass es den in der Kindheit wegen seiner roten Haare verspotteten Alfred Gulden literarisch zu den Rothäuten trieb, mag als individuelle Besonderheit gelten, zeigt aber bereits die grundsätzliche psychische Ausrichtung solcher jugendlichen Rezeptionsprozesse. Dazu gehören auch häufig variierte Handlungsmuster des ›hässlichen Entchens‹, wonach ein ursprünglich in seinen Leistungen Verkannter schließlich durch Großtaten zu wahren Anerkennungstriumphen gelangt. Dass somit Schwäche in Stärke mutiert, ist ein für Jugendliche besonders attraktives Identifikationsangebot.10 Auch ein Schuss Horror kommt zum Tragen, dessen Faszination Guldens Text am Beispiel der Skalpierung nicht verschweigt. Hier hat sich offenbar von den Brüdern Grimm bis Stephen King weniger qualitativ als quantitativ Wesentliches geändert.




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Vielleicht gilt dies - eingeschränkt - auch noch für manche exklusiven Männlichkeitsgesten, jenes jungenbündlerische Abschottungsgebahren gegenüber ›Squaws‹, obwohl sich im Bereich der Geschlechterrollen die vielleicht stärkste gesellschaftliche Veränderung vollzog. Der erwachsen gewordene Ich-Erzähler jedenfalls reproduziert sein frühes Karl-May-Erlebnis bezeichnenderweise in den Armen einer Frau, die im kindlichen Indianerspiel keinen Platz hatte und dennoch in erotischen Ersatzhandlungen gleichsam vorweggenommen war. Wie rollenkonform, analytisch und dezent diese altersgemäße Gefühlswelt rekonstruiert und letztlich auch als May-spezifisch erfasst wird, verdient Aufmerksamkeit. Denn Guldens ›Frühlings Erwachen‹ entbehrt jeder plakativen Vergröberung, die z. B. Arno Schmidts spektakuläre Spekulationen kennzeichnet.

Doch nun Schluss mit weiteren Erklärungen! Der originale Gulden ist aussagekräftig genug.



1 Alfred Gulden: Dreimal Amerika. Hrsg. von Günter Scholdt/Hermann Gätje. St. Ingbert 2004 (Sammlung Bücherturm. Bd. 4); neben ›Greyhound‹ enthält der Band noch den 1993 erschienenen New Yorker Geschichtenband ›Silvertowers‹ sowie die mit 65 Fotos versehene Filmerzählung ›A Coney Island of my heart‹ (Erstsendung: Saarländischer Rundfunk 1991).
2 Zur ausführlicheren Information eignet sich der soeben zum 60. Geburtstag des Autors erschienene Ausstellungsband: Zwischen Welt und Winkel. Alfred Guldens Werk- und Lesebuch. Hrsg. von Günter Scholdt. St. Ingbert 2004.
3 Desillusion ist durchgängig des Autors gestalterisches und thematisches Prinzip, und auch wo Gulden über abstrakte Information im Prinzip bereits Bescheid wußte, blieb die unmittelbare drastische Konfrontation mit zerstörten Jugendidealen gleichwohl schmerzlich. Insofern trifft Werner Thuswaldners Kritik an Guldens vermeintlicher Naivität nicht den Kern: »Die Treuherzigkeit geht aber ein wenig zu weit, wenn er uns seine Enttäuschung darüber mitteilt, daß seine Erfahrungen aus der Lektüre von Romanen Karl Mays nicht mit der amerikanischen Realität von heute, insbesondere mit der Diskriminierung der Indianer, übereinstimmt.« (Vor Goldbarren sitzender Amerikaner. In: Salzburger Nachrichten 25./26. 9. 1982)
4 Rolf Seeliger: Amerika-Trip als Alptraum. In: Tageszeitung (München), 30. 8. 1982
5 Ludwig Harig: Sommersprossen, Karottenhaare. In: Süddeutsche Zeitung, 6. 10. 1982 (Literaturbeilage)
6 Juliane Sattler: Alfred Gulden: Greyhound. In: Hessische/Niedersächsische Allgemeine, 8. 1. 1983
7 Ulrich Janetzki: Eine Reise durch Amerika. In: Der Tagesspiegel. Berlin 1982
8 Das folgende Schema ist ein gewiß verbesserungswürdiger, grober Ansatz ohne Korrektheitsanspruch im Detail. Es geht mir im Rahmen dieser Texterläuterung lediglich um den grundsätzlichen Forschungsaspekt bzw. Hinweis, dass solche Rezeptionsanalysen lohnen könnten.
9 Zumindest vor 1958 scheint mir die Wirkung von Karl-May-Verfilmungen auf ein Massenpublikum eher marginal.
10 Vgl. zum Grundsätzlichen: Günter Scholdt: Vom armen alten May. Bemerkungen zu ›Winnetou IV‹ und der psychischen Verfassung seines Autors. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1985. Husum 1985, S. 125-127.



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... in der Mitte des Sees lag eine grüne Insel mit einem seltsamen Luftziegelbau ...

dieser Satz, plötzlich da,

wieder da, weit, so lange zurück, hier wieder da, auf einmal unvermittelt, geheimnisvolle Absicht, von wem, wer ist da schuld, was, die Klapperschlangenhaut um den Hut des Cowboys neben mir, der schwarze Hut, grauer Staubfleck auf der Krempe,

die magische Klapperschlange,

drei Wünsche frei, ist es die, oder einfacher, das Kino, dieser riesige Bau, Palast, noch nie so gesehen, was sind unsere Kinos dagegen, Abstellräume, Besenkammern, aber dieses hier, kaum zu überschauen, drei Galerien, gestaffelt, Sitze, Sitze, kaum zu zählen, Überschlag, doch ohne Besucher fast, kaum jemand da, die riesige Öde aus Sitzen, vereinzelt ein Zuschauer, zwei, dicht nebeneinander, drei, wie wir, du, der Cowboy, ich, sitzen wir da in Erwartung, während die Lichter noch nicht erloschen sind, und die Platzanweiserinnen mit den Popcorntüten die Reihen abgehen, leise Musik von überall,

da dieser Satz,

daß er da in meinen Kopf kam, aus der Erwartung, daß bald dieser Film laufen würde, ein Film, der für mich mehr war als nur dieser Film, schon die Ankündigung, schon das Plakat hatte wachgerufen, aus der Erinnerung Fetzen, mich in einen Zustand versetzt, so ganz selten gewesen, dieses Plakat, Winnetou und Old Shatterhand nebeneinander,

Winnetou und Old Shatterhand,

unsere Helden, Figuren, die wir nicht nur geliebt, die wir geworden waren für eine Zeit, er, ich, Winnetou und Old Shatterhand in unseren Spielen, ganz plötzlich auch das wieder da, diese Spiele, nachgelebt den Büchern Karl Mays, die wir lasen, Sätze daraus auswendig kannten, Ausrufe und Floskeln in rhythmischer Reihe hatten: heavens, good luck, by Jove, howgh, heigh day, behold, zounds, well und uff, einsetzen konnten je nach Gebrauch, uns beim Zitieren zu übertreffen versuchten, auch eigene Sätze bildeten, diesen nach,

selber Karl May,

diese Sprache, bis hin zum gebrochenen Englisch/Deutsch der Indianer, außer Winnetou natürlich, der alles und immer vollkommen beherrschte,

denn er war der,

das Plakat, ob es das gewesen war, abends, als wir durch die Stadt schlenderten, was sollten wir tun, gezwungenermaßen hier, eingeschneit hier, kein Bus kam mehr heraus aus der Stadt,

fest in Billings/Montana, mitten im Reservat,

neben dem zugewiesenen Hotel, das die Busgesellschaft bezahlte, der Indianerladen mit Mokassins, kleinen Puppen aus Leder, Ketten, Ringen, Ta-



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schen und Decken, alles von Hand gefertigt, sagte die ältere Dame, nein, sie sei keine Indianerin, sah man ihr an, sie vertrete hier nur die Sachen der Indianer, verkaufe deren Handarbeit an Touristen, und im Gespräch, daß es den Indianern hier erbärmlich ginge, nein, nicht einmal finanziell, obgleich, nein, es werde gesorgt, aber das, das, sie könne es nicht erklären, was ihnen fehle,

vielleicht die so ganz andere Welt,

das andere Denken auszuleben in dieser Gesellschaft, das könnten sie nicht, wo auch und wie

auch, aber das fehle, da sei der Sprung, daß so viele von ihnen trinken würden, der Alkohol, das sei das Problem, da könne man fast nichts machen, und es täte ihr in der Seele weh, zu sehen, wie sie da vor die Hunde gingen,

die Indianer, im Reservat,

aber außerhalb hätten sie gar keine Chance, einige schon, aber das seien verschwindend wenige, an zwei Händen, gemessen an all den anderen hier und anderswo in den Reservaten, und sie wisse auch nicht, was das noch werden solle, es sei ein gebrochenes Volk,

am Ende,

und wir deprimiert den Laden verließen, war es die kleine Puppe aus Leder, Indianermädchen, das mir den Satz einbrachte, wieder da, zurück in der Erinnerung

... in der Mitte des Sees lag eine grüne Insel mit einem seltsamen Luftziegelbau ...

Silbersee, der Schatz im Silbersee hieß nicht nur der Film, angekündigt hier, im Reservat, ein deutscher Film, synchronisiert, Karl May tatsächlich bei den Indianern hier in Billings/Montana,

der Schatz im Silbersee

war auch unser liebstes Buch gewesen, weil es darin ein Geheimnis gab, vielleicht, vielleicht auch nur all der Gestalten wegen, die wir nachzuahmen suchten, aber immer wieder die zwei, er, Old Shatterhand, ich, Winnetou, die Rothaut, nicht nur meiner roten Haare wegen, auch weil er mir besser gefiel, das Fremde, die so ganz andere Art zu sprechen, zu sehen, mein Bruder Scharlih, die getragene Sprechweise, die Bilder, das hatte mich mehr, der wollte ich lieber sein als Old Shatterhand, der einem damals in unserer Stadt hätte begegnen können,

einfach ein Deutscher, groß, blond,

während Winnetou, der Apatsche, von weit her war, Amerika, so weit der Wilde Westen, the rolling Prairie, die Canyons, doch dort daheim, denn Winnetou verliert sich nie, weder bei Tag noch bei Nacht, er ist wie der Stern, der sich stets an der richtigen Stelle befindet, und kennt alle Gegenden des Landes so genau, wie das Bleichgesicht die Räume seines Hauses kennt,

ich Winnetou war,

nie ein anderer in unseren Spielen,

und jetzt voller Erwartung auf diese Leinwand schaute, die, war zu ahnen,



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Gesichter zeigen würde wie Häuser groß, Büffelherden mit den Augen verfolgen lassen, und Berge auch Berge, Täler Täler, und Flüssen und Ebenen die entsprechende Größe geben würde, und alle die Figuren, auf die ich gespannt war, ob und wie sie erscheinen würden, denn ich hatte diesen Film nie gesehen, nur das gelesen und mir meine, wir uns unsere Bilder von allen und allem gemacht, vom roten Colonel, oder auch der rote Brinkley genannt, der nur Böses im Schild, dem sie die Ohren abschneiden würden, nein, dem er, der große Bär, die Ohren abschneiden würde, einer Ohrfeige wegen, denn das ist das Schlimmste für einen Indianer, geschlagen zu werden, und wer das tut, kommt nicht mehr mit dem Leben davon, wie auch der rote Brinkley, mit zwei schnellen Schnitten ihm die Ohren vom Kopf getrennt,

solche Stellen lasen wir mehrmals,

übten sie dann auch nach, mit dem Holzdolch angedeutet die schnellen Schnitte, und das Geheul war so wie vom roten Cornel, der Schmerzensschrei mußte weh tun, der Tante Droll, die wir nicht so sehr mochten, auch wenn sie spaßig anzuschauen war in ihrem Lederkostüm, Frauenverkleidung, das stieß uns ab, das paßte nicht in unsere Vorstellung, dann eher schon Old Firehand oder Humply-Bill oder Gunstick-Uncle, der alles, was er sagte, reimte, überhaupt,

daß es meist Paare waren,

kam uns entgegen, denn so konnten wir Dialoge führen, nachempfinden, aus Winnetou und Old Shatterhand treten, die anderen sein, dann wieder zurück, unsere Hauptfiguren werden,

wie würde die Landschaft sein,

die wir uns damals ausgemalt, auf unsere Landschaft bezogen hatten, die Hügel hinter dem Haus, ginsterbewachsen, von Laufgräben durchzogen, oben der Bunker, die Kiesgruben hinab, Schleichpfade, Versammlungsorte mit Lagerfeuer,

Lager, gebaut aus Ginster,

darin Versteck,

wie würde die Landschaft sein in dem Film, anders als damals vorgestellt, Amerika, Wilder Westen, unendliche Weite, wie ich sie dann gesehen hatte, New Mexico hindurch, und auf der Fahrt von San Diego nach Billings/Montana, abgefahren aus Kalifornien, heiß, so heiß, daß alles zuviel war, und hier, noch am selben Tag, eingeschneit, fest, kein Bus mehr hinaus, Amerika, wie wir es uns damals vorgestellt hatten, und dann tatsächlich ein Cowboy, neben uns in der Reihe im Bus, der schwarze Hut,

als Borde die Klapperschlange,

und ich durfte sie mir aus der Nähe besehen, ein richtiger Cowboy, wie aus der Reklame, aber daß das gar nicht so wäre, hatte er schnell erklärt, ein harter Job, auf Arbeitssuche sei er, und der sich uns anschloß, und nachmittags dann mit uns loszog, auf meine Bitte hin mit dem Lasso, denn das Lasso war für mich, war für uns damals das Höchste gewesen, wie oft mit dem Wä-



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scheseil hinter der Katze her, oder aber auch über den Pfosten am Ende des Gartens, Stunden versucht, bis es einmal gelang, aus dem sicheren Stand, auf ein unbewegliches Ziel, nicht vom galoppierenden Pferd auf einen Gegner in schneller Bewegung, wie man es können mußte, und es die richtigen Cowboys auch könnten, wie er mir sagte, bei den Rodeos die Spezialisten, die seien von Kind auf geübt, und er mir zeigte, wie das Lasso gehalten wird, den Rhythmus des Schwingens, das Anvisieren des Ziels, Loslassen der Schlinge, den lockeren und den festen Griff, und ich einen Ast traf, in die Schlinge bekam, zuzog, ein Erlebnis,

eingeschneit in Billings/Montana im Reservat,

nachmittags mit einem Cowboy Lassowerfen, Amerika, wie wir es uns vorgestellt hatten, damals, gekauert ins Ginsterversteck, sicher vor den Kojoten, eng aneinandergepreßt,

Scharlih mein Bruder, oh mein Winnetou,

den Tomahawk fest, den Bogen gespannt, die Silberbüchse neben dem Henrystutzen, da wieherten draußen unsere Pferde, Iltschi und Hatatitla, witterten schon den Feind, ganz nah mußte er sein, heavens, da fiel die Dunkelheit ein, und aneinandergepreßt, daß neben mir der Cowboy wegrückte und ich mich an dich drückte, du mir jetzt Old Shatterhand warst, sein mußtest, vergessen, daß du eine Squaw warst, alle Verachtung, die in dem Wort für uns lag, damals, vergessen,

mein Scharlih, im Dunkeln an dich gepreßt,

im Lager aus Ginster, die Wärme unserer Körper und das Gefühl, das uns zittern machte, dunkel, jetzt hell, aber noch keine Landschaft, in die ich hätte hineinfallen können, doch da erschlägt mich das Bild, so groß nicht gedacht, die Wucht, die ein Bild haben kann, das war ein Gesicht, so groß, darin herumgehen hätte man können, Landschaft, der Mund, der sich öffnet, als könne er alles verschlucken, Monster, haushoch die Stirn, wir saßen zu nah, es fiel mir schwer, das Ganze zu sehen, Ausschnitte nur, Teile davon, den Kopf mußte ich drehen, mitschwenken, alles zu sehen,

Monstertraum,

diese Leinwand, und ich war froh, als die Reklame vorüber, jetzt endlich der Film kam, ja, das war eine Landschaft, weit, aber, das war nicht unsere Landschaft, vorgestellt, unsere Landschaft von damals, beim Lesen, war es nicht, ganz anders,

und ich erschrak,

denn hier hatte ich keine Möglichkeit, das Bild ließ mir keine andere Wahl außer die Augen zu schließen, und so war ich froh, daß der Cowboy mir jetzt zu trinken anbot, aus einer flachen Flasche im Lederetui, guter Whisky, flüsterte er, den habe er immer dabei, man wisse ja nie, und im Kino, das helfe vielleicht, und ich die Flasche an dich weitergab, Old Shatterhand, und auch du einen Schluck nahmst, dann wieder der Cowboy, verschworen jetzt durch das Feuerwasser wir drei, das half, das hatte gefehlt,

genügte, mir die Augen zu öffnen,



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nicht mehr enttäuscht über die Landschaft dort auf der Leinwand, obwohl die Figuren dort, ja, das war er, der Colonel Brinkley, der rote Cornel mit seinen Tramps, die soffen, wieder die flache Flasche, jetzt, wie im Film, tranken wir auch, lachten leise, freuten uns über die Einstimmigkeit, daß, wie im Film, wir hier auch Feuerwasser, aber da kauerten auch Indianer, zwei, der große und der kleine Bär mußten das sein, kauerten da,

und ich war mir nicht sicher, nicht mehr,

hier in Billings/Montana, eingeschneit, fest, hier mitten im Film von Karl Mays Silbersee, ob das Gesicht, der Indianer dort der aus dem Film war, welchem, hier auf der Leinwand der, dem aus dem Kopf von damals, Erinnerung, oder, wie wir am Nachmittag spät nach dem Lassowerfen und vor dem Entschluß, ins Kino zu gehen, noch eine Bar besucht hatten, der Cowboy, du, ich, um einen Drink zu nehmen, da saßen, und ich das Kinoplakat vom Schatz im Silbersee sah, und wir am Abend ins Kino zu gehen beschlossen, lachten, als ich erzählte, das sei ein Film aus Deutschland, der Autor, Karl May, sei ein Deutscher gewesen, der über den Wilden Westen geschrieben habe, über Jäger und Fallensteller, Trapper, Westmänner, Rafters und Tramps, und die Indianer und die Abenteuer dort, und der von Millionen gelesen werde, immer noch, und seine Bücher verfilmt worden seien, ich aber nie einen dieser Filme gesehen habe, nur seine Bücher gelesen, die aber alle, fast alle, und jetzt hier, in Billings, mitten im Indianerreservat, Amerika, sehe ich zum erstenmal einen solchen Film,

Wilder Westen Amerika und Karl May,

und ich sei gespannt, wie dieser Film auf mich wirken würde, nach der langen Zeit, und hier, in dieser Umgebung, und wir uns unterhalten hatten darüber, außer uns in der Bar nur noch der Barkeeper, und noch ein Mann, der am anderen Ende der Bar saß, als langsam die Türe aufging und, das sah ich, du, das sah der Cowboy sofort, als dort, nicht in ledernen, an den Seiten gefransten Leggins, und in Mokassins gelb gefärbt, auch nicht im Jagdhemd, nicht gehüllt in eine bestickte Zunidecke, auch nicht um den Hals die dreifache Kette aus Bärenklauen, weder die Friedenspfeife noch den Medizinbeutel, kein Doppelgewehr mit Silbernägeln beschlagen in der Hand, das lange schwarze Haar auch nicht helmartig zu einem Schopf gebunden, und auch der leise Bronzehauch fehlte ihm im Gesicht, pockennarbig, das fettige schwarze Haar über die Schultern, im zerrissenen Blue-jeans-Hemd, zerlöcherten Jeans und Cowboystiefeln,

aber dennoch,

wenn auch der Gang nicht der eines Panthers war, sondern schwankend, die Hand noch am Türgriff, halbgeöffnet die Türe, dann hinter sich zu, leise, wir schauten, wie er sich setzte, an das untere Ende der Theke, nahe zur Türe, die Arme aufgestützt vor sich hinstarrte,

ein Indianer, der erste, den ich leibhaftig sah,

in meiner Nähe, wirklich, aber nicht so nahe, Reichweite, im Ginsterversteck, dicht jetzt aneinandergepreßt, Old Shatterhands Atem an meinem



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Ohr, und das Zittern nahm zu, den Arm um die Schulter, Old Shatterhand, Bruder, mein Scharlih, und er seinen Arm um mich legte, oh Winnetou, Blutsbruder, Blut von meinem Blut, Teil von mir, denn die Seele, die lebt im Blut, lange, schon lange die Zeremonie nachvollzogen,

Blutsbrüderschaft,

mit dem Messer, die Angst vor dem kleinen Schnitt, Mut, und die Tropfen, aufeinandergepreßt die Finger, sein Arm um meinen Hals, im Ginsterversteck, Dunkel, du mein Old Shatterhand, Squaw nicht mehr, dir ins Ohr den Atem und dein Gesicht mir zu gedreht, Wange auf Wange, wie weich, Old Shatterhand damals, ganz starr, wir lagen so da, und das schnellere Atmen, den Rhythmus jetzt angepaßt, gleich, daß wir erschraken, die Augenwimpern so dicht,

jede Berührung erfahren, ein anderer Schmerz,

das durfte nicht sein, daß es so war, wie wir es spürten, die Lust, wie sie sich zeigte, die Zähne aufeinandergepreßt, im angehaltenen Atem,

nur kein Wort jetzt,

die Stille zerstören, aber erschrocken, der Cowboy stößt mich an, die flache Flasche, ein Schluck, dann du, dann die Flasche zurück, der Whisky war wirklich gut, Lebenswasser, besser als der in der Bar, den wir tranken, neben uns der Indianer saß immer noch da, ohne Bewegung, aber der Barkeeper hatte ein Auge auf ihn, stellte sich hinter der Bar näher zu ihm, jetzt zwischen uns und ihm, auch der andere Gast am Ende der Bar schaute herüber,

aber da tat sich nichts, nichts,

was den Barkeeper hätte veranlassen können, aber gespannte Stille, was würde, wer, als der Indianer die Hand bewegte, zwei gestreckte Finger führte er zu seinem Mund, mehrmals hintereinander, saß dann wieder da, unbeweglich, kein Wort, und der Barkeeper sagte, bei ihm bekäme kein Indianer etwas zu trinken, nicht hier, nicht in seiner Bar, und uns dabei ansprach, als wir aber keine Antwort gaben, sich zu dem am anderen Ende der Bar drehte, um ihm dieselben Sätze zu sagen, bei ihm bekäme kein Roter etwas zu trinken, nicht solange er hier diese Bar habe, und der nickte zustimmend und sagte, die seien sowieso immer betrunken, nüchtern habe er noch keinen von diesen Brüdern gesehen, das zahle alles der Staat, also auch er, auch wir, alle hier müßten das zahlen,

und der Indianer langsam den Kopf drehte,

uns zu, da hatte ich sein Gesicht im Blick, nein, nicht das Gesicht groß von dem auf der Leinwand, der da Winnetou spielte, schön die bronzefarbene Haut, das blauschwarze lange Haar, Jagdhemd und Leggins, Mokassins und die Silberbüchse, so sah er aus, das war er aus unseren Bildern von damals, ich bin Winnetou, der Häuptling der Apatschen, meine Hand richtet sich gegen die bösen Menschen, und mein Arm schützt jeden, der ein gutes Gewissen hat,

allen Bleichgesichtern überlegen,

gleich nur sein Bruder Old Shatterhand, nein, dieses Gesicht war pocken-



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narbig, kantige Backenknochen, Hakennase, auch nicht ein Bergsee die Augen, die alles sehen, selbst in der Finsternis, nein, trübe Augen, die Lider schwer, schaute er, und der Barkeeper machte mit der Hand die Bewegung, nichts gebe es hier für ihn, nichts, schickte ihn aber nicht hinaus, ließ ihn sitzen, starren, jetzt wieder die Arme aufgestützt, vor sich hin, nein, keinen einzigen Schluck, denn bezahlen würden die sowieso nicht, hätten nie Geld, böten irgend etwas zum Tausch an, gestohlen oder Gott wisse woher, nein, keinen einzigen Schluck, von ihm nicht, so halte er das, seit er hier sei, und jetzt lief das Gesicht des Barkeepers rot an, wurde immer mehr roter Brinkley, glattrasiert, scharfgeschnitten und spitz gezeichnet, der rote Cornel,

unwillkürlich mußte ich lachen,

da schaute er her zu mir, lachte mit, ja, da habe man seine Probleme hier mit den Indianern, hier in der Reservation, da könnten sich die draußen kein Bild davon machen,

Indianer, und dabei lachte er, Indianer,

außer dem Wort sei nichts mehr da von dem, was vielleicht einmal da gewesen sein könnte, ich solle mir nur die Figur dort anschauen, da neben mir, der gehe ja noch, andere, die werfe er sofort vor die Tür, die seien niemandem zuzumuten, niemandem, die rieche man schon, ehe sie die Tür hereinkämen, lachte der Cornel Brinkley, hätte er sagen können, die roten Hunde, räudigen Bastarde, die Kojoten, Gewürm,

als der Indianer sich blitzschnell drehte,

aufstand, kam langsam auf uns zu, da, der Barkeeper duckte sich, auch der Mann in der Ecke, und der Indianer jetzt vor uns, dicht, ich konnte ihn riechen, ihn, meinen Bruder Old Shatterhand, in seine Haare vergraben, mir über die Augen gelegt die Haare, daß ich nichts sah,

nur den Geruch deiner Haare,

mein Bruder Old Shatterhand, nie werde ich ihn vergessen, Rauch über Kartoffeläckern vorm Nebel, Mandelkern und Lavendel, Pfefferminz und frisches Gras, und meine Zunge über dein Ohr zog, zu schmecken, mit den Zähnen zart zu, eng im Ginstergebüsch dein Bein über meinem Bein, Old Shatterhand, und wir spürten, daß da etwas war, sich spürbar machte, lebendig, die Muskeln gespannt bis in die Zehen,

oh Zaubergewehr, das spricht,

wenn wir aufhören zu reden, die flache Flasche zurückgewiesen jetzt, der Whisky-Atem, so roch er, wie er da vor mir stand, pockennarbig, das Haar strähnig über die trüben Augen und langsam die Hand hob, die Handfläche offen, aber da war schon der aus der Ecke bei ihm, der Barkeeper hinter dem Büffet hervor, und die beiden packten ihn, zogen ihn zu der Tür, geöffnet, stießen ihn hart hinaus, zu, blieben dicht bei der Tür, warteten, stießen ihn wieder, als er die Tür zu öffnen versuchte, kamen zurück dann, sich die Hände gerieben,

der rote Cornel, das war er,



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das Lachen jetzt, hier dein Lohn, roter Feigling, ich will mich nicht anders rächen, weil so ein Kerl zu tief unter mir steht, Indianerbrut,

das schrie der jetzt aus dem Film, oder dachte ich es mir jetzt zu dem Gesicht, das dort oben von Wut verzerrt schrie, aber dann war die Landschaft da, diese, die wir immer geträumt hatten damals, die welligen Hügel, das wehende Gras, so weit, der Wind über das Ginsterlager, die Mulde, wir beide darin, ach mein Bruder, Blutsbruder, nie mehr so dicht, das Gefühl, Marterpfahl, Schmerzen und doch, doch, jetzt deine Hand dort, meine, O Scharlih, verkrampft, wir in die Mulde hinein, das Keuchen ins Gras, dann locker, gelöst nebeneinander, wie frisch der Wind, als wir die Bar verlassen, und draußen, gelehnt an die Wand, im aufgewehten Schnee sitzt er da, schaut vor sich hin, wiegt sich und murmelt, ich kann nicht verstehen, murmelt immer das gleiche, nicht vom großen Felsenwasser hoch oben, wo der Wald seine Wipfel im Wasser des Sees spiegele, und die Berghäupter ihre Schatten würfen über die Flut, und die Wasser weder grün noch blau noch überhaupt dunkel gefärbt seien sondern silbergrau glänzten ... und in der Mitte des Sees eine grüne Insel mit einem seltsamen Luftziegelbau liege,

das tat der hier groß von der Leinwand, nein, keinen Schluck mehr, schon zuviel, zu getrübt der Blick, murmelte er vor sich hin, ohne uns zu beachten, sah uns nicht mehr, da im Schnee im jetzt eisigen Wind murmelte er nur immer wieder, hörte ich jetzt, verstand:

brother o brother



Wiedergegeben ist hier: Kapitel 5 des Romans ›Greyhound‹, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Röhrig Universitätsverlags, aus: Alfred Gulden: Dreimal Amerika. Hrsg. von Günter Scholdt/Hermann Gätje. St. Ingbert 2004 (Sammlung Bücherturm. Bd. 4), S. 84-94.





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