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Zusammenfassung: Die Entwicklung von Mays Werk bis 1900

Bereits Mays Frühwerke lassen eine, literarisch allerdings noch nicht bewältigte Tendenz zu allegorisch-symbolischen Gestaltungen erkennen, während die zweite Stufe der Werkentwicklung (ab 1879) durch eine Ausweitung und Präzisierung der narrativen Strukturen gekennzeichnet ist. Dabei werden die Stoffe und Motive der frühen Erzähltexte in größere Zusammenhänge eingefügt und stilistisch wie inhaltlich überarbeitet; zugleich tritt die Symbolstruktur zurück zugunsten realistischer (vor allem historischer und geographischer) Elemente.

Das Repertoire der Aktionsräume und Handlungszeiten weist in unterschiedliche Richtungen: neben den regional bezogenen "Erzgebirgischen Dorfgeschichten" und den Humoresken stehen exotische Abenteuererzählungen und historische Novellen, letztere v.a. über Sujets des 17./18.Jahrhunderts. Der tastend-erprobende Charakter der frühen Romane ist vor allem an der Mischung der epischen Formen und der wildwuchernden, in der Aktionslogik und in der Verknüpfung der Handlungsstränge wenig stimmigen Ereignisstruktur abzulesen.

Nach den fünf umfangreichen Kolportageromanen für den Verlag Münchmeyer baute May nicht nur die bereits vor 1882 bestehenden Kontakte zur Familienzeitschrift "Deutscher Hausschatz" und zu dem Regensburger katholischen Verlag Pustet aus, sondern fand auch in der Jugendzeitschrift des Stuttgarter Verlags Spemann ein neues Forum, das seine produktiven Fähigkeiten auf für ihn neuartige Weise herausforderte. Diese Neuorientierung führte dazu, daß in den folgenden Jahren zwei strukturell und qualitativ unterschiedliche Erzählweisen nebeneinander liefen.

Auf der einen Seite sind die Erzählungen im "Guten Kameraden" bestimmt durch einen relativ formstrengen Aufbau, eine distanzierte Erzählhaltung und durch die jugendgerechte Gestaltung der Identifikationsfiguren, wobei gleichzeitig die Protagonisten Old Shatterhand und Winnetou in den WildwestErzählungen mehr und mehr zu übermenschlichen Gestalten


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wurden, Heroen einer sich formierenden Abenteuer-Mythologie. Auf der anderen Seite knüpfen die Romane für den "Deutschen Hausschatz" an aktuelle politische Ereignisse an und setzen dadurch ebenso wie durch die formlose, wenig gegliederte Gestaltung des Erzählverlaufs (zumindest teilweise) die Tradition der Kolportageromane fort, wenn auch weitgehend ohne deren sittliche Anstößigkeiten und zum Teil mit jetzt deutlicher katholisierender Tendenz. Im Gefolge der Kolportage steht auch der wildwuchernde Wunschtraumcharakter dieser Erzählungen, ob es sich nun um identifikationsfordernde Omnipotenzimaginationen des Ich-Erzählers oder um den Gegensatz zwischen Zivilisation und Wildnis bzw. zwischen Orient und Abendland, d.h. um Räume mit unterschiedlichen Normsystemen, handelt.

Mit dem Erscheinen einer einheitlich ausgestatteten Gesamtausgabe, für den bisherigen Zeitschriftenautor gleichbedeutend mit dem Aufstieg in den Rang eines anerkannten Schriftstellers (um nicht zu sagen eines 'Klassikers'), entsteht in May ein verstärktes literarisches Qualitätsbewußtsein. Er versucht, in "Winnetou I", einem Werk, das er für die Gesamtausgabe neu schreibt, eine Allegorie des Untergangs der Indianer zu entwerfen, wobei sich die einzelnen Handlungszüge zwingend aus den allegorischen Voraussetzungen ergeben. Eine geschlossene, auf ein doppeltes Paradigma bezogene (Biographie eines Einzelmenschen ^= ' Schicksal einer Rasse) und bis in die Einzelmotive folgerichtig durchgeformte Handlung bezieht ihren Reiz aus der Überblendung biographischer und politisch-historischer Elemente mit mythisch parabelhaften Zügen. Damit verbunden ist eine zunächst politisch noch unklare, aber erkennbare antiimperialistische Zielrichtung, eine Haltung, die umso erstaunlicher ist, als gerade in den neunziger Jahren des 19.Jahrhunderts zahlreiche Jugendschriftsteller und -verlage einen eindeutigen Schwenk zur Kolonialpropaganda vollzogen, auch schon vor dem offiziellen Ubergang des Deutschen Reichs zur 'Weltpolitik' 1897.


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Die allegorische Gestaltung gelingt im ersten Band der Trilogie; die beabsichtigte Fortsetzung und Abrundung im zweiten und dritten Band dagegen bleibt aus verschiedenen Gründen erzähltechnischer und biographischer Natur bruchstückhaft und unbefriedigend.

In der nächsten für Fehsenfeld bestimmten Trilogie, "Old Surehand", entwickelt May ebenfalls, wenn auch erst nach einigen Schwierigkeiten mit dem Handlungsansatz, eine geschlossen-allegorische, an Lessings Schauspiel "Nathan der Weise" orientierte Handlungsstruktur. Doch auch hier mißlingt letztlich die selbstgestellte Aufgabe aus werkimmanenten (zu großer Umfang und Konzeptionswechsel während des Schreibens) und aus biographischen Gründen (zu lange Entstehungszeit).

Während May nun in seiner realen Existenz die lebenslang vermißte Liebe und Zuneigung von seiten seiner Leser in reichem Maße erfährt, indem er sich in seine eigene Figur Old Shatterhand bzw. Kara ben Nemsi verwandelt und sich so auch seinen Lesern präsentiert, bereitet er gleichzeitig auf der literarischen Ebene bewußt und in klarer Schreibstrategie den Übergang von der Abenteuer- zur Hochliteratur vor. Er wendet sich von den bisherigen Handlungs- und Gestaltungsmustern ab und strebt neue thematische und formale Bereiche an, sobald der finanzielle Ertrag aus der Fehsenfeldausgabe ökonomische Unabhängigkeit gewährt. Er löst seine Verbindungen zu den beiden Zeitschriften "Der gute Kamerad" und "Deutscher Hausschatz", damit auch zu den Verlagen Spemann und Pustet, er entwickelt ein neues Standes- und Selbstbewußtsein als Schriftsteller und unterstreicht immer wieder seinen Anspruch, als Autor ernstgenommen zu werden. Die letzten für den "Guten Kameraden" bzw. für den "Deutschen Hausschatz" geschriebenen Werke, "Der schwarze Mustang" bzw. "Im Reiche des silbernen Löwen I/II", zeigen weitaus stärker als frühere Romane retrospektive Tendenzen. Sie erweisen sich bei genauer Analyse als weitgehende Montagen aus Erzählelementen älterer Handlungsabläufe, bei deren Komposition May weit hinter das in den Fehsenfeld-Bänden mittlerweile erreichte Niveau zurückfällt.


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In den beiden für die Gesamtausgabe vollkommen neu geschriebenen Bänden vor 1900, "Weihnacht!" und dem "Jubiläumsband" XXV, "Am Jenseits", bemüht sich May in besonderer Weise um eine formstrenge und zugleich innovative Gestaltung. Dies gelingt vor allem in "Weihnacht!"; dieser Band soll von den ersten Planungen an durch eine veränderte Ausstattung und durch einen geschlossenen Aufbau mit enger Verflechtung der einzelnen Motive und Erzählstränge von den bisherigen, weitgehend der Struktur der Abenteuerreihung verhafteten Reiseerzählungen abgehoben werden. Gleichzeitig vollzieht May in diesem Roman endgültig die Gleichsetzung zwischen dem Schriftsteller Karl Friedrich May und dem Ich-Erzähler, indem er diesem seinen eigenen Namen gibt und durch anscheinend autobiographische Elemente die Faktizität des Erzählten unterstreicht.

In "Am Jenseits" werden dann die bisherigen Erzählkonventionen weitgehend aufgegeben, sowohl hinsichtlich der Szenerie wie auch in Bezug auf das Geschehen. An die Stelle der Abenteuer-Elemente treten allegorisch-symbolische Motive, die jedoch, da das Werk unter größtem Zeitdruck kurz vor der schon lange geplanten Orientreise entsteht, nicht mehr - wie in "Weihnacht!" konsequent dur--hgestaltet werden; auch hier bemüht sich May, wenn auch ohne für ihn selbst überzeugenden Erfolg, die Differenz zu den bisherigen Werken durch die Engelsdarstellung des Titelbilds zu signalisieren.

Der Schreibprozeß vor der Orientreise erweist sich als flüssiger, mit äußerst geringen Korrekturen ablaufender Vorgang, bei dem die Textsteuerungsvorgänge (in der Regel Ergebnis einer längeren, weitgehend ohne Aufzeichnungen sich vollziehenden Konzeptionsphase) kaum einen Niederschlag in Manuskriptvarianten finden. Bei den wenigen Fällen von Varianz innerhalb der Manuskripte handelt es sich fast durchweg um Sofortkorrekturen, die vorgenommen wurden, um die Wiederholung eines Einzelworts oder


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eines Ausdrucks zu vermeiden. Auch bei der Einrichtung der Zeitschriftenabdrucke für die Buchausgabe beschränkt sich der Oberarbeitungsvorgang auf die Anpassung äußerer Daten bzw. auf die Korrektur offenkundiger Fehler; nicht selten allerdings unterbleiben auch notwendige Adaptionen, so daß die wenigen Varianten in der Regel von untergeordneter Bedeutung für die Interpretation sind. Andererseits ist vor dem Irrtum zu warnen, Mays Schreiben vollziehe sich in dieser Zeit nur als weitgehend bewußtloser, in tranceartigen Zuständen ablaufender Prozeß, und der Autor sei nichts als ein mit nur geringer Eigensteuerung agierendes Sprachrohr innerer Antriebe, statt als selbstgestaltendes Subjekt seine Werke zu konzipieren und niederzuschreiben. Während allerdings dem Autor bis zum Abschluß der "Winnetou"-Trilogie seine Erfindungsgabe und seine literarischen Fähigkeiten weitgehend problemlos zu Gebote standen, löste die Schreibkrise von 1894/95 (vor allem im Zusammenhang mit der "Surehand"-Trilogie) nicht nur eine schriftstellerische Neuorientierung aus, sondern bewirkte auch, daß May seine eigenen kreativen Fähigkeiten zunehmend zum Problem wurden, weshalb er versuchte, den Mechanismen seines Schreibens auf verschiedenen Wegen näherzukommen (beispielsweise durch die Beschäftigung mit dem Spiritismus).


Karl Mays Werk 1895-1905

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