"Was gedenkt Ihr zu tun? Habt Ihr einen Plan?" fragte ich.

"Ja," antwortete der Scheik.

"Welchen? Darf ich ihn erfahren?"

"Der, den wir immer verfolgen."

"Also die Belagerung?"

"Die Belagerung!" nickte er. "Wir schaffen, wenn wir den Überfall zeitig genug erfahren, unsere Herden nach der Hauptstadt. Auch alle Krieger vereinigen sich da. Die Weiber und Kinder verstecken sich, bis die Gefahr vorüber ist. Der Feind kommt und umzingelt uns; wir aber sind vom Wasser gedeckt; er kann nicht herüber und muß wieder abziehen."

"Wie lange dauert das immer?"

"Oft mehrere Wochen."

"Hm! Während dieser Zeit zieht der Feind raubend im Lande herum! Ihr aber steckt tatenlos hinter dem schützenden Wasser und habt nicht nur die Menschen zu ernähren, sondern auch die Herden zu füttern! Das kann Euch doch nur schädigen, selbst wenn der Feind schließlich gezwungen ist, abzuziehen! Ist das so oder nicht?"

"Es ist so!" antwortete Taldscha diesmal an Stelle ihres Mannes. "Auch dann, wenn die Tschoban die Belagerung aufheben mußten, ohne uns ausgeraubt zu haben, nahmen sie doch noch ganz bedeutenden Raub mit, den sie sich ringsum zusammengeholt hatten. Und in unsern Herden brach dann infolge des Hungers und des Zusammengedrängtseins fast immer ein Sterben aus, das große Opfer forderte."

"Ihr habt Euch stets nur dadurch gewehrt, daß Ihr Euch einschließen und belagern ließet?"

"Ja."

"Warum das?"

(Seite 56A) "Weil es so Sitte war. Unsere Vorfahren haben es stets getan, und so taten wir es auch."

"So seid Ihr niemals auf den Gedanken geraten, die Angreifer zu machen, anstatt nur immer die Angegriffenen zu sein?"

"Nie!"

"Sonderbar!"

"Ja, sonderbar, höchst sonderbar!" fiel hier Halef ein. "Die Herrin der Ussul hat es mir übelgenommen, daß ich ihr zugetraut habe, einmal nicht Wort zu halten. Ich bemerke das erst jetzt, weil sie es beharrlich vermeidet, mich anzusehen. Ist ihre Ehre so fein und so empfindlich, daß sie schon ein kleines, unbedachtes Wort so gewaltig übelnimmt, so sollte diese ihre Ehre zu anderen Zeiten nicht so grob und unempfindlich sein, daß man sie wochenlang belagern und ihr ganze große Herden rauben darf, ohne daß sie sich hiervon beleidigt zu fühlen scheint. Mich, den einzelnen, kleinen Menschen, den sie für einen unbedeutenden Zwerg gehalten hat, verfolgt sie mit ihrer Rache. Was hat sie getan, um sich an den Tschoban zu rächen? Mich bestraft sie eines einzigen, unschädlichen Wortes wegen. Womit hat sie die riesengroßen Missetaten der Tschoban bestraft? Reicht ihr Mut nur zur Verachtung und Bestrafung von Zwergen aus? Oder fehlen ihr die Einsicht, die Klugheit und die nötige Begabung, die dazu gehören, einen Plan abzufassen und auszuführen, nach dem man sich mutig wehrt, anstatt daß man sich, seine Krieger und seine Herden langsam abschlachten läßt? Ich sage Euch: Ich, der Zwerg, der gegen Euch winzige Hadschi Halef Omar, hätte mir so etwas nie gefallen lassen; Ihr aber, die Ihr Euch Riesen nennt, sammelt in Eurer Feigheit schon wieder Fleisch, um Euch auf eine elende, unmännliche und furchtsame Belagerung vorzubereiten, anstatt den Feinden entgegenzuziehen und ihnen zu zeigen, daß Ihr Hirn im Kopfe, Blut in den Adern und Mark in den Knochen habt! Ob jemand mich ansieht oder nicht, das ist mir völlig gleich; aber wer da meint, mich verachten zu dürfen, der sollte doch wohl derart zu handeln gewohnt sein, daß ich ihm meine Achtung nicht auch zu versagen habe!"

Diese lange Rede des kleinen Hadschi kam mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel, vollständig unerwartet. Daß die Frau des Scheiks so ganz über ihn hinwegzusehen wagte, das ärgerte ihn nicht nur, sondern das erboste ihn. Seit er bemerkt hatte, daß ihre Blicke ihn vermieden, kochte es in ihm, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er die erste beste Gelegenheit ergreifen werde, die Hiebe auszuteilen, die er für nötig fand. Und das hatte er jetzt soeben getan. Nach den Folgen pflegte er bei solchen Dingen nie zu fragen. Die Hauptsache war, daß er seine Meinung gesagt hatte, und was dann kam, das fiel dann stets auf mich. So auch hier.

Die >Dame< Taldscha hatte ihm sehr gut gefallen, darum ärgerte es ihn doppelt, daß grad sie es war, die ihn nicht sehen (Seite 56B) wollte. Ich fand es also nicht ganz unbegreiflich, daß er in diesem Falle die Rücksicht vergaß, welche man den Frauen selbst dann schuldet, wenn sie sich Mühe geben, einen gar nicht zu bemerken. Dazu kam, daß ich ihm in Beziehung auf das, was er gesagt hatte, keineswegs so unrecht geben konnte. Es schien wirklich mehr als hergebrachte Überlieferung und Bequemlichkeit zu sein, daß diese riesenhaft gebauten Menschen vor ihren bedeutend kleiner gestalteten Gegnern fortwährend zum Kreuze krochen. Jeder Psycholog weiß, daß der Riese gemütlicher zu sein pflegt als der Zwerg, aber diese Gemütlichkeit darf doch nicht in eine Passivität ausarten, die an Feigheit grenzt. Kurz und gut, mein kleiner Halef war grob, sehr grob gewesen, aber er hatte dabei auch mir mit aus dem Herzen gesprochen, und so war ich gewillt, mich seiner anzunehmen, falls sich dies als nötig herausstellen sollte.

Zunächst war man darüber, daß so etwas hatte gewagt werden können, völlig starr. Dann sprang der Scheik von seinem Sitz empor, und die andern stießen laute Rufe des Zornes aus. Nur Taldscha blieb ruhig. Sie bewegte sich nicht und schloß die Augen, als ob sie innerlich nachschauen wolle, ob Halef berechtigt sei, in dieser Weise über sie zu sprechen. Der Scheik aber rief:

"Allahi, Tallahi, Wallahi! So hat noch niemand zu uns gesprochen, noch niemand! Soll ich Dich zwischen diesen meinen Fäusten zu Pulver zerreiben oder zu Brei zerquetschen? Wähle eins von beiden, ich tue es sofort!"

Er hielt dem Hadschi die beiden ungeschlachten Hände hin. Dieser blieb ruhig sitzen, zog eine seiner Doppelpistolen aus dem Gürtel, richtete sie auf den Scheik, ließ die Hähne knacken und antwortete:

"Soll ich Dich mit dem Schrot oder mit der Kugel erschießen? Wähle eins von beiden; ich tue es sofort!"

Ich nahm einen meiner Revolver zur Hand und knackte mit dem Hahne, ohne ein Wort zu sagen. Da machte Taldscha die Augen auf. Sie sah die auf ihren Mann gerichteten Waffen, ließ jene gebieterische Handbewegung schauen, die ich schon beschrieben habe, und sagte zu ihm und den anderen Ussul:

"Schweigt! Ich habe nachgesonnen, und ich fühle, daß Scheik Hadschi Halef Omar nicht unrecht hat. Doch soll er uns sagen, wie er sich unsere Gegenwehr gegen die Tschoban denkt!"

"Ich denke mir Eure Gegenwehr genau so, wie ich mir ihren Angriff zu denken habe," antwortete er, ohne einen Augenblick zu zögern.

Der Scheik gehorchte seiner Frau; er setzte sich wieder nieder. Die andern unterdrückten ihre Zornesrufe. Da steckte Halef die Pistole wieder ein, und auch mein Revolver verschwand.

"Wie meinst Du das?" fragte Taldscha.

"Die Tschoban greifen Euch an, indem sie in Euer Land eindringen. Wer hindert Euch, denselben Weg zu gehen und bei ihnen einzufallen? Das Gesetz, dem sie gehorchen, nämlich der Islam, gebietet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihr (Seite 57A) würdet also ihr eigenes Gesetz beachten und ehren, wenn Ihr an ihnen ganz dasselbe tätet, was sie an Euch schon so oft getan haben!"

"Bei ihnen einfallen - - -?" fragte die Frau in einem Tone, als ob ihr etwas ganz und gar Unmögliches zugemutet werde.

"Bei ihnen einfallen!" rief auch der Scheik.

"Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen!" rief man im Kreise auch weiterhin von Mund zu Mund.

"Warum nicht?" fragte Halef. "Was die Tschoban können, das könnt Ihr doch wohl auch!"

"Das meine ich wohl!" beteuerte der Scheik.

"Wenn Ihr das wißt, warum tut Ihr es dann nicht? Fehlt es Euch an Mut?"

"Nein, nein!" versicherte der Scheik.

"Nein, nein! Nein, nein!" klang es im Kreise weiter.

"Oder an Geschicklichkeit, an Flinkheit, an Verstand?"

"Auch nicht!" stellte der Scheik fest.

"Auch nicht!" fielen die andern rundum ein.

"So begreife ich nicht, warum Ihr es nicht tut! Es gibt da nur noch einen einzigen Grund, den man sich denken kann."

"Welchen?" erkundigte sich der Scheik.

"Daß Ihr zu faul seid."

"Zu faul?" fuhr der Scheik grimmig drein. "Wer das behaupten will, den schlage ich tot!"

Und er hob schon wieder seine beiden Fäuste empor.

"Den schlage ich tot, den schlage ich tot!" riefen die anderen grad so wie er, indem auch sie ihre Fäuste zeigten.

"Nun, so tut es doch, so tut es doch!" warf Halef ihnen zu, indem er ungläubig lachte.

"Was aber sollen wir drüben?" fragte nun der Zauberpriester.

"Ganz dasselbe, was sie hier bei Euch wollen!"

"Also stehlen, rauben, plündern und brandschatzen?"

"Ja! Stehlen, rauben, plündern und brandschatzen! Was sie glauben, an Euch tun zu dürfen, das kann Euch doch nicht verboten sein, an ihnen zu tun!"

"O doch!" fiel da die blonde Herrin ein, und zwar in ernstem Tone. "Kein Dieb soll mich verführen, auch zu stehlen, und kein Räuber kann mich veranlassen, ihn auch zu berauben. Zu Deiner Ehre will ich annehmen, daß auch Du dieser meiner Ansicht bist und nur vom Standpunkt der Tschoban aus redest, die Mohammedaner und also Heiden sind, aber ich bitte - -"

"Heiden?" unterbrach Halef sie da schnell.

"Ja, Heiden!" antwortete sie. "Oder ist es nicht heidnisch, zu stehlen, weil andere stehlen, und zu rauben, weil andere rauben?"

Der Hadschi hatte sich da in eine arge Klemme hineingeredet. Er war gewiß schwer, ja außerordentlich schwer in Verlegenheit zu bringen, dieses Mal aber wußte er sich keinen Rat. Er warf mir einen bittenden Blick zu, und so fiel ich nicht nur um seinetwillen, sondern auch um meinetwillen ein:

"Der Scheik der Haddedihn meint es nicht wörtlich so, wie er es sagt. Er will Euch nicht verleiten, ohne Grund in das Gebiet Eurer Feinde einzufallen, um dort zu sengen, zu brennen, zu plündern und zu morden. Aber wenn sie vor Euch die Flucht ergreifen müßten und Ihr sie bis hinüber verfolgtet, so wäre das wohl nicht gegen Dein zwar menschenfreundliches, aber auch entschlossenes und tapferes Gefühl."

"Nein, gewiß nicht!" gestand sie zu. "Ich würde sogar dazu raten."

"Wirklich?" fragte ich, nicht ohne Absicht, sondern mit ganz besonderer Betonung.

"Wirklich!" versicherte sie, es ebenso betonend wie ich.

"So tut es doch! Schlagt sie aus Eurem Reich hinaus und in das ihrige hinüber! Oder noch besser: Wartet gar nicht erst, bis sie herüberkommen, sondern fallt gleich an Eurer Grenze über sie her, daß sie umwenden und zurückkehren müssen!"

"Sie hinausschlagen - - -?" fragte Taldscha erstaunt.

"Über sie herfallen!" rief der Scheik.

"Daß sie umwenden! An unserer Grenze? Und zurückkehren müssen!" so sagten und fragten und wiederholten auch die anderen.

(Seite 57B) "Das erfordert Blut, viel Blut!" warnte Taldscha.

"Nein!" antwortete ich. "Vielleicht keinen Tropfen, keinen einzigen!"

"Unmöglich! Man kann doch kein ganzes Kriegsheer über die Grenze hinübertreiben, ohne daß Blut vergossen wird!"

"Das meine ich auch!" stimmte der Scheik bei. "Aber das sollte uns wohl nicht hindern, diesen Rat zu befolgen, der mir gar nicht übel gefällt. Es ist besser, einige Tote zu haben, als von den Tschoban und aller Welt als feig verschrien zu werden. Ich bitte Dich, Effendi, uns Deinen Plan mitzuteilen. Ist es möglich, ihn auszuführen, so daß er uns Nutzen schafft, so werden wir ihn ausführen. Ich bin überzeugt, daß Taldscha einverstanden ist."

Sie nickte nur. Ich aber entgegnete:

"Einen Plan kann ich Euch noch nicht sagen, denn ich habe noch keinen. Ich kenne Euer Land noch nicht und folglich auch die Gegend nicht, um welche es sich handelt. Freilich, einen Gedanken habe ich bereits jetzt. Und der scheint gut zu sein. Aber, um ihn sich entwickeln zu lassen, muß ich Fragen tun, die ich Euch heut abend unmöglich vorlegen kann. Dazu ist morgen Zeit. Ich halte es nämlich für sehr möglich, die Tschoban zu besiegen und für immer zurückzutreiben, ohne daß es Euch einen einzigen Toten oder eine einzige Wunde kostet. Wenn Ihr wollt, so könnt Ihr es morgen erfahren. Für heut aber soll nun Ruhe sein. Es ist nun schon über Mitternacht. Ich gehe schlafen!"

"ich auch!" stimmte Halef bei, der meine Absicht, nur von der Unterhaltung loszukommen, sehr wohl verstand.

Wir gingen also zu unseren Pferden, bei denen wir uns so niederlegten, daß ihre Hälse unsere Kopfkissen bildeten. Das waren sie und auch wir gewohnt. Die Ussul aber blieben noch sitzen, um das für sie unendlich wichtige, aber auch unendlich unbegreifliche Thema, welches ich ihnen gegeben hatte, weiter auszuspinnen. Das ganze Heer der Tschoban besiegen und für immer zurückzuschlagen, ohne daß es einen einzigen Toten oder auch nur eine einzige Verwundung kosten solle! Das wollte ihnen nicht in die trägen Köpfe, ihnen, die bisher weiter nicht gewußt hatten, als auszureißen, sich zu verstecken und dann hinter den abziehenden Feinden her zu jammern und zu schimpfen. Mein Gedanke kam mir aus der Beschreibung, die der Scheik mir über den hochinteressanten Engpaß Chatar geliefert hatte. Und ich gedachte dabei an eines meiner Erlebnisse bei den Haddedihn-Arabern, deren Scheik jetzt Halef war; nämlich an das so erfolgreiche Zusammentreiben aller ihrer Feinde in das >Tal der Stufen<, das ich im ersten Bande meiner >Reiseerzählungen< beschrieben habe. Vielleicht eignete sich der Engpaß noch viel besser zu so einem pfiffigen Streiche als jenes Tal der Stufen, in welches die Gegner gelockt werden mußten, während die Tschoban auf alle Fälle gezwungen waren, ihren Weg durch den Paß zu nehmen, von dem ich überzeugt war, daß er ihnen sehr leicht verhängnisvoll werden könne.

Als ich Halef hierüber eine kurze Bemerkung machte, wich der Schlaf sofort von ihm. Er richtete sich halb empor und sagte:

"Sihdi, das wäre eine Wonne für mich, so etwas wieder zu erleben! Wie bist Du auf diesen prachtvollen Gedanken gekommen?"

"Durch den Scheik, der mir die Örtlichkeiten beschrieb. Zwar kann man das, was dieser gute Mann behauptet, nicht als geologisch erwiesen annehmen, sondern man muß es erst prüfen; aber etwas Wahres ist doch jedenfalls daran, und man könnte viel Blutvergießen und noch anderes, ebenso Schlimmes verhindern, wenn man die Ussul veranlaßte, den Tschoban heut über eine Woche in diesem schmalen Engpaß entgegenzutreten."

Ich erzählte ihm, was ich von dem Scheik während des Ruderns erfahren hatte. Als ich damit zu Ende war, teilte er mir mit, daß während unserer Abwesenheit das Gespräch auch unter den Ussul auf den verschwundenen Fluß gekommen sei. Auf seine Bitte habe der Sahahr ihm dann die Sage erzählt.

"So kennst Du sie nun?" fragte ich.

"Ja," antwortet er. "Willst Du sie hören?"

"Sehr gern."

(Seite 58A) "Sie raubt uns nur wenig Schlaf, denn sie ist kurz. Vorher aber muß ich Dir sagen, daß die Ussul nur Gott allein verehren, keinen andern bei oder neben ihm. Bei ihnen ist nur er der Inbegriff der Allmacht, Weisheit und Liebe. Nur er allein kann, was er will, und wenn die Hilfe und das Erbarmen des Himmels sich der Erde naht, so geschieht das nur durch ihn. Das war es, was Du wissen mußtest. Und nun kann ich erzählen."

(Seite 59A) Halef machte wie immer, wenn er etwas Derartiges erzählte, vorher eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln und den richtigen, klar hindurchführenden Faden zu finden. Dann begann er:

"Weit, weit von hier, hoch über Dschinnistan hinauf, liegt das verlorene einstige Paradies. Seine Tore sind geschlossen. Wer nach ihm sucht, der sieht es von weitem glänzen, jedoch hinein kann keiner. Sogar dem Blick ist es versagt, die himmelhohen Mauern zu übersteigen. Bei Tage in sonnengoldenen Lettern, bei Nacht in flammenheller Sternenschrift sieht man über ihm den göttlichen Ruf erstrahlen:

>Ist Friede auf Erden, dann kommt!<

So oft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird alles, alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Weheschrei erschallt, er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott der Herr sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.

Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradiese wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. >Gib Frieden!< jammert es über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es durch das Paradies. >Gib Frieden!< bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein:

>Du sollst nicht töten!

Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch

vergossen werden!<

Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf vom Berge Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum (Seite 59B) Himmel rauchen. >Gib Frieden!< jammert es wieder über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es wieder durch das Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört:

>Liebet Eure Feinde! Segnet, die Euch verfluchen! Tut Gutes denen, die Euch hassen! Und betet für die, welche Euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwerte greift, der wird durch das Schwert umkommen!<

Dies heilige Wort der Menschen- und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch keiner will es achten. >Gib Frieden!< jammert abermals die Erde. >Gib Frieden!< klagt das leere Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischesten aller Geister, mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: >Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!< Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Flusse folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem 'Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in den nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strome abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der 'Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet heimlich zum plötzlichen Überfall. Der Herr versucht an vielen Orten zum Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Scheiks, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strome liegt, seine Stimme zu erheben und von Friedensbruch zu sprechen wagt, wird er als Landesverräter festgenommen und vor den Scheik gebracht. Der hält über ihn Gericht und spricht das Urteil aus: >Man führe ihn auf die Brücke und stürze ihn in das Wasser, weil er sich vor dem Blut des Krieges fürchtet!< Da fragt der Herr: >Ist jemand, (Seite 60A) der dies Urteil ändern kann?< >Es gibt keinen einzigen, der das vermag!< antwortet ihm der Scheik. >Auch Gott nicht?< >Nein! Allah ist Gott! Und der hat uns befohlen, sein Reich durch Schwert und Feuer zu verbreiten! Es werde Krieg!< Da hebt der Herr die Hand empor und ruft: >Es bleibe Friede! Hoch über dem, den Ihr zum Gott gemacht, steht der Erbarmer gegen den Verderber. Ich sage Dir, o Scheik: Du bleibst daheim; kein Tropfen Blut wird fließen!< Da springt der Scheik von seinem Sitze auf und donnert ihm zu: >Und ich, ich sage Dir, dem Feigling und Verführer meiner Krieger: So wenig, wie der Fluß, der Dich ersäufen soll, vor unserer Brücke umkehrt, Dich zu schonen, so wenig kehrt die Klinge, die ich zum Krieg gezogen habe, in ihre Scheide zurück! Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt!< Da hebt der Herr die Hand zum zweiten Male und spricht: >So sei es, wie Du sagst. Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt! Wenn Gott nicht mehr durch Worte belehren kann, so predigt er durch Taten. Der Strom floß Euch zu Friedenszwecken zu, nicht aber, um das Leben zu zerstören. Er werde Euch genommen! Nicht eine Pfütze bleibe Euch, die genug Wasser hat, auch nur einen einzigen Menschen zu ertränken! Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren! Denn alles, was da lebte, würde sterben!< - - - Ein Hohngelächter folgt diesen Worten. Man führt ihn hinaus zur Brücke, der Scheik auf hohem Roß voran. Der gibt, als die tiefste Stelle erreicht ist, den Befehl, den Gefangenen zu ergreifen und hinabzuwerfen. Da hebt dieser zum dritten Male die Hand, doch ohne ein Wort zu sagen. Sofort verfinstert sich der Himmel. Blitze zucken; drohende Donner rollen. Von der Brücke abwärts fließt das Wasser weiter; von ihr aufwärts aber bleibt es stehen. Es bäumt sich auf, wächst höher und höher und bildet eine Mauer, die zum Himmel zu streben scheint. Brüllend vor Angst und Entsetzen eilen die Menschen an die Ufer zurück. Nur einer bleibt, der Gefangene. Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet. Dann sinkt das Wasser zusammen und beginnt, wieder abzufließen, doch nicht abwärts, wie bisher, sondern aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist. Der Himmel wird wieder hell. Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt, deren Trümmer heutigen Tages wasserlos in die Steppe starren, durch welche sich der dürre, ausgetrocknete Lauf in zahllosen Windungen vor Durst und Hunger krümmt, bis er in den Wäldern der Ussul verschwindet."

Als Halef bis hierher erzählt hatte, machte er eine Pause, um eine innere Betrachtung anzustellen, die er mir dann mitteilte, indem er fortfuhr:

"Ist es nicht rührend, wie lieb die Ussul sich ihren Gott denken, Sihdi?"

"Ist er es etwa nicht?" fragte ich.

"Na, höre, was unsern Herrn Allah betrifft, so kommt er mir schon längst nicht mehr so freundlich vor wie früher. Es muß sich einer von uns beiden geändert haben, er oder ich. Der Gott der Christen ist nicht bloß Herr und Gebieter, wie Allah, sondern zugleich auch Vater und Patriarch, und zwar ein außerordentlich gerechter und guter. Das gefällt mir sehr von ihm. Das habe ich früher gar nicht gewußt, sondern erst durch Dich erfahren. Und betrachte ich mir die Sage, die ich soeben erzählt habe, so erscheint mir der Gott der Ussul dem Gott der Christen viel, viel ähnlicher als unserm Allah. Nur fehlt ihnen die Lehre von Gottes Sohn, dem Erlöser. Doch glaube ich, daß nur ein wirklicher, ein wahrer, ein guter Christ hierher zu kommen und ihn zu verkünden brauche, so würde er sehr bald und sehr viele gläubige Schüler finden. Übrigens weiß ich von Dir, daß eine jede Sage eine Wahrheit enthält, die man in der Tiefe suchen muß. So ist es wohl auch mit dieser Sage von dem verschwundenen Flusse, der plötzlich umgekehrt und aufwärts gelaufen ist, um nach seiner Quelle zurückzukehren?"

"Jedenfalls."

"Und die Wahrheit, die sich in dieser Sage verbirgt?"

"Ist wahrscheinlich eine zweifache, eine äußerliche und eine innerliche, eine geographische und eine sozialphilosophische."

(Seite 60B) "Das verstehe ich nicht. Du kannst mir nicht zumuten, aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein zu steigen, während ich doch jetzt, um einzuschlafen, aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein zu fallen habe. Das wäre grad der umgekehrte Weg. Also, sprich deutlicher!"

"Der äußere oder geographische Kern der Sage ist, daß es hier wirklich einen Fluß, und zwar einen bedeutenden, gegeben hat. Der ist verschwunden. Jedenfalls infolge eines Naturereignisses, welches man sich nicht erklären konnte, so daß man zur Sage griff, um es sich verständlich zu machen."

"Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!"

"Allerdings nicht. Aber sie können ihr altes Bett verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich hier in diesem Falle verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind."

"Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?"

"Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradiese. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streiche die Gaben vom Tische wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: >Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren; denn alles, was da lebte, würde sterben!< Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug- und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt- und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Flusse einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwarze Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden."

"Meinst Du? Du glaubst also an Sagen?"

"An ihren eigentlichen Inhalt, ja."

"Ich auch. Es freut mich, daß wir auch in dieser Beziehung zusammenstimmen. Nun aber lege ich mich wieder nieder. Allah gibt den Schlaf nicht, daß man ihn bewachen soll. Gute Nacht, Effendi!"

"Gute Nacht, Halef!"

Schon nach einigen Minuten war er eingeschlafen, ich aber nicht. Nach so wichtigen Tagen, wie der heutige gewesen war, ist man innerlich verpflichtet, sich das Geschehene zurecht zu legen, um das, was kommen soll, darauf zu bauen. Das war bei mir allerdings bereits geschehen. Aber nun hatte die Sage dazu zu kommen, die für mich mehr, weit mehr, als nur eine kurze, hübsche, aber nichtssagende Erzählung war. Aus solchen Dingen spricht nicht nur die Volks- sondern auch die Menschheitsseele, (Seite 61A) deren Schritte man nur im stillen Denken und Fühlen sich nahen hört. So lag ich still und sann und sann. Über mir breiteten sich die dunkeln Wipfel der Bäume, die keinen Blick des Sternenhimmels hindurchließen. Aber wenn ich mich auf die Seite wendete, wo unweit von meiner Lagerstätte die freie Lichtung begann, da konnte ich zwischen den Stämmen hindurch zwei Sterne erkennen, die tief am Himmel standen und meine Augen auf sich zogen, weil sie die einzigen waren, die ich sah. Es war der Deneb und die Mira vom Bilde des Walfisches. Die letztere ist interessant, weil ihre Helligkeit innerhalb nicht ganz eines Jahres von zweiter bis zu zehnter Größe schwankt. Heut war sie ganz beträchtlich. Die Mira steht bekanntlich am Hals und der Deneb am Schwanz des Sternbildes, also voneinander entfernt. Indem mein Auge an ihnen hängen blieb, schien sich von mir zu ihnen ein lichtglänzender Weg zu ziehen, der so breit war, wie sie scheinbar auseinander standen. Auf diesem Wege schienen die Gedanken, die mich beschäftigten, zu kommen und zu gehen. Solche Eindrücke gibt es nur während jener ungestörten, sich selbst gehörenden Stunden, in denen die Seele den Körper ganz und restlos beherrscht. Infolge der Sage befand sich die Seele jetzt unterwegs nach Dschinnistan und dem Paradiese. Vor dem körperlichen Auge lagen die beiden Sterne. Die Seele bemächtigte sich ihrer. Dort, von woher die beiden leuchtenden Welten strahlten, sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. Ich sah dann auch Gott selber kommen. Ich sah ihn in Dschinnistan erscheinen und den Herrscher dieses Landes ihm zu Füßen anbetend niedersinken. Und ich sah ihn dann nach Ardistan wandern. Ich sah ihn in der Hauptstadt auf der Brücke. ich sah das Wasser wie eine Mauer steigen und nach seiner Quelle zurückkehren, als der Herr verschwunden war. Ich sah die Stadt verdorren und verfallen. Ich stand dann auf ihren Trümmern. Ich suchte und forschte in ihren Ruinen, denn ich wollte den Palast des Königs finden, in dem man Gott gerichtet und zum Tode verurteilt hatte. Ich entdeckte den Weg. Er führte hügelaufwärts, durch ein riesig hohes und breites steinernes Tor hindurch, dessen Pfeiler eine alte, babylonische Sonnenuhr trugen. Nur eine kurze Strecke weiter stand der gesuchte Palast, von Mauern rings umgeben. Das Tor war geschlossen. Ich klopfte an. Der Pförtner erschien. Ich bat ihn, zu öffnen und mich einzulassen. Da schüttelte er den Kopf und antwortete: "Heut noch nicht, aber wahrscheinlich später." "Warum nicht jetzt?" erkundigte ich mich. "Weil Du jetzt schläfst," belehrte er mich. "Wir brauchen hier nur wachende Geister und Seelen!" Hierauf nahm er plötzlich die Gestalt, die Kleidung und das Gesicht meines kleinen Hadschi an, ergriff meinen Arm, schüttelte mich und rief: "Wach auf, wach auf, Sihdi! Wir sind schon alle munter. Man bereitet soeben das Essen. Ist dieses vorüber, dann brechen wir auf von hier!"

Ich sprang auf. Ich hatte geschlafen, und zwar tief, sehr tief. Alles, was ich gesehen hatte, war Traum, aber ein so eigenartiger und vertrauenerweckender Traum, daß ich das sofortige Bedürfnis fühlte, mir nichts, gar nichts davon wegnehmen zu lassen, sondern mir alles genau zu merken. Ich hütete mich also, zu sprechen, und ging, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück in den Wald hinein, um das, was mir in dieser Nacht gezeigt worden war, in mir zu befestigen. Solange wir unsere gerühmte Psychologie nur theoretisch treiben, sind wir keine Psychologen. Praktisch sein, in das reale Leben greifen, unsere Seele und unsern Geist an uns selbst studieren, sie keinen Augenblick aus den Augen lassen! Alles, was wir fühlen, denken, wollen und tun, auf sie beziehen! Wer das nicht tut, der nenne sich ja nicht Psycholog! Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen. Ich komme im späteren Verlaufe der Ereignisse auf diesen Punkt zurück.

Ich hatte länger als alle anderen geschlafen, und Syrr, dessen Hals, wie erwähnt, mein Kopfkissen bildete, hatte ebensolang, um mich nicht aufzuwecken, ganz ohne Bewegung gelegen. Dafür hatte ihm Halef das saftigste Gras und die besten Stauden geschnitten, die es hier gab, und legte sie ihm nun jetzt als Frühstück vor. Den Scheik sah ich nicht. Er war hinüber nach (Seite 61B) der Insel, um die drei Gefangenen selbst zu holen. Sie machten, als er sie brachte, nicht etwa einen niedergeschlagenen Eindruck, sondern ihr Auftreten und Verhalten ließ deutlich den Wunsch nach Rache erkennen. Sie wurden reichlich gespeist und dann genau so wie gestern auf ihre Pferde gebunden. Hierauf wurde der Heimritt nach der >Hauptstadt< angetreten.

Wir hatten uns nicht mit Packpferden zu befassen, denn der Ertrag der Jagd war schon vorgestern nach demselben Ziele abgegangen. Wir ritten mit dem Scheik, seiner Frau und dem Sahahr voran; die anderen folgten weit hinterher. Die Entfernung bis zur Stadt war so bedeutend, daß wir uns sehr sputen mußten, um noch vor Abend anzukommen.

Die Gegend, durch welche wir kamen, war durchaus eben, lauter auf- und angeschwemmtes Land. Häufig trafen wir auf natürliche Kanäle, die ganz das Aussehen von plötzlich erstarrten Flüssen hatten; das Wasser bewegte sich nicht, sondern es stand. Es schien aber dennoch rein zu sein, denn die Pferde tranken es, ohne sich zu weigern. Wir kamen durch ausgedehnte Wälder, meist Laubwaldungen. Dazwischen lagen grüngoldene Triften für gezogene, freigewordene oder freigeborene Rinder- und andere Herden. Das Ganze machte den Eindruck einer jungfräulichen Natur, die mit den Menschen noch nicht in Berührung getreten ist.

Alle die kleinen, schmalen Kanäle mündeten in einen außerordentlich breiten, tiefen und mit Wasser gefüllten Kanal, der einiges Gefälle zu besitzen schien, denn das Blattwerk und anderes, was auf ihm schwamm, bewegte sich, zwar langsam, aber doch in einer bestimmten Richtung.

"Das ist Es Ssul, der Fluß," sagte der Sahahr, indem er auf das Wasser deutete.

"Der aus Dschinnistan und Ardistan kommt?" fragte ich, nicht etwa, weil ich zweifelte, sondern um auf diesen Gegenstand einzugehen.

"Ja, derselbe," nickte er.

"Der also auch durch den Engpaß Chatar geht?"

"Ja. Man kann ihn bis hinauf verfolgen."

"Aber dort hat er kein Wasser mehr?"

"Nein, keinen Tropfen."

"Ich vermute, daß Eure Hauptstadt an ihm liegt?"

"Du vermutest richtig. Unser Land hat keine Berge, keine Felsen, keine Steine. Wir können keine Mauern bauen, um uns zu schützen. Nur unser Gottestempel und der Palast des Scheiks sind von Stein. Das Material hierzu wurde vor langer, langer Zeit aus Ardistan geholt. Damals bekam nämlich jeder Ussul, der dorthin reisen wollte, nur dann die Erlaubnis dazu, wenn er sich verpflichtete, einen so großen Stein mitzubringen, als ein Pferd ihn tragen konnte. Auf diese Weise sind wir zu dem Mauerwerk für die beiden Gebäude gekommen. Du wirst hierüber lachen?"

"O nein. Dieses Verfahren ist mir bekannt."

"So tut man dasselbe auch bei Euch?"

"Ja; jedoch auf anderem Gebiete. Jede Wissenschaft und jede Kunst holt da ihr Fundament und ihre hervorragenden Bauten aus dem nächst höheren Gebiete. Ganz dasselbe ist es auch mit jedem einzelnen Geisteswerk. Es ist ein Weltgesetz, daß allüberall der Ussul das, was er nicht besitzt, obgleich er es braucht, aus Ardistan oder gar aus Dschinnistan zu holen hat. Aber Du wolltest von der Lage Eurer Residenz sprechen! Wie heißt die Stadt?"

"Ihr Name ist Ussulia. Sie ist sehr groß. Weil wir sie nicht durch Mauern decken konnten, so mußten wir sie durch das Wasser schützen. Darum wurde sie an den Strom gebaut, und darum wurde viele Jahre lang das Erdreich ausgehoben, um ihn zu zwingen, nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch um sie herum zu gehen. Außerdem rahmt sich jeder Besitzer das Land, das ihm gehört, durch tiefe Gräben ein. So ist fast jedes Haus eine Festung zu nennen, welche die Tschoban, wenn sie kommen, erst einzunehmen haben, ehe sie sagen können, daß sie sie besitzen. Außerdem liegt im Osten und Westen der eigentlichen Stadt je ein großer See, die beide mit in ihren Bereich gezogen sind. Da gibt es viele, viele Wohnungen, teils an das Ufer, teils in das Wasser gebaut. Die Bewohner verkehren nur schwimmend oder in Kähnen miteinander, und wenn (Seite 62A) letztere versteckt oder ganz fortgeschafft worden sind, so würde der Besitz der Stadt für die Tschoban doch unnütz sein, weil sie nicht schwimmen können. Du hast ja gehört, daß sie meinen, wenn sie schwimmen sollten, so hätte Allah ihnen Flossen und Schwimmhäute gegeben!"

Nach dieser Beschreibung mußte ich mir die Ussul als Pfahlbauern denken, und es stellte sich später allerdings heraus, daß sie es wirklich waren. Es war bei ihnen alles für den Aufenthalt am oder im Wasser eingerichtet, auch ihre Gestalt, ihre Stark- und Fettleibigkeit, ihre ganze Lebensweise. So ging es auch ihren Pferden. Zwar soll man den Menschen nicht mit dem Tiere vergleichen, aber alle diese guten, unbeholfenen Menschen schienen mir sowohl innerlich wie auch äußerlich mehr oder weniger mit Smihk, dem Dicken, verwandt zu sein.

Der Ritt verlief während des ganzen Tages für mich und Halef im höchsten Grade interesselos. Es geschah nichts, was uns beschäftigen konnte. Jeder Abweg aus der Richtung, auch der kleinste, wurde vermieden und jeder Erregung wich man aus. Ich sah, wie die Ussul vor allen Dingen ihre Bequemlichkeit liebten. Solche Menschen und solche Völker pflegen aber dann, wenn sie einmal aus ihr aufgerüttelt worden sind, viel schwerer wieder zur Ruhe zurückzukehren.

Nur einmal gab es eine Art von Szene, aber auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich. Das war, als man sich bemühte, mir eine Beschreibung der Stadt zu geben. Man schilderte den Tempel, den Palast, die Straßen und Gassen, die freien Plätze und die wichtigsten Gebäude. Unter diesen letzteren wurde auch das Syndan genannt und mir beschrieben. Gegenwärtig war der gefährlichste unter den Gefangenen ein Wahnsinniger, der zugleich auch räudig war und der Ansteckungsgefahr wegen von allen Menschen abgesondert gehalten werden mußte. Der Wahnsinn fordert auf alle Fälle unser ganzes Mitgefühl heraus, und von einer derartigen Räude, die kein Aussatz war, hatte ich noch nie etwas gehört. Daher erkundigte ich mich nach diesem Gefangenen mit viel größerem Interesse, als ich den übrigen Gegenständen der Unterhaltung gewidmet hatte.

"Gibt es bei Euch einen Arzt, der es versteht, derartige Krankheiten richtig zu behandeln?" fragte ich, indem ich mich unbefangener stellte als ich war.

"Natürlich gibt es ihn!" antwortete der Sahahr in selbstbewußtem Tone.

"Den muß ich kennen lernen!" sagte ich.

"Du kennst ihn schon!" versicherte er.

"Wieso?"

"Ich selber bin's!"

"Glaubst Du, ihm helfen zu können?"

"Nein. Diesem Dschirbani kann nicht geholfen werden. Er wird an der Räude sterben. Und auch sein Wahnsinn ist unheilbar. Sein Wahnsinn wächst, und die Räude frißt ihn auf. Er hat schon fast sein ganzes Haar verloren. Man hat weiter nichts zu tun, als ihn streng abzusondern, damit seine Krankheit nicht auf andere übergeht."

"In welcher Weise äußert sich sein geistiges Leiden?"

"Darin, daß er alles anders macht, als wir."

"Hm!" brummte ich, und Halef lächelte. Da konnte man wohl sehr Vieles anders machen, ohne grad irr im Kopf zu sein!

"Auch denkt er ganz anders als wir," fuhr der Sahahr fort. "Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an, daß er sich einbildet, klüger zu sein, als andere Leute. In der Religion, in der Geographie, in der Weltgeschichte, in der Kunst, ein Land und den darin wohnenden Menschenstamm zu regieren, hat er seine eigenen Ansichten. Er spricht nicht davon, aber er lehrt sie, indem er sie befolgt, indem er nach ihnen lebt und handelt. Das ist das Gefährlichste, das Allergefährlichste, was es gibt! Darum sperren wir ihn ein! Denn wer ihn sieht und ihn beobachtet, der läßt sich von ihm täuschen, gewinnt ihn lieb und handelt so wie er. Und das ist die schlimmste Art des Wahnsinns, weil er ansteckend wirkt!"

"Weißt Du, woher er solche Gedanken nimmt? Hatte er einen Lehrer?"

(Seite 62B) Bei dieser Frage wurde er verlegen.

"Einen Lehrer eigentlich nicht," antwortete er. "Weißt Du, was ein Hamail ist?"

"Ja. Das ist ein Kuran, der aus Mekka stammt und den man als Andenken an die Pilgerfahrt nach dieser heiligen Stadt an einer Schnur um den Hals trägt." Daß ich selbst einen hatte, sagte ich ihm nicht.

"Das ist richtig," fuhr er fort. "Ein solches Hamail hat der Dschirbani. Aber dieses Buch an seinem Halse ist kein Kuran. Ich habe ihn einmal gebeten, hineinschauen zu dürfen, und er erlaubte es mir. Da stand die Überschrift:

>Werde Mensch; du bist noch keiner!<

Ist das nicht wahnsinnig? Ist das nicht verrückt? Und als ich ihn fragte, in wiefern wir noch keinen Menschen seien, wollte er mir weißmachen, daß in jedem Menschen gleich von Geburt an ein Tier stecke, welches man entweder totschlagen oder verhungern lassen müsse, wobei der von ihm befreite, gut, edle Mensch dann übrig bleibe. Wenn das kein Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen!"

"Könnte es nicht doch etwas anderes sein?" fragte Halef.

"Nein! Unmöglich! Ein Tier im Menschen! Bedenke doch! Ich will es Dir an einem Beispiele erläutern: Du bist Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, und man sagt von Dir, daß Du einen Vogel, einen Hund, einen Affen in Deinem Innern habest. Wie würdest Du Dich dazu verhalten?"

"Sehr ruhig. Es würde mir ganz und gar nicht einfallen, es in Abrede zustellen, denn unmöglich ist es nicht. Ich sehe vielmehr, daß noch ganz andere, viel größere Wunder geschehen."

"Welche?"

"Das nächstliegende ist, daß Smihk, der Dicke, in Deinem Kopfe herumzurennen scheint. Wenn er nicht bald verhungert oder totgeschlagen wird, wird man Dich nie zu den Menschen rechnen können! Das ist es doch, was der Dschirbani meint?"

Der Sahahr schaute den Hadschi mißtrauisch von der Seite her an. Er wußte nicht, ob er die Worte des Kleinen als scherzhaft, als ernst oder gar als beleidigend betrachten solle. Darum gab er lieber keine Antwort und fuhr in seinem vorigen Thema fort:

"Der Dschirbani ist also körperlich und geistig ansteckend. Das ist aber nicht alles. Es kommt noch hinzu, daß er so schwer festzuhalten ist. Er hat schon alle Arten des Gefängnisses durchgemacht, doch gelang es ihm stets,, zu entkommen. Darum haben wir ihn nun endlich an den Ort gebracht, von wo aus eine Flucht völlig ausgeschlossen ist. Er steckt im Stachelzwinger und wird von Bärenhunden bewacht, die bei jedem Fluchtversuche ihn oder den, der ihn befreien wollte, sofort in Stücke reißen würden."

Bei diesen Worten schauderte mich. Es wollte eine Ahnung in mir aufsteigen, daß es mit diesem angeblichen Wahnsinnigen eine ganz eigene und besondere Bewandtnis habe und daß es infolge meines Naturells und Temperaments ganz und gar nicht ausgeschlossen sei, ihm einen Dienst und Hilfe zu erweisen. Darum erkundigte ich mich nach ihm und fragte:

"Wie alt ist er?"

"Nicht viel über zwanzig Jahre."

"Noch so jung und schon so unglücklich? Wie traurig! Von wem hat er das Buch, von dem Du sprachst?"

"Von seinem Vater."

"Wer war sein Vater? Natürlich ein Ussul?"

"O nein. Er war ein Fremder; aber seine - - - seine - - - seine - - - Mutter war eine Ussul!"

Er sagte das stockend. Es schien ihm nicht über die Lippen zu wollen. Schließlich drückte er es förmlich heraus. Sein bärtiges Gesicht nahm einen mehr tierischen als menschlichen Ausdruck an; seine Zähne knirschten, und er fuhr fort:

"Warum soll ich es Euch nicht sagen! Ihr werdet es doch erfahren und hören! Sie war - - war - - - war meine Tochter!"

"So ist er Dein Enkel?" entfuhr es mir in der Überraschung.

"Ja."

(Seite 63A) "Und Du sperrst ihn ein?"

"Ja, ich sperre ihn ein!" antwortete er in unendlich gehäßigem Tone.

"Zu den Hunden! Die ihn zerreißen, wenn er zu fliehen wagt!"

Da flammten seine zorneslodernden Augen zu mir herüber, und er rief, als ob man es in weite Ferne hören solle:

"Sie mögen ihn zerreißen - - zerreißen! So wie der Zorn, der Grimm und der Kummer mich zerrissen haben, als ich vergeblich mit seinem Vater rang, mein Kind vor ihm und seinem Wahn zu retten! Ich habe nichts mit diesem Räudigen gemein. Er war der Sohn meiner Tochter, also Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blute. Aber dieses Fleisch und Blut ist gestorben; es lebt nicht mehr. Er ist mir also fremd, ja fremder noch als jeder Mensch, den ich nie gesehen habe. Die Hunde mögen ihn zerreißen - - zerreißen - - - zerreißen!"

Er gab seinem Pferde einen Hieb, daß es vor Schreck zusammenzuckte und dann vorwärts stürzte. Er versuchte gar nicht, es zu zügeln; er kam uns weit voraus. Wir schauten ihm nach. Der Scheik sagte:

"Nun ist er wieder ganz in Wut getaucht. Doch hat er recht. Es gilt die Erhaltung des Stammes und die Bewahrung der Religion vor wahnsinnig falschen Gedanken. Wenn die Räude des Dschirbani sich über andere verbreitet, bekommen die Ussul sehr bald so glatte Gesichter wie die unbehaarten Völker, die keine Männer, sondern lauter Weiber sind. Und wenn die Religion verpflichtet werden soll, zu lehren, daß wir Tiere im Leibe haben, so wird die Erde sehr bald zu einem einzigen großen Irrenhaus geworden sein!"

Er dachte nicht daran, daß Halef und ich uns beleidigt fühlen konnten, weil wir doch auch zu den >unbehaarten Völkern< (Seite 63B) gehörten, >die keine Männer sind<. Seine Frau fühlte das heraus. Darum versuchte sie, die Sache abzumildern, indem sie einwand:

"Du darfst nicht verlangen, daß alle Menschen grad uns für am schönsten halten. Es ist doch ganz natürlich, daß Leute, die den Schmuck des Haares nicht besitzen, nach und nach zu der Überzeugung gekommen sind, daß man nackte Gesichter vorzuziehen habe. Du weißt doch, daß es sogar Menschen gibt, die ihren Haarschmuck künstlich entfernen, indem sie sich scheren!"

"Die sind eben wahnsinnig! Vollständig verrückt und übergeschnappt!" beteuerte er im Tone größter, unerschütterlichster Überzeugung. "Hier bei uns hat das zu gelten, was wir für schön halten. Was andere denken, geht uns nichts an. Und da sind wir, die wir das Volk regieren und über sein Glück und Wohl zu wachen haben, verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Räude, um die es sich hier handelt, nicht weiter verbreitet werde. Von der Verwüstung, die so ein Mensch, wie der Dschirbani ist, in der Religion anrichten kann, will ich gar nicht sprechen, weil dies Sache des Sahahr ist, der die Verpflichtung übernommen hat, alles, was mit dem Gottesdienst zusammenhängt, vor Beschmutzung und Verfälschung zu schützen."

"Aber es ist sein Enkel, gegen den er wütet! Das Kind seines eigenen Kindes!" klagte sie, von Mitleid bewegt.

"Um so höher ist es ihm anzurechnen!" versuchte er sie zu widerlegen. "Einen besseren Beweis von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit kann es gar nicht geben!"

Er wandte sich zu mir und fuhr fort, auf sie deutend:

"Wir sind immer einig, sie und ich, in allen Stücken, nur in diesem einen nicht. Ich behaupte mit dem Sahahr, daß der Dschirbani unschädlich zu machen sei, sie aber nimmt ihn stets in Schutz. Man hat sie sogar im Verdacht, daß ihm die Flucht nicht so oft gelungen wäre, wenn sie ihn nicht dabei unterstützt hätte."

(Seite 64A) Da machte Taldscha eine ihrer gebieterischen, zum Schweigen auffordernden Armbewegungen und sprach:

"Seine Mutter war meine Freundin von ihrer frühesten Jugend an und ist es geblieben, bis sie starb. Sie war jünger als ich, und ich betrachtete sie ebenso als Schützling wie als Freundin. Ich hatte sie lieb, sehr lieb, und nahm mich ihrer an, als sie verstoßen wurde. Sie starb vor Sehnsucht und vor Herzeleid, und nun sie tot ist, lenke ich meine Liebe auf den über, den sie uns hinterlassen hat. Interessierst Du Dich für solche Dinge, Effendi?"

"Sogar sehr!" antwortete ich. "Fast möchte ich Dich bitten, mir noch mehr von diesem Dschirbani zu erzählen."

"Es gibt keine lange Erzählung, mit der ich Dich da ermüden könnte. Die Sache ist sehr kurz und sehr einfach. Es kam ein fremder Mann in unser Land, der aus Dschinnistan stammte und gar nicht die Absicht hatte, bei uns zu bleiben. Der sah meine Freundin und gewann sie lieb, sie ihn ebenso. Ihretwegen beschloß er, bei uns zu bleiben. Um Ussul werden zu können, mußte er, wie Du weißt, mit einem Ussul kämpfen und ihn besiegen. Das geschah, und zwar sehr leicht, denn der Dschinnistani war zwar unbehaart und von kleinerer Körpergestalt als wir, aber so stark, gewandt und geschickt, daß ihm die rohe Kraft seines Gegners nicht widerstehen konnte. Sobald er Ussul geworden war, begehrte er meine Freundin von ihrem Vater zur Frau. Dieser verweigerte sie ihm, und zwar aus körperlichen und geistigen Gründen. Der Sahahr schien ihm an sich schon nicht geneigt zu sein. Sodann behauptete er, als Sahahr der Ussul verpflichtet zu sein, einer körperlichen Entartung des Stammes in jedem, also auch in diesem Falle entgegenzutreten. Und schließlich war er mit den Menschheitszielen, von denen der Dschinnistani nicht nur sprach, sondern förmlich schwärmte, nicht einverstanden. Der Letztere versicherte, daß die Menschheit nur durch Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit, durch Liebe und Güte, vorwärts kommen könne. Der Sahahr aber haßte das; er haßt es auch noch heut. Er bezeichnet es als Feigheit, als Dummheit, als Verweichlichung, und ist der Ansicht, daß die Ussul an dieser Menschheitsliebe, falls sie bei uns überhand nähme, unbedingt zugrunde gehen würden. Er fiel, so oft er konnte, über den Dschinnistani her; er hielt ihn nicht nur für allgemein schädlich, sondern auch für seinen persönlichen Feind, der ihm die Tochter rauben und verführen wolle. Er erklärte, daß er lieber sterben als sein Kind einem Manne aus Dschinnistan zum Weibe geben werde. Darum kam die Sache vor den großen Rat der Stammesältesten, und dieser entschied genau so, wie er nach den Gesetzen der Ussul zu entscheiden hatte: der Sahahr und der Dschinnistani hatten miteinander zu kämpfen; dem Sieger fiel die Tochter des Ersteren zu. Dieser war so ergrimmt und seines Sieges so gewiß, daß er die Bedingungen bis auf Leben und Tod verschärfen ließ. Aber es kam ganz anders, als er dachte, und er unterlag; der Dschinnistani aber schonte ihn und schenkte ihm das Leben. Die Ehe ist eine außerordentlich glückliche gewesen, obgleich sie dadurch getrübt wurde, daß der Sahahr seine Tochter für immer verstieß und seinen Schwiegersohn unausgesetzt und bis zur Unversöhnlichkeit verfolgte. Es wurde ein Sohn geboren, der sich äußerlich zum behaarten Ussul, innerlich aber zum Dschinnistani entwickelte und in jeder Beziehung der Stolz und die Freude seiner Eltern war. Seine Mutter gab ihm den riesenstarken Körper und die reine, liebenswerte Seele. Sein Vater aber schenkte ihm den Geist von Dschinnistan, wurde sein Lehrer und Führer, sein Vorbild und Ideal, dem der Sohn ähnlich zu werden strebte. Ich habe oft dabeigesessen, wenn dieser Geist aus diesem Manne zu seinem Weibe und zu seinem Kinde sprach. Was ich da hörte, ist tief in mich gedrungen und hat sich festgesetzt, um niemals mehr zu weichen. Darum gleiche ich nicht ganz den anderen Frauen der Ussul, und darum nehme ich mich dieses Dschirbani an, den ich weder für wahnsinnig noch für krank halte."

"Wie?" fragte ich. "Du hältst ihn nicht für räudig? Wie kann ihn da der Sahahr dafür halten? Es müssen doch Hautflecke, Knötchen, Bläschen, Schuppen und Borken zu sehen sein!"

"Nein! Keine Spur davon!"

"Wirklich nicht?"

(Seite 64B) "Gewiß nicht. Seine Haut ist so weiß und rein wie das Weiße meines Auges!"

"Aber da kann man doch unmöglich von Räude oder irgend einer anderen Hautkrankheit reden!"

"Das meine ich auch!" stimmte sie bei.

"Ich nicht!" widersprach er. "Es gibt einen Ausschlag, den man die unsichtbare Räude nennt. Die ist die allergefährlichste! Denn weil man sie nicht sieht, frißt sie sich ein, bis sie unheilbar geworden ist."

"Davon habe ich noch nie gehört!" sagte ich.

"Es ist nur eine Erfindung, eine Ausrede des Sahahr!" erklärte sie. "Die Kunde von dieser unsichtbaren Krankheit stammt nur von ihm allein. Ich glaube nicht an sie!"

"Er ist der Sahahr, der oberste Zauberer und Arzt des ganzen Landes," fuhr der Scheik fort, uns zu widersprechen. "Der weiß, was er sagt, und ich habe mich in allen Stücken nach seinem Urteile zu richten. Wenn es auch keine äußeren Zeichen und Merkmale dieser verheerenden Krankheit gibt, so ist es doch bewiesen, daß sie vorhanden ist. Der Kranke verliert das Haar, es fällt ihm aus. Wenn das so weitergeht, so wird es gar nicht lange dauern, daß er seinem Vater gleicht und ihn nur die Körpergröße als einen Ussul kennzeichnet!"

Da fiel Taldscha rasch ein:

"Grad hiermit beweist Du, daß keine Krankheit vorhanden ist! Daß seine riesige Gestalt und seine kindlich reine Seele von seiner Mutter stammen, bleibt unbestritten. Das wird er behalten, so lange er lebt. Das andere aber ist nur vorübergehend. Er wird sich in dieser Beziehung aus dem Ussul in den Dschinnistani verwandeln, der sein Vater gewesen ist. Es war die größte Sünde, die Ihr begehen konntet, ihn mit wirklichen Aussätzigen zusammenzusperren und - - -"

"Wie? Was?" warf ich dazwischen. "Mit wirklichen Aussätzigen? Ist das wahr?"

"Ja, allerdings!" gestand sie. "Wunderst Du Dich darüber, daß es hier bei uns den Aussatz gibt?"


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