Was nun die beiden nicht numerierten Säulen betraf, so waren die zu ihnen gehörigen Felsenflächen entweder nicht hohl, oder die zwei hinter ihnen liegenden Räume hatten dem Zwecke gedient, den man in der heutigen Zeit mit den bekannten Worten >Verwaltungsbüro< oder >Portiers- und Hausdienerstube< zu bezeichnen pflegt. In diesem letzteren Falle enthielten sie wahrscheinlich alles, was wir suchten und brauchten. Aber so sorgfältig ich die betreffenden Flächen betrachtete, betastete und beklopfte, es war kein Schlüsselloch zu finden. Das sprach dafür, daß die Mauer hier kompakt war und keine hohlen Räume hinter sich barg. Es gab auch noch einen zweiten Umstand, aus dem ich ganz dasselbe zu schließen hatte. Ich sah nämlich genau in der Mitte des größten Quaders ein aus dem Stein herausgehauenes Reliefbild der Sonne mit vierundzwanzig Strahlen. Zu ihren Seiten war je ein Buchstabe eingemeißelt, nämlich links ein arabisches Ta und rechts ein arabisches Rhain oder Ghain. Diese Buchstaben machten mich stutzig. Sie mußten unbedingt etwas zu bedeuten haben. Das Sonnenbild an sich ließ vermuten, daß ein Innenraum nicht vorhanden war, denn warum sollte man das einzige Relief, welches es gab, gerade an (Seite 248B) einer Türe angebracht haben, wo es doch am allerleichtesten beschädigt werden konnte? Aber die beiden Buchstaben hatten ganz ohne Zweifel einen Zweck, der sich auf das Sonnenbild bezog. Ich trat ganz nahe an den Stein heran und klopfte an das Relief. Sonderbar! Es klang so eigentümlich! Fast nicht wie Stein! Und als ich stärker klopfte, stäubte unter ihm ein außerordentlich feines Mehl hervor, welches der Wind im Laufe der Zeit da hineingeblasen hatte. Es war also ein Irrtum, als ich vorhin annahm, daß die Sonne zum Stein gehöre, daß sie aus ihm herausgehauen sei. Sie gehörte nicht ursprünglich zu ihm; sie war künstlich mit ihm verbunden. Sobald ich das erkannt hatte, machte ich eine Probe mit der Messerspitze und fand, daß die Sonne aus Metall, wahrscheinlich aus Zinn und Kupfer, gegossen und derart geätzt und bearbeitet worden war, daß man das Metall mit Stein verwechseln konnte. Diese Entdeckung lehrte mich schnell anders denken als bisher, zumal ich bei aufmerksamerer Betrachtung bemerkte, daß der Stein in den innersten Strahlenwinkeln glattgeschliffen worden war. Die Sonne hatte sich also früher bewegt, und zwar sehr oft. Aber wie, in welcher Richtung und zu welchem Zwecke? Sollten vielleicht die beiden Buchstaben angebracht worden sein, um hierüber Aufschluß zu geben? Höchstwahrscheinlich! Sie waren jedenfalls Anfangsbuchstaben von bestimmten Worten. Ich dachte an verschiedene, die ich aber schnell wieder verwarf, bis ich auf Tuluh und Ghoruhb kam. Tulu esch Schems heißt nämlich Aufgang und Ghoruhb esch Schems heißt Untergang der Sonne: Die wirkliche Sonne bewegt sich vom Aufgange nach dem Untergange. War hieraus etwa zu schließen, daß man hier diese künstliche, diese bronzene Sonne von dem Buchstaben Ta nach dem Buchstaben Ghain zu bewegen, zu schieben, zu drehen hatte? Ich versuchte es. Es wollte nicht gehen, aber nur des Staubes wegen, der sich zwischen dem Steine und dem Metalle angesammelt hatte. Als ich den Versuch mit stärkerem Klopfen und energischem Rütteln wiederholte, lockerte sich der Staub, und indem er streuend zur Erde niedersiebte, wurde das Hindernis entfernt, und die Sonne begann, sich zu bewegen. Ich konnte sie wie ein Rad um ihre eigene Achse drehen, und indem ich dieses tat, hörte und fühlte ich zu gleicher Zeit, daß hierdurch ein Riegel zurückgezogen wurde. Der große, mächtige Quader begann sich zu bewegen, und zwar in genau derselben Weise wie der Stein am Ende des Kanales, nämlich nach innen, auf Gleisen, mit Hilfe von zwei Plattenunterlagen, deren erste sich senkte und deren zweite sich dann hob, um den rollenden Stein zum Stehen zu bringen.

"Maschallah, Wunder Gottes!" rief der 'Mir aus, als die verborgene Türe sich plötzlich vor uns öffnete. "Fast bin ich erschrocken! Wie hast Du das gefunden? Bist Du allwissend, Effendi?"

"Nichts weniger als das!" lachte ich, über diesen glücklichen Erfolg erfreut. "Die ganze Allwissenheit besteht darin, daß man seine Gedanken nicht auf falsche, sondern auf richtige Wege leitet; da kommt man zum Ziele. Treten wir ein!"

Indem ich diese Aufforderung aussprach, trat ich zur Seite, um ihn, den am Range Höheren, vorangehen zu lassen. Er tat es. Aber kaum war er hinein und ich wollte ihm folgen, so kam er schnell wieder heraus und raunte mir erschrocken zu:

"Effendi, da sitzen drei und lesen!"

"Wer?" fragte ich.

"Drei Männer!"

"Unmöglich!"

"O doch!"

"Lebendig?"

"Ja!"

"Das kann nicht sein! Komm!"

Nun ging ich voran, und ich muß gestehen, daß ich beim ersten Anblick der drei Personen, die ich vor uns sitzen sah, auch zunächst das Gefühl hatte, daß sie lebend seien. Es war, als ob man sie grüßen müsse. Sie saßen in orientalischer Stellung an einem großen, halb niedrigen Tisch und schienen so emsig beschäftigt zu sein, daß sie uns gar nicht bemerkten. Der eine war ein Chinese, ein sogenannter Tao-tze; er las. Der andere war ein Perser in alt-iranischer Kleidung; auch er las. Der dritte war ein Araber in sabäischer Tracht. Er (Seite 249A) schien zu schreiben. Sie waren ganz selbstverständlich nicht lebend, und dennoch trat ich ganz unwillkürlich nur leise auf, als ich mich ihnen näherte, um sie zu betrachten. Die Nachahmung war zu täuschend. Aber als ich sie untersuchte, erkannte ich zu meinem großen Erstaunen, daß es sich nicht um Nachahmungen handelte. Das war wirkliche Haut; das war wirkliches Fleisch, und das waren wirkliche Knochen. Wir hatten menschliche Leichen vor uns, präparierte Leichen, die einst gelebt hatten. Aber ihre Körper waren weder verkalkt noch mumifiziert. Sie besaßen nicht nur die Farbe, sondern auch noch einen gewissen Grad von der Weichheit und Elastizität des Lebens. Die Muskeln waren nicht todesstarr. Sie gaben, wenn auch nur ein wenig, nach, wenn man sie berührte. Dagegen aber waren die Anzüge, die Kleidungsstücke, hart, wahrscheinlich infolge einer Imprägnation, welche den Zweck gehabt hatte, sie zu konservieren. Was die Haare und die Nägel betrifft, so waren sie nicht nachgewachsen, sondern genau so geblieben, wie sie von der Todesstunde betroffen worden waren. Von den künstlich eingesetzten Augen konnte man nur wenig sehen, weil der Blick nach unten gerichtet war und sie also fast ganz unter den Lidern und Wimpern verborgen lagen. Zu untersuchen, woraus sie bestanden, dazu nahm ich mir jetzt nicht die Zeit. Ich hatte Nötigeres zu tun. Ich mußte den eigentümlich beklemmenden Eindruck, den diese Verstorbenen auf uns machten, von mir abschütteln, um meine Aufmerksamkeit den andern Gegenständen, welche sich in dem Raume befanden, zuzuwenden.

Da sah ich denn, daß ich recht gehabt hatte, als ich vorhin annahm, wenn es hier eine Stube oder so etwas Ähnliches gebe, werde sie wohl mit einer Portierloge oder Hausmannsstube zu vergleichen sein. Es gab da wirklich alles, was wir brauchten, nämlich alle möglichen Werkzeuge und, Gott sei Dank, auch die Schlüssel, die wir suchten. Es waren fünfzehn Stück. Sie hingen an der Wand, mit chinesischen Ziffern numeriert. Auch sie hatten die Form von Messern, deren Griff zum Drehen eingebogen werden konnte, so daß sie die Form einer Kurbel annahmen. Die Klingen, welche aus stahlharter Bronze bestanden und vorn nach der Spitze zu immer schmäler wurden, waren eine jede neunmal quer eingekerbt, so daß zehn voneinander getrennte Schlüsselbärte entstanden, die mit arabischen Nummern bezeichnet waren. Da keine dieser Schlüsselklingen der andern an Länge und Breite glich, so konnte man mit diesen fünfzehn Messern zehnmal fünfzehn, also hundertundfünfzig Türen öffnen, wenn man nur wußte, welcher Schlüssel zu der betreffenden Türe gehörte und wie tief er in das Schlüsselloch gesteckt werden mußte. Indem ich mir dies vergegenwärtigte, erkannte ich plötzlich den Zweck der Nummern, die wir an den Säulen gesehen hatten. Die chinesische Ziffer bezog sich auf die Nummer des betreffenden Schlüssels, und die arabische auf die Nummer des Bartes, der die richtige Form besaß, den Riegel zu fassen. Zu jeder numerierten Säule gehört die auf sie folgende Türe. Diese Entdeckung war so unendlich wichtig, daß ich keinen Augenblick zögerte, zu probieren, ob sie sich bestätigen werde. Ich nahm das Messer, dessen chinesische Nummer draußen an der nächsten Säule angegeben war, ging an den hierzu gehörigen Türstein und entfernte den Staub aus dem Schlüsselloche. Die arabische Nummer war arb'a; das bedeutet vier. Ich steckte die Klinge also bis zum vierten Bart in das Loch und drehte dann. Es gelang. Kaum war die Drehung vollendet, so bewegte sich der Stein nach innen, und zwar so schnell, daß ich fast darüber erschrak. Der 'Mir aber, der mir gefolgt war, rief aus:

"Auch hier kannst Du öffnen? Mensch, ich beginne, mich vor Dir zu fürchten! Und dabei bist Du so still und sagst kein Wort!"

Ich hatte mich allerdings schweigsam verhalten, um mich mit meinen Gedanken ungestört beschäftigen zu können. Ich antwortete auch jetzt nicht, sondern begab mich in den Raum der drei wachenden Leichen zurück, um meine Untersuchungen dort fortzusetzen. Die Werkzeuge befanden sich alle in bestem Zustande. An der Wand hing, auf chinesischen Stoff gezeichnet, ein ausführlicher Plan des ganzen, hiesigen Baues, zu beiden Seiten zwei Teilpläne von der südlichen Hälfte desselben, auf der wir uns jetzt befanden. Andere Pläne, Verzeichnisse und Schriften lagen auf dem Tische, an dem die drei Leichen saßen. (Seite 249B) Vor ihnen aber lagen keine weichen Schreib- oder Lesematerialien, sondern harte Metallplatten, die, wie ich erst jetzt bemerkte, ganz genau die Gestalt des Schildes hatten, welches mir von Marah Durimeh mit auf die Reise gegeben worden war. Ich trug es seitdem auf meiner Brust, auch heut. Es gab hier drei solche Schilde, vor jedem Toten eines. Ich betrachtete sie. Auf dem vor dem Chinesen liegenden stand nur das Zeichen >Tschhu-ping<. Das heißt >Krieg< oder eigentlich >in den Krieg ziehen<. Auf dem, welches vor dem alten Perser lag, war nur das eine Wort >Dschänk< zu lesen. Auch das heißt >Krieg<. So hatten diese beiden Leichen also Jahrhundert auf Jahrhundert hier gesessen und bewegungslos nur auf das eine einzige Wort >Krieg< herniedergestarrt! Der sabäische Araber mit seinem Schilde war der für mich interessanteste. Ich hatte geglaubt, daß er schreibe, aber das war nicht richtig. Er hatte einen Pinsel in der Hand, der zwar klein war, aber nicht zum Schreiben, sondern nur zum Streichen benutzt werden konnte. Und vor ihm stand nicht ein Tintenfaß oder eine Tuscheschale, sondern ein goldenes Gefäß, welches eine gelbliche, aber wasserklare Flüssigkeit enthielt, die unverdunstbar zu sein schien, weil sie sich sonst schon längst verflüchtigt haben mußte. Die tiefe Färbung der Pinselhaare ließ vermuten, daß diese Flüssigkeit eine mehr oder weniger ätzende sei. Auch auf seinem Schilde war nur ein einziges vollendetes Wort zu lesen, nämlich das arabische Wort >Ssulh<; das heißt >Friede<. Aber darunter gab es eine Stelle, welche das Aussehen hatte, als ob man da mit einer Nadel gekritzelt und dann geglaubt habe, diese Kritzelei mit einer Säure wieder wegbeizen zu können. Ich nahm das Schild vom Tische und ging hinaus, um es bei besserem Licht zu betrachten. Sonderbar! Es hatte, grad so wie das meinige, jene drei kleinen Löcher, in welche das Kettchen mit dem kleinen, goldenen Fläschchen gehörte! Dieses letztere fehlte samt Kette auch hier. In der jetzigen Beleuchtung kam mir die Kritzelei doch anders vor als vorher. Ich sah hier grad das Gegenteil. Nicht etwas Sichtbares hatte weggebeizt werden sollen, sondern man hatte etwas Unsichtbares sichtbar machen wollen; aber die entwickelnde Flüssigkeit war nicht in der erforderlichen Menge zur Anwendung gekommen. Ich kehrte kurz entschlossen zu dem Araber zurück, nahm ihm den Pinsel aus der Hand, tauchte diesen in das vor ihm stehende Goldgefäß und strich damit sooft über die ganze Fläche des Schildes, daß keine Stelle unbefeuchtet blieb. Die Wirkung war eine ebenso schnelle wie erstaunliche. Die scheinbare Kritzelei verschwand, und an ihrer Stelle kamen zwar nur zwei Worte zum Vorschein, aber zwei Worte, die mir fast wie ein Wunder erschienen, nämlich die Worte >Nakki tursakWähle Dein Schild!< Also nicht das Schild des Toten, sondern das meinige sollte ich mit dieser Flüssigkeit bestreichen! Wenigstens glaubte ich, das, was ich las, in dieser Weise verstehen zu müssen. Auch zauderte ich nicht lange. Ich zog mein Schild unter der Weste hervor, band es los, legte es auf den Tisch und befeuchtete es erst auf der einen und dann auch auf der andern Seite; denn was man einmal macht, das soll man ordentlich machen, sagte ich mir, in meinem Innern lächelnd. Als der 'Mir das sah, schüttelte er wieder den Kopf.

"Was treibst Du da?" fragte er. "Du tust ja, als ob Du hier geboren und ganz zu Hause seist. Sogar eine solche Platte hast Du! Ganz genau wie diese da! Darf ich wissen, woher und wozu?"

"Ich werde es Dir erzählen, sobald ich kann."

"Nicht jetzt?"

"Nein."

"Also Geheimnisse!"

"Geheimnisse oder auch nicht, je nachdem ich Dir vertraue! Jetzt aber ist ein jeder Augenblick zu wichtig, als daß ich ihn einer Erzählung opfern könnte! Wir werden nun hinüber nach der andern Seite des Maha-Lama-Sees reiten!"

Der Entwickler hatte auf die Innenseite meines Schildes keine Wirkung. Auf der äußern Seite aber entstand ein Gewebe von Punkten, Strichen und Linien, welches eine Landkarte werden zu wollen schien und nur Zeit brauchte, um immer deutlicher zu werden. Ich überstrich es also noch einmal und ließ es dann liegen, um es später abzuholen. Hierauf stiegen wir zu (Seite 250A) Pferde, um quer über den freien Platz hinüber nach der andern Seite zu reiten, wo es auch zwei nicht numerierte Säulen gab, zwischen denen ein ähnlicher Raum wie der, den wir hier entdeckt hatten, zu vermuten war. Diese Vermutung erwies sich als richtig. Wir fanden eine ganz gleiche Sonne, und es stellte sich heraus, daß sie sich ebenso bewegen ließ. Der Stein wich zurück, und wir betraten einen Raum von genau derselben Lage und Größe wie der gegenüberliegende. Auch seine Einrichtung war dieselbe; nur die drei Leichen fehlten. Dieselben Werkzeuge und Gerätschaften, dieselben Pläne an der Wand und auch dieselben Schlüssel, fünfzehn Stück, chinesisch numeriert, mit je zehn arabisch numerierten Bärten. Es gab also hier auf der Nordseite wie auch drüben auf der Südseite je hundertundfünfzig Räume, in Summa dreihundert. Wozu sie bestimmt waren, sagten uns mehrere größere und kleinere Pläne, die auf dem Tische lagen. Zu meinem Erstaunen sah ich da verzeichnet: viele Kammern für Reis, viele Kammern für Bohnen, viele Kammern für Weizen, viele Kammern für Mannah, viele Kammern für Leder, Kleiderstoffe und Vorräte aller andern Art. Es war für alles gesorgt, was für des Leibes Nahrung und Notdurft unerläßlich ist, nur nicht für Waffen, nur nicht für den Krieg, sondern nur allein für den Frieden. Es gab Wohnungen für Ober- und Unterbeamte. Es gab Arbeitssäle. Es gab Kranken- und Begräbnisräume, und es gab sogar einen Tempel. Auch sahen wir zwei Beratungssäle verzeichnet, die sehr groß zu sein schienen. Sie waren auf dem Plan eingetragen als >Dschemmah für die Lebenden< und >Dschemmah für die Toten<. Unter Dschemmah versteht der Beduine einer Gerichtssitzung, eine Beratung der Stammesältesten. Was die Ausdrücke >Tote< und >Lebende< zu bedeuten hatten, konnten wir jetzt nicht wissen; wir hofften, es noch zu erfahren. Jetzt galt es, zunächst unsere Gefährten zu benachrichtigen, und dann einen Rundgang durch die sämtlichen Räume zu unternehmen, um (Seite 250B) dieses in seiner Art einzige Bauwerk wenigstens einigermaßen kennen zu lernen. Wir nahmen also einen der Pläne und die Schlüssel zu uns und ritten dann nach der Stelle zurück, an der unsere Kameraden auf uns warteten. Als Halef uns kommen sah, rief er uns schon von weitem zu:

"Sihdi, ich habe an Deiner Stelle nachgedacht, aber nichts gefunden. Wer soll das ausführen? Du oder ich? Ich glaube, Du lässest es mir über, weil ich doch - - -"

Er hielt inne, sprang aus seiner sitzenden Stellung auf und fuhr dann in einem ganz anderen Tone fort:

"Handulillah! Du hast etwas gefunden! Ich sehe es Dir an! Ich kenne Dich! Wenn es um Deine Augenwinkeln in der Weise zuckt wie jetzt, da kann man zufrieden mit Dir sein. Ich kenne Dich genau!"

"Ja, wir können zufrieden mit ihm sein; das ist richtig," bestätigte der 'Mir, indem wir von den Pferden sprangen. "Dein Effendi ist ein unbegreiflicher Mensch, fast ebenso unbegreiflich wie dieses Riesengebäude, in dessen Inneres man so schwer zu dringen vermag. Er aber hat die Schlüssel alle entdeckt!"

"Hat er sie?"

"Ja!"

"Ist das wahr, Sihdi?"

Ich nickte und rasselte mit den fünfzehn Schlüsseln, die ich in den Händen hatte.

"Das sind sie? Wie Messer geformt? Also wieder Messerschlüssel! Kannst Du öffnen?"

"Werden gleich sehen!"

Mit diesen Worten ging ich zu dem ersten Türstein, dessen Schloßöffnung wir entdeckt hatten, und probierte den Schlüssel, dessen Nummer an der Säule zu lesen war. Er öffnete. Der Stein wich zurück, in das Innere des Raumes hinein. Als wir folgten, sahen wir diesen Raum von unten bis oben von festen, starken geflochtenen Schilfsäcken angefüllt, die alle Reis (Seite 251A) enthielten, den schönsten besten Reis, den man sich wünschen konnte. Wie lange lag er da? Wie viele, viele Jahrhunderte? Mußte er da nicht längst schon verdorben und ungenießbar geworden sein? Aber die Luft, in der wir uns befanden, war vollständig trocken und außerordentlich rein. Die schon einmal erwähnte Ventilierung schien eine außerordentlich wohldurchdachte und gute zu sein. Und der Reis verbreitete jenen eigentümlichen, wohltuenden Duft nach frischer Ernte, welcher ein untrügliches Zeichen seiner Güte ist. Wir staunten. Das waren Tausende von Säcken! Denn im Hintergrunde ging eine Treppe tief hinab, und als wir nachschauten, sahen wir den unter uns liegenden Raum ganz ebenso gefüllt wie den, in dem wir uns befanden. Der 'Mir war sehr ernst geworden. Er legte seine Hand an meinen Arm und sagte:

"Besinnst Du Dich, Effendi, daß Du mich einmal fragtest, was ich für mein Volk getan habe? Ob ich Vorratshäuser angelegt habe?"

"Ja," antwortete ich.

"Ich habe keine angelegt. Der aber, der dieses Bauwerk schuf, hat es getan. Lache nicht über mich, wenn ich Dir sage, das mich der Anblick dieser Fülle anklagt, dieser Duft nach Nahrung und Sättigung!"

"Ob dieser Reis wohl noch genießbar ist?"

"Ganz unbedingt! Je älter er ist, desto besser hat er sich erhalten. Es gab im Altertume eine Zeit, in der man es verstand, jeder Getreidefrucht eine Haltbarkeit für Tausende von Jahren zu verleihen. Derartiges Getreide behält für immer den jungen, frischen Ernteduft. Ich bin überzeugt, daß hier der Reis von dieser Sorte ist. Man besaß damals sogar eine Feuchtigkeit, durch welche man die Körper der Verstorbenen unzerstörbar machte und sie genau in dem Zustande erhalten konnte, in dem sie sich in der letzten Stunde ihres Lebens befunden hatten. Ich glaube, die drei Leichen, die wir entdeckt haben, sind auch mit dieser Flüssigkeit behandelt worden."

Wahrscheinlich hatte er recht. Es gibt Entdeckungen früherer Zeiten, die wir nun wieder zu entdecken haben, weil sie inzwischen verlorengegangen sind. Man braucht nur an das Rubinglas zu denken. Auch die Zusammensetzung der Flüssigkeit, in der man Leichen badete, um sie für immer zu erhalten, ist verlorengegangen. In neuerer Zeit aber scheint sie in Italien wieder entdeckt worden zu sein, wenn man den Zeitungen glauben darf, die hierüber berichten.

Wir gingen nun von Raum zu Raum. Das Öffnen der Türe gelang bei ihnen allen, ohne Ausnahme. Über zwanzig von ihnen waren nur allein mit Reis gefüllt, ebensoviele mit Manna, Weizen, Bohnen, Linsen und andern, mir aber unbekannten Leguminosenarten. Ich habe bereits gesagt, daß ich die >Stadt der Toten< bei einer andern Gelegenheit ausführlich beschreiben werde. Das bezieht sich auch auf den Gigantenbau am einstigen Maha-Lama-See. Für heut und hier genügen einige kurze, allgemeine Andeutungen und die Hervorhebung nur derjenigen Örtlichkeiten, die für unsern diesmaligen Aufenthalt uns wichtig erschienen.

Vor allen Dingen gilt es, zu sagen, daß wir zwei volle Tage brauchten, um, wenn auch nur im schnellsten Tempo, uns jeden der dreihundert Räume anzusehen. Die Mahlzeiten hielten wir im Freien. Zum Kochen, Backen und Braten gab es Töpfe, Geschirr, Brennholz und Holzkohle mehr als genug. Ursprünglich hatten wir weder die Zeit noch die Absicht zu einem so langen Aufenthalt. Es gab tausend Gründe, besonders politische und kriegerische, die uns zur größten Eile mahnten. Das Land war ohne Herrscher und das Heer der Ussul und der Tschoban ohne Anführer. Die Fahne der Empörung flatterte; vielleicht herrschte gar schon Anarchie! Aber grad die beiden Personen, welche die größte Veranlassung zur Besorgnis hatten, nämlich der Dschirbani und der 'Mir, fühlten sich derart von dem geheimnisvollen Orte, an dem wir uns befanden, gefesselt, daß sie erklärten, ihn nicht eher verlassen zu wollen, als bis es ihnen gelungen sei, sich wenigstens oberflächlich zu orientieren. Sie empfanden und erkannten, daß ihre beiderseitigen Lebenswege hier an der Pforte einer Entscheidung oder einer Zukunft zusammengetroffen waren, die ihnen unendlich mehr bot, als sie selbst im ungünstigsten Falle an den Panther und seine Verschworenen (Seite 251B) verlieren konnten. Und, sonderbarerweise, sie gingen immer nebeneinander, und sie standen immer beieinander. Sie hatten ein Wohlgefallen aneinander gefunden, welches von Stunde zu Stunde offener und wohltuender hervortrat. Ich störte sie so wenig wie möglich, und da sich Sadik, der schweigsame Prinz der Tschoban, meist zu den beiden Prinzen der Ussul hielt, so forderte ich Halef auf, in meiner Nähe zu bleiben und die andern möglichst wenig zu stören. Ich glaubte, der Zusammenschluß, der sich hier vorbereitete, werde für das ganze Leben sein, und das sollte sich freiwillig vollziehen, ohne von uns beiden direkt beeinflußt zu werden.

Als wir auf unserm Rundgange zu den drei Toten kamen, die in der Wachtstube saßen, sah ich zunächst nach meinem Schilde. Die Linien, Striche und Punkte hatten sich jetzt vollständig entwickelt. Der Dschirbani wußte bereits hiervon; der 'Mir hatte es ihm erzählt. Er betrachtete die Zeichnung sehr genau. Nachdem er das getan hatte, sagte er:

"Das ist die sehr genaue Karte einer Gebirgslandschaft, aber nicht die ganze Karte, sondern nur ein Teil von ihr. Wo ist die andere Hälfte?"

Er schaute sich suchend um und richtete seine Aufmerksamkeit besonders auf die Toten, die einen ganz eigenartigen Eindruck auf ihn zu machen schienen. Seine Augen vergrößerten sich. Er fuhr fort:

"Erstaunlich! Es ist, als sehe ich diese Personen nicht zum ersten Male. Mein Vater hat sie mir beschrieben, oft, sehr oft, als ich noch ein Knabe war. Er erzählte, daß es weit im Norden einen See gebe, in dessen Tiefe die Zukunft des Menschengeschlechtes verborgen liege. Man könne da hinuntersteigen, ohne zu ertrinken. Ich hielt das natürlich für eine Fabel oder Parabel, meine Mutter auch. Vater sagte, daß an der Pforte dieses Sees drei Männer wachen, die tot und dennoch lebendig seien, ein Mongole, ein Perser, ein Araber. Die beiden Ersteren seien still. Aber was der Letztere verlange, das müsse man tun. Ganz besonders aber ich müsse es tun, denn es sei gewiß, daß ich einmal an diesen See kommen und diese drei Männer sehen werde. Ich hielt das für einen Scherz des Erzählers, wie eben Vater und Mutter oder Großvater und Großmutter mit den Kindern zu scherzen pflegen, wenn sie ihnen Fabeln und Märchen erzählen. Nun aber sehe ich, daß es Wahrheit ist und daß mein Vater den Maha-Lama-See genau so kannte, wie wir ihn jetzt vor uns sehen. Auch das Geheimnis der Schlüssel muß ihm offenbar gewesen sein, denn es ist gar kein Zweifel möglich, daß er dieses Wachtlokal betreten hat, und zwar nicht nur einmal, sondern oft, wie ich jetzt aus der Genauigkeit seiner Beschreibung ersehe. Da nun das vermeintliche Märchen in so wunderbarer Weise zur Wahrheit geworden ist, so bin ich jedenfalls auch wirklich verpflichtet, zu tun, was der Araber von mir verlangt - - -"

"Und was verlangt er von Dir?" fiel Halef ein.

Der Dschirbani antwortete:

"Ganz dasselbe, was er von Deinem Effendi verlangt hat. Da auf dem Schilde steht es: >Nakki tursak - wähle Dein Schild!< Auch ich besitze ein solches Schild, und ich soll es mit der Flüssigkeit bestreichen. Ich werde es tun, sofort!"

Er zog die Metallplatte, welche ganz genau der meinigen glich, unter dem Gewand hervor und legte sie auf den Tisch. Dabei blieb sein Auge auf dem kleinen, goldenen Fläschchen haften, welches an ihr befestigt war.

"Sollte dieses Fläschchen etwa dieselbe Flüssigkeit enthalten, welche - - - ?" fragte er nachdenklich. "Wollen sehen!"

Er schraubte den winzigen Pfropfen heraus und ließ den Inhalt des Fläschchens auf die äußere Seite des Schildes tropfen; dann strich er ihn mit dem Pinsel des Arabers breit. Es reichte grad und genau für die gegebene Fläche aus. Hierauf warteten wir gespannt, ob etwas zu sehen sein werde. Ja, es erschien; es entwickelte sich. Und zwar paßte das, was sich da von Minute zu Minute immer deutlicher zu zeigen begann, mit größter Genauigkeit an die Zeichnung auf meinem Schilde. Es war die andere Hälfte der Karte.

"Welch eine Berechnung! Welch ein Vorbedacht! Effendi, wie konnte man im voraus wissen, daß wir hierherkommen würden?" fragte der Dschirbani.

(Seite 252A) "Der eine Name Marah Durimeh erklärt alles," antwortete ich. "Übrigens wurde auch an nicht berechnete Fälle gedacht. Das wird durch den Umstand bewiesen. daß man Deinem Schilde die entwickelnde Säure mit beigegeben hat."

"Dem Deinigen aber nicht. Hm! Bei Dir hat man es nicht für notwendig gehalten, weil man wußte, daß Du Dich hier unbedingt zurechtfinden würdest; meinem Scharfsinn aber traute man nicht so unbedingt. Für jetzt ist der Umstand am wichtigsten, daß Dein Schild und mein Schild zusammengehören. Was die Karte zu bedeuten hat, wird ja wohl zu entdecken sein. Wie aber steht es mit dem Fürsten von Halihm, der ja auch ein solches Schild besitzt und - - -"

Er wurde von dem 'Mir unterbrochen.

"Der Fürst von Halihm?" fragte dieser schnell. "Kennst Du ihn?"

"Ja," antwortete der Dschirbani.

"Kennt ihn etwa der Effendi auch?"

"Ja, auch er."

"Woher?"

"Er steht ja bei unserm Heere. Auch Du mußt ihn kennen!"

"Wieso?"

"Ich schickte ihn nach Deiner Hauptstadt, nach Ard. Er wohnt bei Dir!"

Es geschah nicht etwa aus Unbedachtsamkeit, daß der Dschirbani dem 'Mir diese Mitteilung machte, sondern in voller Absicht, die mir sehr willkommen war. Der 'Mir wich einige Schritte zurück. Er erkundigte sich, seine erstaunten Augen abwechselnd auf den Dschirbani und auf mich richtend:

"Der Fürst von Halihm heißt Abd el Fadl, und eine seiner Töchter heißt Merhameh. Diese beiden Namen sind nicht selten. Sie kommen sogar sehr häufig vor. Darum sind sie mir nicht aufgefallen. Wollt Ihr etwa sagen, daß dieser Sänger Abd el Fadl und seine Tochter Merhameh der Fürst und die Prinzessin von Halihm sind?"

"Ja, das wollen wir allerdings sagen," antwortete der Dschirbani.

"So wurde ich von Euch betrogen?"

"Betrogen?"

"Ja, betrogen! Besonders aber von Dir!"

Diese letzteren Worte richtete er an mich. Seine Brauen zogen sich zusammen, und seine Augen blitzten mich zornig an. Ich aber lächelte ihn ruhig an und fragte:

"Fühlst Du Dich vielleicht als Betrogener?"

"Ja!" behauptete er.

"Wieso? Worin liegt der Betrug, den ich begangen habe?"

"Darin, daß die beiden Namen nun plötzlich eine ganz andere Bedeutung erlangen. Der Fürst von Halihm ist einer der höchsten Stützen des 'Mir von Dschinnistan, also einer meiner hervorragendsten Feinde. Und den schickt Ihr in mein Land, in meine Residenz, in meinen Palast?! Ist das nicht Betrug?"

"Nein, nur List. Wir meinten es gut mit Dir."

"Gut? Das ist wohl erst noch sehr genau zu prüfen! Vorerst denke ich jetzt nur daran, daß nun doch alles erfüllt worden ist, was die Weissagungen verkündet haben: Der >Friede< und die >Barmherzigkeit< haben ihre Stimmen in meinem eigenen Hause, in der christlichen Kirche, erhoben! Nur weil ich glaubte, der Sänger und die Sängerin seien ganz gewöhnliche Personen, gab ich ihren Namen die Bedeutung nicht, die sie jetzt plötzlich bekommen haben. Nun befindet sich der treueste Anhänger meines Erbfeindes in demselben Palaste, den ich bewohne. Und nicht nur das, denn ich habe ihm auch mein ganz besonderes Vertrauen geschenkt und schwebe also in viel größeren Gefahren, als ich bisher ahnte. Ihr habt mich überlistet. Wehe Euch, wenn es mir in den Sinn kommt, Euch zur Rechenschaft zu ziehen!"

Der Zorn trieb ihn von uns hinweg. Er ging hinaus und schritt quer über den Platz nach dem Wasserengel hinüber, wo sich unsere Pferde befanden. Wir sahen dann, daß er sich mit seinem Schimmelhengst beschäftigte, und ließen uns von seinem Ärger die gute Stimmung, in der wir uns befanden, nicht verderben. Er mußte ja wiederkommen; er konnte gar nicht anders. Wir setzten inzwischen die Besichtigung und Untersuchung (Seite 252B) der Örtlichkeiten fort. Es dauerte auch wirklich gar nicht lange, so kehrte er zurück, um uns eine Entdeckung mitzuteilen, die er soeben gemacht hatte. Er hatte nämlich seinem Pferde wieder Wasser geben wollen und war darum in den Engel gestiegen, und zwar bis ganz hinab, weil es ihm gewesen war, als ob sich da unten ein Geräusch vernehmen lasse, welches vorher niemand von uns bemerkt hatte. Er hatte natürlich ein Licht angebrannt und beim Scheine desselben gesehen, daß das Wasser inzwischen ganz unvermutet so hoch gestiegen war, daß es den Rand des Bassins überflutete und durch eine hierzu angebrachte Seitenröhre einen laut rauschenden Abfluß fand. Diese Botschaft war für uns so wichtig, daß auch wir uns sofort nach dem Brunnen begaben und hinabstiegen, um die Sache in Augenschein zu nehmen. Es war so, wie er berichtet hatte. Das Bassin lief über und der Abfluß war ein so bedeutender, daß ihn die hierzu bestimmte Röhre kaum zu fassen vermochte. Es klang wie das Rauschen eines Sturzbaches, das war eine Folge der vulkanischen Ausbrüche droben in den himmelhohen Bergen von Dschinnistan. Diese Berge hatten nun monatelang ununterbrochen geflammt. Die Schnee- und Eisfelder waren geschmolzen. Wenn man früher von Süden aus hinauf nach dem Gebirge sah, hob es sich weiß vom blauen Himmel ab; jetzt aber war es dunkel. Die ununterbrochen ausstrahlende Glut hatte die Firnen und Gletscher von den Höhen geleckt und aufgezehrt. Es waren Massen von Wasser entstanden und entstanden immer noch weiter. Es bildeten sich neue Rinnsale, und wo es keine gab, drang die überreichliche Feuchtigkeit in die Erde ein, um sich unterirdische Wege nach dem tiefer liegenden Lande und der Ebene zu suchen. Die Engelsbrunnen lagen, wie bereits erwähnt, an solchen unterirdischen Wasserwegen, und die Wirkung trat bei ihnen demnach am schnellsten und am augenfälligsten hervor. Das war nicht mehr bloß Feuchtigkeit, das war schon wirklich fließendes und rauschendes Wasser. Es hätte mich gar nicht gewundert, zu dem auch noch zu erfahren, daß sogar im Bette des ausgetrockneten Stromes das Wasser zutage trete. Als wir unsern Rundgang hinauf fortsetzten, schloß sich der 'Mir uns wieder an, ohne auf das Thema, welches ihn zornig gemacht hatte, auch nur mit einem einzigen Worte zurückzukommen. Er hatte eingesehen, daß es unter den gegenwärtigen Verhältnissen eine große Torheit gewesen wäre, ganz mit denen zu schmollen, die allein imstande waren, ihn aus seiner bedrängten Lage zu befreien.

(Seite 253A) Im Laufe des Nachmittags kamen wir durch die Wohnräume der Beamten, wo wir auf die Beweise glücklichsten Familienlebens stießen, durch zahlreiche Arbeitssäle, in welchen alle Handwerke, die es damals gab, vertreten waren, durch Kunsträume, in denen man gezeichnet, gemalt, gemeißelt und musiziert hatte. Wir fanden Krankenstuben, die selbst heute noch einen gar nicht üblen Eindruck machten. An diese schlossen sich sehr weite, ober- und unterirdische Säle an, in denen sich die Begräbnisstellen befanden, die ich an einem anderen Orte ausführlich beschreiben werde. Den Beschluß des heutigen Tages bildete gegen Abend die Besichtigung des Tempels, der einen sehr großen Eindruck auf uns machte, und zwar infolge seiner absoluten, nachhilfelosen Einfachheit. Er bildete das Innere des höchsten und kompaktesten Berges der ganzen Runde und war in Form eines Kreiskegels, also eines Zuckerhutes, ganz aus dem Fels gehauen. Auf seiner Grundfläche, also auf dem eigentlichen Fußboden, befand sich kein einziger Sitz; er war überhaupt nicht zur Aufnahme des Publikums, oder sagen wir, der Gemeinde, der Gläubigen bestimmt. Hierzu war vielmehr eine Einrichtung vorhanden, die sich in Form einer ununterbrochenen, immerwährend rundum laufenden Spirallinie von unten bis hinauf zur höchsten Spitze zog. Diese Spirallinie war aus lauter Spitzen zusammengesetzt, die eine nicht wagerecht liegende, sondern nach und nach ansteigende Empore bildeten und zum Schutz mit einer starken Balustrade versehen waren. Vor jedem Sitze war in dieser Balustrade ein rundes Loch angebracht, welches die Bestimmung hatte, ein Licht aufzunehmen. Diese Löcher zählten nach vielen Hunderten, und in jedem steckte ein ganzes Licht, welches noch niemals angebrannt worden war. Das gab den Anschein, als ob in ungemessener, alter Zeit einmal ein Gottesdienst vorbereitet worden sei, der aber nicht abgehalten werden konnte, worauf der Tempel für immer verlassen werden mußte. Ganz unten auf der Grundfläche, da, wo die Spirale begann, stand eine kleine, sehr einfache Kanzel, jedenfalls für den Priester bestimmt. Als ich sie sah, kam mir die Frage, welche akustische Wirkung es wohl gehabt habe, wenn er seine Stimme zu der leuchtenden Spirale über sich erhob. Hierbei nehme ich die Gelegenheit, einige Worte über die Beleuchtung aller dieser am Maha-Lama-See vorhandenen Räumlichkeiten zu sagen.

Ich habe die Fensteröffnungen, die sich über jeder Türe befanden, schon einmal erwähnt. Sie verliefen nicht wagerecht, sondern sie senkten sich von außen nach innen. Hierdurch wurde dem Tageslichte der Eintritt in das Innere erleichtert, aber auch dem Staube und etwaigen Insekten und anderen Tieren, welche den hier aufgehäuften Vorräten gefährlich werden konnten. Darum waren diese Fensteröffnungen von innen luftdicht verschlossen, doch so, daß das Licht trotz dieses Verschlusses vollen (Seite 253B) Eingang fand. Aber womit? Man hätte meinen sollen, es sei Glas, und zwar sehr reines, gutes Glas; aber das war ja ausgeschlossen. Den vollständig durchsichtigen, außerordentlich glasähnlichen Stoff näher zu untersuchen, war bisher unmöglich gewesen, weil die Fenster zu hoch lagen, als daß sie von uns erreicht werden konnten. Nun aber, hier im Tempel, ging ich die Spiralempore hinauf, bis ich das erste Fenster erreichte, und da sah ich denn, daß es eine Art von Kaliglimmer, vielleicht Muskovit war, der, wahrscheinlich auf eine mir unbekannte Weise noch extra zubereitet, vollständig die Stelle des lichtdurchlässigsten Glases vertrat. Das reichte aber selbst am Tage nicht aus, den gewaltigen und außerordentlich hohen Raum des Tempels zu erhellen. Daher die vielen Lichter.

Es war wohl selbstverständlich, daß in uns der Wunsch entstand, auf der rundum gewundenen Empore bis zur Spitze hinaufzusteigen. Wir taten es. Das heißt, zunächst taten es nur die andern, denn ich blieb noch unten, um einige akustische Proben zu machen. Nachdem ich sie instruiert hatte, wann und wie sie mir zu antworten hatten, begannen sie ihren langsamen Kreiselweg. Ich nenne ihn langsam, weil sie im Hinaufsteigen sämtliche Lichter anbrannten, eines immer am andern. Das hielt sie auf. Ich sprach mit ihnen. Sie antworteten. Aber je höher sie kamen, desto leiser wurden ihre Antworten. Endlich hörte ich sie gar nicht mehr. Nun rief ich ihnen mit verdoppelter Stärke meiner Stimme Fragen zu, deren Antworten ich ihnen eingeprägt hatte. Vergebens. Sie gaben diese Antworten, aber ich hörte sie nicht. Das machte einen ganz eigenartigen, unbeschreiblichen Eindruck auf mich. Ich sah, wie die Zahl der brennenden Lichter wuchs. Ihre Linie wurde immer länger und länger und stieg immer höher und höher, bis sie die Spitze des Tempels erreichte. Wie ich später erfuhr, drang meine Stimme mit größter, reinster Deutlichkeit bis dort hinauf; das aber, was sie erwiderten, mußte oben bleiben; es konnte nicht herunter zu mir. Um mich gab es nur tiefes, lautloses Schweigen. War das vielleicht eine gewollte Symbolik derer, die einst diesen Tempel aus dem toten Felsen schlugen? Ich glaubte, dies bejahen zu müssen, denn man unternimmt kein so schwieriges, zeitraubendes Werk, ohne über die Wirkung desselben nachgedacht zu haben. Ich aber beeilte mich, der mich beklemmenden Lautlosigkeit zu entgehen und stieg meinen vorangegangenen Gefährten nach.

Es war inzwischen draußen Abend geworden. Darum befand ich mich hier unten im Innern des Tempels nicht nur in vollständiger Stille, sondern auch in ebenso vollständiger Dunkelheit. Aus dieser Finsternis stieg grad von da aus, wo ich stand, die Lichterlinie empor, einen immer weiter aufwärts dringenden, sich scheinbar unendlich oft wiederholenden und doch niemals zu sich selbst zurückkehrenden Kreis beschreibend. Daß dieser Kreis immer kleiner und enger wurde, kam mir nicht als Wirklichkeit, (Seite 254A) sondern wie eine optische Täuschung vor und verdoppelte, verzehnfachte, ja, verhundertfachte die wirkliche Höhe des Tempels. Es war, als sei er mitten in den Himmel hineingebaut und als könne man von Licht zu Licht bis direkt vor Gottes Thron gelangen. Und diesen Weg stieg ich jetzt hinauf!

Je höher ich stieg, desto mehr wurden die Lichter unter mir; aber ich schaute absichtlich nicht hinab; ich schaute nur nach oben, um mir die spätere, bessere Wirkung nicht schon im voraus zu verderben. Oben angekommen, sah ich, daß es eine Öffnung nach außen gab, und als ich hinaustrat, befand ich mich mit meinen Gefährten auf einer Felsenplatte, die, wie ich selbst jetzt, des Abends, bemerken konnte, eine außerordentlich weite Fernsicht bot. Die Türe, welche aus der Spitze des Innentempels heraus auf diese Platte führte, war unverschließbar. Sie bestand einfach aus einem Steine, der auf- und zugeschoben werden konnte.

"Da kommst auch Du!" sagte Halef, als er mich sah. "Hast Du gehört, was wir hinabriefen?"

"Nein," antwortete ich.

"Und wir haben doch förmlich gebrüllt! Wir verstanden jedes Wort von Dir. Was Du sagtest, das klang so laut und eindringlich, wie eine einzelne Stimme einer Orgel oder wie eine Posaune. Willst Du es nicht auch einmal hören? Soll ich hinunter steigen und zu Dir heraufsprechen?"

"Ja, tue es," antwortete ich.

"Schön! Ich werde Dir einige Stellen aus dem Koran sagen, etwas recht Feierliches und Ernstes, wie es sich für dieses Gebäude, welches ein Tempel ist, schickt."

Da fiel der 'Mir ein:

"Aus dem Koran? Ist Dein Effendi denn ein Mohammedaner? Er soll anderes und besseres hören! Du kannst hier oben bleiben, denn ich selbst gehe hinab. Ich werde ihm etwas heraufsagen, was besser für diese ergreifende Stätte paßt als das, was er von Mohammed hören könnte. Wir befinden uns an einem wunderbaren Orte; ich fühle es. Darum darf hier auch nur wirklich Heiliges, nur wirklich Edles und nur wirklich Wahres und Großes gesprochen werden!"

Er ging. Daß er, der Höchste von uns allen, mir diesen Dienst erweisen wollte, war jedenfalls nicht äußerlich, sondern tief innerlich begründet. Dieser Felsentempel hatte ihn ergriffen, hatte auf ihn gewirkt, und diese Wirkung bestand in dem Wunsche, nun auch uns ergreifen zu können. Darum stieg er hinab in die Dunkelheit, um aus ihr zu uns heraufzusprechen. Aber was wollte er uns sagen? Nichts aus dem Koran, sondern etwas Besseres, Edleres und Heiligeres. Was konnte das sein? Er war doch nicht Christ!

Von der Höhe dieser Platte aus sahen wir den nördlichen Himmel genauso flammen und glühen, wie ich es gesehen hatte, als ich auf dem Tempel von Ussulia saß. Und es wirkte hier, wo wir uns inmitten der Wüste und des Todes befanden, seelisch noch ergreifender als dort. Wie innig standen wir mit diesen Flammengluten in Verbindung! Sie waren es ja, die unsern Brunnen speisten; sie waren unsere Lebensretter! So führen feste, wohltätige Fäden im Menschenleben aus der Unbegreiflichkeit in das Begreifliche, vom Himmel zur Erde, vom Schöpfer zum Geschöpf - - - und wieder zum Schöpfer zurück, sobald wir nur wollen! Wir traten von der Platte nun in das Innere des Tempels zurück, um den Augenblick, in dem der 'Mir zu sprechen begann, nicht zu versäumen. Wir setzten uns nieder und warteten still. Dann verging eine lange, lange Zeit. Er mußte schon längst unten angekommen sein und sagte noch immer nichts. Das machte meine Gefährten ungeduldig, ich aber konnte es wohl begreifen. Es war der Anblick des Tempels, der ihn jetzt noch mehr ergriff als vorher. Er fühlte sich innerlich überwältigt. Es gingen Dinge in ihm vor, die ihn so ganz und gar für sich in Anspruch nahmen, daß wir von ihnen weichen mußten. Es war überhaupt eine ganz wunderbare Fügung des Himmels, welche den 'Mir gezwungen hatte, unter den gegenwärtigen Umständen nach der >Stadt der Toten< zu gehen. Schon unser Weihnacht hatte ihn gepackt, die Liebe und die Güte, die Gnade und Barmherzigkeit. Hier kam der Ernst dazu, der gewaltige und drohende Ernst der Jahrhunderte und Jahrtausende. Ich habe schon einmal die >Geisterschmiede von Kolub< erwähnt, in welcher die Menschenseelen (Seite 254B) gehämmert, gestählt und geschmiedet werden. Der 'Mir befand sich jetzt in diesem psychischen Kolub, in dieser Geisterschmiede, und es war mir von höchstem Interesse, zu erfahren, mit welchem Erfolge oder Mißerfolge er sie verlassen werde. Die gewundene Linie der flackernden Lichter führte hinunter zu ihm. Er stand da, wo sie begann, und schaute herauf zu uns, ohne uns aber zu sehen. Was wird er sagen? Jedenfalls doch irgend ein Wort, welches das enthält, was ihn in diesen Augenblicken bewegt! Gerade als ich das dachte, erhob sich in der finstern Tiefe eine Stimme, welche klang, als ob sie aus ganz andern Welten stamme und auch zu ganz andern Welten spreche als nur zu unserer kleinen, unbedeutenden Erde und zu uns paar armseligen Menschen. Langsam, deutlich, hehr und gewichtig, wie Glocken- oder Posaunentöne, stiegen die Worte zu uns herauf:

"Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste? Und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesichte? - - Stiege ich in den Himmel, so wärest Du da. Stiege ich in die Hölle, so wärest Du da. - - Nähme ich mir Flügel von der Morgenröte. und wohnte ich am äußersten Meere, so würde auch dort Deine Hand mich führen und Deine Rechte mich halten!"

War das der 'Mir? Natürlich! Wer anders sollte es sein? Aber wie kam er zu diesem Bibelspruch? Wenn die Menschenstimme überall täuschen und sich verstellen kann, hier in diesem Tempel des Maha-Lama-Sees aber nicht! Indem sie hier wie eine Offenbarung klingt, offenbart sie vor allen Dingen auch sich selbst. Und in dieser Stimme lag die Wahrheit. Was der 'Mir jetzt sagte, bewegte ihn auch wirklich. Nach einer kleinen Pause kam der zweite Ruf:

"Wie der Hirsch sich sehnt nach Wasserquellen, also verlanget meine Seele, o Gott, nach Dir. - - Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem starken, lebendigen Gott. Wann werde ich hinkommen und erscheinen vor Gottes Angesicht?"

Hierauf wieder eine kurze Weile, dann erklang es:

"Dein Wort ist meinen Füßen eine Leuchte und ein Licht für meine Wege!"

Das waren allerdings drei wirklich hehre, heilige und gewichtige Worte. Der 'Mir hatte mehr, viel mehr gesagt, als ich für möglich gehalten hätte. Denn daß es sich bei ihm nicht nur um eine akustische Demonstration handelte, das verstand sich ganz von selbst. Er beichtete. Er gab Rechenschaft. Er offenbarte die Tiefe seines Innern. Es drängte ihn; er konnte nicht anders. Aber er war noch nicht fertig. Er mußte auch noch das Allerbeste und Allerwichtigste, was er besaß, aus seiner Seele zu uns steigen lassen. Es erklang:

"Jesus Christus ist derselbe, gestern und heut und auch in Ewigkeit! Amen!"

Dieses Amen sagte uns, daß er fertig sei. Die anderen blieben noch einige Minuten still sitzen. Auch sie fühlten, daß jetzt neben dem rein Äußerlichen auch noch etwas rein Innerliches geschehen sei, woran man nicht mit faden Worten rühren dürfe. Dann standen sie auf und schickten sich an, den Stein vor die Öffnung zu schieben und dann hinabzusteigen. Sie glaubten, daß dies auch meine Absicht sei. Ich aber belehrte sie eines anderen, indem ich sagte:

"Geht immer hinunter! Ich bleibe noch hier und werde dann hier schließen. Löscht alle Lichter aus, an denen Ihr vorüberkommt; laßt keines brennen!"

"Aber dann, wenn Du hinuntergehst, mußt Du doch auch Licht haben, Effendi, sonst stürzest Du!" meinte Halef besorgt.

"So zünde ich mir eines an," antwortete ich.

"Aber Du darfst nicht lange bleiben; Du mußt mit uns essen, Effendi! Weißt Du, heut wird einmal gekocht, wirklich gekocht, gebacken und gebraten! Denn es gibt hier alles, was wir dazu brauchen! Unzählige Delikatessen! Ich koche selbst! Und die andern helfen mir alle, alle, alle! Da kannst Du Dir doch denken, daß es ein Abendessen gibt, wie es selbst der Schah von Teheran oder der Sultan von Istambul nicht besser haben kann. Also Du kommst?"

"Ja."

"So leb einstweilen wohl! Du bist ein Dichter und schreibst Bücher; darum hältst Du es gern mit allen Höhen und Spitzen, wo es nichts zu essen gibt. Aber wir, die wir keine Dichter sind und auch keine Bücher schreiben, wir gehören hinunter auf die (Seite 255A) ebene, sichere Erde und ziehen den Duft eines guten Bratens den fettesten Reimen und den dicksten Büchern vor."

"So wünsche ich, daß Dir der Braten wohl gelingen möge, mein lieber Halef!"

"Ich auch. Wir gehen!"

Sie stiegen hinab und verlöschten dabei ein Licht nach dem anderen. Ich sah einige Zeitlang zu, wie die Lichtspirale sich immer weiter von mir zurückzog; dann trat ich wieder hinaus in das Freie und setzte mich dort nieder, um endlich, endlich einmal mit mir und meinen Gedanken allein zu sein und das, was geschehen war, zu prüfen, um das, was nun zu kommen hatte, daraus zu folgern. Aber diese wohltuende Einsamkeit war nicht von langer Dauer. Es erklangen Schritte aus dem Innern. Es kam jemand. Der 'Mir war es. Er hatte ein brennendes Licht in der Hand, blies es aus, setzte sich zu mir und entschuldigte sich:

"Dein Halef sagte, Du wünschest, allein zu sein. Ich habe denselben Wunsch und kann ihn mir doch nicht erfüllen, denn in der Einsamkeit finde ich keinen Halt und keine Stütze; ich muß zu Dir. Verzeih!"

"Ja, ich wollte allein sein," antwortete ich aufrichtig. "Ereignisse wie die, welche wir hier erleben, verlangen Sammlung und ungestörtes Nachdenken, wenn sie die Wirkung haben sollen, die uns nützt und segnet. Doch, befindest Du Dich in Seelennot, in der Du Hilfe von mir erwartest, so bist Du mir willkommen, gleichviel, ob ich Dir dienen kann oder nicht. Der Wille dazu ist vorhanden."

"Das weiß ich, und darum komme ich, Effendi. Ich habe Dir ein Geheimnis mitzuteilen, ein großes, schweres Geheimnis, welches sich von Generation zu Generation in meiner Familie fortgeerbt hat und so sorgfältig behütet worden ist, daß nicht einmal sämtliche Mitglieder der Familie, am allerwenigsten aber fremde Leute, davon erfuhren. Nur der Herrscher allein wußte es, der 'Mir, und sobald er es für nötig hielt, teilte er es seinem ältesten Prinzen mit, seinem Nachfolger, nie aber einem andern Menschen. Du bist der erste und einzige Fremde, der es erfahren soll und magst hieraus ersehen, wie gern ich Dich habe und wie hoch ich Deinen Wert für mich berechne."

(Seite 255B) "Ich danke Dir! Geheimnisse soll man achten, zumal, wenn sie Familiengeheimnisse sind, über welche das einzelne Glied nicht frei verfügen darf. Hältst Du es für unbedingt nötig, mir diese Mitteilung zu machen?"

"Ja, unbedingt. Du wirst mir darin, sobald Du es erfahren hast, recht geben. Diese Angelegenheit ist nämlich in ein höchst bedenkliches Stadium getreten. Das Geheimnis steht vor der Schwelle der Öffentlichkeit. Es ist bedroht, Gemeingut zu werden. Es hiervon zu bewahren, bin ich zu schwach. Ich bedarf Deiner Hilfe, und die kannst Du mir nur dann leisten, wenn Du ebenso eingeweiht bist wie ich selbst."

(Seite 256A) "So darf ich Dich nicht hindern, Dich offen auszusprechen. Doch, ehe Du dieses tust, bitte ich Dich, mir zu sagen, woher Du die Stellen aus unserm heiligen Buche kennst, die wir vorhin aus Deinem Munde hörten!"

"Sie sind ein Weihnachtsgeschenk."

"Von wem?"

"Von Deinem und meinem Freunde, dem Basch Nasrani, dem Oberpriester aller Christen meiner Länder. Er hat viele solche wichtige Aussprüche der Bibel für mich abgeschrieben und sie mir gebracht. Er sagte, dies sei der Dank des Heilandes dafür, daß ich seinen Gläubigen erlaubt habe, sein Geburtsfest in Ard zu feiern. Die Sprüche gefielen mir sehr. Ich las sie sehr oft durch. Und wenn der Basch Nasrani bei mir war, mußte er mir ihren Sinn und ihren Inhalt erklären. Er war der Meinung, daß aus ihnen mein eigenes Glück und Wohl und auch das Glück meines Reiches wachsen könne. So lernte ich sie auswendig und dachte viel, sehr viel über sie nach. Und als Dein Halef Dir Koranverse versprach, hielt ich es für besser, Dir Sprüche aus diesem meinem Schatz zu geben. Ich glaubte, Dich damit zu erfreuen."

"Das ist auch geschehen, wirklich geschehen. Es ist keine kleine und keine gewöhnliche Freude, die Du mir damit gemacht hast. Darum wünsche ich aufrichtig, Dir in Beziehung auf Dein Familiengeheimnis von Nutzen sein zu dürfen. Ich bitte Dich nun, es mir mitzuteilen."

Es war wirklich so, wie ich sagte: ich freute mich herzlich. Der alte, liebe gute Basch Nasrani hatte Mission getrieben, ohne daß ich es ahnte. Und seine stille geräuschlose Tätigkeit hatte größere und reichere Früchte gebracht, als er selbst vielleicht für möglich gehalten hatte. So schnell! In dieser kurzen Zeit! Daß dies auch dem ganzen Lande von Segen sein werde, verstand sich ganz von selbst. Jetzt saß ich mit dem 'Mir so, daß wir nach Norden schauten. Die dort auf- und niederwallenden Gluten berührten sein Gesicht mit einem leisen warmen, verklärenden Scheine. Er sprach:

"Welch ein Jahr ist das jetzige! Sollte es wirklich jenes große, seit Jahrtausenden vorherverkündete Jahr sein, in welchem die Engel des Paradieses hervortreten dürfen, um zu bestätigen, daß der Friede sich naht und die Völker sich nicht mehr hassen, sondern lieben und achten werden. Weißt Du, Effendi, daß jeder 'Mir von Dschinnistan stets für, jeder 'Mir von Ardistan aber gegen diesen Frieden gewesen ist?"

"Ich weiß es" antwortete ich.

"Daher die immerwährende Feindschaft zwischen diesen Herrschern. Und diese Feindschaft war um so größer und spaltete um so tiefer, als wir von Ardistan glaubten, unsere Feinde hassen zu müssen, während die von Dschinnistan sich für verpflichtet hielten, uns trotz dieses unseres Hasses zu lieben und Gutes zu erweisen. Es war für uns empörend, und wir hielten es für die größte aller Schanden und Beleidigungen, von denen, die wir unablässig befeindeten, immer nur Wohltaten und Verzeihung zu erhalten. Kannst Du diesen unsern Grimm begreifen?"

"Leider nur zu gut!"

"Und kannst Du Dir denken, daß es für gewisse stolze Naturen geradezu fürchterlich ist, Gnade und Barmherzigkeit nehmen zu müssen, wo man innerlich darauf brennt, doch endlich auch einmal auf männlichen Zorn und rächende Kraft zu stoßen?"

"Ja; auch mir ist das begreiflich!"

"Und bist Du vielleicht so vernünftig oder so unvernünftig, einzusehen, daß wir den 'Mir von Dschinnistan und alle, die zu ihm gehören, wegen ihrer ewigen, entsetzlich ermüdenden Liebe, Güte, Gnade, Geduld, Langmut, und wie das alles genannt wird, gründlich verachteten?"

"Wenn man die größte Macht und Stärke, die es im Himmel und auf Erden gibt, nämlich die Liebe, für Unfähigkeit und Schwachheit nimmt, so ist es gar nicht so schwer, auf diese Verachtung zu kommen. Aber sag, verachtest Du noch?"

"Bis vor kurzem, ja. Da aber kommt Ihr mit Eurem Weihnachtsfest. Da kamst Du mit Deiner absoluten Furchtlosigkeit. Da kam Dein Halef mit seiner siegreichen Anhänglichkeit und Treue. Da kam der Basch Nasrani mit seinen gewaltigen Bibelworten. Da erklangen die Glocken. Da brauste die Orgel. Da krachten die Kanonen zum ersten Male für (Seite 256B) einen hohen, friedlichen Zweck. Da wagte sich der Fürst von Halihm mit seiner Tochter in mein eigenes Haus, um mir die Güte und Barmherzigkeit des 'Mir von Dschinnistan verständlich zu machen. Ja, das war ein Wagnis, ein wirkliches Wagnis, dessen Wert ich ebenso anerkenne wie die Verwegenheit des Dschirbani, Dich und Halef zu mir nach Ard, also in die Höhle des Löwen zu schicken. Jetzt will es mir erscheinen, als ob die Liebe und Güte noch viel, viel männlicher, kühner und heldenhafter sein könne als der Haß, der sich blind und unüberlegt in Taten stürzt, deren Ausgang er nicht kennt. Das ist kein Mut, sondern Leichtsinn und Gewissenlosigkeit! Und nach dem allen kam die Verschwörung, der Abfall meiner Offiziere und Beamten, die Undankbarkeit des >Panthers<, dem ich von meinem Herzen mehr gegeben hatte, als ich selbst besaß. Das waren die Früchte von Ardistan, die Ergebnisse meiner eigenen Saat! Und dann der Ritt nach der Stadt der Toten, wo ich verschmachten sollte, die wunderbare Rettung hier und die noch wunderbareren Offenbarungen aus der von uns verachteten, von den Völkern aber gesegneten alten Maha-Lama-Zeit! Die ich für meine Freunde hielt, sind meine Feinde geworden, und die ich für so gering und armselig hielt, daß ich nur mit Lächeln ihrer gedachte, sind nun meine einzigen Stützen, mit deren Hilfe ich mich erheben und wieder werden kann, was ich gewesen bin. Aber ich schwöre Dir, Effendi, daß ich Gericht halten werde, daß ich mich rächen werde, daß ich - - -"

"Halt! Nicht weiter!" unterbrach ich ihn. "Was Du sagtest und noch sagen wolltest, ist richtig. Dein Gedankengang war gut. Aber Du hast plötzlich abgebrochen und bist zur Seite gewichen. Der Zorn hat Dich gestört. Die Rache will Dich um den guten Schluß betrügen, der Deiner Rede vorgeschrieben war. Noch bist Du nicht gerettet. Noch bist Du nicht wieder 'Mir. Noch können tausend Umstände eintreten, die alle Deine Hoffnungen vernichten und alle Deine Vorsätze unausführbar machen. Und vor allen Dingen laß Dir sagen, daß Gott sich wahrlich nicht Deiner annimmt, damit Du Dich rächen könntest und rächen mögest. Ich bin weder Dein Richter noch der Richter Deiner jetzigen Feinde, sondern Du selbst hast Dich und Deine ganze Dynastie gerichtet, als Du vorhin sagtest, daß Ihr alle nur Diener des Hasses, nicht aber der Liebe gewesen seiet. Du hast bekannt, daß Du nur die Früchte von Ardistan erntest, die Ergebnisse Deiner eigenen Saat. Wie kannst Du Dich für etwas rächen wollen, was Du nach Deinem eigenen Eingeständnisse doch nur selbst verschuldet hast? Noch klingt mir das eine Deiner Bibelworte in den Ohren, die Du uns nach der Höhe des Tempels schicktest. Es war das Wort: >Meine Seele dürstet nach Gott, nach dem starken, lebendigen Gott. Wann werde ich hinkommen und erscheinen vor Gottes Angesicht?< Hat Dir der Basch Nasrani den Sinn dieser Zeilen nicht auch erklärt? Glaubst Du, als Richter und Rächer vor Gott erscheinen zu dürfen, wenn Du selbst Dich als den wirklich Schuldigen bezeichnest? Und selbst wenn Du unschuldig wärest, so würde - - -"


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