"Und nun wende ich mich nicht mehr an die Erde, an die Toten und an die Seelen der Abgeschiedenen, sondern ich hebe meine Zuversicht empor zum Himmel, zum unendlichen, ewigen Leben, zum nirgends abwesenden, sondern stets allgegenwärtigen Geiste, zu dem ich jetzt gebetet habe und der mir in meinem Innern antworten wird, wenn ich frage: Ist das Vermessenheit, was ich beschlossen habe? Ist es verboten, so zu - -"

Er hielt mitten im Satze inne und wich überrascht oder wohl gar erschrocken einige Schritte zurück. Sein Blick war auf die weiße Gestalt gefallen, die ihren Fuß jetzt auf die erste Stufe setzte, um langsam emporzusteigen. Oben angekommen trat sie auf die Seite Abu Schalems, legte die Hand auf das vor ihm auf geschlagene, große Schuldbuch und sagte mit klarer, tieftönender Stimme:

"Dieses Buch wird von nächster Mitternacht an für immer geschlossen sein, wenn Du nur willst! Du sollst nicht nur innere, sondern auch äußere Antwort hören. Lösche alle Lichter aus!"

Er gehorchte sofort, verwendete dabei aber keinen Blick von ihr. Es war ihm anzusehen, daß er sie wohl für ein überirdisches Wesen hielt. Als das letzte Licht verloschen und nun nirgend mehr etwas zu erkennen war, erklang es in demselben tiefen, klaren Tone durch die Finsternis:

"Was Du Dir vorgenommen hast, ist nicht vermessen. Du darfst die ganze Last auf Deine Schultern nehmen, weil Deine Kraft die Summe aller ihrer Kräfte ist. Verlaß Dich auf die Güte und Barmherzigkeit; diese beiden sind schon unterwegs zu Dir!"

Hierauf war es still. Nichts schien sich zu bewegen. Auch ich rührte kein Glied. Dann gab es in meiner Nähe ein leises Rauschen, wie wenn der Saum eines weichen Kleides leicht über den Boden streift. Ein kaum bemerkbarer Luftzug glitt an mir vorbei. Ein feiner, süßer Duft blieb zurück, ähnlich dem Dufte der Kätzchenblüten zur Osterzeit, wenn sie an Altären die Palmenweihe erhalten. Das war sie gewesen, die Geheimnisvolle. Sie war an mir vorübergegangen, viel näher als vorhin, wo der Duft, der mich jetzt gestreift hatte, mich nicht erreichen konnte. Sie hatte die Lichter in wohlbedachter Absicht verlöschen lassen. Nun, da es so dunkel war, vermochte kein Auge ihr zu folgen. Und mir war es eigentlich auch ganz recht, daß ich sie so unbeobachtet verschwinden lassen mußte. Die Aufklärung hätte mir doch gewiß einen großen Teil der Poesie zerstört, welche der Vorgang für mich haben mußte und auch wirklich hatte. Indem ich mit mir darüber zu Rate ging, (Seite 268B) wie ich mich nun zu dem 'Mir zu verhalten hatte, kam ich zu dem Entschlusse, ruhig abzuwarten, welche Mitteilungen er mir machen und welche Meinungen ich von ihm zu hören bekommen werde. Ich schlich mich also so leise wie möglich nach meinem Lager zurück und legte mich nieder. Nach einiger Zeit hörte ich seine Schritte. Er kam und tastete nach mir. Ich bewegte mich nicht sofort. Mochte er immerhin denken, daß ich schlafe! Er rüttelte mich. Da tat ich, als ob ich erwache.

"Du schläfst sehr fest," sagte er. "Bist Du gleich eingeschlafen oder erst spät?"

"Sogleich," antwortete ich.

Das war ja auch wahr. Daß ich wieder aufgewacht war, verschwieg ich.

"Steh auf und komm!" forderte er mich auf.

"Bist Du schon fertig?"

"Ja."

"Ganz fertig? Mit allen Büchern?"

"Ganz! Mit allen Büchern! Was ich erfahren wollte, das weiß ich nun."

"Und hast schon sämtliche Lichter ausgelöscht!"

"Weil wir gehen. Wir schlagen unser Lager draußen wieder auf. Da ahnt dann niemand, wenn es Morgen wird, daß wir fort gewesen sind. Komm!"

So stand ich also auf, nahm meine Decke, wie er die seinige, und folgte ihm. Wir ließen den Türstein in die Öffnung rollen und begaben uns nach der Stelle, wo wir nach dem Abendessen gelegen hatten. Bis wir sie erreichten, sagte er kein weiteres Wort, doch als wir uns ganz nahe beieinander niedergelegt hatten, fragte er mich:

"Effendi, glaubst Du an Geister?"

"Ja," antwortete ich. "Gott ist ein Geist."

"Das meine ich nicht. Glaubst Du an Gespenster?"

"Nein."

"An Heilige?"

"Ja."

"An Selige?"

"Ja."

"So höre: Ich habe eine Selige gesehen!"

"Wirklich?"

"Ja, wirklich!"

"Du irrst!"

"Ich irre nicht. Ich habe sie nicht nur gesehen, sondern sie hat sogar mit mir gesprochen!"

"Und dennoch mußt Du Dich irren. Hat sie Dir gesagt, daß sie eine Selige sei?"

"Nein; aber sie ist eine; ich weiß es genau. Sie kann nichts anderes sein!"

"Willst Du mir nicht erzählen - - -?"

"Jetzt nicht. Ich bin so voll, so reich! So übervoll und überreich! Das muß ich alles ordnen, ehe ich davon sprechen kann. Gute Nacht!"

"Gute Nacht!"

Er drehte sich auf die andere Seite, ich aber nicht. Die Erfahrung sagte mir, daß er wohl noch nicht ganz zu Ende sei. Und richtig, nach einigen Minuten wendete er sich mir wieder zu und erkundigte sich:

"Schläfst Du schon, Effendi?"

"Noch nicht," antwortete ich.

"Bist Du überzeugt, daß zur nächsten Mitternacht die >Dschemma der Lebenden< wirklich stattfinden wird?"

"Vollständig überzeugt!"

"Ich auch. Ich weiß sogar, daß Abd el Fadl und Merhameh ganz sicher kommen werden!"

"Woher könntest Du das wissen?"

"Ich weiß es! Das mag Dir genug sein! Vielleicht erzähle ich Dir später einmal, wer es mir gesagt hat. Ich kann mich auf die Güte und Barmherzigkeit verlassen; diese beiden sind schon unterwegs zu mir! Gute Nacht!"

"Gute Nacht!"

Wieder drehte er sich auf die andere Seite, und wieder tat ich das nicht. Und wieder machte er nach einigen Minuten die betreffende Wendung zurück und fragte:

"Schläfst Du aber jetzt schon, Effendi?"

(Seite 269A) "Noch nicht ganz, sondern erst drei Viertel," antwortete ich.

"Verzeih, daß ich Dich nochmals störe! Ich habe Dir etwas außerordentlich Wichtiges zu sagen."

"Ist es etwas Gutes?"

"Sogar etwas sehr Gutes! Kannst Du Dich an den großen, herzlichen Wunsch erinnern, den ich hatte, als Du heut am Spätnachmittag noch einmal von mir zurückgerufen wurdest?"

"Ja; ich besinne mich."

"Nun, welcher Wunsch war es?"

"Der Wunsch, beten zu können."

(Seite 269B) "Ja, der, der war es! Und denke Dir, Effendi, ich habe gebetet!"

"Darf ich das glauben?"

"Ja, glaube es! Gern gebe ich zu, daß es fast unglaublich ist, aber es ist dennoch geschehen, dennoch! Kannst Du Dir denken, was das heißt, der 'Mir von Ardistan hat gebetet? Weißt Du, was das für einen Gottessieg bedeutet?"

"Einen Gottessieg? Wie meinst Du das?"

"Einen Sieg Gottes."

"Über wen?"

(Seite 270A) "Über wen, fragst Du? Natürlich über mich und meinen Unglauben!"

"Armer, armer Teufel!" antwortete ich in meinem mitleidigsten Tone.

"Wen meinst Du mit diesem armen, armen Teufel?"

"Dich natürlich, Dich!"

"Warum?"

"Weil Du einer bist, und zwar einer der aller-, allerärmsten, die es gibt!"

"Ich verstehe Dich nicht! Ich fühle mich so reich, so überreich. Ich habe Dir das aufrichtig gesagt. Und anstatt mich reich und glücklich zu preisen, nennst Du mich einen armen, armen Teufel! Warum?"

"Weil Dich Dein Glück nicht demütig sondern hochmütig macht."

Da richtete er sich in sitzender Stellung auf, bog sich zu mir herüber und fragte:

"Hochmütig? Wieso? Ich wüßte nichts davon?"

"Wirklich nichts? Hast Du Dich nicht soeben Gott gleichgestellt?"

"Gott gleichgestellt? Ich? Mich? Bist Du bei Sinnen, Effendi?"

"Bei sehr guten Sinnen! Hast Du nicht soeben behauptet, Gott habe Dich besiegt?"

"Ja. Das tat ich allerdings."

"Jeder Sieg setzt aber einen Kampf voraus?"

"Allerdings. Oder ist es vielleicht nicht wahr, daß ich gegen Gott gekämpft habe, daß ich von Gott nichts wissen wollte?"

"Armer, armer Teufel! Und da nimmst Du an, daß Gott gezwungen gewesen sei, mit Dir zu kämpfen? Die Wolke, die sich auflösen muß, prahlt, sich mit der Sonne gemessen zu haben! Ein Stück Holz, welches zu Asche verbrennt, rühmt sich knisternd, es ringe mit dem Feuer auf Leben und Tod! Der sterbende Kranke ruft protzig aus, der Tod könne sehr stolz darauf sein, so einen Mann wie ihn besiegen zu dürfen! Soll ich Dir noch mehrere Beispiele, mehrere Vergleiche bringen? Welcher Grund liegt für Dich vor, so stolz darauf zu sein, daß Du endlich, endlich einmal gebetet hast? Und aber noch eins, und dieses eine bedenke gar wohl: Selbst wenn Du die Sünden der ganzen, ganzen Welt auf Dich nähmst, so läge doch keine Veranlassung vor, Dich dessen auch nur im allergeringsten zu rühmen. Solcher Erlöserstolz ist Wahnsinn, weiter nichts! Sünden zu tun und Sünden zu vertreten, bringt keine Ehre. Und je mehr Du Sünden auf Dich nimmst, um so weniger darfst Du erwarten, daß man Dich dafür ehre! Wenn Du wieder betest, so bitte Gott um Bescheidenheit! Diesen Rat gibt Dir der aufrichtigste Freund, den Du auf Erden hast. Gott kämpft mit keinem Geschöpf, und sei es der allerhöchste seiner Engel. Wie jemand, wenn ein Wurm sich krümmt, behaupten kann, Gott liege im Kampfe mit ihm, das ist mir unfaßbar! Gute Nacht!"

Er antwortete nicht. Er legte sich wieder nieder. Er rückte hin und er rückte her. Erst nach langer Zeit klagte er:

"Es ist ein Elend mir Dir, Effendi, ein Elend! Man hat Dich lieb, aber Du bist so grob, so ungeheuer grob! Und grad, wenn man sich einmal wohl fühlt, bekommt man einen Hieb von Dir, sei er groß oder sei er klein!"

"Ja, das ist richtig: Grad wenn man sich am wohlsten fühlt, stürzt man am leichtesten vom Pferde! Und Du warst auf ein sehr großes und sehr hohes Pferd gestiegen. Man kämpft doch nur mit seinesgleichen. Wer da behauptet, er habe mit Gott gekämpft, der stellt sich ihm gleich! Wer gegen die Natur lebt, darf nicht glauben, daß die Natur gegen ihn kämpfe, sondern er selbst kämpft gegen sich selbst, und dafür wird die Natur ihn richten und strafen. Genauso ist es auch mit Deinem vermeintlichen Kampfe zwischen Dir und Gott. Denke hierüber nach. Das sind Tiefen, aus denen Du noch Tausende von Gedanken schürfen kannst, wie man Metalle aus der Erde fördert. Nun gute Nacht!"

Wieder antwortete er nicht, und ich war fast am Einschlafen, als ich ihn sagen hörte:

"Effendi, vielleicht war es doch nicht grob von Dir, sondern nur aufrichtig, vielleicht gar sehr gut gemeint!"

Nun war ich es, der nicht antwortete. Da klang es halblaut zu mir herüber:

"Nun schläft er schon! Gute Nacht, Du böse, rauhe, liebe Offenherzigkeit!"

(Seite 270B) Dann blieb es still, und ich schlief wirklich ein. Als ich aufwachte, lag er ruhig atmend neben mir und lächelte im Schlafe. Es war nicht mehr früh am Morgen. Die Gefährten hatten schon längst Toilette gemacht und saßen jetzt beim Frühstück. Ich beeilte mich, das Versäumte einzuholen, und der 'Mir folgte, als der Lärm ihn später weckte, diesem Beispiele nach.

Unser Plan für den heutigen Tag war ein ebenso umfassender wie interessanter. Er sollte aber noch viel, viel interessanter werden, als wir gedacht und uns vorgenommen hatten. Es war beschlossen worden, zunächst durch den Kanal, durch den wir hierhergekommen waren, nach dem Anfangspunkte desselben zurückzukehren und die Versenkung zu untersuchen, mit deren Hilfe wir so unerwartet aus der Ober- in die Unterwelt befördert worden waren. Sodann sollte genau nachgeforscht werden, ob der Verschluß dieses Kanals nach dem Flusse hin vielleicht zu öffnen sei. Ich vermutete, daß die große Rotunde des einstigen Maha-Lama-Sees auch mit der Zitadelle in irgendeiner geheimgehaltenen, örtlichen Verbindung stehe; aber uns hierüber aufzuklären, war später auch noch Zeit. Vor allen Dingen mußte es unsere Aufgabe sein, die Stadt zu durch forschen, ob und welche Menschen da lebten und in welcher Beziehung sie zu den Empörern überhaupt und zu unserer Gefangenhaltung insbesondere standen. Daß bei dieser Rekognoszierung die größte Vorsicht anzuwenden war, verstand sich ganz von selbst. Zu Pferde durfte das nicht geschehen, weil dies zu auffällig war und ein Fußgänger überall durchschlüpfen kann, während sich einem Reiter hundert Hindernisse in den Weg stellen können, die unüberwindlich sind. Wir mußten uns einzeln in der Stadt verteilen, so daß jeder einen bestimmten Bezirk zu durchforschen hatte, doch konnte hierüber erst dann Beschluß gefaßt werden, wenn wir uns über den Kanal und über unser liebes >Gefängnis Nummer fünf< genau unterrichtet hatten. Hieran machten wir uns sofort, nachdem die Zeit des Frühstückes vorüber war. Die beiden Prinzen der Ussul hatten es übernommen, hier bei den Pferden zu bleiben; die andern hatten alle gewünscht, sich an der Nachforschung beteiligen zu dürfen. So öffneten wir also die Türe, welche in den alten Kanal führte. Sie war die erste gewesen, die wir entdeckt und glücklich überwunden hatten. In dem rundum mit Sitzen versehenen Raume, der hinter ihr lag, brannten wir die Lämpchen an, die uns schon bei unserem Kommen den Weg gezeigt hatten, und ließen uns von ihnen zurück nach der Stelle führen, welche unter dem doppelten Tore des Gefängnisses lag. Wir hatten allerdings auch hier schon nachgeforscht, doch vergeblich, weil wir die Eigenheiten, denen man hier überall begegnete, noch nicht kannten Jetzt aber befanden wir uns im Besitz von günstigen Erfahrungen, und so hoffte ich, daß unsere heutigen Bemühungen nicht wieder so ergebnislos verlaufen würden.

Ich hatte mich nicht getäuscht. Zwar schien es anfangs, als ob wir wieder nichts finden sollten; aber schließlich fiel mir an der Stelle, wo wir aus der Versenkung gestiegen waren, doch der Umstand auf, daß der Boden des Versenkungsschachtes durchweg aus Stein, in einer Ecke aber aus Erde bestand, die nicht hart und fest, sondern so aufgelockert war, als ob man sich erst vor ganz kurzem mit ihr beschäftigt habe. Ich griff hinein, noch tiefer, noch tiefer und zog endlich - - - einen Schlüssel hervor, dessen Gestalt genau diejenige der bisher gefundenen war. Nun wir ihn hatten und also wußten, von welcher Art und Weise hier dieses Geheimnis war, machte sich das übrige ganz von selbst. Es war uns bekannt, in welcher Höhe die Schlüssellöcher angebracht waren, darum dauerte es nur kurze Zeit, so hatten wir das, um welches es sich hier handelte, gefunden. Als wir öffneten, gelangten wir in den schmalen, aber sehr tiefen Raum, welcher die Vorrichtung enthielt, mit deren Hilfe die Versenkung, die uns herabgebracht hatte, auf- und niedergeleitet wurde. Das geschah durch große, viele Zentner schwere Steingewichte, die, an über Rollen gehende Seile befestigt, den oben zwischen den beiden Eingangstoren liegenden Fußboden bald herunter- und bald wieder hinaufzogen, je nach der Seite, nach welcher hin diese ganz einfache Mechanik in Bewegung gesetzt wurde. Es bedurfte nur eines Griffes, uns alle sofort emporheben zu lassen, doch verzichteten wir hierauf, weil wir nicht wußten, wie es in diesem Augenblicke da oben im Gefängnisse stand.

(Seite 271A) Fast noch wichtiger als diese Entdeckung war die zweite, die wir hierauf machten. Nämlich der Raum, in dem wir uns jetzt bei den Steingewichten befanden, stieß mit einer seiner beiden Schmalseiten an die sehr starke, dicke Mauer des Kanals, und zwar genau an der Stelle, an welcher er aufhörte, an welcher also der verborgene Ausgang nach dem Flusse, wenn es einen gab, zu suchen war. Wir hatten da draußen nachgeforscht, doch, wie man weiß, vergeblich. Ich ging zwei-, dreimal hinaus und kehrte zwei-, dreimal wieder zurück, um zu betrachten und zu vergleichen. Es gab nichts, was auffallen konnte, ausgenommen zwei hölzerne Balkenköpfe, welche in dem Gewichtsraume an der Seitenwand, um die es sich handelte, aus dem Gestein hervorragten, der eine ungefähr drei, der andere ungefähr fünf Fuß über dem Boden. Sie waren vielleicht zwei Fuß lang und von ungewöhnlicher Stärke. Das gab mir zu denken. Was sollten diese Balkenköpfe hier? Hatten sie etwa als Konsolen dienen sollen, um irgend etwas zu tragen? Gewiß nicht. In diesem Falle hätte man zu diesen Hervorragungen gewiß nicht Holz, sondern den viel näherliegenden Stein verwendet. Diese Balkenköpfe hatten also wohl einen Zweck, der mit dem Zwecke des Raumes, in dem wir uns befanden, in keiner Beziehung stand. Dieser ihr Zweck lag also nicht in diesem Raume, sondern außerhalb desselben, nämlich draußen! Und draußen lag eben, ganz unmittelbar anstoßend, die Quermauer, die den Kanal verschloß. Wenn man einen ihrer Riesenquader so angebracht hatte, daß er eine bewegliche Türe bildete, vielleicht in derselben Weise wie alle die Türen drin am Maha-Lama-See, so war es jedenfalls derjenige, der draußen an die Wand stieß, vor der wir innen standen. In diesem Falle war der Zweck der beiden Balkenköpfe offenbar. Auch wurde er durch ihre ungewöhnliche Stärke verraten, welche vermuten ließ, daß sie einen ebenso ungewöhnlichen Druck auszuhalten hatten. Sie bildeten höchst wahrscheinlich die Handgriffe der starken Riegel, durch welche die Quadertüre da draußen festgehalten wurde. Riegel müssen beweglich sein; hier aber hatte es den Anschein, als ob man diese Balken vollständig festgemauert habe. Ich versuchte, an ihnen zu rütteln. Das war nicht leicht, aber der Bewurf begann zu bröckeln. Ich rüttelte mehr; das Bröckeln wurde stärker. Da griffen die Gefährten mit zu, und nun bei so vereinter Kraft stellte sich heraus, daß die Riegelhölzer nur eingemauert schienen, es aber doch nicht waren. Sobald die äußere Verklebung, welche nur die Bestimmung hatte, zu täuschen, vollständig aus- und abgebröckelt war, gelang es uns sehr bald, erst den einen und sodann auch den andern Balken herauszuziehen. Die Riegel waren nun also entfernt; aber es bewegte sich nichts da draußen. Jedenfalls hatte man nachzuhelfen. Wir gingen hinaus und schoben. Und richtig, richtig! Der große, anstoßende Steinblock wich dem auf ihn ausgeübten Drucke, erst langsam, dann aber rascher und rascher. Er war in genau derselben Weise eingestellt wie alle die Türen des großen Maha-Lama-Baues. Als er zurückgewichen war und dann feststand, bedurfte es nur eines geringen Druckes, ihn wieder in die Öffnung zurückkehren zu lassen.

Wie froh wir waren! Wir beeilten uns, hinauszutreten. Wir gingen weiter. Wir folgten dem Kanale unter dem Gefängnisse und dem freien Platze hin, bis er zu Ende war. Wir hatten seine Öffnung nach dem Flusse hin gesehen, als wir bei unserer Ankunft da drüben von dem Berge herabgeritten waren. Als wir diese Öffnung nun erreichten, sahen wir, daß dort eine große, sehr große Überraschung auf uns gewartet hatte. Der Fluß zeigte nämlich Wasser; man denke sich! Wasser, Wasser, Wasser! Nach viel-, vielhundertjähriger Dürre und Trockenheit zum ersten Male Wasser! Und grad jetzt, wo wir anwesend waren! Es war zwar nicht viel, sondern nur hier eine Lache und da eine Lache, hier ein Teich und dort ein Teich, aber es begann doch schon, von Lache zu Lache, von Teich zu Teich zu rieseln, und der Boden, der Untergrund mußte also (Seite 271B) viel, viel mehr Feuchtigkeit besitzen, als die Sonnenwärme, die grad heut eine bedeutende war, zu verdunsten vermochte. Es gab bei diesem Anblick einen allgemeinen Jubel.

"Das ist das laute Wasserrauschen im Brunnen des Engels!" rief Halef aus. "Das dort abgelaufene Wasser tritt hier zutage. Meinst Du nicht auch, Effendi?"

"Nein," antwortete ich. "Die Ursachen der Erscheinung, die hier vor Dir liegt, sind nicht im Brunnen des Engels, sondern in einer viel, viel höher liegenden Gegend zu suchen. Der Segen, der hier zutage tritt, wurde droben in Dschinnistan der Erde anvertraut."

"Wird dieses Wasser wieder verschwinden, wird es so bleiben, wird es steigen?" fragte der Prinz der Tschoban.

"Wie Gott will! Unser Blick ist unvermögend, seine Ratschlüsse zu durchdringen. In allem, was geschieht, liegt göttliche Berechnung!"

"Auch in diesem Wasser?"

"Ja, auch in diesem Wasser! Vielleicht erfahren wir eher, als wir ahnen, warum und wozu es grad uns und grad jetzt gesendet wird."

"Warum? Weil die Zeit gekommen ist!" rief der 'Mir aus, indem seine Augen in eigenartiger Weise glänzten. "Wenn sich Abend für Abend da oben in den Bergen die Pforten des Paradieses öffnen, ist die Zeit erfüllt, für welche uns die Rückkehr des Flusses verheißen ist. Kommt dann der Herrgott wieder am Ufer herab nach Ardistan dann, dann - - dann - -"

Er hielt inne. Er fühlte, daß er mit dem, was ihm jetzt auf der Zunge lag, seine ganze frühere Anschauung umstoßen würde. Da aber trat der Dschirbani mit einem schnellen Schritte zu ihm heran und forderte ihn auf:

"Sprich weiter, sprich weiter! Oder fürchtest Du Dich, es zu sagen?"

"Fürchten?" fragte der Mir.

Sie sahen einander in die Augen, beide ernst und prüfend. Über das Gesicht des 'Mir ging ein Zug, als ob er nahe daran sei, sich beleidigt zu fühlen. Aber diese nicht ganz kleine Versuchung wurde von ihm überwunden. Sie wich einem ruhigen Lächeln, und er antwortete:

"Früher hätte ich mich gar wohl gefürchtet; aber das war eben früher. Jetzt weiß ich es, daß es keine Schande ist, klüger vernünftiger und innerlich klarer geworden zu sein. Früher hätte mein Stolz mir verboten, einen Irrtum einzugestehen, aber jetzt - - jetzt - - -"

Er wendete sich von dem Dschirbani ab zu mir und fuhr fort:

"Effendi, Du rietest mir, um Bescheidenheit zu beten. Ich habe es getan, nachdem Du eingeschlafen warst. Ich wollte ganz Dschinnistan mit Krieg überziehen. Ich wollte jene Berge erobern, aus denen das Wasser kommt, welches meinem Lande, meinem ganzen Reiche fehlt. Ich hielt mich für einen großen Feldherrn. Ich wollte durch Blut und Mord und Tod erreichen, was doch niemals mit der geballten Faust zu erlangen ist. Das war früher, früher, früher. Heut aber sage ich Dir: Käme der Herrgott jetzt den Fluß herab, um zu fragen, ob ich Krieg oder Frieden wolle, so würde ich ihm sagen, daß von nun an Friede sein solle, nicht nur zwischen den Ländern und den Völkern meines Reiches, sondern auch zwischen uns und Dschinnistan, dem glücklichen Staate, dessen Bürger behaupten dürfen, daß nie ein Tropfen Blut bei ihnen geflossen sei. Bist Du mit dieser meiner Erklärung zufrieden, Effendi?"

Ich reichte ihm froh die Hand und antwortete:

"Ich danke Dir! Nimm das Wasser, welches wir hier so freudig begrüßen, als eine äußere Hindeutung auf die segensreichen Quellen, die grad jetzt auch in Deinem und in unserm Innern zu steigen beginnen. Gott wird kommen, ganz gewiß! So ist es gut, daß wir nun alle wissen, welche Antwort er auf seine Frage von uns erhalten soll. - Jetzt aber wieder an unsere Nachforschung! Wir schließen die Türe hinter uns und (Seite 272A) steigen dann dort an der Brücke aus dem Flußbette heraus, um nach dem Gefängnis zu gehen. Aus dem, was dort geschieht, wird das Weitere sich ergeben."

Die Gefährten waren damit einverstanden. Wir kehrten in das Innere des Kanales zurück und ließen den Türquader in seine Öffnung zurücklaufen. Dann stiegen wir in das Flußbett hinaus und wendeten uns der Brücke zu, über welche wir bei unserer Ankunft herübergeritten waren. Dort gab es nämlich Stufen, die es uns ermöglichten, auf die Höhe des Ufers zu kommen, ohne uns durch unbequeme Kletterei emporarbeiten zu müssen.

Dieser unser Wiedereintritt in die Freiheit führte uns sogleich einem Ereignisse entgegen, welches zwar von keiner großen, erschütternden Bedeutung war, uns aber doch recht herzlich erfreute. Nämlich als wir die Stufen erstiegen hatten und uns am Brückenkopfe befanden, wollte ich mich sofort dem Gefängnisse zuwenden und kehrte mich infolgedessen vom Flusse ab; da aber rief Halef mir zu:

"Halt, nicht umdrehen, Effendi! Schau über die Brücke!"

Als ich dieser seiner Aufforderung folgte, sah ich sechs Kamele, die von drüben herüberkamen. Sie waren mit Wasserschläuchen beladen, und auf dem voranschreitenden saß außerdem ein Mann, dessen Gesicht man noch nicht deutlich erkennen konnte, zumal er die Kapuze seines Haik sehr weit über die Stirn vorgezogen hatte. Aber als er nähergekommen war, erkannte ich in ihm den braven Brunnen- und Zisternenwächter, der sich meiner so hilfreich angenommen hatte. Zu gleicher Zeit fiel auch ich ihm in die Augen. Da sprang er, ohne seine Kamele anzuhalten, im Laufen von dem seinigen herab, eilte ihnen voraus, auf mich zu und rief, noch ehe er uns erreichte, in freudigem Tone:

"Handulillah, daß ich Dich sehe! Ich grüße Dich! Welche Angst habe ich um Euch gehabt! Und wie freue ich mich, daß Du noch lebst, und die andern auch! Ich wollte Euch retten! Ich bringe Euch Wasser!"

"Du Guter, Lieber, Treuer!" antwortete ich. Und indem ich auf den 'Mir deutete, fügte ich hinzu: "Dein Herrscher wird es Dir danken!"

Er kniete vor dem 'Mir nieder. Dieser gebot ihm, aufzustehen und sagte:

"Ich habe Dich nur für einen kurzen Augenblick gesehen, doch erkenne ich Dich wieder. Du saßest im Zisternenhause und kamst sodann heraus. Du hast uns guten Rat gegeben und sollst es nicht bereuen. War es Dir denn möglich, Deinen Dienst und Deine Zisterne zu verlassen, um uns Wasser zu bringen? Hinderte man Dich nicht?"

"Nein. Es war ja niemand da, es mir zu verbieten! Und auch hier ist kein Mensch, der mich dabei erwischen könnte!"

"Kein Mensch?"

"Keiner! Alle, die sich in der >Stadt der Toten< befanden, mußten fort. Niemand durfte bleiben. Es durfte kein Mensch vorhanden sein, dem es möglich gewesen wäre, Euch zu sehen und zu sprechen! Kein einziger, der auf den Gedanken kommen konnte, Euch zu retten, Euch und alle, die in den sicheren Tod hierhergetrieben werden sollen."

"Hierhergetrieben? In den sichern Tod? Wer könnte das sein?"

"Das Heer des Dschirbani! Die Ussul und die Tschoban, die durch Gewalt und List gezwungen werden, sich eiligst nach der >Stadt der Toten< zu wenden!"

"Ist das wahr? Woher weißt Du es?" fragte der Mir, indem er uns betroffen anschaute.

Wir waren ebenso überrascht wie er, aber keineswegs erschrocken.

"Jedermann weiß es," antwortete der Wächter. "Die Kunde davon wird absichtlich überall verbreitet, damit jedermann erfahre, wie groß und kühn und klug der neue Herrscher ist. Der >Panther< hat sich nach Ard gewendet. Die Christen werden aus der Stadt vertrieben; alle andern halten zu ihm, und wer noch treu - - -"

"Mein Weib! Meine Kinder!" wurde er vom 'Mir unterbrochen. "Ich muß fort von hier, fort, fort!"

(Seite 272B) Er machte eine Bewegung, als ob er seine Worte schleunigst in die Tat umsetzen wolle, doch der Dschirbani hielt ihn am Arme fest und warnte:

"Wohin? Und etwa allein, ohne uns? Ohne Rat und Überlegung?"

"Aber bedenke: Mein Weib - - meine Kinder - -!"

"Maschallaha! Ich soll bedenken! Du aber wohl nicht? Dein Weib und Deine Kinder? Steht bei uns etwa nichts auf dem Spiele? Sollen nicht alle vereinigten Ussul und Tschoban, also mein ganzes Heer, hierher in den sichern Tod getrieben werden? Es handelt sich um das Leben vieler Tausende! Siehst Du aber vielleicht, daß ich sogleich davonlaufen will?"

Da schlug der Mir, der in der Selbstüberwindung überhaupt jetzt beinahe Übermenschliches leistete, beschämt die Augen nieder und wendete sich wieder ruhig an den Wächter:

"Was weißt Du noch? Sprich es aus!"

"Der >Panther< wird nur noch einige wenige Tage in Ard bleiben," sagte der Aufgeforderte. "Dann führt er alle Truppen, die noch daheim sind, zu denen, die gegen Dschinnistan marschieren, und macht dem Kriege gegen den 'Mir dieses Landes mit einem einzigen gewaltigen Stoß ein schnelles Ende!"

"Weiter!"

"Weiter weiß ich nichts."

"Und woher weißt Du das, was Du weißt? Das hat Dir der >Panther< doch gewiß nicht selbst gesagt!"

"Nein, der nicht. Ich erfuhr es von seinen Soldaten, die er am Brunnen zurückließ, als er mit Euch nach der >Stadt der Toten< ritt. Es stießen noch andere Soldaten zu ihnen, die aus andern Richtungen kamen und dazu bestimmt waren, den ganzen Rand der Wüste, die nach hier führt, für jedermann so lange zu versperren, bis man als sicher annehmen kann, daß Ihr verschmachtet seid. Also, es kann niemand her zu Euch, um Euch zu retten, kein Mensch. Und die wenigen Leute, die es hier gab, hat der >Panther< mitgenommen, als er die >Stadt der Toten< mit seinem >General< und seinen fünfzig Reitern wieder verließ."

"Es ist also niemand mehr hier, wirklich niemand?"

"Kein einziger Mensch! Ich weiß das ganz genau, denn ich hatte doch das Wasser abzumessen, zu berechnen und zu liefern für einen jeden, der sich hier befand. Ich hatte auch die Relais zu legen, durch welche Ihr und Eure fünfzig Begleiter unterwegs mit Wasser versehen wurdet. Ich wußte, wann und in welcher Reihenfolge sie zurückkehren mußten. Als die Ersten von ihnen eintrafen und man also annahm, daß der Streich gegen den bisherigen Herrscher von Ardistan gelungen sei, wurde ich fortgejagt. Man sagte mir, man brauche mich nicht mehr, ich könne gehen und solle mich aber ja nicht wieder sehen lassen."

"Man kannte wohl Deine Treue gegen mich?"

"Man ahnte sie, und das war genug. Ich ging, aber anders, als man gedacht hatte. Ich schaffte in der Nacht, als es dunkel war, soviel Proviant und Wasser, wie ich zu fassen vermochte, ohne daß man es merkte, mit Hilfe meiner Kamele in der Richtung nach hier in die Wüste und kehrte dann, noch ehe es Tag geworden war, mit ihnen wieder nach dem Brunnen zurück. Als ich mich dann am Morgen mit den sechs unbeladenen Tieren verabschiedete und in gerade entgegengesetzter Richtung von dannen zog, ahnte niemand, daß ich dann einen Bogen machte, um das, was ich versteckt hatte, wieder aufzunehmen und hierherzuschaffen. Nun aber sehe ich zu meiner Verwunderung und zu meiner Freude, daß Ihr frei seid und gar nicht verdursten könnt, weil der Fluß ja Wasser hält. Ein Wunder, welches ich nicht glauben würde, wenn ich es nicht mit meinen eigenen Augen sähe!"

Der Mann hatte treu und klug gehandelt. Der 'Mir reichte ihm die Hand und sagte:

"Sei getrost! Ich werde Dir dennoch alles so anrechnen, als ob Du uns das Leben wirklich gerettet hättest. Du bist also wirklich überzeugt, daß sich außer uns kein Mensch hier befindet?"

"Ja, vollständig überzeugt."

"Auch dort im Gefängnis Nummer fünf?"

(Seite 273A) "Auch dort."

"So gehen wir aber dennoch hin, um es wenigstens einmal anzusehen."

Wir taten es. Der Aufseher folgte uns mit seinen Kamelen. Das Tor war verschlossen; wir konnten nicht hinein. Da kletterte Halef über die Mauer und öffnete von innen. Wir gingen hinein. Der Aufseher mußte noch draußen bleiben. Er brauchte unsere Heimlichkeiten nicht zu erfahren. Die Gebäude standen leer. Sie hatten für uns kein Interesse. Unsere Aufmerksamkeit war nur auf den beweglichen Boden gerichtet, der zwischen den beiden Toren lag. Er bestand aus Holzbohlen, die mit Erde bedeckt und dann mit Sand bestreut waren. Im Hofe gab es rechts und links vom Innentore zwei Räder mit den aufgewundenen Enden der Bewegungsseile. Drehte man das eine Rad, so senkte sich der Boden; drehte man das andere, so kam er wieder empor. Das war die ganze Kunst, deren Opfer wir hatten werden sollen. Wir zerschnitten beide Seile, ließen die Innenteile nach unten laufen, so daß sie verschwanden, und gruben die Enden in einen Erdhaufen ein, der in einer Ecke des Hofes lag. Nun blieb das Geheimnis denen, die es nicht kannten, auch ferner verborgen, und die Eingeweihten konnten es nicht mehr in Anwendung bringen. Hierauf riefen wir den treuen Aufseher herein. Er bekam für die jetzige Zeit seine Wohnung hier angewiesen und hatte sich un ausgesetzt für uns bereitzuhalten. Für später war ihm eine lohnende Anstellung gewiß.

Weil es der Plan des >Panther< war, die Ussul und die Tschoban nach der >Stadt der Toten< zu treiben, stand uns, falls diese seine Absicht sich verwirklichte. ein Wiedersehen mit diesen unsern Freunden auf das baldigste bevor. Wo und wie sie aber unterbringen, das war die Frage, die wir uns vorzulegen hatten. Platz war in der großen, weit ausgedehnten Stadt mehr als genug vorhanden, aber es galt, sie mehr zusammenzuhalten als zu zerstreuen, und da dachte ich, daß die Zitadelle sich wohl am allerbesten hierzu eigne. Der 'Mir war bereit, uns sofort hinaufzuführen. Er versicherte uns, daß er dort einen jeden Winkel kenne, und daß wir ihm für dieses Mal Glauben schenken dürften, weil er sich da ganz gewiß nicht irre. Wir nahmen sein Anerbieten an.

Indem wir durch viele vollständig tote Gassen und Gäßchen hinaufstiegen, betrachtete ich alles, was sich meinen Augen bot, von dem Gesichtspunkte aus, der alle örtlichen und überhaupt alle hiesigen Verhältnisse mit dem einstigen Maha-Lama-See in Beziehung brachte. Der obere Teil der Zitadelle lehnte sich an den festgeschlossenen Felsen- oder vielmehr Bergesring, dessen Inneres der See gebildet hatte. Daß die Felsen und Berge ausgehöhlt worden waren, um alle die Räume zu bilden, die wir nun kannten, hatten wir gesehen. Diese Räume konnten von den am höchsten liegenden Räumen der Zitadelle nur durch Natur- oder künstliche Wände getrennt sein, die keine allzu große Stärke besaßen, und so lag der Gedanke ziemlich nahe, daß höchst wahrscheinlich irgend eine heimliche Verbindung zwischen dem Gebäudekomplex des Maha-Lama-Sees und der Zitadelle vorhanden sei. Dieser Gedanke war es, der mich nicht verließ, während wir aufwärts stiegen, durch das hohe, weite, flügellose Tor der Zitadelle schritten und uns dann vom 'Mir durch alle Räume derselben, die er kannte, führen ließen.

Es kann nicht meine Absicht sein, die Festung zu beschreiben, so interessant dies auch wäre. Es genügt, zu sagen, daß sie für das, wozu wir sie unter Umständen brauchten, sich ganz vortrefflich eignete. Aber eine kleine Episode, die mir großen, heimlichen Spaß bereitete, will ich doch nicht übergehen. Sie ereignete sich, als wir uns in demjenigen Teile der Zitadelle befanden, dessen Räume höchst wahrscheinlich die Wohnung des obersten Befehlshabers gebildet hatten. In einem dieser schöngelegenen und hochgebauten Zimmer sah ich etwas, was meine Aufmerksamkeit sofort auf sich zog, obgleich ich nichts davon sagte. Es gab da nämlich in der dem Fenster gegenüberliegenden, aus großen Quadern gebildeten Wand genauso eine Sonne, wie ich von der Türe des sogenannten >Portier-< oder >Verwaltungsraumes< beschrieben habe. Ich war sofort überzeugt, daß hier die vermutete Verbindung mit dem Maha-Lama-See gefunden sei.

(Seite 273B) Von den Fenstern dieser Wohnung aus hatte man einen überaus weiten Blick auf diese Seite der Stadt und ihre Umgebung. Sie lag im vollen Sonnenglanze unter uns. Am hellsten aber glänzten die vielen, vielen Stellen des Flusses, an denen das Wasser zutage getreten war. Erst von hier oben aus erkannte man, wie zahlreich und wie bedeutend diese Lachen waren, welche nicht etwa totstehendes, sondern lebendiges Wasser hatten. Wir standen alle beieinander, schauten hinab und freuten uns über diesen Anblick.

"Wenn das so bliebe!" sagte der Erstgeborene der Tschoban. "Dann wäre die Wüste der Kultur zurückgewonnen."

"Es bleibt!" behauptete der Dschirbani in einem so bestimmten Tone, als ob er es sei, der zu bestimmen habe. Die Augen des 'Mir aber waren groß geworden, sie schimmerten feucht.

"Weißt Du, Effendi, was Du vorhin sagtest. Unten am Ende des Kanals?" fragte er mich.

"Welches Wort meinst Du?" antwortete ich.

"Du sagtest: >In allem, was geschieht, liegt göttliche Berechnung. Vielleicht erfahren wir eher, als wir ahnen, warum dieses Wasser grad uns und grad jetzt gesendet wird!< Nur kurze Zeit ist vergangen, seitdem Du das sagtest, und schon geht es in Erfüllung. Dieses Wasser ist gekommen, um das Heer der Ussul und Tschoban zu retten, welches rettungslos verloren wäre, wenn es nichts zu trinken fände. Die Wege der Vorsehung sind wunderbar! Hattest Du keine Angst um Deine Truppen, als Du den Zisternenwächter sprechen hörtest?"

Diese Frage war an den Dschirbani gerichtet. Er antwortete:

"Nein. Der Scheik der Tschoban ist bei meinem Heere; und in meiner Abwesenheit führt mein vorsichtiger, tapferer Irahd, der Hauptmann der Hukara, den Oberbefehl. Der läßt sich nicht überlisten."

"Wirklich nicht? Hast Du Dich nicht auch überlisten lassen?"

"Nein."

"O doch! Verzeih! Hat Dich der >Panther< nicht verleitet, hierher zu gehen?"

Da griff der Dschirbani unter sein Gewand, zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Tasche und antwortete lächelnd:

"Ich habe bisher geschwiegen, weil es mir heilig und teuer war; nun aber soll wenigstens der Ssahib es sehen, damit nicht auch er mich für unvorsichtig halte. Ich bekam dieses Papier durch einen Boten, den ich nicht kannte und der sofort wieder verschwand; aber ich kenne die Schrift und das geheime Zeichen des letzten Wortes. Was ich getan habe, habe ich infolge dieser Zeilen getan, aus keinem andern Grunde. Die Folge wird zeigen, daß ich es verantworten kann."

Er faltete das Papier auseinander und reichte es mir. Ich las:

"Ich grüße Dich zum ersten Male mit dieser meiner eigenen Hand und Schrift. Der >Panther< wird Dich überlisten wollen, nach der >Stadt der Toten< zu gehen; laß Dich nach dort entführen! Der >Panther< wird dann, wenn Du fort bist, Dein Heer nach der >Stadt der Toten< drängen lassen wollen. Gib Deinem Irahd Befehl, sich drängen zu lassen, doch nicht durch die Wüste, sondern den Fluß hinauf. Er wird Wasser finden, den Feind aber fern davon und in Durst zu halten wissen. Dein - - - Vater."

Ich legte das Papier wieder zusammen, gab es ihm zurück und richtete das, was ich sagte, nicht nur an den 'Mir, sondern auch an alle andern:

"Ich erkläre hiermit, daß unser Freund, der Dschirbani, nicht unvorsichtig, sondern klug, sehr klug gehandelt hat. Es steht uns, wie ich da sehe, höchst Wichtiges bevor. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Ussul und Tschoban noch heut kommen. Ich schlage vor, ihnen wenn auch nicht entgegenzureiten, so doch wenigstens den Fluß entlang zu rekognoszieren, und zwar sogleich."

"Du meinst, daß wir unsere Pferde holen?" fragte der 'Mir.

"Ja."

"So müssen wir wieder hinunter zum Fluß und durch den Kanal zurück."

"Nein."

(Seite 274A) "Wohin sonst?"

"Einen viel kürzeren und viel bequemeren Weg, den Du uns führen wirst."

"Ich? Ich weiß keinen!"

"Keinen? Und doch sagtest Du vorhin, daß Du hier jeden Winkel kennst!"

"Hier? Von hier aus gibt es einen Weg?"

"Ja. Sogar von diesem Zimmer aus."

"Du sprichst im Rätsel!"

"Ich werde dieses Rätsel sofort lösen, obgleich ich zum ersten Male im Leben an diesem Orte bin. Kommt!"

Indem ich auf den erwähnten Stein zuging, folgten mir die andern. Gleich die erste Berührung der Sonne zeigte mir, daß sie auch von Metall war und bewegt werden konnte. Ich drehte sie von links nach rechts. Man hörte im Innern der Mauer ein leises, kurzes Schnappen; dann wich der Quader zurück, und die Türöffnung wurde frei. Der Raum, der nun vor uns lag, war fensterlos und also dunkel. Jetzt aber fiel das Licht von außen hinein, und da sahen wir, daß er schmal und auch nicht tief war. Er bildete einen sehr kurzen Gang oder Korridor, an dessen Ende sich wieder eine Steintüre befand, in welcher, wie wir zu unserer Befriedigung bemerkten, der Schlüssel steckte. Ich drehte ihn herum. Auch dieser Stein wich zurück, aber nach der Seite, auf der wir uns befanden, so daß wir also schnell zurückspringen mußten, um nicht umgestoßen zu werden. Als die Passage frei war und wir vorwärts gingen, kamen wir in einen durch schmale, schießschartenähnliche Fenster erleuchteten Raum, den wir an seiner ganz besonderen Einrichtung und Ausstattung sofort erkannten, weil wir ihn schon alle gesehen hatten. Es war nämlich der große Krankensaal im Maha-Lama-Gebäude. Wir brauchten also nur durch dessen vordere Türe, die wir ja kannten, hinauszugehen, so befanden wir uns auf unserer Säulenrotunde und hatten dann nur wenige Schritte zu tun, um zu unsern Pferden zu kommen.

Das war die Episode, die ich erzählen wollte. Halef machte sofort Miene, sie zu einer langen, begeisterten Rede über seine und meine große Klugheit und Findigkeit auszubeuten, ich winkte ihm aber ab, ließ die Gefährten vorantreten und schloß hinter uns dann beide Türen, ebenso auch nachher, als wir auf den Säulengang hinaustraten, die Außentüre des Krankensaales.

Die beiden Prinzen der Ussul wunderten sich nicht wenig, uns von dieser Seite kommen zu sehen, nicht aber von der andern, nach der wir hinausgegangen waren. Sie wurden von allem, was wir gesehen und erfahren hatten, unterrichtet; dann sattelten und bestiegen wir unsere Pferde und ritten durch die hintere, westliche Türe, welche wir gestern entdeckt hatten, in das Freie hinaus. Den Schlüssel zu ihr steckte ich zu mir.

Ich habe bereits gesagt, daß es hier eine Schutthalde gab, die wir hinunterreiten mußten. Dann machten wir einen Bogen um die Zitadelle herum und hielten auf den südlichen Stadtteil zu, um in dieser Richtung dem Laufe des Flusses zu folgen. Hierbei sagte der 'Mir, mit dem ich voranritt:

"Wundere Dich nicht über mich, wenn ich so still bin, Effendi! Es ist eine schwere, sehr schwere Zeit für mich. Ich werde von dem hohen Punkte, auf dem ich nach meiner Meinung stand, immer tiefer heruntergedrängt und habe Lehre auf Lehre hinzunehmen, um immer mehr einzusehen, daß - - -"

"Daß Du nicht abwärts, sondern aufwärts steigst," unterbrach ich ihn. "Daß ich wieder einmal eine Türe entdeckte, welche Du nicht kanntest, darf Dich nicht bedrücken."

"O doch! Alles, was geschieht, geschieht nicht mehr durch mich, sondern durch andere. Ich fühle mich so unwissend, so unfähig, so überflüssig! Ich habe das Gefühl, daß sich jeder andere Mensch viel, viel besser zum 'Mir von Ardistan eignet als ich, und das macht mich - - -"

"Gott sei Dank!" rief ich aus, ihn wieder unterbrechend.

"Wofür?" fragte er schnell.

"Dafür, daß Du Dich für unfähig hältst! Denn das ist für mich ein Beweis, daß Du ganz im Gegenteil im höchsten Grade geeignet bist, in Wirklichkeit zu werden, was Du bisher nur scheinbar gewesen bist. Gott rüttelt an Dir. Halte aus! Deine bisherige Stärke war Schwäche, aber Deine jetzige, vermeintliche Schwäche wird Dir zur Stärke und zum Ruhme (Seite 274B) werden. Denke ja nicht, daß Du alles selbst wissen, selbst können und selbst tun mußt! Herrschen heißt lenken, leiten, nicht aber alles selber machen. Laß vor allen Dingen auch den Herrgott für Dich denken, sorgen und arbeiten! Er tut es gern!"

Da lächelte er mich dankbar an und rief aus:

"Effendi, das ist wieder einmal so Deine eigene Art; ich wollte. es wäre auch die meine!"

"Sie wird es! Glaube das!"

"Aber schwer! Bei mir häuft sich eine Last immer auf die andere. Denke an mein Weib und an meine Kinder! Sie waren mir gleichgültig, fast innerlich fremd. Euer Weihnacht hat mich mit ihnen vereinigt, und diese Vereinigung ist von Tag zu Tag immer inniger geworden. Jetzt liebe ich sie, innig, innig, innig! Und da muß es nun geschehen, daß sie sich vollständig schutzlos in Ard befinden und dieser Bestie, dem >Panther<, vollständig preisgegeben sind!"

"Schutzlos? Preisgegeben?" fragte ich. "Hättest Du meinen Glauben und mein Vertrauen, so würdest Du das nicht sagen! Hast Du denn lauter Feinde in Ard? Glaube mir: Die, welche Du liebst, stehen in guter Hand! Du wirst es mir wieder sagen. Ich halte es sogar für möglich, daß Du sie eher wiedersiehst, als Du ahnst, viel, viel eher."

"Du willst mich trösten, Effendi. Und es ist eigentümlich, daß grad Dein Vertrauen sich so häufig bewährt und Deine Hoffnungen oft zur Verwunderung schnell in Erfüllung gehen! Heut muß ich noch aushalten, muß ich noch warten, denn um Mitternacht ist ja die >Dschemmah der Lebenden<; morgen aber halte ich es nicht länger aus, wenn mir inzwischen nicht eine Nachricht kommt, die mich über Weib und Kind beruhigt! Doch schau, sind das nicht Menschen, da oben?"

Er deutete über die Stadt hinüber nach der Höhe, von welcher wir als Gefangene des >Panther< herabgekommen waren. Dort bewegte sich etwas. Es war ein Zug von Reitern. Sie saßen zu Pferde und auch zu Kamel. Dieser Zug war noch nicht ganz zu sehen. Er kam langsam hinter einer Felsenkrümmung hervor. Wir blieben alle halten und schauten hinauf. Da erschien eine Sänfte, noch eine und noch eine, und hinterher eine Reihe von Packkamelen, denen weitere Reiter folgten. Die Entfernung von uns bis dort hinauf war bedeutend; dennoch konnten wir die Form der Sänften ganz deutlich erkennen. Auch sahen wir, daß die erste Sänfte mit wehenden Straußenfedern, die zweite mit rotgefärbten und die dritte mit blaugefärbten Yackhaaren geschmückt war. Da stieß der 'Mir einen Jubelschrei aus.

"Diese Sänften sind mein, sind unser!" rief er aus. "Sie kommen aus Ard! Mein Weib! Meine Kinder!"

Er gab dem Pferde die Sporen und jagte davon. Wir hinter ihm her. Nicht nach Süd, wohin wir gewollt hatten, sondern nach Ost, durch die Militärstadt über die Brücke hinüber und dann durch die Zivilstadt der Höhe zu, von welcher die so außerordentlich schnelle Erfüllung meiner Worte herunterkam. Er blieb im Galopp; wir aber mäßigten nach und nach unsere Eile, um ihm Zeit zu der ersten Begrüßung zu lassen. An einem hierzu geeigneten Platze blieben wir halten und warteten.

Es dauerte einige Zeit, bis sie kamen. Er ritt strahlenden Angesichts dem ganzen Zug voran, vor sich den kleinen und hinter sich den größeren Jungen auf dem Pferde sitzend. Der erstere wurde vom Vater festgehalten, der letztere hatte ihm die Arme in den Gürtel gesteckt, um fest zu sitzen und ja nicht herabzufallen. Hinter diesem Bilde des Glückes kamen zwei Personen, die wir sehr gut kannten, nämlich Abd el Fadl und Merhameh, beide zu Pferd reitend. Sie hielten an, um uns herzlich zu begrüßen. Da mußten auch alle übrigen halten. In der ersten Sänfte saß die Frau des 'Mir, in der zweiten das Mädchenpaar. In der dritten hatten die Knaben gesessen; sie war jetzt leer. Als besondere Beschützer der drei Sänften sahen wir den Schech el Beled von El Hadd mit seinen drei Begleitern. Wir erkannten sie an ihren eng anliegenden Riemengewändern, welche den Eindruck von Ritterrüstungen machten. Ihre Gesichtszüge waren unsichtbar, weil durch Schleier tief verhüllt. Ich begrüßte sie alle durch Handschlag, der bieder und kräftig erwidert wurde. Die übrigen Leute waren treue Bedienstete des 'Mir, die von der Herrscherin auserlesen worden waren, sie zu (Seite 275A) begleiten. Es war ein aufrichtig froher Kuß, mit dem ich ihre beiden Hände berührte. Ihre Augen standen voll Freudentränen. Sie hatte alle, alle andern Sorgen beiseite geschoben und nur um das Leben ihres Mannes, des Vaters ihrer Kinder, gebangt. Der >Panther< hatte mit voller Absicht die Kunde verbreiten lassen, daß der 'Mir gefangengenommen worden und nach der >Stadt der Toten< geschafft worden sei, um dort, wie viele seiner Opfer, elend zu verschmachten. Als sie das gehört hatte, war sie nicht mehr zu halten gewesen. Sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, ihn entweder zu retten oder mit ihm in den Tod zu gehen. Sie hatte mit seinem Leibregiment, der Ussulgarde, zu ihm reiten wollen, war aber auf Zureden Abd el Fadls, des christlichen Oberpriesters und des Schech el Beled von El Hadd so vernünftig gewesen, auf diesen Plan zu verzichten und den Ritt, den sie um keinen Preis aufgeben wollte, in der Weise zu unternehmen, wie wir jetzt sahen. Das Leibregiment war daheimgeblieben, um das Schloß und den Dom auf das Äußerste gegen die Besitzergreifung durch den >Panther< zu verteidigen. Der alte, gottvertrauende, ebenso mutige wie brave Basch Nasrani, jetzt Oberpriester von ganz Ardistan, hatte aus freien Stücken versprochen, ein wohlbewaffnetes Christenkorps zu bilden, um es gegen den >Panther< zu verwenden, sobald der 'Mir es befehle. Die Truppen des Aufrührers, welche die Wüste bewachten, damit niemand nach der >Stadt der Toten< könne, hatte man von weitem gesehen, und es war gelungen, des Nachts ganz unbemerkt ihre Linie zu durchbrechen. Hierbei hatte sich ganz besonders der Schech el Beled von El Hadd sehr brauchbar gezeigt. Die Herrscherin lobte ihn als einen außerordentlich klugen, umsichtigen und sogar kühnen Mann, der nicht nur jeder geistigen Anstrengung, sondern auch jeder (Seite 275B) Gefahr vollständig gewachsen sei. Sie berichtete uns, daß dieser Mann in seiner Heimat auch als auserlesener Krieger bekannt und hochgeachtet sei. Als er gehört habe, was geschehen sei und daß sie nach der >Stadt der Toten< wolle, habe er sich ihr sofort als Begleiter und Beschützer angeboten und den berühmten >Schwur von Dschinnistan< getan, auf den man sich in jeder Lage, sogar in Not und Tod verlassen kann.

"Den Schwur von Dschinnistan?" fragte ich. "Was ist das für ein Schwur?"

"Es ist der Schwur, das Angesicht zu verhüllen und nicht eher wieder sehen zu lassen, als bis das, was man geschworen hat, erreicht worden ist. Es gibt keinen einzigen Bewohner von El Hadd und Dschinnistan, der imstande wäre, diesen Schwur zu brechen."

In dieser Weise hatte ich hiervon noch nicht gehört. Sehr wahrscheinlich hing das in irgend einer Beziehung mit dem Brauche zusammen, daß jeder Bürger von Dschinnistan der heimliche Helfer, Behüter und Schutzengel eines Menschen ist, der die Hilfe wohl bemerkt, aber gar nicht ahnt, von wem sie kommt. - Hiermit waren die vorläufigen, kurzen Mitteilungen, welche die Beherrscherin gleich jetzt für nötig hielt, beendet, und der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

"Nun - - -?" fragte ich den 'Mir, als ich mich zu ihm gesellte, um an seiner Seite mit voranzureiten.

"In Erfüllung gegangen! So schnell!" frohlockte er. "Effendi, Effendi, nun bin ich gerüstet für alles! Du hast recht, sehr recht: Gott hat nicht nötig, mit unsereinem zu kämpfen; ich komme ganz freiwillig; ich komme ganz von selbst!"

Im Weiterreiten trieb der Schech el Beled von El Hadd sein Pferd etwas schneller nach vorn, zu uns heran, und meldete:

(Seite 276A) "Effendi, als wir da oben über die Höhe des Berges ritten, lag das Tal des Flusses bis weit nach Süd vor unsern Augen, und ich sah eine Menge von Reitern, die am Ufer aufwärts kommen."

Nach diesen Worten blieb er wieder zurück, das weitere nun dem Herrscher und mir überlassend. Das war kurz und bescheiden. Der Mann imponierte mir.

"Das ist das Heer des Dschirbani," meinte der 'Mir. "Sage es ihm! Wir wollten ja rekognoszieren. Reitet Ihr diesen Leuten entgegen! Ich bringe die Meinigen inzwischen durch die Stadt und durch das hintere Tor nach dem Maha-Lama-Palast. Bitte, gibt mir den Schlüssel! Den Ussul und Tschoban aber sagt, daß sie in der Zitadelle wohnen werden. Wasser, Proviant und alles, was sie brauchen, wird ihnen durch die Türen, die wir heut entdeckten, zugetragen. Den Schlüssel brauchst Du, wenn Ihr zurückgekehrt, nicht; ich lasse offen!"

Es geschah, wie er wünschte. Er ritt mit seiner Familie und allen ihren Begleitern der Brücke zu. Wir aber blieben auf dieser Seite des Flusses, also am linken Ufer, und folgten diesem Ufer, solange wir uns noch in der Stadt befanden, im Schritt; als wir aber hinaus ins Freie kamen, fielen wir erst in Trab und dann in Galopp, um die, denen wir entgegenritten, so bald wie möglich zu erreichen.


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